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GOETHE • HUMBOLDT • DARWIN • HAECKEL
GOETHE • HUMBOLDT
DARWIN • HAECKEL
VIER VORTRÄGE
VON
WALT HER MAY
PRIVATDOZENT AN DER TECHNISCHEN HOCHSCHULE
IN KARLSRUHE
VERLAG ENNO QUEHL in BERLIN-STEGLITZ
MDCCCCIV
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1
MEINER MUTTER
Uer Vortrag ^Goethe und Humb oldt"
wurde im na tur wissenschaftlichen Ver-
ein zuKarlsruhe gehalten und erschien
zuerst in den Verhandlungen dieses
Vereins.
Der Vortrag „Goethe und Darwin"
ist eine starke Umarbeitung und Er-*
Weiterung eines ebenfalls im Karls-
ruher naturwissenschaftlichen Verein
gehaltnen und in seinen Verhandlungen
gedruckten Vortrags . über ^Goethes
Verhältnis zurNatur und ihrerWissen-
schaft".
Der Vortrag „Humboldt und Darwin"
wurde als Antrittsrede bei der Habili-
tation des Verfassers an. der T.ech-
nischen Hochschule in Karlsruhe ge-
halten und erschien zuerst in den
Preüssischen Jahrbüchern.
Der Vortrag „Darwin und Haeckel"
wurde im na turwiss en schaftlichen Ver-
ein zu Karlsruhe bei G eleg enhei t des
siebzigsten Geb ur ts t ags H ae ckels ge-
halten und erscheint hier zum ersten
Mal gedruckt.
INHALTS -VERZEICHNIS.
Seite
Goethe nnd Humboldt 7
Goethe und Darwin. 49
Hnmboldt nnd Darwin .... 149
Darwin nnd Haeckel 179
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN.
vor Seite
Goethe. Nach Trippeis Büste in der Weimarer
Bibliothek. . 9
Alexander v. Humboldt. Nach Weitschs Ge-
mUde in der Nationalgalerie, Berlin 17
Schloss Tegel. Nach Photographie 33
Goethe. Nach Kolbes Gemälde im Weimarer Goethe-
nationalmuseum 51
Goethes Gartenhaus. Nach Photographie ... 65
Goethes Arbeitszimmer. Nach Photographie 81
Charles Darwin. Nach Photographie 97
Darwins Landhaus in Down. Nach Zeichnung
von A. Parsons 113
Darwins Arbeitszimmer. Nach Zeichnung von
A. Parsons 129
Der Tod als Herkules nimmt dem Atlas Hum-
boldt den Kosmos ab. Nach Zeichnung von
W. y. Kaulbach (Totentanz, Blatt IV). . . . 151
Begräbnisstätte der Familie Humboldt in
Tegel. Nach Photographie 161
Charles Darwin. Nach Colliers Gemälde in der
Londoner National-Portrait-Gallery 181
Ernst Haeckel. Nach Photographie 193
Jena. Nach Photographie 209
Ernst Haeckel. Nach Photographie 225
Ernst Haeckels Villa in Jena. Nach Photographie 241
•GOETHE UND HUMBOLDT
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LS man im Jahre 1862 eine Zusammen-
stellang der Statuen Goethes, Lessing»
und Schillers vor dem Berliner Schau-
spielhause plante, da widersetzte sich
Jakob Grimm, der ältere der beiden
Märchenbrüder, diesem Vorhaben mit den Worten:
„Neben Goethe stehen könnte einer nur, Humboldt.**^
Grimm stand damals noch ganz im Banne des mächtigen
Eindrucks, den der erst drei Jahre früher verschiedene
Alexander v. Humboldt auf seine Zeitgenossen ausge-
übt hatte. Man verehrte in Humboldt den Fürsten im
Reiche des Wissens ; die Universalität seiner wissen-
schaftlichen Bildung schien die Berechtigung in^sich zu
tragen, ihn einem Universalgeist wie Goethe an die
Seite zu stellen. Heute hat sich die Stellung der
Gebildeten Deutschlands zu beiden Männern wesent-
lich geändert. Goethe ist uns näher gerückt, sein
Bild hat sich dem Herzen des deutschen Volkes tiefer
eingeprägt, als das irgend eines andern deutschen
Genius ; die enthusiastische Jubelfeier seines 1 50. Ge-
burtstags hat das zur Genüge bewiesen. Humboldt
— lO —
■dagegen ist herabgesunken von seiner Höhe, seine
Persönlichkeit ist zu einem Schemen geworden ohne
Fleisch und Blut, und die Mehrzahl der Gebildeten
weiss von dem einst so enthusiastisch Verehrten nicht
mehr, als dass er eben ein grosser Naturforscher
war. Alexander von Humboldts 150. Geburtstag
ging stille vorüber, so stille als sein 100. Geburtstag
mit lautem Jubel gefeiert wurde. Selbst unter den
Männern der Wissenschaft finden sich wenige, die Hum-
boldts Schriften eingehender studiert haben, und wäh-
rend Goethes Werke in immer neuen Ausgaben die
Welt durchwandern, hat sich noch nicht einmal die Re-
clamscheUni Versalbibliothek dazu entschliessen können,
•das populäre Hauptwerk Humboldts, den „Kosmos",
-dessen Titel jeder, dessen Inhalt niemand kennt, dem
lesenden Publikum leichter zugänglich zu machen.
Niemand wird es bedauern, dass Goethes Bild
im Laufe der Zeit das Humboldts überstrahlt hat.
Selbst der begeistertste Verehrer des grossen Forschers
wird heute Jakob Grimms Ausspruch nicht mehr
unterschreiben wollen. Ob aber die weltgeschicht-
liche Bedeutung Alexander v. Humboldts so gänzlich
<Jer Vergessenheit anheimzufallen verdiente, wie sie
es tatsächlich ist, das dürfte doch billig zu bezweifeln
^ein. Un d Goethe selbst würde zu diesen Zweiflern
gehören. Hat er doch dem Wirken Humboldts gar
viel zu verdanken. Wie bei der Frage, ob Schiller
oder Goethe der grössere von beiden sei, würde er
vielleicht auch bei einem Vergleich zwischen seiner
und Humboldts Grösse die Antwort geben, man
— II —
solle sich freuen, zwei solcher Kerle zu besitzen.
So berechtigt dieser Ausspruch in vieler Hinsicht
aber auch ist, so hat doch andererseits ein Vergleich
zwischen zwei Männern, deren Lebensschicksale sich
vielfach berührt haben, einen eigenen Reiz, und er
wird auch am besten eine Antwort auf die Frage
geben, warum der eine dem deutschen Volke näher
gerückt, der andere fast vollständig seinem Gedächt-
nis entschwunden ist.
Zwei Momente werden bei einer vergleichenden
Betrachtung Goethes und Humboldts getrennt zu
berücksichtigen sein : der Mensch und der Forscher.
Gehen wir zurück auf die frühste 'Jugendzeit beider
Männer, so treten uns sofort bedeutungsvolle Gegen-
sätze vor Augen. Bei kaum einer andern historischen
Persönlichkeit kommt wohl das Gesetz der Vererbung
zu grösserem Recht als bei Goethe, bei keiner scheint
es uns mehr im Stiche zu lassen als bei Humboldt.
Goethe selbst erzählt uns in jenem bekannten kleinen
Gedicht, dass er vom Vater die Statur und die ernste
Führung des Lebens, von der Mutter die Frohnatur
und die dichterische Ader, von dem Grossvater das
liebebedürftige Herz, von der Grossmutter den Ge-
fallen an Schmuck und Gold geerbt habe. Die
Eltern keines andern grossen Mannes sind so populär
geworden, wie die Eltern Goethes. Beide haben ihre
Biographen gefunden, und vollends hat sich das Bild
der Frau Rat mit unauslöschlichen Zügen unserm
Herzen eingeprägt. Wie zu ihren Lebzeiten keine
Mehschenseele missvergnügt von ihr weggegangen
— 12 —
ist, wess Alters, Standes und Geschlechts sie auch
gewesen sein mag, so erquickt auch heute noch ihr
Briefwechsel mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel
jeden, der ihn liest. Aus jeder Zeile atmet da der Hauch
der schönsten, tiefsten Mutterliebe, und man lernt
verstehen, dass an solcher Mutterbrust ein solcher
Mensch erblühen konnte. Nur diese Frau konnte
den unerschöpflichen Fond an Gemütswärme und
Gemütstiefe auf den Sohn übertragen, dem immer
neue Ströme lebensvoller Dichtung entquillen sollten.
Wohltuend berührt die behagliche Breite, mit
der Goethe in Dichtung und Wahrheit bei der
Schilderung seiner sonnigen Jugend verweilt. Wirft
auch das strenge Regiment des pedantischen Vaters
hier und da einen Schatten in das junge Dasein,
ein Hauch der lebensfrohen Mutter macht alles wieder
gut. Gern und freudig versenkt sich Goethe in diese
Zeit, Wilhelm Meister legt davon nicht weniger Zeug-
nis ab als seine Autobiographie, und das Bild, das
er im Goetz von Berlichingen und in Hermann und
Dorothea von seiner Mutter entworfen hat, spricht
beredter als jede Lobrede von dem Verhältnis des
Sohnes zur Mutter.
Damit vergleiche man nun die Stellen, an denen
sich Alexander v. Humboldt in seinen Briefen über
seine Kinder- und Jünglingsjahre ausspricht. Nur
selten und niemals freudig gedenkt er des elterlichen
Hauses. Ein geistiger Konnex zwischen seiner Familie
und ihm scheint überhaupt nicht zu bestehen, eine
Vererbung bestimmter Charaktereigentümlichkeiten
— 13 —
lässt sich nicht nachweisen. Seine Vorfahren waren
Juristen und hohe Militärs, aus deren Geisteseigen-
schaften sich Alexanders ausgesprochene Reiselust
und rastloser Forschungstrieb nicht erklären lassen.
Dass der Vater, der Kammerherr des Kronprinzen,
„schöne Spazierörter anlegte, nicht nur in englän-
dischem Geschmack sondern auch im Wilden, mehren«
teils aber in amerikanischen Bäumen^, wie ihm der
Geograph Büsching nachrühmt, kann wohl kaum als
ein Hinweis auf Alexanders leidenschaftliche Liebe
zur Natur und zum Naturstudium gedeutet werden.
Bereits in seinem zehnten Lebensjahre verliert
Humboldt den Vater, und die Mutter leitet von nun
an die Erziehung der beiden Söhne. Elisabeth von
Humboldt, geborene von Colomb, verwitwete von
Hollwede, Begründerin des bedeutenden Grundbesitzes
der Familie, ist in jeder Hinsicht das Gegenteil der
Elisabetha Goethe. Licht und Wärme strahlt von
dem sonnigen Wesen der Frau Rat aus auf ihre
Umgebung, fröhliche Geselligkeit ist ihr Element.
Fröstelnde Kälte verbreitet Frau von Humboldt in
ihrem Kreise, traurige Einsamkeit und Abgeschlossen-
heit im Tegeler Schlösschen sind die Folgen ihrer
schweren Krankheit. Fast nur wehmütige Erinne-
rungen knüpfen sich für Alexander an das idyllische
Tegel, das ,Schlo8S Langweil' seiner Jugendbriefe.
Als er von der Bergakademie Freiberg nach Berlin
zurückgekehrt ist, schreibt er dem Freunde Freies-
leben: „Hier in Tegel habe ich den grössern Teil
dieses traurigen Lebens zugebracht, unter Leuten,
— 14 —
die mich liebten, mir wohlwollten und mit denen ich
mir doch in keiner Empfindung begegnete, in tausend-
faltigem Zwange, in entbehrender Einsamkeit, in
Verhältnissen, wo ich zu steter Verstellung, Auf-
opferungen u. 8. w. gezwungen wurde. Wenn ich
mich noch jetzt, da ich frei und ungestört hier lebe,
hingeben will in den Genuss, den die reizende, an-
mutsvolle Natur hier in so reichem Masse gewährt^
so werde ich zurückgerufen durch die widrigsten
Eindrücke, durch Erinnerungen an meine Kinder-
jahre, die selbst jeder leblose Gegenstand hier rege
macht.**
Für die eigenartige Individualität ihrer Söhne
scheint die Mutter wenig Verständnis besessen zu
haben. War es doch anfangs ihr Wunsch, die Söhne
in die grosse Welt einzuführen, wo ihnen eine glän-
zende Laufbahn offen stand, und nur dem Einfluss
ihres Erziehers Kunth ist es zu danken, dass den in
ihnen schlummernden Neigungen gebührende Rech-
nung getragen wurde. Wundern dürfen wir uns des-
halb nicht, dass Humboldt den in seinem 27. Lebens-
jahr erfolgten Tod seiner Mutter fast wie eine Er-
lösung empfand und er an Freiesleben die scheinbar
herzlosen Worte schrieb: „Du weisst, mein Guter^
dass mein Herz von der Seite nicht empfindlich ge-
troffen werden konnte, wir waren uns von jeher fremd".
Erst der Tod der Mutter ermöglichte es ihm auch,
aus dem Staatsdienst zu scheiden und seine seit
frühster Jugend gehegten Reisepläne zur Ausführung
zu bringen.
— 15 —
Nur in einem Punkte gleichen sich Goethens und
Humboldts Jugendjahre: beide stammen von be-
güterten Eltern und haben mit der äussern Not
des Lebens nicht zu kämpfen. Eine treffliche wissen*
schaftliche Erziehung kann daher beiden zuteil
werden. Aber während der kleine Goethe spielend
den sprödesten Stoff in sich aufnimmt und verarbeitet,
während seine Frühreife alle in Erstaunen und Ent-
zücken versetzt, müht sich der kleine Humboldt
vergebens, die 24 Klassen des Linn6schen Pflanzen-»
Systems seinem schwachen Gedächtnis einzuprägen.
Sein Auffassungsvermögen ist so gering, dass seine
Lehrer ganz daran verzweifeln, es möchten sich je
auch nur miltelmässige Geistesgaben bei ihm ent*
wickeln. Aber doch regen sich auch bereits in diesen^
körperlich schwachen und geistig nicht sehr auf-^
geweckten Kinde sehnsuchtsvolle Stimmungen , die
seine grosse Zukunft im Keime bergen. Er dichtet
und erzählt zwar keine Märchen, er baut denv
lieben Gott keine Altäre, er sinnt nicht nach über
die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse wie
der Icleine Goethe, aber der Anblick geographischer
Karten und die Lektüre von Reisebeschreibungen
üben einen geheimen unwiderstehlichen Zauber auf
ihn aus und erwecken in ihm die Sehnsucht, in ent-
fernte, von Europäern wenig besuchte Länder zu
reisen. Immer mächtiger fühlt er in sich die Leiden-
schaft für das Meer und für lange Schiffahrten sich
entwickeln, und Furcht und Schmerz setzen seine
junge Seele in Bewegung, wenn er daran denkt, der
— i6 —
Hoffnung entsagen zu müssen, die schönen Stern-
bilder zu sehen, die in der Nähe des Südpols leuchten.
Dabei sammelt er eifrig Pflanzen, Steine und In-
sekten, und man nennt ihn scherzweise den ,kleinen
Apotheker*. Ein unbestimmtes Sehnen nach dem
Ideal deutet sich in seiner Kindesseele nicht weniger
an, als in der Goethens.
Dem Leben im Elternhaus folgen für beide
Männer die Studienjahre auf der Universität. Auch
hier wieder Gegensätze prinzipieller Natur. Syste-
matisches Studium liegt dem jungen Goethe fern.
Er tastet auf allen Gebieten, er ist fleissig, aber nur
in dem, was ihn gerade interessiert, er geht nicht
darauf aus , einen abgeschlossenen Wissensstoff sich
anzueignen. Sein eigentliches Fachstudium, die Juris-
prudenz, wird arg vernachlässigt, aber er arbeitet
intensiv an der allgemeinen Bildung seines äussern
und innern Menschen. Leipzig is^ für ihn das Klein-
Paris, das seine Leute bildet, aber auch in Strass-
burg gewinnt er mehr durch den Anblick des
Münsters, Herders mächtig fördernden Einfiuss und
Friederikens Liebe, als durch den Besuch der Uni-
versitätsvorlesungen.
Anders Humboldt. Von vornherein stürzt er
sich mit Rieseneifer und unermüdetem Fleiss in
systematische Studien. Das Lernen im engern Sinn,
das Lernen aus Büchern und Vorlesungen steht für
ihn im Vordergrund. Mit grösster Regelmässigkeit
besucht er alle Kollegien, wozu Goethe sich nur im
Anfang entschliessen konnte. Er tastet nicht nach
Alexander v. Humboldt
^ - . ^-
-V"*"*
— 17 —
dieser und jener Seite, um zu erfahren, was ihm am
meisten zusagt, sondern bewegt sich in bestimmten,
mehr oder weniger fest vorgeschriebenen Bahnen.
Sein Ziel steht ihm immer unverrückbar vor Augen,
und dieses Ziel zu erreichen setzt er alle Kräfte ein,
oft bis zur Überanstrengung seines immer noch
schwachen Körpers. Wenn das innerste Interesse an
der Sache, die heiligste Liebe zu seiner Wissenschaft
ihn nicht geleitet hätten, so könnte man sein Studium,
verglichen mit dem Goethens, fast ein philisterhaftes
nennen.
In Frankfurt an der Oder legt er zunächst
durch das Studium der Cameralwissenschaften den
festen Grund zu seiner späteren Laufbahn als Be-
amter. In Berlin lässt er sich dann durch Willdenow
in die Botanik einführen, treibt Griechisch, Mathe-
matik und Zeichnen. In Göttingen, dessen Uni-
versität gerade damals in der Blüte ihres wissen-
schaftlichen Rufes steht, erhält er durch Lichtenberg,
Kästner und Blumenbach seine allgemein, natur-
wissenschaftliche Ausbildung und macht die bedeu-
tungsvolle Bekanntschaft Georg Forsters , den er
auf seiner Reise nach Holland, England und Frank-
reich begleitet und der von neuem die Sehnsucht
nach fremden Ländern in ihm weckt.
Humboldts Verhältnis zu Forster lässt sich in
gewissem Sinn vergleichen mit Goethens Verhältnis
2U Herder. Beide Jünglinge finden zu einer Zeit, in
der ihre Gemüter am empfänglichsten sind, Männer,
die den Born ihres reichen Geistes freudig fliessen
2
— i8 —
lassen zugunsten der wissensdurstigen und be-
geisterungsfahigen Seelen, die sich an ihnen erwärmen
und entzünden. Aber auch hier tritt uns sofort der
Unterschied beider Charaktere entgegen, Goethe
wählt sich zum Mentor einen Mann, der ihn wie
einen verzogenen Jungen behandelt, der ihn mit
einem Specht und Spatzen vergleicht und seinen
unreifen Kunstenthusiasmus verspottet. Gerade das
Gegensätzliche der Naturen zieht ihn an* Was
Goethe von Herder lernt ist etwas ganz Neues, etwas,
das eine totale Revolution in seinen dichterischen
und künstlerischen Anschauungen hervorruft. Herders
Lehre von dem nationalen Charakter aller Poesie
und bildenden Kunst, seine Entdeckung der Volks-
poesie, seine Wiedererweckung Homers, Shakespeare»
und der Bibel werfen alles über den Haufen, was
dem Leipziger Studenten lieb und wert geworden
war. Herders Einfiuss macht ihn zu einem neuen
Menschen, weist ihm die Bahnen, auf denen er seine
ersten Lorbeeren als deutscher, als nationaler Dichter
ernten soll. Wie ein Blindgeborener, so äussert er
selbst, steht er da, dem eine Wunderhand das Gesicht
in einem Augenblicke schenkt.
Humboldt dagegen schliesst sich an eine ihm in
jeder Hinsicht ähnliche, gleichartige Natur. Er
findet in Forster das wieder, was er selbst bereits
in sich trägt, dieselben Gedanken, dieselben Stim-
mungen, dieselbe Richtung des Geistes, nur in voll-
endeterer, gereifterer Form. Forster hat das bereits
hinter sich, was Humboldt erst ersehnt, er hat als
— 19 —
Begleiter Cooks auf dessen zweiter Weltumsegelung
fremde Länder mit verständnisvollem Forscherauge
geschaut. Er weiss daher reiche Schätze des Wissens
und der Naturanschauung seinem jungen Freunde zu
bieten, er weiss Bilder vor seine Seele zu zaubern,
die seiner Phantasie unerschöpfliche Nahrung ge-
währen. Aber alles das befestigt und bestätigt nur
Humboldts bisherigen Geisteszustand, es revolutioniert
ihn nicht. Noch in seinem Alter gedenkt Humboldt
anerkennend dessen, was er Forster in Verall-
gemeinerung der Naturansicht, Bestärkung und £nt-
wickelung von dem, was lange vor jener glücklichen
Vertraulichkeit in ihm geschlummert, verdanke. Er
spricht von gleicher Richtung politischer Meinungen,
keineswegs durch Forster erzeugt, sondern viel älter
und nur genährt. Für Goethe ist die Gewinnung eines
neuen Standpunkts, für Humboldt die Festigung und
Sicherung des alten das Erstrebenswertere.
Nach der Beendigung der Reise mit Forster
bezieht Humboldt die Handelsakademie in Hamburg,
um sich mit Buchführung und Kontorarbeiten ver-
traut zumachen. Dann geht er auf die Bergakademie
in Freiberg, wohin Werners hervorragende Persön-
lichkeit zahlreiche Schüler aus allen Ländern zieht.
Hier erhält er seine spezielle mineralogische und
bergmännische Ausbildung, die ihn befähigt, in den
Staatsdienst zu treten. Er wird Assessor bei der
preussischen Bergwerks- und Hüttenadministration
und bereits ein halbes Jahr später Oberbergmeister
in Franken.
— 20 —
Es ist ein eigenartiger Zufall, dass sowohl Goethens
wie Humboldts erste staatsdienstliche Tätigkeit die
Förderung des Bergbaus zum Gegenstand hat. Gleich
nach seinem Eintritt in den Weimarer Staatsdienst
bemüht sich Goethe um die Wiederherstellung des
seit etwa 30 Jahren geschlossenen Silberbergwerks in
Ilmenau. Er lässt sich von Trebra in das Bergwerks-
wesen einführen, studiert eifrig die Hennebergische
Bergordnung und besucht die Bergwerke in Clausthal
und Andreasberg, um den lebendigen Betrieb aus
eigener Anschauung kennen zu lernen. Nach acht-
jähriger unermüdlicher Tätigkeit und nach Über-
windung zahlreicher Schwierigkeiten hat er endlich
die Freude, die Festrede zur Wiedereröffnung des
Ilmenauer Bergbaus halten zu können.
Auch Humboldt leistet als fränkischer Oberberg-
meister Aussergewöhnliches , trotz der zahlreichen
wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn neben seiner
amtlichen Tätigkeit beschäftigen. Er hebt den Berg-
bau in den fränkischen Fürstentümern in hervor-
ragendem Grade und sorgt ausserdem durch Er-
richtung einer bergmännischen Freischule für die
geistige Bildung und Erziehung der in krasser Un-
wissenheit und abergläubischen Vorurteilen dahin-
lebenden Bergleute, deren materielles Wohl ihm nicht
weniger am Herzen liegt. Aber wie für Goethe, so
iist auch für Humboldt die staatsdienstliche Tätigkeit
nur Mittel zum Zweck. Beide erfüllen ihre amtlichen
Pflichten mit grösster Treue und regem Interesse,
aber ihren innerstenLebensberuf sehen sie nicht darin.
— 21 —
und ihr Höchstes leisten sie auf anderm Gebiete.
In dem Minister Goethe wie in dem Oberbergmeister
Humboldt sind alte Jugendträume noch nicht ver-
klungen, sie sehnen sich hinaus aus den engen
Grenzen ihrer staatsdienstlichen Tätigkeit nach den
Ländern ihrer kindlichen Sehnsucht, Goethe nach
Italien, Humboldt nach den Tropen. Und nach
vielen gescheiterten Plänen und mancher getäuschten
Hoffnung gehen beider Träume in Erfüllung.
Nach fast zweijähriger Abwesenheit kehrt
Goethe, nach über fünfjähriger Humboldt in die
Heimat zurück. Beide haben gefunden was sie ge-
sucht : Goethe hat die Antike von Angesicht zu
Angesicht geschaut und ihr wahres Wesen er-
fasst, Humboldt überreiches Material zum Aus-
bau der wissenschaftlichen Erdkunde gesammelt.
Aber während der Mensch in Goethe ein anderer
geworden ist, ist der Mensch in Humboldt derselbe
geblieben.
Die italienische Reise offenbart Goethe seinen
eigentlichen Lebensberuf. Noch bis zu seinem zweiten
Aufenthalt in Rom war er darüber im Zweifel ge-
wesen, ob er mehr zum Dichter oder zum bildenden
Künstler berufen sei. Dann aber schreibt er die
entscheidenden Worte : „Zur bildenden Kunst bin
ich zu alt. Von meinem längern Aufenthalt in
Rom werde ich den Vorteil haben, dass ich auf
das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht tue**.
Alexander v. Humboldt ist nie über seinen Lebens-
beruf im Zweifel gewesen. Seit seiner frühesten
— 22 —
Jugend hat er danach gestrebt, unbekannte Länder
forschend zu durchwandern.
Noch eine zweite, den Menschen Goethe modelnde
Erkenntnis kommt ihm in Italien. £r entdeckt
zwei Kapitalfehler seiner bisherigen Arbeitsweise.
,, Einer ist,^ schreibt er, ,,dass ich nie das Hand-
werk einer Sache, die ich treiben wollte oder sollte,
lernen mochte. Daher ist es gekommen, dass ich
mit so viel natürlicher Anlage, so wenig gemacht
und getan habe. . . Der andere, nah verwandte
ist, dass ich nie so viel Zeit auf eine Arbeit oder
Geschäft wenden mochte, als dazu erfordert wird."
Auch hierin war Humboldt Goethe unähnlich.
Mit bewundernswerter, fast . pedantischer Gründ-
lichkeit betreibt schon der angehende Forscher alle
seine Arbeiten. Die philologischen Teile seiner
Studie über die Basalte am Rhein legen davon
nicht weniger Zeugnis ab, als seine botanischen
Arbeiten über die grüne Farbe unterirdischer Vege-
tabilien und seine physiologischen Untersuchungen
über die gereizte Muskel- und Nervenfaser. Und
mit derselben Gründlichkeit betreibt er die Vor-
bereitungen zu seiner grossen amerikanischen Reise.
Astronomische, geodätische und hypsometrische
Messungen beschäftigen ihn lange Zeit, er versieht
sich mit den besten nautischen Instrumenten und
übt sich in ihrem Gebrauch. Die Sammlungen
spanischer und amerikanischer Mineralien des Frei-
herrn von Rackwitz in Dresden, die Pflanzen-
sammlungen der kaiserlichen Gärten zu Schönbrunn,
— 23 —
die botanischen Sammlangen in Madrid studiert er
eifrig im Hinblick auf das, was ihm bald in der
Natur der fremden Länder entgegentreten wird.
Diese systematische und geduldige Art des wissen-
schaftlichen Arbeitens liegt tief in Humboldts Natur
begründet, Goethe erzieht sich dazu erst in Italien.
Die veränderte Stellung zur Weimarer Gesell-
schaft, zur deutschen Dichterwelt und zum deutschen
Publikum, der Bruch mit Frau von Stein und die
Anknüpfung des Verhältnisses mit Christiane Vulpius
sind weitere Belege für Goethens Wandel in ethischer
Hinsicht. Die italienische Reise bezeichnet eine
der vielen grossen und tiefgehenden Revolutionen,
die Goethens innerstes Sein erschüttert und gemodelt
haben. Humboldts Leben ist so gut wie frei von
solchen Revolutionen. Damit ist ein Kernpunkt
in der Verschiedenartigkeit beider Geister angedeutet.
Goethens Wesen ist in beständiger ethischer
Mauserung begriffen, sein Entwickelungsgang ist cha-
rakterisiert durch die Fülle und Mannigfaltigkeit seiner
inneren Erlebnisse. Mit dem Augenblick, in dem
der Leipziger Student die altmodische Kleidung und
altfränkische Ausdrucksweise seiner Vaterstadt ablegt,
beginnt die lange Reihe seiner ethischen Wandlungen.
Bereits in Leipzig führt ihn Oesers Schönheitsideal
zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit der
Meisterschaft des Jünglings. Der Wert und die Be-
deutung der Erfahrung leuchten ihm ein, sein Streben
geht nun dahin, die vorgefassten Meinungen em-
pirisch zu bestätigen und zu berichtigen. Herders
— 24 —
Einfluss in Strassburg bringt ihn zum Bewusstsein
seines Genius, die Liebe zu Friederike als tiefernstes
inneres Erlebnis reift ihn zum Mann. Selber leidend
lernt er viel. Der Sturm und Drang entfesselt alle
Zügel seiner Leidenschaft, in der Periode des Götz
und Werther tobt sich sein ungestümes Freiheits- und
sentimentales Naturgefühl aus. Es folgt eine Zeit
der Sammlung, des Zurückziehens vom lauten Treiben
der Welt, der Einfluss der Werke Spinozas macht
sich geltend. Nur das tolle Leben der ersten Wei-
marer Zeit durchbricht noch einmal stürmisch den
aufsteigenden Gang seiner Entwickelung. Dann ersteht
ihm in Frau von Stein der Genius, der dem heissen
Blute Mässigung tropft, in dessen Engelsarmen die
zerstörte Brust sich wieder ausruht. Die italienische
Reise und der Freundschaftsbund mit Schiller be-
zeichnen weitere Etappen in dem aufsteigenden Ent-
wickelungsgang des Dichters. Als ein grossartiges
Beispiel konsequent durchgeführter Selbsterziehung
steht Goethens Leben vor uns, das grösste seiner
Kunstwerke hat es ein neuerer Biograph mit Recht
genannt. Goethens Leben ist ein beständiger Kampf
mit den feindlichen Mächten des menschlichen Wesens,
sein Geist muss sich erst allmählich durchringen zur
Festigkeit und Stetigkeit der späteren Jahre. „Ich
musste,** so schreibt er 1817, „mehrmals meine
Existenz aus ethischem Schutt und Trümmern wieder
herstellen, ja tagtäglich begegnen uns Umstände, wo
die Bildungskraft unserer Natur zu neuen Restaurations-
Reproduktionsgeschäften aufgefordert wird."
— 25 —
Ganz andersartig ist der Entwickelungsgang
Alexander v. Humboldts. Von einer eigentlichen
ethischen Selbsterziehung kann bei ihm kaum ge-
sprochen werden. Als Student und Staatsmann, als
Reisender und Forscher, als gefeierter Gelehrter und
preussischer Hofmann bleibt er immer derselbe.
Gute und weniger gute Eigenschaften begleiten ihn-
durchs ganze Leben. Von einer Sturm- und Drang-
periode seiner Jünglingsjahre wissen wir nichts, der
Kampf mit den Leidenschaften bleibt ihm erspart»
^ Keine starke Leidenschaft wird mich hinreissen.
Ernsthafte Geschäfte und am meisten das Studium
der Natur werden mich von der Sinnlichkeit zurück-
halten." So schreibt er kurz vor seiner Abreise
nach Göttingen an einen seiner Freunde. Und er
hat Wort gehalten. In strenger stetiger Arbeit
fliessen seine Studienjahre dahin. Keinem unglück-
lichen Mädchen hat er jubelnd das Herz zerstochen,
keinen Wein aus Totenschädeln hat er getrunken.
Sein rastloser, unbezwinglicher Forschungstrieb ver-
schlingt und erstickt alle anderen Regungen, der
Intellekt triumphiert ohne Kampf über den sinnlichen
Menschen. Von zarten Herzensbeziehungen Hum-
boldts ist kaum etwas bekannt, zeitlebens bleibt er
unvermählt. Scherzend pflegte er zu sagen , die
Wissenschaft sei seine einzige Liebe gewesen. So
reich das Liebesleben Goethens, so arm das Hum-
boldts.
Glücklich dürfen wir wohl eine solche Natur
nennen, die von einer grossen Idee erfüllt, an allen
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— 26 —
Abgründen des Lebens gefahrlos vorübergeht. Aber
grösser erscheint uns doch der Mensch, der den
I^eidenschaften unterworfen, sein Leben selbst ge-
staltet und herausrettet aus ethischem Schutt und
Trümmern.
Goethe ist eine Faustnatur, Humboldt nicht.
Goethe hadert mit dem Schicksal, er verzweifelt an
der Fähigkeit des Menschen, zur Erkenntnis des
Wesens der Dinge vorzudringen. Alle Qualen geistigen
und ethischen Skeptizismus erduldet er. Humboldt
«teht von Anfang an auf dem Standpunkt, den Goethe
fläch Überwindung der faustischen Periode sich er-
obert hat. Er sieht den Weg, den er gehen muss,
klar und bestimmt vor sich, Goethe muss sich ihn
€rst hauen durch Dornen und Gestrüpp. Goethe steht
uns daher menschlich näher als Humboldt, sein
dornenvoller Erkenntnisweg, sein Irren und Leiden
weckt tiefere Sympathieen für ihn. Es ist die alte
Wahrheit vom Sünder der Busse tut. Die klare Er-
kenntnis dieses Verhältnisses der beiden Geistes-
heroen erlaubt uns nicht, sie menschlich auf eine
Stufe zu stellen. Mit hoher Verehrung schauen wir
gewiss auf zu der trotz mancher kleinlichen Schwächen
grossen und edlen Natur Alexander v. Humboldts,
aber Grimms Ausspruch, dass er allein berechtigt
sei, Goethe zur Seite zu stehen, ist uns heute un-
verständlich. —
Goethe gehört zu den auserwählten Persönlich-
keiten der Geschichte, bei denen uns der Mensch
nicht weniger interessiert, als der Dichter, Forscher
— 27 —
und Schriftsteller. Mehr als je weiss man heute
Mercks Wort zu würdigen: Was Goethe gelebt sei
fast noch schöner als was er geschrieben. Bei
Humboldt verdrängt der Forscher und Schriftsteller
fast den Menschen. Als Forscher bezeichnet er
einen gewaltigen Markstein in der Geschichte der
Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, steht er eben-
bürtig neben dem Forscher Goethe.
Zwei Momente treten uns in Humboldts Natur-
forschertätigkeit als charakteristisch vor Augen: streng
empirische Einzelforschung und ernstes Streben
nach Erfassung und Darstellung eines harmonisch
geordneten Weltganzen, Jene eigenartige Ver-
schmelzung wissenschaftlicher und ästhetischer Ge-
sichtspunkte, die das ganze Zeitalter charakterisiert,
ist in seiner Geistesrichtung am prägnantesten ver-
körpert. Und darin berührt er sich mit Goethe.
So grundverschieden Humboldt und Goethe als
Naturforscher in einer Hinsicht sind, so ähnlich
sind sie sich in anderer. Goethe hat als tätiger
Forscher verhältnismässig wenig gemein mit dem
Humboldt, der die Muskel- und Nervenfaser dem
galvanischen Strom unterwirft, der die Atmosphäre
analysiert und die Orte gleicher mittlerer Temperatur
durch Isothermen verbindet. Er hat auch wenig
gemein mit dem Humboldt, der als Reisender gegen
6000 Pflanzenarten einsammelt und in dreissig dick-
leibigen Bänden die wissenschaftlichen Ergebnisse
seiner Reise niederlegt. Aber er hat sehr viel ge-
mein mit dem Humboldt, der in den Ansichten der
— 28 —
Natur und im Kosmos eine Brücke zu schlagei>
sucht zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer
Naturbetrachtung, der die zarten Fäden aufsucht^
die das menschliche Gemüt mit der Natur verbinden
und der in der Erkenntnis der Einheit der Natur
die höchste Blüte und Erucht alles Naturstudiums
erblickt.
Humboldt ist wie Goethe tief durchdrungen
von der Überzeugung, dass die wissenschaftliche
Erforschung der Natur das ästhetische Bedürfnis
des Gemütes nicht verletzt und verdrängt, sondern
erweitert und vertieft. Und andererseits glaubt er
durch eine ästhetische Darstellung der Ergebnisse
der Naturforschung diese einem grösseren Kreise
verständlicher und zugänglicher zu machen. Er
geht in seinen allgemeinern Werken mit Bewusstsein
darauf aus, nicht nur den erkennenden Verstand^
sondern auch das empfindende Gemüt zu befriedigen,
er will gleichzeitig die Phantasie beschäftigen und
durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen
bereichern. Wie Goethe die Ergebnisse seines
wissenschaftlichen Denkens in formvollendete Verse
giesst, so befleissigt sich Humboldt einer dichterischen
Prosa. Und zum Gegenstand dieser wählt er in
erster Linie die Vegetationsformen der tropischen
Landschaft, denen die wissenschaftliche wie die
ästhetische Betrachtung gleich viel abzugewinnen
vermag.
Die im Jahre 1807 erschienenen „Ideen zu einer
Geographie der Gewächse nebst einem Naturgemälde
— 29 —
<]er Tropenländer^ sind Humboldts erster grossartiger
Versuch die soeben angedeuteten Gesichtspunkte
praktisch zu verwerten. Sie bilden nach ihres Ver-
fassers eigenem Ausspruch die Grundlage seines
späteren Kosmos. Und bezeichnenderweise sind
sie Goethe gewidmet. Ein von Thorwaldsen ge-
zeichnetes sinnvolles Widmungsblatt soll andeuten,
dass es auch dem Dichter gelingen könne, den
Schleier der Natur zu heben. £s stellt den lorbeer-
bekränzten delphischen Apoll dar, in der Linken
-die Lyra haltend, mit der Rechten den Schleier
hebend von der Bildsäule der Isis, zu deren Füssen
ein Buch liegt mit der Aufschrift : „Die Meta-
morphose der Pflanze". Darunter stehen die Worte:
„An Goethe*.
In noch höherm Grade vielleicht als die Ideen
zu einer Geographie der Pflanzen verkörpern die
im folgenden Jahre erschienenen „Ansichten der
Natur* den ästhetisch-wissenschaftlichen Charakter
der Goethe -Humboldtschen Zeit. „Überblick der
Natur im Grossen, Beweis von dem Zusammenwirken
der Kräfte, Erneuerung des Genusses, den der un-
mittelbare Anblick der Tropenländer dem fühlenden
Menschen gewährt*, sind die Zwecke, nach denen
dieses Lieblingsbuch Humboldts strebt. Den durch
die politischen Verhältnisse der Zeit bedrängten
Gemütern ist es gewidmet. Sie sollen dem Ver-
fasser folgen in das Dickicht der Wälder, durch
die unabsehbare Steppe, auf den hohen Rücken
der Andeskette. Dort werden sie Trost finden, denn
— 30 —
Der Hauch der Grüfte
Dringt nicht hinauf in die blauen Lüfte,
Die Welt ist vollkommen überall
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.
Von den einzelnen Aufsätzen der „Ansichten^
bildet jeder ein in sich geschlossenes Ganzes, in allen
aber waltet dieselbe ästhetische Behandlung natur*
historischer Gegenstände. Humboldt verkennt keines-
wegs die grossen Schwierigkeiten, die sich einer
solchen trotz der herrlichen Kraft und Biegsamkeit
unserer vaterländischen Sprache entgegenstellen. £r
ist sich auch klar bewusst, nicht alle diese Schwierig*
keiten überwunden zu haben. Aber trotz mancher
stilistischer und sprachlicher Mängel — ich erinnere
nur an die langen Sätze und die ermüdende Häufung
der Adjektiva — stehen die Ansichten der Natur
noch heute in vieler Hinsicht als unerreichte Muster
ästhetischer Landschaftsschilderung da. Tief haben
sie auch jederzeit auf empfängliche, mit Phantasie
begabte junge Gemüter gewirkt In manchem
spätem grossen Naturforscher und Reisenden haben
sie die Liebe zur Natur und zum Naturstudium, die
Sehnsucht nach der unvergleichlichen Fülle und
Üppigkeit der tropischen Länder geweckt. Haeckel
erwähnt unter den Büchern, die in seiner Jugend
bestimmend auf seine Geistesrichtung eingewirkt
haben, neben Goethens Werken und Darwins Reise
auch die Ansichten der Natur.
Das Werk beginnt mit dem berühmten Natur-
gemälde der Steppen und Wüsten. In ihm schildert
— 31 —
Humboldt die Gefühle, mit denen die unermesslicb
ausgedehnte, tot und starr daliegende Steppe das
Menschengemüt erfüllt, er vergleicht sie mit den
Gefühlen, die der küstenlose, aber leicht bewegliche^
sanft aufschäumende Ozean erweckt. Die Llanos-
Südamerikas werden verglichen mit den Heideländern
des nördlichen Europa, den Sandwüsten Afrikas und
den Salzsteppen Asiens. Unübertroffen ist die Er»
klärung der klimatischen Verschiedenheiten Afrikas
und Amerikas, unübertroffen die Schilderung de&
wechselnden Anblicks der Steppe im Laufe des
Jahres. Grosse, allgemeine und vergleichende Ge-
sichtspunkte, Goethische Gesichtspunkte beherrschen^
die Schrift.
Ein anderer Aufsatz führt uns in das Dickicht
der Orinokowälder. Das nächtliche Tierleben im-
Urwalde wird meisterhaft geschildert, Brehms grosses-
Werk dem Geiste nach antizipiert.
Dann folgen die klassischen „Ideen zu einer
Physiognomik der Gewächse." Sie bezeichnen de»
Höhepunkt der Verschmelzung wissenschaftlicher und
ästhetischer Naturbetrachtung. Der Landschaftsmaler
und der Psycholog finden hier nicht weniger ihre
Rechnung als der denkende Botaniker. Humboldt
gibt in diesem Aufsatz ein ästhetisch-biologisches^
System der Pflanzenformen, die den Charakter oder
die Physiognomie einer Gegend bestimmen. Er be-
leuchtet zugleich den Einfluss dieser Physiognomie
auf das menschliche Gemüt. Die Dichterwerke der
Griechen und die rauheren Gesänge der nordischea
— 32 —
Ur Völker führt er teilweise auf den eigentümlichen
Charakter der Pflanzen zurück, die den Dichter ura-
^ben. Denn melancholische, ernst erhebende oder
fröhliche Bilder rufen die Pflanzenformen in uns
wach. Wir fühlen uns anders gestimmt in dem
<lunkeln Schatten der Buchen als auf Hügeln, die
von einzeln stehenden Tannen umsäumt sind, oder
auf der Grasflur, wo der Wind in dem zitternden
Laub der Birke säuselt. Dieser Einfluss der phy-
sischen Welt auf die moralische verleiht nach Hum-
boldt dem Naturstudium, wenn man es von höhern
Gesichtspunkten betrachtet, einen eigenen, noch zu
wenig erkannten Reiz.
Unter den Männern, die einer solchen Natur-
auffassung vorgearbeitet haben, nennt Humboldt
neben Georg Forster, Buffbn, St. Pierre und Cha-
teaubriand auch Goethe. Und Goethe seinerseits
begrüsst freudig den einen neuen Zweig der Botanik
anbahnenden Aufsatz Humboldts.
In seinem ausführlichen Referat in der Jena-
ischen Allg. Literaturzeitung nennt er ihn ein kleines
Gefäss mit köstlichen Früchten. Das im einzelnen
so kümmerlich ängstliche botanische Studium er-
scheine hier in seiner Verklärung auf einem Gipfel,
wo es uns einen lebhaften und einzigen Genuss ge-
währe. Habe Linn6 ein Alphabet der Pflanzen-
Gestalten ausgebildet, Jussieu, das grosse Ganze
schon naturgemässer aufgestellt, so tue nun Humboldt
den letzten Schritt und deute an, wie der so lange
geschichtete und rauchende Holzstoss durch einen
— 33 —
ästhetischen Hauch zar lichten Flamme belebt werden
könne.
Mit den Ideen zu einer Physiognomik der Ge-
wächse in innigem Zusammenhang stehen jene beiden
fast ein halbes Jahrhundert später veröffentlichten
Abschnitte des Kosmos, in denen der Einfiuss der
Landschaftsmalerei und der künstlichen Pflanzungen
auf die Belebung des Naturstudiums geschildert wird.
Ihnen voraus geht ein Kapitel, das die dichterische
Naturbeschreibung zum Gegenstand hat. In diesen
drei Abschnitten versucht Humboldt zu zeigen, wie
die Naturwelt zu verschiedenen Zeiten und bei ver-
schiedenen Völkerstämmen sehr verschieden auf die
Gedanken- und Empfindungswelt eingewirkt hat und
wie in einem Zeitalter allgemeiner Kultur das ernste
Wissen und die zarteren Anregungen der Phantasie
sich gegenseitig zu durchdringen streben. Er be-
rücksichtigt dabei in erster Linie die Beschreibungen
und Darstellungen jener reich geschmückten Länder
der Äquinoktialzone , deren Erforschung er selbst
viele Jahre seines Lebens gewidmet hat. Er erkennt
aber auch gern an, dass nicht nur die Tropen-
gegenden, sondera alle Länder des weiten Schöpfungs-
kreises, vom Äquator bis zu den Polen sich einer
begeisternden Kraft auf das Gemüt erfreuen können.
Zu einem solchen Glauben sei- Deutschland, Goethens
Vaterland, in erster Linie berechtigt.
„Wo ist das südlichere Volk,** so schliesst
Humboldt jenes Kapitel über dichterische Natur-
beschreibung, „das uns nicht den grossen Meister
3
- 34 —
der Dichtung beneiden sollte, dessen Werke alle ei»
tiefes Gefühl der Natur durchdringt: in den Leiden*
des jungen Werther wie in den Erinnerungen an>
Italien, in der Metamorphose der Gewächse wie iiv
seinen vermischten Gedichten? Wer hat beredter
seine Zeitgenossen angeregt, des Weltalls heilige^
Rätsel zu lösen, das Bündnis zu erneuern, welches-
im Jugendalter der Menschheit Philosophie , Physik
und Dichtung mit einem Bande umschlang? wer hat
mächtiger hingezogen in das ihm geistig heimische-
Land, wo
Ein sa,nfter Wind vom blauea Himmel webt, '
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?*'
Aber nicht nur jene beiden eben erwähnten^
Abschnitte des Kosmos, sondern überhaupt das ganze-
Werk, besonders aber die beiden ersten Bänd&
tragen jenen Charakter ästhetisch -wissenschaftlicher
Darstellung , . den wir bereits in den Ansichten der
Natur kennen gelernt haben, Humboldt verlangt
von einem Buche der Natur, dass es den Eindruck
wie die Natur selbst hervorbringt, dass es Phantasie
und Verstand iu gleicher Weise . anregt , dass e^-
sowohl ein Kunstwerk als ein wissenschaftliches Werk
ist. „Dena Ora torischen,'* so schreibt er an Varnr-
hagen; „piuss das einfach und wissenschaftlich Be-
schreibende immerfort gemischt seid. So ist , di^
Natur selbst. Die funkelnden Sterne erfreuen ,upjdb
begeistern , und doch kreist ^m Himmelsgewölbe
alles in mathematischen Figuren."
In d^r Einleitung zum Kosovos, d^n ^yBetrachi-
— 35 —
langen über die Verschiedenartigkeit des Natura
genusses^, führt er diese Ansichten weiter aus. £r
zeigt» dass die Natur sowohl Gegenstand der Er-
kenntnis als des ästhetischen Genusses ist und dass
dieser über jener nicht zugrunde zu gehen braucht.
In dem dann folgenden „Naturgemälde^, das uns
aus den tiefsten Tiefen des Weltalls und der Region
der fernsten Nebelflecke stufenweise herabführt bis
zu dem luft- und meerumspülten Erdball, seiner
Gestaltung, Temperatur, magnetischen Spannung
und Lebensfülle, sucht er dies an einem Beispiel
im einzelnen zu zeigen. Mit diesem Naturgemälde
schliesst er erste Kosmosband.
Der zweite behandelt im Gegensatz zur ob-
jektiven Darstellung der Erscheinungswelt den Reflex
der Natur auf den Menschengeist. Auch dieser ist
ein zweifacher, einer auf das Gefühl und die dichterisch
gestimmte Einbildungskraft und einer auf den er-
kennenden Verstand. Von jenem handelt der „An-
regungsmittel zum Naturstudium^ überschrieben e
erste Abschnitt, von diesem der als „Geschichte der
physischen Weltanschauung" bezeichnete zweite Ab-
schnitt des zweiten Kosmosbandes.
Es ist nicht meine Absicht, die Frage nach
der Berechtigung jener eigenartigen Verschmelzung
naturwissenschaftlicher und äsh tetischer Prinzipien,
wie sie die allgemeinen Schriften Humboldts ckarak-
terislert, zu erörtern. Objektiv betrachtet sind Natur-
wissenschaft und Ästhetik gewiss getrennte Gebiete,
subjektiv werden sie sich aber stets da verschmelzen,
3*
- 36 -
' . - ■ ■
WO eine ästhetisch fühlende Künstlerseele die Natur-
wissenschaft zu fördern sucht. Ein Beispiel dafür
aus unserer Zeit ist Haeckel. Doch mir kam es
wesentlich nur darauf an, mit möglichster Schärfe
einen der Funkte zu bezeichnen, in dem Goethe und
Humboldt als Naturforscher sich berühren.
Noch einen zweiten dieser Berührungspunkte
möcht ich hier erörtern: das tiefe Verständnis und
die hingebende Liebe, die beide Forscher für die
historische Darstellung ihrer Wissenschaft bewiesen
haben. Goethe und Humboldt stehen als Geschichts-
forscher nicht weniger gross da, denn als Natur-
forscher. Goethe hat, abgesehen von der historischen
Würdigung seiner eigenen Studien in seiner „Ge-
schichte der Farbenlehre*' ein Werk geschaffen, das
einer seiner neusten Biographen, Richard Mayer, un-
bedenklich für die bedeutendste Geschichte einer
Wissenschaft erklärt, die es überhaupt gibt. Keine
zweite, meint Mayer, tauche wie diese herunter auf
den Grund der Dinge und suche wie sie die histo-
rischen Urphänomene auf, keine zweite erfasse wie
sie auf dem lebensvollen Hintergrund der Zeit und
des Ortes die Eigenheit der Individuen. Was seit
Taine als neue Heilswahrheit verkündet werde : dass
die Geschichte den einzelnen nur aus seiner Um-
gebung verstehen könne, das sei hier längst durch-
geführt.
Die Geschichte der Farbenlehre erstreckt sich
von den ältesten Zeiten bis auf die letzten Jahre
des i8. Jahrhunderts. Nach einigen Betrachtungen
— 37 —
über die Geschichte der Urzeit, die die Freude des
Menschen an den Farben auf seine angeborene Lust
am „Mischen, Sudeln und Manschen^ zurückführen,
werden die Ansichten der Griechen und Römer über
die Farbe erörtert und namentlich die diesbezüg*^
liehen Ansichten des Aristoteles eingehend berück-
sichtigt. Blicke auf Kunst und Leben der Griechen,
Betrachtungen über das Wesen des Experiments
und eine tiefeindringende Vergleichung zwischen
Kunst und Wissenschaft sind diesem Abschnitte
eingefügt. Ihm folgt eine Zusammenstellung von
Aphorismen über verschiedene Probleme der Wissen-
schaft, von der Charlotte v. Schiller sagte, man stehe
vor ihr wie vor einem gefundenen Schatzkästlein und
fördere ein Juwel nach dem andern ans Tageslicht
Dann ziehen die grossen Naturforscher des 15.^ 16.
und 17. Jahrhunderts, Roger Bacon, Keppler, Galilei,
Baco V. Verulam u. a. an unserm geistigen Auge
vorüber. Ihnen folgt Newton, Goethens grosser
Antipode, und endlich erscheint der Verfasser selbst
mit seiner ebenso schlichten als lebensvollen Kon-
fession.
Noch vielseitiger in Bezug auf die historische
Darstellung seiner Wissenschaft als Goethe ist Alexan-
der V. Humboldt. Seine „Kritischen Untersuchungen
über die historische Entwicklung unserer geographischen
Kenntnisse von der neuen Welt* und die übrigen ge-
schichtlichen Teile seines amerikanischen und asia-
tischen Reisewerks beweisen seine glänzende Be-
fähigung auf diesem Gebiete nicht weniger als die
- 38 -
;,Geschichte der physischen Weltanschauung" im
zweiten Band des Kosmos. Diese, auf die umfassendste
kritische Quellenforschung gestützt, bildet vielleicht
den bedeutendsten und für alle Zeiten wertvollsten
Teil des ganzen gross angelegten Werkes.
Humboldt definiert die Geschichte der physischen
Weltanschauung als die Geschichte der Erkenntnis
eines Naturganzen, als die Darstellung des Strebens
der Menschheit, das Zusammenwirken der Kräfte im
Erd- und Himmelraum zu begreifen. Diese Geschichte
soll dreierlei berücksichtigen : erstens, das selbständige
Streben der Vernunft nach Erkenntnis von Natur-
gesetzen, wie es sich u. a. in Kepplers Planeten-
gesetzen und Newtons Gravitationsgesetz offenbart;
zweitens, die Weltbegebenheiten, die plötzlich den
Horizont der Beobachtung bedeutend erweitert haben,
wie Völkerwanderungen, Schiffahrt und Heereszüge,
und drittens, die Erfindung neuer Mittel sinnlicher
Wahrnehmung, wie Fernrohr, Mikroskop, Pendel,
Barometer und Thermometer.
Auf Grund dieser drei Gesichtspunkte verfolgt
Humboldt in acht Kapiteln die allmähliche Ent-
wicklung der Kosmosidee von ihren ersten un-
bestimmten Anfangen durch alle Zeiten bis zu dem
Augenblick, da er selbst sie bewusst formulierte.
Er geht aus von den alten Sitzen der Menschen-
bildung in Ägypten, Phönizien und Etrurien. Dann
schildert er den Einfluss des Griechentums auf die
Erweiterung der Weltansicht. Die Feldzüge der
Mazedonier unter Alexander dem Grossen, die dem
— 39 -
•Griechenvolke einen grossen und schönen Teil der
Erdoberfläche erschlossen, werden als wissenschaft-
liche Expeditionen ersten Ranges gefeiert. Zu kaum
•einer andern Zeit sei einem Teil des Menschen-
■geschlechts eine reichere Fülle neuer Naturansichten,
^in grösseres Material zum Ausbau der wissenschaft-
lichen Erdkunde dargeboten worden. Als ein glück-
liches Zusammentreffen günstiger Umstände wird es
bezeichnet, dass gerade zu dieser Zeit durch die
«mpirisch - philosophische Richtung des Aristoteles
tind seine alles scharf umgrenzende wissenschaftliche
Sprache die geistige Verarbeitung des angehäuften
Materials erleichtert und vervielfältigt wurde.
Es folgt die Darstellung der glänzenden Epoche
-astronomischen und mathematischen Wissens unter
-der Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten. Erfahrung
und Beobachtung gelten in dieser grossen Zeit als
•die wahren Quellen der Erkenntnis, neben dem stoif-
anhäufenden Sammelfleiss offenbart sich eine glück-
iiche Verallgemeinerung der Ansichten. Eratosthenes
von Cyrene verarbeitet die Schätze der alexan-
•drinischen Bibliothek zu einer systematischen Uni-
versalgeographie und versucht die Grösse der Erde
-durch eine Gradmessung zu bestimmen. Hipparch,
der Begründer der wissenschaftlichen Astronomie,
•der grösste selbstbeobachtende Astronom des ganzen
Altertums, verfertigt astronomische Tafeln, entdeckt
-die Präzession der Nachtgleichen und bestimmt die
Lage der Fixsterne.
Die Darstellung geht dann über zur Schilderung
— 40 —
des Einflusses der römischen Weltherrschaft auf die
Erweiterung des kosmischen Wissens. Als Beobachter
der organischen Natur erheben sich in dieser langen
Periode nur Dioskorides, der Botaniker, und Galenus,
der Anatora. Die ersten Schritte in der experimen*
talen Optik tut Claudius Ptolemäus. Den Reflex
des ausgebreiteten Welthandels ofienbaren die geo-
graphischen Riesenwerke desselben Ptolemäus und
des Strabo. Eine grossartig angelegte encyklopä-
dische Weltbeschreibung versucht Plinius.
Nach dem Untergang der römischen Weltherr-
schaft ersteht ein neues fremdartiges Element der
Bildung. Die Araber führen das von Völkerstürmen
erschütterte Europa zu den ewigen Quellen grie*
chischer Philosophie zurück. Sie werden die eigent-
lichen Begründer der physischen und chemischen
Wissenschaften und geben der von der alexandrinischen
Schule begründeten Arzneimittellehre eine wissen-
schaftliche Grundlage. Öffentliche wissenschaftliche
Institute vereinigen eine grosse Zahl bedeutender
Männer. Eine lange Reihe hervorragender Geographen
nennt uns die arabische Literatur. Durch ihre Schriften
und ihren ausgebreiteten Handelsverkehr befördern
die Araber den Gebrauch des indischen Zahlen-
systems.
Die Erörterung dieser Momente füllt den fünften
Abschnitt in Humboldts Werk. Der sechste be-
schäftigt sich mit den grossen ozeanischen Ent-
deckungen von Columbus, Sebastian Cabot und
Vasko de Gama. Diese Entdeckungen führen den
— 41 —
westlichen Völkern Europas eine ungeheure Fülle
von Material zum Ausbau der physischen Erdkunde
zu und fallen zeitlich wunderbar zusammen mit
grossen Ereignissen im politischen und sittlichen
Leben der europäischen Völker. In demselben^
Monat, in dem Cortez gegen Mexiko zieht, vet brennt
Luther die Bannbulle in' Wittenberg. Die herrlichsten
Gebilde der hellenischen Kunst treten damals hervori
der Laokoon , der Apoll von Belvedere und die
mediceische Venus. Es blühen in Italien Michel
AngelOy Leonardo da Vinci, Titian und Raphael, in
Deutschland Holbein und Albrecht Dürer. Im Todes-
jahr des Columbus findet Kopemikus sein neues-
Weltsystem.
Auf dieses Zeitalter der grössten Entdeckungen-
an der Oberfläche unseres Planeten folgt unmittelbar
die Besitznahme eines grossen Teils der Himmels*
räume durch das Fernrohr. Die Anwendung dieses-
Werkzeugs von raumdurchdringender Kraft ruft eine
neue Welt von Ideen hervor. Es beginnt ein glän-
zendes Zeitalter der Mathematik und Astronomie,
das Zeitalter von Keppler, Galilei und Bacon, von
Tycho, Descartes und Huyghens, von Newton und
Leibniz. In grossen Zügen deutet Humboldt an,,
wodurch diese Männer in Erweiterung kosmischen.
Wissens glänzen.
Mit ihnen beschliesst er seine Geschichte der
physischen Weltanschauung, die von da ab allmählich
zusammenschmilzt mit der Geschichte der physischen
Wissenschaften. Rückblickend überschaut er im
— 42 —
letzten Kapitel noch einmal die durchlaufenen Pe-
rioden.
Aus den bisherigen Betrachtungen ergibt sich,
-dass die eigenartige Verschmelzung naturwissen-
schaftlicher, ästhetischer und historischer Momente
•der Naturwissenschaft Goethens und Humboldts einen
einheitlichen Charakter aufdrückt. Beide Männer
waren sich dieser Geistesgemeinschaft auch wohl
bewusst und haben mit gegenseitiger Anerkennung
ihrer Verdienste nie gekargt. Wie hoch Humboldt
die botanische Tätigkeit Goethens schätzte und wie
sehr er seine Naturschilderungen pries, haben wir be-
reits gesehen. Mit warmer Anerkennung gedenkt
«r auch stets der persönlichen Förderung, die er
•durch Gofethe empfangen und in herzlichen Worten
gibt er seiner Verehrung Ausdruck.
,, Beide Humboldt e,** schreibt er ihm 1825 aus
Paris, „gehören Ihnen an, und der Stolz ihres Lebens
war es, Ihren Beifall sich erworben zu haben.*
Goethe seinerseits verfolgt von Anfang an mit
Liebe und Interesse die aufsteigende Laufbahn des
zwanzig Jahre jungem Forschers und fühlt sich bald
selbst durch ihn gefördert. Bereits 1795 nennt er
sein briefliches Verhältnis zu ihm sehr interessant
und bringt er auf Humboldts Veranlassung seine
Ideen über vergleichende Anatomie und deren metho-
dische Behandlung zu Papier. Einige Zeit später
schreibt er an Körner, die Gegenwart des Jüngern
von Humboldt reiche allein hin , eine ganze Lebens-
•epoche interessant auszufüllen, da er alles in Be-
— 43 —
"««regung setze, was nur irgend chemisch, physisch
oder physiologisch interessant sein könne. Nach
Humboldts grosser Weltreise bespricht Goethe mit
höchster Anerkennung dessen Ideen zu einer Physio-
gnomik der Gewächse und fühlt sich hochgeehrt
•durch die Zueignung der Ideen zu einer Geographie
der Pflanzen. Er macht sie zum Gegenstand seiner
Mittwochabendvorlesungen und zeichnet zum bessern
Verständnis eine symbolische Landschaf c, die er
Humboldt inschriftlich widmet. Wohl mit Bezug auf
dieses Werk heisst es in Ottiliens Tagebuch in den
^Wahlverwandtschaften**: „Nur der Naturforscher ist
verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste,
mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedes-
mal in dem eigensten Elemente zu schildern und
darzustellen weiss. Wie gern möchte ich nur einmal
Humboldt erzählen hören.**
Im Jahre 1816, kurz nach dem Tode seiner
Gattin, ist Humboldts Werk über die Verteilung
der Pflanzengestalten für Goethe ein Trost im Leid:
In Trauertagen
Gelangte zu mir dein herrlich Heft.
Es schien zu sagen:
Ermanne dich zu fröhlichem Geschäft.
Die Welt in allen Zonen grünt und blüht
Nach ewigen beweglichen Gesetzen.
I)as wusstest du doch sonst zu schätzen.
Erheitre so durch mich dein schwer bedrängt Gemüt.
„Trotz aller Verwirrung**, schreibt er damals an
Boisser^e, „stiess mich dieses gering blätterige, aber
höchst bedeutende Werk auf die so lang betretenen
— 44 —
und gewohnten Naturpfade wieder hin, und so ist der
dunkle Grund des gegenwärtigen Augenblicks durchs
heitere, erfreuliche und bunte Bilder geschmückt."
Bis in die letzten Lebensjahre Goethens lassen
sich diese anerkennenden Äusserungen dem grossen
Naturforscher gegenüber verfolgen. Eckermann findet
den Dichter eines Tages in sehr heiter aufgeregter
Stimmung. Mit Enthusiasmus erzählt er von einem
mehrstündigen Besuch Alexander v. Humboldts..
Dieser habe an Kenntnissen, lebendigem Wissen und
Vielseitigkeit nicht seinesgleichen. Wohin man rühre
sei er zu Hause und überschütte uns mit geistigen
Schätzen. Er gleiche einem Brunnen mit vielen
Röhren, wo man überall nur Gefässc unterzuhalten
brauche und wo es uns immer erquicklich und un->
erschöpflich entgegenströme.
In einem Punkte jedoch waren Goethe und
Humboldt als Naturforscher schrofie Antipoden. In
dem grossen Streite, der am Ende des vorigen und
am Anfang dieses Jahrhunderts die Geologen bewegte,
stand Goethe auf selten der Neptunisten, Humboldt
auf der der Vulkanisten. Goethe suchte alle geo-
logischen Phänomene durch die stille Tätigkeit des.
Wassers und der Luft zu erklären und bekämpfte
mit Leidenschaft jene Naturforscher, die wie Alexan-
der v. Humboldt dem Feuer, den Vulkanen und
Erdbeben, den Hauptanteil an der Gestaltung der
Erdrinde zuschrieben. In einem diesbezüglichen
Gespräch mit dem Kanzler v. Müller meinte er, Hum-
boldt habe eigentlich nie eine höhere Methode ge-
— 45 —
'habt sondern bloss viel gesunden Verstand, viel
Eifer und Beharrlichkeit. Im Ästhetischen könne
jeder allenfalls noch glauben und fühlen, wie er
-wolle, in den Naturwissenschaften aber sei das Falsche
und Absurde geradezu unerträglich.
Einige Zeit später machte er den scherzhaften
Vorschlag, seiner Freundin, Frau Scymanowska, etwa
folgendes Empfehlungsschreiben an den grossen
Plutonisten mitzugeben: „Da Sie zu den Natur-
forschern gehören, die alles durch Vulkane erklären,
so sende ich Ihnen einen weiblichen Vulkan, der
alles vollends versengt und verbrennt was noch übrig
-ist." Und bei einer andern Gelegenheit grollte er:
.„Wenn Alexander v. Humboldt und die andern Plu-
>tonisten mir*8 zu toll machen, werde ich sie schänd-
lich blamieren, schon zimmere ich Xenien genug im
stillen gegen sie; die Nachwelt soll wissen, dass doch
wenigstens ein gescheiter Mann in unserm Zeitalter
:gelebt hat, der jene Absurditäten durchschaute.**
In der Tat hat Goethe auch in Versen den
Vulkanismus bekämpft und den Neptunismus ver-
teidigt. Als Werner, das Haupt der neptunistvschen
•Schule gestorben war, schrieb er ;
Kamn wendet der edle Werner den Rücken
Zerstört man das poseidaoniscbe Reich,
Wenn alle sich vor Hepbästos bücken,
Ich kann es nicht sogleich.
Ich weiss nur in der Folge zu schätzen,
Schon hab ich manches Credo verpasst.
Mir sind sie alle gleich verhasst
^eue Götter und Götzen.
- 46 -
Und im zweiten. Teil des Faust, wo der Streit
zwischen Neptanisten und Vulkanisten symboliscb
dargestellt ist, spottet Mephisto der vulkanischen
HebungsTtheorieen :
Als Gott der Herr — ich weiss auch wohl warum —
Uns a\is der Luft in tiefste Tiefen bannte,
Da, wo zentralisch glühend, um und um,
Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte,
Wir fanden uns bei allzu grosser Hellung
In sehr gedrängter, unbequemer Stellung.
Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
Von oben und von unten auszupusten.
Die Hölle schwoll von Schwefelstank und Säure:
Das gab ein Gas! das ging ins Ungeheure,
So dass gar bald der Länder flache Kruste,
So dick sie war, zerkrachend bersten musste.
Nun haben wir*s an einem andern Zipfel:
Was ebmals Grund war, ist nun Gipfel.
Sie gründen auch hierauf die rechten Lehren,
Das Unterste ins Oberste zu kehren. '
Die Zeit milderte indes Goethens Eifer. Wenige
Monate vor seinem Tode schreibt er an Wilhelm
V. Humboldt, dass zwar Alexanders Ansicht, die
geologischen Gegenstände aufzunehmen, seinen^
Cerebralsystem ganz unmöglich sei, dass er aber
mit Anteil und Bewunderung gesehen habe, wie das,
wovon er sich nicht überzeugen könne, bei Hum-
boldt folgerecht zusammenhänge und mit der un-
geheuren Menge seiner Kenntnis in eins greife, wa
es dann durch seinen unschätzbaren Charakter zu-^
sammengehalten werde.
— 47 —
So klingt auch dieser einzige Gegensatz der
beiden Forscher schliesslich aus in einer schönen
Harmonie. Wie sollte es auch anders sein bei zwei
Männern, deren ganzes Leben ein einziges heisses
Streben war nach Erfassung der Harmonie des Welt-
alls und denen diese Harmonie sich schliesslich in
so herrlicher Weise offenbarte! Beide stehen am
Schluss ihres grossen Lebens auf jener hohen Warte»
von der aus sie das Getriebe der Erscheinungen
mit einem Blick überschauen, von der aus ein ein-
heitliches allumfassendes Weltpanorama sich ihrem
nach Klarheit und Einheit dürstenden Geistesauge
enthüllt. Beide gleichen auf dieser Höhe ihres Lebens-
dem Türmer Lynceus im zweiten Teil des Faust,
und für beide passt das herrliche, die harmonische
Schönheit aller irdischen und himmlischen Erschei-
nungen preisende Bekenntnis, das Goethe diesem in.
den Mund gelegt :
Zum Sehen geboren, So seh ich in allen
Zum Schauen bestellt, Die ewige Zier,
Dem Turme geschworen, Und wie mir*s gefallen,.
Gefallt mir die Welt. Gefall ich auch mir.
Ich blick in die Ferne, Ihr glücklichen Augen,
Ich seh in der Näh Was je ihr gesehn,
Den Mond und die Sterne, Es sei wie es wolle.
Den Wald und das Reh. Es war doch so schön L
GOETHE UND DARWIN
: I Y }
j'
verdiente Begründer und Leiter
zoologischen Station in Neapel,
Ion Dohrn, hat einmal gesagt, dass
den durch Darwin neugeschaffenen
schungBgebieten ohne Intuition und
dichterisch plastische Gestaltungskraft schwerlich
grosse Fortschritte gemacht werden können. Damit ist
anerkannt, dass Darwin der Forschung Wege gewlesen
bat, auf denen sie sich derselt>en Mittel bedienen muss
wie der Dichter und Künstler bei seiner schöpferischen
Tätigkeit Die rohe Empirie, die nur ara Einzelnen
klebt, nur das unmittelbar den Sinnen FassUche
gelten lägst, wird verlassen und die schöpferische
Phantasie als mächtige Hilfskraft wissenschaftlicher
Forschung proklamiert. Dichter und Forscher nähern
sich hier wieder, nachdem sie lange als Antipoden
einander gegenüber gestanden hatten. Wie schroff
der Gegensatz zwischen beiden in der vordarwinschen
Zeit war, das erhellt aus der Aufnahme, die Goethes
geniale n atur wissen sc iiaftliche Arbeiten bei der
grossen Mehrzahl der Fachgelehrten seiner Zeit fanden,
— 52 —
aus dem Spott und Hohn , mit denen die offizielle
zünftige Wissenschaft diese Strebungen des Dichter-
fürsten überhäufte.
Nach Darwin ist das anders geworden. Selbst
der engherzigste Zunftgelehrte wird heute den natur-
wissenschaftlichen Leistungen Goethes den Tribut
seiner Achtung nicht mehr versagen. Die Wissen-
schaft selbst ist heute durchdrungen vom Geist
Goethischer Forschung. Und dass sie diesen hohen
Standpunkt erklommen, dass sie die Fesseln der
rohen Empirie abgestreift hat und dem dichterischen
Phantasieflug sein Recht nicht länger schmälert, das
ist vielleicht das grösste Verdienst, das sich Charlea
Darwin um den Fortschritt der Wissenschaft erworben
hat. Er hat vollendet, was Goethe begonnen, er
hat gesiegt, wo Goethe unterlegen war. Die Namen
Goethe und Darwin werden in der Geschichte des
biologischen Denkens und Forschens untrennbar ver-
bunden bleiben, sie werden stets vereint genannt
werden als der des Propheten und der des Erfüllers.
Es ist wohl eine schöne Sache um die theoretische
Forderung, die Wissenschaft solle induktiv verfahren
im Bacoschen Sinne des Wortes. Sie solle zuerst
eine ungeheure Fülle von Tatsachen sammeln und
dann aus diesen Tatsachen allgemeine Gesetze ab-
leiten. In Wahrheit werden die grossen genialen ,
und leitenden Gesichtspunkte, die die Wissenschaft .
befruchten und vorwärts bringen, die sie beleben
mit dem Hauche schöpferischer Kraft ganz anders
gewonnen. In einigen wenigen, oft unscheinbaren
— 53 —
Tatsachen, an denen das Auge des gewöhnlichen
Menschen achtlos vorübergeht, sieht das Genie
intuitiv das grosse allgemeine Gesetz. Nur der Hand-
langer der Wissenschaft häuft Stein auf Stein, um
ein Gesetz zu Hnden, dem genialen Forscher schwebt
das Gesetz im Geist bereits vor, eh er das ganze
Tatsachenmaterial beherrscht, er häuft, wenn er ein
echter Forscher ist , wohl auch Stein auf Stein, aber
nicht, um das Gesetz zu finden, sondern um es an
den Tatsachen auf seinen Wert, seine Tragweite und
seinen Gehalt zu prüfen. Der intuitive Gedanke ist
für den genialen Forscher das treibende Motiv seiner
weitern Forschung, nur durch ihn ist die Wissen-
schaft mit grossen leitenden Ideen befruchtet worden.
Intuitiv fand Darwin das Entwicklungsgesetz.
Einige wenige Tatsachen enthüllten es ihm. Die
Knochen ausgestorbner Riesensäugetiere im Pampas-
schlamm Südamerikas, die Tiere und Pflanzen der
Schildkröteninseln im stillen Ozean. Erst dann,
nachdem der Gedanke der Entwicklung einmal ge-
fasst war, begann die jahrzehntelange stille Einzel-
arbeit zur Prüfung und Bestätigung des bereits ge-
fundenen Gesetzes. Und wie hier, so bildeten auch
sonst wenige geringfügige Einzel tatsachen die Aus-
gangspunkte fast aller grossen (Jntersuchungsreihen
Darwins. Sein Oheim, Josiah Wedgwood, machte
ihn darauf aufmerksam, dass auf die Oberfläche
eines Ackers gestreute Gegenstände, wie Kohle und
Kalk, die schichtweise aufgetragen waren, sich nach
mehreren Jahren in einiger Tiefe unter der Rasen-
— 54 —
decke befanden. Für Darwin wurde diese Mitteilung
der Ausgangspunkt langjähriger Untersuchungen über
die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der
Regenwürmer.
Im Chonosarchipel fand Darwin einen kleinen
Rankenkrebs von Vio Zoll Länge, eingeschlossen in
die Schale eines andern Krebses. Dieser Fund
wurde der Keim seiner grossen Monographie der
Rankenkrebse. Alle andere zoologische Ausbeute der
Reise war an Spezialisten gegeben worden, die das
Tatsächliche bearbeiteten, aber keines der Materialien
wurde Ausgangspunkt umfassender Untersuchungen.
Boitard und Corbie hatten die Beobachtung
gemacht, dass bei Kreuzung gewisser Taubenrassen
Vögel entstanden, die wie die wilde Feldtaube ge-
färbt waren. Für Darwin wurde diese Tatsache der
Ausgangspunkt zahlreicher Experimente über Rück-
schlag durch Kreuzung.
Im Jahre 1860 beobachtete Darwin auf einer
Ferienreise einen Sonnentau und war verwundert über
die grosse Zahl Insekten, die von den Blättern
dieser Pflanze gefangen worden waren. Diese kleine
Beobachtung regte ihn zu seinen jahrelangen Unter-
suchungen über insektenfressende Pflanzen an.
Ich kenne nur einen andern Mann, bei dem
diese Fähigkeit, die Bedeutung der geringfügigsten
Tatsache zu erkennen in so eminentem Masse aus-
gebildet war wie bei Darwin : Goethe. Auch er sah
in jedem einzelnen konkreten Fall das Typische,
Gesetzliche, auch für ihn wurden geringfügige Einzel-
— 55 —
Beobachtungen Ausgangspunkte umfassender Theo-
rieen und weitreichender Untersuchungsreihen.
Das Vorhandensein des Zwischenkieferknochens
auch beim Menschen war ihm ein Beweis, dass der
Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt sei.
Ein glücklich geborstner Schafschädel, den er auf
den Dünen des Lido bei Venedig fand, offenbarte
ihm die Wirbeltheorie des Schädels. Eine Fächer-
palme im, botanischen Garten zu Padua erweckte in
ihm die Idee der Urpflanze. Ein einziger Blick durch
ein Glasprisma regte ihn zu seinen jahrelangen Unter-
suchungen über Farbenlehre an. Freilich ging seine
empirische Forschungstätigkeit dann nicht so weit
iin einzelnen wie bei Darwin, dafür war er eben
Dichter und Darwin Naturforscher, .aber die psycho-
logischen Momente und die methodologischen Prin-
zipien der Forschung waren bei Goethe und Darwin
dieselben.
Beide Männer haben aber nicht nur durch ihre
praktische Tätigkeit diese Prinzipien naturwissen-
schaftlicher Methodik verkündet, sondern auch in
-direkten Worten auf die Methode hingewiesen, die
allein zu fruchtbaren Ergebnissen in der Natur-
wissenschaft führen kann. Beide betonen wiederholt
mit Entschiedenheit die Notwendigkeit inniger Durch-
dringung von Erfahrung und Denken, Eippirie und
Spekulation, Induktion und Deduktion, Analyse und
Synthese, beide sehen in der rohen Anhäufung von
Tatsachen eine Gefahr für die Wissenschaft. So
fichrieb Darwin im Jahre 1859 ^^ ^^^ Botaniker
- 56 -
Hooker : „Es ist meine alte und feste Überzeugung^
dass die Naturforscher, die Tatsachen anhäufen und
viele teilweise VeraUgemeinerungen machen, die wirk»
liehen Wohltäter der Wissenschaft sind. Die, welche
nur Tatsachen zusammenhäufen, kann ich nicht sehr
hoch achten. '^ Und ebenso tritt er im folgende»
Jahr in einem Brief an Lyde für die Notwendigkeit
der Theorieen ein: „Nach Hopkins Massstab für
Wahrheit,* schreibt er dort, „dürfte die Natur-
wissenschaft niemals fortschreiten, denn ich bin über-
zeugt, ohne Theorieen aufzustellen, würde es auch
keine Beobachtung geben."
Darwin selbst hatte in früher Jugend die Er-
fahrung gemacht, wie leicht Erscheinungen übersehen
werden, ohne die Hilfe einer Theorie, wie augen-
fällig diese Erscheinungen auch sein mögen. Als er
mit Sedgwick eine geologische Exkursion nach Nord-
wales unternahm, sah keiner von beiden, trotz sorg-
faltiger Untersuchung der Gesteinsarten die deutlichen
Spuren der Gletschertätigkeit, die sie rings umgaben r
die geschrammten Felsen, die übereinander gehäuften
Findlingsblöcke, die Saiten- und Endmoränen. Sie
würden tief von ihnen berührt worden sein, wenn
die Gletschertheorie bereits aufgestellt gewesen wäre..
Später hat dann Darwin durch seine eigene
grosse Theorie praktisch gezeigt, welch ungeheure
Bedeutung eine gute Theorie für die Beobachtung
besitzt, eine Bedeutung, die Huxley in den Worten
ausdrückte: „Die Entstehung versah uns mit der
Arbeitshypothese, die wir suchten."
— 57 -
Selbst bis auf ganz geringfügige £inzelheiten>
erstreckt sich nach Darwin die Bedeutung der Theorie
für die Beobachtung. So sagt er in bezug auf die
drei Formen des Weiderichs: „Die Existenz der drer
Formen wurde zuerst von Vaucher beobachtet und
später noch sorgfaltiger von Wirtgen, da aber diese-
Botaniker durch keinerlei Theorie oder selbst Ver-
mutung ihrer funktionellen Verschiedenheiten geleitet
wurden» nahmen sie einige der merkwürdigsten^
Differenzpunkte in der Struktur nicht wahr."
Mit diesen Ansichten Darwins über wissenschaft-
liche Methodik, vergleiche man nun Goethes dies-
bezügliche Aussprüche.
„Ist es doch eine höchst wunderliche Forderung,"
sagt er im Vorwort zu seiner Farbenlehre, „die wohli
manchmal gemacht, aber auch selbst von denen^
die sie machen, nicht erfüllt wird, Erfahrungen solle
man ohne irgend ein theoretisches Band vortragen
und dem Leser, dem Schüler überlassen, sich selbst
nach Belieben irgend eine Überzeugung zu bilden.
Denn das blosse Anblicken einer Sache kann uns-
nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Be-
trachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen
in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass-
wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in der
Welt theoretisieren." Und in Goethes Aufsatz über
Analyse und Synthese heisst es: „Ein Jahrhundert^
das sich bloss auf die Analyse verlegt und sich vor
der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem.
rechten Wege, denn nur beide zusammen wie Aus-
- 58 -
und Einatmen machen das Leben der Wissenschaft."
Ganz ähnlich lauten endlich folgende Worte in
Goethes Aufsatz über den Prinzipienstreit zwißchen
Cuvier und Geoffroy Sant Hilaire: „Möge doch jed^r
von uns bei dieser Gelegenheit sagen, dass Sondern
und Verknüpfen zwei unzertrennliche Lebensakte
«ind. Vielleicht ist es besser gesagt, dass es un-
•erlässlich ist, man möge wollen oder nicht, aus dem
Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze
zu gehen, und je lebendiger diese Funktionen des
Geistes wie Aus- und Einatmen sich zusammen ver-
halt;en, desto besser wird für die Wissenschaften und
ihre Freunde gesorgt sein."
Für Goethe wie für Darwin war die Natur-
iK^issenschaft Naturphilosophie. Das alte, in Deutsch-
land und Frankreich so lang verpönte Wort hat in
England nie seinen metallenen Klang verloren.
Natural Philosophy ist dem Engländer gleichbedeutend
mit^Natural Science. Ein Engländer sollte es denn
^uch in Deutschland wieder zu Ehren bringen und
•damit Goethens Worten gerecht werden :
Von Gott dem Vater stammt Natur
Das allerliebste Frauenbild ;
Des Menschen Geist, ihr auf der Spur,
Ein treuer Werber, fand sie mild.
Sie liebten sieb nicht unfruchtbar,
Ein Kind entsprang von hohem Sinn;
So ist uns allen offenbar :
Naturphilosophie sei Gottes Enkelin.
Fasst man die Naturwissenschaft in diesem
Goethe-Darwinschen Sinn als Naturphilosophie, so
— 59 —
spricht man ihr damit das Recht zu, bei der Ent-
scheidung über die grossen Fragen der Weltan-
schauung ein Wort mitzureden. Vor allem wird sie
ihr gewichtiges Urteil abzugeben haben in der grossen
philosophisch - methodologischen Prinzipienfrage ob
Mechanismus, ob Teleologie. Sind es lediglich
mechanische Ursachen, causae efficientes, die blind
mit unerbittlicher Notwendigkeit wirkend das Weltall
und seine Einzeldinge gestaltet haben, oder sind
auch zwecktätige Kräfte, causae finales, Endursachen
dabei beteiligt gewesen? Ist das Weltall das End-
resultat eines mechanischen Entwicklungsprozesses
oder das vorausbestimmte Produkt eines nach be-
stimmten Zwecken handelnden göttlichen Baumeisters?
Ist vor allem die bewundernswürdige Zweckmässigkeit
in der organischen Natur das Resultat blinder Natur-
kräfte oder das Ergebnis eines zwecktätig wirksamen
Prinzips ?
Auch Goethe und Darwin sind an dieser grossen
Prinzipienfrage nicht achtlos vorübergegangen und
beide haben sie zu beantworten versucht im Sinne
des Mechanismus. Mit Kant glaubten sie, dass es
ohne das Prinzip des Mechanismus eine Natur-
wissenschaft überhaupt nicht geben könne. Aber
während Kant mit diesem Gedanken für die orga-
nische Natur nicht Ernst machte, während er es für
gewiss hielt, dass wir die organisierten Wesen nach
bloss mechanischen Prinzipien nicht einmal zureichend
kennen lernen, viel weniger uns erklären können, so
dass es für den Menschen ungereimt sei, auf einen
— 6o —
Newton der organischen Natur zu hoffen, der auch
nur die Erzeugung eines Grashalmes nach Natur»
gesetzen begreiflich machen werde, während also-
Kant inbezug auf die organische Natur sich der
Teleologie in die Arme warf, haben Goethe und
Darwin gerade hier die alleinige Zulässigkeit der
mechanistischen Betrachtungsweise betont.
Goethe bezeichnet die teleologische Denkweise
als einen traurigen Behelf, der völlig beseitigt werden
müsse. Vaucher, sagt er, erklärt die physiologischen
Phänomene nach teleologischen Ansichten, welche
die unsrigen nicht sind, noch sein können. A1&
wichtigstes Ergebnis seines Studiums von Kants Kritik
der Urteilskraft bezeichnet er es, dass seine Ab-
neigung gegen die Endursachen nun geregelt und
gerechtfertigt sei. Wie klar Goethe den Gedanken
des Mechanismus nun bereits erfasste und wie scharf
er die teleologische Methode verurteilte, das zeigt
besonders sein, wahrscheinlich am Anfang der neunziger
Jahre geschriebener „Versuch einer allgemeinen Ver-
gleichslehre". Dort gibt er der Ansicht Ausdruck,,
dass die Vorstellungsart, ein lebendiges Wesen werde
zu gewissen Zwecken nach aussen hervorgebracht
und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft
dazu determiniert, uns in der philosophischen Be-
trachtung der natürlichen Dinge schon mehrere Jahr-
hunderte aufgehalten habe und noch aufhalte. Der
Mensch sei gewohnt, die Dinge nur in dem Masse
zu schätzen, als sie ihm nützlich sind und da er die
Sachen brauchen könne, so folgere er daraus, sie
— 6i —
seien hervorgebracht worden, dass er sie brauche.
Da er ferner an sich und andern diejenigen Hand*
lungen und Wirkungen am meisten schätze, die ab-
sichtlich und zweckmässig sind, so folge daraus, dass
er auch der Natur, von der er unmöglich einen
grossem Begriff als von sich selbst haben könne,
Absichten und Zwecke zuschreiben werde. Ein Natur-
forscher aber, der über die allgemeinen Dinge weiter
denken wolle, müsse sich über den trivialen Zweck-
begriff erheben, und wenn er auch als Mensch jene
Vorstellungsart nicht los werden könne, so müsse er
wenigstens, insofern er ein Naturforscher sei, sie
so viel als möglich von sich entfernen.
Auch eine Andeutung, wie die zweckmässige
Einrichtung der Organismen rein mechanisch ent-
standen sein kann, finden wir in diesem Aufsatz
•der Übereinstimmung zwischen Organisation und
Medium in der direkten Einwirkung des Mediums
selbst. „Der Fisch ist für das Wasser da,** schreibt
er, „scheint mir viel weniger zu sagen als: der Fisch
ist in dem Wasser und durch das Wasser da; denn
dieses letzte drückt viel deutlicher aus, was in dem
erstem nur dunkel verborgen liegt , nämlich die
Existenz eines Geschöpfes, das wir Fisch nennen,
sei nur unter der Bedingung eines Elementes, das
wir Wasser nennen, möglich, nicht allein, um darin
2U sein, sondern auch um darin zu weiden. Eben
dieses gilt von allen übrigen* Geschöpfen. Dieses
wäre also die erste und allgemeinste Betrachtung
von innen nach aussen und von aussen nach innen.
-^ 62 —
Die entschiedene Gestalt ist gleichsam der innere
Kern, welcher durch die Determination des äusseren
Elementes sich verschieden bildet. Eben dadurch
erhält ein Tier seine Zweckmässigkeit nach aussen,
weil es von aussen so gut als von innen gebildet
worden; und was noch mehr, aber natürlich ist,
weil das äussere Element die äussere Gestalt eher
nach sich als die innere umbilden kann. Wir
können dieses am besten bei den Robbenarten
sehen, deren Äusseres so viel von der Fischgestalt
annimmt, wenn ihr Skelett uns noch das vollkommene
vierfüssige Tier darstellt.**
Etwa um dieselbe Zeit schrieb Goethe in seinem
Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die ver-
gleichende Anatomie: „Man wird also künftig von»
solchen Gliedern, wie z. B. von den Eckzähnen des
Sus Cabirussa (Hirschebers) nicht fragen, wozu dienen
sie, sondern woher entspringen sie ? Man wird nicht
behaupten, einem Stier seien die Hörner gegeben,,
dass er stosse, sondern man wird untersuchen, wie
er Hörner haben könne, um zu stossen.**
Auch in Gesprächen mit Eckermann hat sich
Goethe mit grosser Klarheit über diesen Punkt ge-
äussert. Er spottet dort über die Nützlichkeitslehrer,,
die da sagen, der Ochse habe Hörner, um sich
damit zu wehren. Man müsse dann fragen, warum
das Schaf keine hat oder warum sie ihm um die
Ohren gewickelt sind, so dass sie ihm zu nichts,
dienen. Die Frage nach dem Zweck sei überhaupt
nicht wissenschaftlich, weiter komme man mit der
\
_ 63 -
Frage nie. „Denn wenn ich frage, wie hat der
Ochse Hörner, so führt mich das auf die Betrachtung
seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum-
der Löwe keine Hörner hat und haben kann."
„Die Nützlichkeilslehrer," fahrt Goethe fort^
„würden glauben; ihren Gott zu verlieren, wenn sie
nicht den anbeten sollen , der dem Ochsen die
Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber
möge man erlauben, dass ich den verehre, der in
dem Reichtum seiner Schöpfung so gross war, nach-
tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worii><
alle übrigen enthalten und nach tausendfaltigötv
Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen.
Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter
gibt und dem Menschen Speise und Trank so viel
er gemessen mag; ich aber bete den an, der eine
solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, dass,
wenn nur der million teste Teil davon ins Leben tritt,
die Welt von Geschöpfen wimmelt, so dass Kriege-
Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben ver-
mögen. Das ist mein Gott!**
In diesen letzten Worten glaubt man fast eine
Vorahnung desjenigen Prinzips zu vernehmen, durch
das Darwin die organische Zweckmässigkeit mechanisch
zu erklären versuchte, des Prinzips vom Kampf ums
Dasein. Aber während Goethe nur andeutungsweise
die Möglichkeit- einer nicht teleologischen Erklärung
der zweckmässigen Einrichtungen iti der organischen
Natur hinstellte, machte Darwin den ersten um-
fassenden Versuch , die Formen der organischen
- 64 -
Wesen ohne Zohülfenahme zwecktatig wirksamer
l£ndursachen zu begreifen. Und während Goethe
"bei der Erklärung der organischen Zweckmässigkeit
das Hauptgewicht auf die direkte Einwirkung des
äussern Mediums legte, betonte Darwin vor allem
•die Auswahl der günstigen Variationen im Kampf
\ims Dasein. Beiden gemeinsam aber ist nicht nur
■die Forderung mechanischer Erklärung der Zweck-
mässigkeit, sondern auch die Anerkennung des Vor-
iiandenseins dieser Zweckmässigkeit überhaupt. Sie
leugnen sie nicht, wie dies wohl viele andere Mecha-
nisten getan haben, sondern heben sie im Gegenteil
4Stark hervor. Anpassung ist für Darwin geradezu
die Seele der organischen Natur, und die meisten
:8einer speziellen Untersuchungsreihen , namentlich
■auf botanischem Gebiet, haben diese Anpassungs-
•erscheinungen zum Gegenstand. Die wunderbaren
Einrichtungen, durch die Blumen von Insekten be-
fruchtet werden, die Werkzeuge, mit deren Hülfe
•die Pflanzen kletternd dem Lichte zustreben, die
Organe, die es ihnen ermöglichen, Insekten zu fangen,
machte er zum Gegenstand eingehender Forschungen.
Der Einklang zwischen Organisation und Lebens-
-weise ist das Grundthema, das er immer und immer
'wieder variiert. Solange die zahllosen Fälle nicht
■erklärt werden könnten, in denen Organismen aller
Art ihrer Lebensweise angepasst sind, z. B. ein Specht
oder ein Laubfrosch zum Erklettern der Bäume oder
«in Same zur Verbreitung mittels Hacken und
Fiedem, so lange schien es ihm nutzlos zu sein, den
i ] {
^■-^if OHN^i>^
- 6s -
Versuch zu machen, durch indirekte Be^^eise festzu-
■stellen, dass Spezies modifiziert worden sind.
Und dieselbe Wertschätzung des Verhältnisses
iswischen Organisation und Lebensweise, dieselbe
Betonung der organischen Zweckmässigkeit linden
wir bei Goethe. Am schönsten hat er sie wohl in
«einer Elegie über die Metamorphose der Tiere
<iichterisch verherrlicht :
^Zweck sein selbst ist jegliches Tier, yollkommeo entspringt es
Ans dem Schoss der Natur und zeugt voUkommene Kinder.
Alle Glieder bilden sich aus nach ewgen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.
So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen,
Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und
zahnlos
Oder mächtig der Kiefer gezähnt, in jeglichem Falle
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.
Auch bewegt sich jeglicher Fuss, der lange, der kurze.
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.
So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit
Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder
^Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben.
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zurück.**
Was Goethe hier im allgemeinen" über die
Harmonie zwischen Bau und Tätigkeit aussagt, das
hat er an dem Beispiel des Zwischenkieferknochens
im einzelnen dargelegt. Die Form dieses Knochens
steht in inniger Beziehung zur Art der Nahrung.
Mit dem Zwischen kieferknochen muss das Tier seine
Speise zuerst anfassen, ergreifen, abrupfen, abnagen,
5
— 66 —
zerschneiden und sie auf eine oder andre Weise
sich zueignen. Daher ist er bald flach und mit
Knorpeln versehen, bald mit stumpfen oder schärfern
Schneidezähnen bewaffnet oder erhält eine andre
der Nahrung gemässe Gestalt. Beim Reh ist der
Zwischenknochen schwach, bügelartig und zahnlos,
beim Ochsen verstärkt, verflacht und verbreitet, beim
Löwen vollgedrängt und körperhaft, mächtig durch
sechs Zähne, stumpfer erscheint er beim Bären,
vorgestreckter beim Wolf. Das Walross wird wegen
seiner perpendikularen Gesichtslinie dem Menschen
ähnlich, der Aflie erhebt sich noch mehr, und end-
lich stellt der Mensch mit seinem kleinen zurück-
tretenden Zwischenknochen sich ein.
Der Zwischenkieferknochen ist überhaupt ein
geeignetes Objekt, um Goethes allgemeine Natur-
auffassung und namentlich seine naturwissenschaftliche
Methodik zu beleuchten. Wie schon aus dem eben
Gesagten hervorgeht, betrachtet er den Zwischen-
kieferknochen des Menschen, mit dem er es eigentlich
allein zu tun hat, nicht als eine isolierte Erscheinung,
sondern als das Extrem einer weit verbreiteten
tierischen Bildung. Er betont, dass man bei genauer
stufenweiser Vergleichung mehrerer Tiere vom Ein-
fachsten auf das Zusammengesetztere, vom Kleinen
und Eingeengten auf das Ungeheure und Aus-
gedehnte fortschreiten kann. „Welch eine Kluft, **
ruft er aus, „zwischen dem os intermaxillare der
Schildkröte und des Elefanten ! Und doch lässt sich
eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide
- 67 -
verbindet." Es ist mit einem Worte das Prinzip
der Kontinuität oder Stetigkeit, das Goethe hier
anwendet, um eine isolierte Erscheinung dem Ver«
ständnis näher zu bringen.
Schon im Jahre 1779, ganz im Beginn seiner
strengem naturwissenschaftlichen Studien, hatte Goethe
aus der Schweiz an Frau von Stein geschrieben:
„Man fühlt tief, hier ist nichts Willkürliches, alles
langsam bewegendes, ewiges Gesetz.* Später offen-
barten ihm dann seine Studien über die Metamorphose
der Insekten von neuem die ausserordentliche Frucht-
barkeit des Prinzips der Kontinuität, und er schrieb
an Schiller, er sei mehr als jemals überzeugt, dass
man mit dem Begriff der Stetigkeit den organischen
Naturen trefflich beikomroen könne.
Am entschiedensten aber hat Goethe diesen
Begriff auf geologischem Gebiete betont. Hier trat
er vielfach in schroffen Gegensatz zu den herrschenden
Anschauungen seiner Zeit und antizipierte die Grund-
gedanken jener Lehre, die der grosse Geolog Charles
Lyell später in der Geologie zur Geltung bringen
sollte. Langsam und allmählich, in ununterbrochnem
Zusammenhang, hat sich nach Goethe der Erdkörper
herangebildet, keine gewaltsamen Katastrophen haben
diesen kontinuierlichen Entwicklungsgang unter-
brochen. Goethe verlangt, dass man bei Erklärung
der verschiednen Erdbildungen nur alsdann gewalt-
same Erdrevolutionen zu Hülfe rufe, wenn man mit
ruhigen Wirkungen, die denn doch der Natur am
allergemässesten seien , nicht auskommen könne.
5*
-- 68 —
„Jedes Gewaltsame, Sprunghafte,* äusserte er zu
Eckermann, ,,ist mir in der Seele zuwider, denn es
ist nicht naturgemäss. Naturgemäss ist vielmehr ein
Wirken nach dem Grundsatz der Stetigkeit." Tief
war er von der Überzeugung durchdrungen, dass
„die Natur, ruhig und langsam wirkend, auch wohl
Ausserordentliches vermag.**
Die neptunistische Lehre Werners war ihm deshalb
^o sympathisch, weil sie seinen geologischen Kontinui-
tätsvorstellungen am meisten entsprach. Dagegen
musste ihm die vulkanische Theorie des Hebens und
Drängens, des Aufwälzens und Quetschens, des Schleu-
derns und Schmeissens, der Revolutionen und Kata-
strophen durchaus widerwärtig erscheinen. Als im
Jahre 1829 das von Elie de Beaumont vorgetragne
System, nach dem zuerst der Jurakalk und die ältesten
Versteinerungen, dann das sächsisch-böhmische Erz-
gebirge, die Pyrenäen und Apeninnen, endlich die
höchsten Berge Savoyens sich erhoben haben sollten,
von der Untersuchungskommission der französischen
Akademie zu beifalliger Aufnahme empfohlen wurde,
da wollte sich Goethe zwar nicht als entschiednen
Widersacher der neuen Lehre bekennen, wohl aber
behauptete er die Rechte seines gegenständlichen
Denkens und setzte die Gründe auseinander, aus
denen er eine derartige Auffassuhgsart nicht in seine
Denk- xind Fassungskraft aufzunehmen vermöge.
Wiederholt viele Jahre habe er die Felsen des
Harzes, des Thüringer Waldes, des Fichtelgebirges,
Böhmens, der Schweiz und Savoyens geschaut und
- 69 -
hier stets Regelmässigkeit und Folge gefunden. Er
könne deshalb seine Sinnesweise, nicht ändern zu
Lieb einer Lehre, die von einer entgegengesetzten
Anschauung ausgehe, wo von gar nichts Festem
und Regelmässigem mehr die Rede sei, sondern von
zufälligen, unzusammenhängenden Ereignissien. „Nach
meinem Anschauen/ sagte er, „baute sich die Erde
aus sich selbst aus, hier erscheint sie überall ge-*
borsten und diese Klüfte aus unbekannten Tiefen
von unten herauf ausgefüllt.''
Bis in die letzten Jahre seines Lebens haben
den Dichter diese geologischen Ideen beschäftigt,
und noch im zweiten Teil des Faust hat er ihnen
dichterischen Ausdruck verliehen. Seine Abneigung
gegen die Ansicht von der plötzlichen Hebung der
Gebirge drücken die Sphinxe aus in den Worten:
Welch ein -widerwärtig Zittern,
Hässlich grausenhaftes Wittern !
Welch ein Schwanken, welches Beben,
Schaukelnd Hin- und Widerstreben !
Welch unleidlicher Verdruss !
Doch -wir ändern nicht die Stelle,
Bräche los die ganze Hölle.
Und als Mephisto sich später zwischen dem
Gestein verirrt, ruft er spottend aus:
Wo bin ich denn? Wo wills hinaus:
Das war ein Pfad, nun ists ein Graus.
Ich kam daher auf glatten Wegen,
Und jetzt steht mir Geröll entgegen.
Vergebens klettr ich auf und nieder,
Wo find ich meine Sptiinxe wieder ?
— 70 —
So toll hätt ich mirs nicht gedacht.
Ein solch Gebirg in einer Nacht!
Dass heiss ich frischen Hexenritt,
Die bringen ihren Blocksberg mit.
Während hier der Spott über die gewaltsamen
Theorien der [zeitgenössischen Geologen zum Aus-
druck kommt, preist Faust in schönen Worten den
ruhig stillen Entwicklungsgang des Erdkörpers:
Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgerundet.
Der Gipfel sich, der Schlachten sich erfreut,
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht.
Die Hügel dann bequem hinab gebildet.
Mit sanftem Zug sie in das Tal gemildet:
Da grünts und wächsts, und um sich zu erfreuen,
Bedarf sie nicht der tollen Stradeleien.
Am schönsten aber gibt wohl das Zwiegespräch
zwischen Thaies und Anaxagoras den Goethischen
Kontinuitätsgedanken wieder. Als Anaxagoras den
Thaies fragt :
Hast du, o Thaies, je in einer Nacht
Solch einen Berg aus Schlamm hervorgebracht?
da antwortet Thaies:
Nie war Natur und ihr lebendiges Fliessen
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen ;
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im grossen ist es nicht Gewalt.
Auch Darwin hat das Prinzip der Kontinuität
meisterhaft zu verwerten gewusst , sowohl geologisch
als biologisch. Geologisch fallen seine Ansichten
völlig zusammen mit denen Lyells und damit mit
— 71 -
den Grundgedanken Goethes. Lyell gehört zu den
Männern, die in erster Linie bestimnoend auf Darwins
Geistesrichtung und Naturanschauung eingewirkt
haben. Als Darwin seine berühmte Weltreise antrat,
war eben der erste Band des Lyellschen Hauptwerks
über die Prinzipien der Geologie erschienen, der
den herrschenden Katastrophenlehren den Fehde-
handschuh hinwarf. Darwin nahm das Buch mit auf
die Reise, und hier überzeugte ihn sein Studium
bald von der grossen Überlegenheit der darin nieder-
gelegten Ansichten über die andrer Geologen. Er
prüfte diese Ansichten an der Natur selbst und
lieferte zahlreiche Beiträge zu ihrem weitern Ausbau,
Seine Forschungen über die Korallenriffe, über vul-
kanische Inseln und über die Geologie Südamerikas
sind durchdrungen von dem Lyellschen Gedanken,
dass dieselben Kräfte, die heute die Erdrinde um-
gestalten, auch in frühern geologischen Epochen
wirksam waren und dass die Entwicklung des Erd-
körpers langsam und allmählich in ungeheuren Zeit-
räumen erfolgt ist. Auch für Darwin war die Natur
in ihrem Wirken nicht auf Tag und Nacht und
Stunden angewiesen , auch er glaubte , dass sie
langsam und allmählich wirkend wohl auch Ausser-
ordentliches zu leisten vermöge.
Nicht weniger hat Darwin auf biologischem Ge-
biete das Prinzip der Kontinuität durchzuführen ver-
sucht. Wie seine ganze Entwicklungslehre eine
Anwendung dieses Prinzips ist, so bestrebte er sich
auch stets, dieses Prinzip im einzelnen zur Anwendung
— 7^ —
zu bringen und isolierte Erscheinungen als extreme
Fälle grössrer Gruppen nachzuweisen. Er suchte
solche Extreme mit gewöhnlichen Fällen in Beziehung
zu bringen, indem er zeigte, dass sie durch all-
mähliche Abstufungen mit ihnen verbunden sind.
Die Schlafbewegungen der Pflanzenblätter scheinen
eine solche isolierte Erscheinung zu sein. Die Blätter
bewegen sich bei oberflächlicher Betrachtung nur
morgens und abends und sind in den Zwischen-
stunden in Ruhe. Darwin aber belehrt uns, dass
die Blätter sich beständig bewegen, dass sie am Tage
und in der Nacht nicht ruhen, sondern sich nur
langsamer bewegen als am Morgen und Abend. Er
schliesst daraus, dass die Schlafbewegung der Blätter
nur eine Modifikation der Circumnutation ist, jener
schwachen, drehenden Bewegung, in der sich alle
wachsenden Pflanzenteile befinden.
In ähnlicher Weise sucht er den Heliotropismus
mit der Circumnutation in Beziehung zu bringen.
Er versucht zu zeigen, dass beide Bewegungen alU
mählich in einander übergehen. Verschiedne
Pflanzen wurden einem seitlichen Licht ausgesetzt
und ihre Bewegungen auf Glasplatten aufgezeichnet»
Es zeigte sich, dass viele Übergänge existieren von
einer Bewegung nach dem Licht hin mit deutlichen
Ellipsen und Kreisen, also eine nur wenig modifizierte
Circumnutation, durch eine mehr oder weniger stark
zickzackförmige Bewegung mit gelegentlich gebildeten
Schleifen oder Ellipsen bis zu einer fast oder ganz
gradlinigen Bewegung. Dieselben Übergänge zeigten
- 73 —
sich bei ein und derselben Pflanze, wenn die Inten-
sität der Lichtquelle geändert wurde. Die Bewegung
wurde um so gradliniger, je heller das Licht wurde,
schliesslich ging alle seitliche Bewegung verloren.
Wo Darwin durch solche Experimente das
Prinzip der Kontinuität nicht nachzuweisen vermochte,
da versuchte er, ganz wie Goethe beim Zwischen-
kieferknochen , isolierte Erscheinungen durch den
Nachweis in der Natur vorhandner Abstufungen
mit gewöhnlichen Fällen zu verbinden. Klassische
Beispiele dafür sind seine Ausführungen über die
Augenflecke bei Vögeln. Die aussergewöhnlich langen,
mit prachtvollen Augenflecken versehnen Schwanz-
deckfedern des Pfauhahns weiss er mit den ge-
wöhnlichen Schwanzdeckfedern andrer Hühner in
Verbindung zu bringen. Die herrlichen Kugel- und
Sockelflecke der Schwanzfedern des Argusfasans führt
er auf einfache Flecke an andern Federn desselben
Vogels zurück.
Die Anwendung des Prinzips der Kontinuität
hat notwendig eine umfassende Handhabung jener
IMethode zur Voraussetzung , der die organische
Naturwissenschaft ihre höchsten Triumphe verdankt,
der Methode der Vergleichung. Darwins Ent-
wicklungslehre beruht ganz und gar auf dieser
IMethode. Vergleichung des Baues der lebenden
Organismen untereinander und mit dem der aus-
gestorbnen Wesen frührer Erdperioden, Vergleichung
der Entwicklungsgeschichte der organischen Individuen
mit der systematischen und paläontologischen Stufen-
— 74 —
reihe der Arten, Vergleichung der Faunen und
Floren verschiedner Erdgebiete, Vergleichung der
psychologischen Eigentümlichkeiten, der Sitten und
Gewohnheiten der Tiere, Vergleichung der domesti-
zierten Tier- und Pflanzenrassen mit den Varie-
täten der wilden Arten, Vergleichung der Variationen,
Rassen, Varietäten und Arten untereinander, das
sind die Fundamente, auf denen das stolze Ge-
bäude der Darwinschen Entwicklungstheorie sich er-
hebt.
Und auch hierin ist Goethe Darwins Vorläufer.
Er wusste die vergleichende Methode mit einer
Meisterschaft zu handhaben wie kaum einer seiner
Zeitgenossen. Sie führte ihn zu den grossen Ent-
deckungen, die für alle Zeiten seinen Namen in die
Geschichtstafeln der organischen Naturwissenschaft
eingegraben haben: zur Aufstellung der Typusidee,
zur Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefer-
knochens, der Pflanzenmetamorphose und der Wirbel-
theorie des Schädels.
Als Goethe unter den reichen anatomischen
Schätzen der Jenaer Universität mit Professor Loder
osteologischen Studien und Forschungen oblag, da
führte ihn die Vergleichung des Knochengerüsts ver-
schiedner Tiere zu dem eminent fruchtbaren Ge-
danken eines anatomischen Typus, eines allgemeinen
Bildes, worin die Gestalten sämtlicher Wirbeltiere
der ^löglichkeit nach enthalten wären und wonach
man jedes Tier nach einer gewissen Ordnung be-
schreiben könne. Zwar ist Goethe nicht als der
- 75 -
erste und einzige Begründer dieser Idee anzusehen,
aber jedenfalls gebührt ihm das Verdienst, sie klar
erfasst, selbständig angewendet und mit Nachdruck
auf ihre hohe Bedeutung und Fruchtbarkeit hin-
gewiesen zu haben.
Die Idee des Typus war eine Errungenschaft
des ganzen Goethischen Zeitalters, und bereits 1780
hat der französische Anatom Vicq d'Azyr ihre
leitenden Grundsätze entwickelt, ohne dass jedoch
Goethe etwas davon wusste. Peter Camper amü-
sierte in seinen populären Vorträgen seine Zu-
hörer damit y dass er auf der Lehrtafel durch
Kreidestriche einen Hund in ein Pferd, das Pferd
in eine schöne Frauengestalt verwandelte. £r
drang ferner darauf, im Gehirn des Fisches das
des Menschen zu sehen und sagte, er sei so in
die Studien über Wale und deren Vergleichung
mit der menschlichen Bildung vertieft, dass ihm
alle Mädchen , hübsche und hässliche , nur noch
als Delphine und Cachelots erschienen. Also auch
Camper hatte die Idee des Typus. Damit werden
aber Goethes Verdienste nicht aufgehoben. Er war
wohl der konsequenteste Vertreter der Typusidee,
und bei ihm fand sie den prägnantesten und viel-
seitigsten Ausdruck. Das beweist sein ,, Entwurf einer
allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie^,
das beweist vor allem seine berühmte Entdeckung
des Zwischenkieferknochens beim Menschen, die eine
Folge der Typusidee war.
Bei Tierschädeln fallt es sehr leicht in die
- 76 -
Augen, dass die obere Kinnlade aus mehr als einem
Paar Knochen besteht. Ihr vorderer Teil wird durch
sehr deutlich sichtbare Nähte mit dem hintern Teil
verbunden und macht einen besondern paarigen
Knochen aus, der die Schneidezähne trägt. Beim
Schädel des erwachsnen Menschen ist dieser Zwischen-
kieferknochen weniger deutlich bemerkbar, indem er
fast vollständig mit dem eigentlichen Oberkiefer-
knochen verwachsen ist. Aus diesem Grunde war
die Existenz oder Nichtexistenz dieses Knochens
der Gegenstand eines durch Jahrhunderte fort-
gesetzten Streites zwischen den bedeutendsten Ana-
tomen.
Galenus, der Begründer der vergleichenden Ana-
tomie, war der Meinung, dass auch der Mensch einen
Zwischenkieferknochen besitze. Er erwähnt ihn in
seinem Büchlein „de ossibus'^ bei der Beschreibung
des Menschenschädels, indem es sagt, das Wangen-
bein enthalte die Alveolen aller Zähne mit Aus-
nahme der Schneidezähne. Doch bleibt es zweifel-
haft, ob er den Knochen am Menschenschädel selbst
gesehen hat. Ihm gegenüber behauptete im i6.
Jahrhundert der berühmte Anatora Vesalius das
Fehlen des Intermaxillarknochens beim Menschen.
In der Zeichnung, die er von der Basis des Menschen-
schädels gibt, ist zwar die Naht, die den Zwischen-
kieferknochen vom Oberkieferknochen trennt, deutlich
angegeben, Vesalius meint aber, sie dringe nirgends
so tief durch, dass man annehmen könne, der obere
Kinnladenknochen werde dadurch in zwei geteilt.
. — 77 —
Galenus habe seine Beobachtungen nur an Tier- '
Schädeln gemacht. Um den Galenus zu rechtfertigen,
brachten nun seine Verehrer die seltsamsten Dinge
vor. So behauptete Jakob Sylvius, der Mensch hätte
früher einen Zwischenkieferknochen besessen, ihn
aber nach und nach durch Verweichlichung und zu-
nehmenden Luxus verloren. Dem gegenüber be*
mühte sich wieder Renatus Hener aus der alten
Geschichte zu erweisen, die alten Römer hätten schon
gerade so liederlich gelebt wie die heutige Welt.
Zu Goethes Zeit waren alle bedeutenden Ana-
tomen, wie Camper, Sömmering und Blumenbach
der Ansicht, dass dem Menschen der Zwischenkiefer-
knochen fehle. Diesen grossen Autoritäten gegen-
über behauptete nun Goethe, gestützt auf seine Idee
des anatomischen Typus, dass auch der Mensch
einen Zwischenkieferknochen besitzen müsse. £r
sah mit seinem geistigen Auge diesen Knochen
bereits, eh er ihn mit seinem leiblichen Auge ge-
funden hatte. Es wollte ihm durchaus nicht in den
Sinn, dass der Mensch eine Ausnahme von den
übrigen Säugetieren machen, dass er Schneidezähne
haben und doch den Knochen nicht besitzen solle,
worin sie eingefügt sind. Er suchte deshalb eifrig
nach Spuren dieses Knochens und fand sie im Jahre
1784 bei Vergleichung von Tier- und Menschen-
schädeln auch wirklich auf.
Goethes Freude über diese Entdeckung war
ausserordentlich gross. „Ich habe eine solche
Freude," schreibt er an Frau von Stein, „dass sich
- 78 -
mir alle Eingeweide bewegen/ Und an Herder
berichtete er: ^Nach Anleitung des Evangelii muss
ich Dich aufs »Eiligste mit einem Gluck bekannt
machen, das mir zugestossen ist. Ich habe gefunden
— weder Gold noch Silber, aber was mir unsäg-
liche Freude macht: das os intermaxillare am
Menschen!"
Geringer freilich war seine Freude über die
Aufnahme» die seine Entdeckung bei den Fach-
gelehrten fand. Weder Peter Camper, noch Blumen-
bach, noch Sömmering wollten anfangs etwas davon
wissen, und wenn auch Loder auf seine Seite trat,
so dauerte es doch noch fast 40 Jahre, ehe Goethes
Meinung in der Wissenschaft zu allgemeiner An-
erkennung gelangte. Wundern dürfen wir uns deshalb
nicht, dass Goethe angesichts dieser Tatsachen in
die Worte ausbrach : ,,Einem Gelehrten von Pro-
fession traue ich zu, dass er seine fünf Sinne ab-
leugnet."
Wie gross die Tragweite der Goethischen Ent-
deckung war, kann man ermessen, wenn man bedenkt,
dass Camper das Fehlen des Zwischenkieferknochens
beim Menschen als den einzigen wesentlichen, ana-
tomischen Unterschied zwischen dem Menschen und
dem Affen bezeichnet hatte, wobei er nicht bedachte,
dass dem Chimpansen dieser Knochen gerade so
weit und so gut fehlt als dem Menschen.
Goethe war sich dieser Tragweite seiner Ent-
deckung auch wohl bewusst. „Ich habe mich ent-
halten,** schreibt er, „das Resultat, worauf schon
~ 79 —
Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzo merken
zu lassen, dass man nämlich den Unterschied des
Menschen vom Tier in nichts einzelnem finden könne.
Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Tieren
verwandt.* So rührt diese Entdeckung jenes un-
scheinbaren Knochens an die höchsten Probleme,
die den Menschengeist beschäftigt, an die Frage
aller Fragen für die Menschheit, an die Frage nach
der Stellung des Menschen in der Natur.
Ausser durch die Idee des anatomischen Typus,
deren notwendige Konsequenz die Entdeckung des
Zwischenkieferknochens war, hat Goethe noch durch
einen andern Gedanken höchst befruchtend auf den
Entwicklungsgang der vergleichenden Anatomie ein-
gewirkt. Durch den Gedanken, dass der Schädel
aus Wirbelknochen entstanden sei.
Im Direktorzimmer des Weimarer Goethe-
hauses liegt noch heute das Bruchstück jenes
Schafsschädels, den Goethes Diener im Jahre 1790
auf dem Judenkirchhof zu Venedig aufhob und der
dem Dichter den Ursprung des Schädels aus
Wirbelknochen offenbarte. Drei Wirbel sollten den
Hirnschädel, drei den Gesichtsschädel zusammen-
setzen. Das Hinterhauptsbein bildet den ersten,
das hintere Keilbein und die Scheitelbeine den
zweiten, das vordere Keilbein und die Stirnbeine
den dritten Hirnschädelwirbel. Gaumenbeine und Sieb-
beine steUen den ersten, Oberkiefer- und Nasenbeine
den zweiten, Zwischenkiefer und Nasenknorpel den
dritten Gesichtsschädelwirbel dar.
— 80 -r
Auch diese Theorie ist aus der vergleichenden
Methode heraas geboren worden. Goethe verglich
die Wirbel, die das knöcherne Rückgrat zusammen-
setzen , mit den Knochenringen des Schädels und
gelangte so zur Überzeugung ihrer Homologie.
Der Wert dieses Gedankens wird dadurch nicht
vernichtet, dass er in der von Goethe vorge-
tragnen Form heute nicht mehr haltbar ist. Die
Knochenringe , aus denen, der Schädel der höhern
Wirbeltiere sich aufbaut, haben mit Wirbelsegmenten
nichts zu tun, ob überhaupt eine ursprüngliche Zu-
sammensetzung des Wifbeltierschädels aus den
Wirbeln gleichwertigen Segmenten angenommen
werden muss, darüber gehen die Ansichten noch
weit auseinander. Huxley bestreitet die segmentale
Anlage des Kopfskeletts überhaupt, indem er darauf
hinweist, dass die erste Anlage des Schädels eine
einheitliche Kapsel ist, die keine Spur einer Segmen-
tierung aufweist , und dass das Kopfskelett der
ältesten Schädeltiere, der Cyclostomen (Rundmäuler)
und der Selachier (Haifische) ebenfalls eine einheit-
liche Knorpelkapsel ohne Differenzierung in einzelne
Segmente darstellt. Dagegen nimmt Gegenbaur in
seiner fundamentalen Arbeit über das Kopfskelett
-der Selachier auf Grund der segmentalen Anordnung
<ler Kiemenbogen und der Nerven an, dass die
Schädelkapsel bei den Zwischenformen zwischen
Schädellosen und Schädeltieren segmentiert gewesen
sei, diese Segmentierung aber aus Anpassungsgründen
bald verloren habe. Auch hiemach sind die Knochen-
— 8i —
ringe, aus denen der Schädel der höhern Tiere
sich aufbaut, keine modifizierten Wirbel, wohl aber
wird die ursprüngliche Zusammensetzung des Wirbel-
tierschädelsaus den Wirbeln gleichwertigen Segmenten
■anerkannt. —
Was die Wirbeltheorie des Schädels für die
Osteologie, das ist die Lehre von der Fflanzenmeta-
morphose für die Botanik. Wie die verschiednen
Teile der Wirbelsäule, einschliesslich des Schädels,
in ihrem Wesen identisch sind, so auch die ver-
schiednen Seitenorgane der Pflanze. Dort ist das
metamorphosierte Grundorgan der Wirbel, hier das
Blatt.
Das Wechselhafte der Pflanzengestalten bei
Pflanzen derselben Art, das Goethe überall, namentlich
auf der italienischen Reise, entgegentrat, erweckte in
ihm die Vorstellung, die Pflanzenformen seien nicht ur-
sprünglich determiniert und bestimmt, es sei ihnen
vielmehr eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit
-verliehen, um sich in die mannigfaltigen Bedingungen,
die auf sie einwirken, zu fügen und danach bilden und
umbilden zu können. Er erkannte aber auch, dass
•den Pflanzen neben der Mobilität eine eigensinnige
generische und spezifische Hartnäckigkeit verliehen
sei, dass selbst die entferntesten Pflanzen noch eine
ausgesprochne Verwandtschaft besitzen und sich
ohne Zwang miteinander vergleichen lassen:
Alle Gestalten sind ähnlich, un4 keine gleichet der andern ;
Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
Auf ein heiliges Rätsel.
6
— 82 —
Diese Erwägungen führten Goethe auf den Ge-
danken einer Urpfianze, eines allgemeinen Typus,
auf den alle Pflanzengestalten sich zurückführen, aus
dem alle Pflanzengestalten sich ableiten Hessen.
Dieser Gedanke beschäftigt ihn unausgesetzt während
seiner ganzen italienischen Reise. In Padua gibt
ihm eine Fächerpalme durch die Stufenfolge der Ver»
änderungen ihrer Blätter schöne Aufklärung. In Rom
durchwandert er die Gärten der Villen, botanischen
Spekulationen nachhängend. Am Meeresstrand in
Neapel spürt er dem Geheimnis der Pflanzen*
Organisation nach. Und am letzten Ziel seiner Reise,
in Sizilien, leuchtet ihm die ursprüngliche Identität
aller Pflanzenteile vollkommen ein und erkennt er
im Blatt den Proteus, der sich in allen Gestalten
verstecken und oflenbaren kann.
Mit einer wahren Leidenschaft verfolgt er dann den
Gedanken, weiter, unablässig nach neuen Bestätigungen
suchend. Während seines zweiten Aufenthalts in
Rom bemächtigt sich der mit vielen andern schwierigen
und hohen Dingen beschäftigte Mann tagtäglich in
jedem Garten, auf Spaziergängen und Lustfahrten
der Pflanzen, die er neben sich bemerkt. Auf der
Rückreise nach Weimar denkt er sich im stillen
einen Vortrag über seine Ansichten aus und schreibt
ihn zu Hause nieder. So entstand die „Metamorphose
der Pflanzen**, jenes „Epos des. Werdens der höhern
Gewächse^, wie Kirchhofl' die kleine Schrift genannt
hat. Goethes gewöhnlicher Verleger lehnte nach
Erkundigungen bei Sachverständigen den Druck ab^
- 83 -
ein andrer übernahm ihn nur, weil er eine dauernde
geschäftliche Verbindung mit Goethe suchte. Und
doch gehört die kleine Abhandlung zu den Perlen
der botanischen Literatur und vereinigt wissenschaft-
liche Tiefe mit formvollendeter Darstellung. .Der
Grundgedanke» der in ihr entwickelt wird» ist eine
weitere Ausführung und tiefere Begründung des
Linn^schen Satzes : in Blättern und Blüten waltet ein
und dasselbe Prinzip. Alle Seitenorgane der Pflanze,
also Keimblätter, Stengelblätter, Kelch, Krone, Staub-
gefasse und Pistill, sind nach Goethe trotz ihrer
äussern Verschiedenheit innig verwandt, indem sie
alle als Modifikationen eines Grundorgansj des Blattes,
anzusehen sind. „Einerlei Organ, ** sagt er, „kann
als zusammengesetztestes Blatt ausgebildet und als
Stipula (Nebenblatt) in die grösste Einfalt zurückr
gezogen werden. Der Kelch, indem er sich übereilt,
kann zur Krone werden, und die Krone kann sich
rückwärts dem Kelche nähern.^ Die morphologische
Identität der Seitenorgane der Pflanze, ihre Ent-
wicklung aus gleichartigen Anlagen,- das ist der auch
heute noch gültige Grundgedanke der Goethischen
Metamorphosenlehre. Mit ihm glaubte Goethe das
heilige Rätsel der Pflanzengestalt gelöst zu haben :
Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Ge'wimmel,
J>as verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.
Jede Pflanze verkündet dir nun die ewf^en Gesetze,
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Ein grosser Gedanke ist es, der all diese natur-
philosophischen Theorieen Goethes durchdringt: d^r
6*
- 84 -
Gedanke der Einheit der organischen Natur. Überall
sucht Goethe das ewig Eine, das sich vielfach offen-
bart. „Die Natur/ schreibt er an Riemer, „so
mannigfaltig sie erscheint, ist doch immer ein Eines,
eine Einheit, und so muss, wenn sie sich teilweise
manifestiert, alles übrige diesem zur Grundlage dienen,
dieses in dem Übrigen Zusammenhang haben. ^
Auch Darwins Naturanschauung wird von diesem
Gedanken der Einheit beherrscht. Wenn alle Pflanzen
und Tiere, den Menschen mit einbegriffen, von einer
einzigen Urform abstammen, wenn sie alle durch die
Bande des Blutes miteinander verbunden sind, dann
ist das wohl der umfassendste und grossartigste Aus-
druck, den der organische Einheitsgedanke über-
haupt finden kann. Und doch besteht hier ein
Unterschied zwischen Goethe und Darwin. Für
Goethe ist der Einheitsgedanke der Ausgangspunkt
all seiner Forschungen, für Darwin ist er das End-
resultat. Goethe trägt den Einheitsgedanken in die
Natur hinein, nachdem er ihn aus den Tiefen seines
Wesens geschöpft und durch das Studium der Philo-
sophie Spinozas geläutert hat, Darwin gelangt zu
ihm durch seine Einzelforschung.
Bei Spinoza fand Goethe den Einheitsgedanken
bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt, auf die
ganze Natur, auf das ganze Weltall angewendet.
Bis zur höchsten Einheit, der von Gott und Welt.
Schon eh er Spinoza gelesen, schon als Strassburger
Student hatte er geschrieben: „Getrennt über Gott
und Natur abhandeln ist schwierig und gefährlich,
- 85 -
gerade als wenn wir über Leib und Seele gesondert
denken. Wir erkennen die Seele nur durch das
Mittel des Leibes, Gott nur durch Erkenntnis der
Natur, daher scheint es mir verkehrt, diejenigen der
Verkehrtheit zu zeihen, die durch ein durchaus philo-
sophisches Räsonnement Gott mit der Welt verknüpft
haben. ^ Später durchdringt dieser pantheistische
Gedanke, genährt und geläutert durch das Studium
Spinozas alle Goethische Dichtung:
Was war ein Gott, der nur -von aussen stiesse,
Im Kreis das All am Finger laufen liessei
Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So dass was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst.
Wie für Spinoza, so ist auch für Goethe die
Welt die Selbstdarstellung Gottes, der Mensch die
höchste Offenbarung der göttlichen Natur:
War nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken ?
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?
In der Erkenntnis dieser Einheit von Gott und
Natur sieht Goethe den höchsten Gewinn des Menschen:
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als dass sich Gott -Natur ihm offenbare.
Wie sie das Feste lässt zu Geist -verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre!
Eine notwendige Konsequenz dieser Einheit von
Gott und Natur ist ihm die Einheit von Geist und
Materie :
— 86 —
•
„Weil aber die Materie nie ohne Geist, der
Geist nie- ohne Materie existiert und wirksam sein
kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern,
so wie sichs der Geist nicht nehmen lässt anzuziehen
t r
Und abzustossen ;wie derjenige nur allein zu denken
vermag , der genügsam getrennt hat, um zu ver-
binden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen
zu mögen."
Eine weitere Konsequenz ist die Einheit uijd
Un Veränderlichkeit der Naturgesetze:
„Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen,
dergestalt göttlichen Gesetzen, dass die Gottheit
selbst daran nichts ändern könnte."
'Nach ewigen, ehrnen,
Grossen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.
Mit diesem Einheitsgedanken tritt Goethe an
die Betrachtung der organischen Natur heran. Er
sucht und findet in ihr die Einheit als einen speziellen
Fall der Welteinheit.
Ganz anders war Darwins Weg. Philosophisch*
metaphysische Gesichtspunkte haben dem englischen
Forscher von jeher noch ferner gelegen als Goethe. Er
«elbst sagt, dass er nicht gut zu solchen Studien passe.
Als er seine Forscherläufbahn begann, war er ganz
in den Vorstellungen der orthodoxen englischen
Kirche befangen und hielt die Bibel für eine un-
widerlegbare Autorität in allen moralischen- Fragen.
- 87 -
Erst nach Beendigung seiner Weltreise kaiü er zu
der Ansicht, dass dem alten Testament nicht mehr
objektiver Wahrheitswert beizulegen sei als den heiligen
Schriften der Hindus. Später verlor er auch den
Glauben an die Wahrheit der christlichen Dogmen,
und endlich kamen ihm sogar Zweifel an der Existenz
Gottes, ohne dass er jedoch so weit gegangen wäre,
diese Existenz zu leugnen. Noch in seiner Ent*
stehung der Arten hält er es für denkbar^ dass den
•ersten Organismen das Leben durch einen Schöpfer ein-
gehaucht worden sei. Dabei denkt er sich diesen Schöpfer
stets als den personlichen , von aussen stossehden
Gott im Besitze eines intelligenten, dem des Menschen
in gewissem Grade analogen Geistes. In bezug
auf diesen Gott wird er später Agnostiker, d. h. er
wagt nicht zu entscheiden, ob er ist oder nicht ist.
Rein verstandesmässig wägt er die Beweise für und
wider das Dasein Gottes ab, das spontane Gottes-
bewusstsein Goethes, das in Gott das All und im
All Gott sieht, der dichterische Pantheismus fehlt
Darwin. Es fehlt ihm überhaupt eine philosophische
Gesamtanschauung, aus der er die Einzelphänomene
ableitet. Und doch gelangt er schliesslich am Ende
seiner Forschungen zu derselben einheitlichen Auf-
fassung der Natur, von der Goethe ausgegangen ist.
Ihm offenbart sich gewissermassen induktiv. Was für
'Goethe von vornherein feststand, woraus er deduktiv
die Einzelerscheinungen ableitet. '
Der Gedanke der Einheit der Natur erhält bei
Goethe und Darwin dadurch einen bestimmten
— 88 —
Charakter, dass er sich mit dem Gedanken der Ver-
änderung, der Bewegung, des Flusses aller Dinge
verbindet. Das Eine ist keine starre Einheit, es
offenbart sich vielfach, es nimmt immer neue Formen
und Gestaltungen an. Goethe hat diesen Gedanken in
Poesie und Prosa immer von neuem variiert. „Die Natur ^
sagt er, „schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war
noch nie, was war, kommt nicht wieder, alles ist
neu und doch immer das alte. ... Es ist ein ewiges
Leben, Werden und Bewegen in ihr. ... Sie ver-
wandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen
in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und
ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt.*'
Und üinzuschaifeii das Geschaffne,
' Damit sichs nicht zum Starren wafihe,
Wirkt ewiges, lebendiges Tan.
Und was nicht war, nun will es werden,
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muss in nichts zerfallen.
Wenn es im Sein beharren will.
Mit dem Begriff der Veränderung, der Bewegung,
des Flusses aller Dinge untrennbar verknüpft ist der
Begriff der Entwicklung. Denn unter der Ent-
wicklung einer Form verstehen wir die gesetzmässige
Aufeinanderfolge ihrer Veränderungen. Dem Ent-
wicklungsbegriff kommt denn auch in der Natur-
- 89 -
auffassung Goethes und Darwins eine fundamentale
Bedeutung zu. Beide sehen in der Erkenntnis der
Entwicklung einer Form den Schlüssel zum Ver-
ständnis der fertigen Form. Darwin hebt wiederholt
als die Hauptbedeutung seiner Entwicklungstheorie
hervor , dass sie eine Fülle von Erscheinungen
gruppiert und erklärt. „Ich kann ziemlich deutlich
sehen, ^ schreibt er einmal an Huxley, „dass, wenn
meine Anschauung jemals allgemein angenommen
werden sollte, dies von selten junger, emporwachsender
und die alten Arbeiter ersetzender Männer geschehen
wird, und dann werden die jungen Leute finden, dass
sie Tatsachen besser gruppieren und neue Unter-
suchungsarten besser aufsuchen können mit der Vor-
stellung einer Abstammungais mit der der Erschaffung.^
Am klarsten tritt uns diese Auffassung der Ent-
wicklungslehre als eines mächtigen Hülfsmittels
wissenschaftlicher Methodik inden Schlussbemerkungen
der Entstehung der Arten entgegen. Hier erörtert
Darwin ausführlich, welch grosse Umwälzung der
Naturgeschichte durch die Anwendung des Ent-
wicklungsgedankens bevorsteht: Der endlose Streit
über den Begriff und das Wesen der Spezies wird
aufhören. Die von den Naturforschern gebrauchten
Ausdrücke Affinität, Verwandtschaft, gemeinsamer
Typus, elterliches Verhältnis, Morphologie, An-
passungscharaktere , verkümmerte Organe werden
statt der bisherigen bildlichen eine sachliche Be-
deutung gewinnen. Ein grosses und fast noch un-
betretnes Feld wird sich öffnen für Untersuchungen
-^ 90 —
über die Ursachen und Gesetze der Variation, die
Korrelation, die Folgen von Gebrauch und Nicht-
gebrauch und den direkten Einfluss äusserer Lebens-
bedingungen. Das Studium der domestizierten Tiere
wird unermesslich an Wert gewinnen. Die Klassi-
fikationen werden zu Genealogieen werden, die Geo-
logie und Chorologie wichtige Förderung erfahren.
Die Psychologie wird sich auf den Satz stützen,
dass notwendig jedes Vermögen und jede Fähigkeit
des Geistes nur stufenweise erworben werden kann.
Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und
ihre Geschichte fallen.
Alle diese Prophezeiungen Darwins sind ein-
getroffen, die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungs-
weise hat die Feuerprobe bestanden, hat in der
Praxis der Forschung die grosse methodologische
Fruchtbarkeit bewiesen, die Darwin ihr hier zu-
gesprochen hat. Aber auch hier hat der englische
Forscher nur vollendet, was der deutsche Dichter
begonnen. Denn schon Goethe huldigte der Ansicht,
die Sachen herankommen zu sehen, sei das beste
Mittel sie zu erklären. Und mit so gewaltigem
Nachdruck hat Goethe diesen Gedanken betont,
dass Wilhelm Bölsche den Dichter mit Recht einen
Entwicklungsdenker nennen konnte, wie die ganze
Zeit bisher auch .nicht annähernd einen mehr
hervorgebracht hat. Auch hier gebührt Goethe, um
mit Helmholtz zu reden, der grosse Ruhm, die
leitenden Ideen zuerst vorausgeschaut zu haben, zu
denen der eingeschlagne Entwicklungsgang der
— 91 —
organischen Naturwissenschaft hindrängte und durch
xlie ihre jetzige Gestalt bestimmt wird.
Fassen wir unsre bisherigen Betrachtungen zu-
sammen, so kann wohl kein Zweifel mehr darüber
bestehen , dass, voA Einzelheiten abgesehen , die
grossen fundamentalen und leitenden Gesichtspunkte
der Forschung bei Goethe und Darwin dieselben
waren. Beide sahen in der Verschmelzung von
Empirie und Spekulation das Wesen der Wissen-
schaft, beide folgten den grossen und fruchtbaren
Prinzipien der vergleichenden , mechanischen und
genetischen Methode» beide waren durchdrungen von
dem Gedanken der Einheit der Natur und der Natur-
gesetzUchkeit alles Geschehens. Es bleibt jetzt noch
die Fraige zu erörtern übrig, ob beide auch zu den-
selben Resultaten gelangten in bezug auf das Problem,
dessen Lösungsversuch den Mittelpunkt aller wissen-
schaftlichen Forschungen Darwins bildet, in bezug
auf die Entstehung der tierischen und pflanzlichen
Organismen.
Ein langer und vielfach unerquicklicher Streit
hat sich über Goethes Stellung zum Descendenz-
problem erhoben. Schon vor dem Auftreten Darwins
haben Isidor Geoffroy de St Hilaire und Lecoq
Goethe als Anhänger der Lehre von der Veränderlich-
keit der Tier- und Pflanzenarten in Anspruch ge-
nommen. Nach Darwin machte zuerst Meding in
einer kleinen, 1861 erschienenen Schrift über „Goethe
als Naturforscher in Beziehung zur Gegenwart^ darauf
aufmerksam, dass Goethes Ansichten der organischen
— 92 —
Natur sich vielfach mit denen Darwins berühren.
Vier Jahre später versuchte der französische Schrift-
steller Caro diese Ansicht in einer Arbeit über die
Philosophie Goethes eingehender zu begründen. Das
allgemeine Interesse aber lenkte sich auf die Frage
erst, nachdem Ernst Haeckel sich 1866 mit Ent-
schiedenheit für Goethes Descendenzstandpunkt aus-
gesprochen hatte. Der zweite Band seines funda-
mentalen Werkes über die Generelle Morphologie
der Organismen ist Darwin, Goethe und Lamarck
als den Begründern der Descendenztheorie gewidmet ;
und an die dort gegebne allgemeine Würdigung
des Naturforschers Goethe knüpft Haeckel die Be-
hauptung an, dass Goethe als einer der grössten
Vorläufer Darwins anzusehen sei. Den Beweis dafür
sieht er hauptsächlich in folgender Stelle aus Goethes
vergleichend anatomischen Vorträgen:
,,Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut be-
haupten zu dürfen, dass alle voUkommneren or-
ganischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien,
Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten
den Menschen sehen, alle nach Einem Urbilde geformt
seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen
mehr oder weniger hin- und herweicht und sich noch
täglich durch Fortpflanzung aus^ und umbildet/
Diesem Ausspruch Goethes hat Haeckel später
in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte und seinem
1882 auf d^r Eisenacher Naturforscherversammlung
gehaltnen Vortrag über die Naturanschauung von
Darwin, Goethe und Lamarck weitere hinzugefügt.
— 93 —
Vor allem nimmt er hier Goethes Schrift über die
Metamorphose der Pflanzen zugunsten der descendenz-
theoretischen Anschauung des Dichters in Anspruch,
indem er darin eine Ableitung des ganzen Formen-
reichtums der Pflanzenwelt aus einer einzigen Ur-
pflanze zu finden glaubt. Goethes Wort Meta-
morphose bezeichnet nach Haeckel nicht nur die
morphologischen Veränderungen des organischen
Individuums, sondern die Umbildung der organischen
Formen überhaupt Diese weite Fassung des Begriffs
ergibt sich ihm unter anderm aus folgender im
Jahre 1820 an den Botaniker Nees von Esenbeck
gerichteten Mahnung Goethes:
„Er feiere mit uns den Triumph der physiologen
Metamorphose, er zeige sie da, wo das Ganze sich
in Familien, Familien sich in Geschlechter, Ge-
schlechter in Sippen und diese wieder in andere
Mannigfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden,
sondern und umbilden I Ganz ins Unendliche geht
dieses Geschäft der Natur, sie kann nicht ruhen noch
beharren, aber auch nicht alles, was sie hervor-
brachte, bewahren und erhalten. Haben wir doch
von organischen Geschöpfen, die sieb in lebendiger
Fortpflanzung nicht verewigen konnten , die ent-
schiedensten Reste. Dagegen entwickeln sich aus
den Samen immer abweichende, die Verhältnisse
ihrer Teile zu einander verändert bestimmende
Pfianzen.«
Denselben Gedanken der Entwicklung und Ab-
stammung findet Haeckel in Goethes Gedicht über
— 94 —
die Metamorphose der Tiere, besonders in den
Worten:
Alle Glieder bilden sich aus nach ewgen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Uirbild.
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres^
Und die Weise zi| leben, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zarück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,
Welche zum Wechsel sich neigt durch äusserlich wirkende
Wesen.
Haeckel sieht hier den Gegensatz zwischen
zwei verschiednen organischen Bildungskräften an-
gedeutet, die sich gegenüberstehen und durch ihre
Wechselwirkung die Form des Organismus bestimmen ;
einerseits ein gemeinsames, inneres, fest sich er-
haltendes Urbild, das den verschiedensten Gestalten
zugrunde liegt, andrerseits den äusserlich wirkenden
Einfluss der Umgebung und der Lebensweise , der
umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch bestimmter
scheint ihm dieser. Gegensatz aus folgendem Aus-
spruch Goethes in der Abhandlung über die Skelette
der Nagetiere (1824) hervorzutreten:
„Eine innere und ursprüngliche Gemeinschaft
aller Organisation liegt zum Grunde; die Verschieden-
heit der Gestalten dagegen entspringt aus den not-
wendigen Beziehungsverhältnissep zur Aussenwelt,
und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige
Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschreitende
Umbildung mit Recht annehmen, um die. eben so
konstanten als abweichenden Formen begreifen zu
können.*
— 95 —
Sogar die wichtigste spezielle Folgerung der
Entwicklungslehre, die tierische Abstammung des
Menschen glaubt Haeckel im Keime bei Goethe zu
erkennen. Entscheidend dafür ist ihm, was Goethe
1807 in der Einleitung zu seinen morphologischen
Heften schrieb:
„Wenn man Pflanzen und Tiere in ihrem un-
vollkomronen Zustand betrachtet , so sind sie kaum
zu unterscheiden. Ein Lebenspunkt, starr, beweglich
oder halbbeweglich, ist das, was unserm Sinne kaum
bemerkbar ist. Ob diese ersten Anfange, nach beiden
Seiten determinabel, durch . Licht zur Pflanze, durch
Finsternis zum Tiere hinüberzuführen sind, getrauen
wir uns nicht zu entscheiden, ob es gleich hierüber
an Bemerkungen und Analogie nicht fehlt. So viel
aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu
sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Tiere
nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, so
dass die Pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und
starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglich-
keit und Freiheit sich verherrlicht."
Als höchst charakteristisch für das grosse In-
teresse, mit dem Goethe die Umbildungstheorie bis
zu seinem' Lebensende verfolgte, verweist Haeckel
endlich auf die lebhafte Anteilnahme des achtizigjährigen
Greises an dem im ScHoss der französischen Akademie
ausgebrochnen Streit zwischen Cuvier und Gebffroy
de St. Hilaire. So wichtig erschien Goethe dieser
wissenschaftliche Prinzipienkampf, dass ihm die fran-
- 96 -
zösische Julirevolution dagegen in den Hinter-
grund trat.
Es muss Haeckel als grosses Verdienst an-
gerechnet werden, die Frage über Goethes Stellung
zur Deszendenzlehre in Fluss gebracht zu haben.
£r hat mit seinen Darlegungen einen Streit herauf-
beschworen, der zur Klärung des Problems jedenfalls
bedeutend beigetragen hat, und auch die, die mit mir
•der Ansicht sind, dass seine Auffassung in vielen
Punkten einer Kritik nicht stand hält, werden ihm dafür
dankbar sein. Er hat sich auch hier als der ge-
waltige Anreger erwiesen, der er allzeit gewesen ist.
Der erste Forscher, der Haeckels Ansichten
über Goethes Descendenzstandpunkt kritisch be-
leuchtete, war der Strassburger Zoolog Oskar
•Schmidt. In einer kleinen, 187 1 erschienenen Schrift:
„War Goethe ein Darwinianer ?*' versuchte er zu
zeigen, dass Goethe weder klar noch verhüllt ein
•eigentlicher Vorgänger Darwins gewesen sei, wie ver-
führerisch auch viele seiner Aussprüche darnach
klängen. Wenn man Goethe zu einem offnen Ver-
kündiger oder auch nur zu einem gewissermassen
poetisch inspirierten Propheten der Deszendenzlehre
mache, so lege man auf seine Äusserungen über
^»unaufhaltsam fortschreitende Umbildung" und ähn-
liche zu viel Wert oder gehe nicht in den Sinn ein,
•den er damit verbinde. Das Urbild oder der Typus
Goethes dürfe nicht als reale Stammform gedeutet
werden, denn an ein Umbilden des Urbildes zu Arten
•durch den Einfluss äussrer Bedingungen habe Goethe
Charles Darwin
— 97 —
Glicht gedacht, sondern nur an blosse . Erscheinungs-
formen des Typus, wie sie in den gegebnen Acten
vorliegen. Entscheidend für diese Auffassung ist
Schmidt der Aufsatz über die Skelette der Nagetiere.
Dort schreibt Goethe:
M Suchen wir das Geschöpf in der Eegion des
Wassers, so zeigt es sich schweinartig im Ufersumpfe,
als Biber sich an frischen Gewässern anbauend; als-
dann immer noch einige Feuchtigkeit bedürfend,
gräbt sichs in die Erde und liebt wenigstens das
Verborgne, furchtsam neckisch vor der Gegenwart
der Menschen und andrer Geschöpfe sich versteckend.
Gelangt endlich das Geschöpf auf die Oberfläche,
so ist es hüpf- und springlustig, so dass es aufge-
richtet sein Wesen treibt und sogar zweifüssig mit
wundersamer Schnelle sich hin- und herbewegt. Ins
völlig Trockne gebracht, finden wir zuletzt den Ein-
üuss der Lufthöhe und des alles belebenden Lichtes
ganz entscheidend. Die leichteste Beweglichkeit wird
ihnen zuteil, sie handeln und wirken auf das be-
hendeste, bis sogar ein vogelartiger Schwung in einen
-scheinbaren Flug übergeht.*
Hier zeigt es sich nach Schmidt ganz evident,
<lass Goethe auch nicht im entferntesten an eine
tatsächliche Umwandlung eines Nagetiers in ein
•andres durch die Nötigung der äussern Einflüsse
«
denkt. Man suche ganz vergeblich nach den realen
Gestalten , die verändert werden. Nicht der Biber
^erde zum mauseartigen Erdgräber, nicht die
Springmaus zum Eichhörnchen., dieses nicht zum
7
- 98 -
(Flaghörnchen, sondern die unaufhaltsam fortschrew
tende Umbildung biete sich nur dem geistigen
Auge dar«
Schmidt findet nur eine einzige Stelle in Goethes
Schriften, wo von einer wirklichen Umwandlung eines
Geschöpfes, wenn nicht zu einer neuen Art, so doch
zu einer sehr ausgeprägten konstanten Varietät die
Rede ist. Ein Doktor Körte lieferte 1820 die Be-
schreibung eines im Halberstädtischen gefundnen
Urstierschädels und verglich diesen mit dem Skelett-
kopf eines voigtländischen Stiers, wobei er Betrach-
tungen darüber anstellte, wie nach und nach dieser
aus jenem hervorgegangen sei,
„Zwischen dem Urstier und Ochsen," führt er
aus, ,,liegen Jahrtausende,' und ich denke mir, wie
das Jahrtausende hindurch von Geschlecht zu Ge-
schlecht immer stärkere tierische Verlangen, auch
nach vorn hin bequem zu sehen, die Lage der
Augenhöhlen ded Urstierschädels und ihre Form all-
mählich verändert ; wie das Bestreben leichter, klarer
und noch weiter hin zu hören, die Gehörkammern,
dieser Tierart erweitert und mehr nach innen ge-
wölbt; und wie der mächtige tierische Instinkt, für
Wohlsein und Nahrung immer mehr Eindrücke der
sinnlichen Welt in sich aufzunehmen, die Stirn all-
mählich mehr gehoben hat/ Diese Betrachtungen
findet Goethe seiner Überzeugung ganz gemäss, aber
Schmidt bemerkt dazu wohl richtig, dass von hier
bis zu Anerkennung der Umbildung der Art noch
ein weiter Weg sei.
— 99 —
Als einen direkten Beweis gegen die descen«
denztheoretischen Ansichten Goethes betrachtet
Schmidt den 1823 veröffentlichten Aufsatz „Problem
und Erwiderung*. Dieser enthält eine Reihe von
Goethe aufgestellter Aphorismen über die Idee der
Metamorphose nebst kritischen Bemerkungen des
Göttinger Botanikers Ernst Meyer, die Goethe als
Zeugnis reiner Sinn- und Geistesgemeinschaft mit ein-
rückt. In diesen Bemerkungen Meyers heisst es:
^Jedes besondre Naturwesen beschreibt, ausser
dem grossen Kreislauf alles Lebens, an dem es teil
hat, noch eine engre ihm eigentümliche Bahn, und
das Charakteristische derselben, welches sich, aller
Abweichungen ungeachtet, in einem Umlaufe wie in
dem andern durch die fortgesetzte Reihe der Ge-
schlechter ausspricht, dies beharrlich Wiederkehrende
im Wechsel der Erscheinungen, bezeichnet die Art.
Aus innigster Überzeugung behaupte ich fest: gleicher
Art ist, was gleiches Stammes ist. Es ist unmöglich,
dass eine Art aus der andern hervorgehe."
Und ferner sagt Meyer über die charaktei istischen
und charakterlosen Pflanzengattungen, die Goethe
unterschieden hatte:
„Je leichter jene sich fügen, desto schwerer ist
mit diesen fertig zu werden. Wer sie aber mit Ernst
und anhaltendem Eifer beobachtet und des ange-
bornen, durch Übung ausgebildeten Taktes nicht
ganz ermangelt, der wird sicherlich, weit entfernt
an ihnen sich zu verwirren, die wahrhaften Arten und
deren Charakter aus aller Mannigfaltigkeit der Formen
7*
— lOO —
-gkt bald herausfinden. Wer ist je in Versuchung
geraten, eine Rosa canina, welche Form» Farbe und
Bekleidung sie auch angenommen habe, mit einer
Ko&a cinnamomea, arvensis, alpina, rubiginosa zu
verwechseln? . . . Sollte aber wirklich in irgend
einer formenreichen Gattung durchaus keine Grenze,
welche die Natur selbst achtet, zu finden sein, was
"hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle ihr^
Formen als eben so viele Abarten zu behandeln?
So lange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu
führen, dass überhaupt in der Natur keine Art be-
stehe, sondern dass jede, auch die entfernteste Form
•durch Mittelglieder aus der andern hervorgehen
könne: so lange muss man uns jenes Verfahren
schon gelten lassen."
Von den von Haeckel angeführten Sätzen Goethes
erwähnt Schmidt noch jenen, in dem Goethe von
der nach zwei entgegengesetzten Seiten vor sich
gehenden Vervollkommnung der Tiere und Pflanzen
spricht. Er sieht in ihm nichts andres, als eine nach
Goethes Art zu forschen, zu wissen und zu geniessen
«3m[ibolisch verbrämte Wiederholung eines schon fast
fünfzig Jahre früher von Buffon aufgestellten und
vielfach varüerten Satzes. Er glaubt also , dass
Goethe nur an eine Stufenleiter und nicht an eine
Entwicklungsreihe der Organismen gedacht hat. Doch
liegt gerade bei diesem Ausspruch der Gedanke an
eine descendenztheoretische Deutung sehr nahe, be-
sonders da Goethe von den treibenden Kräften,
Licht und Finsternis spricht, durch die die ersten
— lOI —
Anfange einerseits zur Pflanze, andrerseits zum Tier
hinüber gefQhrt werden.
Oskar Schmidt hat das Verdienst, zuerst die
Aufikssang des Goethischen Typus oder Urbildes
als einer realen Stammform der Organismen als irrig
nachgewiesen und diesen Begriff als einen ideellea
gedeutet zu haben. Erschöpfend freilich ist seine
BeweisHihrung nicht, und andre Seiten des Problems^
bleiben ganz unberührt. Auch ist er auf die meisten,
der von Haeckel herangezognen Aussprüche Goethes
nicht näher eingegangen. Dies tat vier Jahre später
(1875) in gründlicher Weise Robby Kossmann in
seiner Abhandlung: „War Goethe ein Mitbegründer
der Descendenztheorie?*^
Kossmann weist zunächst darauf hin, dass nach
einem Urbilde geformt sein noch lange nicht heisst
von einem Urbilde abstammen. ^Sind etwa,** fragt
er, „alle Kopien der medizeischen Venus leibliche
Kinder und Kindeskinder derselben? Behauptet etwa
Moses, wenn er sagt: ,Gott schuf den Menschen
ihm zum Bilde', dass der Mensch von Gott ab»
stamme?^ Und weiter macht er darauf aufmerksam^
dass, wenn das Urbild „nur in seinen sehr bestän-
digen Teilen hin- und herweicht^, nicht alle die un-
endlich mannigfaltigen Organismen daraus entstehen
können, die jetzt die Erde bewohnen und sie je be-
wohnt haben. Sowohl die Behauptung Goethes, dass
dies Urbild hin- und herweiche, als die^ dass es sich
aus- und umbilde, schliesse allerdings die Veränder-
lichkeit der Organismen ein. Aber das „Hin- und
— I02 —
Herweichen ^ sage deutlich, dass hier nicht von einer
unbegrenzten Veränderlichkeit die Rede sei und das
„in seinen sehr beständigen Teilen^ beweise, dass
Goethe dieser Veränderlichkeit keinen grossen Spiel-
raum zugemessen glaube.
Kossmann legt ferner Gewicht auf den Titel
des Kapitels, wo der in Rede stehende Satz vorkommt,
und der lautet: „Über einen aufzustellenden Typus
zur Erleichterung der vergleichenden Anatomie/ Dieser
Titel sowohl als verschiedne andre Stellen derselben
Abhandlung beweisen ihm mit Recht^ dass der Typus
oder das Urbild ein Resultat der Abstraktion ist
und dass Goethe in der ganzen Abhandlung von
1796 den Gedanken an eine leibliche Verwandtschaft
der Organismen unerörtert gelassen hat
Sodann wendet Kossmann sich zur Besprechung
des Satzes, nach dem eine innre ursprüngliche Ge-
meinschaft aller Organisation zum Grunde liegt.
Er zeigt, dass diese Bemerkung, die sich auf d*Altons
Übersicht über die Skelette der Nagetiere bezieht,
nichts andres bedeuten könne als dass dem Bau
dieser Tiere ein gemeinsamer Typus zugrunde liegt.
Denn sollte sie wirklich eine Gemeinsamkeit der
Abstammung bedeuten, so könnte nicht in demselben
Satz von „einer ursprünglichen gleichzeitigen Ver-
schiedenheit" die Rede sein. Die „unaufhaltsam
fortschreitende Umbildung*' sei keine zeitliche Auf-
einanderfolge, sondern ein Bild, das zumal hier, wo
man von einem Blatt des Atlanten zum andern fort-
schreitend einen Überblick über alle die vorhandnen
— I03 -—
Verschiedenheiten gewönne, sehr nahe gelegen habe
und nichts als eine gleichzeitige Abweichung der
einzelnen Arten bezeichnete, die nur unsern Sinnen
«ich in zeitlicher Aufeinanderfolge offenbarten«
Auch das Citat Haeckels aus dem Gedicht über
•die Metamorphose der Tiere, wo der Einwirkung der
Lebensweise auf die Gestalt der Tiere gedacht wird,
ist Kossmann mit Recht nicht beweisend. Denn es
steht darin nirgends, dass diese Einwirkung der Lebens*
weise so mächtig ist, dass dadurch die Artunterschiede
vernichtet werden. Ebensowenig könne endlich der
auf Nees von Esenbeck bezügliche Satz über den
Triumph der physiologen Metamorphose als Beweis
für Goethes Descendenzansicht angesehen werden,
da Nees von Esenbeck keine Stammverwandtschaft
<ler Arten eines Geschlechts nachgewiesen habe. So
gelangt, denn schliesslich Kossmann zu derselben
Ansicht wie Schmidt, dass Goethe ein Anhänger der
Lehre von der Artkonstanz gewesen sei. Seine Be*
gründung dieser Ansicht kann aber ebensowenig
wie die seines Vorgängers als ausreichend angesehen
werden, da sie sich fast lediglich auf eine Kritik
•der von Haeckel angeführten Belegstellen bezieht,
-das Ganze des Problems aber nicht berührt.
Von weit umfassendem Gesichtspunkten aus hat
im Jahre 1877 Kalischer in seiner gründlichen und
tiefeindringenden Analyse der naturwissenschaftlichen
Arbeiten Goethes in der Hempelschen Goetheaus-
gabe die Frage beleuchtet. Er schliesst sich darin
mit aller Entschiedenheit der Haeckelschen Ansicht
— I04 —
an' lind gliaobt m Goethes ' Schrifteti ein' so ausV
reichendes und '- unzweifelhaftes Beweismaterial für-
Goethes Descendi^zstandpunkt zu finden , . dass es*
ihm scheinen wilU als ob die gegnerischen Ansichtfen
nur deshalb hervorgerufen seien, weil Goethes frei-
lich zerstreute und nicht systematisch geordnete
Äusserungen nicht in dem gehörigen Zusammenhang:
betrachtet worden seien. Aber wenn auch Kalischer
im Endresultat mit Haeckel übereinstimmt, so ist seine
Begründung doch eine durchaus verschiedne, und
schon in seiner Typusauffassung, nimmt ^ er eine
Mittelstellung zwischen Haeckel und seinen Kritikern
ein. Er glaubt eine Doppelsinnigkdt des Typus
konstatieren zu müssen, indem er meint, Goethe habef
das Wort bald als Abstraktion, Idee oder Schema,
bald - als konkrete Stammform aüfgefasst* . Wenn
Goethe sage: „Jenen allgemeinen Typus, < den wir
nun freilich erst konstruieren utid in deinen Teilen
erst erforschen wollen, werden wir. im Ganzen un-t
veränderlich finden," so fasse er den Typus als Ab*
straktion auf, wenn er aber von der Versa tilität» des
Typus spreche, so nehme er ihn im konkreten Sinne
einer Stammform. Denn offenbar wäre es höchst
ungereimt, einer Abstraktion oder Idee Beweglichkeit
oder Veränderlichkeit zuzuschreiben, und doch sei bei
Goethe nichts beweglicher und umbildungsfahigef
als der Typus, wie unter anderm seine Vergleichung
mit dem Proteus beweise.
Mit dieser Auffassung Kalischers kann' ich durch-
aus nicht harmonieren. Ich sehe nicht ein, warum
— I05 —
man einer Idee nicht Beweglictikeit zuschreiben könne
in dem Sinn, dass sie bald in dieser, bald in jener
Form in die Erscheinung tritt» Zudem fipdet sich
die Stelle, wo Goethe den Typus mit dem Proteus'
vergleicht, unmittelbar hinter jenem Satz, wo von
der Konstruktion des Typus und seiner Unveränder-
lichkeit im ganzen die Rede ist. Die Stelle lautet
nämlich vollständig wie folgt: . •
,, Jenen allgemeinen Typus, den wir nun freilich
erst konstruieren und in seinen Teilen erst erforschen^
wollen, werden wir im ganzen unveränderlich finden^
werden die höchste Klasse der Tiere, die Säugetiere
selbst, unter den verschiedensten Gestalten in, ihren
Teilen höchst übereinstimmend antceffen.
,,Nun aber müssen wir, indem wir bei und mit
dem Beharrlichen beharren, auch zugleich mit und
neben dem Veränderlichen unsre Ansichten zu ver-
ändern und mannigfaltige Beweglichkeit lernen, da«*
mit wir den Typus in aller seiner Versatilität zi»
verfolgen gewandt seien und uns dieser Proteus
nirgend hin entschlüpfe.*
Es erscheint mir ganz undenkbar, dass Goethef
hier ohne nähere Erläuterung in dem ersten Satz den
Typus vollständig anders aufgefasst hat, al^ im
zweiten. Der ganze Zusammenhang der Schrift über
den Typus beweist mir eine durchaus einheitliche
Deutung dieses Begriffs, und zwar im Sinn einer Idee,
wie es Goöthe auch mit voller Klarheit ausge?
sprochen hat in den Worten: ;
,, Deshalb geschieht hier ein Vorschlag zu einem
— io6 —
anatomischen Typus, :;u einem allgemeinen Bilde,
worin die Gestalten samtlicher Tiere, der Möglich-
keit nach, enthalten wären, und wonach man jedes
Tier in einer gewissen Ordnung beschriebe. Dieser
Typus musste so viel wie möglich in physiologischer
Rücksicht aufgestellt sein. Schon aus der allge-
meinen Idee eines Typus folgt, dass kein einzelnes
Tier als ein solcher Vergleichungskanon aufgestellt
werden könne ; kein einzelnes kann Muster des Gan«
zen sein.
„Der Mensch , bei seiner hohen organischen
Vollkommenheit, darf, eben dieser Vollkommenheit
wegen, nicht als Massstab der unvollkommnen Tiere
aufgestellt werden. Man verfahre vielmehr folgender-
massen.
„Die Erfahrung muss uns vorerst die Teile lehren,
die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile
verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen
walten und auf eine genetische Weise das allgemeine
Bild abziehen. Ist ein solcher Typus auch nur zum
Versuch aufgestellt, so können wir die bisher ge-
bräuchlichen Vergleichungsarten zur Prüfung desselben
sehr wohl benutzen.^
Wie den anatomischen Typus der Tiere so
deutet Kalischer gleich Haeckel auch die Urpflanze
oder den vegetativen Typus Goethes als eine
reale Stammform. „Diese Urpflanze ,^ sagt er,
„ist allerdings kein Geschöpf der Natur, sondern
sein eignes; er konnte nicht anmasslich meinen, in
dieser Schöpfung mit der Natur zusammenzutreffen;
— I07 —
aber dass die Organismen, welche sich aus der Ur-
pflanze ableiten lassen, nicht malerische oder dichte-
rische Schatten und Scheine sind, sondern existieren
könnten, dass Goethe, indem er Schiller die Meta-
morphose der Pflanzen vortrug mit manchen charak-
teristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze
— die denn doch wohl mit der Urpflanze auf gleichem
Range steht, vor seinen Augen entstehen Hess, dies
alles scheint mir zur Genüge zu beweisen, dass er
mit der Urpflanze eine durchaus konkrete Vorstellung
verband und eine allen Pflanzen gemeinsame reelle
Stammform annahm.^
Den Irrtum dieser Auffassung hat am gründ-
lichsten Bliedner in seiner Schrift über „Goethe und
die Urpflanze" aufgedeckt. Auf Grund des gesamten
Quellenmaterials zeigt er hier, dass Goethe zwar an-
fangs an eine wirkliche Existenz der Urpflanze glaubte
und sie unter den Pflanzen Italiens zu entdecken
versuchte, dass sie aber mit einer solchen im des-
cendenztheoretischen Sinn nichts zu tun hat. Die
Urpflanze war für Goethe weiter nichts als feine
Pflanze, die nur das enthält, was allen Pflanzen ge-
meinsam ist. In jeder Pflanze sah Goethe die Ur-
pflanze und noch irgend ein Plus. Er fand Pflanzen,
bei denen dies Plus gross, andre, bei denen es klein
war. Die letztern gaben ihm den Gedanken ein, ob
nicht auch eine Pflanze zu finden wäre, die gar kein
Plus mehr enthielte, die also mit seiner Urpflanze
identisch sei. Er suchte und suchte in dem Pflanzen-
meere Siziliens, doch er fand die Urpflanze nicht
r- I08 —
uird ga(b damit die Hoffnung » sie in der Natur zu
finden, überhaupt auf. Und besonders später^ unter
^em'Einfiuss Schillers, erschien ihm die Urpfianze
wie auch das Urtier als eine Abstraktion, eine Idee,
gefunden durch sorgliche Erforschung und Ver»
gleichung des vorhandnen Erfahrungsmaterials. Ent*
scheidend dafür ist folgende aus dem Jahre 1817
stammende Äusserung: ,,Wie ich früher die Urpüanze
gesuclilt,. so trachtete ich nunmehr das Urtier zu
finden, das heisst denn doch zuletzt den Begriff, die
Idee des Tiers. ^ Aber auch zu der Zeit, als Goethe
noch an die reale Existenz der Urpfiapze glaubte^
fasste er sie nicht im Sinn einer Stammform» und
von einer genetischen Entwicklung der Pflanzenwelt
aus ihr ist bei ihm keine Rede.
Am allerwenigsten aber kann Goethes Schrift
über die Metamorphose der Pflanzen als Beweisstück
für seine Descendenzlehre in Anspruch genommen
werden. Kalischer tut dies auch nicht, wohl aber
Haeckel. Bliedner hat mit Nachdruck darauf hinge-
wiesen, dass jene Schrift die Urpfianze überhaupt
nicht erwähnt und die Frage, ob sich zu irgend einer
Zeit einmal eine Pflanzenart in eine andre umge-
5vandelt habe, gar* nicht erörtert. Sie bezieht sich
vielmehr nur auf die Umwandlung der Teile des
wachsenden Pfianzenindividuums, und ihre sämtlichen
Ausführungen . könnten auch bestehen, wenn sie von
einem Anhänger der Spezieskonstanz herrührten, der
nur eben untersuchen will, was die Seitenorgane
holderer Pflanzen gemeinsam haben und nach welchen
— log —
besetzen das Wachstum eines höheren Pflanzea-
individaums von der Keimung bis zur Fruchtbildung
erfolgt.. Die ganze Goethische Metamorphosenlehre
hat mit Descendenztheorfe nichts zu tun.
Nur wenig glücklicher als die Deutung des
Typusbegriffs scheint mir Kalischers Versuch aus
der aUgemeinen Naturanschauung Goethes, aus seinen
spinozistisch-pantheistischen Ansichten« aus seiner Ab-
neigung gegen die Teleologie und seinen allgemeinen
geologischen Anschauungen die descendenztheo-
retischen Meinungen des Dichters zu erweisen. Bm
Spinoza finden wir die Abstammungslehre nicht, und
Lyell, der Begründer der geologischen Kontinuitätslehre
war keineswegs von vornherein ein Anhänger der Des*
cendenztheorie, sondern wurde erst allmählich durch
Darwin für sie gewonnen. In dem dritten Teil seiner
berühmten Prinzipien der Geologie hatte er die
Lamarcksche Lehre sogar scharf kritisiert. Ein
sichrer Schluss auf Goethes Descendenzanstchten
lässt sich daher weder aus seinen spinozistischen noch
aus seinen geologischen Anschauungen machen.
Andrerseits geb ich gern zu, dass bei unbe-
fangner Würdigung der allgemeinen Naturansichten
Goethes, namentlich seiner hohen Wertschätzung
und Betonung der genetischen Methode und des
ewigen Flusses aller Dinge sich mit fast überwältigender
Macht der Gedanke aufdrängt, dass er auch die Tier- und
Pflanzenarten als dem Gesetz der Veränderung unter-
worfen sich gedacht hat Noch mehr Überzeugungs-
kraft gewinnt dieser Gedanke, wenn man einige der
— HO —
von Kalischer zitierten Aussprüche Goethes in Be-
tracht zieht, die wohl kaum anders als im descendenz-
theoretischen Sinn aufgefasst werden können.
Freilich nicht alle Stellen, auf die sich Kalischer
beruft , sind eindeutig. So kann man immerhin
zweifelhaft sein , ob Goethe an einen genetischen
Zusammenhang des Menschen mit den vierfüssigen
Tieren gedacht hat, wenn er in dem Aufsatz über
die Skelette der Nagetiere schrieb:
„Ein paar Kapitaltiere, der Löwe, der Elefant,
erreichen durch das Übergewicht der vordem Extremi-
täten einen besonders hohen, eigentlichen Bestien-
charakter; denn sonst bemerkt man überhaupt an
den vierfüssigen Tieren eine Tendenz der hintern
Extremitäten sich über die vordem zu erheben, und
wir glauben hierin die Grundlage zum reinen, auf-
rechten Stande des Menschen zu erblicken."
Verschieden ausgelegt werden können wohl auch
die Worte des Thaies in der klassischen Walpurgis-
nacht :
Gib nach dem löblichen Verlangen,
Von vom die Schöpfung anzufangen!
Zu raschem Wirken sei bereit !
Da regst du dich nach ewgen Normen,
Durch tausend, abertausend Formen,
Und bis zum Menschen hast du Zeit
Und noch weniger entscheidend ist, was Goethe
in einem der von Riemer mitgeteilten Aphorismen
sagt:
i,Die Natur kann zu allem, was sie machen will,
nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine
— III —
Sprünge. Sie könnte zum Beispiel kein Pferd
machen, wenn nicht alle übrigen Tiere voraufgingen,
auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur
des Pferdes heransteigt. So ist immer eines um
alles, alles um eines willen da, weil ja eben das Eine
auch das Alles ist.^
Diese Stelle kann man sowohl so auffassen^ dass
das Pferd sich aus den voraufgehenden Tieren ent-
wickelt hat, als auch so, dass die Natur es nicht
eher hervorbringen konnte, ehe sie die andern Tiere
hervorgebracht hatte, ganz unabhängig von einer
Abstammung. Und auch die von Kalischer ange-
führten Stellen, wo Goethe von Übergängen zwischen
verschiednen Arten spricht, lassen nicht deutlich er-
kennen, ob Goethe diese Übergänge genetisch auf-
gefasst hat. So wenn er in den Annalen von 1805
mitteilt, dass auf dem Ettersberge bei Weimar eine
Buche gefunden worden sei, „welche sich in Gestalt
und sonstigen Eigenschaften offenbar der Eiche
nähere^, oder wenn er dem Berginspektor Mahr zu
Ilmenau im Jahre 1832 über ein gesandtes Pllanzeu-
exemplar schreibt: „Ich halte es für einen höchst
wichtigen Übergang vom Farrenkraut zum Kaktus,
durch Anastomose der Zweigblätter/
In höherm Grade einer descendenztheoretischen
Deutung fähig scheinen mir die Sätze, die Goethe
1831 der umgeänderten Fassung seiner Geschichte
des botanischen Studiums einfügte :
„Das Wechselhafte der Pflanzengestalten, dem
ich längst auf seinem eigentümlichen Gange gefolgt,
— 112 -^
'«rweckte nun bei mir immer mehr die Vorstellung:
-die uns umgebenden Pflanzenformen seien nicht ur-
sprünglich determiniert und festgestellt, ihnen sei
'vielmehr bei einer eigensinnigen, generischen und
spezifischen Hartnäckigkeit eine glückliche Mobilität
und Biegsamkeit verliehen, um in so viele Bedingungen,
"die über dem Erdkreis auf sie einwirken, sich zu
fügen und darnach bilden und umbilden zu können.
„Hier kommen die Verschiedenheiten des Bodens
in Betracht; reichlich genährt durch Feuchte der
Täler, verkümmert durch Trockne der Höhen, ge-
schützt vor Frost und Hitze in jedem Masse oder
beiden unausweichbar blossgestellt, kann das Ge-
schlecht sich zur Art, die Art zur Varietät und diese
ivieder durch andre Bedingungen ins Unendliche sich
verändern.*
Kann man bei diesen Äusserungen immer noch
-zweifelhaft sein, ob sie wirklich im descendenztheo-
retischen Sinn aufzufassen sind, da Goethe nicht von
'der Veränderung der Varietät zur Art und der Art
zum Geschlecht spricht, sondern die Worte in um-
gekehrter Reihenfolge wählt, so fällt wohl bei einigen
-andern der von Kalischer hervorgehobnen Stellen
dieser Zweifel weg. Das gilt zunächst für einen
Ausspruch Goethes über folgende Stelle in Kants
Kritik der Urteilskraft:
„Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in
einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht
'•allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der
Anordnung der übrigen Teile zugrunde zu liegen
Darwins Landhaus in Down
— 113 —
scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grund-
risses durch Verkürzung einer und Verlängerung
andrer, durch Einwicklung dieser und Auswicklung
jener Teile eine so grosse Mannigfaltigkeit von
Spezies hat hervorbringen können, lässt einen ob-
gleich schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüt
fallen, dass hier wohl etwas mit dem Prinzip des
Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt
keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten
sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie
bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen
Urbilde gemäss erzeugt zu sein scheinen, verstärkt
die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft der-
selben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen
Urmutter, durch die stüfenartige Annäherung einer
Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in wel-
cher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt
zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum
Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten
und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe
der Natur, zur rohen Materie, aus welcher und ihren
Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen,
wonach sie in Kristallerzeugungen wirkt) die ganze
Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen
so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein andres
Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen
scheint."
„Eine Hypothese von solcher Art,* fugt Kant
in einer Anmerkung hinzu, „kann man ein gewagtes
Abenteuer der Vernunft nennen, und es mögen
8
— 114 —
wenige, selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern
sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf ge-
gangen wäre.**
Kant stellt also hier die Descendenztheorie als
eine mögliche Hypothese hin, wenn er sie auch ein
gewagtes Abenteuer der Vernunft nennt In dem
zuerst im Jahre 1820 gedruckten Aufsatz „Anschau*
ende Urteilskraft^ sagt nun Goethe :
,, Hatte ich doch erst unbewusst und aus innerm
Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos ge-
drungen, war es mir sogar geglückt, eine naturge-
mässe Darstellung aufzubauen, so konnte mich nun-
mehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der
Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst
nennt, mutig zu bestehen.^
Ebensowenig wie hier kann in den aus dem
Jahre 1822 stammenden Bemerkungen Goethes zu
d^Altons Werk über die Faultiere und Dickhäutigen
eine Zustimmung zur Lehre von der Umwandlung
der Arten verkannt werden. In der Einleitung des
d'Altonschen Werks wird die Ansicht, dass die
lebende Tierwelt eine neue Schöpfung sei, entschie-
den zurückgewiesen und die Behauptung aufgestellt,
die Bedingungen der Tierschöpfung seien nur einmal
vorhanden gewesen und die Fortdauer der Tiere
müsse in ununterbrochner Folge gedacht werden.
Die Verschiedenheit in der Bildung der fossilen
Knochen im Vergleich mit denen der noch leben-
den Tiere wird als Zeugnis für die kontinuierliche
Folge der Abstammung wie für die fortlaufende
— 115 —
Verwandlung der Tiere nach den verschiednen
äussern Verhältnissen in Anspruch genommen. Der
Einwand, die Tiere hätten sich in dem letzten Jahr-
tausend in spezifischer Gleichheit fortgepflanzt, wird
mit der Bemerkung zurückgewiesen, dass sich wäh-
rend dieser Zeit keine bedeutende Veränderung in
den äussern Bedingungen der Entwicklung ergeben
habe, oder dass alle Formen des Lebens sich jetzt
langsamer entwickeln als in der Urzeit. Nur in Be-
ziehung einer ununterbrochnen Folge der Abstam-
mung seien die fossilen Tierreste der vergleichenden
Anatomie von Wichtigkeit, da sie als Dokumente
früherer Entwicklungsstufen die allmähliche Verwand-
lung der Tiere erwiesen.
Goethe stimmt diesen Ausführungen durchaus
zu, indem er sagt:
„Was die Einleitungen betrifft, sind wir mit dem
Verfasser vollkommen einstimmig und ihm zugleich
höchlich verpflichtet, dass er uns nicht allein in lang
gehegten und längst anerkannten Grundsätzen be-
stärkt, sondern auch zugleich Wege führt, die wir
selbst zu betreten nicht unternehmen konnten, auf
Pfade hindeutet, worauf noch das Allerbeste zu
hoffen ist.
„Wir teilen mit dem Verfasser die Überzeugung
von einem allgemeinen Typus sowie von den Vor-
teilen einer sinnigen Nebeneinanderstellung der
Bildungen, wir glauben auch an die ewige Mobilität
aller Formen in der Erscheinung.
„Hier kommt jedoch zur Sprache, dass gewisse
8*
— ii6 —
Gestalten, wenn sie einmal generisiert» spezifiziert,
individualisiert sind, sich hartnäckig lange Zeit durch
viele Generationen erhalten und sich auch selbst
bei den grössten Abweichungen immer im Haupt-
sinn gleich bleiben."
Die Bemerkung des letzten Satzes enthält wohl
eine Einschränkung, aber keine Abweisung der
Descendenzlehre. Für lange Zeit, durch viele Ge-
nerationen sollen sich gewisse Gestalten gleich bleiben,
aber nicht alle Gestalten und nicht für alle Zeit
und durch alle Generationen.
Im descendenztheoretischen Sinn darf endlich
wohl auch folgende Äusserung Goethes zu Eckermann
aus dem Jahre 1831 aufgefasst werden:
„So hat der Mensch in seinem Schädel zwei
unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum?
würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die
Frage Wie? mich belehrt, dass diese Höhlen Reste
des tierischen Schädels sind, die sich bei solchen
geringern Organisationen in stärkerm Masse befinden,
und die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch
nicht ganz verloren haben."
Indem Kalischer die Aufmerksamkeit auf diese
Stellen lenkte, zeigte er, dass die Auffassung Schmidts
und Kossmanns, die Goethe als bedingungslosen
Anhänger der Lehre von der Artkonstanz in Anspruch
genommen hatten, nicht haltbar ist Kalischers Ver-
such, Goethe als einen entschiednen Vertreter der
Descendenztheorie hinzustellen, muss jedoch ebenfalls
als gescheitert angesehen werden. Denn die Mehr-
^ 117 —
zahl der von ihm aufgeführten Argumente halten
einer strengen Kritik nicht stand, und die wenigen
nicht anfechtbaren Beweisstellen sind nur gelegentliche
Äusserungen Goethes» die sich sogar meist nur auf die
Ausführungen andrer beziehen. Das Gewicht dieser
Bekenntnisse wird nun dadurch noch bedeutend ver-
mindert, dass Goethe fast um dieselbe Zeit, als er
sich zu den descendenztheoretischen Ansichten d^Altons
bekannte, den gerade entgegengesetzten Meinungen
zweier andrer Forscher entschieden zustimmte.
Ein Referent des Wenderothschen Lehrbuchs der
Botanik hatte im Anschluss an Bemerkungen über
die Anwendung der Metamorphosenlehre geschrieben:
„Daraus geht dann ein bestimmter, genetischer
Begriff der Spezies im Pflanzenreich, welchen viele
beinah aufgegeben, weil sie ihn auf anderm Wege
vergebens gesucht, gleichsam von selbst hervor, und
die Kritik der in unsrer Zeit so oft behaupteten
und bestrittenen Verwandlungen einer Pflanze in die
andre, welche der Naturforscher, ohne aller Ge-
wissheit zu entsagen, nicht einräumen darf, gewinnt
wieder einen festen Boden/
Dazu bemerkt nun Goethe, dass er die hier aus-
gesprochne Hoffnung sehr gerne hege und pflege.
Und im nächsten Jahr nimmt er Ernst Meyers Sätze
für die Spezieskonstanz als Zeugnis reiner Sinn- und
Geistesgemeinschaft in seine morphologischen Hefte
auf.
Kalischer geht auf diese Dinge überhaupt nicht
ein, und einer seiner Anhänger meint, dass man auf
— Ii8 —
sie kein grosses Gewicht zu legen brauche, da der
liebenswürdige Poet von Weimar mit Zeugnissen
reiner Sinn- und Geistesgemeinschaft sehr freigiebig
gewesen sei. Ganz unberücksichtigt dürfen wir sie
aber wohl nicht lassen; es geht jedenfalls so viel aus
ihnen hervor, dass die Descendenzlehre für Goethe
keine tiefgegründete Herzens- und Geistesüberzeugung
war wie etwa die Typusidee, die Metamorphosenlehre,
die Wirbeltheorie des Schädels oder die Farbenlehre.
Nie würde Goethe diesen Theorien extrem entgegen-
stehende Ansichten als Zeichen reiner Sinn- und
Geistesgemeinschaft in seine Werke aufgenommen
haben.
Kalischer hat sich nicht darauf beschränkt, die
descendenztheoretische Auifassung Goethes im all-
gemeinen darzutun, sondern hat auch die Art der
Ursachen festzustellen versucht, die Goethe zur Er-
klärung der organischen Formveränderungen annahm.
Er findet sie in den Einflüssen der Aussenwelt, der
Wechselwirkung der Teile und dem Gebrauch und
Nichtgebrauch der Organe. Es kann nicht geleugnet
werden, dass Goethe allen diesen Faktoren einen
Einfluss auf die Umgestaltung der Lebewesen zu-
schrieb, fraglich bleibt nur, wie weit er ihn sich
wirksam dachte. Dass er neben der Bedeutung der
umwandelnden Kräfte auch die erhaltende Kraft der
Vererbung zu würdigen wusste, das beweist der be-
kannte Vers:
Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
— 119 —
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zn fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
Das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
Das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen Wicht,
Original zu nennen?
Endlich findet Kalischer mit Recht auch das
Prinzip des Kampfes ums Dasein bei Goethe ange-
deutet. Besonders scharf und allgemein ist es aus-
gedrückt in den Worten:
„Alles, was entsteht, sucht sich Raum und will
Dauer ; deswegen verdrängt es ein andres vom Platz
und verkürzt seine Dauer.**
Und eine besondre Anwendung auf das Pflanzen-
reich enthalten die Sätze:
„Dass eine gewisse uns nicht offenbarte Wechsel-
wirkung von Pflanze zu Pflanze heilsam sowohl als
schädlich sein könne, ist schon anerkannt. Wer
weiss, ob nicht in kalten und warmen Häusern ge-
wisse Pflanzen gerade deshalb nicht gedeihen, weil
man ihnen feindselige Nachbarn gab; vielleicht be-
mächtigen sich die einen zu ihrem Nutzen der heil-
samen atmosphärischen Elemente , deren Einfluss
ihnen allen gegönnt war."
Auch eine Stelle in Goethes Pandora schildert
den Kampf ums Dasein, worauf Ferdinand Cohn
hingewiesen hat:
— I20 —
„Denn solches Los den Menschen wie den Tieren ward»
Nach deren Urbild ich mir bessres bildete,
Dass eins dem andern, einzeln oder auch geschart,
Sich widersetzt, sich hassend aneinander drängt,
Bis eins dem andern Übermacht betätigte.**
Freilich schrieb Goethe dem Kampf ums Da-
sein nicht jene hohe Bedeutung zu wie später Dar-
win, und als artumbildende Kraft betrachtete er ihn
nicht.
Von ganz andern Gesichtspunkten aus als die
bisher genannten Autoren hat Rudolf Steiner in der
Kürschner sehen Goetheausgabe das Verhältnis
Goethes zu Darwin beleuchtet. Goethe ist ihm ein
Vertreter der Descendenzlehre, aber trotzdem scheinen
ihm seine Wege andre zu sein als die Darwins.
Während die Bestrebungen des englischen Forschers
dahin gingen, die Ursachen der Veränderlichkeit im
einzelnen festzustellen und darzulegen, bestand Goethes
Ziel darin, das Konstante zu suchen, das den ver-
änderlichen Äusserlichkeiten der organischen Wesen
zugrunde liegt. Beide Betrachtungsweisen nennt
Steiner notwendig und einander ergänzend. Aber
man geht seiner Ansicht nach ganz fehl, wenn man
Goethes Grösse in der organischen Wissenschaft darin
zu finden glaubt, dass man in ihm den blossen Vor-
läufer Darwins sieht. Goethes Betrachtungsweise sei
eine viel breitere, indem sie zwei Seiten umfasse,
einmal den Typus, das heisst die sich im Organismus
offenbarende Gesetzlichkeit, und dann die Wechsel-
wirkung des Organismus und der unorganischen
— 121 —
Natur, sowie der Organismen untereinander. Nur
diese zweite Seite der Organik habe Darwin ausge-
bildet Man könne daher nicht sagen, Darwina
Theorie sei die Ausbildung der Grundideen Goethes,
sondern sie sei nur die Ausbildung einer Seite dieser
Ideen, sie blicke nur auf die Tatsachen, die veran-
lassen, dass sich die Welt der Lebewesen in einer
gewissen Weise entwickelt, nicht aber auf jenes Etwas,
auf das jene Tatsachen bestimmend einwirken. Sie
müsse durch die andre Seite der Goethischen Theorie
ergänzt und vertieft werden.
Goethes Typus ist Steiner weder eine reale
Stammform noch ein blosser abstrakter Verstandes-
begriff, sondern vielmehr das, was in jedem Organis-
mus das wahrhaft Organische ist, ohne das der
Organismus nicht Organismus wäre. Dieses, den
Organismus konstituierende Prinzip kann bei stets
aufrecht erhaltner innrer Einheit unter dem Einfiuss
der äussern Verhältnisse die mannigfaltigsten Formen
annehmen. Auf diese legte Darwin das Hauptgewicht,
Goethe auf das ihnen zugrunde liegende Prinzip.
Hiermit hat wohl Steiner richtig einen Punkt
bezeichnet, wo die Wege Goethes und Darwins
wenigstens bis zu einem gewissen Grade auseinander
gehen. Doch hat schon Albert Lange in seiner
Geschichte des Materialismus darauf hingewiesen^
dass Darwin überall da, wo er sich auf die
Mitwirkung innrer Ursachen geführt sieht, diese
Mitwirkung so unbefangen in seine Erklärung
der Naturformen aufnimmt, dass man annehmen
— 122 —
könne, er habe sie als selbstverständlich be-
trachtet.
Weiter verfolgt und auf Grund des von ihm
herausgegebnen neuen Materials der grossen
Weimarer Goetheausgabe vervollständigt hat Steiner
seine Ideen in dem im Goethejahrbuch von 1891
veröffentlichten Aufsatz: „Über den Gewinn unsrer
Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen
Arbeiten durch die Publikationen des Goethearchivs. **
Hier betont er neben dem, was Goethe und Darwin
trennt, auch das, was beide verbindet.
„Jedenfalls steht fest,*' sagt er, „dassdie charakte-
risierte Anschauung Goethes von konstanten Formen
des Organischen nicht sprechen kann, weil das, was
einer Form die Bestimmtheit gibt, nicht aus dem
fliesst, was sie zur organischen Form macht. Nur
derjenige kann eine Konstanz der Form annehmen,
der in dieser Form ein wesentliches sieht.
„Was aber einer Sache nicht wesentlich ist, das
braucht sie auch nicht unbedingt beizubehalten. Und
damit ist die Möglichkeit der Umwandlung be-
stehender Formen abgeleitet. Mehr aber konnte vom
Standpunkte Goethes aus nicht gegeben werden als
eine Ableitung dieser Möglichkeit. Die empirischen
Beobachtungen dazu hat Darwin geliefert. Das ist
ja immer die Beziehung zwischen Theorie und Er-
fahrung, dass die letztere zeigt, was ist und geschieht,
und die erstere die Möglichkeit darlegt, inwiefern
solches sein und geschehen kann.
„Jedenfalls kann auf Grund des im (Joethe-
— 123 —
archiv vorhandnen Materiales an kein andres als
an dieses Verhältnis Goethes zu Darwin gedacht
werden."
- Mit diesen vorsichtigen Ausführungen steht es
nun nicht ganz im Einklang, wenn Steiner etwas
später in demselben Aufsatz sagt: ,, Goethes An-
schauung ist eine Descendenztheorie mit einer tiefen
theoretischen Grundlage/ Und zwar stützt er diese
gewagte Behauptung sogar auf eine Stelle, die sicher
nicht descendenztheoretisch gemeint ist Sie steht
in Goethes „Vorarbeiten zu einer Physiologie der
Pflanzen^ und lautet:
^Bei Betrachtung der Pflanze wird ein lebendiger
Punkt angenommen, der ewig seines gleichen her-
vorbringt.
,,Und zwar tut er es bei den geringsten Pflanzen
durch Wiederholung eben desselbigen.
„Ferner bei den voUkommnem durch progressive
Ausbildung und Umbildung des Grundorgans in
immer voUkommnere und wirksamere Organe, um
zuletzt den höchsten Punkt organischer Tätigkeit
hervorzubringen : Individuen durch Zeugung und Ge-
burt aus dem organischen Ganzen abzusondern und
abzulösen.
„Höchste Ansicht organischer Einheit,"
Steiner glaubt nun, dass in dieser Stelle die
Summe alles organischen Lebens als einheitliche
Totalität und alle Einzelwesen als Glieder dieser
Einheit bezeichnet werden. Wir hätten es hier mit
einer durchgängigen Verwandtschaft aller Lebewesen
— 124 —
im wahrsten Sinne des Wortes zu ton. Und zwar
mit einer tatsächlichen Verwandtschaft, nicht einer
bloss ideellen. Die organischen Arten und Gat*
tungen würden auf eine wahrhafte Descendenz
unter fortwährender Veränderung der Formen zu»
rückgeführt.
Diese Auffassung ist jedenfalls nicht haltbar»
Denn die organische Einheit, von der Goethe in der
erwähnten Stelle spricht, bezieht sich zweifellos auf
die Einzelpflanze und nicht auf die Totalität des
organischen Lebens, wie neuerdings auch Wasielewski
in eingehender Weise gezeigt hat.
Ausser Rudolf Steiner hat sich noch Karl von
Bardeleben an der Herausgabe der morphologischen
Schriften Goethes in der grossen Weimarer Aus-
gabebeteiligt, indem er die vergleichend anatomischen
Arbeiten übernahm. Auf Grund dieser sprach er
sich im Jahre 1891 auf der fünften Versammlung^
der anatomischen Gesellschaft zu München dahin
aus, dass Goethe nicht über einen ideellen, gedachten
oder konstruierten Typus hinausgegangen sei und
dass ihm der Gedanke einer Abstammung des
Menschen von den Tieren, einer wirklichen Bluts-
verwandtschaft unter den Tieren und zwischen Tieren
und Menschen fern gelegen habe. Schon im folgen-
den Jahre aber erklärte er in seinem Aufsatze über
„Goethe als Anatom^ im Goethejahrbuch, dass Goethe,
wenn er auch nirgends die Worte Abstammung und
Blutsverwandtschaft gebrauche, doch stark an eine
innre Verwandtschaft der Formen von der Urpfianze
— 125 —
bis zum Menschen gedacht habe. Jedenfalls sei bei
ihm die Vorstellung einer zusammenhängenden Ent-
wicklungsreihe der Organismen nicht zu verkennen,
die indes nicht wie bei Darwin auf Anpassung an
äussre Einwirkungen und Vererbung, sondern wesent-
lich oder lediglich auf innern Gesetzen beruhe.
So dürfte Goethe wohl der Lamarckschen Descen*
denzlehre näher stehen als dem eigentlichen Darwi-
nismus, wenn man überhaupt die ganz eigenartige
und selbständige Anschauung Goethes mit moder-
nen Theorien vergleichen wolle. Drei Jahre später
bekennt sich Bardeleben in einem gleichfalls ^Goethe
als Anatom** betitelten Aufsatz in „Nord und Sud"
zu der Kalischerschen Ansicht von der doppelten
Bedeutung des Goethischen Wortes Typus und glaubt
gleichzeitig durch erneutes und wiederholtes Studium
nicht nur aller hierher gehöriger Stellen, sondern
auch der ganzen Werke Goethes eine Lösung der
Widersprüche und damit der ganzen Frage gefunden
zu haben. „Goethe/ sagt er, „hat, wie ich zugebe,
in den achtziger und noch in den neunziger Jahren
an eine Descendenz, eine Stammesentwicklung, eine
wirkliche Blutsverwandtschaft gedacht, — er hat
diesen Gedanken dann für etwa ein Menschenalter
aufgegeben oder untersinken lassen, um ihn etwa
Anfang oder Mitte der zwanziger Jahre wieder auf-
zunehmen und bis zu seinem Tode festzuhalten ....
Dass man eine solche Theorie als Jüngling mit
Eifer erfassen, zeitweise aufgeben und als reifer
Mann, auf Grund eigner Forschungen wieder auf-
— 126 —
nehmen kann, ist gewiss nicht nur möglich, es
kommt wirklich vor/
Viel umfassender hat ganz neuerdings Waldemar
V. Wasielewski diese Idee in seiner Schrift über
^Goethe und die Descendenzlehre'^ zu begründen
versucht. Nach seiner Ansicht enthalten die natur-
wissenschaftlichen Schriften Goethes bis zum Jahre
1790 nichts, was an die Descendenzlehre erinnert.
Die erste Andeutung einer solchen findet er in dem
„Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre ^,
der in der Weimarer Ausgabe zum erstenmal gedruckt
wurde und wahrscheinlich in den Anfang der neunziger
Jahre zu datieren ist. Dort schreibt Goethe:
„Und wie würdig ist es der Natur, dass sie sich
immer derselben Mittel bedienen muss, um ein Ge-
schöpf hervorzubringen und zu ernähren! So wird
man auf eben diesen Wegen fortschreiten und, wie
man nur erst die unorganisierten, undeterminierten
Elemente als Vehikel der unorganisierten Wesen
angesehen, so wird man sich nunmehr in der Be».
trachtung erheben und wird die organisierte Welt
wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen
ansehen. Das ganze Pflanzenreich z. B. wird uns
wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches
eben so gut zur bedingten Existenz der Insekten
nötig ist als das Weltmeer und die Flüsse zur be-
dingten Existenz der Fische, und wir werden sehen,
dass eine ungeheure Anzahl lebender Geschöpfe
in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt werde,
ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder
— 127 —
nur als ein grosses Element ansehen, wo ein Ge-
schlecht auf dem andern und durch das andre, wo
nicht entsteht, doch sich erhält.
In den letzten Worten sieht Wasielewski mit
Recht eine, wenn auch bescheidne Ankündigung
der Descendenzlehre. Als eine weitere bezeichnet
er mit geringerm Recht die aus dem Jahre 1796
stammende Stelle der vergleichend anatomischen
Vorträge, wo Goethe von dem gemeinsamen Urbild
der voUkommnern organischen Naturen spricht, das
sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und um-
bildet. In die Zeit von 1796 bis 1820 fällt nur ein
Ausspruch Goethes, der eine Anerkennung der Ab-
stammungslehre enthält, nämlich der im Jahre 1807
niedergeschriebne über die nach zwei entgegenge-
setzten Seiten vor sich gehende Vervollkommnung
der organischen Geschöpfe. Entscheidend für das
stärkere Hervortreten des Descendenzgedankens in
den spätem Lebensjahren Goethes, etwa von 1820
ab, sind Wasielewski die Aufsätze über die Faultiere
und Dickhäutigen, den fossilen Stier und die Skelette
der Nagetiere, ferner die Neubearbeitung der Ge-
schichte des botanischen Studiums und die lebhafte
Anteilnahme Goethes an dem Streit zwischen Cuvier
und GeofFroy de Saint-Hilaire.
Nach unsern bisherigen Ausführungen kann aber
nur ein Teil dieser Dokumente als beweisend aner-
kannt werden. Die Abhandlung über die Skelette
der Nagetiere und den fossilen Stier sind jedenfalls
auszuscheiden. Ob der Aufsatz über den Streit
— 128 —
zwischen Cuvier und GeofFroy de Saint-Hiläire als
ein Bekenntnis zur Descendenztheorie oder nur zu
<ier von GeofFroy vertretnen synthetischen Methode
anzusehen ist, wag ich nicht zu entscheiden. Jeden-
falls wird in ihm von der Abstammungslehre nidit
«direkt gesprochen. Goethe charakterisiert vielmehr
vor allem den Gegensatz zwischen analytischer und
synthetischer Denkweise, wie er sich in Cuvier
und Geoffroy offenbarte. ^Cuvier," sagt er, ,,ar-
beitet unermüdlich als Unterscheidender, das Vor-
liegende genau Beschreibender und gewinnt sich
^ine Herrschaft über eine unermessliche Breite.
Geoffroy de Saint-Hilaire hingegen ist im stillen um
die Analogieen der Geschöpfe und ihre geheimnis-
vollen Verwandtschaften bemüht ; jener geht aus dem
Einzelnen in ein Ganzes, welches zwar vorausgesetzt,
aber als nie erkennbar betrachtet wird ; dieser hegt
das Ganze im innern Sinne und lebt in der Über-
zeugung fort, das Einzelne könne daraus nach und
nach entwickelt werden." Von den wissenschaftlichen
Anschauungen Geöffroys erwähnt Goethe nur die
Lehre von der „unit6 de composition organique"
oder die Theorie der Analogieen und als seinen
Hauptgedanken bezeichnet er die Ansicht „die Or-
ganisation der Tiere sei einem allgemeinen, nur hie
und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung
■derselben abzuleiten sei, unterworfen.* Ebenso rühmt
«r an Buffon, dass er in dem Satz: „Es gibt eine
ursprüngliche und allgemeine Vorzeichnung, die man
sehr weit verfolgen kann," die Grundmaxime der
— 129 —
vergleichenden Naturlehre ein für allemal festgesetzt
habe. Goethe bezieht sich also wesentlich nur auf
die Typusidee , wenn er auch einmal von Geoffroy
sagt, er suche, seiner Denkart gemäss, ins Ganze zu
dringen, aber nicht wie Buffon ins Vorhandne, Be-
stehnede , Ausgebildete , sondern ins Wirkende,
Werdende, sich Entwickelnde. Dass Goethe jeden-
falls nicht das Hauptgewicht auf die von Geoffroy
de Saint-Hilaire vertretne Entwicklungslehre legte,
sondern auf dessen synthetische Naturbetrachtung
und organische Einheitsvorstellung, das ergibt sich
auch deutlich aus den berühmten Worten, mit denen
er Soret gegenüber die Vorgänge in Frankreich be-
sprach.
„Von nun an," rief er aus, „wird auch in Frankreich'
bei der Naturforschung der Geist herrschen und über
die Materie Herr sein. Man wird Blicke in grosse
Schöpfungsmaximen tun, in die geheimnisvolle Werk-
statt Gottes. Was ist auch im Grunde aller Ver-
kehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem
Wege bloss mit einzelnen materiellen Teilen uns zu
schaffen machen, und wir nicht das Atmen des Geistes
empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt
und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Ge-
setz bändigt oder sanktioniert!
„Ich habe mich seit fünfzig Jahren in dieser
grossen Angelegenheit abgemüht; anfanglich einsam,
dann unterstützt, und zuletzt zu meiner grossen Freude
überragt durch verwandte Geister Jetzt ist
nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf
9
— I30 —
unsrer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden
Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis
ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich
juble mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen
Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet
habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.'^
So konnte Goethe wohl in bezug auf seine
Typuslehre, nicht aber in bezug auf die Descendenz-
theorie sprechen. Man darf daher seiner Begeisterung
für Geoffroy kein so grosses Gewicht beilegen, wie
es viele getan haben. Berücksichtigt man ferner
die ebenfalls den spätem Jahren angehörenden Zu-
stimmungen Goethes zu antidescendenztheoretischen
Äusserungen, so wird man nur sehr bedingt der
Ansicht beitreten können, Goethe habe im Alter
die Descendenzvorstellung weit entschiedner ver-
treten als früher. £s lassen sich von 1790 bis 1831
vereinzelte Aussprüche Goethes zugunsten der Ab-
stammungslehre nachweisen, und das sehr weitgehende
Bekenntnis von 1807 widerlegt auch die Ansicht
Bardelebens, dass Goethe die Idee von den neunziger
Jahren an bis etwa 1820 gänzlich fallen gelassen
habe. Die ganz gelegentliche Äusserung jener Aus-
sprüche und die ihnen widersprechenden Stellen be-
weisen aber, dass Goethe auf die ganze Frage kein
grosses Gewicht legte. Ihm war die Entstehung der
Tier- und Pflanzenarten wohl wesentlich ein noch
ungelöstes Problem. Dafür spricht auch seine im
Jahre 1828 mit dem Münchner Naturforscher v.
Martins geführte Unterhaltung, die uns Eckermann
— 131 —
überliefert hat. Als Martius die Abstammung aller
Menschen von einem erstgeschaffnen Paare behauptete,
erwiderte Goethe, dass es weit mehr im Sinne der
sich überall verschwenderisch erweisenden Natur sei,
anzunehmen, sie habe die Menschen gleich zu
Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen,
überall wo der Boden es zuliess und vielleicht auf
den Höhen zuerst. Anzunehmen, dass dies geschehen,
halt er für vernünftig, allein darüber nachzusinnen,
wie es geschehen, dünke ihm ein unnützes Geschäft,
das wir denen überlassen sollten, die sich gern mit
unauflösbaren Problemen beschäftigen und die nichts
Bessres zu tun haben.
Mit Recht hat David Friedrich Strauss bemerkt,
dass der Schleier, den Goethe hier über dem Vor-
gang der Menschwerdung liegen lässt, nur der Rest
von Unbestimmtheit sei, der in seiner ganzen Vor-
stellung von diesen Verhältnissen geblieben ist. „Es
wird nirgends recht klar," meint der grosse Theolog,
„wie sich Goethe die umwandelnde und aufsteigende
Entwicklung der Naturwesen gedacht hat : ob so, dass
die einzelnen Tierarten selbst sich allmählich um-
geformt, aus Wasser- zu Sumpf- und endlich
Landtieren sich gestaltet haben, oder ob nur die
Natur sich erst in diesen, dann in jenen Gestaltungen
versucht, jede derselben aber aus freier Hand, nicht
aus den vorhergehenden heraus gebildet habe."
Mit einem Wort: Goethe war wohl, wie von dem
Flusse aller Dinge, so auch von dem Flusse der Arten,
nicht aber mit gleicher Sicherheit und Entschiedenheit
9*
— 132 —
von ihrem kontinuierlichen Zusammenhang, von ihrer
Blutsverwandtschaft überzeugt. Wir dürfen ihn daher
wohl, und besonders auch mit Rücksicht auf seine
allgemeine naturwissenschaftliche Methodik, als einen
Geistesverwandten und in einem gewissen umfassendem
Sinn des Wortes auch als einen Vorläufer Darwins,
nicht aber als einen Begründer der Descendenztheorie
bezeichnen.
Wie in den grossen Fragen der Naturanschau-
ung, so lassen sich auch in manchen kleinen Einzel-
zügen Berührungspunkte zwischen Goethe und Darwin
nachweisen. Goethe war einer der ersten, der eine
insektenfressende Pflanze beobachtete, denselben
Sonnentau, durch den später Darwin zu seinetx um-
fassenden Untersuchungen über diese seltsamen
Pflanzen angeregt wurde. Auf einer Reise nach
Karlsbad war es, als Goethe auf einem Torfmoor des
Fichtelgebirges zwischen Ochsenkopf und Schneeberg
den Sonnentau fand und kleine Insekten an den
Blättern haftend bemerkte. Drei Jahre vorher hatte
ein Bremer Arzt, Dr. Roth, die durch Insekten ver-
anlassten Reizbewegungen der Tentakeln auf den
Sonnentaublättern festgestellt, aber erst ein Jahr-
hundert später zeigte Darwin, dass diese Bewegungen
dem Fangen imd Verzehren von Insekten dienen.
Und während Goethe hier gleichsam ahnungslos
ein neues Gebiet der botanischen Wissenschaft be-
rührte, weisen seine Spekulationen über die Spiral-
tendenz der Vegetation schon mit vollem Bewusstsein
auf Phänomene hin, deren Bedeutsamkeit ebenfalls
— 133 —
später Darwin enthüllen sollte. Eine Ahnung der
durch Darwin nachgewiesnen Schraubenbewegung
oder Circumnutation aller wachsenden Pflanzenteile
scheint in den Ideen zu liegen, die Goethe über
die Spiraltendenz bei Oscillarien und Spiralgefassen,
bei den Blattkronen des Pandanus, den Blütenstielen
der Vallianeria, den Knospen der Farrne, den Gran-
nen des Reiherschnabels und andern Pflanzenteilen
entwickelte. Und in diesem Zusammentreffen der
beiden Forscher auf schmalen und abseits gelegnen
Pfaden der Forschung darf man wieder einen Aus-
druck der Tatsache erblicken, dass ihnen jede Er-
scheinung der Natur, sie mochte so klein und nichts-
sagend aussehen wie sie wollte, der Betrachtung und
des Studiums würdig erschien.
Aber die Geistesverwandtschaft Goethes und
Darwins lässt sich noch weiter verfolgen. Sie liegt
nicht nur auf dem Gebiet der wissenschaftlichen
Naturforschung, sondern offenbart sich auch im ge-
mütlichen Verhältnis beider Männer zur Natur und
ihrer Wissenschaft. Für Goethe wie für Darwin war
die Beschäftigung mit der Natur nicht nur Sache
des Verstandes, sondern zugleich innerstes Bedürfnis
des Herzens und Gemütes. Beide fanden in der
Beschäftigung mit der Natur denselben Trost, die-
selbe Erhebung, dasselbe freudige Glücksgefühl, das
andre in der Religion finden. Goethes tiefer Natursinn
hat fast einen religiösen Charakter. Schon der
pantheistische Naturgottesdienst des siebenjährigen
Knabea zeugt dafür. Aus Steinen und Mu&chehi
— 134 —
errichtete er dem grossen Gotte der Natur auf dem
schönen rotlackierten Musikpult seines Vaters einen
Altar und Hess auf seiner Spitze ein Räucherkerzchen
mit Hülfe eines Brennglases durch die Strahlen der
aufgehenden Sonne entzünden. Wenn irgendwo, so
lag hier ein tiefer Sinn im kindschen Spiel!
Und dasselbe Naturgefühl, das den Knaben zu
diesen pantheistischen Andachtsübungen veranlasste,
begeisterte später den Jüngling und Mann zu jenen
unvergleichlichen Schöpfungen der Lyrik, die wir nie
lesen können, ohne tief von der Herrlichkeit der
Schöpfung durchdrungen zu werden. Alle Empfin-
dungen, die die Natur in dem Herzen eines empfäng-
lichen Menschen anzuregen vermag, sind in dieser
Lyrik zum Ausdruck gebracht. Wenn es wahr ist,
was Goethe von der Natur sagt, dass sie keine
Sprache noch Rede habe, wohl aber Zungen und
Herzen schaffe, durch die sie fühlt und spricht, so
war er eine solche Zunge, so war er ein solches
Herz. Welche Wonne, welche jubelnde Seligkeit des
Herzens spricht nicht aus den Worten seines Mai-
liedes:
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur !
Wie glänzt die Sonne !
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig,
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch,
— 135 —
Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd, o Sonne,
O Glück, o Lust I
Und welch hohe Naturfreudigkeit muss Goethe
beseelt haben , als er auf dem Züricher See die
Worte schrieb:
Und frische Nahrung, neues Blut
Saug ich aas freier Welt.
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält.
Das Sicheinsfühlen mit der Natur, die Harmonie
zwischen Innerm und Äusserm , die Goethes Wesen
so herrlich charakterisiert, ist in diesen Worten zu
vollendetem Ausdruck gebracht. Und dasselbe Ge-
fühl, das hier in hellem Jubelton hinausgerufen wird
in die Welt, spricht aus den ernsten Betrachtungen,
die Fausts Seele durchziehen , als er in Wald und
Höhle Ruhe sucht für sein stürmisch bewegtes
Herz:
Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu gemessen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur.
Vergönnest mir in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
- 136 -
Und "Wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stärzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,
Dann fuhrst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf,
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.
Die Natur in all ihren Erscheinungen hat den
Dichter begeistert zu poetischem Schaffen. So ist
das Wasser in seinen verschiednen Formen Gegen-
stand vieler seiner Dichtungen. Im ,Fischer* ist es
die magische Gewalt der Himmel und Gestirne
spiegelnden Wasserfläche, im ,Gesang der Geister
über den Wassern' der donnernd dahintosende Ge-
birgsbach, in ,Mahomets Gesang' der Lebenslauf des
Stromes vom Quell bis zur Mündung. Und von der
Erde hebt der Dichter den Blick zum Himmel und
besingt der Wolken Spiel, der Gestirne Pracht. Er
verlässt sein einsames Gartenhaus im Weimarer Park
und wandert über die Wiese zu dem jenseits der
Um gelegnen Borkenhäuschen. Er taucht sich in
die Sonne, badet sich im Mond:
Und ich geh meinen alten Gang
Meine liebe Wiese lang.
Tauche mich in die Sonne früh,
Bad ab im Mond de& Tages Müh.
— 137 —
Dann wieder weilt er auf den Schlössern der
liebUchen Domburg bei Jena und überschaut von
dem hohen steilen Muschelkalkfelsen aus das weite
Himmelsgewölbe. Dem aufgehenden Vollmond sendet
er seinen Gruss:
Willst du mich sogleich verlassen ?
Warst im Augenblick so nah !
Dich umfinstern Wolkenmassen,
Und nun bist du gar nicht da !
Doch du fühlst, wie ich betrübt bin,
Blickt dein Rand herauf als Stern !
Zeugest mir, dass ich geliebt bin,
Sei das Liebchen noch so fern.
So hinan denn ! hell und heller,
Reiner Bahn in voller Pracht !
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
Uberselig ist die Nacht.
Und die Grösse und Schönheit der Natur sind
dem Dichter eine Gewähr für die Grösse und Schön-
heit des menschlichen Wesens:
Und wenn mich am Tag die Ferne
Blauer Berge sehnlich zieht,
Nachts das Ubermass der Sterne
Prächtig mir zu Häupten glüht,
Alle Tag und alle Nächte
Rühm ich so des Menschen Los,
Denkt er ewig sich ins Rechte
Ist er ewig schön und gross.
£s wäre eine lohnende Aufgabe, die Entwick-
lung des Goethischen Naturgefühls durch die Reihe
- 138 -
seiner lyrischen Dichtungen zu verfolgen. Aber auch
seine meisterhafte Prosa weiss dem Ausdruck dieses
Gefühls gerecht zu werden. Seine Briefe an Frau
von Stein enthalten zahllose Ergüsse höchster Natur-
begeisterung. „Es ist ein erhabnes, wundervolles
Schauspiel,* schreibt er der Freundin 1782 aus Mei-
ningen, ^wenn ich nun über Berge und Felder reite,
da mir die Entstehung und Bildung der Oberfläche
unsrer Erde und die Nahrung, welche Menschen
draus ziehen, zu gleicher Zeit deutlich und anschau-
lich wird. Erlaube, wenn ich zurück komme, dass
ich Dich nach meiner Art auf den Gipfel des Felsens
führe und Dir die Reiche der Welt und ihre Herrlich-
keit zeige.* Und in einem Briefe aus Italien finden
wir die wundervolle Stelle: „Ich kehre noch einmal
ans Meer zurück ! Dort hab ich heut die Wirtschaft
der Seeschnecken, Patellen, der Taschenkrebse ge-
sehen und mich herzlich darüber gefreut. Was ist
doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding.
Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr!
wie seyend! Und wie viel hilft mir mein bisschen
Studium, und wie freu ich mich es fortzusetzen.*
Vor allem aber ist hier jenes gewaltigen Dithy-
rambus an die Natur zu gedenken, den Goethe in
seinem 37. Lebensjahre niederschrieb. In ihm ver-
eint sich die poetische Kraft und der dichterische
Schwung der alten jüdischen Propheten mit der ge-
sunden Naturverehrung der alten Hellenen und dem
tiefen Ideengehalt modern naturwissenschaftlicher
Erkenntnis. Wenn man mich fragen würde, in welcher
— 139 —
von Goethes Dichtungen sein ganzes Wesen am
konzentriertesten sich ausprägt, wo die dichterische
Kraft seiner Phantasie und die Meisterschaft seines
Prosastils, wo der Ideengehalt seiner Wissenschaft
und die Humanität seiner Weltanschauung am voll-
endetsten sich offenbaren, so würd ich ohne Be-
denken jene köstliche Gabe Goethes nennen, die den
bescheidnen Titel trägt: „Die Natur." In Thesen
und Antithesen schreitet dieses Hohelied des Panthe-
isten vorwärts. Eine innige Versenkung in das Wesen
der Natur spricht aus jeder Zeile. Ganz gibt sich
Goethe der Natur hin, ganz überlässt er sich ihr.
„Sie hat mich hineingestellt/ sagt er, „sie wird
mich auch hinausführen. Ich vertraue mich ihr.
Sie mag mit mir schalten, sie wird ihr Werk nicht
hassen. Ich sprach nicht von ihr, nein, was wahr
ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen, alles
ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst."
Ein so überschwengliches dichterisches Natur-
gefühl, wie wir es hier bei Goethe finden, ist nicht
immer verbunden mit gleichem Verständnis und
gleicher Liebe für wissenschaftliche Naturbetrachtung.
Bei Goethe aber standen beide Seiten in schönster
Harmonie. Wie er der Natur als solcher Hymnen
sang, so hat er auch ihre Wissenschaft gar vielfach
gepriesen und verherrlicht. Zahllos sind seine Aus-
sprüche über den ethischen Gehalt der Naturwissen-
schaft, zahllos seine Hinweise auf ihre allgemeine
kulturelle Bedeutung. „Plato will keinen Nicht-
ma thematiker in seiner Schule leiden, wäre ich im-
— 140 —
Stande, eine zu machen, ich litte keinen, der sich
nicht irgend ein Naturstudium ernst und eigentlich
gewählt." So schreibt Goethe während seines zweiten
römischen Aufenthalts und spricht damit die Über-
zeugung aus, wie unerlässlich ihm Naturkennnis für
allgemeine Menschenbildung erscheint. Im Studium
der Natur sieht er das beste Heilmittel gegen die
Krankheit der Dialektik und ist gewiss, dass mancher
dialektisch Kranke in ihm eine wohltätige Heilung
finden könne. Für seinen Freund Knebel erhofft
er grossen Nutzen von der Beschäftigung mit der
Naturwissenschaft. „Denn diese Wissenschaft." schreibt
er mit Bezug auf Knebels Naturstudien an Karl
August, „ist sicher, wahr, mannigfaltig, lebendig;
man mag viel oder wenig in ihr tun, sich an einen
Teil halten oder aufs Ganze ausgehen, leicht oder
tief, zum Scherz oder Ernst sie treiben, immer ist
sie befriedigend und bleibt doch immer unendlich.
Der Beobachter und Denker, der Ruhige und Strebende,
jeder findet seine Nahrung.* Goethe hatte an sich
selbst diese Wirkung des Naturstudiums gar vielfach
erfahren, und wie an einem Balken im Schiffbruch
hielt er sich in schweren Zeiten an diesem Studium
fest. In allen Lebenslagen war es seine Freude, seine
Erholung, sein Trost.
„Wie viel Freude macht mir mit jedem Tage
mein bisschen Wissen der natürlichen Dinge, und wie-
viel mehr müsste ich wissen, wenn meine Freude
vollkommen sein sollte." So schrieb er 1787 aus
Italien. Und vierundvlerzig Jahre später äusserte er zu
— 141 —
Eckermann: „Es geht doch nichts über die Freude,
die uns das Studium der Natur gewährt. Ihre Ge-
heimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe, aber
es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer
weitre Blicke hineinzutun. Und grade , dass sie
am Ende doch unergründlich bleibt, hat für uns
einen ewigen Reiz, immer wieder neue Einblicke und
neue Entdeckungen zu versuchen."
Goethe wurde nicht müde, diese Überzeugung
von der ethisch fördernden, beglückenden Wirkung
des Naturstudiums, die ihn selbst erfüllte, auch in
andern zu wecken. „Sie müssen noch eine Erdfreundin
werden,^ ruft er Frau von Stein zu, und an Knebel
wendet er sich mit der Mahnung : „Wie es vor alten
Zeiten, da die Menschen an der Erde lagen, eine
Wohltat war, ihnen auf den Himmel zu deuten und
sie aufs Geistige aufmerksam zu machen, so ists jetzt
eine grössre, sie nach der Erde zurückzuführen,
um die Elastizität ihres an gefesselten Ballons ein
wenig zu vermindern.** Auch war sein Streben nicht
erfolglos, und selbst Personen, die anfangs nicht
geneigt waren, ihm auf seinen Wegen zu folgen, ja
die mit einem gewissen spöttischen Lächeln auf diese
Strebungen des Dichters geblickt hatten, wurden
gewonnen.
„Goethe,** schrieb Frau von Stein im Jahre 1784
an Knebel, „grübelt jetzt gar denkreich in diesen
Dingen, und jedes, was erst durch seine Vorstellungen
gegangen ist, wird äusserst interessant. So sind
mirs durch ihn die gehässigen Knochen geworden
— 142 —
und das öde Steinreich.** Man wird durch diese
Worte an einen Ausspruch in Goethes geolo-
gischen Aphorismen erinnert. „Die Knochen-
lehre," schreibt er dort, „hat für den bloss sinnlichen
Menschen etwas Widerliches; dem der sich zur
Kenntnis der organischen Natur erheben will, ist sie
unentbehrlich, nach vollendeter Einsicht höchst er-
freulich und unschätzbar. So scheinen auch die
nackten Gebirge, Steinritzen und Brüche dem natür-
lichen Auge etwas Unerfreuliches zu haben ; dem
Auge dess, der Kenntnis besitzt, offenbaren sie das
Innere, ja das Äussere, die letzte nützliche und an-
genehme Umgebung wird dadurch bequemer und
gründlicher erkannt.*
Wie tief der Einfluss Goethes auf die Erweckung
des Naturinteresses in andern war, das beweist vor
allem das Beispiel Karl Augusts. Er, dessen Organe,
nach Goethes eignem Ausspruch, am wenigsten vor-
bereitet waren, das Wehen des Geistes der Natur-
lehre zu vernehmen, fand plötzlich goldne Worte
der Verherrlichung dieses Geistes. In einem Briefe
an Knebel nennt er die Naturwissenschaft so menschlich,
so wahr, dass er jedem Glück wünsche, der sich ihr
auch nur etwas ergebe. Er hofft von ihr, dass sie
endlich die armen unwissenden Menschen von dem
Durst nach dem dunkeln Ausserordentlichen heilt,
dass sie ihnen zeigt, wie das Ausserordentliche ihnen
so nahe, so deutlich, so unausserordentlich, so be-
stimmt wahr ist. Täglich bitte er seinen guten
Genius, ihn von aller andern Art von Bemerken
— 143 —
und Lernen abzuhalten und ihn immer auf dem
ruhigen bestimmten Wege zu leiten, den uns der
Naturforscher so natürlich vorschreibt. Und später
hat er in einem Gespräche mit dem Hofprediger
Röhr ganz im Goethischen Sinn den ethischen Ge-
halt des Naturstudiums gepriesen. Als Röhr sich
über die reichen botanischen Kenntnisse des Fürsten
wunderte, da erwiderte ihm Karl August: „Ich will
Ihnen sagen, mein lieber Röhr, wie ich dazu kam.
Als im Jahre 1806 das grosse Unheil über unser
Vaterland kam und ich ringsum so viel Untreue,
Verrat und Betrug sah, da bin ich an der Mensch-
heit verzweifelt. Und in meiner Verzweiflung hat
mich allein die alte Liebe zur Natur aufrecht er-
halten. Und da mich die Menschen anekelten, bin
ich zu den Pflanzen gegangen und habe sie studiert
und habe mit den Blumen verkehrt, und die Blumen
haben mich nie betrogen."
Dasselbe Herzens Verhältnis zur Natur und ihrer
Wissenschaft wie bei Goethe finden wir bei Darwin.
Er hat zwar nicht in gebundner Rede seinem Natur-
enthusiasmus Ausdruck verliehen , aber in seiner
Reisebeschreibung und seinen Reisebriefen lebt
Goethisches Naturgefühl. Als er zum ersten Mal
die langersehnte Schönheit des brasilianischen Tropen-
waldes genossen hatte, da schrieb er in sein Tage-
buch :
„Dieser Tag war ein Freuden tag für mich. Denn
Freude muss ein Naturforscher empfinden, der zum
ersten Mal in einem brasilianischen Walde umher-
— 144 —
gewandert ist. Unter der Menge auffallender Gegen-
stände trägt die ungemeine Üppigkeit der Vegetation
den Sieg davon. Die Zierlichkeit der Gräser, die
Neuheit der Schmarotzerpflanzen, die Schönheit der
Blumen, das dunkle Grün des Laubwerks wirken alle
hierbei mit. . . . Dem, der an Naturgeschichte Ge-
fallen hat, gewährt ein solcher Tag mehr Vergnügen,
als er je wieder zu geniessen hoffen darf.**
Und kurze Zeit später berichtet er aus Rio de
Janeiro an seinen Vetter :
„Meine Seele ist, seitdem ich England verlassen
habe, in einem wahren Sturmwind von Entzücken und
Erstaunen gewesen . . . Wenn wir auf dem Meere sind,
ist mein Leben so ruhig, dass für jemand, der sich zu
beschäftigen weiss, nichts angenehmer sein kann;
die Schönheit des Himmels und das Glänzen des
Ozeans machen an sich schon ein Gemälde. Wenn
ich aber auf dem Lande bin und in den erhabnen
Wäldern herumwandre, von Ansichten umgeben,
prachtvoller, als sie sich selbst Claude jemals vor-
stellt, dann empfinde ich ein Entzücken, das niemand
verstehen kann als die, die es selbst erfahren haben. ^
Nach fast fünfjähriger Weltfahrt, auf der die
mannigfachsten Eindrücke auf ihn eingewirkt hatten,
sah Darwin die brasilianischen Wälder wieder, und
freudig bemerkte er, dass sein Entzücken an der
Szenerie des Tropenwaldes noch ebenso lebhaft war,
wie beim ersten Anblick. „Wenn ich ruhig auf den
schattigen Pfaden dahinging,* schrieb er jetzt, „und
jede neue Aussicht bewunderte, dann wünschte ich
— 145 —
Worte finden zu können, um meine Gedanken zum
Ausdruck zu bringen. Ein Beiwort nach dem andern
wurde zu schwach befunden, um das meinen Geist
durchdringende Gefühl von Lust denen mitzuteilen,
die nicht selbst tropische Länder besucht haben. ^
Er bestrebte sich, den Eindruck der Schönheiten
des Tropenwaldes in seinen Geist für immer auf-
zunehmen, obgleich er sich bewusst war, dass er
früher oder später erblassen müsse. „Die Gestalten
des Orangenbaumes, der Kokospalme, des Mango,
der Baumfarrne, der Bananen werden klar und ge«
sondert bleiben; aber die tausend Schönheiten, die
alle diese zu einer vollständigen Landschaft ver-
einigen, müssen verschwinden. Und doch werden
sie wie ein in der Kindheit gehörtes Märchen ein
Gemälde voll von unbestimmten, aber reizenden Ge-
stalten zurücklassen.^
Und dieselbe Weihestimmung wie in den
brasilianischen Wäldern überkam Darwin, als er von
der Höhe der Andenkette aus seinen Blick in die
Ferne schweifen Hess. Die Worte, in denen er dieser
Stimmung Ausdruck verleiht, gehören zu den schönsten
des ganzen Reisebuchs:
„Als wir den Kamm erreichten und rückwärts
sahen, bot sich uns ein prachtvoller Anblick dar.
Die Atmosphäre war glänzend klar, der Himmel
intensiv blau, die tiefen Täler, die wilden, zer-
klüfteten Formen, die Haufen von Ruinen, die sich
während des Verlaufs der Jahrhunderte angesammelt
hatten, die hellgefarbten Felsen, die scharf gegen
10
— 146 —
die ruhigen Schneeberge abstachen -^ alles dies zu-
sammen rief eine Szene hervor, die sich niemand
hätte vorstellen können. Weder Pflanzen noch
Vögel, mit Ausnahme weniger Kondors, die um die
hohem Zinnen schwebten, zogen meine Aufmerk-
samkeit von der unbelebten Masse ab. Ich war
froh, dass ich allein war, denn eine Stimmung
überkam mich, wie beim Anblick eines Gewitters
oder bei einem Ghor des Messias mit vollem Or-
chester."
Aber nicht nur das Grosse und Gewaltige in
der Natur sprach zu Darwins Herzen. Die geringste
Blume riss ihn zur Bewundrung hin. „Ich hörte
ihn sehr gern die Schönheit einer Blume bewundern,^
schreibt sein Sohn, „es war eine Art von Dankbar-
keit gegen die Blume selbst und eine persönliche
Liebe zu ihrer zarten Form und Farbe. Mir ist es,
als erinnerte ich mich, wie er eine Blume, an der
er sich entzückte, sanft berührte; es war dieselbe
einfache Bewundrung , wie sie ein Kind haben
mochte." Grosse Freude machte ihm die Masse
von Azaleen, die meist in seinem Wohnzimmer stand.
Zuweilen vermischte sich bei ihm die Bewundrung
der Struktur einer Blüte mit der ihrer Schönheit,
z. B. bei den hängenden Blüten der Diclytra. Mit
welcher Liebe er den Orchideen zugetan war, be-
weist sein glänzendes Werk über diese Pflanzen-
familie. Einer seiner Lieblingsplätze in der Nähe
von Down war die Orchisbank, wo die Fliegen- und
Moschusorchis unter dem Wachholdergebüsch, die
— 147 —
Cephalanthera und das Vogelnest unter deti Buchen^
zweigen wuchsen. Grosse Zuneigung empfand er
auch, sowohl vom künstlerischen als vom botanischen*
Standpunkt aus, zu der kleinen blauen Lobeltav
Bei seinen Blumenbetrachtungen lachte er häufig
über die schmutzigen Farben der Kunst und hielt
ihnen die glänzenden Farben der Natur entgegen.
Auch in direkten Selbstzeugnissen hat Darwin
gleich Goethe seiner Liebe zur Natur und ihrer
Wissenschaft Ausdruck verliehen. In seiner Auto-
biographie nennt er beständige und heisse Liebe
zur Naturwissenschaft den wichtigsten Faktor seines
Erfolgs. Und als er die Motive erörterte, die ihn
veranlassten, eine grosse Geldsumme zur Neuheraus-
gabe von Steudels Nomenciator botanicus zu spenden,
da verweilte er besonders bei der Tatsache, dass er
den naturhistorischen Wissenschaften so viel Glück
und Ruhm verdanke und dass sie sein Trost ge-
wesen seien in einem, wie man wohl sagen dürfe,
schmerzenvollen Dasein. Und wie Goethe, so hat
auch er es verstanden, diese Begeisterung für die
Naturwissenschaft auf andre zu übertragen. Das be-
weisen die Tausende, die in aller Herren Länder
sich seine Schüler nennen und auf den Wegen
wandeln, die er der Forschung gewiesen hat. Kaum
ein andrer Forscher, der nicht zugleich akademischer
Lehrer war, hat eine solch begeisterte Gemeinde
um sich versammelt wie Darwin. Das verdankt
er nicht allein dem tatsächlichen Inhalt seiner
Forschungen und Werke, das verdankt er vor allem
10*
— 148 —
dem wunderbaren Zauber seiner Persönlichkeit, der
aus allen seinen Werken hervorleuchtet, dem be-
lebenden Hauch seiner grossen begeisterten Seele,
der alle seine Arbeiten durchweht. Es ist der-
selbe Geist tiefer Naturreligion , der auch in
Goethes naturwissenschaftlichen Werken waltet, der
Geist, dem Goethe Ausdruck verliehen hat in den
Worten:
Wesn ich bedenk, wie manches Jahr
Sich schon mein Sinn erschliesset.
Wie er, wo dürre Haide war,
Nun Freuden quell geniesset.
Da abnd ich ganz Natur nach dir.
Dich frei und lieb zu fühlen.
Ein lustger Springbrunn wirst du mir
Aus tausend Röhren spülen;
Wirst alle meine Kräfte mir
In meinem Sinn erheitern
Und dieses enge Dasein hier
Zur Ewigkeit er weitem.
HUMBOLDT UND DARWIN
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Der Tod als Herkules nimmt dem Arlas Humboldt den Kosmos ab
ENN wir die Entwicklung der Natur-
wissenschaften im neunzehnten Jahrhun-
dert überschauen, so tritt uns eine solche
Mannigfaltigkeit der Strömungen uud Richtungen
entgegen, dass es gewagt erscheint, einzelne Per-
sönlichkeiten als Marksteine dieser Entwicklung zu
bezeichnen. Und doch heben sich aus der Masse der
Naturforscher des verflossnen Säkulums zwei heraus^
die in höherm Grade als alle übrigen typische Ver-
treter des naturwissenschaftlichen Geistes jener Periode
genannt werden dürfen: Alexander v. Humboldt und
Charles Darwin. In Humboldt verkörpert sich der
naturwissenschaftliche Charakter der ersten, in Darwin
das naturwissenschaftliche Denken der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts. Mit vollem Recht
spricht man von einem Zeitalter Humboldts, von
einem Zeitalter Darwins.
Zu den grössten Verdiensten des zuletzt ge-
nannten Forschers gehört es, die ungeheure Trag-
weite der Vererbung in das richtige Licht gestellt
zu haben. Im Geiste unsres darwinistischen Zeit-
alters liegt es daher, bei biographischen Betrach-
— 152 —
tungen in erster Linie die Frage zu erörtern, wieviel
von den geistigen Qualitäten der zu charakterisieren-
den Persönlichkeiten auf Rechnung der Vererbung
zu setzen ist. Vergleichen wir in dieser Hinsicht
Humboldt und Darwin, so ist ein ausgesprochner
Gegensatz zwischen beiden unverkennbar. Humboldt
hat von seinen Vorfahren, die grösstenteils dem
Juristen- und Militärstande angehörten, wenig oder
nichts, Darwin sehr viel geerbt. Schon von seinem
Urgrossvater wird erzählt, dass er eine gewisse Nei-
gung für die Naturwissenschaften hatte, und von seinem
Grossonkel, dass er die Botanik pflegte und als be-
jahrter Mann ein botanisches Werk veröfTentlichte, das
viele merkwürdige Notizen über Biologie enthielt. Vor
allem aber war Darwins Grossvater Erasmus, der
Arzt, Dichter und Philosoph, ein Geistesverwandter
seines grossen Enkels. Von ihm erbte Darwin jene
„Lebendigkeit der Einbildungskraft^, die seine „über-
wältigende Neigung zum Theoretisieren und Verall-
gemeinern*^ zur Folge hatte, von ihm erbte er auch
die spezielle Richtung seiner Neigungen und Ge-
•danken. In Erasmus Darwins Werken finden sich
bereits die Keime aller jener Lehren, die seinem
Enkel zu unsterblichem Ruhme verhelfen sollten.
Andre Züge seines Charakters, vor allem die
unbestechliche Wahrheitsliebe und wunderbare Be-
obachtungsgabe hat Darwin von seinem Vater geerbt.
Auch dessen erzieherischer Einfiuss auf den Sohn
muss weit grösser gewesen sein als der von Hum-
boldts Vater, wenn man das lebhafte Gefühl grenzen-
— 153 —
loser Liebe und Verehrung bedenkt, das aus allen
Äusserungen Darwins über seinen Vater spricht,
während wir von Humboldt derartige Zeugnisse nicht
besitzen. Von seiner ihm früh entrissnen Mutter
erinnert Darwin sich dagegen nur noch weniger imd
rein äusserlicher Züge : ihr Sterbelager, ihr schwarzes
Sammtkleid und ihr eigentümlich gebauter Arbeits-
tisch ist alles, was von ihr in seinem Gedächtnis
haften geblieben ist. Doch scheint mir aus einer
Äusserung eines Schulkameraden Darwins hervorzu-
gehen, dass Mrs. Susannah Darwin die seelische Ent-
wicklung ihres Kindes verständnisvoller zu leiten
wusste, als Frau v. Humboldt, und dass sie seine
Liebe für Blumen schon frühzeitig weckte. Humboldt
verlor seine Mutter zwar erst in seinem dreissigsten
Lebensjahr, aber der Tod der schwerkranken und
in den Vorurteilen ihres Standes befangnen Frau
war für ihn mehr eine Erlösung aus beengenden
Banden als ein tragisches Ereignis. Im allgemeinen
machen wohl beide Forscher eine Ausnahme von
der von Michelet aufgestellten Regel, dass die be-
deutenden Männer die Söhne ihrer Mütter sind, das
Gepräge des geistigen Seins ihrer Mütter aii sich
tragen.
Ebensowenig können Humboldt und Darwin für
die vielfach verbreitete, aber bereits von Goethe
bekämpfte Meinung in Anspruch genommen werden,
dass die grössten Genien der Wissenschaft aus
kümmerlichen Existenzbedingungen hervorzugehen
pflegten. Die Eltern beider Forscher waren be-
— 154 —
güterte Gründbesitzer, und die Freiheit von allen
Sorgen des Lebensunterhalts hat nicht hemmend,
sondern eher fördernd auf ihre geistige Entwicklung
eingewirkt. Sie konnten sich ihren wissenschaftlichen
Neigungen frei und ungehindert überlassen und im
spätem Leben ihre ganze Kraft auf die Tätigkeit
konzentrieren, die ihrer innersten Natur am meisten
entsprach und in der sie deshalb das Höchste zu
leisten vermochten.
Schon in früher Jugend zeigen sich bei beiden
unverkennbare Spuren eines ihnen eingebornen
Forschertriebes. Der neunjährige Knabe Darwin
sammelt bereits alle möglichen Sachen, Muscheln,
Siegel, Münzen, Autographen und Mineralien und
versucht die Namen der heimischen Pflanzen aufzu-
finden. Er bringt eine Blume mit in die Schule
und erzählt seinen Mitschülern, seine Mutter habe
ihn gelehrt, dass durch Hineinsehen in das Innere
der Blüte der Name der Pflanze gefunden werden
könne. Ja sogar für die Variabilität der Pflanzen
interessiert er sich bereits in dieser frühen Zeit, und
er schwindelt einem andern Jungen vor, er könne
verschieden gefärbte Polyänthus und Primeln dadurch
erzeugen, dass er sie mit verschieden gefärbten
Flüssigkeiten begösse. Auch das Leben der Insekten
beobachtet er mit einer gewissen Sorgfalt, und als
er zehn Jahre alt an die Küste von Wales reist, ist
er sehr überrascht über eine grosse Wanze, viele
Nachtfalter und einen Sandkäfer, die in seiner Heimat
nicht Vorkommen. Nicht minder erfreut ihn das
— 155 —
Angeln, und in der letzten Zeit seines Schallebens
ergreift ihn eine leidenschaftliche Liebe zur Jagd.
Daneben liest er mit Eifer geographische Bücher,
die seine Sehnsucht nach fremden Ländern frühzeitig
wecken.
Ganz Ähnliches lässt sich über Humboldts
Kinder- und Jugendjahre aussagen. Auch er sammelt
eifrig Naturalien und andre Gegenstände, auch er
träumt von Reisen in unbekannte Länder. Forsters
Schilderungen der Südseeinseln, Gemälde der Ganges-
ufer von Hodges in einem Londoner Haus, ein
Drachenbaum in einem alten Turm des botanischen
Gartens in Berlin regen die Sehnsucht nach den Tropen
in ihm an. Noch den bejahrten Gelehrten setzen
die Schilfufer des Kaspischen Meeres in Entzücken
bei der Erinnrung an die Kindheit, da er auf Karten
die Form des asiatischen Binnenlandes mit Interesse
betrachtet hatte.
Es ist eine oft beobachtete Erscheinung, dass
Kinder mit so stark ausgesprochnen Neigungen ihren
Lehrern wenig Freude bereiten. Sie lassen sich in
den vorgeschriebnen Gang der Schularbeiten nicht
hineinzwängen, und ihre Gedanken weilen in höhern
Regionen. Wundern dürfen wir uns deshalb nicht,
dass Humboldts Erzieher darüber im Zweifel sind,
ob ihr Zögling sich überhaupt zum Studieren eigne,
und dass Darwins Lehrer ihn für einen sehr ge-
wöhnlichen, eher etwas unter dem mittlem intellek-
tuellen Masse stehenden Jungen gehalten haben.
Ja, sein eigner Vater soll eines Tages zu ihm gesagt
- 156 -
haben: „Du hast kein andres Interesse als Schiessen,
Hunde und Ratten fangen, und du wirst dir selbst
und der ganzen Familie zur Schande." Zu bedenken
ist dabei freilich auch, dass die Schule, in die Darwin
ging, rein klassisch war und ihr Direktor seinen
Schüler öffentlich zurechtwies, weil er sich mit so
nutzlosen Dingen wie chemischen Experimenten be-
schäftigte.
In noch sehr jugendlichem Alter beziehen
Humboldt und Darwin die Universität, jener Frankfurt
a. O., um Cameralia, dieser Edinburg, um Medizin
zu studieren. Beide wählen ihr Fach auf den Wunsch
ihrer Eltern; denn trotz ihrer ausgesprochnen
Neigungen schwebt ihnen noch kein bestimmter Lebens-
beruf vor. Die genannten Universitäten waren freilich
in keiner Weise dazu angetan, in jugendlichen Ge-
mütern Liebe zum Studium und Begeisterung für
die Wissenschaft zu erwecken. Weder Frankfurt
noch Edinburg besass die wissenschaftlichen Anstalten
und die Lehrkräfte, die einem nach Erkenntnis
dürstenden Jüngling Genüge tun konnten. Beide
Studenten langweilen sich auch gründlich in den
Vorlesungen; aber während Humboldt trotzdem seine
Pflicht tut und mit unermQdlichem Fleisse arbeitet,
vernachlässigt Darwin bald seine medizinischen Studien
und vertreibt sich die Zeit mit Vogelschiessen und
andern Liebhabereien. War der Entwicklungsgang
beider Jünglinge bis dahin in vieler Hinsicht sehr
ähnlich, so beginnt sich jetzt ein gewisser Gegensatz
in ihren Charakteren geltend zu machen. Humboldts
- 157 —
Studium, das in Göttingen seine Fortsetzung und
auf der Bergakademie in Freiberg seinen Abschluss
findet, verläuft durchaus regelrecht, und der im voraus
festgesetzte Plan wird bis zum Eintritt in den Staats-
dienst nicht geändert. Alles, was man als geniales
Treiben und geniale Regelwidrigkeit zu bezeichnen
pflegt, bleibt dem jungen Gelehrten fern. Darwins
Studium dagegen bewegt sich in nichts weniger als
regelrechten Bahnen. Aus den Anatomie- und
Operationssälen vertreibt ihn sein Ekel und sein Ab-
scheu vor Blut, sein zart besaitetes Gemüt kann
den Anblick der Leiden nicht ertragen. Nach zwei-
jährigem Aufenthalt in Edinburg muss ihn sein Vater
zurückrufen, da er keinerlei Fortschritte gemacht hat.
Er soll nun Geistlicher werden, aber auch dazu fühlt
er den Beruf nicht in sich und treibt während seines
dreijährigen Verweilens in Cambridge alles andre
mehr als theologische Studien. Er stürzt sich in den
Strudel studentischer Vergnügungen , macht lange
Spaziergänge und Ritte durchs Land und betreibt
mit Leidenschaft das Sammeln von Käfern. Mit
Professor Henslow unternimmt er botanische, mit
Professor Sedgwick geologische Exkursionen. Vor
allem aber macht er in dieser Zeit die erste Be-
kanntschaft mit Humboldts Werken und liest mit
Aufmerksamkeit und regem Interesse die „Reise in
die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents^.
Kein andres Buch hat nach Darwins eigner Aussage
auch nur annähernd einen solchen Einfluss auf ihn
ausgeübt wie dieses Werk Humboldts. Er schreibt
- 158 -
sich lange Stellen über Teneriffa daraus ab und liest
sie aaf den Exkursionen seinen Freunden vor. Der
brennende Wunsch wird nun in ihm rege, „ einen
Beitrag, und wenn auch nur den allerbescheidensten,
für das erhabne Gebäude der Naturwissenschaft
zu liefern.** Sein Beruf zum Naturforscher wird ihm
und andern immer klarer. Wenn er schliesslich auch
das erste theologische Examen macht, so denkt er
doch nicht im Ernst an die Ausübung einer geistlichen
Tätigkeit. Und ganz aufgegeben wird dieser Plan,
als die Weltumseglung des ,,Beagle^ seine kühnsten
Reiseträume unerwartet schnell verwirklicht.
Die begeisterten Briefe Darwins aus der ersten
Zeit der Beaglefahrt enthalten zahlreiche Kund-
gebungen einer sich immer steigernden Verehrung
für den Reisenden Humboldt. ,,Wenn Ihr wirklich
einmal eine Idee von Tropenländern bekommen
wollt/ schreibt er an seine Schwestern, „so studiert
Humboldt. Je mehr ich ihn lese, desto mehr steigt
mein Gefühl für ihn zur Bewunderung. '^ „Ich be-
wunderte früher Humboldt, '^ heisst es in einem Briefe
an Professor Henslow, „jetzt bete ich ihn beinahe
an ; er allein gibt irgend einen Begriff von den Em-
pfindungen, die in der Seele erregt werden beim
ersten Betreten der Tropen." Und nach der Rück-
kehr von seiner Reise bittet er seinen Freund Hooker,
der persönlich mit Humboldt in Berührung kam,
diesem seine ehrerbietigsten und freundlichsten
Grüsse zu übermitteln. „Sagen Sie ihm,^ schreibt
er, „dass ich niemals vergesse, . wie meine ganze
- IS9 -
Lebensrichtnng eine Folge davon ist, dass ich seine
„Personal Narrative" gelesen und immer wieder ge-
lesen habe. Wie wahr und wohltuend sind alle Ihre
Bemerkungen über seine Freundlichkeit; denken Sie,
wie viele Gelegenheit Sie in Ihrer neuen Stellung
haben werden , für andre ein Humboldt zu sein.**
Auch noch viele Jahrzehnte später, kurz vor seinem
Tode, nennt er Humboldt den grössten wissenschaft-
lichen Reisenden, der je gelebt hat, den Vater einer
grossartigen Nachkommenschaft von wissenschaft-
lichen Reisenden, die zusammengenommen viel für
die Wissenschaft getan haben.
Dieses hohe Lob, das Darwin dem Reisenden
Humboldt spendet, ist keineswegs übertrieben. Wir
sind uns heute in der Ära grosser wissenschaftlicher
Expeditionen kaum noch bewusst, was Humboldts
Reise für die Wissenschaft bedeutet. In der vor-
darwinschen Zeit kann Humboldt darauf Anspruch
erheben, der grösste unter den Reisenden genannt
zu werden, die hinauszogen, nicht um neue Länder
zu entdecken und allerlei Curiosa mit nach Hause
zu bringen, sondern um in bereits bekannten Ländern
wissenschaftliche Beobachtungen anzustellen und
Tatsachen zum Ausbau der atigemeinen £rd- und
Länderkunde zu sammeln. Nicht die Erforschung
der besondern Eigentümlichkeiten der bereisten
Länder ari sich stand für Humboldt im Vordergrund,
obgleich er auch darin Bedeutendes leistete, nicht
das Sammeln von Tieren und Pflanzen war ihm die
1 lauiitsarhe, sondern die Erkenntnis des gesetzlichen
\
— i6o —
Zusammenhangs der Erscheinungen. ^Ich werde
Pflanzen und Fossilien sammeln/ schreibt er in
einem Reisebriefe, ^mit vortrefflichen Instrumenten
astronomische Beobachtungen machen können; ich
werde die Luft chemisch zerlegen. Das alles ist
aber nicht Hauptzweck meiner Reise. Auf das Zu-
sammenwirken der Kräfte, den Einfluss der un«
belebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflan-
zenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen
gerichtet sein !*
Nicht nur eine gründlichere Kenntnis Mittel-
uhd Südamerikas verdanken wir daher der Reise
Humboldts, sondern vor allem ganz neue Wissens-
zweige und allgemein wissenschaftliche Erkenntnisse.
Er war der erste, der tropische Witterungsverhält-
nisse zum Gegenstand umfassender Messungen machte
und durch die dort unmittelbar zutage tretende
Gesetzmässigkeit der Erscheinungen die Oberzeugung
begründete, dass auch in höhern Breiten eine solche
vorhanden ist, wenn auch durch überwiegende
Störungen verdeckt. Durch seine Isothermenkarten
und die klare Formulierung des Gegensatzes zwischen
Küsten- und Binnenklima verbreitete er zum ersten
Male Klarheit über die Ursachen, warum die örtliche
Wärmemenge nicht symmetrisch mit der wachsenden
Polhöhe abnimmt. Durch diese Forschungen wurde
er zum Begründer der wissenschaftlichen Klima-
tologie. Die Lehre vom Erdmagnetismus bereicherte
er durch die Erkenntnis, dass das Mass der magne-
tischen Erdkraft ungleichmässig über die Erdober-
BegrSbnisstItte der Familie Humboldl in Tegel
— i6i —
fläche verteilt ist und von den magnetischen Polen
nach dem magnetischen Äquator zu abnimmt. In
geologischer Hinsicht enthüllte ihm die amerikanische
Reise die Bedeutung der vulkanischen Naturkräfte
und den Zusammenhang zwischen Form und Zu-
sammensetzung der Gebirge. Die vergleichende unii
erklärende Länderkunde sind wesentlich seine Schöpf-
ungen. In seinem Buch über Mexiko versuchte er
zum ersten Male, die örtlichen Erscheinungen aus
den gesetzlich wirkenden Naturkräften zu erklären,
indem er die Beziehungen zwischen Bodenbeschaffen-
heit, Klima, Ackerbau, Sitten und Gewohnheiten
der Bewohner erörterte. Dadurch erhob er die
Geographie, die vor ihm nicht viel mehr als eine
blosse Ortskunde gewesen war, zu einer erklärenden
Wissenschaft. Aber nicht nur die Sitten und
Gewohnheiten, auch die Gemütsstimmungen des
Menschen wusste er in Einklang mit den Natur-
erscheinungen zu bringen und so eine Physiognomik
der Natur zu begründen. Ihm verdanken wir die
erste Darstellung der Vegetationsformen und ihrer
Gruppierung, der Formationen der Landschaft. Und
damit in engem Zusammenhang stehen seine epoche-
machenden Leistungen auf dem Gebiete der Pflanzen-
geographie, einer Wissenschaft, die vor ihm kaum
dem Namen nach existierte. Er begnügte sich dabei
nicht mit einer bloss geographischen Darstellung der
Vegetation, sondern suchte deren physische Be-
dingungen zu ergründen und allgemeine Gesetze der
Verbreitung aufzustellen. Das Verhalten der Pflanzen
II
— 102 —
in alter und neuer Welt bei gleicher Pol höhe, den
Zusammenhang zwischen Pflanzen vorkommen und
Meereshöhe machte er zum Gegenstand seiner Unter-
suchungen. Das wichtige Gesetz, das die Gebirgs-
höhen mit entfernten, dem Pole näher liegenden
Tiefebenen verknüpft, ist von ihm zuerst auf Grund
der Erforschung der Andenvegetation ausgesprochen
worden.
Alle diese grossen Erkenntnisse, durch die Hum«
boldt die Wissenschaft bereichert hat, waren im
letzten Grunde Ergebnisse der amerikanischen Reise.
Die fundamentale Bedeutung dieser Reise besteht
daher darin, dass sie Bausteine geliefert hat zu dem
Gebäude einer allgemeinen Welttheorie. Der Reiseride
Humboldt war der Pionier einer erweiterten Auf-
fassung des Weltganzen, und darin berührt er sich
mit dem Reisenden Darwin.
Als der 22 jährige Baccalaureus Darwin hinaus-
segelte in die atlantischen Gewässer, da war er sich
freilich- noch nicht bewusst, dass er nicht weniger
Grosses leisten sollte als Humboldt. Im stillen hatte
er gewiss den sehnlichsten Wunsch, in die Fusstapfen
des grossen Reisenden zu treten, aber an seiner
Fähigkeit dazu zweifelte er. Er glaubte nur als
Sammler von Natur gegenständen gelten zu dürfen,
der für andre höher veranlagte Geister wissenschaft-
liche Bausteine zusammenträgt. Und zu diesem
Glauben hatte er damals gewiss genügenden Grund.
Er selbst ist der Meinung, dass wohl selten jemand
eine Forschungsreise schlechter vorbereitet antrat als
- i63 -
er. Nur ganz oberflächlich und unsystematisch hatte
er sich bisher mit naturwissenschaftlichen Studien
beschäftigt, mit chemischen Experimenten in Shrews-
bury, mit Zergliedern von Seetieren in Edinburgh
mit Käfersammeln in Cambridge. Nie war ein
systematisches Lehrbuch über Zoologie, nie ein zu-
sammengesetztes Mikroskop in seine Hände ge-
kommen. Erst vor wenigen Monaten hatte er an-
gefangen etwas Geologie zu treiben. Es war alles
umgekehrt wie bei seinem Meister und Vorbilde
Humboldt. Dessen ganze Tätigkeit vom i8. bis
zum 30. Lebensjahr war eigentlich nichts als eine
sorgfältige und planmässige Vorbereitung zu seiner
grossen Expedition, die jahrelang in Aussicht ge-
nommen war» ehe sie angetreten werden konnte.
Humboldts Ruf als Gelehrter stand beim Antritt der
Reise bereits fest, er hatte die wissenschaftliche Welt
mit wertvollen Arbeiten mineralogischen, botanischen
und zoologischen Inhalts beschenkt, während Darwin
noch nicht an die Öffentlichkeit getreten war. Erst
ganz allmählich wird es auch diesem klar, dass er
zu höherm berufen ist, als zum blossen Sammler.
In unglaublich kurzer Zeit vermindert er durch an-
gestrengten Fleiss und ihm vorher gänzlich ungewohnte
planmässige Arbeit die Lücken seines Wissens, und
kraft seines eingebornen Genies weiss er bald den
höchsten Anforderungen zu genügen, die an einen
wissenschaftlichen Reisenden gestellt werden können.
Wenn man Darwins „Reise eines Naturforschers**
liest, so erscheint es einem kaum glaublich, dass ein
11*
— 104 —
junger Mensch in der Mitte der zwanziger Jahre so
etwas schaffen konnte. Es ist ein Buch, das seinen
Wert behaupten wird bis in die fernsten Zeiten.
Mir ist diese herrliche Gabe des grossen Natur-
forschers immer fast noch bewundernswerter erschienen
als das epochemachende Hauptwerk des fünfzig-
jährigen Darwin über die Entstehung der Arten.
Vielen Tausenden ist das Reisetagebuch Darwins eine
unerschöpfliche Quelle des Studiums und der An-
regung gewesen. Der grosse Botaniker Hooker er-
zählt, dass er vor Antritt seiner antarktischen
Expedition die Blätter des Tagebuchs unter sein
Kopfkissen zu legen pflegte, um sie zwischen Er-
wachen und Aufstehen zu lesen, da er sonst keine
Zeit übrig hatte. Sie machten einen tiefen und
einerseits verzweifelnden Eindruck auf ihn mit der
Verschiedenartigkeit der geistigen und physischen,
von einen! Naturforscher zu erfüllenden Anforderungen,
der in Darwins Fusstapfen treten sollte, während sie
ihn andrerseits mit einem wahren Enthusiasmus in
der Sehnsucht zu reisen und zu beobachten erfüllten.
Und ein andrer gleichzeitiger Kritiker des Werks
spricht von dem Reiz, den die Frische des Herzens
über diese jungfräulichen Seiten eines stark intellek-
tuellen Mannes und eines scharfsichtigen und tief-
eingehnden Beobachters ergiesst. Wie Humboldts
Reisewerk auf Darwin, so hat dessen Tagebuch
wieder auf zahlreiche jüngre Naturforscher gewirkt,
und mit nicht weniger Recht als Humboldt kann
Darwin als der Vater einer grossartigen Nachkommen-
- 165 -
Schaft erfolgreicher wissenschaftlicher Reisender an-
gesehen werden. Auch Humboldt selbst befand sich
unter den Bewundrern des Werks, und auf seine
und Liebigs Anregung erschien die erste deutsche
Übersetzung.
Darwins Tagebuch, mit dem er seine schrift-
stellerische Tätigkeit so glänzend eröffnete, hat aber
eine weit grössre Bedeutung als die einer blossen
Reisebeschreibung. Es bezeichnet nicht nur äusserlich
den Anfang jener Reihe unsterblicher Werke, mit
denen der grosse Denker in den folgenden vierzig
Jahren die Welt noch beschenken sollte, es enthält
auch innerlich bereits die Wurzeln des gewaltigen
Baumes der Darwinschen Entwicklungslehre. Diese
ist im letzten Grunde ein Ergebnis der Weltfahrt
des Beagle, und insofern berührt Darwins Reise
gleich der Humboldts die höchsten Fragen menschlicher
Erkenntnis.
Ein Jahr nach der Rückkehr von seiner Reise
schrieb Darwin in sein Taschentuch die bemerkens-
werten Worte : „Im Juli fing ich das erste Notizbuch
über die Umwandlung der Arten an. War ungefähr
seit dem vorigen März über den Charakter der
südamerikanischen Fossilien und die Arten vom
Galapagosarchipel sehr überrascht. Diese Tatsachen
bilden den Ursprung aller meiner Ansichten.^ Darwins
Reisetagebuch verbreitet sich näher über diese Tat-
sachen. Es erzählt uns, wie der Forscher in den
südamerikanischen Ebenen die Skelette riesiger Faul-
tiere und Gürteltiere ausgrub, also die fossilen über-
— i66 —
reste von Tieren , die auch heute noch dort leben,
wenn auch in viel geringern Dimensionen. Darwin
bringt diese Erscheinung in Zusammenhang mit den
fossilen und lebenden Beuteltieren Australiens und
glaubt, dass die wunderbare Verwandtschaft der
lebenden und ausgestorbnen Tiere desselben
Kontinents später mehr Licht auf das Erscheinen und
Verschwinden der Lebewesen unsrer Erde werfen
wird, als- irgend eine andre Klasse von Tatsachen.
Vor den Gebeinen der fossilen Fehlzähner Argen-
tiniens und Patagoniens dämmert in ihm der Gedanke
auf, dass die heute dort lebenden Faultiere und
Gürteltiere die Blutsverwandten jener ausgestorbnen
Riesengeschöpfe sind.
Und 'zum zweiten Male tritt die Idee der Ab-
stammung vor das Geistesauge des Reisenden, als
er die Inseln des Galapagosarchipels forschend
durchwandert. Ein ganzes Kapitel seiner Reise-
beschreibung ist der eigentümlichen Verteilung der
Pflanzen und Tiere dieser Inseln gewidmet. Wir
erfahren da, dass die Fauna und Flora der Galapagos
einerseits zwar eine durchaus eigenartige und nur
diesem Archipel zukommende ist, andrerseits aber
eine ausgesprochne Verwandtschaft mit der des be-
nachbarten südamerikanischen Festlandes besitzt.
Auch hier schien die Annahme einer Abstammung
der Lebewesen der Galapagos von denen Südamerikas
die wahrscheinlichste Erklärung jener Verwandtschaft
zu sein. Aber noch zwanzig Jahre streng empirischer
Versuchsarbeit sollten vergehen, ehe Darwin diese
— 167 —
gewagten Ideen der staunenden Mitwelt verkündete.
Einige wenige Tatsachen hatten genügt, den grossen
Gedanken der Entwicklung alles Lebendigen in Dar-
wins Hirn entstehen zu lassen, aber eine unendliche
Fülle von Versuchen und Beobachtungen dienten
ihm nachher zur Prüfung und Bestätigung des Ge-
dankens.
Der jugendliche Reisende Darwin offenbart be-
reits die charakteristische Doppelnatur seines Geistes,
die gleichmässige Wertung der Empirie und Speku-
lation, die in allen seinen spätem Werken so glänzend
hervortritt. Er selbst nennt einmal seinen Geist eine
Art Maschine, die aus grossen Massen von Tatsachen
allgemeine Gesetze mahlt. Auch auf Humboldts Geist
würde dieser Vergleich sich anwenden lassen. Denn
die Forschungsmethode beider war in ihren Grund-
prinzipien dieselbe. „Ich habe gewagt/ schreibt
Humboldt^ ,,die Methode zu befolgen, welche zuerst
in den zoologischen Werken des Aristoteles so
glänzend hervortritt und vorzugsweise geeignet ist,
wissenschaftliches Vertrauen zu begründen, die Methode,
in der neben dem unausgesetzten Bestreben nach
Verallgemeinerung der Begriffe immer durch An-
führung einzelner Beispiele in das Besonderste der
Erscheinungen eingedrungen wird.*' Der Grund-
charakter von Darwins Werken und Darwins Forschungs-
art könnte nicht besser bezeichnet werden als durch
diese Worte Humboldts.
Aber nicht nur die Forschungsmethode an sich
war beiden Männern gemeinsam, sondern auch die
— i68 —
Fähigkeit, sie auf einem aussergewölinhch grossen
Gebiete praktisch zu verwerten. Humboldt und
Darwin haben nicht, wie es sonst Regel ist, nur in
einem, sondern in vielen Zweigen der Wissenschaft
durch Spezialforschung bahnbrechend gewirkt. Hum*
boldt hat die Geographie, Meteorologie, Geologie,
Botanik und Zoologie durch neue Gedanken und
Tatsachen bereichert, Darwin auf den verschiedensten
Gebieten der Geologie, Botanik, Zoologie und An-
thropologie Unvergängliches geleistet, ganz abgesehen
von dem tiefgehenden Einfluss, den seine Theorie
auf alle Zweige menschlichen Wissens ausgeübt hat
und ferner noch ausüben wird. Die ausserordent-
liche Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Arbeiten
Humboldts erhellt, wenn man bedenkt, dass derselbe
Mann die Entstehung des Basaltes, die Naturgeschichte
der Vulkane, die Lagerung der Gebirgsarten, die
chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, die
Temperatur des Meeres und der Luft, die geo-
graphische Verteilung der Wärme auf der Erdober-
fläche, die täglichen Schwankungen des Barometer-
standes, die Intensität des Zodiakallichts, die Intensität,
Deklination und Inklination des Erdmagnetismus, den
Einfluss des Nordlichts auf die Magnetnadel, die
grüne Farbe unterirdischer Vegetabilien, die geo-
graphische Verteilung der Pflanzen, die Physiognomik
der Gewächse, die Gesetze der gereizten Muskel-
und Nervenfaser, den Bau und die Lebensweise der
elektrischen Fische, die Respiration der Krokodile,
die Geschichte der Entdeckungen im Zeitalter der
— lög —
Renaissance, den politischen Zustand von Mexiko
und die G^chichte der physischen Weltanschauung
zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat.
Und die nicht minder grosse Mannigfaltigkeit der
wissenschaftlichen Tätigkeit Darwins leuchtet ein,
wenn man erwägt, dass er den geologischen Er-
scheinungen der Hebungen und Senkungen, der
Vulkane und Erdbeben, der Gletscher und erratischen
Blöcke, der Spaltung, Blätterung und Schichtung der
Gesteine, der Koralleninseln und der Bildung der
Ackererde nicht weniger seine enorme Arbeitskraft
zuwandte, als der zoologiischen Systematik der ranken-
füssigen Krebse und den biologischen Erscheinungen
des tierischen Instinkts, des menschlichen Mienen-
spiels, der Variation der Haustiere und Kulturpflanzen,
der Vererl^ungsgesetze, der sekundären Sexualcharak-
tere, der Wechselbeziehungen zwischen Blumen und
Insekten, der Kreuz- und Selbstbefruchtung im
Pflanzenreich, der Zwei- und Dreigestaltigkeit der
Blüten, der insektenfressenden, windenden und
kletternden Pflanzen. Solcher Universalität des
Wissens und Forschens konnte bei beiden Männern
das Streben nicht fehlen, das Getrennte zusammen-
zufassen, das Vereinzelte durch gemetnsanie Gesichts-
punkte zu verbinden. Daher die charakteristische
Doppelnatur ihrer Werke, ihr Reichtum an Tatsachen
und Ideen, der sie zu unentbehrlichen pädagogischen
Werkzeugen aller Zeiten macht.
Der innern geistigen Verwandtschaft beider
Forscher entsprach auch die äussre gegenseitige
— 170 —
Anerkennung ihrer Verdienste. Mit welcher Be-
geisterung Darwin Humboldts Tropenschilderungen
aufnahm, wie sie seine ganze Lebensrichtung be-
stimmten, haben wir bereits gesehen. Humboldt
hatte hier eine verwandte Saite bei Darwin an-
geschlagen. Die Freude an schöner Szenerie war das
ausgesprochenste ästhetische Gefühl bei Darwin, das
sich bis in sein Alter frisch und ungeschwächt er-
hielt, während er den Geschmack für andre künst-
lerische Genüsse in spätren Jahren verlor. Auch in
Humboldts Kosmos scheinen ihm die Kapitel über
Ästhetik der Natur am meisten gefallen zu haben.
„Wie wahr sind", schreibt er an Hooker, „viele der
Bemerkungen über Szenerie, es ist dies ein genauer
Ausdruck der eigenen Empfindungen. ** Die Innigkeit
dieser Geistesverwandtschaft beider Forscher ergibt
ein Vergleich ihrer Reisebriefe und Reisebe-
schreibungen, wo in enthusiastischer Schilderung der
Schönheiten der Tropenwälder einer den andern
zu überbieten sucht.
Die erste und einzige persönliche Begegnung
mit Humboldt erfüllte nicht ganz Darwins hoch-
gespannte Erwartungen. Er war etwas enttäuscht
und empfand besonders peinlich, dass Humboldt
über alles Mass viel sprach und keinen andern zu
Worte kommen Hess. Das verminderte aber seine
Verehrung für den Reisenden und Forscher nicht.
Humboldt andrerseits, der glühende Verehrer
Frankreichs, war kein Freund Englands und der
Engländer. Das steife, konventionelle Wesen, die
egoistische Politik und äussre Kirchlichkeit dieses
Volkes waren ihm in der Seele zuwider. Das hinderte
ihn aber' nicht, den grossartigen Leistungen eng-
lischer Forscher, wie Faraday, Herschel, Sabine und
Darwin volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Wenn ihm auch die wissenschaftliche Haupttat Dar-
wins nicht mehr zu erleben vergönnt war — er starb
im Mai desselben Jahres, gegen dessen Ende die
Entstehung der Arten erschien — , so hat er doch
wiederholt den Verdiensten des Reisenden Darwin
warme Anerkennung gezollt. Bei der Erörterung
der drei Typen von Korallenriffen in den ^Ansichten
der Natur'* sagt er: „Diese ganz naturgemässe Ein-
teilung und Nomenklatur ist von Charles Darwin
eingeführt und hängt innigst mit der scharfsinnigen
Erklärung zusammen, welche dieser geistreiche Natur-
forscher von der allmählichen Entstehung so wunder-
voller Formen gegeben hat." Und einige Seiten
später nennt er Darwin einen Naturforscher, der den
Schatz seiner eignen Beobachtungen durch Ver-
gleichung mit den von andern in vielen Weltgegenden
gesammelten vermehren konnte.
Dass Humboldt auch dem wissenschaftlichen
Hauptwerk Darwins volles Verständnis entgegen-
gebracht haben würde, lässt sich aus manchen Stellen
seiner Schriften mit einiger Sicherheit vermuten. Er
wendet sich zwar einmal mit skeptischen Fragen
an ,) diejenigen, welche gern von allmählichen Um-
änderungen der Arten träumen und die benachbarten
Inseln eigentümlichen Papageien als umgewandelte
— 172 —
Spezies betrachten^, aber andrerseits denkt er doch
auch an die Möglichkeit, dass die spezifischen Ver-
schiedenheiten Wirkuhgen der Ausartung und der
Abweichung von gewissen Urformen sein könnten.
Im grossen und ganzen war ihni wohl die Entstehung
der Arten ein ungelöstes und zur Zeit unlösbares
Problem, aber viele der Gesichtspunkte und Tat-
sachenreihen, auf die sich Darwins Theorie stützt,
waren ihm durchaus geläiifig, ganz abgesehen davon,
dass wohl selten ein Naturforscher die vergleichende
Methode, die Grundlage alles Darwinismus, mit grössrer
Meisterschaft gehandhabt hat als grade Humboldt.
Der Tragweite paläontologischer und chorolö*
gischer Tatsachen für eine umfassendere Auffassung des
organischen Lebens war er sich wohl bewusst, und
er stellte Fragen auf wie die, ob sich die tierischen
Formen von den ältesten zu den neusten Schichten
in derselben Weise aufeinander folgen, wie wir im
Tiersystem von einfachem zu zusammengesetztem
Formen aufsteigen. Auch die Bedeutung der Wande-
rungen der Organismen hat er widerholt betont und
durch sie die Verbreitung der Arten von einer be-
grenzten Ursprungsstätte aus zu erklären versucht.
Nicht geringern Wert legte er auf die typische Über-
einstimmung im Bau der Tiere^ und wie uns Louis
Agassiz erzählt, pflegte er 183 1 in Paris die Goethische
Theorie der einheitlichen Struktur des Wirbeltier-
skeletts gegen Cuviers Ausfalle in Schutz zu nehmen.
Ja, selbst solchen Erscheinungen, die in das
Gebiet des Darwinismus im engsten Sinne gehören.
- 173 -
hat sein alles umfassender Geist lebhafte Auf-
merksamkeit zugewendet. So hat ihn das Variieren
der Tiere und Pflanzen mehrfach beschäftigt. In
den Ansichten der Natur erwähnt er, dass bei unsrer
gemeinen Kiefer die Nadellänge durch Einflüsse der
Boden- und Luftnahrung sowie der Höhe über dem
Meeresspiegel auf das Auffallendste variiert, so dass
man bisweilen , durch Kürze und Steifigkeit der
Nadeln verführt, plötzlich eine andre Pinusait zu
finden glaube. Und in demselben Werk gibt er im
Anschluss an die Erwähnung der verwilderten
europäischen Hunde der Pampas eine Darstellung
der verschiednen südamerikanischen Hunderassen.
Auch die Beziehungen des Milieus zu den Verschieden-
heiten der Rassen haben ihn beschäftigt, und es fiel
ihm auf, dass die Menschenhorden, die die glühenden
Ebnen im äquinoktialen Amerika durchstreifen, gleich-
wohl keine dunklere Hautfarbe als die Gebirgsbewohner
oder die Bevölkerung gemässigter Gürtel besitzen.
Nicht minder interessierte ihn der Zusammenhang
zwischen der geographischen Lage und den Charakteren
und Sitten der Tiere. Er bemerkte, dass Affen der-
selben Art an einem Orte ihres Vorkommens leichter
zu zähmen und abzurichten sind als an andern, dass
Krokodile an manchen Orten den Menschen fliehen, an
ändern ihn angreifen. Auch die von Darwin zu Gunsten
seiner Theorie verwertete Tatsache, dass die Furcht vor
den Menschen den Tieren erst durch Erfahrung eigen
wird, war Humboldt aus eigner Beobachtung bekannt,
indem er bemerkte, dass die Crotophaga, ein kukuks-
— 174 —
artiger Vogel, sich in den Steppen von Calabazo
zuweilen von Kindern mit den Händen fangen lässt.
Dass ihm endlich auch der Kampf ums Dasein
ein geläufiger Begriff war, erhellt aus der klassischen
Darstellung des Tierlebens in den südamerikanischen
Steppen, die Humboldt in den Ansichten der Natur
gegeben hat. Freilich war er noch weit entfernt
davon, diesen Kampf ums Dasein zu Hülfe zu rufen,
um das Problem von der Entstehung der Arten zu
lösen, und er schien ihm nur zur Erklärung der
Zahl der Individuen einer Form verwendbar. „Es
lässt sich erklären^ , sagt er in den Ansichten der
Natur, „wie auf einem gegebnen Erdraum die Individuen
einer Pflanzen« oder Tierklasse einander der Zahl
nach beschränken, wie nach Kampf und langem
Schwanken durch die Bedürfnisse der Nahrung und
Lebensart sich ein Zustand des Gleichgewichts ein-
stellte ; aber die Ursachen, welche nicht die Zahl
der Individuen einer Form, sondern die Formen selbst
räumlich abgegrenzt und in ihrer typischen Ver-
schiedenheit begründet haben, liegen unter dem un-
durchdringlichen Schleier , der noch unsern Augen
alles verdeckt, was den Anfang der Dinge und das
erste Erscheinen organischen Lebens berührt."
In diesen Worten ist Humboldts skeptische
Stellung zum Speziesproblem klar präzisiert. Doch
scheint er sich in spätem Jahren mit einer gewissen
Entschiedenheit zu descendenztheoretischen Ansichten
bekannt zu haben. Wenigstens weiss uns Du Bois-
Reymond folgendes zu berichten:
— 175 —
„Minder bekannt ist vielleicht, dass Humboldt
auch vordarwinischer Darwinianer war. Er schenkte
mir den von Louis Agassiz ihm übersandten Essay on
Classification, worin nur drei Jahre vor dem Er-
scheinen der Origin of Spezies, welches Humboldt
nicht mehr erlebte, die Lehre von den Schöpfungs-
perioden und die teleologische Weltansicht mit un-
umwundner Schärfe vorgetragen und mit zahlreichen
Gründen scheinbar gestützt wurden. Humbolds Äusse-
rungen bei dieser Gelegenheit Hessen mir keinen
Zweifel, dass er, weit entfernt Agassiz Ansichten zu
teilen, Anhänger der mechanischen Kausalität und
Evolutionist war. Dürfen wir gewissen Pariser Über-
lieferungen trauen, so standen Humboldt und Cuvier
nicht auf dem besten Fusse, wozu politische Meinungs-
verschiedenheiten beigetragen haben mögen. Viel-
leicht hielt sich dann Humboldt mehr zu Lamarck
und GeofFroy de Saint-Hilaire und durchdrang sich
bei ihnen mit der Abstammungslehre.**
Jedenfalls würde wohl Humboldt in Darwins
Werk einen Schritt vorwärts gesehen haben auf dem
Wege zur Lösung des Rätsels. Die Vorbedingungen
dazu waren durchaus vorhanden.
Die innige Geistesverwandtschaft, die Humboldt
und Darwin als Naturforscher verbindet, lässt sich
auch auf andern Gebieten ihres geistigen Lebens
nicht verkennen. So in der Religion und Politik.
In religiösen Fragen beobachteten beide, um mit
Humboldts Grabprediger zu reden, eine ,fast
schüchterne Schweigsamkeit **, und dem Unerkenn-
— 176 —
baren gegenüber verzichteten sie auf bestimmte Hypo-
thesen und systematische Formulierung ihrer Gedanken.
Die ihnen gemeinsame Behutsamkeit des Denkens
hielt sie von metaphisischen Spekulationen fern.
In politischer Beziehung waren beide begeisterte
Bekenner eines entschiednen Liberalismus. Hum-
boldt war erfällt von den edlen Humanitätslehren
des 18. Jahrhunderts, und bis in seine spätesten
Tage trug er die Ideen von 1789 im Herzen. Sein
Preis des griechischen Freiheitskampfes, sein Ein-
treten für die Berufung des politisch anrüchigen
Oken zur Berliner Naturforscherversammlung, seine
lebhafte Bekämpfung des 1842 in Preussen angedrohten
„scheusslichen Judengesetzes" und seine Agitation
für die Wahl des jüdischen Physikers Riess zum
Akademiker, seine kühnen Aussprüche über die
Reaktionszeit der fünfziger Jahre, wo er alle Gefühle
verwildern, alle Zeitungen mit Blutflecken besudelt
sieht und den deutschen Regierungen vorwirft, dass
sie unterirdisch ehrloser wühlen, als je die Blutroten
getan, vor allem aber seine scharfen Worte über
die amerikanische Sklaverei, denen er weit grössre
Wichtigkeit beilegte als all seinen „mühevollen Ar-
beiten astronomischer Ortsbestimmungen, magnetischer
Intensitätsversuche und statistischer Angaben", alle
diese Momente beweisen die Tiefe und Entschieden-
heit seines freiheitlichen Standpunktes. Und in der
Empörung über die fluchwürdige Behandlung der
amerikanischen Sklaven hat er in Darwin einen
würdigen Nachfolger gefunden.
— 177 —
„Am IQ. August/ schreibt dieser in seinem
Tagebuch, ^verliessen wir zum letzten Mal die Küste
Brasiliens. Ich danke Gott, dass ich nie wieder ein
5klavenland besuchen werde. Noch heutigen Tags,
wenn ich ein entferntes Schreien höre, kehren mir
mit peinlicher Lebhaftigkeit jene Gefühle, zurück,
•die ich beim Vorübergehn an einem Hause in der
Nähe von Pernambuco empfand. Die jammervollsten
Klagetöne, die ich hörte, Hessen vermuten, dass dort
irgend ein armer Sklave gemartet wurde, und doch
tnusste ich mir sagen, dass ich so machtlos wie ein
Kind sei, auch nur Vorstellungen dagegen zu machen.
Ich vermutete, dass diese Klagelaute von einem ge-
peitschten Sklaven herrührten, und in einem andern
Fall wurde es mir als gewiss bestätigt. In der Nähe
^on Rio de Janeiro wohnte ich einer alten Dame
gegenüber, die sich Schrauben hielt, um die Finger
ihrer Sklavinnen zu quetschen. Ich habe in einem
Hause gelebt, wo ein junger, zum Hausstande ge-
höriger Mulatte täglich und stündlich in einer Weise
gescholten, geschlagen und verfolgt wurde, die auch
dem niedrigsten Tiere den Lebensmut hätte brechen
müssen. Ich habe einen kleinen Knaben von sechs
oder sieben Jahren dreimal mit einer Pferdepeitsche
über den blossen Kopf schlagen sehen, bevor ich
Einhalt tun konnte, weil er mir ein nicht ganz saubres
Glas Wasser gereicht hatte; und seinen Vater sah
ich bei einem blossen Blick aus dem Auge seines
Herrn erzittern. Ich war zugegen, als ein wohlwollen-
-der Mann im Begriff stand, für immer die Männer,
12
- 178 -
Frauen und kleinen Kinder einer grossen Zahl von
Familien zu trennen, die lange Zeit miteinander ge-
lebt hatten. Und diese Handlungen werden von
Leuten ausgeführt und verteidigt, welche be-
kennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben,
welche an Gott glauben und welche beten, dass sein
Wille auf Erden geschehe! Es macht unser Blut
aufwallen und doch unser Herz erzittern, wenn wir
bedenken, dass wir Engländer und unsre amerika-
nischen Nachkommen mit ihrem übermütigen Ge-
schrei nach Freiheit so schuldbeladen sind und
noch sind."
So berühren sich beide Männer nicht nur in den
höchsten Fragen wissenschaftlichen Denkens, sondern
auch in den höchsten Regungen ethischen Empfindens.
Nicht nur geistig grosse, sondern auch sittlich hohe
und edle Charaktere verehren wir in ihnen. Und in
diesem doppelten Sinne gilt für beide das Goethische
Wort:
Es kann die Spar von ihren Erdentagen
Nicht in Äonen untergebn.
DARWIN UND HAECKEL
Charles Darwin
N kritischen Perioden der kulturellen Ent-
wicklung, wo grosse Reformen der Wissen-
schaft und der Weltanschauung die Ge-
müter bewegen, treffen wir stets auf führende Geister
zweierlei Art. Die einen legen im stillen Kämmer-
lein die Prinzipien der neuen Lehre wissenschaftlich
fest, die andern, ohne auf selbständige Forschung
zu verzichten, tragen sie hinaus ins Leben und
wenden sie an auf alle Fragen, die den Menschen-
geist beschäftigen. Als die kirchliche Reformations-
bewegung ihre Wellen schlug, standen neben den
stillen Gestalten eines Melanchthon und Erasmus
die kühnen Streiter Luther und Hütten. Als das
Weltsystem des Kopernikus nach Anerkennung rang,
traten Galilei und Bruno auf den Kampfplatz. Und
als Charles Darwin durch seine Reform der Ent-
wicklungslehre der Wissenschaft vom Leben eine
neue Grundlage schuf, da wurde Ernst Haeckel sein
Apostel und Prophet.
In der Geschichte der menschlichen Geisteskultur
werden die Namen Darwin und Haeckel so wenig zu
trennen sein wie die Namen Plato und Aristoteles,
Melanchthon und Luther, Kopernikus und Galilei,
Schiller und Goethe, Mozart und Beethoven. Sie
— l82 —
bezeichnen ein geistiges Dioskurenpaar, das nur in
seinem gegenseitigen Verhältnis richtig gewürdigt
werden kann. Eine Darstellung dieses Verhältnisses
wird nicht nur von historischem Interesse sein,
sondern auch klärend und versöhnend wirken in
bezug auf die Gestalt des Mannes, dessen Charakter-
bild, von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, in
der Geschichte schwankt.
Aus hochangesehnen, geistig bedeutenden und
wirtschaftlich gutsituierten Familien sind beide Forscher
hervorgegangen. Eine feste Tradition hatte sowohl
in Darwins als in Haeckels Familie den Lebensberuf
bestimmt; in jener war der medizinische, in dieser
der juristische Beruf vorherrschend gewesen. Darwins
Grossvater, Vater und Onkel gehörten dem ärztlichen
Stande an, und auch sein älterer Bruder hatte sich
dem Studium der Medizin gewidmet. Bei Haeckel
reicht die juristische Tradition sogar bis zum Ur-
grossvater zurück; der Vater war Regierungsrat in
Potsdam, die Mutter eine Tochter des aus Frey tags
Bildern aus der deutschen Vergangenheit bekannten
Chefs des rheinischen Kassationshofs, Christoph Sethe,
der sich um die deutsche Gerichtsorganisation be-
deutende Verdienste erwarb. Und auch hier hat
der ältere Bruder, der vor mehreren Jahren in
Potsdam verstorbne Landesgerichtsrat Haeckel, die
Familientradition fortgesetzt.
Die Jüngern Sprösslinge aber befreiten sich von
der Tradition. Darwin machte zwar einen schüchternen
Versuch mit dem Studium der Medizin, der aber
— i83 —
kläglich misslang, Haeckel hat nie daran gedacht,
Jurist zu werden. Und doch ist bei beiden Forschern
der erbliche Einfluss der Vorfahren nicht zu verkennen.
Haeckel selbst hat mehrfach hervorgehoben,
dass er die persönlichen Eigenschaften, die ihm die
grosse und schwierige Aufgabe, die morphologische
Wissenschaft zu reformieren, durchzuführen erlaubten,
zum grössten Teile durch Vererbung von seinen
trefflichen Eltern erhalten habe. Seine Biographen,
Ernst Krause und Wilhelm Bölsche haben über-
einstimmend darauf hingewiesen, dass gewisse, dem
echten Juristen vornehmlich eigentümliche Charakter-
züge, wie der Drang nach Erkenntnis der Wahrheit,
das impulsive Bedürfnis nach Klarheit und syste-
matischer Ordnung, ein gewisser gesetzgebrischer
Zug und die Neigung, das für wahr und recht er-
kannte zu verkündigen und zu verteidigen, sich bei
Haeckel in aussergewöhnlich hohem Grade entwickelt
finden. Und noch deutlicher sind bei Darwin ver-
erbte Geisteseigentümlichkeiten nachzuweisen, die
sich zwar weniger auf die eigentlichen Berufscharakter-
züge seiner Vorfahren beziehen, als auf solche Eigen-
schaften, die sie neben diesen in ausgesprochnem
Masse besassen. Schon früh war naturwissenschaftlicher
Sinn in Darwins Familie entwickelt. Urgrossvater
und Grossonkel hatten sich mit Naturgeschichte be-
schäftigt, der Grossvater war durch seine natur-
philosophischen Schriften in weiten Kreisen bekannt
geworden. Dem Vater wird eine ungewöhnlich ent-
wickelte Beobachtungsgabe nachgerühmt. Die ausr
— i84 —
gesprochne Liebe zur Beschäftigung mit der Natur,
die schon in früher Jugend bei Darwin hervortritt^
lässt sich also leicht auf Vererbung zurückführen.
Doch ist der direkte erziehliche Einfluss der Mutter
nicht ganz zu verkennen, sie war es, die die Liebe
für Blumen in seine junge Seele gepflanzt hat.
Bei Haeckel tritt die Neigung für Naturobjekte
mehr spontan und unvermittelt auf, denn bei seinen
Vorfahren lassen sich analoge Eigenschaften nicht
nachweisen. Doch lag diese Neigung tief im innersten
Kern seiner Natur begrühdet, erzählt man doch,
dass eine einfache Blume schon in den frühsten
Jahren das lebhafte Kind zu fesseln und zu beruhigen
vermochte. Und auch hier hat die Mutter den Natur-
sinn des Knaben allmählich vertieft und veredelt, ja
dieser mütterliche Einfluss war bei Haeckel viel
stärker und nachhaltiger als bei Darwin, der seine
Mutter schon in früher Jugend verlor, während Haeckel
das Glück hatte, die seinige ein hohes Alter erreichen
zu sehen. Noch an ihrem 84. Geburtstag konnte er
seine kindliche Dankbarkeit durch die Widmung
seiner Indischen Reisebriefe beweisen und in den
schönen Worten zum Ausdruck bringen: „Du warst
es, die von frühster Kindheit an den Sinn für die
unendlichen Schönheiten der Natur in mir pflegte
und ausbildete ; Du hast den heranwachsenden
Knaben frühzeitig den Wert der Zeit und das Glück
der Arbeit kennen gelehrt ; Du hast mit all der
unaufhörlichen Sorge und Mühe, die nur in dem
einen Wort Mutterliebe ihren Ausdruck findet, meine
- i85 -
vielfach wechselnden Schicksale beständig be-
gleitet."
Schon früh treten auch bei beiden Knaben ge-
wisse kleine Züge der Interessen hervor, die an die
grossen Probleme rühren, mit denen sie sich später
beschäftigen sollten. Darwin selbst berichtet uns,
dass er schon als Knabe eine gewisse Ahnung von
der Variabiltät der Pflanzen hatte, indem er sich
für die verschieden gefärbten Spielarten der Primeln
und Polyantheen interessierte, und Haeckel denkt
gern in spätem Jahren mit heitrer Genugtuung an
die Zweifel zurück, die in dem Gemüt des zwölf-
jährigen Knaben geweckt wurden, als er zum ersten Male
mit leidenschaftlichem Eifer die guten und schlechten
Spezies der Brombeeren und Weiden, der Rosen
und Disteln vergeblich zu bestimmen und zu unter-
scheiden sich bemühte. Sein skeptisches Knaben-
gemüt wurde in die schmerzlichste Aufregung ver-
setzt, da er beständig hin- und herschwankte, ob
er die guten Arten allein in das Herbarium auf-
nehmen und die schlechten ausweisen oder ob er
beide berücksichtigen und eine vollständige Kette
von Obergangsformen herstellen sollte. Schiesslich
fand er einen Ausweg darin, dass er zwei Herbarien
anlegte, ein offizielles, das nur die guten Arten ent-
hielt und ein geheimes, in dem nur die verdächtigen
Genera Aufnahme fanden. Jenes führte den teil-
nehmenden Beschauem alle Arten in typischen
Exemplaren als grundverschiedne Formen vor Augen,
dieses, nur einem vertrauten Freunde zugänglich,
— i86 —
zeigte in Massen von Individuen den unmittelbaren
Übergang von einer guten Art zur andern.
Auch über die Bücher, die in den Knaben- und
Jünglingsjahren ihren Sinn beschäftigten und nach-
haltig auf sie einwirkten, haben uns beide Forscher
berichtet. Darwin erzählt uns von einem Buch über
die Wunder der Welt, das er in frühen Tagen seiner
Schulzeit oft las und das zuerst den Wunsch in ihm
anregte, in ferne Länder zu reisen. Whites „Natural
History of Selbourne" veranlasste ihn, die Gewohn-
heiten der Vögel zu beobachten und begeisterte ihn
80, dass er sich in seiner Naivität darüber wunderte,
„warum nicht alle Herren Ornithologen würden.*
Später haben Herschels Einleitung in das Stadium
der Naturwissenschaften und Humboldts Reise in die
Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents eine
tiefe Wirkung auf ihn ausgeübt. Namentlich hat
das Humboldtsche Werk sowohl durch seine land-
schaftlichen Schilderungen der Tropennatur als auch
durch die zahlreichen eingestreuten wissenschaft-
lichen Exkurse den Geist des Jünglings gar tief und
nachhaltig beeinflusst. Hier sah er bei einem Meister
ersten Ranges wie die Ergebnisse der Naturforschung
gewonnen werden, hier lernte er die Methode sowie
den Endzweck und das Endziel wahrer Naturforschung
kennen.
Auch Haeckel nennt unter den Schriften, die
in seiner Jugend vor allen andern anregend und be-
stimmend -auf seinen Lebensplan einwirkten, ein
Werk Humboldts: die Ansichten der Natur. Und
- i87 -
in demselben Satz erwähnt er neben Schleidens
„Pflanze und ihr Leben" Darwins „Reise um die
Erde**. Hier berühren sich Darwin und Haeckel
zum ersten Mal. Und kein andres Werk Darwins
hätte seinem grossen Schüler die Persönlichkeit des
Meisters wohl besser vermitteln können als grade
das Reisewerk. Denn hier tritt uns der ganze Darwin
nach allen Seiten seines reichen Wesens entgegen:
der scharfe Beobachter und kühne Denker , der
mutige Forscher und Reisende , der begeisterte
Naturfreund, der gemütvolle und human denkende
Mensch.
Es waren aber keineswegs nur Reisebeschrei-
bungen und naturgeschichtliche Werke , an denen
die geistig regsamen und mannigfaltigen Interessen
huldigenden Jünglinge sich bildeten. Stundenlang
konnte Darwin in einer Fensternische der dicken
Schulmauern über Shakespeares historischen Stücken
sitzen, und mit tiefer Bewegung las er Thomsons
Jahreszeiten und die Gedichte Byrons und Scotts.
Während der Weltreise wurde Miltons Verlornes
Paradies sein Hauptliebling, und wenn er auf seinen
Exkursionen nur einen einzigen Band mitnehmen
konnte, wählte er immer Milton. Später freilich ver-
lor er zu seinem grossen Bedauern fast alle Freude
an Poesie und fand selbst Shakespeare so uner-
träglich langweilig, dass es ihn zum Übelsein brachte.
Auch sein Geschmack für Gemälde und Musik, der
in seiner Jugend entwickelt war, bildete sich in
spätem Jahren zurück. „Wenn ich mein Leben
— i88 —
noch einmal zu leben hätte/ klagt er, „so würde
ich es mir zur Regel machen , wenigstens alle
Wochen einmal etwas Poetisches zu lesen und etwas
Musik anzuhören, vielleicht würden dann die jetzt
atrophierten Teile meines Gehirns durch Gebrauch
tätig erhalten worden sein. Der Verlust der Em-
pfänglichkeit für derartige Sachen ist ein Verlust
an Glück und dürfte möglicherweise nachteilig für
den Intellekt, noch wahrscheinlicher für den Charakter
sein, da er den gemütlich erregbaren Teil unsrer
Natur schwächt/
Darwin hat wohl in seiner grossen persönlichen
Bescheidenheit seinen Mangel an ästhetischem Sinn
etwas zu stark hervorgehoben, seine Werke zeugen
dafür, dass er eine durchaus ästhetisch veranlagte
Natur war. Ja, wir dürfen diesen ästhetischen Zug
seines Wesens wohl als eine Charaktereigentümlich-
keit bezeichnen, die ihm mit der ausgesprochnen
Künstlernatur Haeckels gemeinsam ist. Trotzdem
kann auf der andern Seite nicht geleugnet werden,
dass bei Haeckel der Einfiuss ästhetischer, speziell
poetischer Momente ein viel tiefrer und nachhal-
tigrer war als bei Darwin. Goethes Werke , die
Haeckel schon früh zugänglich wurden, haben sein
innerstes Wesen gestaltet und den tiefsten Kern
seiner Persönlichkeit berührt, ja die Grundlinien
seiner ganzen Weltanschauung gezogen. Demgegen-
über ist der Einfluss Shakespeares auf Darwin be-
langlos.
Mit ganz verschiednen Empfindungen blickten
— i89 —
später Darwin und Haeckel auf ihre Schulzeit zu-
rück. Haeckel hatte bei einigen trefflichen Lehrern
des Merseburger Gymnasiums warme Unterstützung
und Förderung seiner botanischen Liebhabereien
gefunden, Darwin war von dem Direktor der Shrews-
bury School ein Tagedieb genannt worden, weil er
seine Zeit mit so nutzlosen Dingen wie chemischen
Experimenten verschwendete. Der englische Forscher
meint, dass nichts für die Erziehung seines Geistes
schlimmer hätte sein können als Dr. Butlers Schule,
da sie ausschliesslich klassisch war und neben den
alten Sprachen nichts gelehrt wurde als ein wenig
alle Geographie und Geschichte. Es erschien ihm
einfach unbegreiflich, wie die Schule ein Mittel der
Erziehung sein könne. Haeckel dagegen denkt noch
mit sechzig Jahren dankbar an seine Schulzeit und
seine ausgezeichneten Lehrer zurück.
Ähnliche Gegensätze machten sich im Univer-
sitätsleben beider Forscher geltend. Zunächst frei-
lich teilten sie das gleiche Schicksal, auf den Wunsch
ihrer Väter ein Brotstudium ergreifen zu müssen, zu
dem innerstes Bedürfnis sie nicht zog. Haeckel
wäre am liebsten Botaniker geworden, aber seinem
Vater erschien die Botanik als brotlose Wissenschaft.
So studierte er denn Medizin, aber in der stillen
Hoffnung, später einmal als Schiffsarzt weite Reisen
zu botanischen Forschungen unternehmen zu können.
Er hat dann auch ein Jahr in Berlin als Arzt prak-
tiziert, wobei er seine Sprechstunde auf die Zeit von
fünf bis sechs Uhr früh verlegte. Drei Patienten
haben sich während dieses Jahres seiner ärztlichen
Kunst anvertraut, von denen, wie er in launiger
Rede berichtet, keiner gestorben ist. Aber zum
Lebensberuf konnte er die Medizin nicht erwählen ;
doch sollte sie die Brücke werden, die ihn von der
Botanik zur Zoologie hinüberführte.
Darwin ging es mit dem Studium der Medizin noch
schlimmer. Er konnte den Operationen und anato-
mischen Präparier Übungen nicht beiwohnen, weil sie
ihm Ekel und Ohnmächten verursachten, und so sattelte
er um zur Theologie. Hatte Haeckel gehofft durch
das Studium der Medizin weite Reisen machen zu
können, so gefiel Darwin der Gedanke, Landgeistlicher
zu werden, weil er als solcher Gelegenheit zur Natur-
beobachtung haben würde. Aber der geistliche
Beruf wurde später zugunsten der Naturforschung
ganz aufgegeben, und so haben weder Darwin noch
Haeckel das Grosse, was sie geleistet, auf den Ge-
bieten erreicht, die ihr offizielles Universitätsstudium
bildeten.
Darwin hat stets seine Universitätszeit, was die
akademischen Studien anlangt, für vollständig ver-
loren angesehen. Von seinen Lehrern übte, eine
einzige Ausnahme abgerechnet, keiner einen tiefern
Einfluss auf ihn aus. Im Gegenteil fand er ihre
Vorlesungen meist unerträglich langweilig. Dr. Dun-
cans Vorlesungen über materia medica in Edinburg
im Winter des Morgens um acht Uhr hatten für
seine Erinnerung etwas Fürchterliches. Die Vor-
lesungen eines andern Dozenten über menschliche
— 191 —
Anatomie erschienen ihm so langweilig wie die
Person des Lehrers selbst. Die einzige Wirkung,
die die Vorlesungen über Geologie und Zoologie
auf ihn ausübten, war der Entschluss, niemals
im Leben ein Buch über Geologie zu lesen oder in
irgend welcher Weise diese Wissenschaft zu treiben.
Nur die botanischen Vorlesungen Henslows in Cam-
bridge zogen ihn an. Er rühmt ihre Klarheit und
ihre wundervollen Illustrationen. Verständnisvoll kam
auch Henslow der strebenden Seele des Jünglings
entgegen. Er förderte ihn in jeder Weise und sollte
schliesslich den Jugendtraum Darwins, die Reise in
die Tropenländer verwirklichen helfen.
Zeitlebens war sich Darwin der grossen Förderung
lebhaft bewusst, die er Henslow zu danken hatte.
In einem Brief an den Verfasser einer Gedächtnis-
schrift über ihn gibt er eine warm empfundne
Charakteristik seines Lehrers, in der er die Auf-
richtigkeit seines Charakters und die Liebenswürdig-
keit seines Herzens nicht weniger preist als die Viel-
seitigkeit seines Wissens und die Klarheit seines
Verstandes. „Alle, die sich um einen Zweig der
Naturwissenschaft kümmerten^, schreibt er, ^wurden
von ihm in gleicher Weise aufgemuntert. Nichts
konnte einfacher, herzlicher und bescheidner sein
als die Ermutigung, die er allen jungen Naturforschern
gewährte. Er besass ein merkwürdiges Vermögen,
das jugendliche Gemüt vollständig mit sich vertraut
zu machen, obwohl wir alle von der Fülle seines
Wissens in Ehrfurcht gebannt waren.* Aber noch
— 192 —
höher als die intellektuellen schätzte Darwin die
moralischen Eigenschaften seines Lehrers , und er
schliesst jene Erinnerungen mit den Worten: „Indem
ich mit Dankbarkeit und Ehrfurcht über seinen
Charakter nachdenke , gewinnen seine moralischen
Eigenschaften, wie es in den höchsten Charakteren
der Fall sein sollte, über sein geistiges Vermögen
den Vorrang.**
Dieser Einfluss Henslows auf Darwin lässt sich
mit dem Johannes Müllers auf Haeckel vergleichen.
Der grosse Berliner Physiolog war freilich dem edlen
Cambridger Botaniker an geistiger Bedeutung und
genialer Grösse himmelweit überlegen, aber in dem
heiligen Ernst , mit dem beide ihrer Wissenschaft
-ergeben waren, in der Begeisterung für ihr Lehramt
und der tiefeii Wirkung auf ihre Schüler, waren sie
verwandte Geister. Wie Darwin über Henslow, so
sprach später Haeckel über Müller. Noch mit sech-
zig Jahren, also vierzig Jahre nach der Zeit, da er
zu des grossen Denkers Füssen gesessen, nannte er
ihn einen Mann, dessen ausserordentliche Grösse
und Hoheit ihm stets lebhaft vor Augen stehe.
„Wenn ich jetzt bisweilen bei der Arbeit ermüde,"
sagte er, „brauche ich nur das Bild von Johannes
Müller, welches in meinem Arbeitszimmer vor mir
hängt, anzusehen, um neue Kraft zu gewinnen. Ich
werde nie die Anregung vergessen, die ich ihm ver-
danke. Er lehrte vergleichende Anatomie und Phy-
siologie. Ich wurde in kurzer Zeit mit ihm näher
bekannt, hatte aber vor seiner gewaltigen Persönlich-
*> "- arv
*»
ff'
V^ V. •
\
Ernst Haeckel
— 193 —
keit eine solche Verehrung, dass ich es nicht wagte,
ihm näher zu treten. Er gab mir Erlaubnis im
Museum zu arbeiten. Es sind mir unvergessliche
Stunden, an denen ich dort sass und Schädel zeich-
nete, während er auf und ab ging, besonders Sonntag
nachmittags. Mehreremal ist es mir passiert, dass
ich ihn um Rat fragen wollte. Mit Herzklopfen stieg
ich die Treppe hinan, fasste an die Klingel, wagte
aber nicht zu läuten , sondern kehrte wieder um.^
Von grösster Bedeutung war es für Haeckel, dass
Johannes Müller ihn im August 1854 auf eine Studien-
reise nach Helgoland mitnahm. Da lernte er durch
seinen grossen Meister den Reiz der marinen Tier-
welt und die von Müller erfundne Methode der
pelagischen Fischerei kennen, Anregungen, aus denen
später seine vieljährigen klassischen Planktonstudien
hervorgingen.
Müller war aber keineswegs der einzige grosse
Lehrer, dem Haeckel seine Ausbildung zum Natur-
forscher zu verdanken hat. Im Gegensatz zu Darwin
konnte er sich rühmen, dass seine wissenschaftliche
Entwicklung während fünfjähriger akademischer
Studien von Männern geleitet wurde, die zu den
ersten Naturforschern zählten. Gleich im Beginn
«einer Studien in Berlin kam er in innige Berührung
mit dem Botaniker Alexander Braun, dessen liebster
Schüler er wurde und dem er als idealem Menschen
und Naturforscher ein dankbares Andenken bewahrte.
In Würzburg waren es dann der vorzügliche Anatom
Albert Kölliker und der feinsinnige Histolog Franz
13
— 194 —
Leydig, die ihn in die Histologie, vergleichende
Anatomie und Entwicklungsgeschichte einführten,
Gebiete, für die damals Würzburg eine klassische
Stätte war und auf denen später Haeckel seine
glänzendsten Lorbeeren ernten sollte. Während
seines zweiten Würzburger Aufenthalts, der von dem
ersten durch die Berliner Periode unter dem Zeichen
Johannes Müllers getrennt war, stand er ganz im
Banne Rudolf Virchows, dessen Assistent er eine
Zeitlang war. Mit warmer Dankbarkeit hat Haeckel
jederzeit betont, wieviel er dem Unterricht Virchows
schuldig geworden ist. ,,Wenn ich selbst zum ele-
mentaren Ausbau der Entwicklungslehre einiges bei-
tragen konnte,** schrieb er 1875, „so danke ich es
zum grossen Teile den cellular-biologischen Anschau-
ungen, mit denen mich der Unterricht Virchows vor
zwanzig Jahren in Würzburg durchdrungen hat.**
Auch die später zwischen beiden Forschern ent-
standnen wissenschaftlichen Differenzen haben diese
Dankbarkeit nicht zu vermindern vermocht. Sogar
aus der 1878 gegen Virchow gerichteten Streit-
schrift Haeckels klingt es heraus, was der Unterricht
seines Gegners ihm dereinst bedeutet hatte. Keinem
seiner Lehrer, äussert er dort, sei er für die Befreiung
von allen Vorurteilen des Dualismus so sehr ver-
bunden wie Virchow. Sein vorzüglicher Unterricht
habe ihn damals gleich vielen andern auf das Festeste
von der alleinigen Berechtigung der mechanischen
Naturbetrachtung überzeugt, ihn zu der klaren Er-
kenntnis geleitet, dass die Natur des Menschen wie
— IQS —
jedes andern Organismus nur als ein einheitliches
Ganzes richtig zu verstehen sei, dass sein geistiges
und körperliches Wesen untrennbar sind und die
Erscheinungen des Seelenlebens gleich allen andern
Lebenserscheinungen nur auf materieller Bewegung,
auf mechanischen Veränderungen der Zellen beruhen.
Und noch 1894, bei Gelegenheit seines 60. Geburts-
tags, äusserte Haeckel : „Ich lernte in den drei Semestern
bei Virchow die Kunst der feinsten analytischen Beob-
achtung und der schärfsten Kritik des Beobachteten.
Meine Sektionsprotokolle fanden sein besondres Lob.
Was mich aber» damals in Würzburg an Virchow be-
sonders begeisterte, das waren seine weiten Ausblicke,
seine philosophisch-naturwissenschaftlichen Ideen. *^
Als Haeckel im Jahre 1858 sein medizinisches
Staatsexamen bestanden hatte, da konnte er mit
Befriedigung auf die wohl angewandte Studienzeit
zurückblicken. Eine durch und durch systematische,
abgerundete naturwissenschaftliche Ausbildung war
ihm zuteil geworden , die besten Lehrer seiner Zeit
hatten ihn theoretisch und praktisch zum Natur-
forscherberuf vorbereitet. Soweit das Universitäts-
studium überhaupt einen Menschen bilden kann, so-
weit hatte es Haeckel gebildet.
Darwin war nicht so glücklich gewesen. Mit
Mühe und Not hatte er das theologische Bacca-
laureatsexamen bestanden, und in der Wissenschaft,
an der seine Seele hing, der Naturwissenschaft, nur
planlos herumprobiert, nur hier und da sich etwas zu-
geeignet. Von einer systematischen Ausbildung war
13*
— igö —
keine Rede. Erst die Weltreise sollte ihn zum
Naturforscher bilden, erst sie gab ihm nach seinem
eignen Ausspruch die erste wirkliche Zucht und Er-
ziehung seines Geistes. Sie gewöhnte ihn an ener-
gischen Fleiss und konzentrierte Aufmerksamkeit,
sie nötigte ihn zur Aneignung methodischer Ge-
wohnheiten und zur peinlichsten Ordnung, sie lehrte
ihn auf die Minuten zu achten und die Zeit aufs
äusserste auszunutzen. Als Autodidakt trat er in
die Reihen der Naturforscher ein, nicht systematisches
Universitätsstudium, nicht Vorlesung und Lehrbuch
hatten seine naturwissenschaftliche Ausbildung ver-
mittelt, die Natur selbst hatte sie übernommen.
Scharf scheidet sich in dieser Hinsicht sein Ent-
wicklungsgang von dem Haeckels.
Auch Haeckel unternahm nach Beendigung
seiner Studien und der einjährigen ärztlichen Probe-
zeit eine Reise , zwar keine Weltreise, aber doch
eine Reise, die seiner für Natur und Kunst gleich
begeisterten Seele unendlich viel bieten musste, eine
Reise nach Italien. In vollen Zügen genoss er mit
dem neugefundnen Freunde, dem Marschendichter
Hermann Allmers, die Natur- und Kunstschätze des
unvergleichlichen Landes und sammelte zugleich das
Material für seine erste grössre Arbeit. Später sind
dann noch viele Reisen gefolgt. War an Darwin
das Weltpanorama mit einem Mal in ununterbrochner
Folge vorübergezogen, so enthüllte es sich Haeckel
nach und nach. Die Wanderlust, die ihn schon als Knabe
beseelt, als er weite Exkursionen machte, um seltnen
— 197 —
Pflanzen nachzuspüren, ist ihm zeitlebens eigen ge-
blieben, und nichts wurde charakteristischer für sein
Schaffen als der regelmässige Wechsel zwischen der
stillen Forscher- und Schriftstellertätigkeit im Arbeits-
raum seines zoologischen Instituts und den er-
frischenden Wandrungen über Berg und Tal in Gottes
freier Natur.
Schon sein liebes Jena bot ihm in dieser Hin-
sicht des Guten die Fülle. „Vieles, von dem ich Förde-
rung unsrer Wissenschaft hoffe'', schreibt er 1866 an
Gegenbaur, „ist die gemeinsame Frucht des Ideen-
austausches, der uns ebenso daheim in unsrer stillen
Werkstätte erfreute, wie er uns draussen auf unsern
erfrischenden Wandrungen durch die felsigen Schluch-
ten und über die waldigen Höhen des reizenden
Saaletales begleitete. Manches dürfte selbst das
Produkt des erhabnen gemeinsamen Naturgenusses
sein, welchen uns die malerischen Formen der
Jenenser Muschelkalkberge bereiteten, wenn sie im
letzten Abendsonnenstrahl uns durch die Farben-
#
harmonie ihrer purpurgoldigen Felsenflanken und vio-
lettblauen Schlagschatten die entschwundnen Zauber-
bilder der kalabrischen Gebirgskette vor Augen führten. **'
Aber soviel Jena auch bot an Naturschön-
heit und Naturgenuss, wenn die Ferien kamen,
wenn die strenge Arbeitszeit vorüber war, zog es
Haeckel hinaus in die weite Welt. Skandinavien,
Grossbritannien und Holland, Russland und Monte-
negro, Dalmatien, Sardinien und Korsika, Klein-
asien , Ägypten und Algier , Ceylon , Java und
Sumatra hat er geschaat mit dem Auge des Forschers
und Künstlers, mit dem blauen deutschen Märchen-
auge, wie Bölsche es nennt. Und was er da ge-
schaut und gefühlt und erlebt und erforscht, das
hat er uns wiedergegeben in herrlichen taufrischen
Reisebüchern, vor allem in den Indischen Reise-
briefen, die ein Bild der Tropenvegetation entwerfen,
wie es seit Humboldt nicht wieder gegeben worden
ist. Auch hier ist er eine Darwin, dem grossen
Reiseschildrer, kongeniale Natur. Aber auch glück-
licher als Darwin. Dem englischen Forscher war es
nicht beschieden, der Weltreise, die er mit 22 Jahren
angetreten und mit 27 Jahren vollendet hatte,
weitere Wandrungen folgen zu lassen. Sie war die
erste und letzte grössre Reise seines Lebens. Von
da an musste er den Wanderstab, den auch er in
seiner Jugend so lebensfroh und rüstig geführt,
ruhen lassen; die Weltreise hatte seine starke Ge-
sundheit gebrochen, und zu einem stillen Duider-
leben sah er sich in den folgenden vierzig Jahren
verurteilt.
Aber dieses stille Leben gab ihm auch die
Möglichkeit, den Gedanken, den die Reise in ihm
geboren, zu jenem hohen ( irad der Reife auszubilden,
der allein seinen Erfolg ermöglichen konnte. In
den Pampas Südamerikas, vor den Gebeinen aus-
gestorbner Riesensäuger war der Gedanke der Ent-
wicklung in Darwins Geist geboren worden, im stillen
Landhaus von Down reiften die Keime zu einer
genialen Theorie.
— 199 —
Wilhelm Bölsche, der ausgezeichnete Darwin-
und Haeckelbiograph, hat darauf hingewiesen, dass
das Geburtsdatum Haeckels zeitlich rund zusammen-
fällt mit jener Stunde, in der Darwin auf den süd-
amerikanischen Ebnen die Idee der Entwick-
lung erfasste. Im Reisetagebuch Darwins findet
sich zwischen den Aufzeichnungen vom 9. Januar
und 13. April 1834 j^^^^ berühmte Prophezeiung,
dass die wunderbare Verwandtschaft zwischen den
toten und lebenden Tieren eines und desselben
Kontinents später mehr Licht auf das Erscheinen
organischer Wesen auf unsrer Erde werfen wird
als irgend eine andre Klasse von Tatsachen. Und
am 16. Februar desselben Jahres ist Haeckel ge-
boren worden. Einer der ersten Briefe, den der
Meister später an den Schüler schrieb, gedenkt jener
Geburtsstunde seiner Ideen. ,ylch werde niemals
mein Erstaunen vergessen/ schrieb er, „als ich ein
riesengrosses Panzerstück ausgrub, ähnlich dem eines
lebenden Gürteltieres. Als ich über diese Tatsachen
nachdachte und einige ähnliche Erscheinungen da-
mit verglich, schien es mir wahrscheinlich« dass nah
verwandte Spezies von einer gemeinsamen Stamm-
form abstammen könnten.^
Fünfundzwanzig Jahre lang hatte Darwin diese
Gedanken in seinem Kopf herumgewälzt , ehe er
sie in seiner Entstehung der Arten der Öffentlichkeit
unterbreitete. Haeckel weilte grade in Italien als
das epochemachende Buch, das entscheidend werden
sollte für sein ganzes künftiges Leben, erschien. Er las
— 200 —
es als er im Mai 1860 nach Berlin zurückgekehrt
war, und gleich beim ersten Lesen packte es ihn ge»
waltig. ,,Da aber alle Berliner Grössen'', schrieb er
später an Bölsche, ,,mit einziger Ausnahme von
Alexander Braun, in der Verwerfung einig waren,
blieb meine Verteidigung desselben wirkungslos.
Erst als ich bald darauf Gegenbaur in Jena besuchte,
atmete ich auf, und die eingehnden Gespräche mit
ihm bestärkten mich definitiv in meiner Überzeugung
von der Wahrheit des Darwinismus resp. Transfor-
mismus. ^
Was Haeckel an dem Buch so gewaltig packte,
das war^ dass es eine lang empfundne Lücke seiner
Weltanschauung ausfüllte, dass es ein Problem löste,
mit dem er schon jahrelang gerungen hatte. Seit
jener Zeit, da er als Knabe über die guten und
schlechten Pflanzenspezies nachgegrübelt, hatte ihm
Goethe eine neue Welt und einen neuen Gott ge-
ofifenbart und Virchow ihn mit den Grundprinzipien
der Weltauffassung vertraut gemacht, die Haeckel
später als Monismus bezeichnete. Die Einheit von
Gott und Welt, Geist und Materie, Kraft und Stoff,
Organisch und Anorganisch, Pflanze und Tier, Tier
und Mensch bildete schon vor Darwin die Grundlage
seiner Weltauffassung. Von dem Glaubeh an einen
von aussen stossenden persönlichen Gott hatte ihn
Goethe befreit, die letzten Reste der vitalistischen
und teleologischen Denkweise hatte Virchow in ihm
ausgemerzt. Mit einer in den Grundzügen fertigen
Weltanschauung verliess Haeckel die Universität, die
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— 20I
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Naturgesetzlichkeit alles Geschehens, die Forderung
mechanischer Erklärung aller Naturerscheinungen
galt ihm als unerschütterliches Axiom. Dass alle
Naturerscheinungen ohne Ausnahme, von der Be-
wegung der Himmelskörper und dem Falle des
rollenden Steins bis zum Wachsen der Pflanze und
zum Bewusstsein des Menschen nach einem und dem-
selben grossen Kausalgesetze erfolgen, dass alle
schliesslich auf Mechanik der Atome zurückzuführen
sind, diesen Grundgedanken des Monismus hielt er
schon damals fest. £r sah nur noch nicht klar, wie
die Entstehung der organischen Wesen nach diesen
Prinzipien zu erklären sei. Darwins Werk zeigte es
ihm. Die Selektionstheorie löste in Haeckels Augen
das Rätsel, wie die organische Zweckmässigkeit auf
mechanischem Wege entstanden ist. Die letzte
Lücke im Bau der monistischen Weltanschauung
schien damit ausgefüllt, der letzte Stein eingefügt,
das Gebäude gekrönt.
Von diesem Gesichtspunkt aus hat Haeckel
zeitlebens den Darwinismus betrachtet. Nicht nur
ein wissenschaftliches Erklärungsprinzip war er ihm,
obgleich er auch diese Seite stets betont hat, sondern
vor allem ein Element der Weltanschauung und zwar
einer Weltanschauung , die der herrschenden, reli-
giösen , kirchlichen , christlichen Weltanschauung
diametral gegenübersteht. Dieser neuen, seiner An-
sicht nach höhern, bessern Weltanschauung zum
Siege zu verhelfen, sie als ein neues Evangelium an
die Stelle des alten zu setzen, sie wenn möglich zum
— 202 —
Gemeingut der denkenden Menschheit zu machen,
dafür hat Haeckel alle Kräfte seiner starken und
kühnen Persönlichkeit eingesetzt, dafür hat er in
Wort und Schrift gekämpft mit dem ganzen Enthu-
siasmus seiner grossen und reichen Seele. All seine
grössern und kleinern allgemeiner gehaltnen Werke
von der generellen Morphologie an bis zu den Welt-
rätseln sind dieser Propaganda für den Monismus
als einer neuen Weltanschauung, einer neuen Religion,
einem neuen Evangelium gewidmet. Dieser Gesichts-
punkt beleuchtet all seine Stärken und Schwächen:
seine glühende, begeisterte Sprache, seine kühnen
Spekulationen, seinen Dogmatismus und Fanatismus,
seine Siegesgewissheit und Glaubensseligkeit, seine
Subjektivität, seine scharfe, heftige, intolerante Pole-
mik. Eine Apostelnatur spricht zu uns aus seinen
Werken, eine Natur, die wir einerseits in ihrer Ge-
schlossenheit und Eigenart bewundern, die aber
andrerseits den Widerspruch gar vielfach heraus-
fordert.
Tief ist hier die Kluft zwischen Haeckel und
Darwin. Als dieser seine Weltreise antrat, kam er
eben vom Studium der Theologie. Er war durch-
aus orthodox, er glaubte an den persönlichen Gott
und an das Christentum als eine göttliche Offen-
barung. Die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens
stand ihm damals noch keineswegs fest. Von dieser
Seite, die für Haeckel die massgebende war, trat er
nicht an die Lösung des Problems der Entstehung
der Tier- und Pflanzenformen heran. Es war viel-
— 203 —
mehr d^s Studium der Geologie Lyells, das ihn da-
von überzeugte, dass die Tatsachen der geologischen
Wissenschaft einfacher und leichter zu erklären
seien, wenn man an Stelle eines durch gewaltsame
Katastrophen unterbrochnen einen kontinuierlichen
Entwicklungsgang des Erdkörpers setze , der nicht
fortwährend durch den Eingriff des Schöpfers ge-
stört worden sei. Und als ihm dann in Südamerika
gewisse Erscheinungen entgegentraten, die in Über-
einstimmung mit diesen Lyellschen Prinzipien sich
leichter durch eine Entwicklung der organischen
Wesen als durch eine gesonderte Schöpfung jeder
einzelnen Tier- und Pflanzenspezies erklären liessen,
da zögerte er nicht, auch hier die unmittelbare Tätig-
keit eines Schöpfers auszuschliessen. Aber in dieser
Erkenntnis sah er nicht die Ausfüllung einer Lücke
seiner Weltanschauung, sondern im Gegenteil eine
Korrektion dieser Weltanschauung, ein Zurückdrängen
der Wirksamkeit des persönUchen Gottes, an dessen
Existenz er nach wie vor festhielt. Wie schwer ihm
die Annahme der neuen Auffassung wurde, das zeigt
die Tatsache, dass er noch 1844, ^^^^ ^^^^ Jahre
nach der ersten Konzeption des Gedankens, bei
Mitteilung seiner ketzerischen Ansichten an Hooker
schrieb, es sei ihm zumute, als müsse er einen
Mord eingestehen. Für Haeckel war die Begründung
der Entwicklungsidee ein neuer Triumph seiner be-
reits in den Grundzügen feststehnden Weltanschauung,
für Darwin war ihr Erfassen ein schwerer Kampf mit
den überlieferten Lehren, an die er glaubte.
— 204 —
Erst nachdem Darwin den Gedanken der £nt-
wicklang erfasst hatte und teilweise wohl unter seinem
Einfluss gab er die orthodoxen Ansichten auf. Zu-
erst kam er dahin, einzusehen, dass dem alten Testa-
ment nicht mehr Glauben zu schenken sei, als den
heiligen Schriften der Hindus. Bei weiterm Nach-
denken verlor er allmählich den Glauben an das
Christentum als eine göttliche Offenbarung. Den
persönlichen Gott aber gab er damit nicht auf.
Der alte Beweisgrund vom Zweck in der Natur
freilich, wie ihn Paley aufgestellt hatte und der ihm
früher so entscheidend vorkam , schlug jetzt fehl,
nachdem das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl ent-
deckt worden war. Auch der Beweisgrund, der aus
der tiefen innerlichen Überzeugung und den Gefühlen
hergenommen ist, die von den meisten Menschen
an sich erfahren werden, erschien ihm nicht mehr
stichhaltig. Aber er hielt es nach wie vor für äusserst
schwierig oder unmöglich einzusehen, dass das un-
geheure und wunderbare Weltall, das den Menschen
umfasst mit seiner Fähigkeit, weit zurück in die
Vergangenheit und weit in die Zukunft zu blicken,
das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit
sei. Beim Nachdenken darüber fühlte er sich ge-
zwungen, sich nach einer ersten Ursache umzusehen
im Besitze eines intelligenten, dem des Menschen
in einem gewissen Grade analogen Geistes. Dabei
schien ihm die Grösse des Schöpfers zu wachsen,
wenn er die Welt von vornherein so eingerichtet
hatte, dass sie durch eigne Kraft sich weiter ent-
wickelte. „Es ist wahrlich eine grossartige An-
sicht,^ schreibt er am Schlass der Entstehung der
Arten, ,,dass der Schöpfer den Keim alles Lebens,
das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen
Form eingehaucht hat und dass, während unser
Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend
sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem An-
fange sich eine endlose Reihe der schönsten und
wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer
entwickelt."
Seit Darwin dies schrieb wurde ihm die Beweis-
kraft seines letzten Arguments für das Dasein
Gottes sehr allmählich und mit vielen Schwankungen
schwächer. Er zweifelte schliesslich überhaupt daran,
ob man sich auf den Geist des Menschen, der sich
aus einem so primitiven Geist wie dem der niedersten
Tiere entwickelt habe, verlassen könne, wenn er solch
grossartige Folgerungen ziehe. „Ich darf mir nicht
anmassen,** schliesst er seine Bekenntnisse, „auch
nur das geringste Licht auf solche abstruse Probleme
zu werfen. Das Geheimnis des Anfangs aller Dinge
ist für uns unlösbar, und ich für meinen Teil muss
mich bescheiden, ein Agnostiker zu bleiben."
In diesen Sätzen ist Darwins Stellung zum
Weltproblem klar ausgedrückt. Zu einer umfassenden,
vollständig abgerundeten Weltanschauung zu ge-
langen schien ihm nicht möglich. Er resignierte
vor den letzten Fragen, vor der Entstehung der
ersten ^Organismen, vor der Entstehung der geistigen
Grundkräfte, vor Gott. Er hat deshalb in seinen
— 2o6 —
Schriften auch nie religiöse und allgemein philoso-
phische Fragen erörtert, er hat nie den Versuch
gemacht, philosophisch -religiöse Konsequenzen aus
der Entwicklungslehre zu ziehen oder diese als die
Konsequenz einer bestimmten WeltaufTassung hin-
zustellen. Er hat sie lediglich als ein wissenschaft-
liches Erklärungsprinzip, als ein methodologisches
Hülfsmittel der Forschung hingestellt. Es soll damit
nicht geleugnet werden, dass Darwin im tiefsten
Innern die Entwicklungslehre nicht auch als ein
Mittel zur Erweitrung unsrer religiösen Weltanschau-
ung betrachtet hat, wie ja schon das ihr inhärente
mechanisch-kausale Prinzip und ihre Anwendung auf
den Menschen eine solche Auffassung nahelegen,
aber er selbst vermied es, diese Seite weiter zu
verfolgen. Zudem hielt er die Religion des Menschen
für eine wesentlich private Angelegenheit und scheute
sich, die religiöse Empfindlichkeit andrer zu verletzen.
Auch glaubte er nicht tief genug über religiöse
Probleme nachgedacht zu haben, um sich öffentlich
darüber auszusprechen.
Indem so Darwin im Gegensatz zu Haeckel den
allgemeinsten Fragen der Weltanschauung fast ge-
flissentlich aus dem Weg ging, indem er es ver-
mied, seinen Gedanken eine systematische Abrundung
zu geben, indem er sich davor scheute, agressiv
gegen allgemein verbreitete religiöse Auffassungen
aufzutreten, gelangte er überhaupt zu einer Schreib-
und Mitteilungsart, die der Haeckels fast diametral
gegenübersteht. Äusserste Vorsicht der Ausdrucks-
— 207 —
weise , weitgehnde Skepsis , fast übertriebne Her-
vorhebung der Schwierigkeiten, die seiner Auffassung
gegenüberstehen, Vermeidung scharfer und dogma-
tischer Formulierung seiner Ergebnisse, äusserste
Milde und Rücksicht gegenüber den Gegnern seiner
Lehre, das sind die Züge, die seine Darstellungs-
weise gegenüber der Haeckelschen charakterisieren.
Doch haben diese formalen Gegensätze das Zu-
sammenwirken beider Forscher nie gestört. Darwin
hat zwar manchmal warnend seine Stimme erhoben,
wenn sein feuriger Schüler allzu tolle Sprünge machte,
aber im Wesen der Sache hat er sich immer soli-
darisch mit Haeckel erklärt. In wie herzlicher
Weise er ihm zuweilen Mässigung empfahl, das be-
weist vor allem folgende Briefstelle, die so charakte-
ristisch für das Verhältnis beider Männer ist und
die eben angedeutete Verschiedenheit ihrer Naturen
so scharf beleuchtet, dass sie in ihrem ganzen Wort-
laut hier folgen mag:
„Ich hoffe," schreibt Darwin im Anschluss an
anerkennende Bemerkungen über Haeckels generelle
Morphologie, „dass Sie mich nicht für unverschämt
halten werden, wenn ich eine kritische Bemerkung
mache: einige ihrer Bemerkungen über verschiedne
Autoren erscheinen mir zu streng, obwohl ich kein
gutes Urteil über diesen Gegenstand habe, da ich
ein so kümmerlicher Schulknabe im Deutschlesen
bin. Ich habe indessen von verschiednen aus-
gezeichneten Autoritäten und Bewundrern Ihres
Werkes Klagen über die Härte Ihrer Kritiken ver-
— 208 —
nommen. Dies scheint mir recht unglücklich, denn
ich habe seit lange beobachtet, dass grosse Strenge
die Leser verfuhrt , die Partei der angegriffnen
Person zu ergreifen. Ich kann mich bestimmter
Fälle erinnern, in denen Herbigkeit direkt das
Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte.
Mit Sicherheit empfinde ich, dass unser guter Freund
Huxley, obgleich er viel Einfluss besitzt, noch weit
grössern haben würde, wenn er gemässigter gewesen
und weniger häufig zu Angriffen übergegangen wäre.
Da Sie sicherlich eine grosse Rolle in der Wissen-
schaft spielen werden, so erlauben Sie mir, als
älterm Mann , Sie ernstlich zu bitten , über das
nachzudenken, was ich zu sagen gewagt habe. Ich
weiss, dass es leicht ist zu predigen und scheue
mich nicht, zu sagen, dass, wenn ich das Vermögen
besässe, mit treffender Schärfe zu schreiben, ich
meinen Triumph darin setzen würde, den armen
Teufeln das Innere nach aussen zu kehren und ihre
ganze Albernheit blosszustellen. Nichtsdestoweniger
bin ich überzeugt, dass dies Vermögen nicht gut tut,
sondern einzig Schmerz verursacht. Ich mochte
hinzufügen, dass es mir, da wir täglich Männer von
denselben Voraussetzungen zu entgegengesetzten
Schlüssen kommen sehen, als eine zweifelhafte Vor-
sicht erscheint, zu positiv über irgend einen kompli-
zierten Gegenstand zu sprechen, wie sehr sich auch
ein Mensch von der Wahrheit seiner eignen Schlüsse
überzeugt fühlen mag. Und nun, können Sie mir
meine Freimütigkeit vergeben? Obgleich wir ein-
'. ? v'
vV
— 209 —
ander nur ein einziges Mal begegnet sind, schreibe
ich Ihnen wie einem alten Freunde, denn das sind
meine Empfindungen Ihnen gegenüber/
Haeckel erwiderte auf diese freundschaftlichen
Ermahnungen in gleich herzlichem Ton und erhielt
darauf folgendes Schreiben:
,ylhr Brief vom i8. hat mir grosses Vergnügen
bereitet, denn Sie haben das, was ich Ihnen gesagt
habe, in der allerliebenswürdigsten Weise aufge-
nommen. Teilweise haben Sie das, was ich gesagt
habe, noch viel starker genommen , als ich beab-
sichtigt hatte. Es ist mir nicht für einen Augen-
blick eingefallen, daran zu zweifeln, dass Ihr Werk
bei einer wunderbaren und klaren Anordnung des
Gegenstandes, ebenso wie befestigt durch so viele
neue Tatsachen und Beweisgründe uiisern gemein-
schaftlichen Zweck in allerhöchstem Grade fordern
würde. Alles, was ich meine, ist, dass Sie Ärger
erregen werden, und Ärger verblendet jedermann
so, dass Ihre Argumente keine Aussicht haben
dürften , die zu beeinflussen , die bereits gegen
unsre Ansichten eingenommen sind. Überdies sehe
ich es durchaus nicht gern, dass Sie, gegen den
ich so viel Freundschaft empfinde, sich unnötiger-
weise Feinde machen sollten, und es ist Schmerz
und Ärger genug in der Welt, um nicht noch mehr
zu veranlassen. Aber ich wiederhole, dass ich nicht
daran zweifeln kann, dass Ihr Werk unserm Gegen-
stande sehr förderlich sein wird, und ich wünschte
herzlich, es könnte ins Englische übersetzt werden,
14
— 2IO —
meiner selbst und andrer willen. In bezag darauf^
was Sie darüber sagen, dass ich Einwendungen gegen
meine eigne Ansicht zu stark hervorhebe, denken
auch manche meiner englischen Freunde, dass ich
nach dieser Seite einen Fehler begangen habe, aber
die Wahrheit zwang mich das zu schreiben, was ich
geschrieben habe, und ich bin zu der Annahme ge-
neigt, dass es gute Politik war/
Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Italien,
1861, hatte sich Haeckel auf Gegenbaurs An-
regung in Jena als Privatdozent der Zoologie habili-
tiert. Bereits im folgenden Jahre erfolgte seine
Ernennung zum ausserordentlichen Professor auf
Grund seiner grossen Monographie der Radiolarien.
Dies monumentale Werk hat Haeckels Ruf als zoo-
logischer Fachgelehrter begründet und enthielt zu-
gleich sein erstes öffentliches Bekenntnis zu Darwin.
Dieser schrieb darüber an Lyell am 17. März
1863: „Ein ausgezeichneter deutscher Naturforscher
(ich habe jetzt seinen Namen vergessen), welcher
vor kurzem ein grosses Werk in Folio heraus-
gegeben hat, hat sich in der ailerweitesten Aus-
dehnung für die Entstehung ausgesprochen/ Es
ist dies die erste briefliche Äusserung Darwins über
Haeckel.
Die darwinistischen Auslassungen Haeckels in
der Monographie der Radiolarien, auf die Darwin
hier anspielt, finden sich im Anschluss an einen Ent-
wurf des Systems dieser Urtiere. Er hebt dort die
zahlreichen Übergangsformen hervor, die die ver-
— 211 —
schiednen natürlichen Gruppen verbinden und fahrt
dann fort : „Die grossartigen Theorieen, die Charles
Darwin vor kurzem über die Entstehung der Arten
im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung
oder die Erhaltung der vervollkommneten Rassen
im Kampf ums Dasein entwickelt hat und mit denen
für die systematische organische Naturforschung eine
neue Epoche begonnen hat, haben der Frage von
den Verwandtschaftsverhältnissen der Organismen
mit einem Mal eine solche Bedeutung, dem Nach-
weis einer kontinuierlichen Verkettung eine solche
fundamentale Wichtigkeit verliehen, dass jeder, auch
der kleinste Beitrag der zu einer weitern Lösung
jener Probleme mitwirken kann, willkommen sein
muss/
Noch eingehnder spricht sich Haeckel in folgen-
der, dem Titelzitat des Darwinschen Werkes ange-
fügten Anmerkung über die neue Lehre aus:
„Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit
der hohen Bewundrung Ausdruck zu geben, mit der
mich Darwins geistvolle Theorie von der Entstehung
der Arten erfüllt hat, Umsomehr als diese epoche-
machende Arbeit bei den deutschen Fachgenossen
vorwiegend eine ungünstige Aufnahme gefunden zu
haben, teilweise wohl auch völlig missverstanden
worden zu sein scheint .... Obgleich ich Bedenken
trage, Darwins Anschauungen und Hypothesen nach
allen Richtungen hin zu teilen und die ganze von
ihm versuchte Beweisführung für richtig zu halten,
muss ich doch in seiner Arbeit den ersten ernstlichen
14*
— 212 —
wissenschaftlichen Versuch bewundern, alle Erschei-
nungen der organischen Natur aus einem gross*
artigen einheitlichen Gesichtspunkt zu erklären und
an die Stelle des unbegreiflichen Wunders das be-
greifliche Naturgesetz zu bringen.^ Als Hauptmangel
der Darwinschen Theorie bezeichnet er es dann,
dass sie für die Entstehung des Urorganismus gar
keinen Anhaltspunkt liefert. ,,Wenn Darwin,'' sagt
er, „für diese erste Spezies noch einen besondern
Schöpfungsakt annimmt, so ist dies jedenfalls in-
konsequent und, wie mir scheint, nicht ernstlich ge-
meint. Allein abgesehen von diesen und andern
Mängeln hat Darwins Theorie schon jetzt das un-
sterbliche Verdienst, in die ganze Verwandtschafts-
lehre der Organismen Sinn und Verstand hinein-
gebracht zu haben. Wenn man bedenkt, wie jede
grosse Reform, jeder gewaltige Fortschritt um so
heftigem Widerstand findet, je rücksichtsloser er
eingewurzelte Vorurteile umstösst und herrschende
Dogmen bekämpft, so wird man sich freilich nicht
wundem , dass Darwins geniale Theorie statt der
wohlverdienten Anerkennung und Prüfung bisher fast
nur Angriffe und Zurückweisung gefunden hat.''
Dieses erste Bekenntnis Haeckels zu Darwin
stand an verborgnem Ort in einem schweren fach-
wissenschaftlichen Werk. Von hier aus konnte es
den Weg in die Öffentlichkeit nicht finden, konnte
es die Diskussion über den Darwinismus in Deutsch-
land nicht in Fluss bringen. Aber schon im nächsten
Jahr erfolgte Haeckels zweites Bekenntnis und zwar
- 213 —
diesmal im hellsten Licht der ÖfTentlicbkeit vor der
Stettiner Versammlung deutscher Naturforscher und
Ärzte. Wohlmeinende Freunde hatten ihre w^nende
Stimme erhoben, hatten an all die Gefahren erinnert,
die dem jungen Professor drohten, wenn er an solcher
Stelle sich öffentlich für Darwin bekenne. Aber
Haeckels Wahrheits- und Bekennerdrang kannte
keine Rücksichten, und in der ersten öffentlichen
Sitzung des Stettiner Kongresses besprach er das
gefahrliche Thema und bekannte , dass er von der
Wahrheit der Abstammungslehre so fest überzeugt
sei wie Darwin selbst. Ja sogar die letzten Konse-
quenzen dieser Lehre, vor denen Darwin noch scheu
Halt gemacht, wurden hier von ihm berührt: die
tierische Abstammung des Menschen und die natür-
liche Entstehung der ältesten und einfachsten Or-
ganismen. Schon hier klingt es durch die Zeilen
hindurch, dass der Darwinismus eine die ganze
Weltanschauung des Menschen modifizierende Er-
kenntnis bedeutet
Im Eingang des Vortrags charakterisiert Haeckel
in grossen Zügen den Kampf, der um die Ent-
wicklungslehre entbrannt ist. Zwei mächtige Heer-
lager sieht er einander gegenüberstehen, aus dem
einen tönt der Ruf Entwicklung und Fortschritt,
aus dem andern Schöpfung und Sp>ezies. Hier Kata-
strophenlehre und wiederholte Neuschöpfung der
Organismen, dort Koutinuitätstheorie und allmähliche
Entwicklung der Tier- und Pfianzenarten. Hier
Konstanz der Spezies , dort Veränderlichkeit und
— 214 —
ununterbrochne Vervollkommnung, Auffassung des
Systems als eines grossen, weit verzweigten Stamm-
baumes.
Nachdem Haeckel so das Grundthema des
grossen Kampfes klar präzisiert hat, gibt er einen
Rückblick auf die Geschichte des Entwicklungs-
gedankens. Er feiert Lamarck und Geoffroy de St.
Hilaire, Oken und Goethe als prophetische Ver-
künder der neuen Lehre und gedenkt der Nieder-
lage ihrer Naturanschauung in Frankreich durch
Cuvier, die eine rein empirische Richtung einleitete,
der erst Darwins Werk ein Ende machte. Dann
gibt er in scharfen Umrissen ein Bild der Darwin-
schen Lehre. Vererbung und Variabilität, Kampf
ums Dasein und natürliche Zuchtwahl, Begriffe, die
wir heute mit der Muttermilch einsaugen, werden
hier zum ersten Mal vor einer Naturforscherversamm-
lung diskutiert. Aus der ungeheuren Länge der
Zeiträume, die zur Erklärung der organischen Ent-
wicklung angenommen werden muss, zieht Haeckel
den Schluss, dass direkte Beweise für die Abstammung
nicht geliefert werden können. Um so höher schätzt er
das Gewicht der indirekten Argumente. Die stufen-
weis fortschreitende Entwicklung der organischen
Bevölkerung in der Reihenfolge der Erdperioden,
die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen,
die rudimentären Organe, die dreifache Parallele
zwischen der embryologischen, systematischen und
paläontologischen Entwicklung der Organismen sind
ihm ohne die Entwicklungslehre unlösbare Rätsel.
— 215 —
Ein reifes fertiges Lehrgebäude sieht er in der Dar-
winschen Theorie allerdings nicht, wohl aber die
Grundlinien eines zukünftigen und den ersten
mächtigen Anstoss zu einer durchgreifenden Re-
form des bestehenden. Er vergleicht die Bedeutung
dieser Reform für die Biologie mit der der Newton-
schen Gravitationstheorie für die Abiologie, und der
Verfolgungen beider Lehren durch die Feinde des
wissenschaftlichen Fortschritts gedenkend, ruft er
aus: „Aber diese Angriffe werden den Fortschritt
nicht hemmen. Denn der Fortschritt ist ein Natur-
gesetz, das keine menschliche Gewalt, weder
Tyrannenwaflfen noch Priesterflöche jemals dauernd
zu unterdrücken vermögen."
Man meint in diesen letzten Worten den
politischen Agitator und nicht den Mann der strengen
Wissenschaft zu hören. Aber wenn auch in Haeckel
zeitlebens etwas vom Agitator gesteckt hat, so war
es doch keineswegs seine Absicht, bloss als solcher
dem Darwinismus zu dienen. Seinen Hauptberuf
sah er vielmehr von Anfang an im weitern Ausbau
des Darwinschen Systems, in der Ausfüllung der
Lücken, die er darin noch erkannte. Die Darwinsche
Ideenwelt sollte in Fleisch und Blut der Wissenschaft
übergehen, sollte die Wissenschaft von Grund aus
reorganisieren und reformieren. Die Aussichten, dass
die deutschen (belehrten diese Aufgabe in gemein-
schaftlicher Arbeit in die Hand nehmen würden,
waren damals so ungünstig wie möglich. Der
Stettiner Vortrag des jungen Darwinenthusiasteh war
— zi6 —
mit Hohn und Spott abgetan worden. Wie Haeckel
selbst erzählt, kam die grosse Mehrzahl der anwesen-
den Naturforscher zu dem Schluss, dass derartige
naturphilosophische Phantasieen eigentlich gar nicht
wissenschaftlich diskutierbar seien. Ein angesehner
Zoologe erklärte die ganze Theorie für den harmlosen
Traum eines Nachmittagsschläfchens, ein andrer ver-
glich sie mit dem Tischrücken und dem Od. Ein be-
rühmter Botaniker nannte sie eine haltlose Hypothese,
für die keine einzige Tatsache spreche, und ein nam-
hafter Geologe meinte, dass auf diesen vorüber-
gehnden Schwindel bald die unausbleibliche Er-
nüchterung folgen werde. Aber Haeckel war nicht
der Mann, der sich durch solche Misserfolge ent-
mutigen Hess. Er unternahm jetzt den kühnen Ver-
such, die durch die Darwinsche Lehre geforderte
Reform für den Zweig der biologischen Wissenschaft,
der sein Arbeitsfeld war, für die Morphologie durch-
zuführen. Drei Jahre nach jener Stettiner Rede,
1866, erschien das grandiose Werk, das Haeckel für
alle Zeiten unter die ersten Genien denkender Natur-
forschung einreiht: die Generelle Morphologie der
Organismen. Sie enthielt bereits das ganze Programm
seines Lebens, ja das Programm der morphologischen
Forschung des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt.
Sie ist das grösste und reifste, das tiefste und ori-
ginellste Werk, das Haeckel geschaffen.
Ein seltsamer Zwiespalt charakterisierte den Zu-
stand der Naturwissenschaft als Haeckel sein Buch
schrieb : Abiologie und organische Physiologie waren
— 217 —
monistisch und mechanisch, die organische Morpho*
logie war dualistisch und teleologisch. Diesen Zwie-^
Spalt sucht Haeckels Werk aufzuheben. Es will
einen kühnen und grossen Gedanken zur Geltung
bringen: den Gedanken von der Einheit der ge-
samten organischen und anorganischen Natur, den
Gedanken von der allgemeinen Wirksamkeit mecha«^
nischer Ursachen in allen erkennbaren Erscheinungen^
den Gedanken,' dass die entstehnden und die ent«
wickelten Formen der Organismen nichts andres sind
als das notwendige Produkt ausnahmsloser und ewiger
Naturgesetze. Mit Darwins Theorie sah Haeckel die
Möglichkeit gekommen, auch die Morphologie mecha»
nisch und monistisch zu begründen.
Er fasst seine Aufgabe so umfassend wie nur
denkbar und schickt seinem Werke ein Einleitung
voraus, die in wundervoller Klarheit den Begriff und
die Aufgabe der Morphologie, ihr Verhältnis zu den
andern Naturwissenschaften, ihre Einteilung und vor
allem ihre Methode beleuchtet. Diese methodolo-
gischen Kapitel über Empirie und Philosophie, Ana-
lyse und Synthese, Induktion und Deduktion, Dog-
matik und Kritik, Teleologie und Kausalität, Dua-
lismus und Monismus gehören zu dem Besten, was
Haeckel geschrieben. Die Kernpunkte seiner Wissen-
schaftsaufifassung kommen da zum Ausdruck. Vor
allem betont er die Notwendigkeit gegenseitiger Er-
gänzung von Beobachtung und Gedanken, von Natur-
beschreibung und Naturphilosophie, die notwendige
Wechselwirkung von Empirie und Theorie. „Alle
— 2l8 —
wahre Naturwissenschaft," ruft er aus, „ist Philoso«
phie, und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft.
Alle wahre Wissenschaft aber ist in diesem Sinn
Naturphilosophie. "
Ein Blick auf den Entwicklungsgang der Mor-
phologie soll dann zeigen, wie in dieser Wissenschaft
empirische und philosophische Perioden miteinander
abgewechselt haben. Linn6 begründete die erste
empirische Periode, die Herrschaft der empirischen
äussern Morphologie, Lamarck und Goethe schufen
die erste philosophische Periode, die Herrschaft der
phantastisch-philosophischen Morphologie. Sie wurde
gestürzt durch Cuvier, der eine zweite empirische
Periode, die der empirischen Innern Morphologie
herauffährte, bis endlich Darwin die zweite philoso-
phische Periode, die der empirisch-philosophischen
Morphologie einleitete. Darwin verdrängte zugleich
die Teleologie aus der Wissenschaft. In der Selek-
tionstheorie erblickt Haeckel den schlagendsten Be-
weis für die ausschliessliche Gültigkeit der mechanisch
wirkenden Ursachen auf dem gesamten Gebiet der
Biologie, den definitiven Tod aller teleologischen und
vitalistischen Beurteüung der Organismen.
Aber während Darwin gewissermassen in der
Mitte begann und den Anfang und das Ende aller
Dinge ausser Betracht Hess, geht Haeckel auf den
Uranfang der Organismen, auf die fundamentalsten
Verhältnisse zurück. „Allgemeine Untersuchungen
über die Natur und etste Entstehung der Organismen,
ihr Verhältnis zu den Anorganen und ihre Einteilung
— 219 —
in Tiere und Pflanzen," so lautet der Titel des
zweiten Buches der Generellen Morphologie. Eine
eingehnde Vergleichung zwischen Organismen und
Anorganen in bezug auf Stoff, Form und Kraft leitet
diese Untersuchungen ein. Besondres Gewicht legt
Haeckel dabei auf jene niedersten und unvollkommen-
sten, von ihm zuerst beobachteten und als Moneren
bezeichneten Lebewesen, bei denen wir weder mit
dem Mikroskop noch mit den chemischen Reagentien
irgend eine Differenzierung des homogenen Plasma-
körpers nachzuweisen vermögen. Er stellt sie als
Typus der einfachsten Organismen in Vergleich mit
den Kristallen, dem Typus der vollkommensten an-
organischen Individuen. Dieser Vergleich führt ihn
zu dem Ergebnis, dass nur graduelle Unterschiede
das Reich der Organismen von dem der Anorgane
trennen, dass alle uns bekannten Naturkörper der
Erde, belebte und leblose, in allen wesentlichen
Grundeigenschaften der Materie übereinstimmen.
Die Unterschiede, die zwischen beiden Hauptgruppen
von Natur kör per n hinsichtlich ihrer Formen und Funk-
tionen existieren, sind nach Haeckel lediglich die
unmittelbare und notwendige Folge der materiellen
Unterschiede, die zwischen beiden durch die ver-
schiedenartige Verbindungsweise der in sie eintreten-
den Elemente bedingt werden. ' iDaraus schliesst
er auf die Möglichkeit der Entstehung organischer
Wesen aus anorganischem Stoff, auf die Möglich-
keit einer Urzeugung. Mit ihr glaubt er die Darwin-
sche Lehre nach unten abgeschlossen zu haben.
— 220 —
Aus dem gemeinsamen Urgrund der niedersten
Lebewesen erheben sich nach Haeckel drei Reiche:
das Pflanzen-, Tier- und Protistenreich. Bisher hatte
man nur Tiere und Pflanzen unterschieden. Haeckel
schafft jetzt ein drittes Reich, ein Zwischenreich, wozu
er zunächst alles rechnet, was weder dem Pfianzen-
noch dem Tierreich sicher zugezählt werden kann.
£r charakterisiert diese drei Reiche chemisch, mor-
phologisch und physiologisch , vergleicht sie unter-
einander und beleuchtet ihre Wechselwirkung. Aus
der Dreiteilung der Organ ismenweit ergeben sich ihm
drei koordinierte Hauptzweige der Biologie : Zoologie,
Botanik und Protistik. Das Hauptgewicht legt er
bei der Präzisierung ihrer Aufgaben auf den univer-
salen Charakter dieser Wissenschaften: Zoologie ist
ihm die Gesamtwissenschaft von den Tieren, Botanik
die Gesamtwissenschaft von den Pflanzen , Protistik
die Gesamtwissen^chaft von den Protisten. Jede
dieser drei Wissenschaften hat die vollständige und
allseitige Erkenntnis des ihr zugeteilten Organismen-
reiches zur Aufgabe, Gegenüber den einseitigen und
icleinlichen Vorstellungen, die unter den deutschen
Gelehrten damals über den Umfang und die Auf-
gaben dieser Disziplinen herrschten, war diese Be-
tonung ihrer Universalität eine reformatorische Tat.
Nun erst wendet sich Haeckel den einzelnen
Zweigen der morphologischen Wissenschaft zu, zu-
nächst der Anatomie oder Formenlehre des voll-
endeten Organismus. Sie gliedert sich nach ihm in
die Tektologie oder Struktur lehre, die Wissenschaft
— 221 —
von der Zusammensetzung des Organismus aus gleich*
artigen und ungleichartigen Teilen, und die Pro-
morphologie oder Grundformenlehre, die Wissen-
schaft von den stereometrischen Grundformen, die
unter den scheinbar ganz unzugänglichen Kurven-
systemen der komplizierten Formen der organischen
Individuen versteckt liegen. Während die Tekto-
logie die innre Form des ganzen Organismus unter-
sucht, das heisst die Gesetze, nach denen der ganze
Organismus aus allen Formbestandteilen oder In-
dividuen verschiedner Ordnung (Piastiden, Organe,
Antimeren, Metameren, Personen, Stöcke) zusammen-
gesetzt ist, beschreibt und erklärt die Promorpho-
logie die äussre Form des ganzen Organismus und
aller seiner einzelnen Formbestandteile an sich und
sucht diese Formen auf geometrische Grundformen
zurückzuführen. Beide Wissenschaften sind in grossen
Teilen Haeckels ureigenste Schöpfung, kaum einer
hat ihm hier vorgearbeitet, kaum einer ist ihm hier
nachgefolgt.
Mit der Promorphologie schliesst der erste Band
des Werkes. Der zweite ist in viel höherm Grade
darwinistisch als der erste, indem er die Entwicklungs-
geschichte der Organismen behandelt. Vor Darwin
gab es nur einen Zweig dieser Wissenschaft: die
Ontogenie oder Entwicklungsgeschichte der orga-
nischen Individuen. Durch Darwin kam ein zweiter
Zweig hinzu: die Phylogenie oder Entwicklungs«
geschichte der organischen Stämme. Haeckel legt im
fünften und sechsten Buch seines Werkes die Grund-
— 222 —
begrifife beider Wissenschaften fest. Im öntogene^
tischen Teil weist er sogleich dttf die fundamentale
Bedeutung hin, die die Descendenztheorie für die
Erklärung der individuellen Entwicklung besitzt, in-
dem sie in der Ontogenie eine kurze und schnelle
Wiederholung der Phylogenie erblickt. Das be-
rühmte biogenetische Grundgesetz, dessen weitre
Ausbildung zur Lebensaufgabe Haeckels werden sollte,
wird hier zum ersten Mal formuliert. Dann werden wir
eingeführt in die Mysterien der Zeugungslehre: Evolu*
tion und Epigenesis, Embryologie und Metamorpholo-
gie, Metamorphose, Metagenesis und Strophogenesis,
die Arten der Zeugung und Zeugungskreise, die Funk*
tionen und Stadien der Entwicklung werden abge*
handelt. Eine eingehende Darstellung der Descen-
denz- und Selektionstheorie schliesst sich an. Scharf
formuUerte Gesetze der Vererbung und Anpassung
suchen die Haupterscheinungen dieser bis dahin
noch wenig erforschten Gebiete festzuhalten. Auf
die rudimentären Organe wird eine Dysteleologie
oder Unzweckmässigkeitslehre gegründet und schliess-
lich die Descendenztheorie als das Fundament und
die kausale Begründung der organischen Morpho-
logie gefeiert.
Weit grössre Schwierigkeiten als die Reform der
Ontogenie bot die Begründüng der Phylogenie. Galt
es doch den ersten Versuch, die allgemeinen Grund»
lagen dieser Wissenschaft festzulegen. Naturgemäsd
knüpft Haeckel hier den Faden an die bereits be-
stehende Wissenschaft der Paläontologie an. Er
— 223 —
bespricht das paläontologische Material, die Kata-
klysmen- und Kontinuitätsjtheorie und die Perioden
der Erdgeschichte. Dann gibt er eine eingehende
Kritik des Speziesbegriffs im allgemeinen, sowie des
morphologischen, physiologischen und genealogischen
Speziesbegriffs im besondern. Er behandelt ferner
die Prinzipien der Klassifikation, beleuchtet das
natürliche System als Stammbaum und wendet sich
in scharfer Kritik gegen die klassifikatorischen Theo-
rieen des Naturforschers Loois Agassiz, nach denen
nicht allein der Spezies, sondern auch den über-
geordneten Kategorieen des Genus, der Familie, Ord-
nung, Klasse und des Typus eine reale, in der Natur
begründete und nicht künstlich von den Systema-
tikern geschiedne Existenz zukommt. Zuletzt ver-
sucht er Zahl, Umfang und Inhalt der selbständigen
organischen Phylen des Tier-, Pflanzen- und Protisten-
reiches festzustellen.
Eine Ergänzung dieses phylogenetischen Teiles
bilden die acht Stammbaumtafeln, die dem zweiten
Bande angehängt sind. Sie waren die ersten Ver-
suche dieser Art und gründen sich auf eine um-
fassende genealogische Übersicht des natürlichen
Systems der Organismen, die den zweiten Band ein-
leitet. ,Der Entwurf der organischen Stammbäume,^
bemerkt Haeckel im Vorwort , „obwohl gegen-
wärtig noch äusserst schwierig und bedenklich, wird
meines Erachtens die wichtigste und interessanteste
Aufgabe für die Morphologie der Zukunft bilden.^
Ein besondres Buch des Werkes ist dem Menschen
— 224 —
XLTid der von ihm handelnden Wissenschaft, der An-
thropologie gewidmet. Wie der Mensch ein Wesen
-der Natur, das höchste Produkt des Säugetierstammes
ist, so ist die Anthropologie ein Zweig der Natur-
wissenschaft, speziell der Zoologie. Völkergeschichte
\ind Nationalökonomie, Psychologie und Ethik sind
Naturwissenschaften. Damit ist bereits jene einheit-
liche Auffassung der Wissenschaft angedeutet, der
Haeckel im letzten Buch das Wort redet. Es gibt
nach^ ihm nur eine Wissenschaft, die Kosmologie
oder Naturphilosophie, die Weltkunde oder Gesamt-
-wissenschaft von der erkennbaren Welt. Sie zerfallt
in einen siderischen Teil: die Uranologie oder
Himmelskunde und einen tellurischen, die Pangeo-
logie oder Erdkunde. Jeder dieser beiden Zweige
gliedert sich wieder in einen graphischen und einen
genetischen Teil. Diese Einheit der Wissenschaft
entspricht allein der Einheit der Natur, wie der Mo-
nismus sie verkündet. Mit einem Hymnus auf die
monistische Weltanschauung und die auf sie ge-
gründete pantheistische Gottesidee klingt das Werk
-aus.
Noch während das Buch im Druck war, hatte
Haeckel die sich auf den Darwinismus beziehnden
Bogen an Darwin zur Einsicht gesendet. Darwin
antwortete:
„Ich empfing vor wenigen Tagen einen Probe-
bogen Ihres neuen Werkes und habe ihn mit grossem
Interesse gelesen. Sie häufen auf mein Buch über
Klie Entstehung der Aiten das grossartigste Lob, das
Ernst Haeckel
/:
fA .,roj^
— 225 —
€8 jemals empfangen hat, und ich bin dafür auf-
richtig dankbar, aber ich färchte, dass, wenn dieser
Teil Ihres Werks einmal kritisiert werden wird, Ihr
Beurteiler sagen wird, dass Sie sich zu stark aus-
gedrückt haben. Ihr Auszug scheint mir wundervoll
•deutlich und gut, und ein kleiner Umstand zeigt
mir, wie klar Sie meine Ansichten verstehen, näm-
lich, dass Sie die Tatsache und Ursache der Diver-
genz des Charakters in den Vordergrund stellen,
wie es keiner von allen getan hat. £s erscheint
mir jetzt seltsam genug, dass ich seit vielen Jahren
klar die Notwendigkeit einsah , eine Tendenz zur
Divergenz des Charakters anzunehmen, bis ich vor
•einigen Jahren die Erklärung finden konnte. Ich
habe mit vielem Interesse ihre Besprechung der
Vererbung gelesen, um so mehr als ich in meinem
nächsten Werke, welches nicht vor einem halben Jahr
veröffentlicht werden wird, einige Kapitel über diese
und andre verwandte Gegenstände gebe und deshalb
sehr viel Neugier empfinde, Ihre fernem Kapitel,
.sobald sie veröffentlicht sind, zu lesen . . .^
Nach eingehenderm Studium des Werks schrieb
Darwin abermals an Haeckel:
„Schon seit einiger Zeit beabsichtigte ich Ihnen
4iber Ihr grosses Werk zu schreiben, von dem ich
kürzlich einen guten Teil gelesen habe. Aber es
macht mich fast wütend , dass ich auf einmal bloss
2wei bis drei Seiten unvollkommen lesen kann. Das
Ganze würde unendlich interessant und nützlich für
mich sein. Was mich am meisten überrascht hat, ist
15
— 226 —
die besondre Klarheit, mit der selbst die weniger
wichtigen Prinzipien und die allgemeine Philosophie
des Gegenstandes von Ihnen ausgedacht und metho-
disch angeordnet worden sind. Ihre Kritik des
Kampfes ums Dasein bietet ein gutes Beispiel davon,
wie viel klarer Ihre Gedanken sind als meine. Ihre
gesamte Diskussion über Dysteleologie hat mich als
besonders gut in Erstaunen gesetzt. Aber es ist
aussichtslos, das eine oder andre besonders hervor-
zuheben, denn das Ganze scheint mir ausgezeichnet.
£s ist ebenso aussichtslos, den Versuch zu machen,
Ihnen für alle die Ehren zu danken, mit denen Sie
mich immer von neuem überschütten." Es folgen
dann die früher erwähnten kritischen Bemerkungen
über Haeckels dogmatische Schreibweise und seine
scharfe Beurteilung der Leistungen andrer.
In die Zeit zwischen diese beiden Briefe Darwins
fällt der erste Besuch Haeckels im Landhaus zu Down.
In weniger als Jahresfrist hatte er das Hauptwerk
seines Lebens niedergeschrieben. Seine Gesundheit
bedurfte der Stärkung, sein Gemüt, das durch den
Tod seiner jungen Gattin verdüstert war, der Erheite-
rung. So reiste er denn über London nach den kana-
rischen Inseln und benutzte die Gelegenheit, Darwin
persönlich kennen zu lernen. Zum ersten Mal traten
sie einander gegenüber: der Greis im Silberhaar,
der jugendliche Feuergeist mit den blonden Locken.
Ha^ckel hat uns später selbst diesen Besuch lebendig
geschildert.
„In Darwins eignem Wagen", erzählt er, „den
— 227 —
er mir vorsorglich nach der Eisenbahnstation gesendet
hatte, fuhr ich an einem sonnigen Oktobermorgen
durch die anmutige Hügellandschaft von Kent, die
mit ihren bunten Laubwäldern, dem roten Heidekraut,
dem gelben Ginster und den immergrünen Stein-
eichen im schönsten Herbstschmncke prangte. Als
der Wagen vor dem freundlichen , mit Epheu um-
sponnenen und von Ulmen beschatteten Landhause
Darwins hielt, trat mir aus der schattigen, von
Schlingpflanzen umrankten Vorhalle der grosse
Forscher selbst entgegen : eine hohe ehrwürdige Ge-
stalt, mit den breiten Schultern des Atlas, der eine
Welt von Gedanken trägt; eine Jupiterstirn, wie bei
Goethe, hoch imd breit gewölbt, vom Pfluge der
Gedankenarbeit tief durchfurcht; die freundlichen
sanften Augen von einem mächtigen Dache vor-
springender Brauen beschattet; der weiche Mund
von einem gewaltigen silberweissen Vollbart umrahmt.
Der einnehmende herzliche Ausdruck des ganzen
Gesichts, die leise und sanfte Stimme, die langsame
und bedächtige Aussprache, der naturliche und naive
Ideengang seiner Unterhaltung nahmen in der ersten
Stunde unsres Zwiegesprächs mein ganzes Herz ge-
fangen, wie sein grosses Hauptwerk früher gleich
beim ersten Lesen meinen ganzen Verstand im Sturm
erobert hatte. Ich glaubte einen hehren Weltweisen
des hellenischen Altertums , einen Sokrates oder
Aristoteles lebendig vor mir zu sehen. ^
Das Gespräch beider drehte sich in erster Linie
um die Fortschritte und Aussichten der Entwicklungs-
15*
— 228 —
lehre, die damals schlecht genug standen. Dan^in
bezeichnete höchst bescheiden seine ganze Arbeit
nur als einen schwachen Versuch, die Entstehung
der Tier- und Pflanzenarten auf natürliche Weise zu
erklären und meinte, der Berg von entgegenstehen-
den Vorurteilen sei zu hoch, als dass er hoffen
dürfe, einen namhaften Erfolg seines Versuchs zu
erleben. Das ihm von Haeckel in der Generellen
Morphologie gespendete Lob sei gar sehr übertrieben.
Als darauf Haeckel über die »miserablen Skribenten,
die Darwins Ideen verhöhnten und seinen Charakter
besudelten*, Worte der Entrüstung und des Zorns
nicht unterdrücken konnte, da lächelte Darwin und
suchte ihn mit den Worten zu beruhigen: „Mein
lieber junger Freund, glauben Sie mir, mit solchen
armen Leuten muss man Mitleid und Nachsicht
haben; den Strom der Wahrheit können sie nur
vorübergehend aufhalten , aber niemals dauernd
hemmen.**
Kurze Zeit nach diesem Besuch schrieb Darwin
an den Naturforscher Fritz Müller in Brasilien:
„Ich habe Ihre Abhandlung über Martha er-
halten; sie ist so wunderbar wie die wunderbarsten
Orchideen. Ernst Haeckel überbrachte mir den
Aufsatz und verlebte einen Tag mit mir. Ich habe
selten einen angenehmem, herzlichem und frei-
mütigem Mann gesehen. Er ist jetzt in Madeira,
wohin er, hauptsächlich um über Medusen zu ar-
beiten, gegangen ist . . .**
Noch zweimal, 1876 imd 1879, ist Haeckel später
— 229 —
mit Darwin persönlich zusammengetroffen, um ihm
von den gewaltigen Fortschritten zu erzählen, die
seine Lehre inzwischen in Deutschland gemacht hatte.
Wie Francis Darwin bemerkt, erfreute sich sein Vater
dieser Besuche gründlich und drückte oft emphatisch
das lebendige Gefühl der Hochachtung aus, das er
für seinen begeisterten und feurigen Schüler empfand.
Bis zum Tode Darwins standen sie im Briefwechsel,
und nie ist auch nur ein leiser Hauch der Trübung
in dieses Freundschaftsverhältnis getreten. Welch
innigen Anteil Darwin auch an den persönlichen
Interessen Haeckels nahm, das beweist folgende,
vom 19. November 1868 datierte Briefstelle:
ylch muss Ihnen wiederum schreiben und zwar
aus zwei Gründen. Erstens um Ihnen für Ihren
Brief über Ihren Jungen zu danken, der sowohl mich
als meine Frau völlig bezaubert hat. Ich beglück-
wünsche Sie herzlich zu seiner Geburt. Wie ich
mich aus meinem eignen Fall erinnre, war ich er-
staunt, wie schnell die väterlichen Instinkte ent-
wickelt werden, und in dem Ihrigen scheinen sie
ungewöhnlich stark zu sein. Ich kenne sehr wohl
den Blick auf eines Babys ,Hinterbeine', aber ich
möchte glauben, dass Sie der erste Vater waren, der
jemals über die Ähnlichkeit in ihrem Verhalten mit
denen eines Äffchens triumphierte. Was sagt denn
Frau Haeckel zu solchen entsetzlichen Lehren?
„Ich hoffe, die grossen blauen Augen und die
Prinzipien der Vererbung werden Ihr Kind gleich
Ihnen zu einem Naturforscher machen, aber nach
— 230 —
meiner eignen Erfahrung zu urteilen, werden Sie er-
staunt sein, zu finden, wie die gesamte geistige An-
lage unsrer Kinder mit den fortschreitenden Jahren
wechselt. Ein junges Kind und dasselbe im nahezu
erwachsnen Alter differieren manchmal fast so stark,
wie eine Raupe und ein Schmetterling/
Der zweite Teil dieses Briefes zeigt dann, wie
all die Versuche, Haeckel von Darwin wissenschaft-
lich zu trennen, ihn als den Repräsentanten einer
phantastisch - dogmatischen Naturphilosophie dem
.Vertreter objektiver Wissenschaft gegenüberzustellen,
Darwin nie berührt haben und dass er gerade in
bezug auf das Werk Haeckels, das den ersten An-
stoss zu diesen Versuchen gab , die natürliche
Schöpfungsgeschichte, durch sein direktes zustimmen-
des Zeugnis die Bestrebungen der Gegner Haeckels
zuschanden gemacht hat.
Haeckel, mit Recht empört über die laue Auf-
nahme, die sein fundamentales Werk in den Kreisen
der Fachgelehrten gefunden hatte, beschloss, sich
mit einem Auszug aus der Generellen Morphologie
an emen weitern Kreis gebildeter Laien zu wenden,
der durch das Interesse am Naturganzen und den
natürlichen Menschenverstand befähigt sei, die Ent-
wicklungslehre zu begreifen und als Schlüssel zum
Verständnis der Erscheinungswelt zu benutzen. So
entstand die Natürliche Schöpfungsgeschichte, deren
«rste Auflage 1868 erschien. Sie hat seitdem die
Weltrunde gemacht und Tausende zum selbständigen
Denken angeregt. Haeckel machte mit ihr einen
— 231 —
ersten klassischen Versuch , den Darwinismus zu
popularisieren und begründete damit zugleich seine
eigne Popularität. Aber auch hier ging er weit
über den Darwinismus hinaus, auch hier versuchte
er ein Ganzes, eine abgerundete Weltanschauung zu
bieten. Auch hier brachte er eignes in Fülle , vor
allem auf phylogenetischem Gebiet. In der histo-
rischen Einleitung gab er die erste und bis heute
nicht übertroffne Darstellung der Geschichte der
Entwicklungslehre bis auf Darwin.
Darwin selbst hat nie populäre Schriften ge-
schrieben. Ja, er war, wie sein Sohn Francis bemerkt,
wohl im allgemeinen stark dagegen eingenommen,
dass die Männer der Wissenschaft ihre Zeit dem
Schreiben von Handbüchern oder dem Lehren hin-
gäben, die sonst für selbständige Untersuchungen
angewendet würde. Doch hat er einmal an Huxley
in bezug auf ein populäres Handbuch über Zoo-
logie geschrieben: „Andrerseits denke ich zuweilen,
dass allgemeine und populäre Darstellungen beinahe
so bedeutungsvoll für den Fortschritt der Wissen-
schaft sind wie originale Arbeiten." Vollends
Haeckels Werk, das Popularität und Originalität ver-
einigte, musste ihn durchaus befriedigen.
„Von Ihrem letzten Buche," schrieb er ihm in
dem bereits erwähnten Brief, „habe ich ziemlich viel
gelesen; der Stil ist wundervoll klar und leicht für
michy aber warum es in dieser Beziehung so sehr
von ihrem grossen Werke abweicht, kann ich nicht
begreifen. Ich habe den ersten Teil noch nicht ge-
— 232 —
lesen, sondern habe mit dem Kapitel über Lyell
und mich angefangen, was mir, wie Sie wohl glauben,
sehr gefallen hat. Ich denke, Lyell, welcher äugen»
scheinlich sehr erfreut darüber war, dass Sie ihm
ein Exemplar geschickt haben, ist gleichfalls durch
die Kapitel sehr wohltuend berührt worden. Ihre
Kapitel über die Verwandtschaften und die Genealogie
des Tierreichs frappieren mich als bewundernswert
und voll von originalen Gedanken. Indessen macht
mich ihre Kühnheit manchmal zittern; wie aber
Huxley bemerkte, irgend jemand muss eben kühn
genug sein und Stammtafeln entwerfen.
„Obgleich Sie die Un Vollkommenheit der geo-
logischen Urkunden vollständig zugeben, so stimmte
Huxley doch in der Meinung mit mir überein, dass
Sie zuweilen ziemlich schnell sind, wenn Sie zu sagen
wagen, in welchen Perioden die verschiednen Gruppen
zuerst erschienen sind. Ich habe den Vorteil vor
Ihnen , dass ich mich erinnre , wie wunderbar ver-
schieden alle Angaben über diesen Gegenstand vor
zwanzig Jahren gelautet haben würden, gegenüber
dem, wie es jetzt der Fall ist, und ich erwarte, dass
die nächsten zwanzig Jahre einen völlig so grosseh
Unterschied wieder hervorbringen werden. Denken
Sie an die monokotyledone Pflanze, welche soeben
in der primordialen Formation von Schweden ent-
deckt worden ist.
„Ich wiederhole, wie sehr ich mich über die
Aussicht einer Übersetzung freue, denn ich bin völlig
der Meinung, dass dieses Werk und alle Ihre Werke
— 233 —
einen grossen Einfluss auf den Fortschritt der Wissen*
Schaft haben werden."
Als im Jahre 1873 die vierte Auflage der
Schöpfungsgeschichte in Darwins Hände gelangt war,
erhielt Haeckel folgenden Brief:
„Ich danke Ihnen für das Geschenk, das Sie
mir mit Ihrem Buche gemacht haben und freue mich
herzlich von seinem grossen Erfolg zu hören. Sie
werden wunderbar viel dazu beitragen , die Ent-
wicklungslehre zu verbreiten, dass Sie sie durch so
viele originale Beobachtungen unterstützen. Ich habe
die neue Vorrede mit sehr grossem Interesse gelesen.
Die Verzögrung in dem Erscheinen der englischen
Übersetzung ärgert und überrascht mich, denn ich
bin niemals imstande gewesen, es im Deutschen ganz
durchzulesen, und ich werde das zuversichtlich tun,
wenn es englisch erscheint."
Auch öffentlich scheute sich Darwin nicht, seiner
Bewundrung des Buches Ausdruck zu verleihen.
So schrieb er 1871 in der Einleitung zu seiner Ab-
stammung des Menschen :
„Der letztgenannte Naturforscher (Haeckel) hat
ausser seinem grossen Werke Generelle Morphologie
der Organismen noch neuerdings seine Natürliche
Schöpfungsgeschichte herausgegeben, in der er die
Genealogie des Menschen eingehend erörtert. Wäre
dieses Buch erschietien, ehe meine Arbeit nieder-
geschrieben war, würde ich sie wahrscheinlich nie zu
Ende geführt haben, fast alle die Folgerungen, zu
denen ich gekommen bin, finde ich durch diesen
— 234 —
Forscher bestätigt, dessen Kenntnisse in vielen
Punkten viel reicher sind als meine."
Haeckel war sehr befriedigt von dieser Aner-
kennung seiner Forschungen und schrieb einen herz-
lichen Dankbrief an Darwin. Dieser antwortete:
«Ich muss Ihnen einige Worte schicken, um
Ihnen für Ihren interessanten, und ich kann in
Wahrheit sagen, reizenden Brief zu danken. Ich
bin entzückt, dass Sie mein Buch gutheissen, so
weit Sie es gelesen haben. Ich habe darüber sehr
grosse Schwierigkeit und Zweifel empfunden, wie oft
ich das erwähnen müsste, was Sie veröffentlicht haben;
streng genommen hätte jede Idee, wenn sie mir
auch unabhängig gekommen ist, wenn sie von Ihnen
früher veröffentlicht worden ist, als aus Ihren Schriften
entnommen erscheinen müssen, dies würde aber das
Lesen meines Buchs zu einer sehr traurigen Arbeit
gemacht haben ; und Ich hoffte, dass eine vollständige
Anerkennung am Anfang genügen werde. Ich kann
Ihnen nicht sagen, wie froh ich bin, zu sehen, dass
ich meine hohe Bewundrung Ihrer Arbeiten mit
hinreichender Klarheit ausgedrückt habe; ich bin
überzeugt, dass ich sie nicht zu stark ausgedrückt
habe."
Das höchste Lob aber spendete Darwin seinem
deutschen Kampfgenossen einige Monate später in
folgenden Worten:
„Ich zweifle, ob meine Kräfte noch für viele
schwierige Werke ausreichen werden. . . . Ich werde
fortfahren zu arbeiten, so lange wie ich kann, aber
— 235 — •
es bedeutet nicht viel, wenn ich aufhöre, da so
viele gute, vollständig ebenso tüchtige und vielleicht
noch tüchtigere Männer als ich es bin, vorhanden
sind, uro unser Werk weiter zu führen^ und unter
diesen rangieren Sie als der erste.'*
Ausser der Natürlichen Schöpfungsgeschichte ver-
danken wir Haeckel noch ein zweites grosses populär-
wissenschaftliches Werk über darwinistische Probleme :
die im Jahre 1874 erschienene Anthropogenie oder
Entwicklungsgeschichte des Menschen. Wie die Schöpf-
ungsgeschichte ist sie kein populäres Buch im ge-
wöhnlichen Sinne des Wortes, das nur die Forschungs-
resultate andrer in gemeinverständlicher Sprache
wiedergibt, sondern ein Werk, das neben der Dar-
stellung des Bekannten zahlreiche Originalbeiträge
zur Förderung der menschlichen Phylogenie enthält.
Ihr Hauptzweck ist, die Fruchtbarkeit des biogene-
tischen Grundgesetzes an dem Beispiel des mensch-
lichen Organismus zu demonstrieren und die Tat-
sachen der menschlichen Ontogenie durch dies
Gesetz zu erklären. So ergeben sich zunächst zwei
Teile, ein ontogenetischer , der die menschliche
Keimesgeschichte, und ein phylogenetischer, der die
menschliche Stammesgeschichte behandelt. Beiden
ist ein historischer Überblick über die ältere und
neuere Keimes- und Stammesgeschichte voraus-
geschickt. Den Beschluss macht ein organogene-
tischer Teil, der die Entwicklung der einzelnen
Organe zum Gegenstand hat. Die Bedeutung dieses
Werkes besteht neben der tiefern Begründung des
— 236 —
biogenetischen Grundgesetzes und der Aufstellung
der tierischen Ahnenreihe des Menschen vor allem
darin, dass es den ersten Versuch enthält, die wich-
tigsten Tatsachen der menschlichen Keimesgeschichte
einem grössern Kreise verständlich zu machen, so
weit das bei der ausserordentlichen Kompliziertheit
der ontogenetischen Prozesse überhaupt möglich ist.
Dass ein solches Buch, das eine unerhörte Erscheinung
in der deutschen Literatur war, viel Widerspruch er-
fahren, heftige Angriffe erdulden musste, ist nicht zu
verwundern. Vor allen waren es solche Embryologen,
die von einem Kausalnexus zwischen Ontogenie und
Phylogenie nichts wissen wollten, sondern die onto-
genetischen Erscheinungen aus sich selbst zu erklären
versuchten, wie His und Götte, die als Hauptkämpen
gegen die Anthropogenie auftraten. Haeckel antwortete
mit Geschick und Sachlichkeit, wenn auch mit grosser
Schärfe in einer kleinen Schrift über die Ziele und
Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte.
Hand in Hand mit der Herausgabe der populär-
wissenschaftlichen Schriften Haeckels ging die Be-
arbeitung streng fachwissenschaftlicher Spezialwerke.
Die grossen Monographieen der Kalkschwämme,
Radiolarien, Medusen und Siphonophoren , die Ar-
beiten über Moneren, Tiefseehornschwämme, Am-
phorideen und Cystoideen sind nicht nur als wert-
volle Bereicherungen unsrer tatsächlichen Kenntnisse
dieser Tiergruppen, sondern auch als hervorragende
Beiträge zur Förderung der Entwicklungslehre, speziell
der Phylogenie, anzusehen. Vor allem gilt dies von
— 237 —
der 1872 erschienenen Monographie der Kalk-
schwämme , einem Werk , über das Darwin sich in
einem Brief an Haeckel folgendermassen äusserte:
„Ich empfing vor ungefähr zehn Tagen Ihr
prachtvolles Werk und bin aufrichtig erstaunt über
die Summe der Arbeit, die es Ihnen gekostet haben
muss. Die schönen Illustrationen müssen, wie ich
mir denke, allein Monate auf Monate harter Arbeit
erfordert haben. Ich habe mit grossem Interesse
die Teile, die Sie angestrichen haben, wie auch
einige andre durchgelesen. Alles, was ich gelesen
habe, ist äusserst reich an philosophischen Diskus-
sionen über viele Punkte. Ich wünsche Ihnen zu
der Vollendung dieses grossen Unternehmens herzlich
Glück und zweifle nicht, dass es bei den (ach! in
diesem Lande an Zahl wenigen) Naturforschern, die
imstande sind, es zu schätzen, Beachtung finden wird.
Sie sind ein wunderbarer Mann, aber nun erweisen
Sie sich auch als ein weiser Mann, indem Sie sich
einige Ruhe gönnen! Ihr bewundernder Freund
Charles Darwin."
Haeckel lieferte in diesem Werk über die Kalk-
schwämme nicht nur den analytischen Beweis für die
Veränderlichkeit der Spezies, indem er die ausserordent-
liche Flüssigkeit der Formen und die Unmöglichkeit
scharfer Artbestimmung nachwies, sondern stellte auch
auf Grund der individuellen Entwicklungsgeschichte
der Kalkschwämme eine neue Theorie auf, die zu
den wichtigsten und fundamentalsten Theorieen der
Phylogenie überhaupt gehört: die Gastraeatheorie.
— i38 ~
In der Entwicklung der Kalkschwämme tritt eine
* Form auf, die im allgemeinen die Gestalt eines von
einer zweischichtigen Wand begrenzten Bechers hat
und deshalb von Haeckel als Becherkeim oder Ga-
st rula bezeichnet wurde. Sie umschliesst eine einfache
verdauende Höhle, den Urdarm oder Urmagen, der
durch eine Öffnung, den Urmund, mit der Aussen-
welt kommuniziert. Haeckel konnte nun zeigen,
dass diese Form auch in der ontogenetischen Ent«^
Wicklung aller übrigen Gewebstiere oder Metazoen
auftritt, wenn auch oft in sehr modifizierter Gestalt,
und schloss daher nach dem biogenetischen Grund-
gesetz auf eine gemeinsame nach dem Typus der
Gastrula gebaute Stammform aller dieser Tiere : die
Gastraeä. Diesen phylogenetischen Schluss wusste
er weiter dadurch zu rechtfertigen, dass noch heute
einzelne Gastraeaden existieren sowie älteste Formen
andrer Tierstämme, deren Organisation sich nur wenig
über sie erhebt. Diese Theorie, deren ersten Ent-
wurf Haeckel später weiter ausgeführt und in einer
Reihe von ,, Studien zur Gastraeatheorie*^ fester zu be-
gründen versucht hat, hat viel Staub aufgewirbelt,
viel Zustimmung" einerseits, heftige Angriffe andrerseits
erfahren, sie gehört zu den Theorieen Haeckels,
durch die er ausserordentlich anregend und belebend
auf den Entwicklungsgang der darwinistischen Wissen-
schaft eingeYirirkt hat.
Den Abschluss aller dieser phylogenetischen
Studien Haeckels bildet die 1896 vollendete drei-
bändige ^Systematische Phylogenie der Organismen^.
— 239 —
Sie legt Zeugnis ab von den gewaltigen Fortschritten,
die die phylogenetische Wissenschaft gemacht hatte
seit Haeckel in der Generellen Morphologie ihre
ersten Grundlinien zog. Die Klarheit und Durch-
sichtigkeit der Darstellung, die Fülle des empirischen
Materials und die Tiefe der Spekulation werden auch
den für dieses Werk begeistern, der den Folgerungen,
zu denen Haeckel gelangt, die er aber ausdrücklich
als seine subjektive Meinung bezeichnet, nicht in
allen Punkten beizustimmen vermag.
Während Haeckel so durch Veröffentlichung
populär- und fachwissenschaftlicher Werke für die
Ausbreitung und tiefre Begründung der Entwicklungs-
lehre rastlos tätig war, versäumte er nicht, von Zeit
zu Zeit Heerschau über die Fortschritte dieser Lehre
zu halten und ihre Beziehungen zu den grossen
Fragen der Weltanschauung zu beleuchten. Die
beste Gelegenheit dazu boten die Versammlungen
deutscher Naturforscher und Ärzte. Haeckel ist hier
nach jenem ersten kühnen Vorgehen in Stettin noch
zweimal für die Darwinsche Theorie in die Schranken
getreten, 1877 in München, 1882 in Eisenach.
Die fünfzigste Versammlung deutscher Natur-
forscher und Ärzte in München erhielt durch den
Prinzipienstreit zwischen Haeckel und Virchow ein
eigenartiges, hochbedeutsames Gepräge. Ein Kampf
wurde hier ausgefochten, der den innersten Lebens-
nerv aller Geisteskultur berührte, die Freiheit der
Wissenschaft und ihrer Lehre. Insofern die Gegen-
sätze in der Auffassung der wissenschaftlichen Sicher-
— 240 —
heit der Descendenztheorie sich zu dieser fundamen-
talen Frage zuspitzten, erlangten die Verhandlungen
der Münchner Versammlung eine weittragendre Be-
deutung als die berühmten Disputationen zwischen
Luther und Eck in Leipzig, zwischen Cuvier und
Geoffroy de St. Hilaire in Paris.
Es hätte wohl kaum ein geeigneteres Thema
zur feierlichen Eröffnung der fünfzigsten Versammlung
deutscher Naturforscher und Ärzte gewählt werden
können, als das, mit dem Haeckel am 18. September
die Reihe der öffentlichen Vorträge einleitete. Die
heutige Entwicklunglehre im Verhältnis zur Gesamt-
wissenschaft lautete der Titel seiner Rede. Sie trägt
ein ganz andres Gepräge als der vierzehn Jahre
früher gehaltne Vortrag. Hatte Haeckel dort die
grundlegenden Beweise für die Darwinsche Lehre im
einzelnen aufzählen müssen, so konnte er siöh jetzt
auf die kurze Bemerkung beschränken, dass die
Entwicklungstheorie mit allen fundamentalen Tat-
sachen der biologischen Disziplinen im Einklang
steht. Denn die Descendenzlehre hatte inzwischen
ihren Siegeszug auf allen Gebieten der Wissenschaft
fast vollendet und war als wichtigste Basis der Er-
kenntnis überall anerkannt worden. Nur die ganz
Exakten standen ihr noch skeptisch gegenüber.
Diesen setzt jetzt Haeckel auseinander, dass die
biologischen Wissenschaften in ihrem weitaus grössten
Teil überhaupt nicht exakt begründet werden können,
dass in ihnen vielmehr an die Stelle der exakten,
mathematisch-physikalischen die historische, ge-
— 241 —
schichtlich-philosophische Methode zutreten hat. Denn
ihre Aufgabe ist die Erkenntnis geschichtlicher Vor-
gänge, die sich im Laufe vieler Millionen Jahre, lange
vor Entstehung des Menschengeschlechts auf der
Erde abgespielt haben. Vor allem gilt dies von der
Phylogenie oder Stammesgeschichte der Organismen,
die ebensowenig wie die Geologie exakt oder experi-
mentell begründet werden kann. Beide sind historische
Naturwissenschaften und knüpfen somit ein einigendes
Band zwischen den exakten Naturwissenschaften einer-
seits und den historischen Geisteswissenschaften
andrerseits.
Damit sind aber nach Haeckel die Beziehungen
zwischen Entwicklungslehre und Gesamtwissenschaft
noch keineswegs erschöpft. Vielmehr sieht er das
Flauptmoment dieser Beziehungen darin, dass die
Entwicklungslehre die uralte Frage nach der Herkunft
des Menschen zum ersten Mal im naturwissenschaft-
lichen Sinn gelöst hat. Und zwar nicht nur, wie
viele glauben, die Herkunft des menschlichen Körper-
baus , sondern auch die seiner Geistestätigkeit.
Haeckel erinnert hier an die physiologische Tatsache,
dass unser Seelenleben untrennbar an die Organi-
sation unsres Centralnervensystems geknüpft ist und
gelangt dadurch zur Erörterung der Seelenfrage
überhaupt. In der Zellseele sieht er das Fundament
der empirischen Psychologie. Aber die Zellseele
selbst ist wieder zusammengesetzt aus den Seelen
der die Zelle aufbauenden Moleküle, den Plastidul-
seelen, und diese wieder aus den Atomseelen. So
16
— 242 —
gelangt Haeckel zu der hylozoistischen Darstellung
einer allgemeinen Beseelung aller Materie, zu einer
einheitlichen Auffassung aller körperlichen und
geistigen Prozesse. Der Atome Hassen und Lieben,
Anziehung und Abstossung der Moleküle, Bewegung
und Empfindung der Zellen und der aus Zellen zu-
sammengesetzten Organismen, Gedankenbildung und
Bewusstsein des Menschen sind ihm nur verschiedne
Stufen eines universalen Entwicklungsprozesses. In
diesem Monismus sieht er die Aufhebung des Gegen-
satzes zwischen den dualistischen Weltsystemen des
Materialismus und Spiritualismus , die Verbindung
des praktischen Idealismus mit dem theoretischen
Realismus, die Verschmelzung der Naturwissenschaft
und Geisteswissenschaft zu einer allumfassenden ein-
heitlichen Gesamtwissenschaft.
An diesen kühnen theoretischen Gedankengang,
der vor den letzten Konsequenzen nicht zurück-
schreckt, schliesst sich eine praktische Forderung
von fast noch grössrer Kühnheit. Die Forderung,
der Entwicklungslehre als dem wichtigsten Bildungs-
mittel die Pforten der Schule zu öffnen, sie dort
nicht nur zu dulden, sondern zum massgebenden und
leitenden Faktor zu erheben. Wie weit die Grund-
züge der Entwicklungslehre in die Schulen einzu-
führen, in welcher Reihenfolge ihre wichtigsten Zweige
in den verschiednen Klassen zu lehren sind , will
Haeckel nicht entscheiden. Aber eine weitgreifende
Reform des Unterrichts auf Grundlage der genetischen
Methode hält er für unerlässlich und erhofft von ihr
— 243 —
die schönsten Erfolge. Vor allem glaubt er,.dass
die Entwicklungslehre als historische Naturwissen-
schaft versöhnend und vermittelnd zwischen die beiden
Richtungen treten wird, die um die Herrschaft in
der hohem Schulbildung ringen , die klassische,
historisch-philosophische und die exakte, mathematisch-
physikalische. Aber auch für die sittliche Bildung
erblickt er in der Entwicklungslehre eine sichre
Grundlage. Denn diese Lehre verkündet uns, dass
das natürliche Sittengesetz, das viel älter ist als alle
Kirchenreligion, sich aus den sozialen Instinkten der
Tiere entwickelt hat und ermöglicht so eine vernunft-
gemässe Begründung der Sittenlehre auf der un-
erschütterlichen Basis fester Naturgesetze. Wie die
theoretische Gesamtwissenschaft wird daher auch die
praktische Philosophie ihre wichtigsten Grundsätze
nicht mehr aus angeblichen Offenbarungen, sondern
aus den natürlichen Erkenntnissen der Entwicklungs-
lehre ableiten müssen. In diesem Sieg des Monismus
über den Dualismus sieht Haeckel die hoffnungs-
vollste Aussicht auf einen un^endlichen Fortschritt
unsrer moralischen und intellektuellen Entwicklung
und begrüsst am Schluss seiner Rede die heutige,
von Darwin neu begründete Entwicklungslehre als
die wichtigste Förderung unsrer reinen und an-
gewandten Gesamtwissenschaft.
«
In grossen Zügen fasst diese Rede die An-
schauungen zusammen, die Haeckel in seinen zahl-
reichen Schriften bereits früher ausführlich entwickelt
hatte. Neu ist nur die praktische Forderung der
16*
— 244 —
Aufnahme der Entwicklungslehre in den SchuK
Unterricht. Aber grade diese Forderung war es,
die selbst ergraute Häupter der Wissenschaft in der
schrankenlosen Freiheit der wissenschaftlichen Lehre
plötzlich eine Gefahr wittern Hess. Diese Freiheit
schien ihnen nur so lange bequem, als die Wissen*
Schaft im engen Professorenkämmerlein ihr friedliches
Dasein fristete, sie wurde ihnen zu einer gefahrlichen
Macht bei dem Gedanken an das Hinausdringen
wissenschaftlicher Resultate in die breiten Massen
des Volkes. Kein Geringrer als Rudolf Virchow
gab sich zum Anwalt dieser Furchtsamen her. Vier
Tage nach Haeckel, in der dritten allgemeinen
Sitzung der fünfzigsten Naturforscherversammlung
hielt er seine berühmte Rede über die Freiheit der
Wissenschaft im modernen Staat.
Wenn man den Eingang dieser Rede liest, so
glaubt man, Virchow wolle eine Lanze für die Lehr-
freiheit einlegen. Denn er feiert hier Lorenz Oken,
den Begründer der Versammlungen deutscher Natur-
forscher und Ärzte, als einen jener Märtyrer und
Blutzeugen, die die Freiheit der Wissenschaft für
uns erkämpft haben. Aber dann kehrt Virchow die
Spitze seiner Lanze gegen diese Freiheit selbst.
Haeckels Lehren scheinen ihm eine zu weite Be-
nutzung der Freiheit, die uns die jetzigen Zustände
darbieten, und er erhebt seine warnende Stimme,
nicht in der Willkür beliebiger persönlicher Speku-
lationen fortzufahren, die sich jetzt auf vielen Ge-
bieten der Naturwissenschaft breit mache. Er em-
— 245 —
pfiehlt Mässigung und einen gewissen Verzicht auf
Liebhabereien und persönliche Meinungen. »Wir
dürfen nicht vergessen/ ruft er aus, „dass es eine
Grenze zwischen dem spekulativen Gebiet der Natur-
wissenschaft und dem tatsächlich errungnen und
vollkommen festgestellten Gebiete gibt.** Nur für
das letzte, nur für das, was wir als gesicherte wissen-
schaftliche Wahrheit betrachten, was durch den Ver-
such als das höchste Beweismittel zu unumstösslicher
Gewissheit gebracht ist, fordert er die Freiheit der
Lehre. Probleme dagegen sollen nur Gegenstand
der Forschung, nicht der Lehre sein. Wenn wir
lehren, so sollen wir uns an jene kleinern und doch
schon so grossen Gebiete halten, die wir wirklich
beherrschen.
Zu den Problemen der Forschung, die noch
nicht sicher bewiesen, nicht durch den Versuch als
das höchste Beweismittel festgelegt sind, rechnet
Virchow vor allen auch die Descendenzlehre. »Wir
können nicht lehren,^ sagt er, „wir können es nicht
als eine Errungenschaft der Wissenschaft bezeichnen,
dass der Mensch vom Affen oder von irgend einem
andern Tiere abstamme. Wir können das nur als
ein Problem bezeichnen, es mag noch so wahr-
scheinlich erscheinen und noch so nahe liegen.^
Nur wenn die Descendenzlehre eine völlig stabilierte
Lehre sei, so sicher, dass wir sie beschwören könnten,
dass wir sagen könnten, so ist es, nur dann dürfe
sie, ja dann müsse sie gelehrt, jedem Kinde mit-
gegeben und zur Grundlage unsrer ganzen Vor-
— 246 —
Stellung von der Welt, der Gesellschaft, dem Staate
gemacht werden. Und das, trotzdem sie eine un-
gemein bedenkliche Seite habe, nämlich eine sozia-
listische Tendenz.
Wer bis jetzt noch daran gezweifelt hat, dass
Virchows Rede sich gegen die Freiheit der Lehre
wendet, dem werden die unglaublichen Worte über
die bedenkliche Seite der Descendenzlehre diesen
Zweifel benehmen. ^Nun stellen Sie sich einmal
vor,** sagte Virchow, „wie sich die Descendenztheorie
schon heute im Kopf eines Sozialisten darstellt. Ja,
meine Herren, das mag manchem lächerlich er-
scheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen,
dass die Descendenztheorie für uns nicht alle die
Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorieen im
Nachbarland angerichtet haben. Immerhin hat auch
diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt
wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und dass der
Sozialismus mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird
Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen
uns das ganz klar machen.** Was diese Denunziation
damals zu bedeuten hatte, begreift man, wenn man
sich erinnert, dass bald nachher die Attentate
Hödels und Nobilings den Hass gegen den Sozialismus
zur Siedehitze entbrennen Hessen.
Den Jubel aller reaktionären Elemente über
Virchows Rede kann man sich vorstellen. „Es ist
ein konservativer Zug im besten Sinne des Wortes,"
schrieb die neue evangelische Kirchenzeitung, „der
durch diese Äusserungen des gelehrten Fortschritts-
— 247 —
mannes hindurchklingt. ^ Und die Germania schloss
ihren Artikel mit den Worten: ^So viel steht fest:
die Haeckelianer , resp. Affenfanatiker, haben in
München eine grosse Niederlage erlitten.* Dagegen
traten die Organe des Forschritts für Haeckel ein.
„Es wäre ein gewichtiges Wort gewesen," schrieb
die Frankfurter Zeitung, „das Virchow an der Seite
Haeckels zugunsten des geistigen Fortschritts, nament-
lich in bezug auf das in der Schwebe befindliche
ünterrichtsgesetz in die Wagschale hätte werfen
können; er hat es nicht getan, er hat im Gegenteil
angeklagt und zu hemmen versucht, wo noch die
Beschleunigung not tut. Ob Virchows Angstruf Erfolg
hat? Schwerlich! Die Wissenschaft lässt sich nicht
mehr in das Professorenkämmerlein sperren, mit
ihrem feinen Geäder ist sie in alle Ritzen des Ge-
sellschaftsgbäudes eingedrungen und will zu einer neuen
luftigen Halle heranwachsen. Wer vernünftig ist,
der hemmt nicht den Strom, sondern sucht ihn zu
leiten."
Haeckels Antwort auf Virchows Münchner Rede
erschien im folgenden Jahr unter dem Titel: „Freie
Wissenschaft und freie Lehre". Es ist dies vielleicht
die schönste Streitschrift, die Haeckel geschrieben,
die schönste vielleicht, die der ganze Darwinismus-
kampf gezeitigt hat. Hier kommt Haeckels Kampf-
natur zu herrlicher Geltung, hier fuhrt er die Waffen
so scharf und schneidig für eine grosse Sache der
Kultur und doch gegen einen Gegner, dessen Grösse
er nicht leugnet, für den die Verehrung in ihm noch
— 248 —
nicht erstorben ist. Nur die Sache trifft er, nicht
die Person, nur mit tiefer Trauer sieht er einen
Virchow unter den Feinden der höchsten Güter des
n;iodernen Staates. Amicus Plato, amicus Socrates,
magis amica veritas, dieser Gesichtspunkt leitet ihn.
Im Eingang der Schrift preist Haeckel sein liebes
Jena als unabhängige Zufluchtsstätte freier Wissen-
schaft und freier Lehre. Dann zeigt er in lichtvoller
Weise, dass die Descendenztheorie und die aus ihr
gezognen Konsequenzen, wie die Affenabstammung
des Menschen und die Cellularpsychologie , doch
tiefer und besser begründet sind, als Virchow zu*
geben will. Die Erklärung für die rätselhafte Stellung
Virchows im Kampf um den Transformismus sieht
er in der Entfremdung des Berliner Gelehrten von
dem Zweig der biologischen Wissenschaft, in dem
die Descendenzlehre die tiefsten Wurzeln ihrer Kraft
besitzt, der Morphologie. Mit Entscbiedenheit wendet
er sich gegen die Virchowsche Forderung, nur das
objektiv Festgestellte zu lehren und führt in glänzen-
der Beweisführung aus, dass es keine Grenze zwischen
dem spekulativen Gebiet der Naturwissenschaft und
dem tatsächlich errungnen und vollkommen fest-
gestellten Gebiete gibt. Mathematik, Physik und
Chemie, Geologie und Biologie, Philosophie und Ge-
schichte, Sprach-, Staats- und Rechtswissenschaft lässt
er Revue passieren, um zu zeigen, dass sie undenk-
bar wären, wenn sie sich auf die Sammlung nackter
Tatsachen beschränken und auf Theorieen und
Hypothesen verzichten wollten. Und grade in der
— 249 —
Lehre der Probleme, der unsichern Theorien und
wechselnden Hypothesen, die zur Erklärung dieser
Probleme dienen, sieht er den Reiz und Wert des
Unterrichts. Für den jugendlich strebenden Geist
könne es nichts Bildendres und Bessres geben, als
die Übung des Denkens an den Problemen der
Forschung.
Eine scharfe Zurückweisung erfährt auch Virchows
Verquickung der Descendenzlehre mit der Sozial-
demokratie. Haeckel sieht im Darwinismus eher
eine aristokratische als eine demokratische oder gar
sozialistische Tendenz. Aber er betont zugleich
mit Recht, dass die politischen Konsequenzen, die
aus einer wissenschaftlichen Theorie gezogen werden
können, den Forscher überhaupt nichts angehen,
dass dieser vielmehr allein die Aufgabe hat, nach
der Wahrheit zu forschen und das, was er als Wahr-
heit erkannt hat, zu lehren, unbekümmert darum^
welche Folgerungen etwa die verscbiednen Parteien
in Staat und Kir-che daraus ableiten mögen.
Zum Schlu^s seiner Schrift stellt Haeckel die
Virchowsche Rede in Parallele mit der berühmten
Ignorabimusrede , die Du Bois Reymond 1872 auf
der 45- Versammlung deutscher Naturforscher
in Leipzig gehalten hatte. Er sieht in dieser
Rede nur den ersten Teil desselben Berliner Kreuz-
zugs gegen die Freiheit der Wissenschaft, dessen
zweiten Teil Virchows Restringamurrede darstellt.
Er erinnert an frühre Zeiten, in denen grade die
Berliner Gdehrtenwelt den wichtigsten Fortschritten
— 250 —
der Wissenschaft sich mit besondrer Kraft entgegen-
stemmte, an den berühmten Grundsatz Stahls: die
Wissenschaft muss umkehren, und an die Behandlung,
die Caspar Friedrich WolfFin Berlin zuteil wurde. So be-
klagenswert ihm ein derartiges Verhalten der Berliner
Gelehrtenwelt auch erscheint, so sieht er darin doch
andrerseits die Bewahrung vor dem grossen Übel
der Centralisation der Wissenschaft. Und er schliesst
seine glänzende Streitschrift mit den begeisterten
Worten: „Wenn Emil du Bois Reymond sein Ignora-
bimus und Rudolf Virchow sein noch viel weiter
gehendes Restringamur zur Parole der Wissenschaft
erheben wollen, so tönt ihnen aus Jena wie aus
hundert andern Bildungsstätten der Ruf entgegen:
Impavidi progrediamur."
Darwin konnte natürlich nicht unberührt bleiben
von diesem Geisteskampf zwischen zweien der her-
vorragendsten Vertreter der deutschen Wissenschaft
und des deutschen Universitätswesens. Er las Haeckels
Streitschrift in der englischen Übersetzung mit dem
grössten Interesse und fand diesmal kein Wort zu
scharf, keinen Satz zu schroff. „Ich stimme mit
allem überein, was darin steht^, schrieb er an den
Verfasser. Mit bei ihm ungewöhnlicher Bitterkeit
sprach er sich über Virchow aus, den Mann, dem
er früher eine besondre Verehrung gewidmet habe.
Er hoffe, dass Virchow eines Tages selbst Scham
empfinden werde über das, was er getan habe. Und
in bezug auf Virchows Verquickung von Descendenz-
lehre und Sozialdemokratie schrieb er an Dr. Scherzer,
— 251 —
den Verfasser der Novarareise: „Was für eine törichte
Idee über den Zusammenhang zwischen Sozialismus
und Entwicklung durch natürliche Zuchtwahl scheint
in Deutschland zu herrschen."
Fünf Jahre nach den Münchner Ereignissen
sprach Haeckel abermals auf einem Naturforscher-
kongress. Hatte er in seinem Stettiner Vortrag für
die Darwinsche Lehre die erste Lanze eingelegt, in
seiner Münchner Rede die Fortschritte der Ent-
wicklungstheorie gefeiert und ihre Einführung in den
Schulunterricht verlangt, so gab er jetzt in Eisenach
in seinem Vortrag über die Naturanschauung von
Darwin, Goethe und Lamarck eine Apotheose des
grossen Reformators der Biologie.
Am 19. April 1882 war Charles Darwin aus
seinem tatenreichen Leben geschieden. Zwei Monate
vorher hatte Haeckel ihm von der Spitze des Adams-
piks auf Ceylon den Gruss zum 73. Geburtstag
gesandt, den letzten Gruss, den der dankbare Schüler
dem geliebten Lehrer und Meister übermittelt. Auf
der Heimreise von Indien ereilte ihn die schmerzliche
Nachricht vom Ende des Mannes, der seinem Leben
das Gepräge gegeben hatte. Im September desselben
Jahres hielt er ihm die Weiherede und feierte darin
zugleich den siegreichen Abschluss der transformisti-
schen Kämpfe der vorausgehnden beiden Dezennien.
Keine Stätte konnte wohl für dies Darwin geschul-
dete Dankopfer geeigneter sein, als Eisenach mit seiner
Wartburg. Hatte man doch vielfach das Reform-
werk Darwins mit dem Luthers in Parallele gestellt.
— 252 —
Auch Haeckel leitet mit diesem Gedanken seine
Rede ein, um dann den beispiellosen Erfolg zu
schildern, den Darwin in dem kurzen Zeitraum von
dreiundzwanzig Jahren errungen hatte. Die Ursache
dieser ausserordentlichen Wirkung der Darwinschen
Lehren sieht er nicht zum wenigsten in den seltnen
Charaktereigenschaften des Mannes, der eine solche
Riesenaufgabe löste. Nur ein Denker, der wie
Darwin zugleich ein kenntnisreicher und scharfsinniger
Naturforscher, wie ein weitblickender und umfassen-
der Philosoph war, konnte dieser Aufgabe gerecht
werden. Eine seltne Beobachtungs- und Urteilskraft
verband sich bei ihm mit unermüdlicher Ausdauer
in der Verfolgung der gesteckten Ziele, peinlichster
gewissenhaftigkeit in der Zusammenstellung der Ge-
sicherten Ergebnisse, reinstem Streben nach natür-
licher Wahrheit und einfacher Offenheit in Mitteilung
der Endresultate. Nicht minder rühmt Haeckel die
ausserordentliche Bescheidenheit, mit der Darwin
seine Ansichten vortrug, und die milde Sanftmut, mit
der er auf die scharfen sachlichen Angriffe seiner
Gegner antwortete, während er die persönlichen Be-
schimpfungen einfach ignorierte. Anmutig belebt
wird diese Charakteristik durch die Schilderung des
ersten Besuchs, den Haeckel bei Darwin im Jahre
1866 machte.
Die Rede gibt dann der Überzeugung Ausdruck,
dass der Glanz des Darwinschen Namens nur ge-
winnen könne, wenn wir sehen, dass er in den wich-
tigsten Grundsätzen seiner Naturanschauung eins war
— 253 —
mit einer auserwählten Anzahl der grössten Geister,
die die Kulturgeschichte kennt. Unter ihnen feiert
Haeckel vor allen Goethe und Lamarck als Vor-
gänger des grossen Briten. Er sieht in ihnen wie in
Darwin entschiedne Vertreter jener einheitlichen
Weltauffassung , die eine zusammenhängende Ent-
wicklung der ganzen organischen Natur annimmt,
eine Entwicklung allein durch die Wirkung natür-
licher Ursachen, mit Ausschluss aller äbernatürlichen
Schöpfungswunder. Als Beweis dkfür, dass auch
Charles Darwin kein kurzsichtiger Bekenner irgend
einer besondern Kirchenkonfession war, teilt Haeckel
einen Brief Darwins an einen Jenaer Studenten mit,
in dem er schreibt: „Wissenschaft hat mit Christus
nichts zu tun , ausgenommen insofern , als die Ge-
wöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann
vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen. Was mich
selbst betrifft, so glaube ich nicht, dass jemals irgend
eine Offenbarung stattgefunden hat. In betreff aber
eines zukünftigen Lebens muss jedermann für sich
selbst die Entscheidung treffen zwischen wider-
sprechenden unbestimmten Wahrscheinlichkeiten."
Haeckel schliesst daraus, dass die 'Religion Darwins
keine andre war, als die Goethes und Lessings, La-
marcks und Spinozas. Mit einem Preise dieser
Männer, die uns durch ihre genetische und mo-
nistische Naturanschauung zur lichten Höhe der Er-
kenntnis geführt haben, schliesst die Rede.
Überblickt man die lange Reihe wertvoller Bei-
träge, die Haeckel zur Förderung der Entwicklungs-
— 254 —
lehre geliefert hat, so bemerkt man auf den Ge-
bieten, die Darwins eigenste Forschungen berühren,
eine bis fast in alle Einzelheiten gehnde Überein-
stimmung mit den Ansichten des englischen Forschers.
Auch in dem grossen Streit, der sich besonders nach
Darwins Tod über die Vererbbarkeit erworbner
Eigenschaften und die Tragweite der Selektions-
theorie erhoben hat, hielt er treu an dem Standpunkt
fest, den Darwin selbst einnahm, indem er sowohl
die Eimersche Lehre von der Ohnmacht wie die
Weismannsche Theorie von der Allmacht der Natur-
züchtung bekämpfte und den Neolamarckismus nicht
weniger als den Neodarwinismus als Einseitigkeiten
zurückwies. Nur in einem einzigen Punkte ist er
jemals den Ansichten seines Meisters entgegenge-
treten. Als Darwin 1868 seine Theorie der Pan-
genesis zur Erklärung der Vererbungserscheinungen
veröffentlichte, da fühlte sich Haeckel sofort in ent-
schiednem innern Widerspruch mit dieser Lehre, der
um so stärker und unüberwindlicher wurde, je mehr
er sich durch eingehendes Nachdenken mit ihr zu
befreunden versuchte. Wie er selbst sagt, war er
aber von viel zu hoher Verehrung für Darwin, von
viel zu aufrichtiger Bewundrung für seine leitenden
Ideen erfüllt, als dass er einer so umfassenden und
grossartig angelegten Hypothese hätte entgegentreten
und ihre Widerlegung versuchen mögen ohne irgend
etwas andres an ihre Stelle setzen zu können. Er
berührte daher in seinen Werken die Pangenesis zu-
nächst nicht und veröffentlichte erst 1876 eine
— 255 —
kritische Darlegung, als er imstande war, ihr eine
neue selbständige Hypothese, die Perigen esistheorie,
gegenüberzustellen. Es ist nun rührend zu sehen, mit
welcher Schonung hier Haeckel seine Kritik anlegt,
wie ängstlich besorgt er ist, auch den geringsten
Schein einer schroffen Opposition zu vermeiden und
jedes Miss Verständnis nicht nur gegenüber Darwin
selbst , sondern vor allem gegenüber den Wider-
sachern der Entwicklungslehre zu vermeiden. Kaum
anderswo erscheint seine grosse Anhänglichkeit, Ver-
ehrung und Bewundrung für den englischen Forscher
in so hellem Licht wie grade in dieser gegen ihn
gerichteten Schrift. Sie zeigt aber auch zugleich,
dass es Haeckel um die Wahrheit und nur um die
Wahrheit zu tun war, und dass er ihr Ausdruck ver-
leihen musste auch da, wo er sie dem Mann gegen-
über zu verteidigen hatte, in dem er den grössten
Repräsentanten der Wahrheitsforschung verehrte.
Fanatische Gegner Haeckels haben nicht nur
die tatsächliche Wahrheit, sondern auch die persön-
liche Wahrhaftigkeit seiner Überzeugungen in Zweifel
gezogen. Ihnen vor allen sollte sein Verhältnis zu
Darwin zu denken geben. Die Verehrer des greisen
Jenaer Gelehrten aber werden in dem innigen Zu-
sammenwirken der beiden im Grunde ihres Wesens
so verschiednen Geister stets eine der hellsten und
ruhmvollsten Erscheinungen erblicken, die der grosse
Darwinismuskampf des neunzehnten Jahrhunderts ge-
zeitigt hat.
B er icht ij^ung:
Pag. 10 lies: „Humboldts 150. Geburtsug wird
stille vorüber gehen" statt „ging stille vorüber"
Buchdruckerei Roitzsch vorm. Otto Noack & Co.
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