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Full text of "Goethe, Humboldt, Darwin, Haeckel: Vier Vorträge"

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GOETHE • HUMBOLDT • DARWIN • HAECKEL 



GOETHE • HUMBOLDT 



DARWIN • HAECKEL 



VIER VORTRÄGE 



VON 



WALT HER MAY 

PRIVATDOZENT AN DER TECHNISCHEN HOCHSCHULE 

IN KARLSRUHE 



VERLAG ENNO QUEHL in BERLIN-STEGLITZ 

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MEINER MUTTER 



Uer Vortrag ^Goethe und Humb oldt" 
wurde im na tur wissenschaftlichen Ver- 
ein zuKarlsruhe gehalten und erschien 
zuerst in den Verhandlungen dieses 
Vereins. 

Der Vortrag „Goethe und Darwin" 
ist eine starke Umarbeitung und Er-* 
Weiterung eines ebenfalls im Karls- 
ruher naturwissenschaftlichen Verein 
gehaltnen und in seinen Verhandlungen 
gedruckten Vortrags . über ^Goethes 
Verhältnis zurNatur und ihrerWissen- 
schaft". 

Der Vortrag „Humboldt und Darwin" 
wurde als Antrittsrede bei der Habili- 
tation des Verfassers an. der T.ech- 
nischen Hochschule in Karlsruhe ge- 
halten und erschien zuerst in den 
Preüssischen Jahrbüchern. 

Der Vortrag „Darwin und Haeckel" 
wurde im na turwiss en schaftlichen Ver- 
ein zu Karlsruhe bei G eleg enhei t des 
siebzigsten Geb ur ts t ags H ae ckels ge- 
halten und erscheint hier zum ersten 
Mal gedruckt. 



INHALTS -VERZEICHNIS. 

Seite 

Goethe nnd Humboldt 7 

Goethe und Darwin. 49 

Hnmboldt nnd Darwin .... 149 

Darwin nnd Haeckel 179 

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN. 

vor Seite 
Goethe. Nach Trippeis Büste in der Weimarer 

Bibliothek. . 9 

Alexander v. Humboldt. Nach Weitschs Ge- 

mUde in der Nationalgalerie, Berlin 17 

Schloss Tegel. Nach Photographie 33 

Goethe. Nach Kolbes Gemälde im Weimarer Goethe- 
nationalmuseum 51 

Goethes Gartenhaus. Nach Photographie ... 65 

Goethes Arbeitszimmer. Nach Photographie 81 

Charles Darwin. Nach Photographie 97 

Darwins Landhaus in Down. Nach Zeichnung 

von A. Parsons 113 

Darwins Arbeitszimmer. Nach Zeichnung von 

A. Parsons 129 

Der Tod als Herkules nimmt dem Atlas Hum- 
boldt den Kosmos ab. Nach Zeichnung von 

W. y. Kaulbach (Totentanz, Blatt IV). . . . 151 
Begräbnisstätte der Familie Humboldt in 

Tegel. Nach Photographie 161 

Charles Darwin. Nach Colliers Gemälde in der 

Londoner National-Portrait-Gallery 181 

Ernst Haeckel. Nach Photographie 193 

Jena. Nach Photographie 209 

Ernst Haeckel. Nach Photographie 225 

Ernst Haeckels Villa in Jena. Nach Photographie 241 



•GOETHE UND HUMBOLDT 




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LS man im Jahre 1862 eine Zusammen- 
stellang der Statuen Goethes, Lessing» 
und Schillers vor dem Berliner Schau- 
spielhause plante, da widersetzte sich 
Jakob Grimm, der ältere der beiden 
Märchenbrüder, diesem Vorhaben mit den Worten: 
„Neben Goethe stehen könnte einer nur, Humboldt.**^ 
Grimm stand damals noch ganz im Banne des mächtigen 
Eindrucks, den der erst drei Jahre früher verschiedene 
Alexander v. Humboldt auf seine Zeitgenossen ausge- 
übt hatte. Man verehrte in Humboldt den Fürsten im 
Reiche des Wissens ; die Universalität seiner wissen- 
schaftlichen Bildung schien die Berechtigung in^sich zu 
tragen, ihn einem Universalgeist wie Goethe an die 
Seite zu stellen. Heute hat sich die Stellung der 
Gebildeten Deutschlands zu beiden Männern wesent- 
lich geändert. Goethe ist uns näher gerückt, sein 
Bild hat sich dem Herzen des deutschen Volkes tiefer 
eingeprägt, als das irgend eines andern deutschen 
Genius ; die enthusiastische Jubelfeier seines 1 50. Ge- 
burtstags hat das zur Genüge bewiesen. Humboldt 



— lO — 

■dagegen ist herabgesunken von seiner Höhe, seine 
Persönlichkeit ist zu einem Schemen geworden ohne 
Fleisch und Blut, und die Mehrzahl der Gebildeten 
weiss von dem einst so enthusiastisch Verehrten nicht 
mehr, als dass er eben ein grosser Naturforscher 
war. Alexander von Humboldts 150. Geburtstag 
ging stille vorüber, so stille als sein 100. Geburtstag 
mit lautem Jubel gefeiert wurde. Selbst unter den 
Männern der Wissenschaft finden sich wenige, die Hum- 
boldts Schriften eingehender studiert haben, und wäh- 
rend Goethes Werke in immer neuen Ausgaben die 
Welt durchwandern, hat sich noch nicht einmal die Re- 
clamscheUni Versalbibliothek dazu entschliessen können, 
•das populäre Hauptwerk Humboldts, den „Kosmos", 
-dessen Titel jeder, dessen Inhalt niemand kennt, dem 
lesenden Publikum leichter zugänglich zu machen. 
Niemand wird es bedauern, dass Goethes Bild 
im Laufe der Zeit das Humboldts überstrahlt hat. 
Selbst der begeistertste Verehrer des grossen Forschers 
wird heute Jakob Grimms Ausspruch nicht mehr 
unterschreiben wollen. Ob aber die weltgeschicht- 
liche Bedeutung Alexander v. Humboldts so gänzlich 
<Jer Vergessenheit anheimzufallen verdiente, wie sie 
es tatsächlich ist, das dürfte doch billig zu bezweifeln 
^ein. Un d Goethe selbst würde zu diesen Zweiflern 
gehören. Hat er doch dem Wirken Humboldts gar 
viel zu verdanken. Wie bei der Frage, ob Schiller 
oder Goethe der grössere von beiden sei, würde er 
vielleicht auch bei einem Vergleich zwischen seiner 
und Humboldts Grösse die Antwort geben, man 



— II — 

solle sich freuen, zwei solcher Kerle zu besitzen. 
So berechtigt dieser Ausspruch in vieler Hinsicht 
aber auch ist, so hat doch andererseits ein Vergleich 
zwischen zwei Männern, deren Lebensschicksale sich 
vielfach berührt haben, einen eigenen Reiz, und er 
wird auch am besten eine Antwort auf die Frage 
geben, warum der eine dem deutschen Volke näher 
gerückt, der andere fast vollständig seinem Gedächt- 
nis entschwunden ist. 

Zwei Momente werden bei einer vergleichenden 
Betrachtung Goethes und Humboldts getrennt zu 
berücksichtigen sein : der Mensch und der Forscher. 
Gehen wir zurück auf die frühste 'Jugendzeit beider 
Männer, so treten uns sofort bedeutungsvolle Gegen- 
sätze vor Augen. Bei kaum einer andern historischen 
Persönlichkeit kommt wohl das Gesetz der Vererbung 
zu grösserem Recht als bei Goethe, bei keiner scheint 
es uns mehr im Stiche zu lassen als bei Humboldt. 
Goethe selbst erzählt uns in jenem bekannten kleinen 
Gedicht, dass er vom Vater die Statur und die ernste 
Führung des Lebens, von der Mutter die Frohnatur 
und die dichterische Ader, von dem Grossvater das 
liebebedürftige Herz, von der Grossmutter den Ge- 
fallen an Schmuck und Gold geerbt habe. Die 
Eltern keines andern grossen Mannes sind so populär 
geworden, wie die Eltern Goethes. Beide haben ihre 
Biographen gefunden, und vollends hat sich das Bild 
der Frau Rat mit unauslöschlichen Zügen unserm 
Herzen eingeprägt. Wie zu ihren Lebzeiten keine 
Mehschenseele missvergnügt von ihr weggegangen 



— 12 — 

ist, wess Alters, Standes und Geschlechts sie auch 
gewesen sein mag, so erquickt auch heute noch ihr 
Briefwechsel mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel 
jeden, der ihn liest. Aus jeder Zeile atmet da der Hauch 
der schönsten, tiefsten Mutterliebe, und man lernt 
verstehen, dass an solcher Mutterbrust ein solcher 
Mensch erblühen konnte. Nur diese Frau konnte 
den unerschöpflichen Fond an Gemütswärme und 
Gemütstiefe auf den Sohn übertragen, dem immer 
neue Ströme lebensvoller Dichtung entquillen sollten. 

Wohltuend berührt die behagliche Breite, mit 
der Goethe in Dichtung und Wahrheit bei der 
Schilderung seiner sonnigen Jugend verweilt. Wirft 
auch das strenge Regiment des pedantischen Vaters 
hier und da einen Schatten in das junge Dasein, 
ein Hauch der lebensfrohen Mutter macht alles wieder 
gut. Gern und freudig versenkt sich Goethe in diese 
Zeit, Wilhelm Meister legt davon nicht weniger Zeug- 
nis ab als seine Autobiographie, und das Bild, das 
er im Goetz von Berlichingen und in Hermann und 
Dorothea von seiner Mutter entworfen hat, spricht 
beredter als jede Lobrede von dem Verhältnis des 
Sohnes zur Mutter. 

Damit vergleiche man nun die Stellen, an denen 
sich Alexander v. Humboldt in seinen Briefen über 
seine Kinder- und Jünglingsjahre ausspricht. Nur 
selten und niemals freudig gedenkt er des elterlichen 
Hauses. Ein geistiger Konnex zwischen seiner Familie 
und ihm scheint überhaupt nicht zu bestehen, eine 
Vererbung bestimmter Charaktereigentümlichkeiten 



— 13 — 

lässt sich nicht nachweisen. Seine Vorfahren waren 
Juristen und hohe Militärs, aus deren Geisteseigen- 
schaften sich Alexanders ausgesprochene Reiselust 
und rastloser Forschungstrieb nicht erklären lassen. 
Dass der Vater, der Kammerherr des Kronprinzen, 
„schöne Spazierörter anlegte, nicht nur in englän- 
dischem Geschmack sondern auch im Wilden, mehren« 
teils aber in amerikanischen Bäumen^, wie ihm der 
Geograph Büsching nachrühmt, kann wohl kaum als 
ein Hinweis auf Alexanders leidenschaftliche Liebe 
zur Natur und zum Naturstudium gedeutet werden. 
Bereits in seinem zehnten Lebensjahre verliert 
Humboldt den Vater, und die Mutter leitet von nun 
an die Erziehung der beiden Söhne. Elisabeth von 
Humboldt, geborene von Colomb, verwitwete von 
Hollwede, Begründerin des bedeutenden Grundbesitzes 
der Familie, ist in jeder Hinsicht das Gegenteil der 
Elisabetha Goethe. Licht und Wärme strahlt von 
dem sonnigen Wesen der Frau Rat aus auf ihre 
Umgebung, fröhliche Geselligkeit ist ihr Element. 
Fröstelnde Kälte verbreitet Frau von Humboldt in 
ihrem Kreise, traurige Einsamkeit und Abgeschlossen- 
heit im Tegeler Schlösschen sind die Folgen ihrer 
schweren Krankheit. Fast nur wehmütige Erinne- 
rungen knüpfen sich für Alexander an das idyllische 
Tegel, das ,Schlo8S Langweil' seiner Jugendbriefe. 
Als er von der Bergakademie Freiberg nach Berlin 
zurückgekehrt ist, schreibt er dem Freunde Freies- 
leben: „Hier in Tegel habe ich den grössern Teil 
dieses traurigen Lebens zugebracht, unter Leuten, 



— 14 — 

die mich liebten, mir wohlwollten und mit denen ich 
mir doch in keiner Empfindung begegnete, in tausend- 
faltigem Zwange, in entbehrender Einsamkeit, in 
Verhältnissen, wo ich zu steter Verstellung, Auf- 
opferungen u. 8. w. gezwungen wurde. Wenn ich 
mich noch jetzt, da ich frei und ungestört hier lebe, 
hingeben will in den Genuss, den die reizende, an- 
mutsvolle Natur hier in so reichem Masse gewährt^ 
so werde ich zurückgerufen durch die widrigsten 
Eindrücke, durch Erinnerungen an meine Kinder- 
jahre, die selbst jeder leblose Gegenstand hier rege 
macht.** 

Für die eigenartige Individualität ihrer Söhne 
scheint die Mutter wenig Verständnis besessen zu 
haben. War es doch anfangs ihr Wunsch, die Söhne 
in die grosse Welt einzuführen, wo ihnen eine glän- 
zende Laufbahn offen stand, und nur dem Einfluss 
ihres Erziehers Kunth ist es zu danken, dass den in 
ihnen schlummernden Neigungen gebührende Rech- 
nung getragen wurde. Wundern dürfen wir uns des- 
halb nicht, dass Humboldt den in seinem 27. Lebens- 
jahr erfolgten Tod seiner Mutter fast wie eine Er- 
lösung empfand und er an Freiesleben die scheinbar 
herzlosen Worte schrieb: „Du weisst, mein Guter^ 
dass mein Herz von der Seite nicht empfindlich ge- 
troffen werden konnte, wir waren uns von jeher fremd". 
Erst der Tod der Mutter ermöglichte es ihm auch, 
aus dem Staatsdienst zu scheiden und seine seit 
frühster Jugend gehegten Reisepläne zur Ausführung 
zu bringen. 



— 15 — 

Nur in einem Punkte gleichen sich Goethens und 
Humboldts Jugendjahre: beide stammen von be- 
güterten Eltern und haben mit der äussern Not 
des Lebens nicht zu kämpfen. Eine treffliche wissen* 
schaftliche Erziehung kann daher beiden zuteil 
werden. Aber während der kleine Goethe spielend 
den sprödesten Stoff in sich aufnimmt und verarbeitet, 
während seine Frühreife alle in Erstaunen und Ent- 
zücken versetzt, müht sich der kleine Humboldt 
vergebens, die 24 Klassen des Linn6schen Pflanzen-» 
Systems seinem schwachen Gedächtnis einzuprägen. 
Sein Auffassungsvermögen ist so gering, dass seine 
Lehrer ganz daran verzweifeln, es möchten sich je 
auch nur miltelmässige Geistesgaben bei ihm ent* 
wickeln. Aber doch regen sich auch bereits in diesen^ 
körperlich schwachen und geistig nicht sehr auf-^ 
geweckten Kinde sehnsuchtsvolle Stimmungen , die 
seine grosse Zukunft im Keime bergen. Er dichtet 
und erzählt zwar keine Märchen, er baut denv 
lieben Gott keine Altäre, er sinnt nicht nach über 
die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse wie 
der Icleine Goethe, aber der Anblick geographischer 
Karten und die Lektüre von Reisebeschreibungen 
üben einen geheimen unwiderstehlichen Zauber auf 
ihn aus und erwecken in ihm die Sehnsucht, in ent- 
fernte, von Europäern wenig besuchte Länder zu 
reisen. Immer mächtiger fühlt er in sich die Leiden- 
schaft für das Meer und für lange Schiffahrten sich 
entwickeln, und Furcht und Schmerz setzen seine 
junge Seele in Bewegung, wenn er daran denkt, der 



— i6 — 

Hoffnung entsagen zu müssen, die schönen Stern- 
bilder zu sehen, die in der Nähe des Südpols leuchten. 
Dabei sammelt er eifrig Pflanzen, Steine und In- 
sekten, und man nennt ihn scherzweise den ,kleinen 
Apotheker*. Ein unbestimmtes Sehnen nach dem 
Ideal deutet sich in seiner Kindesseele nicht weniger 
an, als in der Goethens. 

Dem Leben im Elternhaus folgen für beide 
Männer die Studienjahre auf der Universität. Auch 
hier wieder Gegensätze prinzipieller Natur. Syste- 
matisches Studium liegt dem jungen Goethe fern. 
Er tastet auf allen Gebieten, er ist fleissig, aber nur 
in dem, was ihn gerade interessiert, er geht nicht 
darauf aus , einen abgeschlossenen Wissensstoff sich 
anzueignen. Sein eigentliches Fachstudium, die Juris- 
prudenz, wird arg vernachlässigt, aber er arbeitet 
intensiv an der allgemeinen Bildung seines äussern 
und innern Menschen. Leipzig is^ für ihn das Klein- 
Paris, das seine Leute bildet, aber auch in Strass- 
burg gewinnt er mehr durch den Anblick des 
Münsters, Herders mächtig fördernden Einfiuss und 
Friederikens Liebe, als durch den Besuch der Uni- 
versitätsvorlesungen. 

Anders Humboldt. Von vornherein stürzt er 
sich mit Rieseneifer und unermüdetem Fleiss in 
systematische Studien. Das Lernen im engern Sinn, 
das Lernen aus Büchern und Vorlesungen steht für 
ihn im Vordergrund. Mit grösster Regelmässigkeit 
besucht er alle Kollegien, wozu Goethe sich nur im 
Anfang entschliessen konnte. Er tastet nicht nach 



Alexander v. Humboldt 






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— 17 — 

dieser und jener Seite, um zu erfahren, was ihm am 
meisten zusagt, sondern bewegt sich in bestimmten, 
mehr oder weniger fest vorgeschriebenen Bahnen. 
Sein Ziel steht ihm immer unverrückbar vor Augen, 
und dieses Ziel zu erreichen setzt er alle Kräfte ein, 
oft bis zur Überanstrengung seines immer noch 
schwachen Körpers. Wenn das innerste Interesse an 
der Sache, die heiligste Liebe zu seiner Wissenschaft 
ihn nicht geleitet hätten, so könnte man sein Studium, 
verglichen mit dem Goethens, fast ein philisterhaftes 
nennen. 

In Frankfurt an der Oder legt er zunächst 
durch das Studium der Cameralwissenschaften den 
festen Grund zu seiner späteren Laufbahn als Be- 
amter. In Berlin lässt er sich dann durch Willdenow 
in die Botanik einführen, treibt Griechisch, Mathe- 
matik und Zeichnen. In Göttingen, dessen Uni- 
versität gerade damals in der Blüte ihres wissen- 
schaftlichen Rufes steht, erhält er durch Lichtenberg, 
Kästner und Blumenbach seine allgemein, natur- 
wissenschaftliche Ausbildung und macht die bedeu- 
tungsvolle Bekanntschaft Georg Forsters , den er 
auf seiner Reise nach Holland, England und Frank- 
reich begleitet und der von neuem die Sehnsucht 
nach fremden Ländern in ihm weckt. 

Humboldts Verhältnis zu Forster lässt sich in 

gewissem Sinn vergleichen mit Goethens Verhältnis 

2U Herder. Beide Jünglinge finden zu einer Zeit, in 

der ihre Gemüter am empfänglichsten sind, Männer, 

die den Born ihres reichen Geistes freudig fliessen 

2 



— i8 — 

lassen zugunsten der wissensdurstigen und be- 
geisterungsfahigen Seelen, die sich an ihnen erwärmen 
und entzünden. Aber auch hier tritt uns sofort der 
Unterschied beider Charaktere entgegen, Goethe 
wählt sich zum Mentor einen Mann, der ihn wie 
einen verzogenen Jungen behandelt, der ihn mit 
einem Specht und Spatzen vergleicht und seinen 
unreifen Kunstenthusiasmus verspottet. Gerade das 
Gegensätzliche der Naturen zieht ihn an* Was 
Goethe von Herder lernt ist etwas ganz Neues, etwas, 
das eine totale Revolution in seinen dichterischen 
und künstlerischen Anschauungen hervorruft. Herders 
Lehre von dem nationalen Charakter aller Poesie 
und bildenden Kunst, seine Entdeckung der Volks- 
poesie, seine Wiedererweckung Homers, Shakespeare» 
und der Bibel werfen alles über den Haufen, was 
dem Leipziger Studenten lieb und wert geworden 
war. Herders Einfiuss macht ihn zu einem neuen 
Menschen, weist ihm die Bahnen, auf denen er seine 
ersten Lorbeeren als deutscher, als nationaler Dichter 
ernten soll. Wie ein Blindgeborener, so äussert er 
selbst, steht er da, dem eine Wunderhand das Gesicht 
in einem Augenblicke schenkt. 

Humboldt dagegen schliesst sich an eine ihm in 
jeder Hinsicht ähnliche, gleichartige Natur. Er 
findet in Forster das wieder, was er selbst bereits 
in sich trägt, dieselben Gedanken, dieselben Stim- 
mungen, dieselbe Richtung des Geistes, nur in voll- 
endeterer, gereifterer Form. Forster hat das bereits 
hinter sich, was Humboldt erst ersehnt, er hat als 



— 19 — 

Begleiter Cooks auf dessen zweiter Weltumsegelung 
fremde Länder mit verständnisvollem Forscherauge 
geschaut. Er weiss daher reiche Schätze des Wissens 
und der Naturanschauung seinem jungen Freunde zu 
bieten, er weiss Bilder vor seine Seele zu zaubern, 
die seiner Phantasie unerschöpfliche Nahrung ge- 
währen. Aber alles das befestigt und bestätigt nur 
Humboldts bisherigen Geisteszustand, es revolutioniert 
ihn nicht. Noch in seinem Alter gedenkt Humboldt 
anerkennend dessen, was er Forster in Verall- 
gemeinerung der Naturansicht, Bestärkung und £nt- 
wickelung von dem, was lange vor jener glücklichen 
Vertraulichkeit in ihm geschlummert, verdanke. Er 
spricht von gleicher Richtung politischer Meinungen, 
keineswegs durch Forster erzeugt, sondern viel älter 
und nur genährt. Für Goethe ist die Gewinnung eines 
neuen Standpunkts, für Humboldt die Festigung und 
Sicherung des alten das Erstrebenswertere. 

Nach der Beendigung der Reise mit Forster 
bezieht Humboldt die Handelsakademie in Hamburg, 
um sich mit Buchführung und Kontorarbeiten ver- 
traut zumachen. Dann geht er auf die Bergakademie 
in Freiberg, wohin Werners hervorragende Persön- 
lichkeit zahlreiche Schüler aus allen Ländern zieht. 
Hier erhält er seine spezielle mineralogische und 
bergmännische Ausbildung, die ihn befähigt, in den 
Staatsdienst zu treten. Er wird Assessor bei der 
preussischen Bergwerks- und Hüttenadministration 
und bereits ein halbes Jahr später Oberbergmeister 
in Franken. 



— 20 — 

Es ist ein eigenartiger Zufall, dass sowohl Goethens 
wie Humboldts erste staatsdienstliche Tätigkeit die 
Förderung des Bergbaus zum Gegenstand hat. Gleich 
nach seinem Eintritt in den Weimarer Staatsdienst 
bemüht sich Goethe um die Wiederherstellung des 
seit etwa 30 Jahren geschlossenen Silberbergwerks in 
Ilmenau. Er lässt sich von Trebra in das Bergwerks- 
wesen einführen, studiert eifrig die Hennebergische 
Bergordnung und besucht die Bergwerke in Clausthal 
und Andreasberg, um den lebendigen Betrieb aus 
eigener Anschauung kennen zu lernen. Nach acht- 
jähriger unermüdlicher Tätigkeit und nach Über- 
windung zahlreicher Schwierigkeiten hat er endlich 
die Freude, die Festrede zur Wiedereröffnung des 
Ilmenauer Bergbaus halten zu können. 

Auch Humboldt leistet als fränkischer Oberberg- 
meister Aussergewöhnliches , trotz der zahlreichen 
wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn neben seiner 
amtlichen Tätigkeit beschäftigen. Er hebt den Berg- 
bau in den fränkischen Fürstentümern in hervor- 
ragendem Grade und sorgt ausserdem durch Er- 
richtung einer bergmännischen Freischule für die 
geistige Bildung und Erziehung der in krasser Un- 
wissenheit und abergläubischen Vorurteilen dahin- 
lebenden Bergleute, deren materielles Wohl ihm nicht 
weniger am Herzen liegt. Aber wie für Goethe, so 
iist auch für Humboldt die staatsdienstliche Tätigkeit 
nur Mittel zum Zweck. Beide erfüllen ihre amtlichen 
Pflichten mit grösster Treue und regem Interesse, 
aber ihren innerstenLebensberuf sehen sie nicht darin. 



— 21 — 

und ihr Höchstes leisten sie auf anderm Gebiete. 
In dem Minister Goethe wie in dem Oberbergmeister 
Humboldt sind alte Jugendträume noch nicht ver- 
klungen, sie sehnen sich hinaus aus den engen 
Grenzen ihrer staatsdienstlichen Tätigkeit nach den 
Ländern ihrer kindlichen Sehnsucht, Goethe nach 
Italien, Humboldt nach den Tropen. Und nach 
vielen gescheiterten Plänen und mancher getäuschten 
Hoffnung gehen beider Träume in Erfüllung. 

Nach fast zweijähriger Abwesenheit kehrt 
Goethe, nach über fünfjähriger Humboldt in die 
Heimat zurück. Beide haben gefunden was sie ge- 
sucht : Goethe hat die Antike von Angesicht zu 
Angesicht geschaut und ihr wahres Wesen er- 
fasst, Humboldt überreiches Material zum Aus- 
bau der wissenschaftlichen Erdkunde gesammelt. 
Aber während der Mensch in Goethe ein anderer 
geworden ist, ist der Mensch in Humboldt derselbe 
geblieben. 

Die italienische Reise offenbart Goethe seinen 
eigentlichen Lebensberuf. Noch bis zu seinem zweiten 
Aufenthalt in Rom war er darüber im Zweifel ge- 
wesen, ob er mehr zum Dichter oder zum bildenden 
Künstler berufen sei. Dann aber schreibt er die 
entscheidenden Worte : „Zur bildenden Kunst bin 
ich zu alt. Von meinem längern Aufenthalt in 
Rom werde ich den Vorteil haben, dass ich auf 
das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht tue**. 
Alexander v. Humboldt ist nie über seinen Lebens- 
beruf im Zweifel gewesen. Seit seiner frühesten 



— 22 — 

Jugend hat er danach gestrebt, unbekannte Länder 
forschend zu durchwandern. 

Noch eine zweite, den Menschen Goethe modelnde 
Erkenntnis kommt ihm in Italien. £r entdeckt 
zwei Kapitalfehler seiner bisherigen Arbeitsweise. 
,, Einer ist,^ schreibt er, ,,dass ich nie das Hand- 
werk einer Sache, die ich treiben wollte oder sollte, 
lernen mochte. Daher ist es gekommen, dass ich 
mit so viel natürlicher Anlage, so wenig gemacht 
und getan habe. . . Der andere, nah verwandte 
ist, dass ich nie so viel Zeit auf eine Arbeit oder 
Geschäft wenden mochte, als dazu erfordert wird." 

Auch hierin war Humboldt Goethe unähnlich. 
Mit bewundernswerter, fast . pedantischer Gründ- 
lichkeit betreibt schon der angehende Forscher alle 
seine Arbeiten. Die philologischen Teile seiner 
Studie über die Basalte am Rhein legen davon 
nicht weniger Zeugnis ab, als seine botanischen 
Arbeiten über die grüne Farbe unterirdischer Vege- 
tabilien und seine physiologischen Untersuchungen 
über die gereizte Muskel- und Nervenfaser. Und 
mit derselben Gründlichkeit betreibt er die Vor- 
bereitungen zu seiner grossen amerikanischen Reise. 
Astronomische, geodätische und hypsometrische 
Messungen beschäftigen ihn lange Zeit, er versieht 
sich mit den besten nautischen Instrumenten und 
übt sich in ihrem Gebrauch. Die Sammlungen 
spanischer und amerikanischer Mineralien des Frei- 
herrn von Rackwitz in Dresden, die Pflanzen- 
sammlungen der kaiserlichen Gärten zu Schönbrunn, 



— 23 — 

die botanischen Sammlangen in Madrid studiert er 
eifrig im Hinblick auf das, was ihm bald in der 
Natur der fremden Länder entgegentreten wird. 
Diese systematische und geduldige Art des wissen- 
schaftlichen Arbeitens liegt tief in Humboldts Natur 
begründet, Goethe erzieht sich dazu erst in Italien. 

Die veränderte Stellung zur Weimarer Gesell- 
schaft, zur deutschen Dichterwelt und zum deutschen 
Publikum, der Bruch mit Frau von Stein und die 
Anknüpfung des Verhältnisses mit Christiane Vulpius 
sind weitere Belege für Goethens Wandel in ethischer 
Hinsicht. Die italienische Reise bezeichnet eine 
der vielen grossen und tiefgehenden Revolutionen, 
die Goethens innerstes Sein erschüttert und gemodelt 
haben. Humboldts Leben ist so gut wie frei von 
solchen Revolutionen. Damit ist ein Kernpunkt 
in der Verschiedenartigkeit beider Geister angedeutet. 

Goethens Wesen ist in beständiger ethischer 
Mauserung begriffen, sein Entwickelungsgang ist cha- 
rakterisiert durch die Fülle und Mannigfaltigkeit seiner 
inneren Erlebnisse. Mit dem Augenblick, in dem 
der Leipziger Student die altmodische Kleidung und 
altfränkische Ausdrucksweise seiner Vaterstadt ablegt, 
beginnt die lange Reihe seiner ethischen Wandlungen. 
Bereits in Leipzig führt ihn Oesers Schönheitsideal 
zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit der 
Meisterschaft des Jünglings. Der Wert und die Be- 
deutung der Erfahrung leuchten ihm ein, sein Streben 
geht nun dahin, die vorgefassten Meinungen em- 
pirisch zu bestätigen und zu berichtigen. Herders 



— 24 — 

Einfluss in Strassburg bringt ihn zum Bewusstsein 
seines Genius, die Liebe zu Friederike als tiefernstes 
inneres Erlebnis reift ihn zum Mann. Selber leidend 
lernt er viel. Der Sturm und Drang entfesselt alle 
Zügel seiner Leidenschaft, in der Periode des Götz 
und Werther tobt sich sein ungestümes Freiheits- und 
sentimentales Naturgefühl aus. Es folgt eine Zeit 
der Sammlung, des Zurückziehens vom lauten Treiben 
der Welt, der Einfluss der Werke Spinozas macht 
sich geltend. Nur das tolle Leben der ersten Wei- 
marer Zeit durchbricht noch einmal stürmisch den 
aufsteigenden Gang seiner Entwickelung. Dann ersteht 
ihm in Frau von Stein der Genius, der dem heissen 
Blute Mässigung tropft, in dessen Engelsarmen die 
zerstörte Brust sich wieder ausruht. Die italienische 
Reise und der Freundschaftsbund mit Schiller be- 
zeichnen weitere Etappen in dem aufsteigenden Ent- 
wickelungsgang des Dichters. Als ein grossartiges 
Beispiel konsequent durchgeführter Selbsterziehung 
steht Goethens Leben vor uns, das grösste seiner 
Kunstwerke hat es ein neuerer Biograph mit Recht 
genannt. Goethens Leben ist ein beständiger Kampf 
mit den feindlichen Mächten des menschlichen Wesens, 
sein Geist muss sich erst allmählich durchringen zur 
Festigkeit und Stetigkeit der späteren Jahre. „Ich 
musste,** so schreibt er 1817, „mehrmals meine 
Existenz aus ethischem Schutt und Trümmern wieder 
herstellen, ja tagtäglich begegnen uns Umstände, wo 
die Bildungskraft unserer Natur zu neuen Restaurations- 
Reproduktionsgeschäften aufgefordert wird." 



— 25 — 

Ganz andersartig ist der Entwickelungsgang 
Alexander v. Humboldts. Von einer eigentlichen 
ethischen Selbsterziehung kann bei ihm kaum ge- 
sprochen werden. Als Student und Staatsmann, als 
Reisender und Forscher, als gefeierter Gelehrter und 
preussischer Hofmann bleibt er immer derselbe. 
Gute und weniger gute Eigenschaften begleiten ihn- 
durchs ganze Leben. Von einer Sturm- und Drang- 
periode seiner Jünglingsjahre wissen wir nichts, der 
Kampf mit den Leidenschaften bleibt ihm erspart» 
^ Keine starke Leidenschaft wird mich hinreissen. 
Ernsthafte Geschäfte und am meisten das Studium 
der Natur werden mich von der Sinnlichkeit zurück- 
halten." So schreibt er kurz vor seiner Abreise 
nach Göttingen an einen seiner Freunde. Und er 
hat Wort gehalten. In strenger stetiger Arbeit 
fliessen seine Studienjahre dahin. Keinem unglück- 
lichen Mädchen hat er jubelnd das Herz zerstochen, 
keinen Wein aus Totenschädeln hat er getrunken. 
Sein rastloser, unbezwinglicher Forschungstrieb ver- 
schlingt und erstickt alle anderen Regungen, der 
Intellekt triumphiert ohne Kampf über den sinnlichen 
Menschen. Von zarten Herzensbeziehungen Hum- 
boldts ist kaum etwas bekannt, zeitlebens bleibt er 
unvermählt. Scherzend pflegte er zu sagen , die 
Wissenschaft sei seine einzige Liebe gewesen. So 
reich das Liebesleben Goethens, so arm das Hum- 
boldts. 

Glücklich dürfen wir wohl eine solche Natur 
nennen, die von einer grossen Idee erfüllt, an allen 




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— 26 — 

Abgründen des Lebens gefahrlos vorübergeht. Aber 
grösser erscheint uns doch der Mensch, der den 
I^eidenschaften unterworfen, sein Leben selbst ge- 
staltet und herausrettet aus ethischem Schutt und 
Trümmern. 

Goethe ist eine Faustnatur, Humboldt nicht. 
Goethe hadert mit dem Schicksal, er verzweifelt an 
der Fähigkeit des Menschen, zur Erkenntnis des 
Wesens der Dinge vorzudringen. Alle Qualen geistigen 
und ethischen Skeptizismus erduldet er. Humboldt 
«teht von Anfang an auf dem Standpunkt, den Goethe 
fläch Überwindung der faustischen Periode sich er- 
obert hat. Er sieht den Weg, den er gehen muss, 
klar und bestimmt vor sich, Goethe muss sich ihn 
€rst hauen durch Dornen und Gestrüpp. Goethe steht 
uns daher menschlich näher als Humboldt, sein 
dornenvoller Erkenntnisweg, sein Irren und Leiden 
weckt tiefere Sympathieen für ihn. Es ist die alte 
Wahrheit vom Sünder der Busse tut. Die klare Er- 
kenntnis dieses Verhältnisses der beiden Geistes- 
heroen erlaubt uns nicht, sie menschlich auf eine 
Stufe zu stellen. Mit hoher Verehrung schauen wir 
gewiss auf zu der trotz mancher kleinlichen Schwächen 
grossen und edlen Natur Alexander v. Humboldts, 
aber Grimms Ausspruch, dass er allein berechtigt 
sei, Goethe zur Seite zu stehen, ist uns heute un- 
verständlich. — 

Goethe gehört zu den auserwählten Persönlich- 
keiten der Geschichte, bei denen uns der Mensch 
nicht weniger interessiert, als der Dichter, Forscher 



— 27 — 

und Schriftsteller. Mehr als je weiss man heute 
Mercks Wort zu würdigen: Was Goethe gelebt sei 
fast noch schöner als was er geschrieben. Bei 
Humboldt verdrängt der Forscher und Schriftsteller 
fast den Menschen. Als Forscher bezeichnet er 
einen gewaltigen Markstein in der Geschichte der 
Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, steht er eben- 
bürtig neben dem Forscher Goethe. 

Zwei Momente treten uns in Humboldts Natur- 
forschertätigkeit als charakteristisch vor Augen: streng 
empirische Einzelforschung und ernstes Streben 
nach Erfassung und Darstellung eines harmonisch 
geordneten Weltganzen, Jene eigenartige Ver- 
schmelzung wissenschaftlicher und ästhetischer Ge- 
sichtspunkte, die das ganze Zeitalter charakterisiert, 
ist in seiner Geistesrichtung am prägnantesten ver- 
körpert. Und darin berührt er sich mit Goethe. 
So grundverschieden Humboldt und Goethe als 
Naturforscher in einer Hinsicht sind, so ähnlich 
sind sie sich in anderer. Goethe hat als tätiger 
Forscher verhältnismässig wenig gemein mit dem 
Humboldt, der die Muskel- und Nervenfaser dem 
galvanischen Strom unterwirft, der die Atmosphäre 
analysiert und die Orte gleicher mittlerer Temperatur 
durch Isothermen verbindet. Er hat auch wenig 
gemein mit dem Humboldt, der als Reisender gegen 
6000 Pflanzenarten einsammelt und in dreissig dick- 
leibigen Bänden die wissenschaftlichen Ergebnisse 
seiner Reise niederlegt. Aber er hat sehr viel ge- 
mein mit dem Humboldt, der in den Ansichten der 



— 28 — 

Natur und im Kosmos eine Brücke zu schlagei> 
sucht zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer 
Naturbetrachtung, der die zarten Fäden aufsucht^ 
die das menschliche Gemüt mit der Natur verbinden 
und der in der Erkenntnis der Einheit der Natur 
die höchste Blüte und Erucht alles Naturstudiums 
erblickt. 

Humboldt ist wie Goethe tief durchdrungen 
von der Überzeugung, dass die wissenschaftliche 
Erforschung der Natur das ästhetische Bedürfnis 
des Gemütes nicht verletzt und verdrängt, sondern 
erweitert und vertieft. Und andererseits glaubt er 
durch eine ästhetische Darstellung der Ergebnisse 
der Naturforschung diese einem grösseren Kreise 
verständlicher und zugänglicher zu machen. Er 
geht in seinen allgemeinern Werken mit Bewusstsein 
darauf aus, nicht nur den erkennenden Verstand^ 
sondern auch das empfindende Gemüt zu befriedigen, 
er will gleichzeitig die Phantasie beschäftigen und 
durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen 
bereichern. Wie Goethe die Ergebnisse seines 
wissenschaftlichen Denkens in formvollendete Verse 
giesst, so befleissigt sich Humboldt einer dichterischen 
Prosa. Und zum Gegenstand dieser wählt er in 
erster Linie die Vegetationsformen der tropischen 
Landschaft, denen die wissenschaftliche wie die 
ästhetische Betrachtung gleich viel abzugewinnen 
vermag. 

Die im Jahre 1807 erschienenen „Ideen zu einer 
Geographie der Gewächse nebst einem Naturgemälde 



— 29 — 

<]er Tropenländer^ sind Humboldts erster grossartiger 
Versuch die soeben angedeuteten Gesichtspunkte 
praktisch zu verwerten. Sie bilden nach ihres Ver- 
fassers eigenem Ausspruch die Grundlage seines 
späteren Kosmos. Und bezeichnenderweise sind 
sie Goethe gewidmet. Ein von Thorwaldsen ge- 
zeichnetes sinnvolles Widmungsblatt soll andeuten, 
dass es auch dem Dichter gelingen könne, den 
Schleier der Natur zu heben. £s stellt den lorbeer- 
bekränzten delphischen Apoll dar, in der Linken 
-die Lyra haltend, mit der Rechten den Schleier 
hebend von der Bildsäule der Isis, zu deren Füssen 
ein Buch liegt mit der Aufschrift : „Die Meta- 
morphose der Pflanze". Darunter stehen die Worte: 
„An Goethe*. 

In noch höherm Grade vielleicht als die Ideen 
zu einer Geographie der Pflanzen verkörpern die 
im folgenden Jahre erschienenen „Ansichten der 
Natur* den ästhetisch-wissenschaftlichen Charakter 
der Goethe -Humboldtschen Zeit. „Überblick der 
Natur im Grossen, Beweis von dem Zusammenwirken 
der Kräfte, Erneuerung des Genusses, den der un- 
mittelbare Anblick der Tropenländer dem fühlenden 
Menschen gewährt*, sind die Zwecke, nach denen 
dieses Lieblingsbuch Humboldts strebt. Den durch 
die politischen Verhältnisse der Zeit bedrängten 
Gemütern ist es gewidmet. Sie sollen dem Ver- 
fasser folgen in das Dickicht der Wälder, durch 
die unabsehbare Steppe, auf den hohen Rücken 
der Andeskette. Dort werden sie Trost finden, denn 



— 30 — 

Der Hauch der Grüfte 

Dringt nicht hinauf in die blauen Lüfte, 

Die Welt ist vollkommen überall 

Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual. 

Von den einzelnen Aufsätzen der „Ansichten^ 
bildet jeder ein in sich geschlossenes Ganzes, in allen 
aber waltet dieselbe ästhetische Behandlung natur* 
historischer Gegenstände. Humboldt verkennt keines- 
wegs die grossen Schwierigkeiten, die sich einer 
solchen trotz der herrlichen Kraft und Biegsamkeit 
unserer vaterländischen Sprache entgegenstellen. £r 
ist sich auch klar bewusst, nicht alle diese Schwierig* 
keiten überwunden zu haben. Aber trotz mancher 
stilistischer und sprachlicher Mängel — ich erinnere 
nur an die langen Sätze und die ermüdende Häufung 
der Adjektiva — stehen die Ansichten der Natur 
noch heute in vieler Hinsicht als unerreichte Muster 
ästhetischer Landschaftsschilderung da. Tief haben 
sie auch jederzeit auf empfängliche, mit Phantasie 
begabte junge Gemüter gewirkt In manchem 
spätem grossen Naturforscher und Reisenden haben 
sie die Liebe zur Natur und zum Naturstudium, die 
Sehnsucht nach der unvergleichlichen Fülle und 
Üppigkeit der tropischen Länder geweckt. Haeckel 
erwähnt unter den Büchern, die in seiner Jugend 
bestimmend auf seine Geistesrichtung eingewirkt 
haben, neben Goethens Werken und Darwins Reise 
auch die Ansichten der Natur. 

Das Werk beginnt mit dem berühmten Natur- 
gemälde der Steppen und Wüsten. In ihm schildert 



— 31 — 

Humboldt die Gefühle, mit denen die unermesslicb 
ausgedehnte, tot und starr daliegende Steppe das 
Menschengemüt erfüllt, er vergleicht sie mit den 
Gefühlen, die der küstenlose, aber leicht bewegliche^ 
sanft aufschäumende Ozean erweckt. Die Llanos- 
Südamerikas werden verglichen mit den Heideländern 
des nördlichen Europa, den Sandwüsten Afrikas und 
den Salzsteppen Asiens. Unübertroffen ist die Er» 
klärung der klimatischen Verschiedenheiten Afrikas 
und Amerikas, unübertroffen die Schilderung de& 
wechselnden Anblicks der Steppe im Laufe des 
Jahres. Grosse, allgemeine und vergleichende Ge- 
sichtspunkte, Goethische Gesichtspunkte beherrschen^ 
die Schrift. 

Ein anderer Aufsatz führt uns in das Dickicht 
der Orinokowälder. Das nächtliche Tierleben im- 
Urwalde wird meisterhaft geschildert, Brehms grosses- 
Werk dem Geiste nach antizipiert. 

Dann folgen die klassischen „Ideen zu einer 
Physiognomik der Gewächse." Sie bezeichnen de» 
Höhepunkt der Verschmelzung wissenschaftlicher und 
ästhetischer Naturbetrachtung. Der Landschaftsmaler 
und der Psycholog finden hier nicht weniger ihre 
Rechnung als der denkende Botaniker. Humboldt 
gibt in diesem Aufsatz ein ästhetisch-biologisches^ 
System der Pflanzenformen, die den Charakter oder 
die Physiognomie einer Gegend bestimmen. Er be- 
leuchtet zugleich den Einfluss dieser Physiognomie 
auf das menschliche Gemüt. Die Dichterwerke der 
Griechen und die rauheren Gesänge der nordischea 



— 32 — 

Ur Völker führt er teilweise auf den eigentümlichen 
Charakter der Pflanzen zurück, die den Dichter ura- 
^ben. Denn melancholische, ernst erhebende oder 
fröhliche Bilder rufen die Pflanzenformen in uns 
wach. Wir fühlen uns anders gestimmt in dem 
<lunkeln Schatten der Buchen als auf Hügeln, die 
von einzeln stehenden Tannen umsäumt sind, oder 
auf der Grasflur, wo der Wind in dem zitternden 
Laub der Birke säuselt. Dieser Einfluss der phy- 
sischen Welt auf die moralische verleiht nach Hum- 
boldt dem Naturstudium, wenn man es von höhern 
Gesichtspunkten betrachtet, einen eigenen, noch zu 
wenig erkannten Reiz. 

Unter den Männern, die einer solchen Natur- 
auffassung vorgearbeitet haben, nennt Humboldt 
neben Georg Forster, Buffbn, St. Pierre und Cha- 
teaubriand auch Goethe. Und Goethe seinerseits 
begrüsst freudig den einen neuen Zweig der Botanik 
anbahnenden Aufsatz Humboldts. 

In seinem ausführlichen Referat in der Jena- 
ischen Allg. Literaturzeitung nennt er ihn ein kleines 
Gefäss mit köstlichen Früchten. Das im einzelnen 
so kümmerlich ängstliche botanische Studium er- 
scheine hier in seiner Verklärung auf einem Gipfel, 
wo es uns einen lebhaften und einzigen Genuss ge- 
währe. Habe Linn6 ein Alphabet der Pflanzen- 
Gestalten ausgebildet, Jussieu, das grosse Ganze 
schon naturgemässer aufgestellt, so tue nun Humboldt 
den letzten Schritt und deute an, wie der so lange 
geschichtete und rauchende Holzstoss durch einen 



— 33 — 

ästhetischen Hauch zar lichten Flamme belebt werden 
könne. 

Mit den Ideen zu einer Physiognomik der Ge- 
wächse in innigem Zusammenhang stehen jene beiden 
fast ein halbes Jahrhundert später veröffentlichten 
Abschnitte des Kosmos, in denen der Einfiuss der 
Landschaftsmalerei und der künstlichen Pflanzungen 
auf die Belebung des Naturstudiums geschildert wird. 

Ihnen voraus geht ein Kapitel, das die dichterische 
Naturbeschreibung zum Gegenstand hat. In diesen 
drei Abschnitten versucht Humboldt zu zeigen, wie 
die Naturwelt zu verschiedenen Zeiten und bei ver- 
schiedenen Völkerstämmen sehr verschieden auf die 
Gedanken- und Empfindungswelt eingewirkt hat und 
wie in einem Zeitalter allgemeiner Kultur das ernste 
Wissen und die zarteren Anregungen der Phantasie 
sich gegenseitig zu durchdringen streben. Er be- 
rücksichtigt dabei in erster Linie die Beschreibungen 
und Darstellungen jener reich geschmückten Länder 
der Äquinoktialzone , deren Erforschung er selbst 
viele Jahre seines Lebens gewidmet hat. Er erkennt 
aber auch gern an, dass nicht nur die Tropen- 
gegenden, sondera alle Länder des weiten Schöpfungs- 
kreises, vom Äquator bis zu den Polen sich einer 
begeisternden Kraft auf das Gemüt erfreuen können. 
Zu einem solchen Glauben sei- Deutschland, Goethens 
Vaterland, in erster Linie berechtigt. 

„Wo ist das südlichere Volk,** so schliesst 
Humboldt jenes Kapitel über dichterische Natur- 
beschreibung, „das uns nicht den grossen Meister 

3 



- 34 — 

der Dichtung beneiden sollte, dessen Werke alle ei» 
tiefes Gefühl der Natur durchdringt: in den Leiden* 
des jungen Werther wie in den Erinnerungen an> 
Italien, in der Metamorphose der Gewächse wie iiv 
seinen vermischten Gedichten? Wer hat beredter 
seine Zeitgenossen angeregt, des Weltalls heilige^ 
Rätsel zu lösen, das Bündnis zu erneuern, welches- 
im Jugendalter der Menschheit Philosophie , Physik 
und Dichtung mit einem Bande umschlang? wer hat 
mächtiger hingezogen in das ihm geistig heimische- 
Land, wo 

Ein sa,nfter Wind vom blauea Himmel webt, ' 
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?*' 

Aber nicht nur jene beiden eben erwähnten^ 
Abschnitte des Kosmos, sondern überhaupt das ganze- 
Werk, besonders aber die beiden ersten Bänd& 
tragen jenen Charakter ästhetisch -wissenschaftlicher 
Darstellung , . den wir bereits in den Ansichten der 
Natur kennen gelernt haben, Humboldt verlangt 
von einem Buche der Natur, dass es den Eindruck 
wie die Natur selbst hervorbringt, dass es Phantasie 
und Verstand iu gleicher Weise . anregt , dass e^- 
sowohl ein Kunstwerk als ein wissenschaftliches Werk 
ist. „Dena Ora torischen,'* so schreibt er an Varnr- 
hagen; „piuss das einfach und wissenschaftlich Be- 
schreibende immerfort gemischt seid. So ist , di^ 
Natur selbst. Die funkelnden Sterne erfreuen ,upjdb 
begeistern , und doch kreist ^m Himmelsgewölbe 
alles in mathematischen Figuren." 

In d^r Einleitung zum Kosovos, d^n ^yBetrachi- 



— 35 — 

langen über die Verschiedenartigkeit des Natura 
genusses^, führt er diese Ansichten weiter aus. £r 
zeigt» dass die Natur sowohl Gegenstand der Er- 
kenntnis als des ästhetischen Genusses ist und dass 
dieser über jener nicht zugrunde zu gehen braucht. 
In dem dann folgenden „Naturgemälde^, das uns 
aus den tiefsten Tiefen des Weltalls und der Region 
der fernsten Nebelflecke stufenweise herabführt bis 
zu dem luft- und meerumspülten Erdball, seiner 
Gestaltung, Temperatur, magnetischen Spannung 
und Lebensfülle, sucht er dies an einem Beispiel 
im einzelnen zu zeigen. Mit diesem Naturgemälde 
schliesst er erste Kosmosband. 

Der zweite behandelt im Gegensatz zur ob- 
jektiven Darstellung der Erscheinungswelt den Reflex 
der Natur auf den Menschengeist. Auch dieser ist 
ein zweifacher, einer auf das Gefühl und die dichterisch 
gestimmte Einbildungskraft und einer auf den er- 
kennenden Verstand. Von jenem handelt der „An- 
regungsmittel zum Naturstudium^ überschrieben e 
erste Abschnitt, von diesem der als „Geschichte der 
physischen Weltanschauung" bezeichnete zweite Ab- 
schnitt des zweiten Kosmosbandes. 

Es ist nicht meine Absicht, die Frage nach 
der Berechtigung jener eigenartigen Verschmelzung 
naturwissenschaftlicher und äsh tetischer Prinzipien, 
wie sie die allgemeinen Schriften Humboldts ckarak- 
terislert, zu erörtern. Objektiv betrachtet sind Natur- 
wissenschaft und Ästhetik gewiss getrennte Gebiete, 

subjektiv werden sie sich aber stets da verschmelzen, 

3* 



- 36 - 

' . - ■ ■ 

WO eine ästhetisch fühlende Künstlerseele die Natur- 
wissenschaft zu fördern sucht. Ein Beispiel dafür 
aus unserer Zeit ist Haeckel. Doch mir kam es 
wesentlich nur darauf an, mit möglichster Schärfe 
einen der Funkte zu bezeichnen, in dem Goethe und 
Humboldt als Naturforscher sich berühren. 

Noch einen zweiten dieser Berührungspunkte 
möcht ich hier erörtern: das tiefe Verständnis und 
die hingebende Liebe, die beide Forscher für die 
historische Darstellung ihrer Wissenschaft bewiesen 
haben. Goethe und Humboldt stehen als Geschichts- 
forscher nicht weniger gross da, denn als Natur- 
forscher. Goethe hat, abgesehen von der historischen 
Würdigung seiner eigenen Studien in seiner „Ge- 
schichte der Farbenlehre*' ein Werk geschaffen, das 
einer seiner neusten Biographen, Richard Mayer, un- 
bedenklich für die bedeutendste Geschichte einer 
Wissenschaft erklärt, die es überhaupt gibt. Keine 
zweite, meint Mayer, tauche wie diese herunter auf 
den Grund der Dinge und suche wie sie die histo- 
rischen Urphänomene auf, keine zweite erfasse wie 
sie auf dem lebensvollen Hintergrund der Zeit und 
des Ortes die Eigenheit der Individuen. Was seit 
Taine als neue Heilswahrheit verkündet werde : dass 
die Geschichte den einzelnen nur aus seiner Um- 
gebung verstehen könne, das sei hier längst durch- 
geführt. 

Die Geschichte der Farbenlehre erstreckt sich 
von den ältesten Zeiten bis auf die letzten Jahre 
des i8. Jahrhunderts. Nach einigen Betrachtungen 



— 37 — 

über die Geschichte der Urzeit, die die Freude des 
Menschen an den Farben auf seine angeborene Lust 
am „Mischen, Sudeln und Manschen^ zurückführen, 
werden die Ansichten der Griechen und Römer über 
die Farbe erörtert und namentlich die diesbezüg*^ 
liehen Ansichten des Aristoteles eingehend berück- 
sichtigt. Blicke auf Kunst und Leben der Griechen, 
Betrachtungen über das Wesen des Experiments 
und eine tiefeindringende Vergleichung zwischen 
Kunst und Wissenschaft sind diesem Abschnitte 
eingefügt. Ihm folgt eine Zusammenstellung von 
Aphorismen über verschiedene Probleme der Wissen- 
schaft, von der Charlotte v. Schiller sagte, man stehe 
vor ihr wie vor einem gefundenen Schatzkästlein und 
fördere ein Juwel nach dem andern ans Tageslicht 
Dann ziehen die grossen Naturforscher des 15.^ 16. 
und 17. Jahrhunderts, Roger Bacon, Keppler, Galilei, 
Baco V. Verulam u. a. an unserm geistigen Auge 
vorüber. Ihnen folgt Newton, Goethens grosser 
Antipode, und endlich erscheint der Verfasser selbst 
mit seiner ebenso schlichten als lebensvollen Kon- 
fession. 

Noch vielseitiger in Bezug auf die historische 
Darstellung seiner Wissenschaft als Goethe ist Alexan- 
der V. Humboldt. Seine „Kritischen Untersuchungen 
über die historische Entwicklung unserer geographischen 
Kenntnisse von der neuen Welt* und die übrigen ge- 
schichtlichen Teile seines amerikanischen und asia- 
tischen Reisewerks beweisen seine glänzende Be- 
fähigung auf diesem Gebiete nicht weniger als die 



- 38 - 

;,Geschichte der physischen Weltanschauung" im 
zweiten Band des Kosmos. Diese, auf die umfassendste 
kritische Quellenforschung gestützt, bildet vielleicht 
den bedeutendsten und für alle Zeiten wertvollsten 
Teil des ganzen gross angelegten Werkes. 

Humboldt definiert die Geschichte der physischen 
Weltanschauung als die Geschichte der Erkenntnis 
eines Naturganzen, als die Darstellung des Strebens 
der Menschheit, das Zusammenwirken der Kräfte im 
Erd- und Himmelraum zu begreifen. Diese Geschichte 
soll dreierlei berücksichtigen : erstens, das selbständige 
Streben der Vernunft nach Erkenntnis von Natur- 
gesetzen, wie es sich u. a. in Kepplers Planeten- 
gesetzen und Newtons Gravitationsgesetz offenbart; 
zweitens, die Weltbegebenheiten, die plötzlich den 
Horizont der Beobachtung bedeutend erweitert haben, 
wie Völkerwanderungen, Schiffahrt und Heereszüge, 
und drittens, die Erfindung neuer Mittel sinnlicher 
Wahrnehmung, wie Fernrohr, Mikroskop, Pendel, 
Barometer und Thermometer. 

Auf Grund dieser drei Gesichtspunkte verfolgt 
Humboldt in acht Kapiteln die allmähliche Ent- 
wicklung der Kosmosidee von ihren ersten un- 
bestimmten Anfangen durch alle Zeiten bis zu dem 
Augenblick, da er selbst sie bewusst formulierte. 
Er geht aus von den alten Sitzen der Menschen- 
bildung in Ägypten, Phönizien und Etrurien. Dann 
schildert er den Einfluss des Griechentums auf die 
Erweiterung der Weltansicht. Die Feldzüge der 
Mazedonier unter Alexander dem Grossen, die dem 



— 39 - 

•Griechenvolke einen grossen und schönen Teil der 
Erdoberfläche erschlossen, werden als wissenschaft- 
liche Expeditionen ersten Ranges gefeiert. Zu kaum 
•einer andern Zeit sei einem Teil des Menschen- 
■geschlechts eine reichere Fülle neuer Naturansichten, 
^in grösseres Material zum Ausbau der wissenschaft- 
lichen Erdkunde dargeboten worden. Als ein glück- 
liches Zusammentreffen günstiger Umstände wird es 
bezeichnet, dass gerade zu dieser Zeit durch die 
«mpirisch - philosophische Richtung des Aristoteles 
tind seine alles scharf umgrenzende wissenschaftliche 
Sprache die geistige Verarbeitung des angehäuften 
Materials erleichtert und vervielfältigt wurde. 

Es folgt die Darstellung der glänzenden Epoche 
-astronomischen und mathematischen Wissens unter 
-der Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten. Erfahrung 
und Beobachtung gelten in dieser grossen Zeit als 
•die wahren Quellen der Erkenntnis, neben dem stoif- 
anhäufenden Sammelfleiss offenbart sich eine glück- 
iiche Verallgemeinerung der Ansichten. Eratosthenes 
von Cyrene verarbeitet die Schätze der alexan- 
•drinischen Bibliothek zu einer systematischen Uni- 
versalgeographie und versucht die Grösse der Erde 
-durch eine Gradmessung zu bestimmen. Hipparch, 
der Begründer der wissenschaftlichen Astronomie, 
•der grösste selbstbeobachtende Astronom des ganzen 
Altertums, verfertigt astronomische Tafeln, entdeckt 
-die Präzession der Nachtgleichen und bestimmt die 
Lage der Fixsterne. 

Die Darstellung geht dann über zur Schilderung 



— 40 — 

des Einflusses der römischen Weltherrschaft auf die 
Erweiterung des kosmischen Wissens. Als Beobachter 
der organischen Natur erheben sich in dieser langen 
Periode nur Dioskorides, der Botaniker, und Galenus, 
der Anatora. Die ersten Schritte in der experimen* 
talen Optik tut Claudius Ptolemäus. Den Reflex 
des ausgebreiteten Welthandels ofienbaren die geo- 
graphischen Riesenwerke desselben Ptolemäus und 
des Strabo. Eine grossartig angelegte encyklopä- 
dische Weltbeschreibung versucht Plinius. 

Nach dem Untergang der römischen Weltherr- 
schaft ersteht ein neues fremdartiges Element der 
Bildung. Die Araber führen das von Völkerstürmen 
erschütterte Europa zu den ewigen Quellen grie* 
chischer Philosophie zurück. Sie werden die eigent- 
lichen Begründer der physischen und chemischen 
Wissenschaften und geben der von der alexandrinischen 
Schule begründeten Arzneimittellehre eine wissen- 
schaftliche Grundlage. Öffentliche wissenschaftliche 
Institute vereinigen eine grosse Zahl bedeutender 
Männer. Eine lange Reihe hervorragender Geographen 
nennt uns die arabische Literatur. Durch ihre Schriften 
und ihren ausgebreiteten Handelsverkehr befördern 
die Araber den Gebrauch des indischen Zahlen- 
systems. 

Die Erörterung dieser Momente füllt den fünften 
Abschnitt in Humboldts Werk. Der sechste be- 
schäftigt sich mit den grossen ozeanischen Ent- 
deckungen von Columbus, Sebastian Cabot und 
Vasko de Gama. Diese Entdeckungen führen den 



— 41 — 

westlichen Völkern Europas eine ungeheure Fülle 
von Material zum Ausbau der physischen Erdkunde 
zu und fallen zeitlich wunderbar zusammen mit 
grossen Ereignissen im politischen und sittlichen 
Leben der europäischen Völker. In demselben^ 
Monat, in dem Cortez gegen Mexiko zieht, vet brennt 
Luther die Bannbulle in' Wittenberg. Die herrlichsten 
Gebilde der hellenischen Kunst treten damals hervori 
der Laokoon , der Apoll von Belvedere und die 
mediceische Venus. Es blühen in Italien Michel 
AngelOy Leonardo da Vinci, Titian und Raphael, in 
Deutschland Holbein und Albrecht Dürer. Im Todes- 
jahr des Columbus findet Kopemikus sein neues- 
Weltsystem. 

Auf dieses Zeitalter der grössten Entdeckungen- 
an der Oberfläche unseres Planeten folgt unmittelbar 
die Besitznahme eines grossen Teils der Himmels* 
räume durch das Fernrohr. Die Anwendung dieses- 
Werkzeugs von raumdurchdringender Kraft ruft eine 
neue Welt von Ideen hervor. Es beginnt ein glän- 
zendes Zeitalter der Mathematik und Astronomie, 
das Zeitalter von Keppler, Galilei und Bacon, von 
Tycho, Descartes und Huyghens, von Newton und 
Leibniz. In grossen Zügen deutet Humboldt an,, 
wodurch diese Männer in Erweiterung kosmischen. 
Wissens glänzen. 

Mit ihnen beschliesst er seine Geschichte der 
physischen Weltanschauung, die von da ab allmählich 
zusammenschmilzt mit der Geschichte der physischen 
Wissenschaften. Rückblickend überschaut er im 



— 42 — 

letzten Kapitel noch einmal die durchlaufenen Pe- 
rioden. 

Aus den bisherigen Betrachtungen ergibt sich, 
-dass die eigenartige Verschmelzung naturwissen- 
schaftlicher, ästhetischer und historischer Momente 
•der Naturwissenschaft Goethens und Humboldts einen 
einheitlichen Charakter aufdrückt. Beide Männer 
waren sich dieser Geistesgemeinschaft auch wohl 
bewusst und haben mit gegenseitiger Anerkennung 
ihrer Verdienste nie gekargt. Wie hoch Humboldt 
die botanische Tätigkeit Goethens schätzte und wie 
sehr er seine Naturschilderungen pries, haben wir be- 
reits gesehen. Mit warmer Anerkennung gedenkt 
«r auch stets der persönlichen Förderung, die er 
•durch Gofethe empfangen und in herzlichen Worten 
gibt er seiner Verehrung Ausdruck. 

,, Beide Humboldt e,** schreibt er ihm 1825 aus 
Paris, „gehören Ihnen an, und der Stolz ihres Lebens 
war es, Ihren Beifall sich erworben zu haben.* 

Goethe seinerseits verfolgt von Anfang an mit 
Liebe und Interesse die aufsteigende Laufbahn des 
zwanzig Jahre jungem Forschers und fühlt sich bald 
selbst durch ihn gefördert. Bereits 1795 nennt er 
sein briefliches Verhältnis zu ihm sehr interessant 
und bringt er auf Humboldts Veranlassung seine 
Ideen über vergleichende Anatomie und deren metho- 
dische Behandlung zu Papier. Einige Zeit später 
schreibt er an Körner, die Gegenwart des Jüngern 
von Humboldt reiche allein hin , eine ganze Lebens- 
•epoche interessant auszufüllen, da er alles in Be- 



— 43 — 

"««regung setze, was nur irgend chemisch, physisch 
oder physiologisch interessant sein könne. Nach 
Humboldts grosser Weltreise bespricht Goethe mit 
höchster Anerkennung dessen Ideen zu einer Physio- 
gnomik der Gewächse und fühlt sich hochgeehrt 
•durch die Zueignung der Ideen zu einer Geographie 
der Pflanzen. Er macht sie zum Gegenstand seiner 
Mittwochabendvorlesungen und zeichnet zum bessern 
Verständnis eine symbolische Landschaf c, die er 
Humboldt inschriftlich widmet. Wohl mit Bezug auf 
dieses Werk heisst es in Ottiliens Tagebuch in den 
^Wahlverwandtschaften**: „Nur der Naturforscher ist 
verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste, 
mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedes- 
mal in dem eigensten Elemente zu schildern und 
darzustellen weiss. Wie gern möchte ich nur einmal 
Humboldt erzählen hören.** 

Im Jahre 1816, kurz nach dem Tode seiner 
Gattin, ist Humboldts Werk über die Verteilung 
der Pflanzengestalten für Goethe ein Trost im Leid: 

In Trauertagen 

Gelangte zu mir dein herrlich Heft. 

Es schien zu sagen: 

Ermanne dich zu fröhlichem Geschäft. 

Die Welt in allen Zonen grünt und blüht 

Nach ewigen beweglichen Gesetzen. 

I)as wusstest du doch sonst zu schätzen. 

Erheitre so durch mich dein schwer bedrängt Gemüt. 

„Trotz aller Verwirrung**, schreibt er damals an 
Boisser^e, „stiess mich dieses gering blätterige, aber 
höchst bedeutende Werk auf die so lang betretenen 



— 44 — 

und gewohnten Naturpfade wieder hin, und so ist der 
dunkle Grund des gegenwärtigen Augenblicks durchs 
heitere, erfreuliche und bunte Bilder geschmückt." 

Bis in die letzten Lebensjahre Goethens lassen 
sich diese anerkennenden Äusserungen dem grossen 
Naturforscher gegenüber verfolgen. Eckermann findet 
den Dichter eines Tages in sehr heiter aufgeregter 
Stimmung. Mit Enthusiasmus erzählt er von einem 
mehrstündigen Besuch Alexander v. Humboldts.. 
Dieser habe an Kenntnissen, lebendigem Wissen und 
Vielseitigkeit nicht seinesgleichen. Wohin man rühre 
sei er zu Hause und überschütte uns mit geistigen 
Schätzen. Er gleiche einem Brunnen mit vielen 
Röhren, wo man überall nur Gefässc unterzuhalten 
brauche und wo es uns immer erquicklich und un-> 
erschöpflich entgegenströme. 

In einem Punkte jedoch waren Goethe und 
Humboldt als Naturforscher schrofie Antipoden. In 
dem grossen Streite, der am Ende des vorigen und 
am Anfang dieses Jahrhunderts die Geologen bewegte, 
stand Goethe auf selten der Neptunisten, Humboldt 
auf der der Vulkanisten. Goethe suchte alle geo- 
logischen Phänomene durch die stille Tätigkeit des. 
Wassers und der Luft zu erklären und bekämpfte 
mit Leidenschaft jene Naturforscher, die wie Alexan- 
der v. Humboldt dem Feuer, den Vulkanen und 
Erdbeben, den Hauptanteil an der Gestaltung der 
Erdrinde zuschrieben. In einem diesbezüglichen 
Gespräch mit dem Kanzler v. Müller meinte er, Hum- 
boldt habe eigentlich nie eine höhere Methode ge- 



— 45 — 

'habt sondern bloss viel gesunden Verstand, viel 
Eifer und Beharrlichkeit. Im Ästhetischen könne 
jeder allenfalls noch glauben und fühlen, wie er 
-wolle, in den Naturwissenschaften aber sei das Falsche 
und Absurde geradezu unerträglich. 

Einige Zeit später machte er den scherzhaften 
Vorschlag, seiner Freundin, Frau Scymanowska, etwa 
folgendes Empfehlungsschreiben an den grossen 
Plutonisten mitzugeben: „Da Sie zu den Natur- 
forschern gehören, die alles durch Vulkane erklären, 
so sende ich Ihnen einen weiblichen Vulkan, der 
alles vollends versengt und verbrennt was noch übrig 
-ist." Und bei einer andern Gelegenheit grollte er: 
.„Wenn Alexander v. Humboldt und die andern Plu- 
>tonisten mir*8 zu toll machen, werde ich sie schänd- 
lich blamieren, schon zimmere ich Xenien genug im 
stillen gegen sie; die Nachwelt soll wissen, dass doch 
wenigstens ein gescheiter Mann in unserm Zeitalter 
:gelebt hat, der jene Absurditäten durchschaute.** 

In der Tat hat Goethe auch in Versen den 
Vulkanismus bekämpft und den Neptunismus ver- 
teidigt. Als Werner, das Haupt der neptunistvschen 
•Schule gestorben war, schrieb er ; 

Kamn wendet der edle Werner den Rücken 
Zerstört man das poseidaoniscbe Reich, 
Wenn alle sich vor Hepbästos bücken, 
Ich kann es nicht sogleich. 
Ich weiss nur in der Folge zu schätzen, 
Schon hab ich manches Credo verpasst. 
Mir sind sie alle gleich verhasst 
^eue Götter und Götzen. 



- 46 - 

Und im zweiten. Teil des Faust, wo der Streit 
zwischen Neptanisten und Vulkanisten symboliscb 
dargestellt ist, spottet Mephisto der vulkanischen 
HebungsTtheorieen : 

Als Gott der Herr — ich weiss auch wohl warum — 

Uns a\is der Luft in tiefste Tiefen bannte, 

Da, wo zentralisch glühend, um und um, 

Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte, 

Wir fanden uns bei allzu grosser Hellung 

In sehr gedrängter, unbequemer Stellung. 

Die Teufel fingen sämtlich an zu husten, 

Von oben und von unten auszupusten. 

Die Hölle schwoll von Schwefelstank und Säure: 

Das gab ein Gas! das ging ins Ungeheure, 

So dass gar bald der Länder flache Kruste, 

So dick sie war, zerkrachend bersten musste. 

Nun haben wir*s an einem andern Zipfel: 

Was ebmals Grund war, ist nun Gipfel. 

Sie gründen auch hierauf die rechten Lehren, 

Das Unterste ins Oberste zu kehren. ' 

Die Zeit milderte indes Goethens Eifer. Wenige 
Monate vor seinem Tode schreibt er an Wilhelm 
V. Humboldt, dass zwar Alexanders Ansicht, die 
geologischen Gegenstände aufzunehmen, seinen^ 
Cerebralsystem ganz unmöglich sei, dass er aber 
mit Anteil und Bewunderung gesehen habe, wie das, 
wovon er sich nicht überzeugen könne, bei Hum- 
boldt folgerecht zusammenhänge und mit der un- 
geheuren Menge seiner Kenntnis in eins greife, wa 
es dann durch seinen unschätzbaren Charakter zu-^ 
sammengehalten werde. 



— 47 — 

So klingt auch dieser einzige Gegensatz der 
beiden Forscher schliesslich aus in einer schönen 
Harmonie. Wie sollte es auch anders sein bei zwei 
Männern, deren ganzes Leben ein einziges heisses 
Streben war nach Erfassung der Harmonie des Welt- 
alls und denen diese Harmonie sich schliesslich in 
so herrlicher Weise offenbarte! Beide stehen am 
Schluss ihres grossen Lebens auf jener hohen Warte» 
von der aus sie das Getriebe der Erscheinungen 
mit einem Blick überschauen, von der aus ein ein- 
heitliches allumfassendes Weltpanorama sich ihrem 
nach Klarheit und Einheit dürstenden Geistesauge 
enthüllt. Beide gleichen auf dieser Höhe ihres Lebens- 
dem Türmer Lynceus im zweiten Teil des Faust, 
und für beide passt das herrliche, die harmonische 
Schönheit aller irdischen und himmlischen Erschei- 
nungen preisende Bekenntnis, das Goethe diesem in. 
den Mund gelegt : 

Zum Sehen geboren, So seh ich in allen 

Zum Schauen bestellt, Die ewige Zier, 

Dem Turme geschworen, Und wie mir*s gefallen,. 

Gefallt mir die Welt. Gefall ich auch mir. 

Ich blick in die Ferne, Ihr glücklichen Augen, 

Ich seh in der Näh Was je ihr gesehn, 

Den Mond und die Sterne, Es sei wie es wolle. 

Den Wald und das Reh. Es war doch so schön L 



GOETHE UND DARWIN 




: I Y } 






j' 



verdiente Begründer und Leiter 
zoologischen Station in Neapel, 

Ion Dohrn, hat einmal gesagt, dass 
den durch Darwin neugeschaffenen 

schungBgebieten ohne Intuition und 
dichterisch plastische Gestaltungskraft schwerlich 
grosse Fortschritte gemacht werden können. Damit ist 
anerkannt, dass Darwin der Forschung Wege gewlesen 
bat, auf denen sie sich derselt>en Mittel bedienen muss 
wie der Dichter und Künstler bei seiner schöpferischen 
Tätigkeit Die rohe Empirie, die nur ara Einzelnen 
klebt, nur das unmittelbar den Sinnen FassUche 
gelten lägst, wird verlassen und die schöpferische 
Phantasie als mächtige Hilfskraft wissenschaftlicher 
Forschung proklamiert. Dichter und Forscher nähern 
sich hier wieder, nachdem sie lange als Antipoden 
einander gegenüber gestanden hatten. Wie schroff 
der Gegensatz zwischen beiden in der vordarwinschen 
Zeit war, das erhellt aus der Aufnahme, die Goethes 
geniale n atur wissen sc iiaftliche Arbeiten bei der 
grossen Mehrzahl der Fachgelehrten seiner Zeit fanden, 



— 52 — 

aus dem Spott und Hohn , mit denen die offizielle 
zünftige Wissenschaft diese Strebungen des Dichter- 
fürsten überhäufte. 

Nach Darwin ist das anders geworden. Selbst 
der engherzigste Zunftgelehrte wird heute den natur- 
wissenschaftlichen Leistungen Goethes den Tribut 
seiner Achtung nicht mehr versagen. Die Wissen- 
schaft selbst ist heute durchdrungen vom Geist 
Goethischer Forschung. Und dass sie diesen hohen 
Standpunkt erklommen, dass sie die Fesseln der 
rohen Empirie abgestreift hat und dem dichterischen 
Phantasieflug sein Recht nicht länger schmälert, das 
ist vielleicht das grösste Verdienst, das sich Charlea 
Darwin um den Fortschritt der Wissenschaft erworben 
hat. Er hat vollendet, was Goethe begonnen, er 
hat gesiegt, wo Goethe unterlegen war. Die Namen 
Goethe und Darwin werden in der Geschichte des 
biologischen Denkens und Forschens untrennbar ver- 
bunden bleiben, sie werden stets vereint genannt 
werden als der des Propheten und der des Erfüllers. 

Es ist wohl eine schöne Sache um die theoretische 
Forderung, die Wissenschaft solle induktiv verfahren 
im Bacoschen Sinne des Wortes. Sie solle zuerst 
eine ungeheure Fülle von Tatsachen sammeln und 
dann aus diesen Tatsachen allgemeine Gesetze ab- 
leiten. In Wahrheit werden die grossen genialen , 
und leitenden Gesichtspunkte, die die Wissenschaft . 
befruchten und vorwärts bringen, die sie beleben 
mit dem Hauche schöpferischer Kraft ganz anders 
gewonnen. In einigen wenigen, oft unscheinbaren 



— 53 — 

Tatsachen, an denen das Auge des gewöhnlichen 
Menschen achtlos vorübergeht, sieht das Genie 
intuitiv das grosse allgemeine Gesetz. Nur der Hand- 
langer der Wissenschaft häuft Stein auf Stein, um 
ein Gesetz zu Hnden, dem genialen Forscher schwebt 
das Gesetz im Geist bereits vor, eh er das ganze 
Tatsachenmaterial beherrscht, er häuft, wenn er ein 
echter Forscher ist , wohl auch Stein auf Stein, aber 
nicht, um das Gesetz zu finden, sondern um es an 
den Tatsachen auf seinen Wert, seine Tragweite und 
seinen Gehalt zu prüfen. Der intuitive Gedanke ist 
für den genialen Forscher das treibende Motiv seiner 
weitern Forschung, nur durch ihn ist die Wissen- 
schaft mit grossen leitenden Ideen befruchtet worden. 
Intuitiv fand Darwin das Entwicklungsgesetz. 
Einige wenige Tatsachen enthüllten es ihm. Die 
Knochen ausgestorbner Riesensäugetiere im Pampas- 
schlamm Südamerikas, die Tiere und Pflanzen der 
Schildkröteninseln im stillen Ozean. Erst dann, 
nachdem der Gedanke der Entwicklung einmal ge- 
fasst war, begann die jahrzehntelange stille Einzel- 
arbeit zur Prüfung und Bestätigung des bereits ge- 
fundenen Gesetzes. Und wie hier, so bildeten auch 
sonst wenige geringfügige Einzel tatsachen die Aus- 
gangspunkte fast aller grossen (Jntersuchungsreihen 
Darwins. Sein Oheim, Josiah Wedgwood, machte 
ihn darauf aufmerksam, dass auf die Oberfläche 
eines Ackers gestreute Gegenstände, wie Kohle und 
Kalk, die schichtweise aufgetragen waren, sich nach 
mehreren Jahren in einiger Tiefe unter der Rasen- 



— 54 — 

decke befanden. Für Darwin wurde diese Mitteilung 
der Ausgangspunkt langjähriger Untersuchungen über 
die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der 
Regenwürmer. 

Im Chonosarchipel fand Darwin einen kleinen 
Rankenkrebs von Vio Zoll Länge, eingeschlossen in 
die Schale eines andern Krebses. Dieser Fund 
wurde der Keim seiner grossen Monographie der 
Rankenkrebse. Alle andere zoologische Ausbeute der 
Reise war an Spezialisten gegeben worden, die das 
Tatsächliche bearbeiteten, aber keines der Materialien 
wurde Ausgangspunkt umfassender Untersuchungen. 

Boitard und Corbie hatten die Beobachtung 
gemacht, dass bei Kreuzung gewisser Taubenrassen 
Vögel entstanden, die wie die wilde Feldtaube ge- 
färbt waren. Für Darwin wurde diese Tatsache der 
Ausgangspunkt zahlreicher Experimente über Rück- 
schlag durch Kreuzung. 

Im Jahre 1860 beobachtete Darwin auf einer 
Ferienreise einen Sonnentau und war verwundert über 
die grosse Zahl Insekten, die von den Blättern 
dieser Pflanze gefangen worden waren. Diese kleine 
Beobachtung regte ihn zu seinen jahrelangen Unter- 
suchungen über insektenfressende Pflanzen an. 

Ich kenne nur einen andern Mann, bei dem 
diese Fähigkeit, die Bedeutung der geringfügigsten 
Tatsache zu erkennen in so eminentem Masse aus- 
gebildet war wie bei Darwin : Goethe. Auch er sah 
in jedem einzelnen konkreten Fall das Typische, 
Gesetzliche, auch für ihn wurden geringfügige Einzel- 



— 55 — 

Beobachtungen Ausgangspunkte umfassender Theo- 
rieen und weitreichender Untersuchungsreihen. 

Das Vorhandensein des Zwischenkieferknochens 
auch beim Menschen war ihm ein Beweis, dass der 
Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt sei. 
Ein glücklich geborstner Schafschädel, den er auf 
den Dünen des Lido bei Venedig fand, offenbarte 
ihm die Wirbeltheorie des Schädels. Eine Fächer- 
palme im, botanischen Garten zu Padua erweckte in 
ihm die Idee der Urpflanze. Ein einziger Blick durch 
ein Glasprisma regte ihn zu seinen jahrelangen Unter- 
suchungen über Farbenlehre an. Freilich ging seine 
empirische Forschungstätigkeit dann nicht so weit 
iin einzelnen wie bei Darwin, dafür war er eben 
Dichter und Darwin Naturforscher, .aber die psycho- 
logischen Momente und die methodologischen Prin- 
zipien der Forschung waren bei Goethe und Darwin 
dieselben. 

Beide Männer haben aber nicht nur durch ihre 
praktische Tätigkeit diese Prinzipien naturwissen- 
schaftlicher Methodik verkündet, sondern auch in 
-direkten Worten auf die Methode hingewiesen, die 
allein zu fruchtbaren Ergebnissen in der Natur- 
wissenschaft führen kann. Beide betonen wiederholt 
mit Entschiedenheit die Notwendigkeit inniger Durch- 
dringung von Erfahrung und Denken, Eippirie und 
Spekulation, Induktion und Deduktion, Analyse und 
Synthese, beide sehen in der rohen Anhäufung von 
Tatsachen eine Gefahr für die Wissenschaft. So 
fichrieb Darwin im Jahre 1859 ^^ ^^^ Botaniker 



- 56 - 

Hooker : „Es ist meine alte und feste Überzeugung^ 
dass die Naturforscher, die Tatsachen anhäufen und 
viele teilweise VeraUgemeinerungen machen, die wirk» 
liehen Wohltäter der Wissenschaft sind. Die, welche 
nur Tatsachen zusammenhäufen, kann ich nicht sehr 
hoch achten. '^ Und ebenso tritt er im folgende» 
Jahr in einem Brief an Lyde für die Notwendigkeit 
der Theorieen ein: „Nach Hopkins Massstab für 
Wahrheit,* schreibt er dort, „dürfte die Natur- 
wissenschaft niemals fortschreiten, denn ich bin über- 
zeugt, ohne Theorieen aufzustellen, würde es auch 
keine Beobachtung geben." 

Darwin selbst hatte in früher Jugend die Er- 
fahrung gemacht, wie leicht Erscheinungen übersehen 
werden, ohne die Hilfe einer Theorie, wie augen- 
fällig diese Erscheinungen auch sein mögen. Als er 
mit Sedgwick eine geologische Exkursion nach Nord- 
wales unternahm, sah keiner von beiden, trotz sorg- 
faltiger Untersuchung der Gesteinsarten die deutlichen 
Spuren der Gletschertätigkeit, die sie rings umgaben r 
die geschrammten Felsen, die übereinander gehäuften 
Findlingsblöcke, die Saiten- und Endmoränen. Sie 
würden tief von ihnen berührt worden sein, wenn 
die Gletschertheorie bereits aufgestellt gewesen wäre.. 

Später hat dann Darwin durch seine eigene 
grosse Theorie praktisch gezeigt, welch ungeheure 
Bedeutung eine gute Theorie für die Beobachtung 
besitzt, eine Bedeutung, die Huxley in den Worten 
ausdrückte: „Die Entstehung versah uns mit der 
Arbeitshypothese, die wir suchten." 



— 57 - 

Selbst bis auf ganz geringfügige £inzelheiten> 
erstreckt sich nach Darwin die Bedeutung der Theorie 
für die Beobachtung. So sagt er in bezug auf die 
drei Formen des Weiderichs: „Die Existenz der drer 
Formen wurde zuerst von Vaucher beobachtet und 
später noch sorgfaltiger von Wirtgen, da aber diese- 
Botaniker durch keinerlei Theorie oder selbst Ver- 
mutung ihrer funktionellen Verschiedenheiten geleitet 
wurden» nahmen sie einige der merkwürdigsten^ 
Differenzpunkte in der Struktur nicht wahr." 

Mit diesen Ansichten Darwins über wissenschaft- 
liche Methodik, vergleiche man nun Goethes dies- 
bezügliche Aussprüche. 

„Ist es doch eine höchst wunderliche Forderung," 
sagt er im Vorwort zu seiner Farbenlehre, „die wohli 
manchmal gemacht, aber auch selbst von denen^ 
die sie machen, nicht erfüllt wird, Erfahrungen solle 
man ohne irgend ein theoretisches Band vortragen 
und dem Leser, dem Schüler überlassen, sich selbst 
nach Belieben irgend eine Überzeugung zu bilden. 
Denn das blosse Anblicken einer Sache kann uns- 
nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Be- 
trachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen 
in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass- 
wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in der 
Welt theoretisieren." Und in Goethes Aufsatz über 
Analyse und Synthese heisst es: „Ein Jahrhundert^ 
das sich bloss auf die Analyse verlegt und sich vor 
der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem. 
rechten Wege, denn nur beide zusammen wie Aus- 



- 58 - 

und Einatmen machen das Leben der Wissenschaft." 
Ganz ähnlich lauten endlich folgende Worte in 
Goethes Aufsatz über den Prinzipienstreit zwißchen 
Cuvier und Geoffroy Sant Hilaire: „Möge doch jed^r 
von uns bei dieser Gelegenheit sagen, dass Sondern 
und Verknüpfen zwei unzertrennliche Lebensakte 
«ind. Vielleicht ist es besser gesagt, dass es un- 
•erlässlich ist, man möge wollen oder nicht, aus dem 
Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze 
zu gehen, und je lebendiger diese Funktionen des 
Geistes wie Aus- und Einatmen sich zusammen ver- 
halt;en, desto besser wird für die Wissenschaften und 
ihre Freunde gesorgt sein." 

Für Goethe wie für Darwin war die Natur- 
iK^issenschaft Naturphilosophie. Das alte, in Deutsch- 
land und Frankreich so lang verpönte Wort hat in 
England nie seinen metallenen Klang verloren. 
Natural Philosophy ist dem Engländer gleichbedeutend 
mit^Natural Science. Ein Engländer sollte es denn 
^uch in Deutschland wieder zu Ehren bringen und 
•damit Goethens Worten gerecht werden : 

Von Gott dem Vater stammt Natur 
Das allerliebste Frauenbild ; 
Des Menschen Geist, ihr auf der Spur, 
Ein treuer Werber, fand sie mild. 
Sie liebten sieb nicht unfruchtbar, 
Ein Kind entsprang von hohem Sinn; 
So ist uns allen offenbar : 
Naturphilosophie sei Gottes Enkelin. 

Fasst man die Naturwissenschaft in diesem 
Goethe-Darwinschen Sinn als Naturphilosophie, so 



— 59 — 

spricht man ihr damit das Recht zu, bei der Ent- 
scheidung über die grossen Fragen der Weltan- 
schauung ein Wort mitzureden. Vor allem wird sie 
ihr gewichtiges Urteil abzugeben haben in der grossen 
philosophisch - methodologischen Prinzipienfrage ob 
Mechanismus, ob Teleologie. Sind es lediglich 
mechanische Ursachen, causae efficientes, die blind 
mit unerbittlicher Notwendigkeit wirkend das Weltall 
und seine Einzeldinge gestaltet haben, oder sind 
auch zwecktätige Kräfte, causae finales, Endursachen 
dabei beteiligt gewesen? Ist das Weltall das End- 
resultat eines mechanischen Entwicklungsprozesses 
oder das vorausbestimmte Produkt eines nach be- 
stimmten Zwecken handelnden göttlichen Baumeisters? 
Ist vor allem die bewundernswürdige Zweckmässigkeit 
in der organischen Natur das Resultat blinder Natur- 
kräfte oder das Ergebnis eines zwecktätig wirksamen 
Prinzips ? 

Auch Goethe und Darwin sind an dieser grossen 
Prinzipienfrage nicht achtlos vorübergegangen und 
beide haben sie zu beantworten versucht im Sinne 
des Mechanismus. Mit Kant glaubten sie, dass es 
ohne das Prinzip des Mechanismus eine Natur- 
wissenschaft überhaupt nicht geben könne. Aber 
während Kant mit diesem Gedanken für die orga- 
nische Natur nicht Ernst machte, während er es für 
gewiss hielt, dass wir die organisierten Wesen nach 
bloss mechanischen Prinzipien nicht einmal zureichend 
kennen lernen, viel weniger uns erklären können, so 
dass es für den Menschen ungereimt sei, auf einen 



— 6o — 

Newton der organischen Natur zu hoffen, der auch 
nur die Erzeugung eines Grashalmes nach Natur» 
gesetzen begreiflich machen werde, während also- 
Kant inbezug auf die organische Natur sich der 
Teleologie in die Arme warf, haben Goethe und 
Darwin gerade hier die alleinige Zulässigkeit der 
mechanistischen Betrachtungsweise betont. 

Goethe bezeichnet die teleologische Denkweise 
als einen traurigen Behelf, der völlig beseitigt werden 
müsse. Vaucher, sagt er, erklärt die physiologischen 
Phänomene nach teleologischen Ansichten, welche 
die unsrigen nicht sind, noch sein können. A1& 
wichtigstes Ergebnis seines Studiums von Kants Kritik 
der Urteilskraft bezeichnet er es, dass seine Ab- 
neigung gegen die Endursachen nun geregelt und 
gerechtfertigt sei. Wie klar Goethe den Gedanken 
des Mechanismus nun bereits erfasste und wie scharf 
er die teleologische Methode verurteilte, das zeigt 
besonders sein, wahrscheinlich am Anfang der neunziger 
Jahre geschriebener „Versuch einer allgemeinen Ver- 
gleichslehre". Dort gibt er der Ansicht Ausdruck,, 
dass die Vorstellungsart, ein lebendiges Wesen werde 
zu gewissen Zwecken nach aussen hervorgebracht 
und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft 
dazu determiniert, uns in der philosophischen Be- 
trachtung der natürlichen Dinge schon mehrere Jahr- 
hunderte aufgehalten habe und noch aufhalte. Der 
Mensch sei gewohnt, die Dinge nur in dem Masse 
zu schätzen, als sie ihm nützlich sind und da er die 
Sachen brauchen könne, so folgere er daraus, sie 



— 6i — 

seien hervorgebracht worden, dass er sie brauche. 
Da er ferner an sich und andern diejenigen Hand* 
lungen und Wirkungen am meisten schätze, die ab- 
sichtlich und zweckmässig sind, so folge daraus, dass 
er auch der Natur, von der er unmöglich einen 
grossem Begriff als von sich selbst haben könne, 
Absichten und Zwecke zuschreiben werde. Ein Natur- 
forscher aber, der über die allgemeinen Dinge weiter 
denken wolle, müsse sich über den trivialen Zweck- 
begriff erheben, und wenn er auch als Mensch jene 
Vorstellungsart nicht los werden könne, so müsse er 
wenigstens, insofern er ein Naturforscher sei, sie 
so viel als möglich von sich entfernen. 

Auch eine Andeutung, wie die zweckmässige 
Einrichtung der Organismen rein mechanisch ent- 
standen sein kann, finden wir in diesem Aufsatz 
•der Übereinstimmung zwischen Organisation und 
Medium in der direkten Einwirkung des Mediums 
selbst. „Der Fisch ist für das Wasser da,** schreibt 
er, „scheint mir viel weniger zu sagen als: der Fisch 
ist in dem Wasser und durch das Wasser da; denn 
dieses letzte drückt viel deutlicher aus, was in dem 
erstem nur dunkel verborgen liegt , nämlich die 
Existenz eines Geschöpfes, das wir Fisch nennen, 
sei nur unter der Bedingung eines Elementes, das 
wir Wasser nennen, möglich, nicht allein, um darin 
2U sein, sondern auch um darin zu weiden. Eben 
dieses gilt von allen übrigen* Geschöpfen. Dieses 
wäre also die erste und allgemeinste Betrachtung 
von innen nach aussen und von aussen nach innen. 



-^ 62 — 

Die entschiedene Gestalt ist gleichsam der innere 
Kern, welcher durch die Determination des äusseren 
Elementes sich verschieden bildet. Eben dadurch 
erhält ein Tier seine Zweckmässigkeit nach aussen, 
weil es von aussen so gut als von innen gebildet 
worden; und was noch mehr, aber natürlich ist, 
weil das äussere Element die äussere Gestalt eher 
nach sich als die innere umbilden kann. Wir 
können dieses am besten bei den Robbenarten 
sehen, deren Äusseres so viel von der Fischgestalt 
annimmt, wenn ihr Skelett uns noch das vollkommene 
vierfüssige Tier darstellt.** 

Etwa um dieselbe Zeit schrieb Goethe in seinem 
Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die ver- 
gleichende Anatomie: „Man wird also künftig von» 
solchen Gliedern, wie z. B. von den Eckzähnen des 
Sus Cabirussa (Hirschebers) nicht fragen, wozu dienen 
sie, sondern woher entspringen sie ? Man wird nicht 
behaupten, einem Stier seien die Hörner gegeben,, 
dass er stosse, sondern man wird untersuchen, wie 
er Hörner haben könne, um zu stossen.** 

Auch in Gesprächen mit Eckermann hat sich 
Goethe mit grosser Klarheit über diesen Punkt ge- 
äussert. Er spottet dort über die Nützlichkeitslehrer,, 
die da sagen, der Ochse habe Hörner, um sich 
damit zu wehren. Man müsse dann fragen, warum 
das Schaf keine hat oder warum sie ihm um die 
Ohren gewickelt sind, so dass sie ihm zu nichts, 
dienen. Die Frage nach dem Zweck sei überhaupt 
nicht wissenschaftlich, weiter komme man mit der 



\ 

_ 63 - 

Frage nie. „Denn wenn ich frage, wie hat der 
Ochse Hörner, so führt mich das auf die Betrachtung 
seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum- 
der Löwe keine Hörner hat und haben kann." 

„Die Nützlichkeilslehrer," fahrt Goethe fort^ 
„würden glauben; ihren Gott zu verlieren, wenn sie 
nicht den anbeten sollen , der dem Ochsen die 
Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber 
möge man erlauben, dass ich den verehre, der in 
dem Reichtum seiner Schöpfung so gross war, nach- 
tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worii>< 
alle übrigen enthalten und nach tausendfaltigötv 
Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen. 
Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter 
gibt und dem Menschen Speise und Trank so viel 
er gemessen mag; ich aber bete den an, der eine 
solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, dass, 
wenn nur der million teste Teil davon ins Leben tritt, 
die Welt von Geschöpfen wimmelt, so dass Kriege- 
Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben ver- 
mögen. Das ist mein Gott!** 

In diesen letzten Worten glaubt man fast eine 
Vorahnung desjenigen Prinzips zu vernehmen, durch 
das Darwin die organische Zweckmässigkeit mechanisch 
zu erklären versuchte, des Prinzips vom Kampf ums 
Dasein. Aber während Goethe nur andeutungsweise 
die Möglichkeit- einer nicht teleologischen Erklärung 
der zweckmässigen Einrichtungen iti der organischen 
Natur hinstellte, machte Darwin den ersten um- 
fassenden Versuch , die Formen der organischen 






- 64 - 

Wesen ohne Zohülfenahme zwecktatig wirksamer 
l£ndursachen zu begreifen. Und während Goethe 
"bei der Erklärung der organischen Zweckmässigkeit 
das Hauptgewicht auf die direkte Einwirkung des 
äussern Mediums legte, betonte Darwin vor allem 
•die Auswahl der günstigen Variationen im Kampf 
\ims Dasein. Beiden gemeinsam aber ist nicht nur 
■die Forderung mechanischer Erklärung der Zweck- 
mässigkeit, sondern auch die Anerkennung des Vor- 
iiandenseins dieser Zweckmässigkeit überhaupt. Sie 
leugnen sie nicht, wie dies wohl viele andere Mecha- 
nisten getan haben, sondern heben sie im Gegenteil 
4Stark hervor. Anpassung ist für Darwin geradezu 
die Seele der organischen Natur, und die meisten 
:8einer speziellen Untersuchungsreihen , namentlich 
■auf botanischem Gebiet, haben diese Anpassungs- 
•erscheinungen zum Gegenstand. Die wunderbaren 
Einrichtungen, durch die Blumen von Insekten be- 
fruchtet werden, die Werkzeuge, mit deren Hülfe 
•die Pflanzen kletternd dem Lichte zustreben, die 
Organe, die es ihnen ermöglichen, Insekten zu fangen, 
machte er zum Gegenstand eingehender Forschungen. 
Der Einklang zwischen Organisation und Lebens- 
-weise ist das Grundthema, das er immer und immer 
'wieder variiert. Solange die zahllosen Fälle nicht 
■erklärt werden könnten, in denen Organismen aller 
Art ihrer Lebensweise angepasst sind, z. B. ein Specht 
oder ein Laubfrosch zum Erklettern der Bäume oder 
«in Same zur Verbreitung mittels Hacken und 
Fiedem, so lange schien es ihm nutzlos zu sein, den 




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- 6s - 

Versuch zu machen, durch indirekte Be^^eise festzu- 
■stellen, dass Spezies modifiziert worden sind. 

Und dieselbe Wertschätzung des Verhältnisses 
iswischen Organisation und Lebensweise, dieselbe 
Betonung der organischen Zweckmässigkeit linden 
wir bei Goethe. Am schönsten hat er sie wohl in 
«einer Elegie über die Metamorphose der Tiere 
<iichterisch verherrlicht : 

^Zweck sein selbst ist jegliches Tier, yollkommeo entspringt es 
Ans dem Schoss der Natur und zeugt voUkommene Kinder. 
Alle Glieder bilden sich aus nach ewgen Gesetzen, 
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild. 
So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, 
Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und 

zahnlos 
Oder mächtig der Kiefer gezähnt, in jeglichem Falle 
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung. 
Auch bewegt sich jeglicher Fuss, der lange, der kurze. 
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis. 
So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit 
Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder 
^Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben. 
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres, 
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten 
Mächtig zurück.** 

Was Goethe hier im allgemeinen" über die 
Harmonie zwischen Bau und Tätigkeit aussagt, das 
hat er an dem Beispiel des Zwischenkieferknochens 
im einzelnen dargelegt. Die Form dieses Knochens 
steht in inniger Beziehung zur Art der Nahrung. 
Mit dem Zwischen kieferknochen muss das Tier seine 
Speise zuerst anfassen, ergreifen, abrupfen, abnagen, 

5 



— 66 — 

zerschneiden und sie auf eine oder andre Weise 
sich zueignen. Daher ist er bald flach und mit 
Knorpeln versehen, bald mit stumpfen oder schärfern 
Schneidezähnen bewaffnet oder erhält eine andre 
der Nahrung gemässe Gestalt. Beim Reh ist der 
Zwischenknochen schwach, bügelartig und zahnlos, 
beim Ochsen verstärkt, verflacht und verbreitet, beim 
Löwen vollgedrängt und körperhaft, mächtig durch 
sechs Zähne, stumpfer erscheint er beim Bären, 
vorgestreckter beim Wolf. Das Walross wird wegen 
seiner perpendikularen Gesichtslinie dem Menschen 
ähnlich, der Aflie erhebt sich noch mehr, und end- 
lich stellt der Mensch mit seinem kleinen zurück- 
tretenden Zwischenknochen sich ein. 

Der Zwischenkieferknochen ist überhaupt ein 
geeignetes Objekt, um Goethes allgemeine Natur- 
auffassung und namentlich seine naturwissenschaftliche 
Methodik zu beleuchten. Wie schon aus dem eben 
Gesagten hervorgeht, betrachtet er den Zwischen- 
kieferknochen des Menschen, mit dem er es eigentlich 
allein zu tun hat, nicht als eine isolierte Erscheinung, 
sondern als das Extrem einer weit verbreiteten 
tierischen Bildung. Er betont, dass man bei genauer 
stufenweiser Vergleichung mehrerer Tiere vom Ein- 
fachsten auf das Zusammengesetztere, vom Kleinen 
und Eingeengten auf das Ungeheure und Aus- 
gedehnte fortschreiten kann. „Welch eine Kluft, ** 
ruft er aus, „zwischen dem os intermaxillare der 
Schildkröte und des Elefanten ! Und doch lässt sich 
eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide 



- 67 - 

verbindet." Es ist mit einem Worte das Prinzip 
der Kontinuität oder Stetigkeit, das Goethe hier 
anwendet, um eine isolierte Erscheinung dem Ver« 
ständnis näher zu bringen. 

Schon im Jahre 1779, ganz im Beginn seiner 
strengem naturwissenschaftlichen Studien, hatte Goethe 
aus der Schweiz an Frau von Stein geschrieben: 
„Man fühlt tief, hier ist nichts Willkürliches, alles 
langsam bewegendes, ewiges Gesetz.* Später offen- 
barten ihm dann seine Studien über die Metamorphose 
der Insekten von neuem die ausserordentliche Frucht- 
barkeit des Prinzips der Kontinuität, und er schrieb 
an Schiller, er sei mehr als jemals überzeugt, dass 
man mit dem Begriff der Stetigkeit den organischen 
Naturen trefflich beikomroen könne. 

Am entschiedensten aber hat Goethe diesen 
Begriff auf geologischem Gebiete betont. Hier trat 
er vielfach in schroffen Gegensatz zu den herrschenden 
Anschauungen seiner Zeit und antizipierte die Grund- 
gedanken jener Lehre, die der grosse Geolog Charles 
Lyell später in der Geologie zur Geltung bringen 
sollte. Langsam und allmählich, in ununterbrochnem 
Zusammenhang, hat sich nach Goethe der Erdkörper 
herangebildet, keine gewaltsamen Katastrophen haben 
diesen kontinuierlichen Entwicklungsgang unter- 
brochen. Goethe verlangt, dass man bei Erklärung 
der verschiednen Erdbildungen nur alsdann gewalt- 
same Erdrevolutionen zu Hülfe rufe, wenn man mit 
ruhigen Wirkungen, die denn doch der Natur am 
allergemässesten seien , nicht auskommen könne. 

5* 



-- 68 — 

„Jedes Gewaltsame, Sprunghafte,* äusserte er zu 
Eckermann, ,,ist mir in der Seele zuwider, denn es 
ist nicht naturgemäss. Naturgemäss ist vielmehr ein 
Wirken nach dem Grundsatz der Stetigkeit." Tief 
war er von der Überzeugung durchdrungen, dass 
„die Natur, ruhig und langsam wirkend, auch wohl 
Ausserordentliches vermag.** 

Die neptunistische Lehre Werners war ihm deshalb 
^o sympathisch, weil sie seinen geologischen Kontinui- 
tätsvorstellungen am meisten entsprach. Dagegen 
musste ihm die vulkanische Theorie des Hebens und 
Drängens, des Aufwälzens und Quetschens, des Schleu- 
derns und Schmeissens, der Revolutionen und Kata- 
strophen durchaus widerwärtig erscheinen. Als im 
Jahre 1829 das von Elie de Beaumont vorgetragne 
System, nach dem zuerst der Jurakalk und die ältesten 
Versteinerungen, dann das sächsisch-böhmische Erz- 
gebirge, die Pyrenäen und Apeninnen, endlich die 
höchsten Berge Savoyens sich erhoben haben sollten, 
von der Untersuchungskommission der französischen 
Akademie zu beifalliger Aufnahme empfohlen wurde, 
da wollte sich Goethe zwar nicht als entschiednen 
Widersacher der neuen Lehre bekennen, wohl aber 
behauptete er die Rechte seines gegenständlichen 
Denkens und setzte die Gründe auseinander, aus 
denen er eine derartige Auffassuhgsart nicht in seine 
Denk- xind Fassungskraft aufzunehmen vermöge. 
Wiederholt viele Jahre habe er die Felsen des 
Harzes, des Thüringer Waldes, des Fichtelgebirges, 
Böhmens, der Schweiz und Savoyens geschaut und 



- 69 - 

hier stets Regelmässigkeit und Folge gefunden. Er 
könne deshalb seine Sinnesweise, nicht ändern zu 
Lieb einer Lehre, die von einer entgegengesetzten 
Anschauung ausgehe, wo von gar nichts Festem 
und Regelmässigem mehr die Rede sei, sondern von 
zufälligen, unzusammenhängenden Ereignissien. „Nach 
meinem Anschauen/ sagte er, „baute sich die Erde 
aus sich selbst aus, hier erscheint sie überall ge-* 
borsten und diese Klüfte aus unbekannten Tiefen 
von unten herauf ausgefüllt.'' 

Bis in die letzten Jahre seines Lebens haben 
den Dichter diese geologischen Ideen beschäftigt, 
und noch im zweiten Teil des Faust hat er ihnen 
dichterischen Ausdruck verliehen. Seine Abneigung 
gegen die Ansicht von der plötzlichen Hebung der 
Gebirge drücken die Sphinxe aus in den Worten: 

Welch ein -widerwärtig Zittern, 
Hässlich grausenhaftes Wittern ! 
Welch ein Schwanken, welches Beben, 
Schaukelnd Hin- und Widerstreben ! 
Welch unleidlicher Verdruss ! 
Doch -wir ändern nicht die Stelle, 
Bräche los die ganze Hölle. 

Und als Mephisto sich später zwischen dem 
Gestein verirrt, ruft er spottend aus: 

Wo bin ich denn? Wo wills hinaus: 
Das war ein Pfad, nun ists ein Graus. 
Ich kam daher auf glatten Wegen, 
Und jetzt steht mir Geröll entgegen. 
Vergebens klettr ich auf und nieder, 
Wo find ich meine Sptiinxe wieder ? 



— 70 — 

So toll hätt ich mirs nicht gedacht. 
Ein solch Gebirg in einer Nacht! 
Dass heiss ich frischen Hexenritt, 
Die bringen ihren Blocksberg mit. 

Während hier der Spott über die gewaltsamen 
Theorien der [zeitgenössischen Geologen zum Aus- 
druck kommt, preist Faust in schönen Worten den 
ruhig stillen Entwicklungsgang des Erdkörpers: 

Als die Natur sich in sich selbst gegründet, 
Da hat sie rein den Erdball abgerundet. 
Der Gipfel sich, der Schlachten sich erfreut, 
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht. 
Die Hügel dann bequem hinab gebildet. 
Mit sanftem Zug sie in das Tal gemildet: 
Da grünts und wächsts, und um sich zu erfreuen, 
Bedarf sie nicht der tollen Stradeleien. 

Am schönsten aber gibt wohl das Zwiegespräch 

zwischen Thaies und Anaxagoras den Goethischen 

Kontinuitätsgedanken wieder. Als Anaxagoras den 

Thaies fragt : 

Hast du, o Thaies, je in einer Nacht 

Solch einen Berg aus Schlamm hervorgebracht? 

da antwortet Thaies: 

Nie war Natur und ihr lebendiges Fliessen 
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen ; 
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt, 
Und selbst im grossen ist es nicht Gewalt. 

Auch Darwin hat das Prinzip der Kontinuität 
meisterhaft zu verwerten gewusst , sowohl geologisch 
als biologisch. Geologisch fallen seine Ansichten 
völlig zusammen mit denen Lyells und damit mit 



— 71 - 

den Grundgedanken Goethes. Lyell gehört zu den 
Männern, die in erster Linie bestimnoend auf Darwins 
Geistesrichtung und Naturanschauung eingewirkt 
haben. Als Darwin seine berühmte Weltreise antrat, 
war eben der erste Band des Lyellschen Hauptwerks 
über die Prinzipien der Geologie erschienen, der 
den herrschenden Katastrophenlehren den Fehde- 
handschuh hinwarf. Darwin nahm das Buch mit auf 
die Reise, und hier überzeugte ihn sein Studium 
bald von der grossen Überlegenheit der darin nieder- 
gelegten Ansichten über die andrer Geologen. Er 
prüfte diese Ansichten an der Natur selbst und 
lieferte zahlreiche Beiträge zu ihrem weitern Ausbau, 
Seine Forschungen über die Korallenriffe, über vul- 
kanische Inseln und über die Geologie Südamerikas 
sind durchdrungen von dem Lyellschen Gedanken, 
dass dieselben Kräfte, die heute die Erdrinde um- 
gestalten, auch in frühern geologischen Epochen 
wirksam waren und dass die Entwicklung des Erd- 
körpers langsam und allmählich in ungeheuren Zeit- 
räumen erfolgt ist. Auch für Darwin war die Natur 
in ihrem Wirken nicht auf Tag und Nacht und 
Stunden angewiesen , auch er glaubte , dass sie 
langsam und allmählich wirkend wohl auch Ausser- 
ordentliches zu leisten vermöge. 

Nicht weniger hat Darwin auf biologischem Ge- 
biete das Prinzip der Kontinuität durchzuführen ver- 
sucht. Wie seine ganze Entwicklungslehre eine 
Anwendung dieses Prinzips ist, so bestrebte er sich 
auch stets, dieses Prinzip im einzelnen zur Anwendung 



— 7^ — 

zu bringen und isolierte Erscheinungen als extreme 
Fälle grössrer Gruppen nachzuweisen. Er suchte 
solche Extreme mit gewöhnlichen Fällen in Beziehung 
zu bringen, indem er zeigte, dass sie durch all- 
mähliche Abstufungen mit ihnen verbunden sind. 

Die Schlafbewegungen der Pflanzenblätter scheinen 
eine solche isolierte Erscheinung zu sein. Die Blätter 
bewegen sich bei oberflächlicher Betrachtung nur 
morgens und abends und sind in den Zwischen- 
stunden in Ruhe. Darwin aber belehrt uns, dass 
die Blätter sich beständig bewegen, dass sie am Tage 
und in der Nacht nicht ruhen, sondern sich nur 
langsamer bewegen als am Morgen und Abend. Er 
schliesst daraus, dass die Schlafbewegung der Blätter 
nur eine Modifikation der Circumnutation ist, jener 
schwachen, drehenden Bewegung, in der sich alle 
wachsenden Pflanzenteile befinden. 

In ähnlicher Weise sucht er den Heliotropismus 
mit der Circumnutation in Beziehung zu bringen. 
Er versucht zu zeigen, dass beide Bewegungen alU 
mählich in einander übergehen. Verschiedne 
Pflanzen wurden einem seitlichen Licht ausgesetzt 
und ihre Bewegungen auf Glasplatten aufgezeichnet» 
Es zeigte sich, dass viele Übergänge existieren von 
einer Bewegung nach dem Licht hin mit deutlichen 
Ellipsen und Kreisen, also eine nur wenig modifizierte 
Circumnutation, durch eine mehr oder weniger stark 
zickzackförmige Bewegung mit gelegentlich gebildeten 
Schleifen oder Ellipsen bis zu einer fast oder ganz 
gradlinigen Bewegung. Dieselben Übergänge zeigten 



- 73 — 

sich bei ein und derselben Pflanze, wenn die Inten- 
sität der Lichtquelle geändert wurde. Die Bewegung 
wurde um so gradliniger, je heller das Licht wurde, 
schliesslich ging alle seitliche Bewegung verloren. 

Wo Darwin durch solche Experimente das 
Prinzip der Kontinuität nicht nachzuweisen vermochte, 
da versuchte er, ganz wie Goethe beim Zwischen- 
kieferknochen , isolierte Erscheinungen durch den 
Nachweis in der Natur vorhandner Abstufungen 
mit gewöhnlichen Fällen zu verbinden. Klassische 
Beispiele dafür sind seine Ausführungen über die 
Augenflecke bei Vögeln. Die aussergewöhnlich langen, 
mit prachtvollen Augenflecken versehnen Schwanz- 
deckfedern des Pfauhahns weiss er mit den ge- 
wöhnlichen Schwanzdeckfedern andrer Hühner in 
Verbindung zu bringen. Die herrlichen Kugel- und 
Sockelflecke der Schwanzfedern des Argusfasans führt 
er auf einfache Flecke an andern Federn desselben 
Vogels zurück. 

Die Anwendung des Prinzips der Kontinuität 
hat notwendig eine umfassende Handhabung jener 
IMethode zur Voraussetzung , der die organische 
Naturwissenschaft ihre höchsten Triumphe verdankt, 
der Methode der Vergleichung. Darwins Ent- 
wicklungslehre beruht ganz und gar auf dieser 
IMethode. Vergleichung des Baues der lebenden 
Organismen untereinander und mit dem der aus- 
gestorbnen Wesen frührer Erdperioden, Vergleichung 
der Entwicklungsgeschichte der organischen Individuen 
mit der systematischen und paläontologischen Stufen- 



— 74 — 

reihe der Arten, Vergleichung der Faunen und 
Floren verschiedner Erdgebiete, Vergleichung der 
psychologischen Eigentümlichkeiten, der Sitten und 
Gewohnheiten der Tiere, Vergleichung der domesti- 
zierten Tier- und Pflanzenrassen mit den Varie- 
täten der wilden Arten, Vergleichung der Variationen, 
Rassen, Varietäten und Arten untereinander, das 
sind die Fundamente, auf denen das stolze Ge- 
bäude der Darwinschen Entwicklungstheorie sich er- 
hebt. 

Und auch hierin ist Goethe Darwins Vorläufer. 
Er wusste die vergleichende Methode mit einer 
Meisterschaft zu handhaben wie kaum einer seiner 
Zeitgenossen. Sie führte ihn zu den grossen Ent- 
deckungen, die für alle Zeiten seinen Namen in die 
Geschichtstafeln der organischen Naturwissenschaft 
eingegraben haben: zur Aufstellung der Typusidee, 
zur Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefer- 
knochens, der Pflanzenmetamorphose und der Wirbel- 
theorie des Schädels. 

Als Goethe unter den reichen anatomischen 
Schätzen der Jenaer Universität mit Professor Loder 
osteologischen Studien und Forschungen oblag, da 
führte ihn die Vergleichung des Knochengerüsts ver- 
schiedner Tiere zu dem eminent fruchtbaren Ge- 
danken eines anatomischen Typus, eines allgemeinen 
Bildes, worin die Gestalten sämtlicher Wirbeltiere 
der ^löglichkeit nach enthalten wären und wonach 
man jedes Tier nach einer gewissen Ordnung be- 
schreiben könne. Zwar ist Goethe nicht als der 



- 75 - 

erste und einzige Begründer dieser Idee anzusehen, 
aber jedenfalls gebührt ihm das Verdienst, sie klar 
erfasst, selbständig angewendet und mit Nachdruck 
auf ihre hohe Bedeutung und Fruchtbarkeit hin- 
gewiesen zu haben. 

Die Idee des Typus war eine Errungenschaft 
des ganzen Goethischen Zeitalters, und bereits 1780 
hat der französische Anatom Vicq d'Azyr ihre 
leitenden Grundsätze entwickelt, ohne dass jedoch 
Goethe etwas davon wusste. Peter Camper amü- 
sierte in seinen populären Vorträgen seine Zu- 
hörer damit y dass er auf der Lehrtafel durch 
Kreidestriche einen Hund in ein Pferd, das Pferd 
in eine schöne Frauengestalt verwandelte. £r 
drang ferner darauf, im Gehirn des Fisches das 
des Menschen zu sehen und sagte, er sei so in 
die Studien über Wale und deren Vergleichung 
mit der menschlichen Bildung vertieft, dass ihm 
alle Mädchen , hübsche und hässliche , nur noch 
als Delphine und Cachelots erschienen. Also auch 
Camper hatte die Idee des Typus. Damit werden 
aber Goethes Verdienste nicht aufgehoben. Er war 
wohl der konsequenteste Vertreter der Typusidee, 
und bei ihm fand sie den prägnantesten und viel- 
seitigsten Ausdruck. Das beweist sein ,, Entwurf einer 
allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie^, 
das beweist vor allem seine berühmte Entdeckung 
des Zwischenkieferknochens beim Menschen, die eine 
Folge der Typusidee war. 

Bei Tierschädeln fallt es sehr leicht in die 



- 76 - 

Augen, dass die obere Kinnlade aus mehr als einem 
Paar Knochen besteht. Ihr vorderer Teil wird durch 
sehr deutlich sichtbare Nähte mit dem hintern Teil 
verbunden und macht einen besondern paarigen 
Knochen aus, der die Schneidezähne trägt. Beim 
Schädel des erwachsnen Menschen ist dieser Zwischen- 
kieferknochen weniger deutlich bemerkbar, indem er 
fast vollständig mit dem eigentlichen Oberkiefer- 
knochen verwachsen ist. Aus diesem Grunde war 
die Existenz oder Nichtexistenz dieses Knochens 
der Gegenstand eines durch Jahrhunderte fort- 
gesetzten Streites zwischen den bedeutendsten Ana- 
tomen. 

Galenus, der Begründer der vergleichenden Ana- 
tomie, war der Meinung, dass auch der Mensch einen 
Zwischenkieferknochen besitze. Er erwähnt ihn in 
seinem Büchlein „de ossibus'^ bei der Beschreibung 
des Menschenschädels, indem es sagt, das Wangen- 
bein enthalte die Alveolen aller Zähne mit Aus- 
nahme der Schneidezähne. Doch bleibt es zweifel- 
haft, ob er den Knochen am Menschenschädel selbst 
gesehen hat. Ihm gegenüber behauptete im i6. 
Jahrhundert der berühmte Anatora Vesalius das 
Fehlen des Intermaxillarknochens beim Menschen. 
In der Zeichnung, die er von der Basis des Menschen- 
schädels gibt, ist zwar die Naht, die den Zwischen- 
kieferknochen vom Oberkieferknochen trennt, deutlich 
angegeben, Vesalius meint aber, sie dringe nirgends 
so tief durch, dass man annehmen könne, der obere 
Kinnladenknochen werde dadurch in zwei geteilt. 



. — 77 — 

Galenus habe seine Beobachtungen nur an Tier- ' 
Schädeln gemacht. Um den Galenus zu rechtfertigen, 
brachten nun seine Verehrer die seltsamsten Dinge 
vor. So behauptete Jakob Sylvius, der Mensch hätte 
früher einen Zwischenkieferknochen besessen, ihn 
aber nach und nach durch Verweichlichung und zu- 
nehmenden Luxus verloren. Dem gegenüber be* 
mühte sich wieder Renatus Hener aus der alten 
Geschichte zu erweisen, die alten Römer hätten schon 
gerade so liederlich gelebt wie die heutige Welt. 

Zu Goethes Zeit waren alle bedeutenden Ana- 
tomen, wie Camper, Sömmering und Blumenbach 
der Ansicht, dass dem Menschen der Zwischenkiefer- 
knochen fehle. Diesen grossen Autoritäten gegen- 
über behauptete nun Goethe, gestützt auf seine Idee 
des anatomischen Typus, dass auch der Mensch 
einen Zwischenkieferknochen besitzen müsse. £r 
sah mit seinem geistigen Auge diesen Knochen 
bereits, eh er ihn mit seinem leiblichen Auge ge- 
funden hatte. Es wollte ihm durchaus nicht in den 
Sinn, dass der Mensch eine Ausnahme von den 
übrigen Säugetieren machen, dass er Schneidezähne 
haben und doch den Knochen nicht besitzen solle, 
worin sie eingefügt sind. Er suchte deshalb eifrig 
nach Spuren dieses Knochens und fand sie im Jahre 
1784 bei Vergleichung von Tier- und Menschen- 
schädeln auch wirklich auf. 

Goethes Freude über diese Entdeckung war 
ausserordentlich gross. „Ich habe eine solche 
Freude," schreibt er an Frau von Stein, „dass sich 



- 78 - 

mir alle Eingeweide bewegen/ Und an Herder 
berichtete er: ^Nach Anleitung des Evangelii muss 
ich Dich aufs »Eiligste mit einem Gluck bekannt 
machen, das mir zugestossen ist. Ich habe gefunden 
— weder Gold noch Silber, aber was mir unsäg- 
liche Freude macht: das os intermaxillare am 
Menschen!" 

Geringer freilich war seine Freude über die 
Aufnahme» die seine Entdeckung bei den Fach- 
gelehrten fand. Weder Peter Camper, noch Blumen- 
bach, noch Sömmering wollten anfangs etwas davon 
wissen, und wenn auch Loder auf seine Seite trat, 
so dauerte es doch noch fast 40 Jahre, ehe Goethes 
Meinung in der Wissenschaft zu allgemeiner An- 
erkennung gelangte. Wundern dürfen wir uns deshalb 
nicht, dass Goethe angesichts dieser Tatsachen in 
die Worte ausbrach : ,,Einem Gelehrten von Pro- 
fession traue ich zu, dass er seine fünf Sinne ab- 
leugnet." 

Wie gross die Tragweite der Goethischen Ent- 
deckung war, kann man ermessen, wenn man bedenkt, 
dass Camper das Fehlen des Zwischenkieferknochens 
beim Menschen als den einzigen wesentlichen, ana- 
tomischen Unterschied zwischen dem Menschen und 
dem Affen bezeichnet hatte, wobei er nicht bedachte, 
dass dem Chimpansen dieser Knochen gerade so 
weit und so gut fehlt als dem Menschen. 

Goethe war sich dieser Tragweite seiner Ent- 
deckung auch wohl bewusst. „Ich habe mich ent- 
halten,** schreibt er, „das Resultat, worauf schon 



~ 79 — 

Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzo merken 
zu lassen, dass man nämlich den Unterschied des 
Menschen vom Tier in nichts einzelnem finden könne. 
Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Tieren 
verwandt.* So rührt diese Entdeckung jenes un- 
scheinbaren Knochens an die höchsten Probleme, 
die den Menschengeist beschäftigt, an die Frage 
aller Fragen für die Menschheit, an die Frage nach 
der Stellung des Menschen in der Natur. 

Ausser durch die Idee des anatomischen Typus, 
deren notwendige Konsequenz die Entdeckung des 
Zwischenkieferknochens war, hat Goethe noch durch 
einen andern Gedanken höchst befruchtend auf den 
Entwicklungsgang der vergleichenden Anatomie ein- 
gewirkt. Durch den Gedanken, dass der Schädel 
aus Wirbelknochen entstanden sei. 

Im Direktorzimmer des Weimarer Goethe- 
hauses liegt noch heute das Bruchstück jenes 
Schafsschädels, den Goethes Diener im Jahre 1790 
auf dem Judenkirchhof zu Venedig aufhob und der 
dem Dichter den Ursprung des Schädels aus 
Wirbelknochen offenbarte. Drei Wirbel sollten den 
Hirnschädel, drei den Gesichtsschädel zusammen- 
setzen. Das Hinterhauptsbein bildet den ersten, 
das hintere Keilbein und die Scheitelbeine den 
zweiten, das vordere Keilbein und die Stirnbeine 
den dritten Hirnschädelwirbel. Gaumenbeine und Sieb- 
beine steUen den ersten, Oberkiefer- und Nasenbeine 
den zweiten, Zwischenkiefer und Nasenknorpel den 
dritten Gesichtsschädelwirbel dar. 



— 80 -r 

Auch diese Theorie ist aus der vergleichenden 
Methode heraas geboren worden. Goethe verglich 
die Wirbel, die das knöcherne Rückgrat zusammen- 
setzen , mit den Knochenringen des Schädels und 
gelangte so zur Überzeugung ihrer Homologie. 
Der Wert dieses Gedankens wird dadurch nicht 
vernichtet, dass er in der von Goethe vorge- 
tragnen Form heute nicht mehr haltbar ist. Die 
Knochenringe , aus denen, der Schädel der höhern 
Wirbeltiere sich aufbaut, haben mit Wirbelsegmenten 
nichts zu tun, ob überhaupt eine ursprüngliche Zu- 
sammensetzung des Wifbeltierschädels aus den 
Wirbeln gleichwertigen Segmenten angenommen 
werden muss, darüber gehen die Ansichten noch 
weit auseinander. Huxley bestreitet die segmentale 
Anlage des Kopfskeletts überhaupt, indem er darauf 
hinweist, dass die erste Anlage des Schädels eine 
einheitliche Kapsel ist, die keine Spur einer Segmen- 
tierung aufweist , und dass das Kopfskelett der 
ältesten Schädeltiere, der Cyclostomen (Rundmäuler) 
und der Selachier (Haifische) ebenfalls eine einheit- 
liche Knorpelkapsel ohne Differenzierung in einzelne 
Segmente darstellt. Dagegen nimmt Gegenbaur in 
seiner fundamentalen Arbeit über das Kopfskelett 
-der Selachier auf Grund der segmentalen Anordnung 
<ler Kiemenbogen und der Nerven an, dass die 
Schädelkapsel bei den Zwischenformen zwischen 
Schädellosen und Schädeltieren segmentiert gewesen 
sei, diese Segmentierung aber aus Anpassungsgründen 
bald verloren habe. Auch hiemach sind die Knochen- 



— 8i — 

ringe, aus denen der Schädel der höhern Tiere 
sich aufbaut, keine modifizierten Wirbel, wohl aber 
wird die ursprüngliche Zusammensetzung des Wirbel- 
tierschädelsaus den Wirbeln gleichwertigen Segmenten 
■anerkannt. — 

Was die Wirbeltheorie des Schädels für die 
Osteologie, das ist die Lehre von der Fflanzenmeta- 
morphose für die Botanik. Wie die verschiednen 
Teile der Wirbelsäule, einschliesslich des Schädels, 
in ihrem Wesen identisch sind, so auch die ver- 
schiednen Seitenorgane der Pflanze. Dort ist das 
metamorphosierte Grundorgan der Wirbel, hier das 
Blatt. 

Das Wechselhafte der Pflanzengestalten bei 
Pflanzen derselben Art, das Goethe überall, namentlich 
auf der italienischen Reise, entgegentrat, erweckte in 
ihm die Vorstellung, die Pflanzenformen seien nicht ur- 
sprünglich determiniert und bestimmt, es sei ihnen 
vielmehr eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit 
-verliehen, um sich in die mannigfaltigen Bedingungen, 
die auf sie einwirken, zu fügen und danach bilden und 
umbilden zu können. Er erkannte aber auch, dass 
•den Pflanzen neben der Mobilität eine eigensinnige 
generische und spezifische Hartnäckigkeit verliehen 
sei, dass selbst die entferntesten Pflanzen noch eine 
ausgesprochne Verwandtschaft besitzen und sich 
ohne Zwang miteinander vergleichen lassen: 

Alle Gestalten sind ähnlich, un4 keine gleichet der andern ; 
Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, 
Auf ein heiliges Rätsel. 

6 



— 82 — 

Diese Erwägungen führten Goethe auf den Ge- 
danken einer Urpfianze, eines allgemeinen Typus, 
auf den alle Pflanzengestalten sich zurückführen, aus 
dem alle Pflanzengestalten sich ableiten Hessen. 
Dieser Gedanke beschäftigt ihn unausgesetzt während 
seiner ganzen italienischen Reise. In Padua gibt 
ihm eine Fächerpalme durch die Stufenfolge der Ver» 
änderungen ihrer Blätter schöne Aufklärung. In Rom 
durchwandert er die Gärten der Villen, botanischen 
Spekulationen nachhängend. Am Meeresstrand in 
Neapel spürt er dem Geheimnis der Pflanzen* 
Organisation nach. Und am letzten Ziel seiner Reise, 
in Sizilien, leuchtet ihm die ursprüngliche Identität 
aller Pflanzenteile vollkommen ein und erkennt er 
im Blatt den Proteus, der sich in allen Gestalten 
verstecken und oflenbaren kann. 

Mit einer wahren Leidenschaft verfolgt er dann den 
Gedanken, weiter, unablässig nach neuen Bestätigungen 
suchend. Während seines zweiten Aufenthalts in 
Rom bemächtigt sich der mit vielen andern schwierigen 
und hohen Dingen beschäftigte Mann tagtäglich in 
jedem Garten, auf Spaziergängen und Lustfahrten 
der Pflanzen, die er neben sich bemerkt. Auf der 
Rückreise nach Weimar denkt er sich im stillen 
einen Vortrag über seine Ansichten aus und schreibt 
ihn zu Hause nieder. So entstand die „Metamorphose 
der Pflanzen**, jenes „Epos des. Werdens der höhern 
Gewächse^, wie Kirchhofl' die kleine Schrift genannt 
hat. Goethes gewöhnlicher Verleger lehnte nach 
Erkundigungen bei Sachverständigen den Druck ab^ 



- 83 - 

ein andrer übernahm ihn nur, weil er eine dauernde 
geschäftliche Verbindung mit Goethe suchte. Und 
doch gehört die kleine Abhandlung zu den Perlen 
der botanischen Literatur und vereinigt wissenschaft- 
liche Tiefe mit formvollendeter Darstellung. .Der 
Grundgedanke» der in ihr entwickelt wird» ist eine 
weitere Ausführung und tiefere Begründung des 
Linn^schen Satzes : in Blättern und Blüten waltet ein 
und dasselbe Prinzip. Alle Seitenorgane der Pflanze, 
also Keimblätter, Stengelblätter, Kelch, Krone, Staub- 
gefasse und Pistill, sind nach Goethe trotz ihrer 
äussern Verschiedenheit innig verwandt, indem sie 
alle als Modifikationen eines Grundorgansj des Blattes, 
anzusehen sind. „Einerlei Organ, ** sagt er, „kann 
als zusammengesetztestes Blatt ausgebildet und als 
Stipula (Nebenblatt) in die grösste Einfalt zurückr 
gezogen werden. Der Kelch, indem er sich übereilt, 
kann zur Krone werden, und die Krone kann sich 
rückwärts dem Kelche nähern.^ Die morphologische 
Identität der Seitenorgane der Pflanze, ihre Ent- 
wicklung aus gleichartigen Anlagen,- das ist der auch 
heute noch gültige Grundgedanke der Goethischen 
Metamorphosenlehre. Mit ihm glaubte Goethe das 
heilige Rätsel der Pflanzengestalt gelöst zu haben : 

Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Ge'wimmel, 
J>as verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt. 
Jede Pflanze verkündet dir nun die ewf^en Gesetze, 
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir. 

Ein grosser Gedanke ist es, der all diese natur- 

philosophischen Theorieen Goethes durchdringt: d^r 

6* 



- 84 - 

Gedanke der Einheit der organischen Natur. Überall 
sucht Goethe das ewig Eine, das sich vielfach offen- 
bart. „Die Natur/ schreibt er an Riemer, „so 
mannigfaltig sie erscheint, ist doch immer ein Eines, 
eine Einheit, und so muss, wenn sie sich teilweise 
manifestiert, alles übrige diesem zur Grundlage dienen, 
dieses in dem Übrigen Zusammenhang haben. ^ 

Auch Darwins Naturanschauung wird von diesem 
Gedanken der Einheit beherrscht. Wenn alle Pflanzen 
und Tiere, den Menschen mit einbegriffen, von einer 
einzigen Urform abstammen, wenn sie alle durch die 
Bande des Blutes miteinander verbunden sind, dann 
ist das wohl der umfassendste und grossartigste Aus- 
druck, den der organische Einheitsgedanke über- 
haupt finden kann. Und doch besteht hier ein 
Unterschied zwischen Goethe und Darwin. Für 
Goethe ist der Einheitsgedanke der Ausgangspunkt 
all seiner Forschungen, für Darwin ist er das End- 
resultat. Goethe trägt den Einheitsgedanken in die 
Natur hinein, nachdem er ihn aus den Tiefen seines 
Wesens geschöpft und durch das Studium der Philo- 
sophie Spinozas geläutert hat, Darwin gelangt zu 
ihm durch seine Einzelforschung. 

Bei Spinoza fand Goethe den Einheitsgedanken 
bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt, auf die 
ganze Natur, auf das ganze Weltall angewendet. 
Bis zur höchsten Einheit, der von Gott und Welt. 
Schon eh er Spinoza gelesen, schon als Strassburger 
Student hatte er geschrieben: „Getrennt über Gott 
und Natur abhandeln ist schwierig und gefährlich, 



- 85 - 

gerade als wenn wir über Leib und Seele gesondert 
denken. Wir erkennen die Seele nur durch das 
Mittel des Leibes, Gott nur durch Erkenntnis der 
Natur, daher scheint es mir verkehrt, diejenigen der 
Verkehrtheit zu zeihen, die durch ein durchaus philo- 
sophisches Räsonnement Gott mit der Welt verknüpft 
haben. ^ Später durchdringt dieser pantheistische 
Gedanke, genährt und geläutert durch das Studium 
Spinozas alle Goethische Dichtung: 

Was war ein Gott, der nur -von aussen stiesse, 
Im Kreis das All am Finger laufen liessei 
Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen, 
Natur in sich, sich in Natur zu hegen, 
So dass was in ihm lebt und webt und ist, 
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst. 

Wie für Spinoza, so ist auch für Goethe die 
Welt die Selbstdarstellung Gottes, der Mensch die 
höchste Offenbarung der göttlichen Natur: 

War nicht das Auge sonnenhaft, 
Wie könnten wir das Licht erblicken ? 
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, 
Wie könnt uns Göttliches entzücken? 

In der Erkenntnis dieser Einheit von Gott und 
Natur sieht Goethe den höchsten Gewinn des Menschen: 

Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, 
Als dass sich Gott -Natur ihm offenbare. 
Wie sie das Feste lässt zu Geist -verrinnen, 
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre! 

Eine notwendige Konsequenz dieser Einheit von 
Gott und Natur ist ihm die Einheit von Geist und 
Materie : 



— 86 — 

• 

„Weil aber die Materie nie ohne Geist, der 
Geist nie- ohne Materie existiert und wirksam sein 
kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, 
so wie sichs der Geist nicht nehmen lässt anzuziehen 

t r 

Und abzustossen ;wie derjenige nur allein zu denken 
vermag , der genügsam getrennt hat, um zu ver- 
binden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen 
zu mögen." 

Eine weitere Konsequenz ist die Einheit uijd 
Un Veränderlichkeit der Naturgesetze: 

„Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, 
dergestalt göttlichen Gesetzen, dass die Gottheit 
selbst daran nichts ändern könnte." 

'Nach ewigen, ehrnen, 
Grossen Gesetzen 
Müssen wir alle 
Unseres Daseins 
Kreise vollenden. 

Mit diesem Einheitsgedanken tritt Goethe an 
die Betrachtung der organischen Natur heran. Er 
sucht und findet in ihr die Einheit als einen speziellen 
Fall der Welteinheit. 

Ganz anders war Darwins Weg. Philosophisch* 
metaphysische Gesichtspunkte haben dem englischen 
Forscher von jeher noch ferner gelegen als Goethe. Er 
«elbst sagt, dass er nicht gut zu solchen Studien passe. 
Als er seine Forscherläufbahn begann, war er ganz 
in den Vorstellungen der orthodoxen englischen 
Kirche befangen und hielt die Bibel für eine un- 
widerlegbare Autorität in allen moralischen- Fragen. 



- 87 - 

Erst nach Beendigung seiner Weltreise kaiü er zu 
der Ansicht, dass dem alten Testament nicht mehr 
objektiver Wahrheitswert beizulegen sei als den heiligen 
Schriften der Hindus. Später verlor er auch den 
Glauben an die Wahrheit der christlichen Dogmen, 
und endlich kamen ihm sogar Zweifel an der Existenz 
Gottes, ohne dass er jedoch so weit gegangen wäre, 
diese Existenz zu leugnen. Noch in seiner Ent* 
stehung der Arten hält er es für denkbar^ dass den 
•ersten Organismen das Leben durch einen Schöpfer ein- 
gehaucht worden sei. Dabei denkt er sich diesen Schöpfer 
stets als den personlichen , von aussen stossehden 
Gott im Besitze eines intelligenten, dem des Menschen 
in gewissem Grade analogen Geistes. In bezug 
auf diesen Gott wird er später Agnostiker, d. h. er 
wagt nicht zu entscheiden, ob er ist oder nicht ist. 
Rein verstandesmässig wägt er die Beweise für und 
wider das Dasein Gottes ab, das spontane Gottes- 
bewusstsein Goethes, das in Gott das All und im 
All Gott sieht, der dichterische Pantheismus fehlt 
Darwin. Es fehlt ihm überhaupt eine philosophische 
Gesamtanschauung, aus der er die Einzelphänomene 
ableitet. Und doch gelangt er schliesslich am Ende 
seiner Forschungen zu derselben einheitlichen Auf- 
fassung der Natur, von der Goethe ausgegangen ist. 
Ihm offenbart sich gewissermassen induktiv. Was für 
'Goethe von vornherein feststand, woraus er deduktiv 
die Einzelerscheinungen ableitet. ' 

Der Gedanke der Einheit der Natur erhält bei 
Goethe und Darwin dadurch einen bestimmten 



— 88 — 

Charakter, dass er sich mit dem Gedanken der Ver- 
änderung, der Bewegung, des Flusses aller Dinge 
verbindet. Das Eine ist keine starre Einheit, es 
offenbart sich vielfach, es nimmt immer neue Formen 
und Gestaltungen an. Goethe hat diesen Gedanken in 
Poesie und Prosa immer von neuem variiert. „Die Natur ^ 
sagt er, „schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war 
noch nie, was war, kommt nicht wieder, alles ist 
neu und doch immer das alte. ... Es ist ein ewiges 
Leben, Werden und Bewegen in ihr. ... Sie ver- 
wandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen 
in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und 
ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt.*' 

Und üinzuschaifeii das Geschaffne, 
' Damit sichs nicht zum Starren wafihe, 
Wirkt ewiges, lebendiges Tan. 
Und was nicht war, nun will es werden, 
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden, 
In keinem Falle darf es ruhn. 

Es soll sich regen, schaffend handeln, 
Erst sich gestalten, dann verwandeln; 
Nur scheinbar stehts Momente still. 
Das Ewige regt sich fort in allen: 
Denn alles muss in nichts zerfallen. 
Wenn es im Sein beharren will. 

Mit dem Begriff der Veränderung, der Bewegung, 
des Flusses aller Dinge untrennbar verknüpft ist der 
Begriff der Entwicklung. Denn unter der Ent- 
wicklung einer Form verstehen wir die gesetzmässige 
Aufeinanderfolge ihrer Veränderungen. Dem Ent- 
wicklungsbegriff kommt denn auch in der Natur- 



- 89 - 

auffassung Goethes und Darwins eine fundamentale 
Bedeutung zu. Beide sehen in der Erkenntnis der 
Entwicklung einer Form den Schlüssel zum Ver- 
ständnis der fertigen Form. Darwin hebt wiederholt 
als die Hauptbedeutung seiner Entwicklungstheorie 
hervor , dass sie eine Fülle von Erscheinungen 
gruppiert und erklärt. „Ich kann ziemlich deutlich 
sehen, ^ schreibt er einmal an Huxley, „dass, wenn 
meine Anschauung jemals allgemein angenommen 
werden sollte, dies von selten junger, emporwachsender 
und die alten Arbeiter ersetzender Männer geschehen 
wird, und dann werden die jungen Leute finden, dass 
sie Tatsachen besser gruppieren und neue Unter- 
suchungsarten besser aufsuchen können mit der Vor- 
stellung einer Abstammungais mit der der Erschaffung.^ 
Am klarsten tritt uns diese Auffassung der Ent- 
wicklungslehre als eines mächtigen Hülfsmittels 
wissenschaftlicher Methodik inden Schlussbemerkungen 
der Entstehung der Arten entgegen. Hier erörtert 
Darwin ausführlich, welch grosse Umwälzung der 
Naturgeschichte durch die Anwendung des Ent- 
wicklungsgedankens bevorsteht: Der endlose Streit 
über den Begriff und das Wesen der Spezies wird 
aufhören. Die von den Naturforschern gebrauchten 
Ausdrücke Affinität, Verwandtschaft, gemeinsamer 
Typus, elterliches Verhältnis, Morphologie, An- 
passungscharaktere , verkümmerte Organe werden 
statt der bisherigen bildlichen eine sachliche Be- 
deutung gewinnen. Ein grosses und fast noch un- 
betretnes Feld wird sich öffnen für Untersuchungen 



-^ 90 — 

über die Ursachen und Gesetze der Variation, die 
Korrelation, die Folgen von Gebrauch und Nicht- 
gebrauch und den direkten Einfluss äusserer Lebens- 
bedingungen. Das Studium der domestizierten Tiere 
wird unermesslich an Wert gewinnen. Die Klassi- 
fikationen werden zu Genealogieen werden, die Geo- 
logie und Chorologie wichtige Förderung erfahren. 
Die Psychologie wird sich auf den Satz stützen, 
dass notwendig jedes Vermögen und jede Fähigkeit 
des Geistes nur stufenweise erworben werden kann. 
Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und 
ihre Geschichte fallen. 

Alle diese Prophezeiungen Darwins sind ein- 
getroffen, die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungs- 
weise hat die Feuerprobe bestanden, hat in der 
Praxis der Forschung die grosse methodologische 
Fruchtbarkeit bewiesen, die Darwin ihr hier zu- 
gesprochen hat. Aber auch hier hat der englische 
Forscher nur vollendet, was der deutsche Dichter 
begonnen. Denn schon Goethe huldigte der Ansicht, 
die Sachen herankommen zu sehen, sei das beste 
Mittel sie zu erklären. Und mit so gewaltigem 
Nachdruck hat Goethe diesen Gedanken betont, 
dass Wilhelm Bölsche den Dichter mit Recht einen 
Entwicklungsdenker nennen konnte, wie die ganze 
Zeit bisher auch .nicht annähernd einen mehr 
hervorgebracht hat. Auch hier gebührt Goethe, um 
mit Helmholtz zu reden, der grosse Ruhm, die 
leitenden Ideen zuerst vorausgeschaut zu haben, zu 
denen der eingeschlagne Entwicklungsgang der 



— 91 — 

organischen Naturwissenschaft hindrängte und durch 
xlie ihre jetzige Gestalt bestimmt wird. 

Fassen wir unsre bisherigen Betrachtungen zu- 
sammen, so kann wohl kein Zweifel mehr darüber 
bestehen , dass, voA Einzelheiten abgesehen , die 
grossen fundamentalen und leitenden Gesichtspunkte 
der Forschung bei Goethe und Darwin dieselben 
waren. Beide sahen in der Verschmelzung von 
Empirie und Spekulation das Wesen der Wissen- 
schaft, beide folgten den grossen und fruchtbaren 
Prinzipien der vergleichenden , mechanischen und 
genetischen Methode» beide waren durchdrungen von 
dem Gedanken der Einheit der Natur und der Natur- 
gesetzUchkeit alles Geschehens. Es bleibt jetzt noch 
die Fraige zu erörtern übrig, ob beide auch zu den- 
selben Resultaten gelangten in bezug auf das Problem, 
dessen Lösungsversuch den Mittelpunkt aller wissen- 
schaftlichen Forschungen Darwins bildet, in bezug 
auf die Entstehung der tierischen und pflanzlichen 
Organismen. 

Ein langer und vielfach unerquicklicher Streit 
hat sich über Goethes Stellung zum Descendenz- 
problem erhoben. Schon vor dem Auftreten Darwins 
haben Isidor Geoffroy de St Hilaire und Lecoq 
Goethe als Anhänger der Lehre von der Veränderlich- 
keit der Tier- und Pflanzenarten in Anspruch ge- 
nommen. Nach Darwin machte zuerst Meding in 
einer kleinen, 1861 erschienenen Schrift über „Goethe 
als Naturforscher in Beziehung zur Gegenwart^ darauf 
aufmerksam, dass Goethes Ansichten der organischen 



— 92 — 

Natur sich vielfach mit denen Darwins berühren. 
Vier Jahre später versuchte der französische Schrift- 
steller Caro diese Ansicht in einer Arbeit über die 
Philosophie Goethes eingehender zu begründen. Das 
allgemeine Interesse aber lenkte sich auf die Frage 
erst, nachdem Ernst Haeckel sich 1866 mit Ent- 
schiedenheit für Goethes Descendenzstandpunkt aus- 
gesprochen hatte. Der zweite Band seines funda- 
mentalen Werkes über die Generelle Morphologie 
der Organismen ist Darwin, Goethe und Lamarck 
als den Begründern der Descendenztheorie gewidmet ; 
und an die dort gegebne allgemeine Würdigung 
des Naturforschers Goethe knüpft Haeckel die Be- 
hauptung an, dass Goethe als einer der grössten 
Vorläufer Darwins anzusehen sei. Den Beweis dafür 
sieht er hauptsächlich in folgender Stelle aus Goethes 
vergleichend anatomischen Vorträgen: 

,,Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut be- 
haupten zu dürfen, dass alle voUkommneren or- 
ganischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, 
Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten 
den Menschen sehen, alle nach Einem Urbilde geformt 
seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen 
mehr oder weniger hin- und herweicht und sich noch 
täglich durch Fortpflanzung aus^ und umbildet/ 

Diesem Ausspruch Goethes hat Haeckel später 
in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte und seinem 
1882 auf d^r Eisenacher Naturforscherversammlung 
gehaltnen Vortrag über die Naturanschauung von 
Darwin, Goethe und Lamarck weitere hinzugefügt. 



— 93 — 

Vor allem nimmt er hier Goethes Schrift über die 
Metamorphose der Pflanzen zugunsten der descendenz- 
theoretischen Anschauung des Dichters in Anspruch, 
indem er darin eine Ableitung des ganzen Formen- 
reichtums der Pflanzenwelt aus einer einzigen Ur- 
pflanze zu finden glaubt. Goethes Wort Meta- 
morphose bezeichnet nach Haeckel nicht nur die 
morphologischen Veränderungen des organischen 
Individuums, sondern die Umbildung der organischen 
Formen überhaupt Diese weite Fassung des Begriffs 
ergibt sich ihm unter anderm aus folgender im 
Jahre 1820 an den Botaniker Nees von Esenbeck 
gerichteten Mahnung Goethes: 

„Er feiere mit uns den Triumph der physiologen 
Metamorphose, er zeige sie da, wo das Ganze sich 
in Familien, Familien sich in Geschlechter, Ge- 
schlechter in Sippen und diese wieder in andere 
Mannigfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden, 
sondern und umbilden I Ganz ins Unendliche geht 
dieses Geschäft der Natur, sie kann nicht ruhen noch 
beharren, aber auch nicht alles, was sie hervor- 
brachte, bewahren und erhalten. Haben wir doch 
von organischen Geschöpfen, die sieb in lebendiger 
Fortpflanzung nicht verewigen konnten , die ent- 
schiedensten Reste. Dagegen entwickeln sich aus 
den Samen immer abweichende, die Verhältnisse 
ihrer Teile zu einander verändert bestimmende 
Pfianzen.« 

Denselben Gedanken der Entwicklung und Ab- 
stammung findet Haeckel in Goethes Gedicht über 



— 94 — 

die Metamorphose der Tiere, besonders in den 
Worten: 

Alle Glieder bilden sich aus nach ewgen Gesetzen, 
Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Uirbild. 
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres^ 
Und die Weise zi| leben, sie wirkt auf alle Gestalten 
Mächtig zarück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, 
Welche zum Wechsel sich neigt durch äusserlich wirkende 

Wesen. 

Haeckel sieht hier den Gegensatz zwischen 
zwei verschiednen organischen Bildungskräften an- 
gedeutet, die sich gegenüberstehen und durch ihre 
Wechselwirkung die Form des Organismus bestimmen ; 
einerseits ein gemeinsames, inneres, fest sich er- 
haltendes Urbild, das den verschiedensten Gestalten 
zugrunde liegt, andrerseits den äusserlich wirkenden 
Einfluss der Umgebung und der Lebensweise , der 
umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch bestimmter 
scheint ihm dieser. Gegensatz aus folgendem Aus- 
spruch Goethes in der Abhandlung über die Skelette 
der Nagetiere (1824) hervorzutreten: 

„Eine innere und ursprüngliche Gemeinschaft 
aller Organisation liegt zum Grunde; die Verschieden- 
heit der Gestalten dagegen entspringt aus den not- 
wendigen Beziehungsverhältnissep zur Aussenwelt, 
und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige 
Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschreitende 
Umbildung mit Recht annehmen, um die. eben so 
konstanten als abweichenden Formen begreifen zu 
können.* 



— 95 — 

Sogar die wichtigste spezielle Folgerung der 
Entwicklungslehre, die tierische Abstammung des 
Menschen glaubt Haeckel im Keime bei Goethe zu 
erkennen. Entscheidend dafür ist ihm, was Goethe 
1807 in der Einleitung zu seinen morphologischen 
Heften schrieb: 

„Wenn man Pflanzen und Tiere in ihrem un- 
vollkomronen Zustand betrachtet , so sind sie kaum 
zu unterscheiden. Ein Lebenspunkt, starr, beweglich 
oder halbbeweglich, ist das, was unserm Sinne kaum 
bemerkbar ist. Ob diese ersten Anfange, nach beiden 
Seiten determinabel, durch . Licht zur Pflanze, durch 
Finsternis zum Tiere hinüberzuführen sind, getrauen 
wir uns nicht zu entscheiden, ob es gleich hierüber 
an Bemerkungen und Analogie nicht fehlt. So viel 
aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu 
sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Tiere 
nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei 
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, so 
dass die Pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und 
starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglich- 
keit und Freiheit sich verherrlicht." 

Als höchst charakteristisch für das grosse In- 
teresse, mit dem Goethe die Umbildungstheorie bis 
zu seinem' Lebensende verfolgte, verweist Haeckel 
endlich auf die lebhafte Anteilnahme des achtizigjährigen 
Greises an dem im ScHoss der französischen Akademie 
ausgebrochnen Streit zwischen Cuvier und Gebffroy 
de St. Hilaire. So wichtig erschien Goethe dieser 
wissenschaftliche Prinzipienkampf, dass ihm die fran- 



- 96 - 

zösische Julirevolution dagegen in den Hinter- 
grund trat. 

Es muss Haeckel als grosses Verdienst an- 
gerechnet werden, die Frage über Goethes Stellung 
zur Deszendenzlehre in Fluss gebracht zu haben. 
£r hat mit seinen Darlegungen einen Streit herauf- 
beschworen, der zur Klärung des Problems jedenfalls 
bedeutend beigetragen hat, und auch die, die mit mir 
•der Ansicht sind, dass seine Auffassung in vielen 
Punkten einer Kritik nicht stand hält, werden ihm dafür 
dankbar sein. Er hat sich auch hier als der ge- 
waltige Anreger erwiesen, der er allzeit gewesen ist. 

Der erste Forscher, der Haeckels Ansichten 
über Goethes Descendenzstandpunkt kritisch be- 
leuchtete, war der Strassburger Zoolog Oskar 
•Schmidt. In einer kleinen, 187 1 erschienenen Schrift: 
„War Goethe ein Darwinianer ?*' versuchte er zu 
zeigen, dass Goethe weder klar noch verhüllt ein 
•eigentlicher Vorgänger Darwins gewesen sei, wie ver- 
führerisch auch viele seiner Aussprüche darnach 
klängen. Wenn man Goethe zu einem offnen Ver- 
kündiger oder auch nur zu einem gewissermassen 
poetisch inspirierten Propheten der Deszendenzlehre 
mache, so lege man auf seine Äusserungen über 
^»unaufhaltsam fortschreitende Umbildung" und ähn- 
liche zu viel Wert oder gehe nicht in den Sinn ein, 
•den er damit verbinde. Das Urbild oder der Typus 
Goethes dürfe nicht als reale Stammform gedeutet 
werden, denn an ein Umbilden des Urbildes zu Arten 
•durch den Einfluss äussrer Bedingungen habe Goethe 



Charles Darwin 



— 97 — 

Glicht gedacht, sondern nur an blosse . Erscheinungs- 
formen des Typus, wie sie in den gegebnen Acten 
vorliegen. Entscheidend für diese Auffassung ist 
Schmidt der Aufsatz über die Skelette der Nagetiere. 
Dort schreibt Goethe: 

M Suchen wir das Geschöpf in der Eegion des 
Wassers, so zeigt es sich schweinartig im Ufersumpfe, 
als Biber sich an frischen Gewässern anbauend; als- 
dann immer noch einige Feuchtigkeit bedürfend, 
gräbt sichs in die Erde und liebt wenigstens das 
Verborgne, furchtsam neckisch vor der Gegenwart 
der Menschen und andrer Geschöpfe sich versteckend. 
Gelangt endlich das Geschöpf auf die Oberfläche, 
so ist es hüpf- und springlustig, so dass es aufge- 
richtet sein Wesen treibt und sogar zweifüssig mit 
wundersamer Schnelle sich hin- und herbewegt. Ins 
völlig Trockne gebracht, finden wir zuletzt den Ein- 
üuss der Lufthöhe und des alles belebenden Lichtes 
ganz entscheidend. Die leichteste Beweglichkeit wird 
ihnen zuteil, sie handeln und wirken auf das be- 
hendeste, bis sogar ein vogelartiger Schwung in einen 
-scheinbaren Flug übergeht.* 

Hier zeigt es sich nach Schmidt ganz evident, 
<lass Goethe auch nicht im entferntesten an eine 
tatsächliche Umwandlung eines Nagetiers in ein 
•andres durch die Nötigung der äussern Einflüsse 

« 

denkt. Man suche ganz vergeblich nach den realen 
Gestalten , die verändert werden. Nicht der Biber 
^erde zum mauseartigen Erdgräber, nicht die 

Springmaus zum Eichhörnchen., dieses nicht zum 

7 



- 98 - 

(Flaghörnchen, sondern die unaufhaltsam fortschrew 
tende Umbildung biete sich nur dem geistigen 
Auge dar« 

Schmidt findet nur eine einzige Stelle in Goethes 
Schriften, wo von einer wirklichen Umwandlung eines 
Geschöpfes, wenn nicht zu einer neuen Art, so doch 
zu einer sehr ausgeprägten konstanten Varietät die 
Rede ist. Ein Doktor Körte lieferte 1820 die Be- 
schreibung eines im Halberstädtischen gefundnen 
Urstierschädels und verglich diesen mit dem Skelett- 
kopf eines voigtländischen Stiers, wobei er Betrach- 
tungen darüber anstellte, wie nach und nach dieser 
aus jenem hervorgegangen sei, 

„Zwischen dem Urstier und Ochsen," führt er 
aus, ,,liegen Jahrtausende,' und ich denke mir, wie 
das Jahrtausende hindurch von Geschlecht zu Ge- 
schlecht immer stärkere tierische Verlangen, auch 
nach vorn hin bequem zu sehen, die Lage der 
Augenhöhlen ded Urstierschädels und ihre Form all- 
mählich verändert ; wie das Bestreben leichter, klarer 
und noch weiter hin zu hören, die Gehörkammern, 
dieser Tierart erweitert und mehr nach innen ge- 
wölbt; und wie der mächtige tierische Instinkt, für 
Wohlsein und Nahrung immer mehr Eindrücke der 
sinnlichen Welt in sich aufzunehmen, die Stirn all- 
mählich mehr gehoben hat/ Diese Betrachtungen 
findet Goethe seiner Überzeugung ganz gemäss, aber 
Schmidt bemerkt dazu wohl richtig, dass von hier 
bis zu Anerkennung der Umbildung der Art noch 
ein weiter Weg sei. 



— 99 — 

Als einen direkten Beweis gegen die descen« 
denztheoretischen Ansichten Goethes betrachtet 
Schmidt den 1823 veröffentlichten Aufsatz „Problem 
und Erwiderung*. Dieser enthält eine Reihe von 
Goethe aufgestellter Aphorismen über die Idee der 
Metamorphose nebst kritischen Bemerkungen des 
Göttinger Botanikers Ernst Meyer, die Goethe als 
Zeugnis reiner Sinn- und Geistesgemeinschaft mit ein- 
rückt. In diesen Bemerkungen Meyers heisst es: 

^Jedes besondre Naturwesen beschreibt, ausser 
dem grossen Kreislauf alles Lebens, an dem es teil 
hat, noch eine engre ihm eigentümliche Bahn, und 
das Charakteristische derselben, welches sich, aller 
Abweichungen ungeachtet, in einem Umlaufe wie in 
dem andern durch die fortgesetzte Reihe der Ge- 
schlechter ausspricht, dies beharrlich Wiederkehrende 
im Wechsel der Erscheinungen, bezeichnet die Art. 
Aus innigster Überzeugung behaupte ich fest: gleicher 
Art ist, was gleiches Stammes ist. Es ist unmöglich, 
dass eine Art aus der andern hervorgehe." 

Und ferner sagt Meyer über die charaktei istischen 
und charakterlosen Pflanzengattungen, die Goethe 
unterschieden hatte: 

„Je leichter jene sich fügen, desto schwerer ist 
mit diesen fertig zu werden. Wer sie aber mit Ernst 
und anhaltendem Eifer beobachtet und des ange- 
bornen, durch Übung ausgebildeten Taktes nicht 
ganz ermangelt, der wird sicherlich, weit entfernt 
an ihnen sich zu verwirren, die wahrhaften Arten und 

deren Charakter aus aller Mannigfaltigkeit der Formen 

7* 



— lOO — 

-gkt bald herausfinden. Wer ist je in Versuchung 
geraten, eine Rosa canina, welche Form» Farbe und 
Bekleidung sie auch angenommen habe, mit einer 
Ko&a cinnamomea, arvensis, alpina, rubiginosa zu 
verwechseln? . . . Sollte aber wirklich in irgend 
einer formenreichen Gattung durchaus keine Grenze, 
welche die Natur selbst achtet, zu finden sein, was 
"hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle ihr^ 
Formen als eben so viele Abarten zu behandeln? 
So lange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu 
führen, dass überhaupt in der Natur keine Art be- 
stehe, sondern dass jede, auch die entfernteste Form 
•durch Mittelglieder aus der andern hervorgehen 
könne: so lange muss man uns jenes Verfahren 
schon gelten lassen." 

Von den von Haeckel angeführten Sätzen Goethes 
erwähnt Schmidt noch jenen, in dem Goethe von 
der nach zwei entgegengesetzten Seiten vor sich 
gehenden Vervollkommnung der Tiere und Pflanzen 
spricht. Er sieht in ihm nichts andres, als eine nach 
Goethes Art zu forschen, zu wissen und zu geniessen 
«3m[ibolisch verbrämte Wiederholung eines schon fast 
fünfzig Jahre früher von Buffon aufgestellten und 
vielfach varüerten Satzes. Er glaubt also , dass 
Goethe nur an eine Stufenleiter und nicht an eine 
Entwicklungsreihe der Organismen gedacht hat. Doch 
liegt gerade bei diesem Ausspruch der Gedanke an 
eine descendenztheoretische Deutung sehr nahe, be- 
sonders da Goethe von den treibenden Kräften, 
Licht und Finsternis spricht, durch die die ersten 



— lOI — 

Anfange einerseits zur Pflanze, andrerseits zum Tier 
hinüber gefQhrt werden. 

Oskar Schmidt hat das Verdienst, zuerst die 
Aufikssang des Goethischen Typus oder Urbildes 
als einer realen Stammform der Organismen als irrig 
nachgewiesen und diesen Begriff als einen ideellea 
gedeutet zu haben. Erschöpfend freilich ist seine 
BeweisHihrung nicht, und andre Seiten des Problems^ 
bleiben ganz unberührt. Auch ist er auf die meisten, 
der von Haeckel herangezognen Aussprüche Goethes 
nicht näher eingegangen. Dies tat vier Jahre später 
(1875) in gründlicher Weise Robby Kossmann in 
seiner Abhandlung: „War Goethe ein Mitbegründer 
der Descendenztheorie?*^ 

Kossmann weist zunächst darauf hin, dass nach 
einem Urbilde geformt sein noch lange nicht heisst 
von einem Urbilde abstammen. ^Sind etwa,** fragt 
er, „alle Kopien der medizeischen Venus leibliche 
Kinder und Kindeskinder derselben? Behauptet etwa 
Moses, wenn er sagt: ,Gott schuf den Menschen 
ihm zum Bilde', dass der Mensch von Gott ab» 
stamme?^ Und weiter macht er darauf aufmerksam^ 
dass, wenn das Urbild „nur in seinen sehr bestän- 
digen Teilen hin- und herweicht^, nicht alle die un- 
endlich mannigfaltigen Organismen daraus entstehen 
können, die jetzt die Erde bewohnen und sie je be- 
wohnt haben. Sowohl die Behauptung Goethes, dass 
dies Urbild hin- und herweiche, als die^ dass es sich 
aus- und umbilde, schliesse allerdings die Veränder- 
lichkeit der Organismen ein. Aber das „Hin- und 



— I02 — 

Herweichen ^ sage deutlich, dass hier nicht von einer 
unbegrenzten Veränderlichkeit die Rede sei und das 
„in seinen sehr beständigen Teilen^ beweise, dass 
Goethe dieser Veränderlichkeit keinen grossen Spiel- 
raum zugemessen glaube. 

Kossmann legt ferner Gewicht auf den Titel 
des Kapitels, wo der in Rede stehende Satz vorkommt, 
und der lautet: „Über einen aufzustellenden Typus 
zur Erleichterung der vergleichenden Anatomie/ Dieser 
Titel sowohl als verschiedne andre Stellen derselben 
Abhandlung beweisen ihm mit Recht^ dass der Typus 
oder das Urbild ein Resultat der Abstraktion ist 
und dass Goethe in der ganzen Abhandlung von 
1796 den Gedanken an eine leibliche Verwandtschaft 
der Organismen unerörtert gelassen hat 

Sodann wendet Kossmann sich zur Besprechung 
des Satzes, nach dem eine innre ursprüngliche Ge- 
meinschaft aller Organisation zum Grunde liegt. 
Er zeigt, dass diese Bemerkung, die sich auf d*Altons 
Übersicht über die Skelette der Nagetiere bezieht, 
nichts andres bedeuten könne als dass dem Bau 
dieser Tiere ein gemeinsamer Typus zugrunde liegt. 
Denn sollte sie wirklich eine Gemeinsamkeit der 
Abstammung bedeuten, so könnte nicht in demselben 
Satz von „einer ursprünglichen gleichzeitigen Ver- 
schiedenheit" die Rede sein. Die „unaufhaltsam 
fortschreitende Umbildung*' sei keine zeitliche Auf- 
einanderfolge, sondern ein Bild, das zumal hier, wo 
man von einem Blatt des Atlanten zum andern fort- 
schreitend einen Überblick über alle die vorhandnen 



— I03 -— 

Verschiedenheiten gewönne, sehr nahe gelegen habe 
und nichts als eine gleichzeitige Abweichung der 
einzelnen Arten bezeichnete, die nur unsern Sinnen 
«ich in zeitlicher Aufeinanderfolge offenbarten« 

Auch das Citat Haeckels aus dem Gedicht über 
•die Metamorphose der Tiere, wo der Einwirkung der 
Lebensweise auf die Gestalt der Tiere gedacht wird, 
ist Kossmann mit Recht nicht beweisend. Denn es 
steht darin nirgends, dass diese Einwirkung der Lebens* 
weise so mächtig ist, dass dadurch die Artunterschiede 
vernichtet werden. Ebensowenig könne endlich der 
auf Nees von Esenbeck bezügliche Satz über den 
Triumph der physiologen Metamorphose als Beweis 
für Goethes Descendenzansicht angesehen werden, 
da Nees von Esenbeck keine Stammverwandtschaft 
<ler Arten eines Geschlechts nachgewiesen habe. So 
gelangt, denn schliesslich Kossmann zu derselben 
Ansicht wie Schmidt, dass Goethe ein Anhänger der 
Lehre von der Artkonstanz gewesen sei. Seine Be* 
gründung dieser Ansicht kann aber ebensowenig 
wie die seines Vorgängers als ausreichend angesehen 
werden, da sie sich fast lediglich auf eine Kritik 
•der von Haeckel angeführten Belegstellen bezieht, 
-das Ganze des Problems aber nicht berührt. 

Von weit umfassendem Gesichtspunkten aus hat 
im Jahre 1877 Kalischer in seiner gründlichen und 
tiefeindringenden Analyse der naturwissenschaftlichen 
Arbeiten Goethes in der Hempelschen Goetheaus- 
gabe die Frage beleuchtet. Er schliesst sich darin 
mit aller Entschiedenheit der Haeckelschen Ansicht 



— I04 — 

an' lind gliaobt m Goethes ' Schrifteti ein' so ausV 
reichendes und '- unzweifelhaftes Beweismaterial für- 
Goethes Descendi^zstandpunkt zu finden , . dass es* 
ihm scheinen wilU als ob die gegnerischen Ansichtfen 
nur deshalb hervorgerufen seien, weil Goethes frei- 
lich zerstreute und nicht systematisch geordnete 
Äusserungen nicht in dem gehörigen Zusammenhang: 
betrachtet worden seien. Aber wenn auch Kalischer 
im Endresultat mit Haeckel übereinstimmt, so ist seine 
Begründung doch eine durchaus verschiedne, und 
schon in seiner Typusauffassung, nimmt ^ er eine 
Mittelstellung zwischen Haeckel und seinen Kritikern 
ein. Er glaubt eine Doppelsinnigkdt des Typus 
konstatieren zu müssen, indem er meint, Goethe habef 
das Wort bald als Abstraktion, Idee oder Schema, 
bald - als konkrete Stammform aüfgefasst* . Wenn 
Goethe sage: „Jenen allgemeinen Typus, < den wir 
nun freilich erst konstruieren utid in deinen Teilen 
erst erforschen wollen, werden wir. im Ganzen un-t 
veränderlich finden," so fasse er den Typus als Ab* 
straktion auf, wenn er aber von der Versa tilität» des 
Typus spreche, so nehme er ihn im konkreten Sinne 
einer Stammform. Denn offenbar wäre es höchst 
ungereimt, einer Abstraktion oder Idee Beweglichkeit 
oder Veränderlichkeit zuzuschreiben, und doch sei bei 
Goethe nichts beweglicher und umbildungsfahigef 
als der Typus, wie unter anderm seine Vergleichung 
mit dem Proteus beweise. 

Mit dieser Auffassung Kalischers kann' ich durch- 
aus nicht harmonieren. Ich sehe nicht ein, warum 



— I05 — 

man einer Idee nicht Beweglictikeit zuschreiben könne 
in dem Sinn, dass sie bald in dieser, bald in jener 
Form in die Erscheinung tritt» Zudem fipdet sich 
die Stelle, wo Goethe den Typus mit dem Proteus' 
vergleicht, unmittelbar hinter jenem Satz, wo von 
der Konstruktion des Typus und seiner Unveränder- 
lichkeit im ganzen die Rede ist. Die Stelle lautet 
nämlich vollständig wie folgt: . • 

,, Jenen allgemeinen Typus, den wir nun freilich 
erst konstruieren und in seinen Teilen erst erforschen^ 
wollen, werden wir im ganzen unveränderlich finden^ 
werden die höchste Klasse der Tiere, die Säugetiere 
selbst, unter den verschiedensten Gestalten in, ihren 
Teilen höchst übereinstimmend antceffen. 

,,Nun aber müssen wir, indem wir bei und mit 
dem Beharrlichen beharren, auch zugleich mit und 
neben dem Veränderlichen unsre Ansichten zu ver- 
ändern und mannigfaltige Beweglichkeit lernen, da«* 
mit wir den Typus in aller seiner Versatilität zi» 
verfolgen gewandt seien und uns dieser Proteus 
nirgend hin entschlüpfe.* 

Es erscheint mir ganz undenkbar, dass Goethef 
hier ohne nähere Erläuterung in dem ersten Satz den 
Typus vollständig anders aufgefasst hat, al^ im 
zweiten. Der ganze Zusammenhang der Schrift über 
den Typus beweist mir eine durchaus einheitliche 
Deutung dieses Begriffs, und zwar im Sinn einer Idee, 
wie es Goöthe auch mit voller Klarheit ausge? 
sprochen hat in den Worten: ; 

,, Deshalb geschieht hier ein Vorschlag zu einem 



— io6 — 

anatomischen Typus, :;u einem allgemeinen Bilde, 
worin die Gestalten samtlicher Tiere, der Möglich- 
keit nach, enthalten wären, und wonach man jedes 
Tier in einer gewissen Ordnung beschriebe. Dieser 
Typus musste so viel wie möglich in physiologischer 
Rücksicht aufgestellt sein. Schon aus der allge- 
meinen Idee eines Typus folgt, dass kein einzelnes 
Tier als ein solcher Vergleichungskanon aufgestellt 
werden könne ; kein einzelnes kann Muster des Gan« 
zen sein. 

„Der Mensch , bei seiner hohen organischen 
Vollkommenheit, darf, eben dieser Vollkommenheit 
wegen, nicht als Massstab der unvollkommnen Tiere 
aufgestellt werden. Man verfahre vielmehr folgender- 
massen. 

„Die Erfahrung muss uns vorerst die Teile lehren, 
die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile 
verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen 
walten und auf eine genetische Weise das allgemeine 
Bild abziehen. Ist ein solcher Typus auch nur zum 
Versuch aufgestellt, so können wir die bisher ge- 
bräuchlichen Vergleichungsarten zur Prüfung desselben 
sehr wohl benutzen.^ 

Wie den anatomischen Typus der Tiere so 
deutet Kalischer gleich Haeckel auch die Urpflanze 
oder den vegetativen Typus Goethes als eine 
reale Stammform. „Diese Urpflanze ,^ sagt er, 
„ist allerdings kein Geschöpf der Natur, sondern 
sein eignes; er konnte nicht anmasslich meinen, in 
dieser Schöpfung mit der Natur zusammenzutreffen; 



— I07 — 

aber dass die Organismen, welche sich aus der Ur- 
pflanze ableiten lassen, nicht malerische oder dichte- 
rische Schatten und Scheine sind, sondern existieren 
könnten, dass Goethe, indem er Schiller die Meta- 
morphose der Pflanzen vortrug mit manchen charak- 
teristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze 
— die denn doch wohl mit der Urpflanze auf gleichem 
Range steht, vor seinen Augen entstehen Hess, dies 
alles scheint mir zur Genüge zu beweisen, dass er 
mit der Urpflanze eine durchaus konkrete Vorstellung 
verband und eine allen Pflanzen gemeinsame reelle 
Stammform annahm.^ 

Den Irrtum dieser Auffassung hat am gründ- 
lichsten Bliedner in seiner Schrift über „Goethe und 
die Urpflanze" aufgedeckt. Auf Grund des gesamten 
Quellenmaterials zeigt er hier, dass Goethe zwar an- 
fangs an eine wirkliche Existenz der Urpflanze glaubte 
und sie unter den Pflanzen Italiens zu entdecken 
versuchte, dass sie aber mit einer solchen im des- 
cendenztheoretischen Sinn nichts zu tun hat. Die 
Urpflanze war für Goethe weiter nichts als feine 
Pflanze, die nur das enthält, was allen Pflanzen ge- 
meinsam ist. In jeder Pflanze sah Goethe die Ur- 
pflanze und noch irgend ein Plus. Er fand Pflanzen, 
bei denen dies Plus gross, andre, bei denen es klein 
war. Die letztern gaben ihm den Gedanken ein, ob 
nicht auch eine Pflanze zu finden wäre, die gar kein 
Plus mehr enthielte, die also mit seiner Urpflanze 
identisch sei. Er suchte und suchte in dem Pflanzen- 
meere Siziliens, doch er fand die Urpflanze nicht 



r- I08 — 

uird ga(b damit die Hoffnung » sie in der Natur zu 
finden, überhaupt auf. Und besonders später^ unter 
^em'Einfiuss Schillers, erschien ihm die Urpfianze 
wie auch das Urtier als eine Abstraktion, eine Idee, 
gefunden durch sorgliche Erforschung und Ver» 
gleichung des vorhandnen Erfahrungsmaterials. Ent* 
scheidend dafür ist folgende aus dem Jahre 1817 
stammende Äusserung: ,,Wie ich früher die Urpüanze 
gesuclilt,. so trachtete ich nunmehr das Urtier zu 
finden, das heisst denn doch zuletzt den Begriff, die 
Idee des Tiers. ^ Aber auch zu der Zeit, als Goethe 
noch an die reale Existenz der Urpfiapze glaubte^ 
fasste er sie nicht im Sinn einer Stammform» und 
von einer genetischen Entwicklung der Pflanzenwelt 
aus ihr ist bei ihm keine Rede. 

Am allerwenigsten aber kann Goethes Schrift 
über die Metamorphose der Pflanzen als Beweisstück 
für seine Descendenzlehre in Anspruch genommen 
werden. Kalischer tut dies auch nicht, wohl aber 
Haeckel. Bliedner hat mit Nachdruck darauf hinge- 
wiesen, dass jene Schrift die Urpfianze überhaupt 
nicht erwähnt und die Frage, ob sich zu irgend einer 
Zeit einmal eine Pflanzenart in eine andre umge- 
5vandelt habe, gar* nicht erörtert. Sie bezieht sich 
vielmehr nur auf die Umwandlung der Teile des 
wachsenden Pfianzenindividuums, und ihre sämtlichen 
Ausführungen . könnten auch bestehen, wenn sie von 
einem Anhänger der Spezieskonstanz herrührten, der 
nur eben untersuchen will, was die Seitenorgane 
holderer Pflanzen gemeinsam haben und nach welchen 



— log — 

besetzen das Wachstum eines höheren Pflanzea- 
individaums von der Keimung bis zur Fruchtbildung 
erfolgt.. Die ganze Goethische Metamorphosenlehre 
hat mit Descendenztheorfe nichts zu tun. 

Nur wenig glücklicher als die Deutung des 
Typusbegriffs scheint mir Kalischers Versuch aus 
der aUgemeinen Naturanschauung Goethes, aus seinen 
spinozistisch-pantheistischen Ansichten« aus seiner Ab- 
neigung gegen die Teleologie und seinen allgemeinen 
geologischen Anschauungen die descendenztheo- 
retischen Meinungen des Dichters zu erweisen. Bm 
Spinoza finden wir die Abstammungslehre nicht, und 
Lyell, der Begründer der geologischen Kontinuitätslehre 
war keineswegs von vornherein ein Anhänger der Des* 
cendenztheorie, sondern wurde erst allmählich durch 
Darwin für sie gewonnen. In dem dritten Teil seiner 
berühmten Prinzipien der Geologie hatte er die 
Lamarcksche Lehre sogar scharf kritisiert. Ein 
sichrer Schluss auf Goethes Descendenzanstchten 
lässt sich daher weder aus seinen spinozistischen noch 
aus seinen geologischen Anschauungen machen. 

Andrerseits geb ich gern zu, dass bei unbe- 
fangner Würdigung der allgemeinen Naturansichten 
Goethes, namentlich seiner hohen Wertschätzung 
und Betonung der genetischen Methode und des 
ewigen Flusses aller Dinge sich mit fast überwältigender 
Macht der Gedanke aufdrängt, dass er auch die Tier- und 
Pflanzenarten als dem Gesetz der Veränderung unter- 
worfen sich gedacht hat Noch mehr Überzeugungs- 
kraft gewinnt dieser Gedanke, wenn man einige der 



— HO — 

von Kalischer zitierten Aussprüche Goethes in Be- 
tracht zieht, die wohl kaum anders als im descendenz- 
theoretischen Sinn aufgefasst werden können. 

Freilich nicht alle Stellen, auf die sich Kalischer 
beruft , sind eindeutig. So kann man immerhin 
zweifelhaft sein , ob Goethe an einen genetischen 
Zusammenhang des Menschen mit den vierfüssigen 
Tieren gedacht hat, wenn er in dem Aufsatz über 
die Skelette der Nagetiere schrieb: 

„Ein paar Kapitaltiere, der Löwe, der Elefant, 
erreichen durch das Übergewicht der vordem Extremi- 
täten einen besonders hohen, eigentlichen Bestien- 
charakter; denn sonst bemerkt man überhaupt an 
den vierfüssigen Tieren eine Tendenz der hintern 
Extremitäten sich über die vordem zu erheben, und 
wir glauben hierin die Grundlage zum reinen, auf- 
rechten Stande des Menschen zu erblicken." 

Verschieden ausgelegt werden können wohl auch 
die Worte des Thaies in der klassischen Walpurgis- 
nacht : 

Gib nach dem löblichen Verlangen, 
Von vom die Schöpfung anzufangen! 
Zu raschem Wirken sei bereit ! 
Da regst du dich nach ewgen Normen, 
Durch tausend, abertausend Formen, 
Und bis zum Menschen hast du Zeit 

Und noch weniger entscheidend ist, was Goethe 
in einem der von Riemer mitgeteilten Aphorismen 
sagt: 

i,Die Natur kann zu allem, was sie machen will, 
nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine 



— III — 

Sprünge. Sie könnte zum Beispiel kein Pferd 
machen, wenn nicht alle übrigen Tiere voraufgingen, 
auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur 
des Pferdes heransteigt. So ist immer eines um 
alles, alles um eines willen da, weil ja eben das Eine 
auch das Alles ist.^ 

Diese Stelle kann man sowohl so auffassen^ dass 
das Pferd sich aus den voraufgehenden Tieren ent- 
wickelt hat, als auch so, dass die Natur es nicht 
eher hervorbringen konnte, ehe sie die andern Tiere 
hervorgebracht hatte, ganz unabhängig von einer 
Abstammung. Und auch die von Kalischer ange- 
führten Stellen, wo Goethe von Übergängen zwischen 
verschiednen Arten spricht, lassen nicht deutlich er- 
kennen, ob Goethe diese Übergänge genetisch auf- 
gefasst hat. So wenn er in den Annalen von 1805 
mitteilt, dass auf dem Ettersberge bei Weimar eine 
Buche gefunden worden sei, „welche sich in Gestalt 
und sonstigen Eigenschaften offenbar der Eiche 
nähere^, oder wenn er dem Berginspektor Mahr zu 
Ilmenau im Jahre 1832 über ein gesandtes Pllanzeu- 
exemplar schreibt: „Ich halte es für einen höchst 
wichtigen Übergang vom Farrenkraut zum Kaktus, 
durch Anastomose der Zweigblätter/ 

In höherm Grade einer descendenztheoretischen 
Deutung fähig scheinen mir die Sätze, die Goethe 
1831 der umgeänderten Fassung seiner Geschichte 
des botanischen Studiums einfügte : 

„Das Wechselhafte der Pflanzengestalten, dem 
ich längst auf seinem eigentümlichen Gange gefolgt, 



— 112 -^ 

'«rweckte nun bei mir immer mehr die Vorstellung: 
-die uns umgebenden Pflanzenformen seien nicht ur- 
sprünglich determiniert und festgestellt, ihnen sei 
'vielmehr bei einer eigensinnigen, generischen und 
spezifischen Hartnäckigkeit eine glückliche Mobilität 
und Biegsamkeit verliehen, um in so viele Bedingungen, 
"die über dem Erdkreis auf sie einwirken, sich zu 
fügen und darnach bilden und umbilden zu können. 

„Hier kommen die Verschiedenheiten des Bodens 
in Betracht; reichlich genährt durch Feuchte der 
Täler, verkümmert durch Trockne der Höhen, ge- 
schützt vor Frost und Hitze in jedem Masse oder 
beiden unausweichbar blossgestellt, kann das Ge- 
schlecht sich zur Art, die Art zur Varietät und diese 
ivieder durch andre Bedingungen ins Unendliche sich 
verändern.* 

Kann man bei diesen Äusserungen immer noch 
-zweifelhaft sein, ob sie wirklich im descendenztheo- 
retischen Sinn aufzufassen sind, da Goethe nicht von 
'der Veränderung der Varietät zur Art und der Art 
zum Geschlecht spricht, sondern die Worte in um- 
gekehrter Reihenfolge wählt, so fällt wohl bei einigen 
-andern der von Kalischer hervorgehobnen Stellen 
dieser Zweifel weg. Das gilt zunächst für einen 
Ausspruch Goethes über folgende Stelle in Kants 
Kritik der Urteilskraft: 

„Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in 

einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht 

'•allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der 

Anordnung der übrigen Teile zugrunde zu liegen 



Darwins Landhaus in Down 



— 113 — 

scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grund- 
risses durch Verkürzung einer und Verlängerung 
andrer, durch Einwicklung dieser und Auswicklung 
jener Teile eine so grosse Mannigfaltigkeit von 
Spezies hat hervorbringen können, lässt einen ob- 
gleich schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüt 
fallen, dass hier wohl etwas mit dem Prinzip des 
Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt 
keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten 
sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie 
bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen 
Urbilde gemäss erzeugt zu sein scheinen, verstärkt 
die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft der- 
selben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen 
Urmutter, durch die stüfenartige Annäherung einer 
Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in wel- 
cher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt 
zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum 
Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten 
und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe 
der Natur, zur rohen Materie, aus welcher und ihren 
Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, 
wonach sie in Kristallerzeugungen wirkt) die ganze 
Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen 
so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein andres 
Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen 
scheint." 

„Eine Hypothese von solcher Art,* fugt Kant 
in einer Anmerkung hinzu, „kann man ein gewagtes 

Abenteuer der Vernunft nennen, und es mögen 

8 



— 114 — 

wenige, selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern 
sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf ge- 
gangen wäre.** 

Kant stellt also hier die Descendenztheorie als 
eine mögliche Hypothese hin, wenn er sie auch ein 
gewagtes Abenteuer der Vernunft nennt In dem 
zuerst im Jahre 1820 gedruckten Aufsatz „Anschau* 
ende Urteilskraft^ sagt nun Goethe : 

,, Hatte ich doch erst unbewusst und aus innerm 
Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos ge- 
drungen, war es mir sogar geglückt, eine naturge- 
mässe Darstellung aufzubauen, so konnte mich nun- 
mehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der 
Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst 
nennt, mutig zu bestehen.^ 

Ebensowenig wie hier kann in den aus dem 
Jahre 1822 stammenden Bemerkungen Goethes zu 
d^Altons Werk über die Faultiere und Dickhäutigen 
eine Zustimmung zur Lehre von der Umwandlung 
der Arten verkannt werden. In der Einleitung des 
d'Altonschen Werks wird die Ansicht, dass die 
lebende Tierwelt eine neue Schöpfung sei, entschie- 
den zurückgewiesen und die Behauptung aufgestellt, 
die Bedingungen der Tierschöpfung seien nur einmal 
vorhanden gewesen und die Fortdauer der Tiere 
müsse in ununterbrochner Folge gedacht werden. 
Die Verschiedenheit in der Bildung der fossilen 
Knochen im Vergleich mit denen der noch leben- 
den Tiere wird als Zeugnis für die kontinuierliche 
Folge der Abstammung wie für die fortlaufende 



— 115 — 

Verwandlung der Tiere nach den verschiednen 
äussern Verhältnissen in Anspruch genommen. Der 
Einwand, die Tiere hätten sich in dem letzten Jahr- 
tausend in spezifischer Gleichheit fortgepflanzt, wird 
mit der Bemerkung zurückgewiesen, dass sich wäh- 
rend dieser Zeit keine bedeutende Veränderung in 
den äussern Bedingungen der Entwicklung ergeben 
habe, oder dass alle Formen des Lebens sich jetzt 
langsamer entwickeln als in der Urzeit. Nur in Be- 
ziehung einer ununterbrochnen Folge der Abstam- 
mung seien die fossilen Tierreste der vergleichenden 
Anatomie von Wichtigkeit, da sie als Dokumente 
früherer Entwicklungsstufen die allmähliche Verwand- 
lung der Tiere erwiesen. 

Goethe stimmt diesen Ausführungen durchaus 
zu, indem er sagt: 

„Was die Einleitungen betrifft, sind wir mit dem 
Verfasser vollkommen einstimmig und ihm zugleich 
höchlich verpflichtet, dass er uns nicht allein in lang 
gehegten und längst anerkannten Grundsätzen be- 
stärkt, sondern auch zugleich Wege führt, die wir 
selbst zu betreten nicht unternehmen konnten, auf 
Pfade hindeutet, worauf noch das Allerbeste zu 
hoffen ist. 

„Wir teilen mit dem Verfasser die Überzeugung 
von einem allgemeinen Typus sowie von den Vor- 
teilen einer sinnigen Nebeneinanderstellung der 
Bildungen, wir glauben auch an die ewige Mobilität 
aller Formen in der Erscheinung. 

„Hier kommt jedoch zur Sprache, dass gewisse 

8* 



— ii6 — 

Gestalten, wenn sie einmal generisiert» spezifiziert, 
individualisiert sind, sich hartnäckig lange Zeit durch 
viele Generationen erhalten und sich auch selbst 
bei den grössten Abweichungen immer im Haupt- 
sinn gleich bleiben." 

Die Bemerkung des letzten Satzes enthält wohl 
eine Einschränkung, aber keine Abweisung der 
Descendenzlehre. Für lange Zeit, durch viele Ge- 
nerationen sollen sich gewisse Gestalten gleich bleiben, 
aber nicht alle Gestalten und nicht für alle Zeit 
und durch alle Generationen. 

Im descendenztheoretischen Sinn darf endlich 
wohl auch folgende Äusserung Goethes zu Eckermann 
aus dem Jahre 1831 aufgefasst werden: 

„So hat der Mensch in seinem Schädel zwei 
unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum? 
würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die 
Frage Wie? mich belehrt, dass diese Höhlen Reste 
des tierischen Schädels sind, die sich bei solchen 
geringern Organisationen in stärkerm Masse befinden, 
und die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch 
nicht ganz verloren haben." 

Indem Kalischer die Aufmerksamkeit auf diese 
Stellen lenkte, zeigte er, dass die Auffassung Schmidts 
und Kossmanns, die Goethe als bedingungslosen 
Anhänger der Lehre von der Artkonstanz in Anspruch 
genommen hatten, nicht haltbar ist Kalischers Ver- 
such, Goethe als einen entschiednen Vertreter der 
Descendenztheorie hinzustellen, muss jedoch ebenfalls 
als gescheitert angesehen werden. Denn die Mehr- 



^ 117 — 

zahl der von ihm aufgeführten Argumente halten 
einer strengen Kritik nicht stand, und die wenigen 
nicht anfechtbaren Beweisstellen sind nur gelegentliche 
Äusserungen Goethes» die sich sogar meist nur auf die 
Ausführungen andrer beziehen. Das Gewicht dieser 
Bekenntnisse wird nun dadurch noch bedeutend ver- 
mindert, dass Goethe fast um dieselbe Zeit, als er 
sich zu den descendenztheoretischen Ansichten d^Altons 
bekannte, den gerade entgegengesetzten Meinungen 
zweier andrer Forscher entschieden zustimmte. 

Ein Referent des Wenderothschen Lehrbuchs der 
Botanik hatte im Anschluss an Bemerkungen über 
die Anwendung der Metamorphosenlehre geschrieben: 

„Daraus geht dann ein bestimmter, genetischer 
Begriff der Spezies im Pflanzenreich, welchen viele 
beinah aufgegeben, weil sie ihn auf anderm Wege 
vergebens gesucht, gleichsam von selbst hervor, und 
die Kritik der in unsrer Zeit so oft behaupteten 
und bestrittenen Verwandlungen einer Pflanze in die 
andre, welche der Naturforscher, ohne aller Ge- 
wissheit zu entsagen, nicht einräumen darf, gewinnt 
wieder einen festen Boden/ 

Dazu bemerkt nun Goethe, dass er die hier aus- 
gesprochne Hoffnung sehr gerne hege und pflege. 
Und im nächsten Jahr nimmt er Ernst Meyers Sätze 
für die Spezieskonstanz als Zeugnis reiner Sinn- und 
Geistesgemeinschaft in seine morphologischen Hefte 
auf. 

Kalischer geht auf diese Dinge überhaupt nicht 
ein, und einer seiner Anhänger meint, dass man auf 



— Ii8 — 

sie kein grosses Gewicht zu legen brauche, da der 
liebenswürdige Poet von Weimar mit Zeugnissen 
reiner Sinn- und Geistesgemeinschaft sehr freigiebig 
gewesen sei. Ganz unberücksichtigt dürfen wir sie 
aber wohl nicht lassen; es geht jedenfalls so viel aus 
ihnen hervor, dass die Descendenzlehre für Goethe 
keine tiefgegründete Herzens- und Geistesüberzeugung 
war wie etwa die Typusidee, die Metamorphosenlehre, 
die Wirbeltheorie des Schädels oder die Farbenlehre. 
Nie würde Goethe diesen Theorien extrem entgegen- 
stehende Ansichten als Zeichen reiner Sinn- und 
Geistesgemeinschaft in seine Werke aufgenommen 
haben. 

Kalischer hat sich nicht darauf beschränkt, die 
descendenztheoretische Auifassung Goethes im all- 
gemeinen darzutun, sondern hat auch die Art der 
Ursachen festzustellen versucht, die Goethe zur Er- 
klärung der organischen Formveränderungen annahm. 
Er findet sie in den Einflüssen der Aussenwelt, der 
Wechselwirkung der Teile und dem Gebrauch und 
Nichtgebrauch der Organe. Es kann nicht geleugnet 
werden, dass Goethe allen diesen Faktoren einen 
Einfluss auf die Umgestaltung der Lebewesen zu- 
schrieb, fraglich bleibt nur, wie weit er ihn sich 
wirksam dachte. Dass er neben der Bedeutung der 
umwandelnden Kräfte auch die erhaltende Kraft der 
Vererbung zu würdigen wusste, das beweist der be- 
kannte Vers: 

Vom Vater hab ich die Statur, 
Des Lebens ernstes Führen, 



— 119 — 

Vom Mütterchen die Frohnatur 
Und Lust zn fabulieren. 
Urahnherr war der Schönsten hold, 
Das spukt so hin und wieder; 
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold, 
Das zuckt wohl durch die Glieder. 
Sind nun die Elemente nicht 
Aus dem Komplex zu trennen, 
Was ist denn an dem ganzen Wicht, 
Original zu nennen? 

Endlich findet Kalischer mit Recht auch das 
Prinzip des Kampfes ums Dasein bei Goethe ange- 
deutet. Besonders scharf und allgemein ist es aus- 
gedrückt in den Worten: 

„Alles, was entsteht, sucht sich Raum und will 
Dauer ; deswegen verdrängt es ein andres vom Platz 
und verkürzt seine Dauer.** 

Und eine besondre Anwendung auf das Pflanzen- 
reich enthalten die Sätze: 

„Dass eine gewisse uns nicht offenbarte Wechsel- 
wirkung von Pflanze zu Pflanze heilsam sowohl als 
schädlich sein könne, ist schon anerkannt. Wer 
weiss, ob nicht in kalten und warmen Häusern ge- 
wisse Pflanzen gerade deshalb nicht gedeihen, weil 
man ihnen feindselige Nachbarn gab; vielleicht be- 
mächtigen sich die einen zu ihrem Nutzen der heil- 
samen atmosphärischen Elemente , deren Einfluss 
ihnen allen gegönnt war." 

Auch eine Stelle in Goethes Pandora schildert 
den Kampf ums Dasein, worauf Ferdinand Cohn 
hingewiesen hat: 



— I20 — 

„Denn solches Los den Menschen wie den Tieren ward» 

Nach deren Urbild ich mir bessres bildete, 

Dass eins dem andern, einzeln oder auch geschart, 

Sich widersetzt, sich hassend aneinander drängt, 

Bis eins dem andern Übermacht betätigte.** 

Freilich schrieb Goethe dem Kampf ums Da- 
sein nicht jene hohe Bedeutung zu wie später Dar- 
win, und als artumbildende Kraft betrachtete er ihn 
nicht. 

Von ganz andern Gesichtspunkten aus als die 
bisher genannten Autoren hat Rudolf Steiner in der 
Kürschner sehen Goetheausgabe das Verhältnis 
Goethes zu Darwin beleuchtet. Goethe ist ihm ein 
Vertreter der Descendenzlehre, aber trotzdem scheinen 
ihm seine Wege andre zu sein als die Darwins. 
Während die Bestrebungen des englischen Forschers 
dahin gingen, die Ursachen der Veränderlichkeit im 
einzelnen festzustellen und darzulegen, bestand Goethes 
Ziel darin, das Konstante zu suchen, das den ver- 
änderlichen Äusserlichkeiten der organischen Wesen 
zugrunde liegt. Beide Betrachtungsweisen nennt 
Steiner notwendig und einander ergänzend. Aber 
man geht seiner Ansicht nach ganz fehl, wenn man 
Goethes Grösse in der organischen Wissenschaft darin 
zu finden glaubt, dass man in ihm den blossen Vor- 
läufer Darwins sieht. Goethes Betrachtungsweise sei 
eine viel breitere, indem sie zwei Seiten umfasse, 
einmal den Typus, das heisst die sich im Organismus 
offenbarende Gesetzlichkeit, und dann die Wechsel- 
wirkung des Organismus und der unorganischen 



— 121 — 

Natur, sowie der Organismen untereinander. Nur 
diese zweite Seite der Organik habe Darwin ausge- 
bildet Man könne daher nicht sagen, Darwina 
Theorie sei die Ausbildung der Grundideen Goethes, 
sondern sie sei nur die Ausbildung einer Seite dieser 
Ideen, sie blicke nur auf die Tatsachen, die veran- 
lassen, dass sich die Welt der Lebewesen in einer 
gewissen Weise entwickelt, nicht aber auf jenes Etwas, 
auf das jene Tatsachen bestimmend einwirken. Sie 
müsse durch die andre Seite der Goethischen Theorie 
ergänzt und vertieft werden. 

Goethes Typus ist Steiner weder eine reale 
Stammform noch ein blosser abstrakter Verstandes- 
begriff, sondern vielmehr das, was in jedem Organis- 
mus das wahrhaft Organische ist, ohne das der 
Organismus nicht Organismus wäre. Dieses, den 
Organismus konstituierende Prinzip kann bei stets 
aufrecht erhaltner innrer Einheit unter dem Einfiuss 
der äussern Verhältnisse die mannigfaltigsten Formen 
annehmen. Auf diese legte Darwin das Hauptgewicht, 
Goethe auf das ihnen zugrunde liegende Prinzip. 

Hiermit hat wohl Steiner richtig einen Punkt 
bezeichnet, wo die Wege Goethes und Darwins 
wenigstens bis zu einem gewissen Grade auseinander 
gehen. Doch hat schon Albert Lange in seiner 
Geschichte des Materialismus darauf hingewiesen^ 
dass Darwin überall da, wo er sich auf die 
Mitwirkung innrer Ursachen geführt sieht, diese 
Mitwirkung so unbefangen in seine Erklärung 
der Naturformen aufnimmt, dass man annehmen 



— 122 — 

könne, er habe sie als selbstverständlich be- 
trachtet. 

Weiter verfolgt und auf Grund des von ihm 
herausgegebnen neuen Materials der grossen 
Weimarer Goetheausgabe vervollständigt hat Steiner 
seine Ideen in dem im Goethejahrbuch von 1891 
veröffentlichten Aufsatz: „Über den Gewinn unsrer 
Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen 
Arbeiten durch die Publikationen des Goethearchivs. ** 
Hier betont er neben dem, was Goethe und Darwin 
trennt, auch das, was beide verbindet. 

„Jedenfalls steht fest,*' sagt er, „dassdie charakte- 
risierte Anschauung Goethes von konstanten Formen 
des Organischen nicht sprechen kann, weil das, was 
einer Form die Bestimmtheit gibt, nicht aus dem 
fliesst, was sie zur organischen Form macht. Nur 
derjenige kann eine Konstanz der Form annehmen, 
der in dieser Form ein wesentliches sieht. 

„Was aber einer Sache nicht wesentlich ist, das 
braucht sie auch nicht unbedingt beizubehalten. Und 
damit ist die Möglichkeit der Umwandlung be- 
stehender Formen abgeleitet. Mehr aber konnte vom 
Standpunkte Goethes aus nicht gegeben werden als 
eine Ableitung dieser Möglichkeit. Die empirischen 
Beobachtungen dazu hat Darwin geliefert. Das ist 
ja immer die Beziehung zwischen Theorie und Er- 
fahrung, dass die letztere zeigt, was ist und geschieht, 
und die erstere die Möglichkeit darlegt, inwiefern 
solches sein und geschehen kann. 

„Jedenfalls kann auf Grund des im (Joethe- 



— 123 — 

archiv vorhandnen Materiales an kein andres als 
an dieses Verhältnis Goethes zu Darwin gedacht 
werden." 

- Mit diesen vorsichtigen Ausführungen steht es 
nun nicht ganz im Einklang, wenn Steiner etwas 
später in demselben Aufsatz sagt: ,, Goethes An- 
schauung ist eine Descendenztheorie mit einer tiefen 
theoretischen Grundlage/ Und zwar stützt er diese 
gewagte Behauptung sogar auf eine Stelle, die sicher 
nicht descendenztheoretisch gemeint ist Sie steht 
in Goethes „Vorarbeiten zu einer Physiologie der 
Pflanzen^ und lautet: 

^Bei Betrachtung der Pflanze wird ein lebendiger 
Punkt angenommen, der ewig seines gleichen her- 
vorbringt. 

,,Und zwar tut er es bei den geringsten Pflanzen 
durch Wiederholung eben desselbigen. 

„Ferner bei den voUkommnem durch progressive 
Ausbildung und Umbildung des Grundorgans in 
immer voUkommnere und wirksamere Organe, um 
zuletzt den höchsten Punkt organischer Tätigkeit 
hervorzubringen : Individuen durch Zeugung und Ge- 
burt aus dem organischen Ganzen abzusondern und 
abzulösen. 

„Höchste Ansicht organischer Einheit," 

Steiner glaubt nun, dass in dieser Stelle die 
Summe alles organischen Lebens als einheitliche 
Totalität und alle Einzelwesen als Glieder dieser 
Einheit bezeichnet werden. Wir hätten es hier mit 
einer durchgängigen Verwandtschaft aller Lebewesen 



— 124 — 

im wahrsten Sinne des Wortes zu ton. Und zwar 
mit einer tatsächlichen Verwandtschaft, nicht einer 
bloss ideellen. Die organischen Arten und Gat* 
tungen würden auf eine wahrhafte Descendenz 
unter fortwährender Veränderung der Formen zu» 
rückgeführt. 

Diese Auffassung ist jedenfalls nicht haltbar» 
Denn die organische Einheit, von der Goethe in der 
erwähnten Stelle spricht, bezieht sich zweifellos auf 
die Einzelpflanze und nicht auf die Totalität des 
organischen Lebens, wie neuerdings auch Wasielewski 
in eingehender Weise gezeigt hat. 

Ausser Rudolf Steiner hat sich noch Karl von 
Bardeleben an der Herausgabe der morphologischen 
Schriften Goethes in der grossen Weimarer Aus- 
gabebeteiligt, indem er die vergleichend anatomischen 
Arbeiten übernahm. Auf Grund dieser sprach er 
sich im Jahre 1891 auf der fünften Versammlung^ 
der anatomischen Gesellschaft zu München dahin 
aus, dass Goethe nicht über einen ideellen, gedachten 
oder konstruierten Typus hinausgegangen sei und 
dass ihm der Gedanke einer Abstammung des 
Menschen von den Tieren, einer wirklichen Bluts- 
verwandtschaft unter den Tieren und zwischen Tieren 
und Menschen fern gelegen habe. Schon im folgen- 
den Jahre aber erklärte er in seinem Aufsatze über 
„Goethe als Anatom^ im Goethejahrbuch, dass Goethe, 
wenn er auch nirgends die Worte Abstammung und 
Blutsverwandtschaft gebrauche, doch stark an eine 
innre Verwandtschaft der Formen von der Urpfianze 



— 125 — 

bis zum Menschen gedacht habe. Jedenfalls sei bei 
ihm die Vorstellung einer zusammenhängenden Ent- 
wicklungsreihe der Organismen nicht zu verkennen, 
die indes nicht wie bei Darwin auf Anpassung an 
äussre Einwirkungen und Vererbung, sondern wesent- 
lich oder lediglich auf innern Gesetzen beruhe. 
So dürfte Goethe wohl der Lamarckschen Descen* 
denzlehre näher stehen als dem eigentlichen Darwi- 
nismus, wenn man überhaupt die ganz eigenartige 
und selbständige Anschauung Goethes mit moder- 
nen Theorien vergleichen wolle. Drei Jahre später 
bekennt sich Bardeleben in einem gleichfalls ^Goethe 
als Anatom** betitelten Aufsatz in „Nord und Sud" 
zu der Kalischerschen Ansicht von der doppelten 
Bedeutung des Goethischen Wortes Typus und glaubt 
gleichzeitig durch erneutes und wiederholtes Studium 
nicht nur aller hierher gehöriger Stellen, sondern 
auch der ganzen Werke Goethes eine Lösung der 
Widersprüche und damit der ganzen Frage gefunden 
zu haben. „Goethe/ sagt er, „hat, wie ich zugebe, 
in den achtziger und noch in den neunziger Jahren 
an eine Descendenz, eine Stammesentwicklung, eine 
wirkliche Blutsverwandtschaft gedacht, — er hat 
diesen Gedanken dann für etwa ein Menschenalter 
aufgegeben oder untersinken lassen, um ihn etwa 
Anfang oder Mitte der zwanziger Jahre wieder auf- 
zunehmen und bis zu seinem Tode festzuhalten .... 
Dass man eine solche Theorie als Jüngling mit 
Eifer erfassen, zeitweise aufgeben und als reifer 
Mann, auf Grund eigner Forschungen wieder auf- 



— 126 — 

nehmen kann, ist gewiss nicht nur möglich, es 
kommt wirklich vor/ 

Viel umfassender hat ganz neuerdings Waldemar 
V. Wasielewski diese Idee in seiner Schrift über 
^Goethe und die Descendenzlehre'^ zu begründen 
versucht. Nach seiner Ansicht enthalten die natur- 
wissenschaftlichen Schriften Goethes bis zum Jahre 
1790 nichts, was an die Descendenzlehre erinnert. 
Die erste Andeutung einer solchen findet er in dem 
„Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre ^, 
der in der Weimarer Ausgabe zum erstenmal gedruckt 
wurde und wahrscheinlich in den Anfang der neunziger 
Jahre zu datieren ist. Dort schreibt Goethe: 

„Und wie würdig ist es der Natur, dass sie sich 
immer derselben Mittel bedienen muss, um ein Ge- 
schöpf hervorzubringen und zu ernähren! So wird 
man auf eben diesen Wegen fortschreiten und, wie 
man nur erst die unorganisierten, undeterminierten 
Elemente als Vehikel der unorganisierten Wesen 
angesehen, so wird man sich nunmehr in der Be». 
trachtung erheben und wird die organisierte Welt 
wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen 
ansehen. Das ganze Pflanzenreich z. B. wird uns 
wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches 
eben so gut zur bedingten Existenz der Insekten 
nötig ist als das Weltmeer und die Flüsse zur be- 
dingten Existenz der Fische, und wir werden sehen, 
dass eine ungeheure Anzahl lebender Geschöpfe 
in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt werde, 
ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder 



— 127 — 

nur als ein grosses Element ansehen, wo ein Ge- 
schlecht auf dem andern und durch das andre, wo 
nicht entsteht, doch sich erhält. 

In den letzten Worten sieht Wasielewski mit 
Recht eine, wenn auch bescheidne Ankündigung 
der Descendenzlehre. Als eine weitere bezeichnet 
er mit geringerm Recht die aus dem Jahre 1796 
stammende Stelle der vergleichend anatomischen 
Vorträge, wo Goethe von dem gemeinsamen Urbild 
der voUkommnern organischen Naturen spricht, das 
sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und um- 
bildet. In die Zeit von 1796 bis 1820 fällt nur ein 
Ausspruch Goethes, der eine Anerkennung der Ab- 
stammungslehre enthält, nämlich der im Jahre 1807 
niedergeschriebne über die nach zwei entgegenge- 
setzten Seiten vor sich gehende Vervollkommnung 
der organischen Geschöpfe. Entscheidend für das 
stärkere Hervortreten des Descendenzgedankens in 
den spätem Lebensjahren Goethes, etwa von 1820 
ab, sind Wasielewski die Aufsätze über die Faultiere 
und Dickhäutigen, den fossilen Stier und die Skelette 
der Nagetiere, ferner die Neubearbeitung der Ge- 
schichte des botanischen Studiums und die lebhafte 
Anteilnahme Goethes an dem Streit zwischen Cuvier 
und GeofFroy de Saint-Hilaire. 

Nach unsern bisherigen Ausführungen kann aber 
nur ein Teil dieser Dokumente als beweisend aner- 
kannt werden. Die Abhandlung über die Skelette 
der Nagetiere und den fossilen Stier sind jedenfalls 
auszuscheiden. Ob der Aufsatz über den Streit 



— 128 — 

zwischen Cuvier und GeofFroy de Saint-Hiläire als 
ein Bekenntnis zur Descendenztheorie oder nur zu 
<ier von GeofFroy vertretnen synthetischen Methode 
anzusehen ist, wag ich nicht zu entscheiden. Jeden- 
falls wird in ihm von der Abstammungslehre nidit 
«direkt gesprochen. Goethe charakterisiert vielmehr 
vor allem den Gegensatz zwischen analytischer und 
synthetischer Denkweise, wie er sich in Cuvier 
und Geoffroy offenbarte. ^Cuvier," sagt er, ,,ar- 
beitet unermüdlich als Unterscheidender, das Vor- 
liegende genau Beschreibender und gewinnt sich 
^ine Herrschaft über eine unermessliche Breite. 
Geoffroy de Saint-Hilaire hingegen ist im stillen um 
die Analogieen der Geschöpfe und ihre geheimnis- 
vollen Verwandtschaften bemüht ; jener geht aus dem 
Einzelnen in ein Ganzes, welches zwar vorausgesetzt, 
aber als nie erkennbar betrachtet wird ; dieser hegt 
das Ganze im innern Sinne und lebt in der Über- 
zeugung fort, das Einzelne könne daraus nach und 
nach entwickelt werden." Von den wissenschaftlichen 
Anschauungen Geöffroys erwähnt Goethe nur die 
Lehre von der „unit6 de composition organique" 
oder die Theorie der Analogieen und als seinen 
Hauptgedanken bezeichnet er die Ansicht „die Or- 
ganisation der Tiere sei einem allgemeinen, nur hie 
und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung 
■derselben abzuleiten sei, unterworfen.* Ebenso rühmt 
«r an Buffon, dass er in dem Satz: „Es gibt eine 
ursprüngliche und allgemeine Vorzeichnung, die man 
sehr weit verfolgen kann," die Grundmaxime der 



— 129 — 

vergleichenden Naturlehre ein für allemal festgesetzt 
habe. Goethe bezieht sich also wesentlich nur auf 
die Typusidee , wenn er auch einmal von Geoffroy 
sagt, er suche, seiner Denkart gemäss, ins Ganze zu 
dringen, aber nicht wie Buffon ins Vorhandne, Be- 
stehnede , Ausgebildete , sondern ins Wirkende, 
Werdende, sich Entwickelnde. Dass Goethe jeden- 
falls nicht das Hauptgewicht auf die von Geoffroy 
de Saint-Hilaire vertretne Entwicklungslehre legte, 
sondern auf dessen synthetische Naturbetrachtung 
und organische Einheitsvorstellung, das ergibt sich 
auch deutlich aus den berühmten Worten, mit denen 
er Soret gegenüber die Vorgänge in Frankreich be- 
sprach. 

„Von nun an," rief er aus, „wird auch in Frankreich' 
bei der Naturforschung der Geist herrschen und über 
die Materie Herr sein. Man wird Blicke in grosse 
Schöpfungsmaximen tun, in die geheimnisvolle Werk- 
statt Gottes. Was ist auch im Grunde aller Ver- 
kehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem 
Wege bloss mit einzelnen materiellen Teilen uns zu 
schaffen machen, und wir nicht das Atmen des Geistes 
empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt 
und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Ge- 
setz bändigt oder sanktioniert! 

„Ich habe mich seit fünfzig Jahren in dieser 
grossen Angelegenheit abgemüht; anfanglich einsam, 
dann unterstützt, und zuletzt zu meiner grossen Freude 

überragt durch verwandte Geister Jetzt ist 

nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf 

9 



— I30 — 

unsrer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden 
Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis 
ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich 
juble mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen 
Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet 
habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.'^ 
So konnte Goethe wohl in bezug auf seine 
Typuslehre, nicht aber in bezug auf die Descendenz- 
theorie sprechen. Man darf daher seiner Begeisterung 
für Geoffroy kein so grosses Gewicht beilegen, wie 
es viele getan haben. Berücksichtigt man ferner 
die ebenfalls den spätem Jahren angehörenden Zu- 
stimmungen Goethes zu antidescendenztheoretischen 
Äusserungen, so wird man nur sehr bedingt der 
Ansicht beitreten können, Goethe habe im Alter 
die Descendenzvorstellung weit entschiedner ver- 
treten als früher. £s lassen sich von 1790 bis 1831 
vereinzelte Aussprüche Goethes zugunsten der Ab- 
stammungslehre nachweisen, und das sehr weitgehende 
Bekenntnis von 1807 widerlegt auch die Ansicht 
Bardelebens, dass Goethe die Idee von den neunziger 
Jahren an bis etwa 1820 gänzlich fallen gelassen 
habe. Die ganz gelegentliche Äusserung jener Aus- 
sprüche und die ihnen widersprechenden Stellen be- 
weisen aber, dass Goethe auf die ganze Frage kein 
grosses Gewicht legte. Ihm war die Entstehung der 
Tier- und Pflanzenarten wohl wesentlich ein noch 
ungelöstes Problem. Dafür spricht auch seine im 
Jahre 1828 mit dem Münchner Naturforscher v. 
Martins geführte Unterhaltung, die uns Eckermann 



— 131 — 

überliefert hat. Als Martius die Abstammung aller 
Menschen von einem erstgeschaffnen Paare behauptete, 
erwiderte Goethe, dass es weit mehr im Sinne der 
sich überall verschwenderisch erweisenden Natur sei, 
anzunehmen, sie habe die Menschen gleich zu 
Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen, 
überall wo der Boden es zuliess und vielleicht auf 
den Höhen zuerst. Anzunehmen, dass dies geschehen, 
halt er für vernünftig, allein darüber nachzusinnen, 
wie es geschehen, dünke ihm ein unnützes Geschäft, 
das wir denen überlassen sollten, die sich gern mit 
unauflösbaren Problemen beschäftigen und die nichts 
Bessres zu tun haben. 

Mit Recht hat David Friedrich Strauss bemerkt, 
dass der Schleier, den Goethe hier über dem Vor- 
gang der Menschwerdung liegen lässt, nur der Rest 
von Unbestimmtheit sei, der in seiner ganzen Vor- 
stellung von diesen Verhältnissen geblieben ist. „Es 
wird nirgends recht klar," meint der grosse Theolog, 
„wie sich Goethe die umwandelnde und aufsteigende 
Entwicklung der Naturwesen gedacht hat : ob so, dass 
die einzelnen Tierarten selbst sich allmählich um- 
geformt, aus Wasser- zu Sumpf- und endlich 
Landtieren sich gestaltet haben, oder ob nur die 
Natur sich erst in diesen, dann in jenen Gestaltungen 
versucht, jede derselben aber aus freier Hand, nicht 
aus den vorhergehenden heraus gebildet habe." 
Mit einem Wort: Goethe war wohl, wie von dem 
Flusse aller Dinge, so auch von dem Flusse der Arten, 

nicht aber mit gleicher Sicherheit und Entschiedenheit 

9* 



— 132 — 

von ihrem kontinuierlichen Zusammenhang, von ihrer 
Blutsverwandtschaft überzeugt. Wir dürfen ihn daher 
wohl, und besonders auch mit Rücksicht auf seine 
allgemeine naturwissenschaftliche Methodik, als einen 
Geistesverwandten und in einem gewissen umfassendem 
Sinn des Wortes auch als einen Vorläufer Darwins, 
nicht aber als einen Begründer der Descendenztheorie 
bezeichnen. 

Wie in den grossen Fragen der Naturanschau- 
ung, so lassen sich auch in manchen kleinen Einzel- 
zügen Berührungspunkte zwischen Goethe und Darwin 
nachweisen. Goethe war einer der ersten, der eine 
insektenfressende Pflanze beobachtete, denselben 
Sonnentau, durch den später Darwin zu seinetx um- 
fassenden Untersuchungen über diese seltsamen 
Pflanzen angeregt wurde. Auf einer Reise nach 
Karlsbad war es, als Goethe auf einem Torfmoor des 
Fichtelgebirges zwischen Ochsenkopf und Schneeberg 
den Sonnentau fand und kleine Insekten an den 
Blättern haftend bemerkte. Drei Jahre vorher hatte 
ein Bremer Arzt, Dr. Roth, die durch Insekten ver- 
anlassten Reizbewegungen der Tentakeln auf den 
Sonnentaublättern festgestellt, aber erst ein Jahr- 
hundert später zeigte Darwin, dass diese Bewegungen 
dem Fangen imd Verzehren von Insekten dienen. 

Und während Goethe hier gleichsam ahnungslos 
ein neues Gebiet der botanischen Wissenschaft be- 
rührte, weisen seine Spekulationen über die Spiral- 
tendenz der Vegetation schon mit vollem Bewusstsein 
auf Phänomene hin, deren Bedeutsamkeit ebenfalls 



— 133 — 

später Darwin enthüllen sollte. Eine Ahnung der 
durch Darwin nachgewiesnen Schraubenbewegung 
oder Circumnutation aller wachsenden Pflanzenteile 
scheint in den Ideen zu liegen, die Goethe über 
die Spiraltendenz bei Oscillarien und Spiralgefassen, 
bei den Blattkronen des Pandanus, den Blütenstielen 
der Vallianeria, den Knospen der Farrne, den Gran- 
nen des Reiherschnabels und andern Pflanzenteilen 
entwickelte. Und in diesem Zusammentreffen der 
beiden Forscher auf schmalen und abseits gelegnen 
Pfaden der Forschung darf man wieder einen Aus- 
druck der Tatsache erblicken, dass ihnen jede Er- 
scheinung der Natur, sie mochte so klein und nichts- 
sagend aussehen wie sie wollte, der Betrachtung und 
des Studiums würdig erschien. 

Aber die Geistesverwandtschaft Goethes und 
Darwins lässt sich noch weiter verfolgen. Sie liegt 
nicht nur auf dem Gebiet der wissenschaftlichen 
Naturforschung, sondern offenbart sich auch im ge- 
mütlichen Verhältnis beider Männer zur Natur und 
ihrer Wissenschaft. Für Goethe wie für Darwin war 
die Beschäftigung mit der Natur nicht nur Sache 
des Verstandes, sondern zugleich innerstes Bedürfnis 
des Herzens und Gemütes. Beide fanden in der 
Beschäftigung mit der Natur denselben Trost, die- 
selbe Erhebung, dasselbe freudige Glücksgefühl, das 
andre in der Religion finden. Goethes tiefer Natursinn 
hat fast einen religiösen Charakter. Schon der 
pantheistische Naturgottesdienst des siebenjährigen 
Knabea zeugt dafür. Aus Steinen und Mu&chehi 



— 134 — 

errichtete er dem grossen Gotte der Natur auf dem 
schönen rotlackierten Musikpult seines Vaters einen 
Altar und Hess auf seiner Spitze ein Räucherkerzchen 
mit Hülfe eines Brennglases durch die Strahlen der 
aufgehenden Sonne entzünden. Wenn irgendwo, so 
lag hier ein tiefer Sinn im kindschen Spiel! 

Und dasselbe Naturgefühl, das den Knaben zu 
diesen pantheistischen Andachtsübungen veranlasste, 
begeisterte später den Jüngling und Mann zu jenen 
unvergleichlichen Schöpfungen der Lyrik, die wir nie 
lesen können, ohne tief von der Herrlichkeit der 
Schöpfung durchdrungen zu werden. Alle Empfin- 
dungen, die die Natur in dem Herzen eines empfäng- 
lichen Menschen anzuregen vermag, sind in dieser 
Lyrik zum Ausdruck gebracht. Wenn es wahr ist, 
was Goethe von der Natur sagt, dass sie keine 
Sprache noch Rede habe, wohl aber Zungen und 
Herzen schaffe, durch die sie fühlt und spricht, so 
war er eine solche Zunge, so war er ein solches 
Herz. Welche Wonne, welche jubelnde Seligkeit des 
Herzens spricht nicht aus den Worten seines Mai- 
liedes: 

Wie herrlich leuchtet 
Mir die Natur ! 
Wie glänzt die Sonne ! 
Wie lacht die Flur! 

Es dringen Blüten 
Aus jedem Zweig, 
Und tausend Stimmen 
Aus dem Gesträuch, 



— 135 — 

Und Freud und Wonne 
Aus jeder Brust. 
O Erd, o Sonne, 
O Glück, o Lust I 

Und welch hohe Naturfreudigkeit muss Goethe 
beseelt haben , als er auf dem Züricher See die 
Worte schrieb: 

Und frische Nahrung, neues Blut 
Saug ich aas freier Welt. 
Wie ist Natur so hold und gut, 
Die mich am Busen hält. 

Das Sicheinsfühlen mit der Natur, die Harmonie 
zwischen Innerm und Äusserm , die Goethes Wesen 
so herrlich charakterisiert, ist in diesen Worten zu 
vollendetem Ausdruck gebracht. Und dasselbe Ge- 
fühl, das hier in hellem Jubelton hinausgerufen wird 
in die Welt, spricht aus den ernsten Betrachtungen, 
die Fausts Seele durchziehen , als er in Wald und 
Höhle Ruhe sucht für sein stürmisch bewegtes 
Herz: 

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, 

Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst 

Dein Angesicht im Feuer zugewendet. 

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, 

Kraft, sie zu fühlen, zu gemessen. Nicht 

Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur. 

Vergönnest mir in ihre tiefe Brust, 

Wie in den Busen eines Freunds zu schauen. 

Du führst die Reihe der Lebendigen 

Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder 

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. 



- 136 - 

Und "Wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, 

Die Riesenfichte stärzend Nachbaräste 

Und Nachbarstämme quetschend niederstreift, 

Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert, 

Dann fuhrst du mich zur sichern Höhle, zeigst 

Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust 

Geheime tiefe Wunder öffnen sich. 

Und steigt vor meinem Blick der reine Mond 

Besänftigend herüber, schweben mir 

Von Felsenwänden aus dem feuchten Busch 

Der Vorwelt silberne Gestalten auf, 

Und lindern der Betrachtung strenge Lust. 

Die Natur in all ihren Erscheinungen hat den 
Dichter begeistert zu poetischem Schaffen. So ist 
das Wasser in seinen verschiednen Formen Gegen- 
stand vieler seiner Dichtungen. Im ,Fischer* ist es 
die magische Gewalt der Himmel und Gestirne 
spiegelnden Wasserfläche, im ,Gesang der Geister 
über den Wassern' der donnernd dahintosende Ge- 
birgsbach, in ,Mahomets Gesang' der Lebenslauf des 
Stromes vom Quell bis zur Mündung. Und von der 
Erde hebt der Dichter den Blick zum Himmel und 
besingt der Wolken Spiel, der Gestirne Pracht. Er 
verlässt sein einsames Gartenhaus im Weimarer Park 
und wandert über die Wiese zu dem jenseits der 
Um gelegnen Borkenhäuschen. Er taucht sich in 
die Sonne, badet sich im Mond: 

Und ich geh meinen alten Gang 
Meine liebe Wiese lang. 
Tauche mich in die Sonne früh, 
Bad ab im Mond de& Tages Müh. 



— 137 — 

Dann wieder weilt er auf den Schlössern der 
liebUchen Domburg bei Jena und überschaut von 
dem hohen steilen Muschelkalkfelsen aus das weite 
Himmelsgewölbe. Dem aufgehenden Vollmond sendet 
er seinen Gruss: 

Willst du mich sogleich verlassen ? 
Warst im Augenblick so nah ! 
Dich umfinstern Wolkenmassen, 
Und nun bist du gar nicht da ! 

Doch du fühlst, wie ich betrübt bin, 
Blickt dein Rand herauf als Stern ! 
Zeugest mir, dass ich geliebt bin, 
Sei das Liebchen noch so fern. 

So hinan denn ! hell und heller, 

Reiner Bahn in voller Pracht ! 

Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller, 

Uberselig ist die Nacht. 

Und die Grösse und Schönheit der Natur sind 
dem Dichter eine Gewähr für die Grösse und Schön- 
heit des menschlichen Wesens: 

Und wenn mich am Tag die Ferne 
Blauer Berge sehnlich zieht, 
Nachts das Ubermass der Sterne 
Prächtig mir zu Häupten glüht, 

Alle Tag und alle Nächte 
Rühm ich so des Menschen Los, 
Denkt er ewig sich ins Rechte 
Ist er ewig schön und gross. 

£s wäre eine lohnende Aufgabe, die Entwick- 
lung des Goethischen Naturgefühls durch die Reihe 



- 138 - 

seiner lyrischen Dichtungen zu verfolgen. Aber auch 
seine meisterhafte Prosa weiss dem Ausdruck dieses 
Gefühls gerecht zu werden. Seine Briefe an Frau 
von Stein enthalten zahllose Ergüsse höchster Natur- 
begeisterung. „Es ist ein erhabnes, wundervolles 
Schauspiel,* schreibt er der Freundin 1782 aus Mei- 
ningen, ^wenn ich nun über Berge und Felder reite, 
da mir die Entstehung und Bildung der Oberfläche 
unsrer Erde und die Nahrung, welche Menschen 
draus ziehen, zu gleicher Zeit deutlich und anschau- 
lich wird. Erlaube, wenn ich zurück komme, dass 
ich Dich nach meiner Art auf den Gipfel des Felsens 
führe und Dir die Reiche der Welt und ihre Herrlich- 
keit zeige.* Und in einem Briefe aus Italien finden 
wir die wundervolle Stelle: „Ich kehre noch einmal 
ans Meer zurück ! Dort hab ich heut die Wirtschaft 
der Seeschnecken, Patellen, der Taschenkrebse ge- 
sehen und mich herzlich darüber gefreut. Was ist 
doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding. 
Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr! 
wie seyend! Und wie viel hilft mir mein bisschen 
Studium, und wie freu ich mich es fortzusetzen.* 

Vor allem aber ist hier jenes gewaltigen Dithy- 
rambus an die Natur zu gedenken, den Goethe in 
seinem 37. Lebensjahre niederschrieb. In ihm ver- 
eint sich die poetische Kraft und der dichterische 
Schwung der alten jüdischen Propheten mit der ge- 
sunden Naturverehrung der alten Hellenen und dem 
tiefen Ideengehalt modern naturwissenschaftlicher 
Erkenntnis. Wenn man mich fragen würde, in welcher 



— 139 — 

von Goethes Dichtungen sein ganzes Wesen am 
konzentriertesten sich ausprägt, wo die dichterische 
Kraft seiner Phantasie und die Meisterschaft seines 
Prosastils, wo der Ideengehalt seiner Wissenschaft 
und die Humanität seiner Weltanschauung am voll- 
endetsten sich offenbaren, so würd ich ohne Be- 
denken jene köstliche Gabe Goethes nennen, die den 
bescheidnen Titel trägt: „Die Natur." In Thesen 
und Antithesen schreitet dieses Hohelied des Panthe- 
isten vorwärts. Eine innige Versenkung in das Wesen 
der Natur spricht aus jeder Zeile. Ganz gibt sich 
Goethe der Natur hin, ganz überlässt er sich ihr. 
„Sie hat mich hineingestellt/ sagt er, „sie wird 
mich auch hinausführen. Ich vertraue mich ihr. 
Sie mag mit mir schalten, sie wird ihr Werk nicht 
hassen. Ich sprach nicht von ihr, nein, was wahr 
ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen, alles 
ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst." 

Ein so überschwengliches dichterisches Natur- 
gefühl, wie wir es hier bei Goethe finden, ist nicht 
immer verbunden mit gleichem Verständnis und 
gleicher Liebe für wissenschaftliche Naturbetrachtung. 
Bei Goethe aber standen beide Seiten in schönster 
Harmonie. Wie er der Natur als solcher Hymnen 
sang, so hat er auch ihre Wissenschaft gar vielfach 
gepriesen und verherrlicht. Zahllos sind seine Aus- 
sprüche über den ethischen Gehalt der Naturwissen- 
schaft, zahllos seine Hinweise auf ihre allgemeine 
kulturelle Bedeutung. „Plato will keinen Nicht- 
ma thematiker in seiner Schule leiden, wäre ich im- 



— 140 — 

Stande, eine zu machen, ich litte keinen, der sich 
nicht irgend ein Naturstudium ernst und eigentlich 
gewählt." So schreibt Goethe während seines zweiten 
römischen Aufenthalts und spricht damit die Über- 
zeugung aus, wie unerlässlich ihm Naturkennnis für 
allgemeine Menschenbildung erscheint. Im Studium 
der Natur sieht er das beste Heilmittel gegen die 
Krankheit der Dialektik und ist gewiss, dass mancher 
dialektisch Kranke in ihm eine wohltätige Heilung 
finden könne. Für seinen Freund Knebel erhofft 
er grossen Nutzen von der Beschäftigung mit der 
Naturwissenschaft. „Denn diese Wissenschaft." schreibt 
er mit Bezug auf Knebels Naturstudien an Karl 
August, „ist sicher, wahr, mannigfaltig, lebendig; 
man mag viel oder wenig in ihr tun, sich an einen 
Teil halten oder aufs Ganze ausgehen, leicht oder 
tief, zum Scherz oder Ernst sie treiben, immer ist 
sie befriedigend und bleibt doch immer unendlich. 
Der Beobachter und Denker, der Ruhige und Strebende, 
jeder findet seine Nahrung.* Goethe hatte an sich 
selbst diese Wirkung des Naturstudiums gar vielfach 
erfahren, und wie an einem Balken im Schiffbruch 
hielt er sich in schweren Zeiten an diesem Studium 
fest. In allen Lebenslagen war es seine Freude, seine 
Erholung, sein Trost. 

„Wie viel Freude macht mir mit jedem Tage 
mein bisschen Wissen der natürlichen Dinge, und wie- 
viel mehr müsste ich wissen, wenn meine Freude 
vollkommen sein sollte." So schrieb er 1787 aus 
Italien. Und vierundvlerzig Jahre später äusserte er zu 



— 141 — 

Eckermann: „Es geht doch nichts über die Freude, 
die uns das Studium der Natur gewährt. Ihre Ge- 
heimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe, aber 
es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer 
weitre Blicke hineinzutun. Und grade , dass sie 
am Ende doch unergründlich bleibt, hat für uns 
einen ewigen Reiz, immer wieder neue Einblicke und 
neue Entdeckungen zu versuchen." 

Goethe wurde nicht müde, diese Überzeugung 
von der ethisch fördernden, beglückenden Wirkung 
des Naturstudiums, die ihn selbst erfüllte, auch in 
andern zu wecken. „Sie müssen noch eine Erdfreundin 
werden,^ ruft er Frau von Stein zu, und an Knebel 
wendet er sich mit der Mahnung : „Wie es vor alten 
Zeiten, da die Menschen an der Erde lagen, eine 
Wohltat war, ihnen auf den Himmel zu deuten und 
sie aufs Geistige aufmerksam zu machen, so ists jetzt 
eine grössre, sie nach der Erde zurückzuführen, 
um die Elastizität ihres an gefesselten Ballons ein 
wenig zu vermindern.** Auch war sein Streben nicht 
erfolglos, und selbst Personen, die anfangs nicht 
geneigt waren, ihm auf seinen Wegen zu folgen, ja 
die mit einem gewissen spöttischen Lächeln auf diese 
Strebungen des Dichters geblickt hatten, wurden 
gewonnen. 

„Goethe,** schrieb Frau von Stein im Jahre 1784 
an Knebel, „grübelt jetzt gar denkreich in diesen 
Dingen, und jedes, was erst durch seine Vorstellungen 
gegangen ist, wird äusserst interessant. So sind 
mirs durch ihn die gehässigen Knochen geworden 



— 142 — 

und das öde Steinreich.** Man wird durch diese 
Worte an einen Ausspruch in Goethes geolo- 
gischen Aphorismen erinnert. „Die Knochen- 
lehre," schreibt er dort, „hat für den bloss sinnlichen 
Menschen etwas Widerliches; dem der sich zur 
Kenntnis der organischen Natur erheben will, ist sie 
unentbehrlich, nach vollendeter Einsicht höchst er- 
freulich und unschätzbar. So scheinen auch die 
nackten Gebirge, Steinritzen und Brüche dem natür- 
lichen Auge etwas Unerfreuliches zu haben ; dem 
Auge dess, der Kenntnis besitzt, offenbaren sie das 
Innere, ja das Äussere, die letzte nützliche und an- 
genehme Umgebung wird dadurch bequemer und 
gründlicher erkannt.* 

Wie tief der Einfluss Goethes auf die Erweckung 
des Naturinteresses in andern war, das beweist vor 
allem das Beispiel Karl Augusts. Er, dessen Organe, 
nach Goethes eignem Ausspruch, am wenigsten vor- 
bereitet waren, das Wehen des Geistes der Natur- 
lehre zu vernehmen, fand plötzlich goldne Worte 
der Verherrlichung dieses Geistes. In einem Briefe 
an Knebel nennt er die Naturwissenschaft so menschlich, 
so wahr, dass er jedem Glück wünsche, der sich ihr 
auch nur etwas ergebe. Er hofft von ihr, dass sie 
endlich die armen unwissenden Menschen von dem 
Durst nach dem dunkeln Ausserordentlichen heilt, 
dass sie ihnen zeigt, wie das Ausserordentliche ihnen 
so nahe, so deutlich, so unausserordentlich, so be- 
stimmt wahr ist. Täglich bitte er seinen guten 
Genius, ihn von aller andern Art von Bemerken 



— 143 — 

und Lernen abzuhalten und ihn immer auf dem 
ruhigen bestimmten Wege zu leiten, den uns der 
Naturforscher so natürlich vorschreibt. Und später 
hat er in einem Gespräche mit dem Hofprediger 
Röhr ganz im Goethischen Sinn den ethischen Ge- 
halt des Naturstudiums gepriesen. Als Röhr sich 
über die reichen botanischen Kenntnisse des Fürsten 
wunderte, da erwiderte ihm Karl August: „Ich will 
Ihnen sagen, mein lieber Röhr, wie ich dazu kam. 
Als im Jahre 1806 das grosse Unheil über unser 
Vaterland kam und ich ringsum so viel Untreue, 
Verrat und Betrug sah, da bin ich an der Mensch- 
heit verzweifelt. Und in meiner Verzweiflung hat 
mich allein die alte Liebe zur Natur aufrecht er- 
halten. Und da mich die Menschen anekelten, bin 
ich zu den Pflanzen gegangen und habe sie studiert 
und habe mit den Blumen verkehrt, und die Blumen 
haben mich nie betrogen." 

Dasselbe Herzens Verhältnis zur Natur und ihrer 
Wissenschaft wie bei Goethe finden wir bei Darwin. 
Er hat zwar nicht in gebundner Rede seinem Natur- 
enthusiasmus Ausdruck verliehen , aber in seiner 
Reisebeschreibung und seinen Reisebriefen lebt 
Goethisches Naturgefühl. Als er zum ersten Mal 
die langersehnte Schönheit des brasilianischen Tropen- 
waldes genossen hatte, da schrieb er in sein Tage- 
buch : 

„Dieser Tag war ein Freuden tag für mich. Denn 
Freude muss ein Naturforscher empfinden, der zum 
ersten Mal in einem brasilianischen Walde umher- 



— 144 — 

gewandert ist. Unter der Menge auffallender Gegen- 
stände trägt die ungemeine Üppigkeit der Vegetation 
den Sieg davon. Die Zierlichkeit der Gräser, die 
Neuheit der Schmarotzerpflanzen, die Schönheit der 
Blumen, das dunkle Grün des Laubwerks wirken alle 
hierbei mit. . . . Dem, der an Naturgeschichte Ge- 
fallen hat, gewährt ein solcher Tag mehr Vergnügen, 
als er je wieder zu geniessen hoffen darf.** 

Und kurze Zeit später berichtet er aus Rio de 
Janeiro an seinen Vetter : 

„Meine Seele ist, seitdem ich England verlassen 
habe, in einem wahren Sturmwind von Entzücken und 
Erstaunen gewesen . . . Wenn wir auf dem Meere sind, 
ist mein Leben so ruhig, dass für jemand, der sich zu 
beschäftigen weiss, nichts angenehmer sein kann; 
die Schönheit des Himmels und das Glänzen des 
Ozeans machen an sich schon ein Gemälde. Wenn 
ich aber auf dem Lande bin und in den erhabnen 
Wäldern herumwandre, von Ansichten umgeben, 
prachtvoller, als sie sich selbst Claude jemals vor- 
stellt, dann empfinde ich ein Entzücken, das niemand 
verstehen kann als die, die es selbst erfahren haben. ^ 

Nach fast fünfjähriger Weltfahrt, auf der die 
mannigfachsten Eindrücke auf ihn eingewirkt hatten, 
sah Darwin die brasilianischen Wälder wieder, und 
freudig bemerkte er, dass sein Entzücken an der 
Szenerie des Tropenwaldes noch ebenso lebhaft war, 
wie beim ersten Anblick. „Wenn ich ruhig auf den 
schattigen Pfaden dahinging,* schrieb er jetzt, „und 
jede neue Aussicht bewunderte, dann wünschte ich 



— 145 — 

Worte finden zu können, um meine Gedanken zum 
Ausdruck zu bringen. Ein Beiwort nach dem andern 
wurde zu schwach befunden, um das meinen Geist 
durchdringende Gefühl von Lust denen mitzuteilen, 
die nicht selbst tropische Länder besucht haben. ^ 
Er bestrebte sich, den Eindruck der Schönheiten 
des Tropenwaldes in seinen Geist für immer auf- 
zunehmen, obgleich er sich bewusst war, dass er 
früher oder später erblassen müsse. „Die Gestalten 
des Orangenbaumes, der Kokospalme, des Mango, 
der Baumfarrne, der Bananen werden klar und ge« 
sondert bleiben; aber die tausend Schönheiten, die 
alle diese zu einer vollständigen Landschaft ver- 
einigen, müssen verschwinden. Und doch werden 
sie wie ein in der Kindheit gehörtes Märchen ein 
Gemälde voll von unbestimmten, aber reizenden Ge- 
stalten zurücklassen.^ 

Und dieselbe Weihestimmung wie in den 
brasilianischen Wäldern überkam Darwin, als er von 
der Höhe der Andenkette aus seinen Blick in die 
Ferne schweifen Hess. Die Worte, in denen er dieser 
Stimmung Ausdruck verleiht, gehören zu den schönsten 
des ganzen Reisebuchs: 

„Als wir den Kamm erreichten und rückwärts 
sahen, bot sich uns ein prachtvoller Anblick dar. 
Die Atmosphäre war glänzend klar, der Himmel 
intensiv blau, die tiefen Täler, die wilden, zer- 
klüfteten Formen, die Haufen von Ruinen, die sich 
während des Verlaufs der Jahrhunderte angesammelt 

hatten, die hellgefarbten Felsen, die scharf gegen 

10 



— 146 — 

die ruhigen Schneeberge abstachen -^ alles dies zu- 
sammen rief eine Szene hervor, die sich niemand 
hätte vorstellen können. Weder Pflanzen noch 
Vögel, mit Ausnahme weniger Kondors, die um die 
hohem Zinnen schwebten, zogen meine Aufmerk- 
samkeit von der unbelebten Masse ab. Ich war 
froh, dass ich allein war, denn eine Stimmung 
überkam mich, wie beim Anblick eines Gewitters 
oder bei einem Ghor des Messias mit vollem Or- 
chester." 

Aber nicht nur das Grosse und Gewaltige in 
der Natur sprach zu Darwins Herzen. Die geringste 
Blume riss ihn zur Bewundrung hin. „Ich hörte 
ihn sehr gern die Schönheit einer Blume bewundern,^ 
schreibt sein Sohn, „es war eine Art von Dankbar- 
keit gegen die Blume selbst und eine persönliche 
Liebe zu ihrer zarten Form und Farbe. Mir ist es, 
als erinnerte ich mich, wie er eine Blume, an der 
er sich entzückte, sanft berührte; es war dieselbe 
einfache Bewundrung , wie sie ein Kind haben 
mochte." Grosse Freude machte ihm die Masse 
von Azaleen, die meist in seinem Wohnzimmer stand. 
Zuweilen vermischte sich bei ihm die Bewundrung 
der Struktur einer Blüte mit der ihrer Schönheit, 
z. B. bei den hängenden Blüten der Diclytra. Mit 
welcher Liebe er den Orchideen zugetan war, be- 
weist sein glänzendes Werk über diese Pflanzen- 
familie. Einer seiner Lieblingsplätze in der Nähe 
von Down war die Orchisbank, wo die Fliegen- und 
Moschusorchis unter dem Wachholdergebüsch, die 



— 147 — 

Cephalanthera und das Vogelnest unter deti Buchen^ 
zweigen wuchsen. Grosse Zuneigung empfand er 
auch, sowohl vom künstlerischen als vom botanischen* 
Standpunkt aus, zu der kleinen blauen Lobeltav 
Bei seinen Blumenbetrachtungen lachte er häufig 
über die schmutzigen Farben der Kunst und hielt 
ihnen die glänzenden Farben der Natur entgegen. 
Auch in direkten Selbstzeugnissen hat Darwin 
gleich Goethe seiner Liebe zur Natur und ihrer 
Wissenschaft Ausdruck verliehen. In seiner Auto- 
biographie nennt er beständige und heisse Liebe 
zur Naturwissenschaft den wichtigsten Faktor seines 
Erfolgs. Und als er die Motive erörterte, die ihn 
veranlassten, eine grosse Geldsumme zur Neuheraus- 
gabe von Steudels Nomenciator botanicus zu spenden, 
da verweilte er besonders bei der Tatsache, dass er 
den naturhistorischen Wissenschaften so viel Glück 
und Ruhm verdanke und dass sie sein Trost ge- 
wesen seien in einem, wie man wohl sagen dürfe, 
schmerzenvollen Dasein. Und wie Goethe, so hat 
auch er es verstanden, diese Begeisterung für die 
Naturwissenschaft auf andre zu übertragen. Das be- 
weisen die Tausende, die in aller Herren Länder 
sich seine Schüler nennen und auf den Wegen 
wandeln, die er der Forschung gewiesen hat. Kaum 
ein andrer Forscher, der nicht zugleich akademischer 
Lehrer war, hat eine solch begeisterte Gemeinde 
um sich versammelt wie Darwin. Das verdankt 
er nicht allein dem tatsächlichen Inhalt seiner 

Forschungen und Werke, das verdankt er vor allem 

10* 



— 148 — 

dem wunderbaren Zauber seiner Persönlichkeit, der 
aus allen seinen Werken hervorleuchtet, dem be- 
lebenden Hauch seiner grossen begeisterten Seele, 
der alle seine Arbeiten durchweht. Es ist der- 
selbe Geist tiefer Naturreligion , der auch in 
Goethes naturwissenschaftlichen Werken waltet, der 
Geist, dem Goethe Ausdruck verliehen hat in den 
Worten: 

Wesn ich bedenk, wie manches Jahr 

Sich schon mein Sinn erschliesset. 

Wie er, wo dürre Haide war, 

Nun Freuden quell geniesset. 

Da abnd ich ganz Natur nach dir. 

Dich frei und lieb zu fühlen. 

Ein lustger Springbrunn wirst du mir 

Aus tausend Röhren spülen; 

Wirst alle meine Kräfte mir 

In meinem Sinn erheitern 

Und dieses enge Dasein hier 

Zur Ewigkeit er weitem. 



HUMBOLDT UND DARWIN 



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Der Tod als Herkules nimmt dem Arlas Humboldt den Kosmos ab 




ENN wir die Entwicklung der Natur- 
wissenschaften im neunzehnten Jahrhun- 
dert überschauen, so tritt uns eine solche 
Mannigfaltigkeit der Strömungen uud Richtungen 
entgegen, dass es gewagt erscheint, einzelne Per- 
sönlichkeiten als Marksteine dieser Entwicklung zu 
bezeichnen. Und doch heben sich aus der Masse der 
Naturforscher des verflossnen Säkulums zwei heraus^ 
die in höherm Grade als alle übrigen typische Ver- 
treter des naturwissenschaftlichen Geistes jener Periode 
genannt werden dürfen: Alexander v. Humboldt und 
Charles Darwin. In Humboldt verkörpert sich der 
naturwissenschaftliche Charakter der ersten, in Darwin 
das naturwissenschaftliche Denken der zweiten Hälfte 
des neunzehnten Jahrhunderts. Mit vollem Recht 
spricht man von einem Zeitalter Humboldts, von 
einem Zeitalter Darwins. 

Zu den grössten Verdiensten des zuletzt ge- 
nannten Forschers gehört es, die ungeheure Trag- 
weite der Vererbung in das richtige Licht gestellt 
zu haben. Im Geiste unsres darwinistischen Zeit- 
alters liegt es daher, bei biographischen Betrach- 



— 152 — 

tungen in erster Linie die Frage zu erörtern, wieviel 
von den geistigen Qualitäten der zu charakterisieren- 
den Persönlichkeiten auf Rechnung der Vererbung 
zu setzen ist. Vergleichen wir in dieser Hinsicht 
Humboldt und Darwin, so ist ein ausgesprochner 
Gegensatz zwischen beiden unverkennbar. Humboldt 
hat von seinen Vorfahren, die grösstenteils dem 
Juristen- und Militärstande angehörten, wenig oder 
nichts, Darwin sehr viel geerbt. Schon von seinem 
Urgrossvater wird erzählt, dass er eine gewisse Nei- 
gung für die Naturwissenschaften hatte, und von seinem 
Grossonkel, dass er die Botanik pflegte und als be- 
jahrter Mann ein botanisches Werk veröfTentlichte, das 
viele merkwürdige Notizen über Biologie enthielt. Vor 
allem aber war Darwins Grossvater Erasmus, der 
Arzt, Dichter und Philosoph, ein Geistesverwandter 
seines grossen Enkels. Von ihm erbte Darwin jene 
„Lebendigkeit der Einbildungskraft^, die seine „über- 
wältigende Neigung zum Theoretisieren und Verall- 
gemeinern*^ zur Folge hatte, von ihm erbte er auch 
die spezielle Richtung seiner Neigungen und Ge- 
•danken. In Erasmus Darwins Werken finden sich 
bereits die Keime aller jener Lehren, die seinem 
Enkel zu unsterblichem Ruhme verhelfen sollten. 

Andre Züge seines Charakters, vor allem die 
unbestechliche Wahrheitsliebe und wunderbare Be- 
obachtungsgabe hat Darwin von seinem Vater geerbt. 
Auch dessen erzieherischer Einfiuss auf den Sohn 
muss weit grösser gewesen sein als der von Hum- 
boldts Vater, wenn man das lebhafte Gefühl grenzen- 



— 153 — 

loser Liebe und Verehrung bedenkt, das aus allen 
Äusserungen Darwins über seinen Vater spricht, 
während wir von Humboldt derartige Zeugnisse nicht 
besitzen. Von seiner ihm früh entrissnen Mutter 
erinnert Darwin sich dagegen nur noch weniger imd 
rein äusserlicher Züge : ihr Sterbelager, ihr schwarzes 
Sammtkleid und ihr eigentümlich gebauter Arbeits- 
tisch ist alles, was von ihr in seinem Gedächtnis 
haften geblieben ist. Doch scheint mir aus einer 
Äusserung eines Schulkameraden Darwins hervorzu- 
gehen, dass Mrs. Susannah Darwin die seelische Ent- 
wicklung ihres Kindes verständnisvoller zu leiten 
wusste, als Frau v. Humboldt, und dass sie seine 
Liebe für Blumen schon frühzeitig weckte. Humboldt 
verlor seine Mutter zwar erst in seinem dreissigsten 
Lebensjahr, aber der Tod der schwerkranken und 
in den Vorurteilen ihres Standes befangnen Frau 
war für ihn mehr eine Erlösung aus beengenden 
Banden als ein tragisches Ereignis. Im allgemeinen 
machen wohl beide Forscher eine Ausnahme von 
der von Michelet aufgestellten Regel, dass die be- 
deutenden Männer die Söhne ihrer Mütter sind, das 
Gepräge des geistigen Seins ihrer Mütter aii sich 
tragen. 

Ebensowenig können Humboldt und Darwin für 
die vielfach verbreitete, aber bereits von Goethe 
bekämpfte Meinung in Anspruch genommen werden, 
dass die grössten Genien der Wissenschaft aus 
kümmerlichen Existenzbedingungen hervorzugehen 
pflegten. Die Eltern beider Forscher waren be- 



— 154 — 

güterte Gründbesitzer, und die Freiheit von allen 
Sorgen des Lebensunterhalts hat nicht hemmend, 
sondern eher fördernd auf ihre geistige Entwicklung 
eingewirkt. Sie konnten sich ihren wissenschaftlichen 
Neigungen frei und ungehindert überlassen und im 
spätem Leben ihre ganze Kraft auf die Tätigkeit 
konzentrieren, die ihrer innersten Natur am meisten 
entsprach und in der sie deshalb das Höchste zu 
leisten vermochten. 

Schon in früher Jugend zeigen sich bei beiden 
unverkennbare Spuren eines ihnen eingebornen 
Forschertriebes. Der neunjährige Knabe Darwin 
sammelt bereits alle möglichen Sachen, Muscheln, 
Siegel, Münzen, Autographen und Mineralien und 
versucht die Namen der heimischen Pflanzen aufzu- 
finden. Er bringt eine Blume mit in die Schule 
und erzählt seinen Mitschülern, seine Mutter habe 
ihn gelehrt, dass durch Hineinsehen in das Innere 
der Blüte der Name der Pflanze gefunden werden 
könne. Ja sogar für die Variabilität der Pflanzen 
interessiert er sich bereits in dieser frühen Zeit, und 
er schwindelt einem andern Jungen vor, er könne 
verschieden gefärbte Polyänthus und Primeln dadurch 
erzeugen, dass er sie mit verschieden gefärbten 
Flüssigkeiten begösse. Auch das Leben der Insekten 
beobachtet er mit einer gewissen Sorgfalt, und als 
er zehn Jahre alt an die Küste von Wales reist, ist 
er sehr überrascht über eine grosse Wanze, viele 
Nachtfalter und einen Sandkäfer, die in seiner Heimat 
nicht Vorkommen. Nicht minder erfreut ihn das 



— 155 — 

Angeln, und in der letzten Zeit seines Schallebens 
ergreift ihn eine leidenschaftliche Liebe zur Jagd. 
Daneben liest er mit Eifer geographische Bücher, 
die seine Sehnsucht nach fremden Ländern frühzeitig 
wecken. 

Ganz Ähnliches lässt sich über Humboldts 
Kinder- und Jugendjahre aussagen. Auch er sammelt 
eifrig Naturalien und andre Gegenstände, auch er 
träumt von Reisen in unbekannte Länder. Forsters 
Schilderungen der Südseeinseln, Gemälde der Ganges- 
ufer von Hodges in einem Londoner Haus, ein 
Drachenbaum in einem alten Turm des botanischen 
Gartens in Berlin regen die Sehnsucht nach den Tropen 
in ihm an. Noch den bejahrten Gelehrten setzen 
die Schilfufer des Kaspischen Meeres in Entzücken 
bei der Erinnrung an die Kindheit, da er auf Karten 
die Form des asiatischen Binnenlandes mit Interesse 
betrachtet hatte. 

Es ist eine oft beobachtete Erscheinung, dass 
Kinder mit so stark ausgesprochnen Neigungen ihren 
Lehrern wenig Freude bereiten. Sie lassen sich in 
den vorgeschriebnen Gang der Schularbeiten nicht 
hineinzwängen, und ihre Gedanken weilen in höhern 
Regionen. Wundern dürfen wir uns deshalb nicht, 
dass Humboldts Erzieher darüber im Zweifel sind, 
ob ihr Zögling sich überhaupt zum Studieren eigne, 
und dass Darwins Lehrer ihn für einen sehr ge- 
wöhnlichen, eher etwas unter dem mittlem intellek- 
tuellen Masse stehenden Jungen gehalten haben. 
Ja, sein eigner Vater soll eines Tages zu ihm gesagt 



- 156 - 

haben: „Du hast kein andres Interesse als Schiessen, 
Hunde und Ratten fangen, und du wirst dir selbst 
und der ganzen Familie zur Schande." Zu bedenken 
ist dabei freilich auch, dass die Schule, in die Darwin 
ging, rein klassisch war und ihr Direktor seinen 
Schüler öffentlich zurechtwies, weil er sich mit so 
nutzlosen Dingen wie chemischen Experimenten be- 
schäftigte. 

In noch sehr jugendlichem Alter beziehen 
Humboldt und Darwin die Universität, jener Frankfurt 
a. O., um Cameralia, dieser Edinburg, um Medizin 
zu studieren. Beide wählen ihr Fach auf den Wunsch 
ihrer Eltern; denn trotz ihrer ausgesprochnen 
Neigungen schwebt ihnen noch kein bestimmter Lebens- 
beruf vor. Die genannten Universitäten waren freilich 
in keiner Weise dazu angetan, in jugendlichen Ge- 
mütern Liebe zum Studium und Begeisterung für 
die Wissenschaft zu erwecken. Weder Frankfurt 
noch Edinburg besass die wissenschaftlichen Anstalten 
und die Lehrkräfte, die einem nach Erkenntnis 
dürstenden Jüngling Genüge tun konnten. Beide 
Studenten langweilen sich auch gründlich in den 
Vorlesungen; aber während Humboldt trotzdem seine 
Pflicht tut und mit unermQdlichem Fleisse arbeitet, 
vernachlässigt Darwin bald seine medizinischen Studien 
und vertreibt sich die Zeit mit Vogelschiessen und 
andern Liebhabereien. War der Entwicklungsgang 
beider Jünglinge bis dahin in vieler Hinsicht sehr 
ähnlich, so beginnt sich jetzt ein gewisser Gegensatz 
in ihren Charakteren geltend zu machen. Humboldts 



- 157 — 

Studium, das in Göttingen seine Fortsetzung und 
auf der Bergakademie in Freiberg seinen Abschluss 
findet, verläuft durchaus regelrecht, und der im voraus 
festgesetzte Plan wird bis zum Eintritt in den Staats- 
dienst nicht geändert. Alles, was man als geniales 
Treiben und geniale Regelwidrigkeit zu bezeichnen 
pflegt, bleibt dem jungen Gelehrten fern. Darwins 
Studium dagegen bewegt sich in nichts weniger als 
regelrechten Bahnen. Aus den Anatomie- und 
Operationssälen vertreibt ihn sein Ekel und sein Ab- 
scheu vor Blut, sein zart besaitetes Gemüt kann 
den Anblick der Leiden nicht ertragen. Nach zwei- 
jährigem Aufenthalt in Edinburg muss ihn sein Vater 
zurückrufen, da er keinerlei Fortschritte gemacht hat. 
Er soll nun Geistlicher werden, aber auch dazu fühlt 
er den Beruf nicht in sich und treibt während seines 
dreijährigen Verweilens in Cambridge alles andre 
mehr als theologische Studien. Er stürzt sich in den 
Strudel studentischer Vergnügungen , macht lange 
Spaziergänge und Ritte durchs Land und betreibt 
mit Leidenschaft das Sammeln von Käfern. Mit 
Professor Henslow unternimmt er botanische, mit 
Professor Sedgwick geologische Exkursionen. Vor 
allem aber macht er in dieser Zeit die erste Be- 
kanntschaft mit Humboldts Werken und liest mit 
Aufmerksamkeit und regem Interesse die „Reise in 
die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents^. 
Kein andres Buch hat nach Darwins eigner Aussage 
auch nur annähernd einen solchen Einfluss auf ihn 
ausgeübt wie dieses Werk Humboldts. Er schreibt 



- 158 - 

sich lange Stellen über Teneriffa daraus ab und liest 
sie aaf den Exkursionen seinen Freunden vor. Der 
brennende Wunsch wird nun in ihm rege, „ einen 
Beitrag, und wenn auch nur den allerbescheidensten, 
für das erhabne Gebäude der Naturwissenschaft 
zu liefern.** Sein Beruf zum Naturforscher wird ihm 
und andern immer klarer. Wenn er schliesslich auch 
das erste theologische Examen macht, so denkt er 
doch nicht im Ernst an die Ausübung einer geistlichen 
Tätigkeit. Und ganz aufgegeben wird dieser Plan, 
als die Weltumseglung des ,,Beagle^ seine kühnsten 
Reiseträume unerwartet schnell verwirklicht. 

Die begeisterten Briefe Darwins aus der ersten 
Zeit der Beaglefahrt enthalten zahlreiche Kund- 
gebungen einer sich immer steigernden Verehrung 
für den Reisenden Humboldt. ,,Wenn Ihr wirklich 
einmal eine Idee von Tropenländern bekommen 
wollt/ schreibt er an seine Schwestern, „so studiert 
Humboldt. Je mehr ich ihn lese, desto mehr steigt 
mein Gefühl für ihn zur Bewunderung. '^ „Ich be- 
wunderte früher Humboldt, '^ heisst es in einem Briefe 
an Professor Henslow, „jetzt bete ich ihn beinahe 
an ; er allein gibt irgend einen Begriff von den Em- 
pfindungen, die in der Seele erregt werden beim 
ersten Betreten der Tropen." Und nach der Rück- 
kehr von seiner Reise bittet er seinen Freund Hooker, 
der persönlich mit Humboldt in Berührung kam, 
diesem seine ehrerbietigsten und freundlichsten 
Grüsse zu übermitteln. „Sagen Sie ihm,^ schreibt 
er, „dass ich niemals vergesse, . wie meine ganze 



- IS9 - 

Lebensrichtnng eine Folge davon ist, dass ich seine 
„Personal Narrative" gelesen und immer wieder ge- 
lesen habe. Wie wahr und wohltuend sind alle Ihre 
Bemerkungen über seine Freundlichkeit; denken Sie, 
wie viele Gelegenheit Sie in Ihrer neuen Stellung 
haben werden , für andre ein Humboldt zu sein.** 
Auch noch viele Jahrzehnte später, kurz vor seinem 
Tode, nennt er Humboldt den grössten wissenschaft- 
lichen Reisenden, der je gelebt hat, den Vater einer 
grossartigen Nachkommenschaft von wissenschaft- 
lichen Reisenden, die zusammengenommen viel für 
die Wissenschaft getan haben. 

Dieses hohe Lob, das Darwin dem Reisenden 
Humboldt spendet, ist keineswegs übertrieben. Wir 
sind uns heute in der Ära grosser wissenschaftlicher 
Expeditionen kaum noch bewusst, was Humboldts 
Reise für die Wissenschaft bedeutet. In der vor- 
darwinschen Zeit kann Humboldt darauf Anspruch 
erheben, der grösste unter den Reisenden genannt 
zu werden, die hinauszogen, nicht um neue Länder 
zu entdecken und allerlei Curiosa mit nach Hause 
zu bringen, sondern um in bereits bekannten Ländern 
wissenschaftliche Beobachtungen anzustellen und 
Tatsachen zum Ausbau der atigemeinen £rd- und 
Länderkunde zu sammeln. Nicht die Erforschung 
der besondern Eigentümlichkeiten der bereisten 
Länder ari sich stand für Humboldt im Vordergrund, 
obgleich er auch darin Bedeutendes leistete, nicht 
das Sammeln von Tieren und Pflanzen war ihm die 
1 lauiitsarhe, sondern die Erkenntnis des gesetzlichen 



\ 



— i6o — 

Zusammenhangs der Erscheinungen. ^Ich werde 
Pflanzen und Fossilien sammeln/ schreibt er in 
einem Reisebriefe, ^mit vortrefflichen Instrumenten 
astronomische Beobachtungen machen können; ich 
werde die Luft chemisch zerlegen. Das alles ist 
aber nicht Hauptzweck meiner Reise. Auf das Zu- 
sammenwirken der Kräfte, den Einfluss der un« 
belebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflan- 
zenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen 
gerichtet sein !* 

Nicht nur eine gründlichere Kenntnis Mittel- 
uhd Südamerikas verdanken wir daher der Reise 
Humboldts, sondern vor allem ganz neue Wissens- 
zweige und allgemein wissenschaftliche Erkenntnisse. 
Er war der erste, der tropische Witterungsverhält- 
nisse zum Gegenstand umfassender Messungen machte 
und durch die dort unmittelbar zutage tretende 
Gesetzmässigkeit der Erscheinungen die Oberzeugung 
begründete, dass auch in höhern Breiten eine solche 
vorhanden ist, wenn auch durch überwiegende 
Störungen verdeckt. Durch seine Isothermenkarten 
und die klare Formulierung des Gegensatzes zwischen 
Küsten- und Binnenklima verbreitete er zum ersten 
Male Klarheit über die Ursachen, warum die örtliche 
Wärmemenge nicht symmetrisch mit der wachsenden 
Polhöhe abnimmt. Durch diese Forschungen wurde 
er zum Begründer der wissenschaftlichen Klima- 
tologie. Die Lehre vom Erdmagnetismus bereicherte 
er durch die Erkenntnis, dass das Mass der magne- 
tischen Erdkraft ungleichmässig über die Erdober- 



BegrSbnisstItte der Familie Humboldl in Tegel 



— i6i — 

fläche verteilt ist und von den magnetischen Polen 
nach dem magnetischen Äquator zu abnimmt. In 
geologischer Hinsicht enthüllte ihm die amerikanische 
Reise die Bedeutung der vulkanischen Naturkräfte 
und den Zusammenhang zwischen Form und Zu- 
sammensetzung der Gebirge. Die vergleichende unii 
erklärende Länderkunde sind wesentlich seine Schöpf- 
ungen. In seinem Buch über Mexiko versuchte er 
zum ersten Male, die örtlichen Erscheinungen aus 
den gesetzlich wirkenden Naturkräften zu erklären, 
indem er die Beziehungen zwischen Bodenbeschaffen- 
heit, Klima, Ackerbau, Sitten und Gewohnheiten 
der Bewohner erörterte. Dadurch erhob er die 
Geographie, die vor ihm nicht viel mehr als eine 
blosse Ortskunde gewesen war, zu einer erklärenden 
Wissenschaft. Aber nicht nur die Sitten und 
Gewohnheiten, auch die Gemütsstimmungen des 
Menschen wusste er in Einklang mit den Natur- 
erscheinungen zu bringen und so eine Physiognomik 
der Natur zu begründen. Ihm verdanken wir die 
erste Darstellung der Vegetationsformen und ihrer 
Gruppierung, der Formationen der Landschaft. Und 
damit in engem Zusammenhang stehen seine epoche- 
machenden Leistungen auf dem Gebiete der Pflanzen- 
geographie, einer Wissenschaft, die vor ihm kaum 
dem Namen nach existierte. Er begnügte sich dabei 
nicht mit einer bloss geographischen Darstellung der 
Vegetation, sondern suchte deren physische Be- 
dingungen zu ergründen und allgemeine Gesetze der 
Verbreitung aufzustellen. Das Verhalten der Pflanzen 

II 



— 102 — 

in alter und neuer Welt bei gleicher Pol höhe, den 
Zusammenhang zwischen Pflanzen vorkommen und 
Meereshöhe machte er zum Gegenstand seiner Unter- 
suchungen. Das wichtige Gesetz, das die Gebirgs- 
höhen mit entfernten, dem Pole näher liegenden 
Tiefebenen verknüpft, ist von ihm zuerst auf Grund 
der Erforschung der Andenvegetation ausgesprochen 
worden. 

Alle diese grossen Erkenntnisse, durch die Hum« 
boldt die Wissenschaft bereichert hat, waren im 
letzten Grunde Ergebnisse der amerikanischen Reise. 
Die fundamentale Bedeutung dieser Reise besteht 
daher darin, dass sie Bausteine geliefert hat zu dem 
Gebäude einer allgemeinen Welttheorie. Der Reiseride 
Humboldt war der Pionier einer erweiterten Auf- 
fassung des Weltganzen, und darin berührt er sich 
mit dem Reisenden Darwin. 

Als der 22 jährige Baccalaureus Darwin hinaus- 
segelte in die atlantischen Gewässer, da war er sich 
freilich- noch nicht bewusst, dass er nicht weniger 
Grosses leisten sollte als Humboldt. Im stillen hatte 
er gewiss den sehnlichsten Wunsch, in die Fusstapfen 
des grossen Reisenden zu treten, aber an seiner 
Fähigkeit dazu zweifelte er. Er glaubte nur als 
Sammler von Natur gegenständen gelten zu dürfen, 
der für andre höher veranlagte Geister wissenschaft- 
liche Bausteine zusammenträgt. Und zu diesem 
Glauben hatte er damals gewiss genügenden Grund. 
Er selbst ist der Meinung, dass wohl selten jemand 
eine Forschungsreise schlechter vorbereitet antrat als 



- i63 - 

er. Nur ganz oberflächlich und unsystematisch hatte 
er sich bisher mit naturwissenschaftlichen Studien 
beschäftigt, mit chemischen Experimenten in Shrews- 
bury, mit Zergliedern von Seetieren in Edinburgh 
mit Käfersammeln in Cambridge. Nie war ein 
systematisches Lehrbuch über Zoologie, nie ein zu- 
sammengesetztes Mikroskop in seine Hände ge- 
kommen. Erst vor wenigen Monaten hatte er an- 
gefangen etwas Geologie zu treiben. Es war alles 
umgekehrt wie bei seinem Meister und Vorbilde 
Humboldt. Dessen ganze Tätigkeit vom i8. bis 
zum 30. Lebensjahr war eigentlich nichts als eine 
sorgfältige und planmässige Vorbereitung zu seiner 
grossen Expedition, die jahrelang in Aussicht ge- 
nommen war» ehe sie angetreten werden konnte. 
Humboldts Ruf als Gelehrter stand beim Antritt der 
Reise bereits fest, er hatte die wissenschaftliche Welt 
mit wertvollen Arbeiten mineralogischen, botanischen 
und zoologischen Inhalts beschenkt, während Darwin 
noch nicht an die Öffentlichkeit getreten war. Erst 
ganz allmählich wird es auch diesem klar, dass er 
zu höherm berufen ist, als zum blossen Sammler. 
In unglaublich kurzer Zeit vermindert er durch an- 
gestrengten Fleiss und ihm vorher gänzlich ungewohnte 
planmässige Arbeit die Lücken seines Wissens, und 
kraft seines eingebornen Genies weiss er bald den 
höchsten Anforderungen zu genügen, die an einen 
wissenschaftlichen Reisenden gestellt werden können. 
Wenn man Darwins „Reise eines Naturforschers** 

liest, so erscheint es einem kaum glaublich, dass ein 

11* 



— 104 — 

junger Mensch in der Mitte der zwanziger Jahre so 
etwas schaffen konnte. Es ist ein Buch, das seinen 
Wert behaupten wird bis in die fernsten Zeiten. 
Mir ist diese herrliche Gabe des grossen Natur- 
forschers immer fast noch bewundernswerter erschienen 
als das epochemachende Hauptwerk des fünfzig- 
jährigen Darwin über die Entstehung der Arten. 
Vielen Tausenden ist das Reisetagebuch Darwins eine 
unerschöpfliche Quelle des Studiums und der An- 
regung gewesen. Der grosse Botaniker Hooker er- 
zählt, dass er vor Antritt seiner antarktischen 
Expedition die Blätter des Tagebuchs unter sein 
Kopfkissen zu legen pflegte, um sie zwischen Er- 
wachen und Aufstehen zu lesen, da er sonst keine 
Zeit übrig hatte. Sie machten einen tiefen und 
einerseits verzweifelnden Eindruck auf ihn mit der 
Verschiedenartigkeit der geistigen und physischen, 
von einen! Naturforscher zu erfüllenden Anforderungen, 
der in Darwins Fusstapfen treten sollte, während sie 
ihn andrerseits mit einem wahren Enthusiasmus in 
der Sehnsucht zu reisen und zu beobachten erfüllten. 
Und ein andrer gleichzeitiger Kritiker des Werks 
spricht von dem Reiz, den die Frische des Herzens 
über diese jungfräulichen Seiten eines stark intellek- 
tuellen Mannes und eines scharfsichtigen und tief- 
eingehnden Beobachters ergiesst. Wie Humboldts 
Reisewerk auf Darwin, so hat dessen Tagebuch 
wieder auf zahlreiche jüngre Naturforscher gewirkt, 
und mit nicht weniger Recht als Humboldt kann 
Darwin als der Vater einer grossartigen Nachkommen- 



- 165 - 

Schaft erfolgreicher wissenschaftlicher Reisender an- 
gesehen werden. Auch Humboldt selbst befand sich 
unter den Bewundrern des Werks, und auf seine 
und Liebigs Anregung erschien die erste deutsche 
Übersetzung. 

Darwins Tagebuch, mit dem er seine schrift- 
stellerische Tätigkeit so glänzend eröffnete, hat aber 
eine weit grössre Bedeutung als die einer blossen 
Reisebeschreibung. Es bezeichnet nicht nur äusserlich 
den Anfang jener Reihe unsterblicher Werke, mit 
denen der grosse Denker in den folgenden vierzig 
Jahren die Welt noch beschenken sollte, es enthält 
auch innerlich bereits die Wurzeln des gewaltigen 
Baumes der Darwinschen Entwicklungslehre. Diese 
ist im letzten Grunde ein Ergebnis der Weltfahrt 
des Beagle, und insofern berührt Darwins Reise 
gleich der Humboldts die höchsten Fragen menschlicher 
Erkenntnis. 

Ein Jahr nach der Rückkehr von seiner Reise 
schrieb Darwin in sein Taschentuch die bemerkens- 
werten Worte : „Im Juli fing ich das erste Notizbuch 
über die Umwandlung der Arten an. War ungefähr 
seit dem vorigen März über den Charakter der 
südamerikanischen Fossilien und die Arten vom 
Galapagosarchipel sehr überrascht. Diese Tatsachen 
bilden den Ursprung aller meiner Ansichten.^ Darwins 
Reisetagebuch verbreitet sich näher über diese Tat- 
sachen. Es erzählt uns, wie der Forscher in den 
südamerikanischen Ebenen die Skelette riesiger Faul- 
tiere und Gürteltiere ausgrub, also die fossilen über- 



— i66 — 

reste von Tieren , die auch heute noch dort leben, 
wenn auch in viel geringern Dimensionen. Darwin 
bringt diese Erscheinung in Zusammenhang mit den 
fossilen und lebenden Beuteltieren Australiens und 
glaubt, dass die wunderbare Verwandtschaft der 
lebenden und ausgestorbnen Tiere desselben 
Kontinents später mehr Licht auf das Erscheinen und 
Verschwinden der Lebewesen unsrer Erde werfen 
wird, als- irgend eine andre Klasse von Tatsachen. 
Vor den Gebeinen der fossilen Fehlzähner Argen- 
tiniens und Patagoniens dämmert in ihm der Gedanke 
auf, dass die heute dort lebenden Faultiere und 
Gürteltiere die Blutsverwandten jener ausgestorbnen 
Riesengeschöpfe sind. 

Und 'zum zweiten Male tritt die Idee der Ab- 
stammung vor das Geistesauge des Reisenden, als 
er die Inseln des Galapagosarchipels forschend 
durchwandert. Ein ganzes Kapitel seiner Reise- 
beschreibung ist der eigentümlichen Verteilung der 
Pflanzen und Tiere dieser Inseln gewidmet. Wir 
erfahren da, dass die Fauna und Flora der Galapagos 
einerseits zwar eine durchaus eigenartige und nur 
diesem Archipel zukommende ist, andrerseits aber 
eine ausgesprochne Verwandtschaft mit der des be- 
nachbarten südamerikanischen Festlandes besitzt. 
Auch hier schien die Annahme einer Abstammung 
der Lebewesen der Galapagos von denen Südamerikas 
die wahrscheinlichste Erklärung jener Verwandtschaft 
zu sein. Aber noch zwanzig Jahre streng empirischer 
Versuchsarbeit sollten vergehen, ehe Darwin diese 



— 167 — 

gewagten Ideen der staunenden Mitwelt verkündete. 
Einige wenige Tatsachen hatten genügt, den grossen 
Gedanken der Entwicklung alles Lebendigen in Dar- 
wins Hirn entstehen zu lassen, aber eine unendliche 
Fülle von Versuchen und Beobachtungen dienten 
ihm nachher zur Prüfung und Bestätigung des Ge- 
dankens. 

Der jugendliche Reisende Darwin offenbart be- 
reits die charakteristische Doppelnatur seines Geistes, 
die gleichmässige Wertung der Empirie und Speku- 
lation, die in allen seinen spätem Werken so glänzend 
hervortritt. Er selbst nennt einmal seinen Geist eine 
Art Maschine, die aus grossen Massen von Tatsachen 
allgemeine Gesetze mahlt. Auch auf Humboldts Geist 
würde dieser Vergleich sich anwenden lassen. Denn 
die Forschungsmethode beider war in ihren Grund- 
prinzipien dieselbe. „Ich habe gewagt/ schreibt 
Humboldt^ ,,die Methode zu befolgen, welche zuerst 
in den zoologischen Werken des Aristoteles so 
glänzend hervortritt und vorzugsweise geeignet ist, 
wissenschaftliches Vertrauen zu begründen, die Methode, 
in der neben dem unausgesetzten Bestreben nach 
Verallgemeinerung der Begriffe immer durch An- 
führung einzelner Beispiele in das Besonderste der 
Erscheinungen eingedrungen wird.*' Der Grund- 
charakter von Darwins Werken und Darwins Forschungs- 
art könnte nicht besser bezeichnet werden als durch 
diese Worte Humboldts. 

Aber nicht nur die Forschungsmethode an sich 
war beiden Männern gemeinsam, sondern auch die 



— i68 — 

Fähigkeit, sie auf einem aussergewölinhch grossen 
Gebiete praktisch zu verwerten. Humboldt und 
Darwin haben nicht, wie es sonst Regel ist, nur in 
einem, sondern in vielen Zweigen der Wissenschaft 
durch Spezialforschung bahnbrechend gewirkt. Hum* 
boldt hat die Geographie, Meteorologie, Geologie, 
Botanik und Zoologie durch neue Gedanken und 
Tatsachen bereichert, Darwin auf den verschiedensten 
Gebieten der Geologie, Botanik, Zoologie und An- 
thropologie Unvergängliches geleistet, ganz abgesehen 
von dem tiefgehenden Einfluss, den seine Theorie 
auf alle Zweige menschlichen Wissens ausgeübt hat 
und ferner noch ausüben wird. Die ausserordent- 
liche Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Arbeiten 
Humboldts erhellt, wenn man bedenkt, dass derselbe 
Mann die Entstehung des Basaltes, die Naturgeschichte 
der Vulkane, die Lagerung der Gebirgsarten, die 
chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, die 
Temperatur des Meeres und der Luft, die geo- 
graphische Verteilung der Wärme auf der Erdober- 
fläche, die täglichen Schwankungen des Barometer- 
standes, die Intensität des Zodiakallichts, die Intensität, 
Deklination und Inklination des Erdmagnetismus, den 
Einfluss des Nordlichts auf die Magnetnadel, die 
grüne Farbe unterirdischer Vegetabilien, die geo- 
graphische Verteilung der Pflanzen, die Physiognomik 
der Gewächse, die Gesetze der gereizten Muskel- 
und Nervenfaser, den Bau und die Lebensweise der 
elektrischen Fische, die Respiration der Krokodile, 
die Geschichte der Entdeckungen im Zeitalter der 



— lög — 

Renaissance, den politischen Zustand von Mexiko 
und die G^chichte der physischen Weltanschauung 
zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat. 
Und die nicht minder grosse Mannigfaltigkeit der 
wissenschaftlichen Tätigkeit Darwins leuchtet ein, 
wenn man erwägt, dass er den geologischen Er- 
scheinungen der Hebungen und Senkungen, der 
Vulkane und Erdbeben, der Gletscher und erratischen 
Blöcke, der Spaltung, Blätterung und Schichtung der 
Gesteine, der Koralleninseln und der Bildung der 
Ackererde nicht weniger seine enorme Arbeitskraft 
zuwandte, als der zoologiischen Systematik der ranken- 
füssigen Krebse und den biologischen Erscheinungen 
des tierischen Instinkts, des menschlichen Mienen- 
spiels, der Variation der Haustiere und Kulturpflanzen, 
der Vererl^ungsgesetze, der sekundären Sexualcharak- 
tere, der Wechselbeziehungen zwischen Blumen und 
Insekten, der Kreuz- und Selbstbefruchtung im 
Pflanzenreich, der Zwei- und Dreigestaltigkeit der 
Blüten, der insektenfressenden, windenden und 
kletternden Pflanzen. Solcher Universalität des 
Wissens und Forschens konnte bei beiden Männern 
das Streben nicht fehlen, das Getrennte zusammen- 
zufassen, das Vereinzelte durch gemetnsanie Gesichts- 
punkte zu verbinden. Daher die charakteristische 
Doppelnatur ihrer Werke, ihr Reichtum an Tatsachen 
und Ideen, der sie zu unentbehrlichen pädagogischen 
Werkzeugen aller Zeiten macht. 

Der innern geistigen Verwandtschaft beider 
Forscher entsprach auch die äussre gegenseitige 



— 170 — 

Anerkennung ihrer Verdienste. Mit welcher Be- 
geisterung Darwin Humboldts Tropenschilderungen 
aufnahm, wie sie seine ganze Lebensrichtung be- 
stimmten, haben wir bereits gesehen. Humboldt 
hatte hier eine verwandte Saite bei Darwin an- 
geschlagen. Die Freude an schöner Szenerie war das 
ausgesprochenste ästhetische Gefühl bei Darwin, das 
sich bis in sein Alter frisch und ungeschwächt er- 
hielt, während er den Geschmack für andre künst- 
lerische Genüsse in spätren Jahren verlor. Auch in 
Humboldts Kosmos scheinen ihm die Kapitel über 
Ästhetik der Natur am meisten gefallen zu haben. 
„Wie wahr sind", schreibt er an Hooker, „viele der 
Bemerkungen über Szenerie, es ist dies ein genauer 
Ausdruck der eigenen Empfindungen. ** Die Innigkeit 
dieser Geistesverwandtschaft beider Forscher ergibt 
ein Vergleich ihrer Reisebriefe und Reisebe- 
schreibungen, wo in enthusiastischer Schilderung der 
Schönheiten der Tropenwälder einer den andern 
zu überbieten sucht. 

Die erste und einzige persönliche Begegnung 
mit Humboldt erfüllte nicht ganz Darwins hoch- 
gespannte Erwartungen. Er war etwas enttäuscht 
und empfand besonders peinlich, dass Humboldt 
über alles Mass viel sprach und keinen andern zu 
Worte kommen Hess. Das verminderte aber seine 
Verehrung für den Reisenden und Forscher nicht. 

Humboldt andrerseits, der glühende Verehrer 
Frankreichs, war kein Freund Englands und der 
Engländer. Das steife, konventionelle Wesen, die 



egoistische Politik und äussre Kirchlichkeit dieses 
Volkes waren ihm in der Seele zuwider. Das hinderte 
ihn aber' nicht, den grossartigen Leistungen eng- 
lischer Forscher, wie Faraday, Herschel, Sabine und 
Darwin volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 
Wenn ihm auch die wissenschaftliche Haupttat Dar- 
wins nicht mehr zu erleben vergönnt war — er starb 
im Mai desselben Jahres, gegen dessen Ende die 
Entstehung der Arten erschien — , so hat er doch 
wiederholt den Verdiensten des Reisenden Darwin 
warme Anerkennung gezollt. Bei der Erörterung 
der drei Typen von Korallenriffen in den ^Ansichten 
der Natur'* sagt er: „Diese ganz naturgemässe Ein- 
teilung und Nomenklatur ist von Charles Darwin 
eingeführt und hängt innigst mit der scharfsinnigen 
Erklärung zusammen, welche dieser geistreiche Natur- 
forscher von der allmählichen Entstehung so wunder- 
voller Formen gegeben hat." Und einige Seiten 
später nennt er Darwin einen Naturforscher, der den 
Schatz seiner eignen Beobachtungen durch Ver- 
gleichung mit den von andern in vielen Weltgegenden 
gesammelten vermehren konnte. 

Dass Humboldt auch dem wissenschaftlichen 
Hauptwerk Darwins volles Verständnis entgegen- 
gebracht haben würde, lässt sich aus manchen Stellen 
seiner Schriften mit einiger Sicherheit vermuten. Er 
wendet sich zwar einmal mit skeptischen Fragen 
an ,) diejenigen, welche gern von allmählichen Um- 
änderungen der Arten träumen und die benachbarten 
Inseln eigentümlichen Papageien als umgewandelte 



— 172 — 

Spezies betrachten^, aber andrerseits denkt er doch 
auch an die Möglichkeit, dass die spezifischen Ver- 
schiedenheiten Wirkuhgen der Ausartung und der 
Abweichung von gewissen Urformen sein könnten. 
Im grossen und ganzen war ihni wohl die Entstehung 
der Arten ein ungelöstes und zur Zeit unlösbares 
Problem, aber viele der Gesichtspunkte und Tat- 
sachenreihen, auf die sich Darwins Theorie stützt, 
waren ihm durchaus geläiifig, ganz abgesehen davon, 
dass wohl selten ein Naturforscher die vergleichende 
Methode, die Grundlage alles Darwinismus, mit grössrer 
Meisterschaft gehandhabt hat als grade Humboldt. 

Der Tragweite paläontologischer und chorolö* 
gischer Tatsachen für eine umfassendere Auffassung des 
organischen Lebens war er sich wohl bewusst, und 
er stellte Fragen auf wie die, ob sich die tierischen 
Formen von den ältesten zu den neusten Schichten 
in derselben Weise aufeinander folgen, wie wir im 
Tiersystem von einfachem zu zusammengesetztem 
Formen aufsteigen. Auch die Bedeutung der Wande- 
rungen der Organismen hat er widerholt betont und 
durch sie die Verbreitung der Arten von einer be- 
grenzten Ursprungsstätte aus zu erklären versucht. 
Nicht geringern Wert legte er auf die typische Über- 
einstimmung im Bau der Tiere^ und wie uns Louis 
Agassiz erzählt, pflegte er 183 1 in Paris die Goethische 
Theorie der einheitlichen Struktur des Wirbeltier- 
skeletts gegen Cuviers Ausfalle in Schutz zu nehmen. 

Ja, selbst solchen Erscheinungen, die in das 
Gebiet des Darwinismus im engsten Sinne gehören. 



- 173 - 

hat sein alles umfassender Geist lebhafte Auf- 
merksamkeit zugewendet. So hat ihn das Variieren 
der Tiere und Pflanzen mehrfach beschäftigt. In 
den Ansichten der Natur erwähnt er, dass bei unsrer 
gemeinen Kiefer die Nadellänge durch Einflüsse der 
Boden- und Luftnahrung sowie der Höhe über dem 
Meeresspiegel auf das Auffallendste variiert, so dass 
man bisweilen , durch Kürze und Steifigkeit der 
Nadeln verführt, plötzlich eine andre Pinusait zu 
finden glaube. Und in demselben Werk gibt er im 
Anschluss an die Erwähnung der verwilderten 
europäischen Hunde der Pampas eine Darstellung 
der verschiednen südamerikanischen Hunderassen. 
Auch die Beziehungen des Milieus zu den Verschieden- 
heiten der Rassen haben ihn beschäftigt, und es fiel 
ihm auf, dass die Menschenhorden, die die glühenden 
Ebnen im äquinoktialen Amerika durchstreifen, gleich- 
wohl keine dunklere Hautfarbe als die Gebirgsbewohner 
oder die Bevölkerung gemässigter Gürtel besitzen. 
Nicht minder interessierte ihn der Zusammenhang 
zwischen der geographischen Lage und den Charakteren 
und Sitten der Tiere. Er bemerkte, dass Affen der- 
selben Art an einem Orte ihres Vorkommens leichter 
zu zähmen und abzurichten sind als an andern, dass 
Krokodile an manchen Orten den Menschen fliehen, an 
ändern ihn angreifen. Auch die von Darwin zu Gunsten 
seiner Theorie verwertete Tatsache, dass die Furcht vor 
den Menschen den Tieren erst durch Erfahrung eigen 
wird, war Humboldt aus eigner Beobachtung bekannt, 
indem er bemerkte, dass die Crotophaga, ein kukuks- 



— 174 — 

artiger Vogel, sich in den Steppen von Calabazo 
zuweilen von Kindern mit den Händen fangen lässt. 

Dass ihm endlich auch der Kampf ums Dasein 
ein geläufiger Begriff war, erhellt aus der klassischen 
Darstellung des Tierlebens in den südamerikanischen 
Steppen, die Humboldt in den Ansichten der Natur 
gegeben hat. Freilich war er noch weit entfernt 
davon, diesen Kampf ums Dasein zu Hülfe zu rufen, 
um das Problem von der Entstehung der Arten zu 
lösen, und er schien ihm nur zur Erklärung der 
Zahl der Individuen einer Form verwendbar. „Es 
lässt sich erklären^ , sagt er in den Ansichten der 
Natur, „wie auf einem gegebnen Erdraum die Individuen 
einer Pflanzen« oder Tierklasse einander der Zahl 
nach beschränken, wie nach Kampf und langem 
Schwanken durch die Bedürfnisse der Nahrung und 
Lebensart sich ein Zustand des Gleichgewichts ein- 
stellte ; aber die Ursachen, welche nicht die Zahl 
der Individuen einer Form, sondern die Formen selbst 
räumlich abgegrenzt und in ihrer typischen Ver- 
schiedenheit begründet haben, liegen unter dem un- 
durchdringlichen Schleier , der noch unsern Augen 
alles verdeckt, was den Anfang der Dinge und das 
erste Erscheinen organischen Lebens berührt." 

In diesen Worten ist Humboldts skeptische 
Stellung zum Speziesproblem klar präzisiert. Doch 
scheint er sich in spätem Jahren mit einer gewissen 
Entschiedenheit zu descendenztheoretischen Ansichten 
bekannt zu haben. Wenigstens weiss uns Du Bois- 
Reymond folgendes zu berichten: 



— 175 — 

„Minder bekannt ist vielleicht, dass Humboldt 
auch vordarwinischer Darwinianer war. Er schenkte 
mir den von Louis Agassiz ihm übersandten Essay on 
Classification, worin nur drei Jahre vor dem Er- 
scheinen der Origin of Spezies, welches Humboldt 
nicht mehr erlebte, die Lehre von den Schöpfungs- 
perioden und die teleologische Weltansicht mit un- 
umwundner Schärfe vorgetragen und mit zahlreichen 
Gründen scheinbar gestützt wurden. Humbolds Äusse- 
rungen bei dieser Gelegenheit Hessen mir keinen 
Zweifel, dass er, weit entfernt Agassiz Ansichten zu 
teilen, Anhänger der mechanischen Kausalität und 
Evolutionist war. Dürfen wir gewissen Pariser Über- 
lieferungen trauen, so standen Humboldt und Cuvier 
nicht auf dem besten Fusse, wozu politische Meinungs- 
verschiedenheiten beigetragen haben mögen. Viel- 
leicht hielt sich dann Humboldt mehr zu Lamarck 
und GeofFroy de Saint-Hilaire und durchdrang sich 
bei ihnen mit der Abstammungslehre.** 

Jedenfalls würde wohl Humboldt in Darwins 
Werk einen Schritt vorwärts gesehen haben auf dem 
Wege zur Lösung des Rätsels. Die Vorbedingungen 
dazu waren durchaus vorhanden. 

Die innige Geistesverwandtschaft, die Humboldt 
und Darwin als Naturforscher verbindet, lässt sich 
auch auf andern Gebieten ihres geistigen Lebens 
nicht verkennen. So in der Religion und Politik. 
In religiösen Fragen beobachteten beide, um mit 
Humboldts Grabprediger zu reden, eine ,fast 
schüchterne Schweigsamkeit **, und dem Unerkenn- 



— 176 — 

baren gegenüber verzichteten sie auf bestimmte Hypo- 
thesen und systematische Formulierung ihrer Gedanken. 
Die ihnen gemeinsame Behutsamkeit des Denkens 
hielt sie von metaphisischen Spekulationen fern. 

In politischer Beziehung waren beide begeisterte 
Bekenner eines entschiednen Liberalismus. Hum- 
boldt war erfällt von den edlen Humanitätslehren 
des 18. Jahrhunderts, und bis in seine spätesten 
Tage trug er die Ideen von 1789 im Herzen. Sein 
Preis des griechischen Freiheitskampfes, sein Ein- 
treten für die Berufung des politisch anrüchigen 
Oken zur Berliner Naturforscherversammlung, seine 
lebhafte Bekämpfung des 1842 in Preussen angedrohten 
„scheusslichen Judengesetzes" und seine Agitation 
für die Wahl des jüdischen Physikers Riess zum 
Akademiker, seine kühnen Aussprüche über die 
Reaktionszeit der fünfziger Jahre, wo er alle Gefühle 
verwildern, alle Zeitungen mit Blutflecken besudelt 
sieht und den deutschen Regierungen vorwirft, dass 
sie unterirdisch ehrloser wühlen, als je die Blutroten 
getan, vor allem aber seine scharfen Worte über 
die amerikanische Sklaverei, denen er weit grössre 
Wichtigkeit beilegte als all seinen „mühevollen Ar- 
beiten astronomischer Ortsbestimmungen, magnetischer 
Intensitätsversuche und statistischer Angaben", alle 
diese Momente beweisen die Tiefe und Entschieden- 
heit seines freiheitlichen Standpunktes. Und in der 
Empörung über die fluchwürdige Behandlung der 
amerikanischen Sklaven hat er in Darwin einen 
würdigen Nachfolger gefunden. 



— 177 — 

„Am IQ. August/ schreibt dieser in seinem 
Tagebuch, ^verliessen wir zum letzten Mal die Küste 
Brasiliens. Ich danke Gott, dass ich nie wieder ein 
5klavenland besuchen werde. Noch heutigen Tags, 
wenn ich ein entferntes Schreien höre, kehren mir 
mit peinlicher Lebhaftigkeit jene Gefühle, zurück, 
•die ich beim Vorübergehn an einem Hause in der 
Nähe von Pernambuco empfand. Die jammervollsten 
Klagetöne, die ich hörte, Hessen vermuten, dass dort 
irgend ein armer Sklave gemartet wurde, und doch 
tnusste ich mir sagen, dass ich so machtlos wie ein 
Kind sei, auch nur Vorstellungen dagegen zu machen. 
Ich vermutete, dass diese Klagelaute von einem ge- 
peitschten Sklaven herrührten, und in einem andern 
Fall wurde es mir als gewiss bestätigt. In der Nähe 
^on Rio de Janeiro wohnte ich einer alten Dame 
gegenüber, die sich Schrauben hielt, um die Finger 
ihrer Sklavinnen zu quetschen. Ich habe in einem 
Hause gelebt, wo ein junger, zum Hausstande ge- 
höriger Mulatte täglich und stündlich in einer Weise 
gescholten, geschlagen und verfolgt wurde, die auch 
dem niedrigsten Tiere den Lebensmut hätte brechen 
müssen. Ich habe einen kleinen Knaben von sechs 
oder sieben Jahren dreimal mit einer Pferdepeitsche 
über den blossen Kopf schlagen sehen, bevor ich 
Einhalt tun konnte, weil er mir ein nicht ganz saubres 
Glas Wasser gereicht hatte; und seinen Vater sah 
ich bei einem blossen Blick aus dem Auge seines 
Herrn erzittern. Ich war zugegen, als ein wohlwollen- 

-der Mann im Begriff stand, für immer die Männer, 

12 



- 178 - 

Frauen und kleinen Kinder einer grossen Zahl von 
Familien zu trennen, die lange Zeit miteinander ge- 
lebt hatten. Und diese Handlungen werden von 
Leuten ausgeführt und verteidigt, welche be- 
kennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben, 
welche an Gott glauben und welche beten, dass sein 
Wille auf Erden geschehe! Es macht unser Blut 
aufwallen und doch unser Herz erzittern, wenn wir 
bedenken, dass wir Engländer und unsre amerika- 
nischen Nachkommen mit ihrem übermütigen Ge- 
schrei nach Freiheit so schuldbeladen sind und 
noch sind." 

So berühren sich beide Männer nicht nur in den 
höchsten Fragen wissenschaftlichen Denkens, sondern 
auch in den höchsten Regungen ethischen Empfindens. 
Nicht nur geistig grosse, sondern auch sittlich hohe 
und edle Charaktere verehren wir in ihnen. Und in 
diesem doppelten Sinne gilt für beide das Goethische 
Wort: 

Es kann die Spar von ihren Erdentagen 
Nicht in Äonen untergebn. 



DARWIN UND HAECKEL 



Charles Darwin 




N kritischen Perioden der kulturellen Ent- 
wicklung, wo grosse Reformen der Wissen- 
schaft und der Weltanschauung die Ge- 
müter bewegen, treffen wir stets auf führende Geister 
zweierlei Art. Die einen legen im stillen Kämmer- 
lein die Prinzipien der neuen Lehre wissenschaftlich 
fest, die andern, ohne auf selbständige Forschung 
zu verzichten, tragen sie hinaus ins Leben und 
wenden sie an auf alle Fragen, die den Menschen- 
geist beschäftigen. Als die kirchliche Reformations- 
bewegung ihre Wellen schlug, standen neben den 
stillen Gestalten eines Melanchthon und Erasmus 
die kühnen Streiter Luther und Hütten. Als das 
Weltsystem des Kopernikus nach Anerkennung rang, 
traten Galilei und Bruno auf den Kampfplatz. Und 
als Charles Darwin durch seine Reform der Ent- 
wicklungslehre der Wissenschaft vom Leben eine 
neue Grundlage schuf, da wurde Ernst Haeckel sein 
Apostel und Prophet. 

In der Geschichte der menschlichen Geisteskultur 
werden die Namen Darwin und Haeckel so wenig zu 
trennen sein wie die Namen Plato und Aristoteles, 
Melanchthon und Luther, Kopernikus und Galilei, 
Schiller und Goethe, Mozart und Beethoven. Sie 



— l82 — 

bezeichnen ein geistiges Dioskurenpaar, das nur in 
seinem gegenseitigen Verhältnis richtig gewürdigt 
werden kann. Eine Darstellung dieses Verhältnisses 
wird nicht nur von historischem Interesse sein, 
sondern auch klärend und versöhnend wirken in 
bezug auf die Gestalt des Mannes, dessen Charakter- 
bild, von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, in 
der Geschichte schwankt. 

Aus hochangesehnen, geistig bedeutenden und 
wirtschaftlich gutsituierten Familien sind beide Forscher 
hervorgegangen. Eine feste Tradition hatte sowohl 
in Darwins als in Haeckels Familie den Lebensberuf 
bestimmt; in jener war der medizinische, in dieser 
der juristische Beruf vorherrschend gewesen. Darwins 
Grossvater, Vater und Onkel gehörten dem ärztlichen 
Stande an, und auch sein älterer Bruder hatte sich 
dem Studium der Medizin gewidmet. Bei Haeckel 
reicht die juristische Tradition sogar bis zum Ur- 
grossvater zurück; der Vater war Regierungsrat in 
Potsdam, die Mutter eine Tochter des aus Frey tags 
Bildern aus der deutschen Vergangenheit bekannten 
Chefs des rheinischen Kassationshofs, Christoph Sethe, 
der sich um die deutsche Gerichtsorganisation be- 
deutende Verdienste erwarb. Und auch hier hat 
der ältere Bruder, der vor mehreren Jahren in 
Potsdam verstorbne Landesgerichtsrat Haeckel, die 
Familientradition fortgesetzt. 

Die Jüngern Sprösslinge aber befreiten sich von 
der Tradition. Darwin machte zwar einen schüchternen 
Versuch mit dem Studium der Medizin, der aber 



— i83 — 

kläglich misslang, Haeckel hat nie daran gedacht, 
Jurist zu werden. Und doch ist bei beiden Forschern 
der erbliche Einfluss der Vorfahren nicht zu verkennen. 
Haeckel selbst hat mehrfach hervorgehoben, 
dass er die persönlichen Eigenschaften, die ihm die 
grosse und schwierige Aufgabe, die morphologische 
Wissenschaft zu reformieren, durchzuführen erlaubten, 
zum grössten Teile durch Vererbung von seinen 
trefflichen Eltern erhalten habe. Seine Biographen, 
Ernst Krause und Wilhelm Bölsche haben über- 
einstimmend darauf hingewiesen, dass gewisse, dem 
echten Juristen vornehmlich eigentümliche Charakter- 
züge, wie der Drang nach Erkenntnis der Wahrheit, 
das impulsive Bedürfnis nach Klarheit und syste- 
matischer Ordnung, ein gewisser gesetzgebrischer 
Zug und die Neigung, das für wahr und recht er- 
kannte zu verkündigen und zu verteidigen, sich bei 
Haeckel in aussergewöhnlich hohem Grade entwickelt 
finden. Und noch deutlicher sind bei Darwin ver- 
erbte Geisteseigentümlichkeiten nachzuweisen, die 
sich zwar weniger auf die eigentlichen Berufscharakter- 
züge seiner Vorfahren beziehen, als auf solche Eigen- 
schaften, die sie neben diesen in ausgesprochnem 
Masse besassen. Schon früh war naturwissenschaftlicher 
Sinn in Darwins Familie entwickelt. Urgrossvater 
und Grossonkel hatten sich mit Naturgeschichte be- 
schäftigt, der Grossvater war durch seine natur- 
philosophischen Schriften in weiten Kreisen bekannt 
geworden. Dem Vater wird eine ungewöhnlich ent- 
wickelte Beobachtungsgabe nachgerühmt. Die ausr 



— i84 — 

gesprochne Liebe zur Beschäftigung mit der Natur, 
die schon in früher Jugend bei Darwin hervortritt^ 
lässt sich also leicht auf Vererbung zurückführen. 
Doch ist der direkte erziehliche Einfluss der Mutter 
nicht ganz zu verkennen, sie war es, die die Liebe 
für Blumen in seine junge Seele gepflanzt hat. 

Bei Haeckel tritt die Neigung für Naturobjekte 
mehr spontan und unvermittelt auf, denn bei seinen 
Vorfahren lassen sich analoge Eigenschaften nicht 
nachweisen. Doch lag diese Neigung tief im innersten 
Kern seiner Natur begrühdet, erzählt man doch, 
dass eine einfache Blume schon in den frühsten 
Jahren das lebhafte Kind zu fesseln und zu beruhigen 
vermochte. Und auch hier hat die Mutter den Natur- 
sinn des Knaben allmählich vertieft und veredelt, ja 
dieser mütterliche Einfluss war bei Haeckel viel 
stärker und nachhaltiger als bei Darwin, der seine 
Mutter schon in früher Jugend verlor, während Haeckel 
das Glück hatte, die seinige ein hohes Alter erreichen 
zu sehen. Noch an ihrem 84. Geburtstag konnte er 
seine kindliche Dankbarkeit durch die Widmung 
seiner Indischen Reisebriefe beweisen und in den 
schönen Worten zum Ausdruck bringen: „Du warst 
es, die von frühster Kindheit an den Sinn für die 
unendlichen Schönheiten der Natur in mir pflegte 
und ausbildete ; Du hast den heranwachsenden 
Knaben frühzeitig den Wert der Zeit und das Glück 
der Arbeit kennen gelehrt ; Du hast mit all der 
unaufhörlichen Sorge und Mühe, die nur in dem 
einen Wort Mutterliebe ihren Ausdruck findet, meine 



- i85 - 

vielfach wechselnden Schicksale beständig be- 
gleitet." 

Schon früh treten auch bei beiden Knaben ge- 
wisse kleine Züge der Interessen hervor, die an die 
grossen Probleme rühren, mit denen sie sich später 
beschäftigen sollten. Darwin selbst berichtet uns, 
dass er schon als Knabe eine gewisse Ahnung von 
der Variabiltät der Pflanzen hatte, indem er sich 
für die verschieden gefärbten Spielarten der Primeln 
und Polyantheen interessierte, und Haeckel denkt 
gern in spätem Jahren mit heitrer Genugtuung an 
die Zweifel zurück, die in dem Gemüt des zwölf- 
jährigen Knaben geweckt wurden, als er zum ersten Male 
mit leidenschaftlichem Eifer die guten und schlechten 
Spezies der Brombeeren und Weiden, der Rosen 
und Disteln vergeblich zu bestimmen und zu unter- 
scheiden sich bemühte. Sein skeptisches Knaben- 
gemüt wurde in die schmerzlichste Aufregung ver- 
setzt, da er beständig hin- und herschwankte, ob 
er die guten Arten allein in das Herbarium auf- 
nehmen und die schlechten ausweisen oder ob er 
beide berücksichtigen und eine vollständige Kette 
von Obergangsformen herstellen sollte. Schiesslich 
fand er einen Ausweg darin, dass er zwei Herbarien 
anlegte, ein offizielles, das nur die guten Arten ent- 
hielt und ein geheimes, in dem nur die verdächtigen 
Genera Aufnahme fanden. Jenes führte den teil- 
nehmenden Beschauem alle Arten in typischen 
Exemplaren als grundverschiedne Formen vor Augen, 
dieses, nur einem vertrauten Freunde zugänglich, 



— i86 — 

zeigte in Massen von Individuen den unmittelbaren 
Übergang von einer guten Art zur andern. 

Auch über die Bücher, die in den Knaben- und 
Jünglingsjahren ihren Sinn beschäftigten und nach- 
haltig auf sie einwirkten, haben uns beide Forscher 
berichtet. Darwin erzählt uns von einem Buch über 
die Wunder der Welt, das er in frühen Tagen seiner 
Schulzeit oft las und das zuerst den Wunsch in ihm 
anregte, in ferne Länder zu reisen. Whites „Natural 
History of Selbourne" veranlasste ihn, die Gewohn- 
heiten der Vögel zu beobachten und begeisterte ihn 
80, dass er sich in seiner Naivität darüber wunderte, 
„warum nicht alle Herren Ornithologen würden.* 
Später haben Herschels Einleitung in das Stadium 
der Naturwissenschaften und Humboldts Reise in die 
Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents eine 
tiefe Wirkung auf ihn ausgeübt. Namentlich hat 
das Humboldtsche Werk sowohl durch seine land- 
schaftlichen Schilderungen der Tropennatur als auch 
durch die zahlreichen eingestreuten wissenschaft- 
lichen Exkurse den Geist des Jünglings gar tief und 
nachhaltig beeinflusst. Hier sah er bei einem Meister 
ersten Ranges wie die Ergebnisse der Naturforschung 
gewonnen werden, hier lernte er die Methode sowie 
den Endzweck und das Endziel wahrer Naturforschung 
kennen. 

Auch Haeckel nennt unter den Schriften, die 
in seiner Jugend vor allen andern anregend und be- 
stimmend -auf seinen Lebensplan einwirkten, ein 
Werk Humboldts: die Ansichten der Natur. Und 



- i87 - 

in demselben Satz erwähnt er neben Schleidens 
„Pflanze und ihr Leben" Darwins „Reise um die 
Erde**. Hier berühren sich Darwin und Haeckel 
zum ersten Mal. Und kein andres Werk Darwins 
hätte seinem grossen Schüler die Persönlichkeit des 
Meisters wohl besser vermitteln können als grade 
das Reisewerk. Denn hier tritt uns der ganze Darwin 
nach allen Seiten seines reichen Wesens entgegen: 
der scharfe Beobachter und kühne Denker , der 
mutige Forscher und Reisende , der begeisterte 
Naturfreund, der gemütvolle und human denkende 
Mensch. 

Es waren aber keineswegs nur Reisebeschrei- 
bungen und naturgeschichtliche Werke , an denen 
die geistig regsamen und mannigfaltigen Interessen 
huldigenden Jünglinge sich bildeten. Stundenlang 
konnte Darwin in einer Fensternische der dicken 
Schulmauern über Shakespeares historischen Stücken 
sitzen, und mit tiefer Bewegung las er Thomsons 
Jahreszeiten und die Gedichte Byrons und Scotts. 
Während der Weltreise wurde Miltons Verlornes 
Paradies sein Hauptliebling, und wenn er auf seinen 
Exkursionen nur einen einzigen Band mitnehmen 
konnte, wählte er immer Milton. Später freilich ver- 
lor er zu seinem grossen Bedauern fast alle Freude 
an Poesie und fand selbst Shakespeare so uner- 
träglich langweilig, dass es ihn zum Übelsein brachte. 
Auch sein Geschmack für Gemälde und Musik, der 
in seiner Jugend entwickelt war, bildete sich in 
spätem Jahren zurück. „Wenn ich mein Leben 



— i88 — 

noch einmal zu leben hätte/ klagt er, „so würde 
ich es mir zur Regel machen , wenigstens alle 
Wochen einmal etwas Poetisches zu lesen und etwas 
Musik anzuhören, vielleicht würden dann die jetzt 
atrophierten Teile meines Gehirns durch Gebrauch 
tätig erhalten worden sein. Der Verlust der Em- 
pfänglichkeit für derartige Sachen ist ein Verlust 
an Glück und dürfte möglicherweise nachteilig für 
den Intellekt, noch wahrscheinlicher für den Charakter 
sein, da er den gemütlich erregbaren Teil unsrer 
Natur schwächt/ 

Darwin hat wohl in seiner grossen persönlichen 
Bescheidenheit seinen Mangel an ästhetischem Sinn 
etwas zu stark hervorgehoben, seine Werke zeugen 
dafür, dass er eine durchaus ästhetisch veranlagte 
Natur war. Ja, wir dürfen diesen ästhetischen Zug 
seines Wesens wohl als eine Charaktereigentümlich- 
keit bezeichnen, die ihm mit der ausgesprochnen 
Künstlernatur Haeckels gemeinsam ist. Trotzdem 
kann auf der andern Seite nicht geleugnet werden, 
dass bei Haeckel der Einfiuss ästhetischer, speziell 
poetischer Momente ein viel tiefrer und nachhal- 
tigrer war als bei Darwin. Goethes Werke , die 
Haeckel schon früh zugänglich wurden, haben sein 
innerstes Wesen gestaltet und den tiefsten Kern 
seiner Persönlichkeit berührt, ja die Grundlinien 
seiner ganzen Weltanschauung gezogen. Demgegen- 
über ist der Einfluss Shakespeares auf Darwin be- 
langlos. 

Mit ganz verschiednen Empfindungen blickten 



— i89 — 

später Darwin und Haeckel auf ihre Schulzeit zu- 
rück. Haeckel hatte bei einigen trefflichen Lehrern 
des Merseburger Gymnasiums warme Unterstützung 
und Förderung seiner botanischen Liebhabereien 
gefunden, Darwin war von dem Direktor der Shrews- 
bury School ein Tagedieb genannt worden, weil er 
seine Zeit mit so nutzlosen Dingen wie chemischen 
Experimenten verschwendete. Der englische Forscher 
meint, dass nichts für die Erziehung seines Geistes 
schlimmer hätte sein können als Dr. Butlers Schule, 
da sie ausschliesslich klassisch war und neben den 
alten Sprachen nichts gelehrt wurde als ein wenig 
alle Geographie und Geschichte. Es erschien ihm 
einfach unbegreiflich, wie die Schule ein Mittel der 
Erziehung sein könne. Haeckel dagegen denkt noch 
mit sechzig Jahren dankbar an seine Schulzeit und 
seine ausgezeichneten Lehrer zurück. 

Ähnliche Gegensätze machten sich im Univer- 
sitätsleben beider Forscher geltend. Zunächst frei- 
lich teilten sie das gleiche Schicksal, auf den Wunsch 
ihrer Väter ein Brotstudium ergreifen zu müssen, zu 
dem innerstes Bedürfnis sie nicht zog. Haeckel 
wäre am liebsten Botaniker geworden, aber seinem 
Vater erschien die Botanik als brotlose Wissenschaft. 
So studierte er denn Medizin, aber in der stillen 
Hoffnung, später einmal als Schiffsarzt weite Reisen 
zu botanischen Forschungen unternehmen zu können. 
Er hat dann auch ein Jahr in Berlin als Arzt prak- 
tiziert, wobei er seine Sprechstunde auf die Zeit von 
fünf bis sechs Uhr früh verlegte. Drei Patienten 



haben sich während dieses Jahres seiner ärztlichen 
Kunst anvertraut, von denen, wie er in launiger 
Rede berichtet, keiner gestorben ist. Aber zum 
Lebensberuf konnte er die Medizin nicht erwählen ; 
doch sollte sie die Brücke werden, die ihn von der 
Botanik zur Zoologie hinüberführte. 

Darwin ging es mit dem Studium der Medizin noch 
schlimmer. Er konnte den Operationen und anato- 
mischen Präparier Übungen nicht beiwohnen, weil sie 
ihm Ekel und Ohnmächten verursachten, und so sattelte 
er um zur Theologie. Hatte Haeckel gehofft durch 
das Studium der Medizin weite Reisen machen zu 
können, so gefiel Darwin der Gedanke, Landgeistlicher 
zu werden, weil er als solcher Gelegenheit zur Natur- 
beobachtung haben würde. Aber der geistliche 
Beruf wurde später zugunsten der Naturforschung 
ganz aufgegeben, und so haben weder Darwin noch 
Haeckel das Grosse, was sie geleistet, auf den Ge- 
bieten erreicht, die ihr offizielles Universitätsstudium 
bildeten. 

Darwin hat stets seine Universitätszeit, was die 
akademischen Studien anlangt, für vollständig ver- 
loren angesehen. Von seinen Lehrern übte, eine 
einzige Ausnahme abgerechnet, keiner einen tiefern 
Einfluss auf ihn aus. Im Gegenteil fand er ihre 
Vorlesungen meist unerträglich langweilig. Dr. Dun- 
cans Vorlesungen über materia medica in Edinburg 
im Winter des Morgens um acht Uhr hatten für 
seine Erinnerung etwas Fürchterliches. Die Vor- 
lesungen eines andern Dozenten über menschliche 



— 191 — 

Anatomie erschienen ihm so langweilig wie die 
Person des Lehrers selbst. Die einzige Wirkung, 
die die Vorlesungen über Geologie und Zoologie 
auf ihn ausübten, war der Entschluss, niemals 
im Leben ein Buch über Geologie zu lesen oder in 
irgend welcher Weise diese Wissenschaft zu treiben. 
Nur die botanischen Vorlesungen Henslows in Cam- 
bridge zogen ihn an. Er rühmt ihre Klarheit und 
ihre wundervollen Illustrationen. Verständnisvoll kam 
auch Henslow der strebenden Seele des Jünglings 
entgegen. Er förderte ihn in jeder Weise und sollte 
schliesslich den Jugendtraum Darwins, die Reise in 
die Tropenländer verwirklichen helfen. 

Zeitlebens war sich Darwin der grossen Förderung 
lebhaft bewusst, die er Henslow zu danken hatte. 
In einem Brief an den Verfasser einer Gedächtnis- 
schrift über ihn gibt er eine warm empfundne 
Charakteristik seines Lehrers, in der er die Auf- 
richtigkeit seines Charakters und die Liebenswürdig- 
keit seines Herzens nicht weniger preist als die Viel- 
seitigkeit seines Wissens und die Klarheit seines 
Verstandes. „Alle, die sich um einen Zweig der 
Naturwissenschaft kümmerten^, schreibt er, ^wurden 
von ihm in gleicher Weise aufgemuntert. Nichts 
konnte einfacher, herzlicher und bescheidner sein 
als die Ermutigung, die er allen jungen Naturforschern 
gewährte. Er besass ein merkwürdiges Vermögen, 
das jugendliche Gemüt vollständig mit sich vertraut 
zu machen, obwohl wir alle von der Fülle seines 
Wissens in Ehrfurcht gebannt waren.* Aber noch 



— 192 — 

höher als die intellektuellen schätzte Darwin die 
moralischen Eigenschaften seines Lehrers , und er 
schliesst jene Erinnerungen mit den Worten: „Indem 
ich mit Dankbarkeit und Ehrfurcht über seinen 
Charakter nachdenke , gewinnen seine moralischen 
Eigenschaften, wie es in den höchsten Charakteren 
der Fall sein sollte, über sein geistiges Vermögen 
den Vorrang.** 

Dieser Einfluss Henslows auf Darwin lässt sich 
mit dem Johannes Müllers auf Haeckel vergleichen. 
Der grosse Berliner Physiolog war freilich dem edlen 
Cambridger Botaniker an geistiger Bedeutung und 
genialer Grösse himmelweit überlegen, aber in dem 
heiligen Ernst , mit dem beide ihrer Wissenschaft 
-ergeben waren, in der Begeisterung für ihr Lehramt 
und der tiefeii Wirkung auf ihre Schüler, waren sie 
verwandte Geister. Wie Darwin über Henslow, so 
sprach später Haeckel über Müller. Noch mit sech- 
zig Jahren, also vierzig Jahre nach der Zeit, da er 
zu des grossen Denkers Füssen gesessen, nannte er 
ihn einen Mann, dessen ausserordentliche Grösse 
und Hoheit ihm stets lebhaft vor Augen stehe. 
„Wenn ich jetzt bisweilen bei der Arbeit ermüde," 
sagte er, „brauche ich nur das Bild von Johannes 
Müller, welches in meinem Arbeitszimmer vor mir 
hängt, anzusehen, um neue Kraft zu gewinnen. Ich 
werde nie die Anregung vergessen, die ich ihm ver- 
danke. Er lehrte vergleichende Anatomie und Phy- 
siologie. Ich wurde in kurzer Zeit mit ihm näher 
bekannt, hatte aber vor seiner gewaltigen Persönlich- 



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*» 



ff' 



V^ V. • 






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Ernst Haeckel 



— 193 — 

keit eine solche Verehrung, dass ich es nicht wagte, 
ihm näher zu treten. Er gab mir Erlaubnis im 
Museum zu arbeiten. Es sind mir unvergessliche 
Stunden, an denen ich dort sass und Schädel zeich- 
nete, während er auf und ab ging, besonders Sonntag 
nachmittags. Mehreremal ist es mir passiert, dass 
ich ihn um Rat fragen wollte. Mit Herzklopfen stieg 
ich die Treppe hinan, fasste an die Klingel, wagte 
aber nicht zu läuten , sondern kehrte wieder um.^ 
Von grösster Bedeutung war es für Haeckel, dass 
Johannes Müller ihn im August 1854 auf eine Studien- 
reise nach Helgoland mitnahm. Da lernte er durch 
seinen grossen Meister den Reiz der marinen Tier- 
welt und die von Müller erfundne Methode der 
pelagischen Fischerei kennen, Anregungen, aus denen 
später seine vieljährigen klassischen Planktonstudien 
hervorgingen. 

Müller war aber keineswegs der einzige grosse 
Lehrer, dem Haeckel seine Ausbildung zum Natur- 
forscher zu verdanken hat. Im Gegensatz zu Darwin 
konnte er sich rühmen, dass seine wissenschaftliche 
Entwicklung während fünfjähriger akademischer 
Studien von Männern geleitet wurde, die zu den 
ersten Naturforschern zählten. Gleich im Beginn 
«einer Studien in Berlin kam er in innige Berührung 
mit dem Botaniker Alexander Braun, dessen liebster 
Schüler er wurde und dem er als idealem Menschen 
und Naturforscher ein dankbares Andenken bewahrte. 
In Würzburg waren es dann der vorzügliche Anatom 
Albert Kölliker und der feinsinnige Histolog Franz 

13 



— 194 — 

Leydig, die ihn in die Histologie, vergleichende 
Anatomie und Entwicklungsgeschichte einführten, 
Gebiete, für die damals Würzburg eine klassische 
Stätte war und auf denen später Haeckel seine 
glänzendsten Lorbeeren ernten sollte. Während 
seines zweiten Würzburger Aufenthalts, der von dem 
ersten durch die Berliner Periode unter dem Zeichen 
Johannes Müllers getrennt war, stand er ganz im 
Banne Rudolf Virchows, dessen Assistent er eine 
Zeitlang war. Mit warmer Dankbarkeit hat Haeckel 
jederzeit betont, wieviel er dem Unterricht Virchows 
schuldig geworden ist. ,,Wenn ich selbst zum ele- 
mentaren Ausbau der Entwicklungslehre einiges bei- 
tragen konnte,** schrieb er 1875, „so danke ich es 
zum grossen Teile den cellular-biologischen Anschau- 
ungen, mit denen mich der Unterricht Virchows vor 
zwanzig Jahren in Würzburg durchdrungen hat.** 
Auch die später zwischen beiden Forschern ent- 
standnen wissenschaftlichen Differenzen haben diese 
Dankbarkeit nicht zu vermindern vermocht. Sogar 
aus der 1878 gegen Virchow gerichteten Streit- 
schrift Haeckels klingt es heraus, was der Unterricht 
seines Gegners ihm dereinst bedeutet hatte. Keinem 
seiner Lehrer, äussert er dort, sei er für die Befreiung 
von allen Vorurteilen des Dualismus so sehr ver- 
bunden wie Virchow. Sein vorzüglicher Unterricht 
habe ihn damals gleich vielen andern auf das Festeste 
von der alleinigen Berechtigung der mechanischen 
Naturbetrachtung überzeugt, ihn zu der klaren Er- 
kenntnis geleitet, dass die Natur des Menschen wie 



— IQS — 

jedes andern Organismus nur als ein einheitliches 
Ganzes richtig zu verstehen sei, dass sein geistiges 
und körperliches Wesen untrennbar sind und die 
Erscheinungen des Seelenlebens gleich allen andern 
Lebenserscheinungen nur auf materieller Bewegung, 
auf mechanischen Veränderungen der Zellen beruhen. 
Und noch 1894, bei Gelegenheit seines 60. Geburts- 
tags, äusserte Haeckel : „Ich lernte in den drei Semestern 
bei Virchow die Kunst der feinsten analytischen Beob- 
achtung und der schärfsten Kritik des Beobachteten. 
Meine Sektionsprotokolle fanden sein besondres Lob. 
Was mich aber» damals in Würzburg an Virchow be- 
sonders begeisterte, das waren seine weiten Ausblicke, 
seine philosophisch-naturwissenschaftlichen Ideen. *^ 

Als Haeckel im Jahre 1858 sein medizinisches 
Staatsexamen bestanden hatte, da konnte er mit 
Befriedigung auf die wohl angewandte Studienzeit 
zurückblicken. Eine durch und durch systematische, 
abgerundete naturwissenschaftliche Ausbildung war 
ihm zuteil geworden , die besten Lehrer seiner Zeit 
hatten ihn theoretisch und praktisch zum Natur- 
forscherberuf vorbereitet. Soweit das Universitäts- 
studium überhaupt einen Menschen bilden kann, so- 
weit hatte es Haeckel gebildet. 

Darwin war nicht so glücklich gewesen. Mit 
Mühe und Not hatte er das theologische Bacca- 
laureatsexamen bestanden, und in der Wissenschaft, 
an der seine Seele hing, der Naturwissenschaft, nur 
planlos herumprobiert, nur hier und da sich etwas zu- 
geeignet. Von einer systematischen Ausbildung war 

13* 



— igö — 

keine Rede. Erst die Weltreise sollte ihn zum 
Naturforscher bilden, erst sie gab ihm nach seinem 
eignen Ausspruch die erste wirkliche Zucht und Er- 
ziehung seines Geistes. Sie gewöhnte ihn an ener- 
gischen Fleiss und konzentrierte Aufmerksamkeit, 
sie nötigte ihn zur Aneignung methodischer Ge- 
wohnheiten und zur peinlichsten Ordnung, sie lehrte 
ihn auf die Minuten zu achten und die Zeit aufs 
äusserste auszunutzen. Als Autodidakt trat er in 
die Reihen der Naturforscher ein, nicht systematisches 
Universitätsstudium, nicht Vorlesung und Lehrbuch 
hatten seine naturwissenschaftliche Ausbildung ver- 
mittelt, die Natur selbst hatte sie übernommen. 
Scharf scheidet sich in dieser Hinsicht sein Ent- 
wicklungsgang von dem Haeckels. 

Auch Haeckel unternahm nach Beendigung 
seiner Studien und der einjährigen ärztlichen Probe- 
zeit eine Reise , zwar keine Weltreise, aber doch 
eine Reise, die seiner für Natur und Kunst gleich 
begeisterten Seele unendlich viel bieten musste, eine 
Reise nach Italien. In vollen Zügen genoss er mit 
dem neugefundnen Freunde, dem Marschendichter 
Hermann Allmers, die Natur- und Kunstschätze des 
unvergleichlichen Landes und sammelte zugleich das 
Material für seine erste grössre Arbeit. Später sind 
dann noch viele Reisen gefolgt. War an Darwin 
das Weltpanorama mit einem Mal in ununterbrochner 
Folge vorübergezogen, so enthüllte es sich Haeckel 
nach und nach. Die Wanderlust, die ihn schon als Knabe 
beseelt, als er weite Exkursionen machte, um seltnen 



— 197 — 

Pflanzen nachzuspüren, ist ihm zeitlebens eigen ge- 
blieben, und nichts wurde charakteristischer für sein 
Schaffen als der regelmässige Wechsel zwischen der 
stillen Forscher- und Schriftstellertätigkeit im Arbeits- 
raum seines zoologischen Instituts und den er- 
frischenden Wandrungen über Berg und Tal in Gottes 
freier Natur. 

Schon sein liebes Jena bot ihm in dieser Hin- 
sicht des Guten die Fülle. „Vieles, von dem ich Förde- 
rung unsrer Wissenschaft hoffe'', schreibt er 1866 an 
Gegenbaur, „ist die gemeinsame Frucht des Ideen- 
austausches, der uns ebenso daheim in unsrer stillen 
Werkstätte erfreute, wie er uns draussen auf unsern 
erfrischenden Wandrungen durch die felsigen Schluch- 
ten und über die waldigen Höhen des reizenden 
Saaletales begleitete. Manches dürfte selbst das 
Produkt des erhabnen gemeinsamen Naturgenusses 
sein, welchen uns die malerischen Formen der 
Jenenser Muschelkalkberge bereiteten, wenn sie im 

letzten Abendsonnenstrahl uns durch die Farben- 

# 

harmonie ihrer purpurgoldigen Felsenflanken und vio- 
lettblauen Schlagschatten die entschwundnen Zauber- 
bilder der kalabrischen Gebirgskette vor Augen führten. **' 
Aber soviel Jena auch bot an Naturschön- 
heit und Naturgenuss, wenn die Ferien kamen, 
wenn die strenge Arbeitszeit vorüber war, zog es 
Haeckel hinaus in die weite Welt. Skandinavien, 
Grossbritannien und Holland, Russland und Monte- 
negro, Dalmatien, Sardinien und Korsika, Klein- 
asien , Ägypten und Algier , Ceylon , Java und 



Sumatra hat er geschaat mit dem Auge des Forschers 
und Künstlers, mit dem blauen deutschen Märchen- 
auge, wie Bölsche es nennt. Und was er da ge- 
schaut und gefühlt und erlebt und erforscht, das 
hat er uns wiedergegeben in herrlichen taufrischen 
Reisebüchern, vor allem in den Indischen Reise- 
briefen, die ein Bild der Tropenvegetation entwerfen, 
wie es seit Humboldt nicht wieder gegeben worden 
ist. Auch hier ist er eine Darwin, dem grossen 
Reiseschildrer, kongeniale Natur. Aber auch glück- 
licher als Darwin. Dem englischen Forscher war es 
nicht beschieden, der Weltreise, die er mit 22 Jahren 
angetreten und mit 27 Jahren vollendet hatte, 
weitere Wandrungen folgen zu lassen. Sie war die 
erste und letzte grössre Reise seines Lebens. Von 
da an musste er den Wanderstab, den auch er in 
seiner Jugend so lebensfroh und rüstig geführt, 
ruhen lassen; die Weltreise hatte seine starke Ge- 
sundheit gebrochen, und zu einem stillen Duider- 
leben sah er sich in den folgenden vierzig Jahren 
verurteilt. 

Aber dieses stille Leben gab ihm auch die 
Möglichkeit, den Gedanken, den die Reise in ihm 
geboren, zu jenem hohen ( irad der Reife auszubilden, 
der allein seinen Erfolg ermöglichen konnte. In 
den Pampas Südamerikas, vor den Gebeinen aus- 
gestorbner Riesensäuger war der Gedanke der Ent- 
wicklung in Darwins Geist geboren worden, im stillen 
Landhaus von Down reiften die Keime zu einer 
genialen Theorie. 



— 199 — 

Wilhelm Bölsche, der ausgezeichnete Darwin- 
und Haeckelbiograph, hat darauf hingewiesen, dass 
das Geburtsdatum Haeckels zeitlich rund zusammen- 
fällt mit jener Stunde, in der Darwin auf den süd- 
amerikanischen Ebnen die Idee der Entwick- 
lung erfasste. Im Reisetagebuch Darwins findet 
sich zwischen den Aufzeichnungen vom 9. Januar 
und 13. April 1834 j^^^^ berühmte Prophezeiung, 
dass die wunderbare Verwandtschaft zwischen den 
toten und lebenden Tieren eines und desselben 
Kontinents später mehr Licht auf das Erscheinen 
organischer Wesen auf unsrer Erde werfen wird 
als irgend eine andre Klasse von Tatsachen. Und 
am 16. Februar desselben Jahres ist Haeckel ge- 
boren worden. Einer der ersten Briefe, den der 
Meister später an den Schüler schrieb, gedenkt jener 
Geburtsstunde seiner Ideen. ,ylch werde niemals 
mein Erstaunen vergessen/ schrieb er, „als ich ein 
riesengrosses Panzerstück ausgrub, ähnlich dem eines 
lebenden Gürteltieres. Als ich über diese Tatsachen 
nachdachte und einige ähnliche Erscheinungen da- 
mit verglich, schien es mir wahrscheinlich« dass nah 
verwandte Spezies von einer gemeinsamen Stamm- 
form abstammen könnten.^ 

Fünfundzwanzig Jahre lang hatte Darwin diese 
Gedanken in seinem Kopf herumgewälzt , ehe er 
sie in seiner Entstehung der Arten der Öffentlichkeit 
unterbreitete. Haeckel weilte grade in Italien als 
das epochemachende Buch, das entscheidend werden 
sollte für sein ganzes künftiges Leben, erschien. Er las 



— 200 — 

es als er im Mai 1860 nach Berlin zurückgekehrt 
war, und gleich beim ersten Lesen packte es ihn ge» 
waltig. ,,Da aber alle Berliner Grössen'', schrieb er 
später an Bölsche, ,,mit einziger Ausnahme von 
Alexander Braun, in der Verwerfung einig waren, 
blieb meine Verteidigung desselben wirkungslos. 
Erst als ich bald darauf Gegenbaur in Jena besuchte, 
atmete ich auf, und die eingehnden Gespräche mit 
ihm bestärkten mich definitiv in meiner Überzeugung 
von der Wahrheit des Darwinismus resp. Transfor- 
mismus. ^ 

Was Haeckel an dem Buch so gewaltig packte, 
das war^ dass es eine lang empfundne Lücke seiner 
Weltanschauung ausfüllte, dass es ein Problem löste, 
mit dem er schon jahrelang gerungen hatte. Seit 
jener Zeit, da er als Knabe über die guten und 
schlechten Pflanzenspezies nachgegrübelt, hatte ihm 
Goethe eine neue Welt und einen neuen Gott ge- 
ofifenbart und Virchow ihn mit den Grundprinzipien 
der Weltauffassung vertraut gemacht, die Haeckel 
später als Monismus bezeichnete. Die Einheit von 
Gott und Welt, Geist und Materie, Kraft und Stoff, 
Organisch und Anorganisch, Pflanze und Tier, Tier 
und Mensch bildete schon vor Darwin die Grundlage 
seiner Weltauffassung. Von dem Glaubeh an einen 
von aussen stossenden persönlichen Gott hatte ihn 
Goethe befreit, die letzten Reste der vitalistischen 
und teleologischen Denkweise hatte Virchow in ihm 
ausgemerzt. Mit einer in den Grundzügen fertigen 
Weltanschauung verliess Haeckel die Universität, die 



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Naturgesetzlichkeit alles Geschehens, die Forderung 
mechanischer Erklärung aller Naturerscheinungen 
galt ihm als unerschütterliches Axiom. Dass alle 
Naturerscheinungen ohne Ausnahme, von der Be- 
wegung der Himmelskörper und dem Falle des 
rollenden Steins bis zum Wachsen der Pflanze und 
zum Bewusstsein des Menschen nach einem und dem- 
selben grossen Kausalgesetze erfolgen, dass alle 
schliesslich auf Mechanik der Atome zurückzuführen 
sind, diesen Grundgedanken des Monismus hielt er 
schon damals fest. £r sah nur noch nicht klar, wie 
die Entstehung der organischen Wesen nach diesen 
Prinzipien zu erklären sei. Darwins Werk zeigte es 
ihm. Die Selektionstheorie löste in Haeckels Augen 
das Rätsel, wie die organische Zweckmässigkeit auf 
mechanischem Wege entstanden ist. Die letzte 
Lücke im Bau der monistischen Weltanschauung 
schien damit ausgefüllt, der letzte Stein eingefügt, 
das Gebäude gekrönt. 

Von diesem Gesichtspunkt aus hat Haeckel 
zeitlebens den Darwinismus betrachtet. Nicht nur 
ein wissenschaftliches Erklärungsprinzip war er ihm, 
obgleich er auch diese Seite stets betont hat, sondern 
vor allem ein Element der Weltanschauung und zwar 
einer Weltanschauung , die der herrschenden, reli- 
giösen , kirchlichen , christlichen Weltanschauung 
diametral gegenübersteht. Dieser neuen, seiner An- 
sicht nach höhern, bessern Weltanschauung zum 
Siege zu verhelfen, sie als ein neues Evangelium an 
die Stelle des alten zu setzen, sie wenn möglich zum 



— 202 — 

Gemeingut der denkenden Menschheit zu machen, 
dafür hat Haeckel alle Kräfte seiner starken und 
kühnen Persönlichkeit eingesetzt, dafür hat er in 
Wort und Schrift gekämpft mit dem ganzen Enthu- 
siasmus seiner grossen und reichen Seele. All seine 
grössern und kleinern allgemeiner gehaltnen Werke 
von der generellen Morphologie an bis zu den Welt- 
rätseln sind dieser Propaganda für den Monismus 
als einer neuen Weltanschauung, einer neuen Religion, 
einem neuen Evangelium gewidmet. Dieser Gesichts- 
punkt beleuchtet all seine Stärken und Schwächen: 
seine glühende, begeisterte Sprache, seine kühnen 
Spekulationen, seinen Dogmatismus und Fanatismus, 
seine Siegesgewissheit und Glaubensseligkeit, seine 
Subjektivität, seine scharfe, heftige, intolerante Pole- 
mik. Eine Apostelnatur spricht zu uns aus seinen 
Werken, eine Natur, die wir einerseits in ihrer Ge- 
schlossenheit und Eigenart bewundern, die aber 
andrerseits den Widerspruch gar vielfach heraus- 
fordert. 

Tief ist hier die Kluft zwischen Haeckel und 
Darwin. Als dieser seine Weltreise antrat, kam er 
eben vom Studium der Theologie. Er war durch- 
aus orthodox, er glaubte an den persönlichen Gott 
und an das Christentum als eine göttliche Offen- 
barung. Die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens 
stand ihm damals noch keineswegs fest. Von dieser 
Seite, die für Haeckel die massgebende war, trat er 
nicht an die Lösung des Problems der Entstehung 
der Tier- und Pflanzenformen heran. Es war viel- 



— 203 — 

mehr d^s Studium der Geologie Lyells, das ihn da- 
von überzeugte, dass die Tatsachen der geologischen 
Wissenschaft einfacher und leichter zu erklären 
seien, wenn man an Stelle eines durch gewaltsame 
Katastrophen unterbrochnen einen kontinuierlichen 
Entwicklungsgang des Erdkörpers setze , der nicht 
fortwährend durch den Eingriff des Schöpfers ge- 
stört worden sei. Und als ihm dann in Südamerika 
gewisse Erscheinungen entgegentraten, die in Über- 
einstimmung mit diesen Lyellschen Prinzipien sich 
leichter durch eine Entwicklung der organischen 
Wesen als durch eine gesonderte Schöpfung jeder 
einzelnen Tier- und Pflanzenspezies erklären liessen, 
da zögerte er nicht, auch hier die unmittelbare Tätig- 
keit eines Schöpfers auszuschliessen. Aber in dieser 
Erkenntnis sah er nicht die Ausfüllung einer Lücke 
seiner Weltanschauung, sondern im Gegenteil eine 
Korrektion dieser Weltanschauung, ein Zurückdrängen 
der Wirksamkeit des persönUchen Gottes, an dessen 
Existenz er nach wie vor festhielt. Wie schwer ihm 
die Annahme der neuen Auffassung wurde, das zeigt 
die Tatsache, dass er noch 1844, ^^^^ ^^^^ Jahre 
nach der ersten Konzeption des Gedankens, bei 
Mitteilung seiner ketzerischen Ansichten an Hooker 
schrieb, es sei ihm zumute, als müsse er einen 
Mord eingestehen. Für Haeckel war die Begründung 
der Entwicklungsidee ein neuer Triumph seiner be- 
reits in den Grundzügen feststehnden Weltanschauung, 
für Darwin war ihr Erfassen ein schwerer Kampf mit 
den überlieferten Lehren, an die er glaubte. 



— 204 — 

Erst nachdem Darwin den Gedanken der £nt- 
wicklang erfasst hatte und teilweise wohl unter seinem 
Einfluss gab er die orthodoxen Ansichten auf. Zu- 
erst kam er dahin, einzusehen, dass dem alten Testa- 
ment nicht mehr Glauben zu schenken sei, als den 
heiligen Schriften der Hindus. Bei weiterm Nach- 
denken verlor er allmählich den Glauben an das 
Christentum als eine göttliche Offenbarung. Den 
persönlichen Gott aber gab er damit nicht auf. 
Der alte Beweisgrund vom Zweck in der Natur 
freilich, wie ihn Paley aufgestellt hatte und der ihm 
früher so entscheidend vorkam , schlug jetzt fehl, 
nachdem das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl ent- 
deckt worden war. Auch der Beweisgrund, der aus 
der tiefen innerlichen Überzeugung und den Gefühlen 
hergenommen ist, die von den meisten Menschen 
an sich erfahren werden, erschien ihm nicht mehr 
stichhaltig. Aber er hielt es nach wie vor für äusserst 
schwierig oder unmöglich einzusehen, dass das un- 
geheure und wunderbare Weltall, das den Menschen 
umfasst mit seiner Fähigkeit, weit zurück in die 
Vergangenheit und weit in die Zukunft zu blicken, 
das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit 
sei. Beim Nachdenken darüber fühlte er sich ge- 
zwungen, sich nach einer ersten Ursache umzusehen 
im Besitze eines intelligenten, dem des Menschen 
in einem gewissen Grade analogen Geistes. Dabei 
schien ihm die Grösse des Schöpfers zu wachsen, 
wenn er die Welt von vornherein so eingerichtet 
hatte, dass sie durch eigne Kraft sich weiter ent- 



wickelte. „Es ist wahrlich eine grossartige An- 
sicht,^ schreibt er am Schlass der Entstehung der 
Arten, ,,dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, 
das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen 
Form eingehaucht hat und dass, während unser 
Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend 
sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem An- 
fange sich eine endlose Reihe der schönsten und 
wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer 
entwickelt." 

Seit Darwin dies schrieb wurde ihm die Beweis- 
kraft seines letzten Arguments für das Dasein 
Gottes sehr allmählich und mit vielen Schwankungen 
schwächer. Er zweifelte schliesslich überhaupt daran, 
ob man sich auf den Geist des Menschen, der sich 
aus einem so primitiven Geist wie dem der niedersten 
Tiere entwickelt habe, verlassen könne, wenn er solch 
grossartige Folgerungen ziehe. „Ich darf mir nicht 
anmassen,** schliesst er seine Bekenntnisse, „auch 
nur das geringste Licht auf solche abstruse Probleme 
zu werfen. Das Geheimnis des Anfangs aller Dinge 
ist für uns unlösbar, und ich für meinen Teil muss 
mich bescheiden, ein Agnostiker zu bleiben." 

In diesen Sätzen ist Darwins Stellung zum 
Weltproblem klar ausgedrückt. Zu einer umfassenden, 
vollständig abgerundeten Weltanschauung zu ge- 
langen schien ihm nicht möglich. Er resignierte 
vor den letzten Fragen, vor der Entstehung der 
ersten ^Organismen, vor der Entstehung der geistigen 
Grundkräfte, vor Gott. Er hat deshalb in seinen 



— 2o6 — 

Schriften auch nie religiöse und allgemein philoso- 
phische Fragen erörtert, er hat nie den Versuch 
gemacht, philosophisch -religiöse Konsequenzen aus 
der Entwicklungslehre zu ziehen oder diese als die 
Konsequenz einer bestimmten WeltaufTassung hin- 
zustellen. Er hat sie lediglich als ein wissenschaft- 
liches Erklärungsprinzip, als ein methodologisches 
Hülfsmittel der Forschung hingestellt. Es soll damit 
nicht geleugnet werden, dass Darwin im tiefsten 
Innern die Entwicklungslehre nicht auch als ein 
Mittel zur Erweitrung unsrer religiösen Weltanschau- 
ung betrachtet hat, wie ja schon das ihr inhärente 
mechanisch-kausale Prinzip und ihre Anwendung auf 
den Menschen eine solche Auffassung nahelegen, 
aber er selbst vermied es, diese Seite weiter zu 
verfolgen. Zudem hielt er die Religion des Menschen 
für eine wesentlich private Angelegenheit und scheute 
sich, die religiöse Empfindlichkeit andrer zu verletzen. 
Auch glaubte er nicht tief genug über religiöse 
Probleme nachgedacht zu haben, um sich öffentlich 
darüber auszusprechen. 

Indem so Darwin im Gegensatz zu Haeckel den 
allgemeinsten Fragen der Weltanschauung fast ge- 
flissentlich aus dem Weg ging, indem er es ver- 
mied, seinen Gedanken eine systematische Abrundung 
zu geben, indem er sich davor scheute, agressiv 
gegen allgemein verbreitete religiöse Auffassungen 
aufzutreten, gelangte er überhaupt zu einer Schreib- 
und Mitteilungsart, die der Haeckels fast diametral 
gegenübersteht. Äusserste Vorsicht der Ausdrucks- 



— 207 — 

weise , weitgehnde Skepsis , fast übertriebne Her- 
vorhebung der Schwierigkeiten, die seiner Auffassung 
gegenüberstehen, Vermeidung scharfer und dogma- 
tischer Formulierung seiner Ergebnisse, äusserste 
Milde und Rücksicht gegenüber den Gegnern seiner 
Lehre, das sind die Züge, die seine Darstellungs- 
weise gegenüber der Haeckelschen charakterisieren. 
Doch haben diese formalen Gegensätze das Zu- 
sammenwirken beider Forscher nie gestört. Darwin 
hat zwar manchmal warnend seine Stimme erhoben, 
wenn sein feuriger Schüler allzu tolle Sprünge machte, 
aber im Wesen der Sache hat er sich immer soli- 
darisch mit Haeckel erklärt. In wie herzlicher 
Weise er ihm zuweilen Mässigung empfahl, das be- 
weist vor allem folgende Briefstelle, die so charakte- 
ristisch für das Verhältnis beider Männer ist und 
die eben angedeutete Verschiedenheit ihrer Naturen 
so scharf beleuchtet, dass sie in ihrem ganzen Wort- 
laut hier folgen mag: 

„Ich hoffe," schreibt Darwin im Anschluss an 
anerkennende Bemerkungen über Haeckels generelle 
Morphologie, „dass Sie mich nicht für unverschämt 
halten werden, wenn ich eine kritische Bemerkung 
mache: einige ihrer Bemerkungen über verschiedne 
Autoren erscheinen mir zu streng, obwohl ich kein 
gutes Urteil über diesen Gegenstand habe, da ich 
ein so kümmerlicher Schulknabe im Deutschlesen 
bin. Ich habe indessen von verschiednen aus- 
gezeichneten Autoritäten und Bewundrern Ihres 
Werkes Klagen über die Härte Ihrer Kritiken ver- 



— 208 — 

nommen. Dies scheint mir recht unglücklich, denn 
ich habe seit lange beobachtet, dass grosse Strenge 
die Leser verfuhrt , die Partei der angegriffnen 
Person zu ergreifen. Ich kann mich bestimmter 
Fälle erinnern, in denen Herbigkeit direkt das 
Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte. 
Mit Sicherheit empfinde ich, dass unser guter Freund 
Huxley, obgleich er viel Einfluss besitzt, noch weit 
grössern haben würde, wenn er gemässigter gewesen 
und weniger häufig zu Angriffen übergegangen wäre. 
Da Sie sicherlich eine grosse Rolle in der Wissen- 
schaft spielen werden, so erlauben Sie mir, als 
älterm Mann , Sie ernstlich zu bitten , über das 
nachzudenken, was ich zu sagen gewagt habe. Ich 
weiss, dass es leicht ist zu predigen und scheue 
mich nicht, zu sagen, dass, wenn ich das Vermögen 
besässe, mit treffender Schärfe zu schreiben, ich 
meinen Triumph darin setzen würde, den armen 
Teufeln das Innere nach aussen zu kehren und ihre 
ganze Albernheit blosszustellen. Nichtsdestoweniger 
bin ich überzeugt, dass dies Vermögen nicht gut tut, 
sondern einzig Schmerz verursacht. Ich mochte 
hinzufügen, dass es mir, da wir täglich Männer von 
denselben Voraussetzungen zu entgegengesetzten 
Schlüssen kommen sehen, als eine zweifelhafte Vor- 
sicht erscheint, zu positiv über irgend einen kompli- 
zierten Gegenstand zu sprechen, wie sehr sich auch 
ein Mensch von der Wahrheit seiner eignen Schlüsse 
überzeugt fühlen mag. Und nun, können Sie mir 
meine Freimütigkeit vergeben? Obgleich wir ein- 




'. ? v' 







vV 



— 209 — 

ander nur ein einziges Mal begegnet sind, schreibe 
ich Ihnen wie einem alten Freunde, denn das sind 
meine Empfindungen Ihnen gegenüber/ 

Haeckel erwiderte auf diese freundschaftlichen 
Ermahnungen in gleich herzlichem Ton und erhielt 
darauf folgendes Schreiben: 

,ylhr Brief vom i8. hat mir grosses Vergnügen 
bereitet, denn Sie haben das, was ich Ihnen gesagt 
habe, in der allerliebenswürdigsten Weise aufge- 
nommen. Teilweise haben Sie das, was ich gesagt 
habe, noch viel starker genommen , als ich beab- 
sichtigt hatte. Es ist mir nicht für einen Augen- 
blick eingefallen, daran zu zweifeln, dass Ihr Werk 
bei einer wunderbaren und klaren Anordnung des 
Gegenstandes, ebenso wie befestigt durch so viele 
neue Tatsachen und Beweisgründe uiisern gemein- 
schaftlichen Zweck in allerhöchstem Grade fordern 
würde. Alles, was ich meine, ist, dass Sie Ärger 
erregen werden, und Ärger verblendet jedermann 
so, dass Ihre Argumente keine Aussicht haben 
dürften , die zu beeinflussen , die bereits gegen 
unsre Ansichten eingenommen sind. Überdies sehe 
ich es durchaus nicht gern, dass Sie, gegen den 
ich so viel Freundschaft empfinde, sich unnötiger- 
weise Feinde machen sollten, und es ist Schmerz 
und Ärger genug in der Welt, um nicht noch mehr 
zu veranlassen. Aber ich wiederhole, dass ich nicht 
daran zweifeln kann, dass Ihr Werk unserm Gegen- 
stande sehr förderlich sein wird, und ich wünschte 

herzlich, es könnte ins Englische übersetzt werden, 

14 



— 2IO — 

meiner selbst und andrer willen. In bezag darauf^ 
was Sie darüber sagen, dass ich Einwendungen gegen 
meine eigne Ansicht zu stark hervorhebe, denken 
auch manche meiner englischen Freunde, dass ich 
nach dieser Seite einen Fehler begangen habe, aber 
die Wahrheit zwang mich das zu schreiben, was ich 
geschrieben habe, und ich bin zu der Annahme ge- 
neigt, dass es gute Politik war/ 

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Italien, 
1861, hatte sich Haeckel auf Gegenbaurs An- 
regung in Jena als Privatdozent der Zoologie habili- 
tiert. Bereits im folgenden Jahre erfolgte seine 
Ernennung zum ausserordentlichen Professor auf 
Grund seiner grossen Monographie der Radiolarien. 
Dies monumentale Werk hat Haeckels Ruf als zoo- 
logischer Fachgelehrter begründet und enthielt zu- 
gleich sein erstes öffentliches Bekenntnis zu Darwin. 
Dieser schrieb darüber an Lyell am 17. März 
1863: „Ein ausgezeichneter deutscher Naturforscher 
(ich habe jetzt seinen Namen vergessen), welcher 
vor kurzem ein grosses Werk in Folio heraus- 
gegeben hat, hat sich in der ailerweitesten Aus- 
dehnung für die Entstehung ausgesprochen/ Es 
ist dies die erste briefliche Äusserung Darwins über 
Haeckel. 

Die darwinistischen Auslassungen Haeckels in 
der Monographie der Radiolarien, auf die Darwin 
hier anspielt, finden sich im Anschluss an einen Ent- 
wurf des Systems dieser Urtiere. Er hebt dort die 
zahlreichen Übergangsformen hervor, die die ver- 



— 211 — 

schiednen natürlichen Gruppen verbinden und fahrt 
dann fort : „Die grossartigen Theorieen, die Charles 
Darwin vor kurzem über die Entstehung der Arten 
im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung 
oder die Erhaltung der vervollkommneten Rassen 
im Kampf ums Dasein entwickelt hat und mit denen 
für die systematische organische Naturforschung eine 
neue Epoche begonnen hat, haben der Frage von 
den Verwandtschaftsverhältnissen der Organismen 
mit einem Mal eine solche Bedeutung, dem Nach- 
weis einer kontinuierlichen Verkettung eine solche 
fundamentale Wichtigkeit verliehen, dass jeder, auch 
der kleinste Beitrag der zu einer weitern Lösung 
jener Probleme mitwirken kann, willkommen sein 
muss/ 

Noch eingehnder spricht sich Haeckel in folgen- 
der, dem Titelzitat des Darwinschen Werkes ange- 
fügten Anmerkung über die neue Lehre aus: 

„Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit 
der hohen Bewundrung Ausdruck zu geben, mit der 
mich Darwins geistvolle Theorie von der Entstehung 
der Arten erfüllt hat, Umsomehr als diese epoche- 
machende Arbeit bei den deutschen Fachgenossen 
vorwiegend eine ungünstige Aufnahme gefunden zu 
haben, teilweise wohl auch völlig missverstanden 
worden zu sein scheint .... Obgleich ich Bedenken 
trage, Darwins Anschauungen und Hypothesen nach 
allen Richtungen hin zu teilen und die ganze von 
ihm versuchte Beweisführung für richtig zu halten, 

muss ich doch in seiner Arbeit den ersten ernstlichen 

14* 



— 212 — 

wissenschaftlichen Versuch bewundern, alle Erschei- 
nungen der organischen Natur aus einem gross* 
artigen einheitlichen Gesichtspunkt zu erklären und 
an die Stelle des unbegreiflichen Wunders das be- 
greifliche Naturgesetz zu bringen.^ Als Hauptmangel 
der Darwinschen Theorie bezeichnet er es dann, 
dass sie für die Entstehung des Urorganismus gar 
keinen Anhaltspunkt liefert. ,,Wenn Darwin,'' sagt 
er, „für diese erste Spezies noch einen besondern 
Schöpfungsakt annimmt, so ist dies jedenfalls in- 
konsequent und, wie mir scheint, nicht ernstlich ge- 
meint. Allein abgesehen von diesen und andern 
Mängeln hat Darwins Theorie schon jetzt das un- 
sterbliche Verdienst, in die ganze Verwandtschafts- 
lehre der Organismen Sinn und Verstand hinein- 
gebracht zu haben. Wenn man bedenkt, wie jede 
grosse Reform, jeder gewaltige Fortschritt um so 
heftigem Widerstand findet, je rücksichtsloser er 
eingewurzelte Vorurteile umstösst und herrschende 
Dogmen bekämpft, so wird man sich freilich nicht 
wundem , dass Darwins geniale Theorie statt der 
wohlverdienten Anerkennung und Prüfung bisher fast 
nur Angriffe und Zurückweisung gefunden hat.'' 

Dieses erste Bekenntnis Haeckels zu Darwin 
stand an verborgnem Ort in einem schweren fach- 
wissenschaftlichen Werk. Von hier aus konnte es 
den Weg in die Öffentlichkeit nicht finden, konnte 
es die Diskussion über den Darwinismus in Deutsch- 
land nicht in Fluss bringen. Aber schon im nächsten 
Jahr erfolgte Haeckels zweites Bekenntnis und zwar 



- 213 — 

diesmal im hellsten Licht der ÖfTentlicbkeit vor der 
Stettiner Versammlung deutscher Naturforscher und 
Ärzte. Wohlmeinende Freunde hatten ihre w^nende 
Stimme erhoben, hatten an all die Gefahren erinnert, 
die dem jungen Professor drohten, wenn er an solcher 
Stelle sich öffentlich für Darwin bekenne. Aber 
Haeckels Wahrheits- und Bekennerdrang kannte 
keine Rücksichten, und in der ersten öffentlichen 
Sitzung des Stettiner Kongresses besprach er das 
gefahrliche Thema und bekannte , dass er von der 
Wahrheit der Abstammungslehre so fest überzeugt 
sei wie Darwin selbst. Ja sogar die letzten Konse- 
quenzen dieser Lehre, vor denen Darwin noch scheu 
Halt gemacht, wurden hier von ihm berührt: die 
tierische Abstammung des Menschen und die natür- 
liche Entstehung der ältesten und einfachsten Or- 
ganismen. Schon hier klingt es durch die Zeilen 
hindurch, dass der Darwinismus eine die ganze 
Weltanschauung des Menschen modifizierende Er- 
kenntnis bedeutet 

Im Eingang des Vortrags charakterisiert Haeckel 
in grossen Zügen den Kampf, der um die Ent- 
wicklungslehre entbrannt ist. Zwei mächtige Heer- 
lager sieht er einander gegenüberstehen, aus dem 
einen tönt der Ruf Entwicklung und Fortschritt, 
aus dem andern Schöpfung und Sp>ezies. Hier Kata- 
strophenlehre und wiederholte Neuschöpfung der 
Organismen, dort Koutinuitätstheorie und allmähliche 
Entwicklung der Tier- und Pfianzenarten. Hier 
Konstanz der Spezies , dort Veränderlichkeit und 



— 214 — 

ununterbrochne Vervollkommnung, Auffassung des 
Systems als eines grossen, weit verzweigten Stamm- 
baumes. 

Nachdem Haeckel so das Grundthema des 
grossen Kampfes klar präzisiert hat, gibt er einen 
Rückblick auf die Geschichte des Entwicklungs- 
gedankens. Er feiert Lamarck und Geoffroy de St. 
Hilaire, Oken und Goethe als prophetische Ver- 
künder der neuen Lehre und gedenkt der Nieder- 
lage ihrer Naturanschauung in Frankreich durch 
Cuvier, die eine rein empirische Richtung einleitete, 
der erst Darwins Werk ein Ende machte. Dann 
gibt er in scharfen Umrissen ein Bild der Darwin- 
schen Lehre. Vererbung und Variabilität, Kampf 
ums Dasein und natürliche Zuchtwahl, Begriffe, die 
wir heute mit der Muttermilch einsaugen, werden 
hier zum ersten Mal vor einer Naturforscherversamm- 
lung diskutiert. Aus der ungeheuren Länge der 
Zeiträume, die zur Erklärung der organischen Ent- 
wicklung angenommen werden muss, zieht Haeckel 
den Schluss, dass direkte Beweise für die Abstammung 
nicht geliefert werden können. Um so höher schätzt er 
das Gewicht der indirekten Argumente. Die stufen- 
weis fortschreitende Entwicklung der organischen 
Bevölkerung in der Reihenfolge der Erdperioden, 
die geographische Verbreitung der Tiere und Pflanzen, 
die rudimentären Organe, die dreifache Parallele 
zwischen der embryologischen, systematischen und 
paläontologischen Entwicklung der Organismen sind 
ihm ohne die Entwicklungslehre unlösbare Rätsel. 



— 215 — 

Ein reifes fertiges Lehrgebäude sieht er in der Dar- 
winschen Theorie allerdings nicht, wohl aber die 
Grundlinien eines zukünftigen und den ersten 
mächtigen Anstoss zu einer durchgreifenden Re- 
form des bestehenden. Er vergleicht die Bedeutung 
dieser Reform für die Biologie mit der der Newton- 
schen Gravitationstheorie für die Abiologie, und der 
Verfolgungen beider Lehren durch die Feinde des 
wissenschaftlichen Fortschritts gedenkend, ruft er 
aus: „Aber diese Angriffe werden den Fortschritt 
nicht hemmen. Denn der Fortschritt ist ein Natur- 
gesetz, das keine menschliche Gewalt, weder 
Tyrannenwaflfen noch Priesterflöche jemals dauernd 
zu unterdrücken vermögen." 

Man meint in diesen letzten Worten den 
politischen Agitator und nicht den Mann der strengen 
Wissenschaft zu hören. Aber wenn auch in Haeckel 
zeitlebens etwas vom Agitator gesteckt hat, so war 
es doch keineswegs seine Absicht, bloss als solcher 
dem Darwinismus zu dienen. Seinen Hauptberuf 
sah er vielmehr von Anfang an im weitern Ausbau 
des Darwinschen Systems, in der Ausfüllung der 
Lücken, die er darin noch erkannte. Die Darwinsche 
Ideenwelt sollte in Fleisch und Blut der Wissenschaft 
übergehen, sollte die Wissenschaft von Grund aus 
reorganisieren und reformieren. Die Aussichten, dass 
die deutschen (belehrten diese Aufgabe in gemein- 
schaftlicher Arbeit in die Hand nehmen würden, 
waren damals so ungünstig wie möglich. Der 
Stettiner Vortrag des jungen Darwinenthusiasteh war 



— zi6 — 

mit Hohn und Spott abgetan worden. Wie Haeckel 
selbst erzählt, kam die grosse Mehrzahl der anwesen- 
den Naturforscher zu dem Schluss, dass derartige 
naturphilosophische Phantasieen eigentlich gar nicht 
wissenschaftlich diskutierbar seien. Ein angesehner 
Zoologe erklärte die ganze Theorie für den harmlosen 
Traum eines Nachmittagsschläfchens, ein andrer ver- 
glich sie mit dem Tischrücken und dem Od. Ein be- 
rühmter Botaniker nannte sie eine haltlose Hypothese, 
für die keine einzige Tatsache spreche, und ein nam- 
hafter Geologe meinte, dass auf diesen vorüber- 
gehnden Schwindel bald die unausbleibliche Er- 
nüchterung folgen werde. Aber Haeckel war nicht 
der Mann, der sich durch solche Misserfolge ent- 
mutigen Hess. Er unternahm jetzt den kühnen Ver- 
such, die durch die Darwinsche Lehre geforderte 
Reform für den Zweig der biologischen Wissenschaft, 
der sein Arbeitsfeld war, für die Morphologie durch- 
zuführen. Drei Jahre nach jener Stettiner Rede, 
1866, erschien das grandiose Werk, das Haeckel für 
alle Zeiten unter die ersten Genien denkender Natur- 
forschung einreiht: die Generelle Morphologie der 
Organismen. Sie enthielt bereits das ganze Programm 
seines Lebens, ja das Programm der morphologischen 
Forschung des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt. 
Sie ist das grösste und reifste, das tiefste und ori- 
ginellste Werk, das Haeckel geschaffen. 

Ein seltsamer Zwiespalt charakterisierte den Zu- 
stand der Naturwissenschaft als Haeckel sein Buch 
schrieb : Abiologie und organische Physiologie waren 



— 217 — 

monistisch und mechanisch, die organische Morpho* 
logie war dualistisch und teleologisch. Diesen Zwie-^ 
Spalt sucht Haeckels Werk aufzuheben. Es will 
einen kühnen und grossen Gedanken zur Geltung 
bringen: den Gedanken von der Einheit der ge- 
samten organischen und anorganischen Natur, den 
Gedanken von der allgemeinen Wirksamkeit mecha«^ 
nischer Ursachen in allen erkennbaren Erscheinungen^ 
den Gedanken,' dass die entstehnden und die ent« 
wickelten Formen der Organismen nichts andres sind 
als das notwendige Produkt ausnahmsloser und ewiger 
Naturgesetze. Mit Darwins Theorie sah Haeckel die 
Möglichkeit gekommen, auch die Morphologie mecha» 
nisch und monistisch zu begründen. 

Er fasst seine Aufgabe so umfassend wie nur 
denkbar und schickt seinem Werke ein Einleitung 
voraus, die in wundervoller Klarheit den Begriff und 
die Aufgabe der Morphologie, ihr Verhältnis zu den 
andern Naturwissenschaften, ihre Einteilung und vor 
allem ihre Methode beleuchtet. Diese methodolo- 
gischen Kapitel über Empirie und Philosophie, Ana- 
lyse und Synthese, Induktion und Deduktion, Dog- 
matik und Kritik, Teleologie und Kausalität, Dua- 
lismus und Monismus gehören zu dem Besten, was 
Haeckel geschrieben. Die Kernpunkte seiner Wissen- 
schaftsaufifassung kommen da zum Ausdruck. Vor 
allem betont er die Notwendigkeit gegenseitiger Er- 
gänzung von Beobachtung und Gedanken, von Natur- 
beschreibung und Naturphilosophie, die notwendige 
Wechselwirkung von Empirie und Theorie. „Alle 



— 2l8 — 

wahre Naturwissenschaft," ruft er aus, „ist Philoso« 
phie, und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. 
Alle wahre Wissenschaft aber ist in diesem Sinn 
Naturphilosophie. " 

Ein Blick auf den Entwicklungsgang der Mor- 
phologie soll dann zeigen, wie in dieser Wissenschaft 
empirische und philosophische Perioden miteinander 
abgewechselt haben. Linn6 begründete die erste 
empirische Periode, die Herrschaft der empirischen 
äussern Morphologie, Lamarck und Goethe schufen 
die erste philosophische Periode, die Herrschaft der 
phantastisch-philosophischen Morphologie. Sie wurde 
gestürzt durch Cuvier, der eine zweite empirische 
Periode, die der empirischen Innern Morphologie 
herauffährte, bis endlich Darwin die zweite philoso- 
phische Periode, die der empirisch-philosophischen 
Morphologie einleitete. Darwin verdrängte zugleich 
die Teleologie aus der Wissenschaft. In der Selek- 
tionstheorie erblickt Haeckel den schlagendsten Be- 
weis für die ausschliessliche Gültigkeit der mechanisch 
wirkenden Ursachen auf dem gesamten Gebiet der 
Biologie, den definitiven Tod aller teleologischen und 
vitalistischen Beurteüung der Organismen. 

Aber während Darwin gewissermassen in der 
Mitte begann und den Anfang und das Ende aller 
Dinge ausser Betracht Hess, geht Haeckel auf den 
Uranfang der Organismen, auf die fundamentalsten 
Verhältnisse zurück. „Allgemeine Untersuchungen 
über die Natur und etste Entstehung der Organismen, 
ihr Verhältnis zu den Anorganen und ihre Einteilung 



— 219 — 

in Tiere und Pflanzen," so lautet der Titel des 
zweiten Buches der Generellen Morphologie. Eine 
eingehnde Vergleichung zwischen Organismen und 
Anorganen in bezug auf Stoff, Form und Kraft leitet 
diese Untersuchungen ein. Besondres Gewicht legt 
Haeckel dabei auf jene niedersten und unvollkommen- 
sten, von ihm zuerst beobachteten und als Moneren 
bezeichneten Lebewesen, bei denen wir weder mit 
dem Mikroskop noch mit den chemischen Reagentien 
irgend eine Differenzierung des homogenen Plasma- 
körpers nachzuweisen vermögen. Er stellt sie als 
Typus der einfachsten Organismen in Vergleich mit 
den Kristallen, dem Typus der vollkommensten an- 
organischen Individuen. Dieser Vergleich führt ihn 
zu dem Ergebnis, dass nur graduelle Unterschiede 
das Reich der Organismen von dem der Anorgane 
trennen, dass alle uns bekannten Naturkörper der 
Erde, belebte und leblose, in allen wesentlichen 
Grundeigenschaften der Materie übereinstimmen. 
Die Unterschiede, die zwischen beiden Hauptgruppen 
von Natur kör per n hinsichtlich ihrer Formen und Funk- 
tionen existieren, sind nach Haeckel lediglich die 
unmittelbare und notwendige Folge der materiellen 
Unterschiede, die zwischen beiden durch die ver- 
schiedenartige Verbindungsweise der in sie eintreten- 
den Elemente bedingt werden. ' iDaraus schliesst 
er auf die Möglichkeit der Entstehung organischer 
Wesen aus anorganischem Stoff, auf die Möglich- 
keit einer Urzeugung. Mit ihr glaubt er die Darwin- 
sche Lehre nach unten abgeschlossen zu haben. 



— 220 — 

Aus dem gemeinsamen Urgrund der niedersten 
Lebewesen erheben sich nach Haeckel drei Reiche: 
das Pflanzen-, Tier- und Protistenreich. Bisher hatte 
man nur Tiere und Pflanzen unterschieden. Haeckel 
schafft jetzt ein drittes Reich, ein Zwischenreich, wozu 
er zunächst alles rechnet, was weder dem Pfianzen- 
noch dem Tierreich sicher zugezählt werden kann. 
£r charakterisiert diese drei Reiche chemisch, mor- 
phologisch und physiologisch , vergleicht sie unter- 
einander und beleuchtet ihre Wechselwirkung. Aus 
der Dreiteilung der Organ ismenweit ergeben sich ihm 
drei koordinierte Hauptzweige der Biologie : Zoologie, 
Botanik und Protistik. Das Hauptgewicht legt er 
bei der Präzisierung ihrer Aufgaben auf den univer- 
salen Charakter dieser Wissenschaften: Zoologie ist 
ihm die Gesamtwissenschaft von den Tieren, Botanik 
die Gesamtwissenschaft von den Pflanzen , Protistik 
die Gesamtwissen^chaft von den Protisten. Jede 
dieser drei Wissenschaften hat die vollständige und 
allseitige Erkenntnis des ihr zugeteilten Organismen- 
reiches zur Aufgabe, Gegenüber den einseitigen und 
icleinlichen Vorstellungen, die unter den deutschen 
Gelehrten damals über den Umfang und die Auf- 
gaben dieser Disziplinen herrschten, war diese Be- 
tonung ihrer Universalität eine reformatorische Tat. 

Nun erst wendet sich Haeckel den einzelnen 
Zweigen der morphologischen Wissenschaft zu, zu- 
nächst der Anatomie oder Formenlehre des voll- 
endeten Organismus. Sie gliedert sich nach ihm in 
die Tektologie oder Struktur lehre, die Wissenschaft 



— 221 — 

von der Zusammensetzung des Organismus aus gleich* 
artigen und ungleichartigen Teilen, und die Pro- 
morphologie oder Grundformenlehre, die Wissen- 
schaft von den stereometrischen Grundformen, die 
unter den scheinbar ganz unzugänglichen Kurven- 
systemen der komplizierten Formen der organischen 
Individuen versteckt liegen. Während die Tekto- 
logie die innre Form des ganzen Organismus unter- 
sucht, das heisst die Gesetze, nach denen der ganze 
Organismus aus allen Formbestandteilen oder In- 
dividuen verschiedner Ordnung (Piastiden, Organe, 
Antimeren, Metameren, Personen, Stöcke) zusammen- 
gesetzt ist, beschreibt und erklärt die Promorpho- 
logie die äussre Form des ganzen Organismus und 
aller seiner einzelnen Formbestandteile an sich und 
sucht diese Formen auf geometrische Grundformen 
zurückzuführen. Beide Wissenschaften sind in grossen 
Teilen Haeckels ureigenste Schöpfung, kaum einer 
hat ihm hier vorgearbeitet, kaum einer ist ihm hier 
nachgefolgt. 

Mit der Promorphologie schliesst der erste Band 
des Werkes. Der zweite ist in viel höherm Grade 
darwinistisch als der erste, indem er die Entwicklungs- 
geschichte der Organismen behandelt. Vor Darwin 
gab es nur einen Zweig dieser Wissenschaft: die 
Ontogenie oder Entwicklungsgeschichte der orga- 
nischen Individuen. Durch Darwin kam ein zweiter 
Zweig hinzu: die Phylogenie oder Entwicklungs« 
geschichte der organischen Stämme. Haeckel legt im 
fünften und sechsten Buch seines Werkes die Grund- 



— 222 — 

begrifife beider Wissenschaften fest. Im öntogene^ 
tischen Teil weist er sogleich dttf die fundamentale 
Bedeutung hin, die die Descendenztheorie für die 
Erklärung der individuellen Entwicklung besitzt, in- 
dem sie in der Ontogenie eine kurze und schnelle 
Wiederholung der Phylogenie erblickt. Das be- 
rühmte biogenetische Grundgesetz, dessen weitre 
Ausbildung zur Lebensaufgabe Haeckels werden sollte, 
wird hier zum ersten Mal formuliert. Dann werden wir 
eingeführt in die Mysterien der Zeugungslehre: Evolu* 
tion und Epigenesis, Embryologie und Metamorpholo- 
gie, Metamorphose, Metagenesis und Strophogenesis, 
die Arten der Zeugung und Zeugungskreise, die Funk* 
tionen und Stadien der Entwicklung werden abge* 
handelt. Eine eingehende Darstellung der Descen- 
denz- und Selektionstheorie schliesst sich an. Scharf 
formuUerte Gesetze der Vererbung und Anpassung 
suchen die Haupterscheinungen dieser bis dahin 
noch wenig erforschten Gebiete festzuhalten. Auf 
die rudimentären Organe wird eine Dysteleologie 
oder Unzweckmässigkeitslehre gegründet und schliess- 
lich die Descendenztheorie als das Fundament und 
die kausale Begründung der organischen Morpho- 
logie gefeiert. 

Weit grössre Schwierigkeiten als die Reform der 
Ontogenie bot die Begründüng der Phylogenie. Galt 
es doch den ersten Versuch, die allgemeinen Grund» 
lagen dieser Wissenschaft festzulegen. Naturgemäsd 
knüpft Haeckel hier den Faden an die bereits be- 
stehende Wissenschaft der Paläontologie an. Er 



— 223 — 

bespricht das paläontologische Material, die Kata- 
klysmen- und Kontinuitätsjtheorie und die Perioden 
der Erdgeschichte. Dann gibt er eine eingehende 
Kritik des Speziesbegriffs im allgemeinen, sowie des 
morphologischen, physiologischen und genealogischen 
Speziesbegriffs im besondern. Er behandelt ferner 
die Prinzipien der Klassifikation, beleuchtet das 
natürliche System als Stammbaum und wendet sich 
in scharfer Kritik gegen die klassifikatorischen Theo- 
rieen des Naturforschers Loois Agassiz, nach denen 
nicht allein der Spezies, sondern auch den über- 
geordneten Kategorieen des Genus, der Familie, Ord- 
nung, Klasse und des Typus eine reale, in der Natur 
begründete und nicht künstlich von den Systema- 
tikern geschiedne Existenz zukommt. Zuletzt ver- 
sucht er Zahl, Umfang und Inhalt der selbständigen 
organischen Phylen des Tier-, Pflanzen- und Protisten- 
reiches festzustellen. 

Eine Ergänzung dieses phylogenetischen Teiles 
bilden die acht Stammbaumtafeln, die dem zweiten 
Bande angehängt sind. Sie waren die ersten Ver- 
suche dieser Art und gründen sich auf eine um- 
fassende genealogische Übersicht des natürlichen 
Systems der Organismen, die den zweiten Band ein- 
leitet. ,Der Entwurf der organischen Stammbäume,^ 
bemerkt Haeckel im Vorwort , „obwohl gegen- 
wärtig noch äusserst schwierig und bedenklich, wird 
meines Erachtens die wichtigste und interessanteste 
Aufgabe für die Morphologie der Zukunft bilden.^ 

Ein besondres Buch des Werkes ist dem Menschen 



— 224 — 

XLTid der von ihm handelnden Wissenschaft, der An- 
thropologie gewidmet. Wie der Mensch ein Wesen 
-der Natur, das höchste Produkt des Säugetierstammes 
ist, so ist die Anthropologie ein Zweig der Natur- 
wissenschaft, speziell der Zoologie. Völkergeschichte 
\ind Nationalökonomie, Psychologie und Ethik sind 
Naturwissenschaften. Damit ist bereits jene einheit- 
liche Auffassung der Wissenschaft angedeutet, der 
Haeckel im letzten Buch das Wort redet. Es gibt 
nach^ ihm nur eine Wissenschaft, die Kosmologie 
oder Naturphilosophie, die Weltkunde oder Gesamt- 
-wissenschaft von der erkennbaren Welt. Sie zerfallt 
in einen siderischen Teil: die Uranologie oder 
Himmelskunde und einen tellurischen, die Pangeo- 
logie oder Erdkunde. Jeder dieser beiden Zweige 
gliedert sich wieder in einen graphischen und einen 
genetischen Teil. Diese Einheit der Wissenschaft 
entspricht allein der Einheit der Natur, wie der Mo- 
nismus sie verkündet. Mit einem Hymnus auf die 
monistische Weltanschauung und die auf sie ge- 
gründete pantheistische Gottesidee klingt das Werk 
-aus. 

Noch während das Buch im Druck war, hatte 
Haeckel die sich auf den Darwinismus beziehnden 
Bogen an Darwin zur Einsicht gesendet. Darwin 
antwortete: 

„Ich empfing vor wenigen Tagen einen Probe- 
bogen Ihres neuen Werkes und habe ihn mit grossem 
Interesse gelesen. Sie häufen auf mein Buch über 
Klie Entstehung der Aiten das grossartigste Lob, das 



Ernst Haeckel 



/: 




fA .,roj^ 



— 225 — 

€8 jemals empfangen hat, und ich bin dafür auf- 
richtig dankbar, aber ich färchte, dass, wenn dieser 
Teil Ihres Werks einmal kritisiert werden wird, Ihr 
Beurteiler sagen wird, dass Sie sich zu stark aus- 
gedrückt haben. Ihr Auszug scheint mir wundervoll 
•deutlich und gut, und ein kleiner Umstand zeigt 
mir, wie klar Sie meine Ansichten verstehen, näm- 
lich, dass Sie die Tatsache und Ursache der Diver- 
genz des Charakters in den Vordergrund stellen, 
wie es keiner von allen getan hat. £s erscheint 
mir jetzt seltsam genug, dass ich seit vielen Jahren 
klar die Notwendigkeit einsah , eine Tendenz zur 
Divergenz des Charakters anzunehmen, bis ich vor 
•einigen Jahren die Erklärung finden konnte. Ich 
habe mit vielem Interesse ihre Besprechung der 
Vererbung gelesen, um so mehr als ich in meinem 
nächsten Werke, welches nicht vor einem halben Jahr 
veröffentlicht werden wird, einige Kapitel über diese 
und andre verwandte Gegenstände gebe und deshalb 
sehr viel Neugier empfinde, Ihre fernem Kapitel, 
.sobald sie veröffentlicht sind, zu lesen . . .^ 

Nach eingehenderm Studium des Werks schrieb 
Darwin abermals an Haeckel: 

„Schon seit einiger Zeit beabsichtigte ich Ihnen 

4iber Ihr grosses Werk zu schreiben, von dem ich 

kürzlich einen guten Teil gelesen habe. Aber es 

macht mich fast wütend , dass ich auf einmal bloss 

2wei bis drei Seiten unvollkommen lesen kann. Das 

Ganze würde unendlich interessant und nützlich für 

mich sein. Was mich am meisten überrascht hat, ist 

15 



— 226 — 

die besondre Klarheit, mit der selbst die weniger 
wichtigen Prinzipien und die allgemeine Philosophie 
des Gegenstandes von Ihnen ausgedacht und metho- 
disch angeordnet worden sind. Ihre Kritik des 
Kampfes ums Dasein bietet ein gutes Beispiel davon, 
wie viel klarer Ihre Gedanken sind als meine. Ihre 
gesamte Diskussion über Dysteleologie hat mich als 
besonders gut in Erstaunen gesetzt. Aber es ist 
aussichtslos, das eine oder andre besonders hervor- 
zuheben, denn das Ganze scheint mir ausgezeichnet. 
£s ist ebenso aussichtslos, den Versuch zu machen, 
Ihnen für alle die Ehren zu danken, mit denen Sie 
mich immer von neuem überschütten." Es folgen 
dann die früher erwähnten kritischen Bemerkungen 
über Haeckels dogmatische Schreibweise und seine 
scharfe Beurteilung der Leistungen andrer. 

In die Zeit zwischen diese beiden Briefe Darwins 
fällt der erste Besuch Haeckels im Landhaus zu Down. 
In weniger als Jahresfrist hatte er das Hauptwerk 
seines Lebens niedergeschrieben. Seine Gesundheit 
bedurfte der Stärkung, sein Gemüt, das durch den 
Tod seiner jungen Gattin verdüstert war, der Erheite- 
rung. So reiste er denn über London nach den kana- 
rischen Inseln und benutzte die Gelegenheit, Darwin 
persönlich kennen zu lernen. Zum ersten Mal traten 
sie einander gegenüber: der Greis im Silberhaar, 
der jugendliche Feuergeist mit den blonden Locken. 
Ha^ckel hat uns später selbst diesen Besuch lebendig 
geschildert. 

„In Darwins eignem Wagen", erzählt er, „den 



— 227 — 

er mir vorsorglich nach der Eisenbahnstation gesendet 
hatte, fuhr ich an einem sonnigen Oktobermorgen 
durch die anmutige Hügellandschaft von Kent, die 
mit ihren bunten Laubwäldern, dem roten Heidekraut, 
dem gelben Ginster und den immergrünen Stein- 
eichen im schönsten Herbstschmncke prangte. Als 
der Wagen vor dem freundlichen , mit Epheu um- 
sponnenen und von Ulmen beschatteten Landhause 
Darwins hielt, trat mir aus der schattigen, von 
Schlingpflanzen umrankten Vorhalle der grosse 
Forscher selbst entgegen : eine hohe ehrwürdige Ge- 
stalt, mit den breiten Schultern des Atlas, der eine 
Welt von Gedanken trägt; eine Jupiterstirn, wie bei 
Goethe, hoch imd breit gewölbt, vom Pfluge der 
Gedankenarbeit tief durchfurcht; die freundlichen 
sanften Augen von einem mächtigen Dache vor- 
springender Brauen beschattet; der weiche Mund 
von einem gewaltigen silberweissen Vollbart umrahmt. 
Der einnehmende herzliche Ausdruck des ganzen 
Gesichts, die leise und sanfte Stimme, die langsame 
und bedächtige Aussprache, der naturliche und naive 
Ideengang seiner Unterhaltung nahmen in der ersten 
Stunde unsres Zwiegesprächs mein ganzes Herz ge- 
fangen, wie sein grosses Hauptwerk früher gleich 
beim ersten Lesen meinen ganzen Verstand im Sturm 
erobert hatte. Ich glaubte einen hehren Weltweisen 
des hellenischen Altertums , einen Sokrates oder 
Aristoteles lebendig vor mir zu sehen. ^ 

Das Gespräch beider drehte sich in erster Linie 

um die Fortschritte und Aussichten der Entwicklungs- 

15* 



— 228 — 

lehre, die damals schlecht genug standen. Dan^in 
bezeichnete höchst bescheiden seine ganze Arbeit 
nur als einen schwachen Versuch, die Entstehung 
der Tier- und Pflanzenarten auf natürliche Weise zu 
erklären und meinte, der Berg von entgegenstehen- 
den Vorurteilen sei zu hoch, als dass er hoffen 
dürfe, einen namhaften Erfolg seines Versuchs zu 
erleben. Das ihm von Haeckel in der Generellen 
Morphologie gespendete Lob sei gar sehr übertrieben. 
Als darauf Haeckel über die »miserablen Skribenten, 
die Darwins Ideen verhöhnten und seinen Charakter 
besudelten*, Worte der Entrüstung und des Zorns 
nicht unterdrücken konnte, da lächelte Darwin und 
suchte ihn mit den Worten zu beruhigen: „Mein 
lieber junger Freund, glauben Sie mir, mit solchen 
armen Leuten muss man Mitleid und Nachsicht 
haben; den Strom der Wahrheit können sie nur 
vorübergehend aufhalten , aber niemals dauernd 
hemmen.** 

Kurze Zeit nach diesem Besuch schrieb Darwin 
an den Naturforscher Fritz Müller in Brasilien: 

„Ich habe Ihre Abhandlung über Martha er- 
halten; sie ist so wunderbar wie die wunderbarsten 
Orchideen. Ernst Haeckel überbrachte mir den 
Aufsatz und verlebte einen Tag mit mir. Ich habe 
selten einen angenehmem, herzlichem und frei- 
mütigem Mann gesehen. Er ist jetzt in Madeira, 
wohin er, hauptsächlich um über Medusen zu ar- 
beiten, gegangen ist . . .** 

Noch zweimal, 1876 imd 1879, ist Haeckel später 



— 229 — 

mit Darwin persönlich zusammengetroffen, um ihm 
von den gewaltigen Fortschritten zu erzählen, die 
seine Lehre inzwischen in Deutschland gemacht hatte. 
Wie Francis Darwin bemerkt, erfreute sich sein Vater 
dieser Besuche gründlich und drückte oft emphatisch 
das lebendige Gefühl der Hochachtung aus, das er 
für seinen begeisterten und feurigen Schüler empfand. 
Bis zum Tode Darwins standen sie im Briefwechsel, 
und nie ist auch nur ein leiser Hauch der Trübung 
in dieses Freundschaftsverhältnis getreten. Welch 
innigen Anteil Darwin auch an den persönlichen 
Interessen Haeckels nahm, das beweist folgende, 
vom 19. November 1868 datierte Briefstelle: 

ylch muss Ihnen wiederum schreiben und zwar 
aus zwei Gründen. Erstens um Ihnen für Ihren 
Brief über Ihren Jungen zu danken, der sowohl mich 
als meine Frau völlig bezaubert hat. Ich beglück- 
wünsche Sie herzlich zu seiner Geburt. Wie ich 
mich aus meinem eignen Fall erinnre, war ich er- 
staunt, wie schnell die väterlichen Instinkte ent- 
wickelt werden, und in dem Ihrigen scheinen sie 
ungewöhnlich stark zu sein. Ich kenne sehr wohl 
den Blick auf eines Babys ,Hinterbeine', aber ich 
möchte glauben, dass Sie der erste Vater waren, der 
jemals über die Ähnlichkeit in ihrem Verhalten mit 
denen eines Äffchens triumphierte. Was sagt denn 
Frau Haeckel zu solchen entsetzlichen Lehren? 

„Ich hoffe, die grossen blauen Augen und die 
Prinzipien der Vererbung werden Ihr Kind gleich 
Ihnen zu einem Naturforscher machen, aber nach 



— 230 — 

meiner eignen Erfahrung zu urteilen, werden Sie er- 
staunt sein, zu finden, wie die gesamte geistige An- 
lage unsrer Kinder mit den fortschreitenden Jahren 
wechselt. Ein junges Kind und dasselbe im nahezu 
erwachsnen Alter differieren manchmal fast so stark, 
wie eine Raupe und ein Schmetterling/ 

Der zweite Teil dieses Briefes zeigt dann, wie 
all die Versuche, Haeckel von Darwin wissenschaft- 
lich zu trennen, ihn als den Repräsentanten einer 
phantastisch - dogmatischen Naturphilosophie dem 
.Vertreter objektiver Wissenschaft gegenüberzustellen, 
Darwin nie berührt haben und dass er gerade in 
bezug auf das Werk Haeckels, das den ersten An- 
stoss zu diesen Versuchen gab , die natürliche 
Schöpfungsgeschichte, durch sein direktes zustimmen- 
des Zeugnis die Bestrebungen der Gegner Haeckels 
zuschanden gemacht hat. 

Haeckel, mit Recht empört über die laue Auf- 
nahme, die sein fundamentales Werk in den Kreisen 
der Fachgelehrten gefunden hatte, beschloss, sich 
mit einem Auszug aus der Generellen Morphologie 
an emen weitern Kreis gebildeter Laien zu wenden, 
der durch das Interesse am Naturganzen und den 
natürlichen Menschenverstand befähigt sei, die Ent- 
wicklungslehre zu begreifen und als Schlüssel zum 
Verständnis der Erscheinungswelt zu benutzen. So 
entstand die Natürliche Schöpfungsgeschichte, deren 
«rste Auflage 1868 erschien. Sie hat seitdem die 
Weltrunde gemacht und Tausende zum selbständigen 
Denken angeregt. Haeckel machte mit ihr einen 



— 231 — 

ersten klassischen Versuch , den Darwinismus zu 
popularisieren und begründete damit zugleich seine 
eigne Popularität. Aber auch hier ging er weit 
über den Darwinismus hinaus, auch hier versuchte 
er ein Ganzes, eine abgerundete Weltanschauung zu 
bieten. Auch hier brachte er eignes in Fülle , vor 
allem auf phylogenetischem Gebiet. In der histo- 
rischen Einleitung gab er die erste und bis heute 
nicht übertroffne Darstellung der Geschichte der 
Entwicklungslehre bis auf Darwin. 

Darwin selbst hat nie populäre Schriften ge- 
schrieben. Ja, er war, wie sein Sohn Francis bemerkt, 
wohl im allgemeinen stark dagegen eingenommen, 
dass die Männer der Wissenschaft ihre Zeit dem 
Schreiben von Handbüchern oder dem Lehren hin- 
gäben, die sonst für selbständige Untersuchungen 
angewendet würde. Doch hat er einmal an Huxley 
in bezug auf ein populäres Handbuch über Zoo- 
logie geschrieben: „Andrerseits denke ich zuweilen, 
dass allgemeine und populäre Darstellungen beinahe 
so bedeutungsvoll für den Fortschritt der Wissen- 
schaft sind wie originale Arbeiten." Vollends 
Haeckels Werk, das Popularität und Originalität ver- 
einigte, musste ihn durchaus befriedigen. 

„Von Ihrem letzten Buche," schrieb er ihm in 
dem bereits erwähnten Brief, „habe ich ziemlich viel 
gelesen; der Stil ist wundervoll klar und leicht für 
michy aber warum es in dieser Beziehung so sehr 
von ihrem grossen Werke abweicht, kann ich nicht 
begreifen. Ich habe den ersten Teil noch nicht ge- 



— 232 — 

lesen, sondern habe mit dem Kapitel über Lyell 
und mich angefangen, was mir, wie Sie wohl glauben, 
sehr gefallen hat. Ich denke, Lyell, welcher äugen» 
scheinlich sehr erfreut darüber war, dass Sie ihm 
ein Exemplar geschickt haben, ist gleichfalls durch 
die Kapitel sehr wohltuend berührt worden. Ihre 
Kapitel über die Verwandtschaften und die Genealogie 
des Tierreichs frappieren mich als bewundernswert 
und voll von originalen Gedanken. Indessen macht 
mich ihre Kühnheit manchmal zittern; wie aber 
Huxley bemerkte, irgend jemand muss eben kühn 
genug sein und Stammtafeln entwerfen. 

„Obgleich Sie die Un Vollkommenheit der geo- 
logischen Urkunden vollständig zugeben, so stimmte 
Huxley doch in der Meinung mit mir überein, dass 
Sie zuweilen ziemlich schnell sind, wenn Sie zu sagen 
wagen, in welchen Perioden die verschiednen Gruppen 
zuerst erschienen sind. Ich habe den Vorteil vor 
Ihnen , dass ich mich erinnre , wie wunderbar ver- 
schieden alle Angaben über diesen Gegenstand vor 
zwanzig Jahren gelautet haben würden, gegenüber 
dem, wie es jetzt der Fall ist, und ich erwarte, dass 
die nächsten zwanzig Jahre einen völlig so grosseh 
Unterschied wieder hervorbringen werden. Denken 
Sie an die monokotyledone Pflanze, welche soeben 
in der primordialen Formation von Schweden ent- 
deckt worden ist. 

„Ich wiederhole, wie sehr ich mich über die 
Aussicht einer Übersetzung freue, denn ich bin völlig 
der Meinung, dass dieses Werk und alle Ihre Werke 



— 233 — 

einen grossen Einfluss auf den Fortschritt der Wissen* 
Schaft haben werden." 

Als im Jahre 1873 die vierte Auflage der 
Schöpfungsgeschichte in Darwins Hände gelangt war, 
erhielt Haeckel folgenden Brief: 

„Ich danke Ihnen für das Geschenk, das Sie 
mir mit Ihrem Buche gemacht haben und freue mich 
herzlich von seinem grossen Erfolg zu hören. Sie 
werden wunderbar viel dazu beitragen , die Ent- 
wicklungslehre zu verbreiten, dass Sie sie durch so 
viele originale Beobachtungen unterstützen. Ich habe 
die neue Vorrede mit sehr grossem Interesse gelesen. 
Die Verzögrung in dem Erscheinen der englischen 
Übersetzung ärgert und überrascht mich, denn ich 
bin niemals imstande gewesen, es im Deutschen ganz 
durchzulesen, und ich werde das zuversichtlich tun, 
wenn es englisch erscheint." 

Auch öffentlich scheute sich Darwin nicht, seiner 
Bewundrung des Buches Ausdruck zu verleihen. 
So schrieb er 1871 in der Einleitung zu seiner Ab- 
stammung des Menschen : 

„Der letztgenannte Naturforscher (Haeckel) hat 
ausser seinem grossen Werke Generelle Morphologie 
der Organismen noch neuerdings seine Natürliche 
Schöpfungsgeschichte herausgegeben, in der er die 
Genealogie des Menschen eingehend erörtert. Wäre 
dieses Buch erschietien, ehe meine Arbeit nieder- 
geschrieben war, würde ich sie wahrscheinlich nie zu 
Ende geführt haben, fast alle die Folgerungen, zu 
denen ich gekommen bin, finde ich durch diesen 



— 234 — 

Forscher bestätigt, dessen Kenntnisse in vielen 
Punkten viel reicher sind als meine." 

Haeckel war sehr befriedigt von dieser Aner- 
kennung seiner Forschungen und schrieb einen herz- 
lichen Dankbrief an Darwin. Dieser antwortete: 

«Ich muss Ihnen einige Worte schicken, um 
Ihnen für Ihren interessanten, und ich kann in 
Wahrheit sagen, reizenden Brief zu danken. Ich 
bin entzückt, dass Sie mein Buch gutheissen, so 
weit Sie es gelesen haben. Ich habe darüber sehr 
grosse Schwierigkeit und Zweifel empfunden, wie oft 
ich das erwähnen müsste, was Sie veröffentlicht haben; 
streng genommen hätte jede Idee, wenn sie mir 
auch unabhängig gekommen ist, wenn sie von Ihnen 
früher veröffentlicht worden ist, als aus Ihren Schriften 
entnommen erscheinen müssen, dies würde aber das 
Lesen meines Buchs zu einer sehr traurigen Arbeit 
gemacht haben ; und Ich hoffte, dass eine vollständige 
Anerkennung am Anfang genügen werde. Ich kann 
Ihnen nicht sagen, wie froh ich bin, zu sehen, dass 
ich meine hohe Bewundrung Ihrer Arbeiten mit 
hinreichender Klarheit ausgedrückt habe; ich bin 
überzeugt, dass ich sie nicht zu stark ausgedrückt 
habe." 

Das höchste Lob aber spendete Darwin seinem 
deutschen Kampfgenossen einige Monate später in 
folgenden Worten: 

„Ich zweifle, ob meine Kräfte noch für viele 
schwierige Werke ausreichen werden. . . . Ich werde 
fortfahren zu arbeiten, so lange wie ich kann, aber 



— 235 — • 

es bedeutet nicht viel, wenn ich aufhöre, da so 
viele gute, vollständig ebenso tüchtige und vielleicht 
noch tüchtigere Männer als ich es bin, vorhanden 
sind, uro unser Werk weiter zu führen^ und unter 
diesen rangieren Sie als der erste.'* 

Ausser der Natürlichen Schöpfungsgeschichte ver- 
danken wir Haeckel noch ein zweites grosses populär- 
wissenschaftliches Werk über darwinistische Probleme : 
die im Jahre 1874 erschienene Anthropogenie oder 
Entwicklungsgeschichte des Menschen. Wie die Schöpf- 
ungsgeschichte ist sie kein populäres Buch im ge- 
wöhnlichen Sinne des Wortes, das nur die Forschungs- 
resultate andrer in gemeinverständlicher Sprache 
wiedergibt, sondern ein Werk, das neben der Dar- 
stellung des Bekannten zahlreiche Originalbeiträge 
zur Förderung der menschlichen Phylogenie enthält. 
Ihr Hauptzweck ist, die Fruchtbarkeit des biogene- 
tischen Grundgesetzes an dem Beispiel des mensch- 
lichen Organismus zu demonstrieren und die Tat- 
sachen der menschlichen Ontogenie durch dies 
Gesetz zu erklären. So ergeben sich zunächst zwei 
Teile, ein ontogenetischer , der die menschliche 
Keimesgeschichte, und ein phylogenetischer, der die 
menschliche Stammesgeschichte behandelt. Beiden 
ist ein historischer Überblick über die ältere und 
neuere Keimes- und Stammesgeschichte voraus- 
geschickt. Den Beschluss macht ein organogene- 
tischer Teil, der die Entwicklung der einzelnen 
Organe zum Gegenstand hat. Die Bedeutung dieses 
Werkes besteht neben der tiefern Begründung des 



— 236 — 

biogenetischen Grundgesetzes und der Aufstellung 
der tierischen Ahnenreihe des Menschen vor allem 
darin, dass es den ersten Versuch enthält, die wich- 
tigsten Tatsachen der menschlichen Keimesgeschichte 
einem grössern Kreise verständlich zu machen, so 
weit das bei der ausserordentlichen Kompliziertheit 
der ontogenetischen Prozesse überhaupt möglich ist. 
Dass ein solches Buch, das eine unerhörte Erscheinung 
in der deutschen Literatur war, viel Widerspruch er- 
fahren, heftige Angriffe erdulden musste, ist nicht zu 
verwundern. Vor allen waren es solche Embryologen, 
die von einem Kausalnexus zwischen Ontogenie und 
Phylogenie nichts wissen wollten, sondern die onto- 
genetischen Erscheinungen aus sich selbst zu erklären 
versuchten, wie His und Götte, die als Hauptkämpen 
gegen die Anthropogenie auftraten. Haeckel antwortete 
mit Geschick und Sachlichkeit, wenn auch mit grosser 
Schärfe in einer kleinen Schrift über die Ziele und 
Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte. 

Hand in Hand mit der Herausgabe der populär- 
wissenschaftlichen Schriften Haeckels ging die Be- 
arbeitung streng fachwissenschaftlicher Spezialwerke. 
Die grossen Monographieen der Kalkschwämme, 
Radiolarien, Medusen und Siphonophoren , die Ar- 
beiten über Moneren, Tiefseehornschwämme, Am- 
phorideen und Cystoideen sind nicht nur als wert- 
volle Bereicherungen unsrer tatsächlichen Kenntnisse 
dieser Tiergruppen, sondern auch als hervorragende 
Beiträge zur Förderung der Entwicklungslehre, speziell 
der Phylogenie, anzusehen. Vor allem gilt dies von 



— 237 — 

der 1872 erschienenen Monographie der Kalk- 
schwämme , einem Werk , über das Darwin sich in 
einem Brief an Haeckel folgendermassen äusserte: 

„Ich empfing vor ungefähr zehn Tagen Ihr 
prachtvolles Werk und bin aufrichtig erstaunt über 
die Summe der Arbeit, die es Ihnen gekostet haben 
muss. Die schönen Illustrationen müssen, wie ich 
mir denke, allein Monate auf Monate harter Arbeit 
erfordert haben. Ich habe mit grossem Interesse 
die Teile, die Sie angestrichen haben, wie auch 
einige andre durchgelesen. Alles, was ich gelesen 
habe, ist äusserst reich an philosophischen Diskus- 
sionen über viele Punkte. Ich wünsche Ihnen zu 
der Vollendung dieses grossen Unternehmens herzlich 
Glück und zweifle nicht, dass es bei den (ach! in 
diesem Lande an Zahl wenigen) Naturforschern, die 
imstande sind, es zu schätzen, Beachtung finden wird. 
Sie sind ein wunderbarer Mann, aber nun erweisen 
Sie sich auch als ein weiser Mann, indem Sie sich 
einige Ruhe gönnen! Ihr bewundernder Freund 
Charles Darwin." 

Haeckel lieferte in diesem Werk über die Kalk- 
schwämme nicht nur den analytischen Beweis für die 
Veränderlichkeit der Spezies, indem er die ausserordent- 
liche Flüssigkeit der Formen und die Unmöglichkeit 
scharfer Artbestimmung nachwies, sondern stellte auch 
auf Grund der individuellen Entwicklungsgeschichte 
der Kalkschwämme eine neue Theorie auf, die zu 
den wichtigsten und fundamentalsten Theorieen der 
Phylogenie überhaupt gehört: die Gastraeatheorie. 



— i38 ~ 

In der Entwicklung der Kalkschwämme tritt eine 
* Form auf, die im allgemeinen die Gestalt eines von 
einer zweischichtigen Wand begrenzten Bechers hat 
und deshalb von Haeckel als Becherkeim oder Ga- 
st rula bezeichnet wurde. Sie umschliesst eine einfache 
verdauende Höhle, den Urdarm oder Urmagen, der 
durch eine Öffnung, den Urmund, mit der Aussen- 
welt kommuniziert. Haeckel konnte nun zeigen, 
dass diese Form auch in der ontogenetischen Ent«^ 
Wicklung aller übrigen Gewebstiere oder Metazoen 
auftritt, wenn auch oft in sehr modifizierter Gestalt, 
und schloss daher nach dem biogenetischen Grund- 
gesetz auf eine gemeinsame nach dem Typus der 
Gastrula gebaute Stammform aller dieser Tiere : die 
Gastraeä. Diesen phylogenetischen Schluss wusste 
er weiter dadurch zu rechtfertigen, dass noch heute 
einzelne Gastraeaden existieren sowie älteste Formen 
andrer Tierstämme, deren Organisation sich nur wenig 
über sie erhebt. Diese Theorie, deren ersten Ent- 
wurf Haeckel später weiter ausgeführt und in einer 
Reihe von ,, Studien zur Gastraeatheorie*^ fester zu be- 
gründen versucht hat, hat viel Staub aufgewirbelt, 
viel Zustimmung" einerseits, heftige Angriffe andrerseits 
erfahren, sie gehört zu den Theorieen Haeckels, 
durch die er ausserordentlich anregend und belebend 
auf den Entwicklungsgang der darwinistischen Wissen- 
schaft eingeYirirkt hat. 

Den Abschluss aller dieser phylogenetischen 
Studien Haeckels bildet die 1896 vollendete drei- 
bändige ^Systematische Phylogenie der Organismen^. 



— 239 — 

Sie legt Zeugnis ab von den gewaltigen Fortschritten, 
die die phylogenetische Wissenschaft gemacht hatte 
seit Haeckel in der Generellen Morphologie ihre 
ersten Grundlinien zog. Die Klarheit und Durch- 
sichtigkeit der Darstellung, die Fülle des empirischen 
Materials und die Tiefe der Spekulation werden auch 
den für dieses Werk begeistern, der den Folgerungen, 
zu denen Haeckel gelangt, die er aber ausdrücklich 
als seine subjektive Meinung bezeichnet, nicht in 
allen Punkten beizustimmen vermag. 

Während Haeckel so durch Veröffentlichung 
populär- und fachwissenschaftlicher Werke für die 
Ausbreitung und tiefre Begründung der Entwicklungs- 
lehre rastlos tätig war, versäumte er nicht, von Zeit 
zu Zeit Heerschau über die Fortschritte dieser Lehre 
zu halten und ihre Beziehungen zu den grossen 
Fragen der Weltanschauung zu beleuchten. Die 
beste Gelegenheit dazu boten die Versammlungen 
deutscher Naturforscher und Ärzte. Haeckel ist hier 
nach jenem ersten kühnen Vorgehen in Stettin noch 
zweimal für die Darwinsche Theorie in die Schranken 
getreten, 1877 in München, 1882 in Eisenach. 

Die fünfzigste Versammlung deutscher Natur- 
forscher und Ärzte in München erhielt durch den 
Prinzipienstreit zwischen Haeckel und Virchow ein 
eigenartiges, hochbedeutsames Gepräge. Ein Kampf 
wurde hier ausgefochten, der den innersten Lebens- 
nerv aller Geisteskultur berührte, die Freiheit der 
Wissenschaft und ihrer Lehre. Insofern die Gegen- 
sätze in der Auffassung der wissenschaftlichen Sicher- 



— 240 — 

heit der Descendenztheorie sich zu dieser fundamen- 
talen Frage zuspitzten, erlangten die Verhandlungen 
der Münchner Versammlung eine weittragendre Be- 
deutung als die berühmten Disputationen zwischen 
Luther und Eck in Leipzig, zwischen Cuvier und 
Geoffroy de St. Hilaire in Paris. 

Es hätte wohl kaum ein geeigneteres Thema 
zur feierlichen Eröffnung der fünfzigsten Versammlung 
deutscher Naturforscher und Ärzte gewählt werden 
können, als das, mit dem Haeckel am 18. September 
die Reihe der öffentlichen Vorträge einleitete. Die 
heutige Entwicklunglehre im Verhältnis zur Gesamt- 
wissenschaft lautete der Titel seiner Rede. Sie trägt 
ein ganz andres Gepräge als der vierzehn Jahre 
früher gehaltne Vortrag. Hatte Haeckel dort die 
grundlegenden Beweise für die Darwinsche Lehre im 
einzelnen aufzählen müssen, so konnte er siöh jetzt 
auf die kurze Bemerkung beschränken, dass die 
Entwicklungstheorie mit allen fundamentalen Tat- 
sachen der biologischen Disziplinen im Einklang 
steht. Denn die Descendenzlehre hatte inzwischen 
ihren Siegeszug auf allen Gebieten der Wissenschaft 
fast vollendet und war als wichtigste Basis der Er- 
kenntnis überall anerkannt worden. Nur die ganz 
Exakten standen ihr noch skeptisch gegenüber. 
Diesen setzt jetzt Haeckel auseinander, dass die 
biologischen Wissenschaften in ihrem weitaus grössten 
Teil überhaupt nicht exakt begründet werden können, 
dass in ihnen vielmehr an die Stelle der exakten, 
mathematisch-physikalischen die historische, ge- 



— 241 — 

schichtlich-philosophische Methode zutreten hat. Denn 
ihre Aufgabe ist die Erkenntnis geschichtlicher Vor- 
gänge, die sich im Laufe vieler Millionen Jahre, lange 
vor Entstehung des Menschengeschlechts auf der 
Erde abgespielt haben. Vor allem gilt dies von der 
Phylogenie oder Stammesgeschichte der Organismen, 
die ebensowenig wie die Geologie exakt oder experi- 
mentell begründet werden kann. Beide sind historische 
Naturwissenschaften und knüpfen somit ein einigendes 
Band zwischen den exakten Naturwissenschaften einer- 
seits und den historischen Geisteswissenschaften 
andrerseits. 

Damit sind aber nach Haeckel die Beziehungen 
zwischen Entwicklungslehre und Gesamtwissenschaft 
noch keineswegs erschöpft. Vielmehr sieht er das 
Flauptmoment dieser Beziehungen darin, dass die 
Entwicklungslehre die uralte Frage nach der Herkunft 
des Menschen zum ersten Mal im naturwissenschaft- 
lichen Sinn gelöst hat. Und zwar nicht nur, wie 
viele glauben, die Herkunft des menschlichen Körper- 
baus , sondern auch die seiner Geistestätigkeit. 
Haeckel erinnert hier an die physiologische Tatsache, 
dass unser Seelenleben untrennbar an die Organi- 
sation unsres Centralnervensystems geknüpft ist und 
gelangt dadurch zur Erörterung der Seelenfrage 
überhaupt. In der Zellseele sieht er das Fundament 
der empirischen Psychologie. Aber die Zellseele 
selbst ist wieder zusammengesetzt aus den Seelen 
der die Zelle aufbauenden Moleküle, den Plastidul- 
seelen, und diese wieder aus den Atomseelen. So 

16 



— 242 — 

gelangt Haeckel zu der hylozoistischen Darstellung 
einer allgemeinen Beseelung aller Materie, zu einer 
einheitlichen Auffassung aller körperlichen und 
geistigen Prozesse. Der Atome Hassen und Lieben, 
Anziehung und Abstossung der Moleküle, Bewegung 
und Empfindung der Zellen und der aus Zellen zu- 
sammengesetzten Organismen, Gedankenbildung und 
Bewusstsein des Menschen sind ihm nur verschiedne 
Stufen eines universalen Entwicklungsprozesses. In 
diesem Monismus sieht er die Aufhebung des Gegen- 
satzes zwischen den dualistischen Weltsystemen des 
Materialismus und Spiritualismus , die Verbindung 
des praktischen Idealismus mit dem theoretischen 
Realismus, die Verschmelzung der Naturwissenschaft 
und Geisteswissenschaft zu einer allumfassenden ein- 
heitlichen Gesamtwissenschaft. 

An diesen kühnen theoretischen Gedankengang, 
der vor den letzten Konsequenzen nicht zurück- 
schreckt, schliesst sich eine praktische Forderung 
von fast noch grössrer Kühnheit. Die Forderung, 
der Entwicklungslehre als dem wichtigsten Bildungs- 
mittel die Pforten der Schule zu öffnen, sie dort 
nicht nur zu dulden, sondern zum massgebenden und 
leitenden Faktor zu erheben. Wie weit die Grund- 
züge der Entwicklungslehre in die Schulen einzu- 
führen, in welcher Reihenfolge ihre wichtigsten Zweige 
in den verschiednen Klassen zu lehren sind , will 
Haeckel nicht entscheiden. Aber eine weitgreifende 
Reform des Unterrichts auf Grundlage der genetischen 
Methode hält er für unerlässlich und erhofft von ihr 



— 243 — 

die schönsten Erfolge. Vor allem glaubt er,.dass 
die Entwicklungslehre als historische Naturwissen- 
schaft versöhnend und vermittelnd zwischen die beiden 
Richtungen treten wird, die um die Herrschaft in 
der hohem Schulbildung ringen , die klassische, 
historisch-philosophische und die exakte, mathematisch- 
physikalische. Aber auch für die sittliche Bildung 
erblickt er in der Entwicklungslehre eine sichre 
Grundlage. Denn diese Lehre verkündet uns, dass 
das natürliche Sittengesetz, das viel älter ist als alle 
Kirchenreligion, sich aus den sozialen Instinkten der 
Tiere entwickelt hat und ermöglicht so eine vernunft- 
gemässe Begründung der Sittenlehre auf der un- 
erschütterlichen Basis fester Naturgesetze. Wie die 
theoretische Gesamtwissenschaft wird daher auch die 
praktische Philosophie ihre wichtigsten Grundsätze 
nicht mehr aus angeblichen Offenbarungen, sondern 
aus den natürlichen Erkenntnissen der Entwicklungs- 
lehre ableiten müssen. In diesem Sieg des Monismus 
über den Dualismus sieht Haeckel die hoffnungs- 
vollste Aussicht auf einen un^endlichen Fortschritt 
unsrer moralischen und intellektuellen Entwicklung 
und begrüsst am Schluss seiner Rede die heutige, 
von Darwin neu begründete Entwicklungslehre als 
die wichtigste Förderung unsrer reinen und an- 
gewandten Gesamtwissenschaft. 

« 

In grossen Zügen fasst diese Rede die An- 
schauungen zusammen, die Haeckel in seinen zahl- 
reichen Schriften bereits früher ausführlich entwickelt 

hatte. Neu ist nur die praktische Forderung der 

16* 



— 244 — 

Aufnahme der Entwicklungslehre in den SchuK 
Unterricht. Aber grade diese Forderung war es, 
die selbst ergraute Häupter der Wissenschaft in der 
schrankenlosen Freiheit der wissenschaftlichen Lehre 
plötzlich eine Gefahr wittern Hess. Diese Freiheit 
schien ihnen nur so lange bequem, als die Wissen* 
Schaft im engen Professorenkämmerlein ihr friedliches 
Dasein fristete, sie wurde ihnen zu einer gefahrlichen 
Macht bei dem Gedanken an das Hinausdringen 
wissenschaftlicher Resultate in die breiten Massen 
des Volkes. Kein Geringrer als Rudolf Virchow 
gab sich zum Anwalt dieser Furchtsamen her. Vier 
Tage nach Haeckel, in der dritten allgemeinen 
Sitzung der fünfzigsten Naturforscherversammlung 
hielt er seine berühmte Rede über die Freiheit der 
Wissenschaft im modernen Staat. 

Wenn man den Eingang dieser Rede liest, so 
glaubt man, Virchow wolle eine Lanze für die Lehr- 
freiheit einlegen. Denn er feiert hier Lorenz Oken, 
den Begründer der Versammlungen deutscher Natur- 
forscher und Ärzte, als einen jener Märtyrer und 
Blutzeugen, die die Freiheit der Wissenschaft für 
uns erkämpft haben. Aber dann kehrt Virchow die 
Spitze seiner Lanze gegen diese Freiheit selbst. 
Haeckels Lehren scheinen ihm eine zu weite Be- 
nutzung der Freiheit, die uns die jetzigen Zustände 
darbieten, und er erhebt seine warnende Stimme, 
nicht in der Willkür beliebiger persönlicher Speku- 
lationen fortzufahren, die sich jetzt auf vielen Ge- 
bieten der Naturwissenschaft breit mache. Er em- 



— 245 — 

pfiehlt Mässigung und einen gewissen Verzicht auf 
Liebhabereien und persönliche Meinungen. »Wir 
dürfen nicht vergessen/ ruft er aus, „dass es eine 
Grenze zwischen dem spekulativen Gebiet der Natur- 
wissenschaft und dem tatsächlich errungnen und 
vollkommen festgestellten Gebiete gibt.** Nur für 
das letzte, nur für das, was wir als gesicherte wissen- 
schaftliche Wahrheit betrachten, was durch den Ver- 
such als das höchste Beweismittel zu unumstösslicher 
Gewissheit gebracht ist, fordert er die Freiheit der 
Lehre. Probleme dagegen sollen nur Gegenstand 
der Forschung, nicht der Lehre sein. Wenn wir 
lehren, so sollen wir uns an jene kleinern und doch 
schon so grossen Gebiete halten, die wir wirklich 
beherrschen. 

Zu den Problemen der Forschung, die noch 
nicht sicher bewiesen, nicht durch den Versuch als 
das höchste Beweismittel festgelegt sind, rechnet 
Virchow vor allen auch die Descendenzlehre. »Wir 
können nicht lehren,^ sagt er, „wir können es nicht 
als eine Errungenschaft der Wissenschaft bezeichnen, 
dass der Mensch vom Affen oder von irgend einem 
andern Tiere abstamme. Wir können das nur als 
ein Problem bezeichnen, es mag noch so wahr- 
scheinlich erscheinen und noch so nahe liegen.^ 
Nur wenn die Descendenzlehre eine völlig stabilierte 
Lehre sei, so sicher, dass wir sie beschwören könnten, 
dass wir sagen könnten, so ist es, nur dann dürfe 
sie, ja dann müsse sie gelehrt, jedem Kinde mit- 
gegeben und zur Grundlage unsrer ganzen Vor- 



— 246 — 

Stellung von der Welt, der Gesellschaft, dem Staate 
gemacht werden. Und das, trotzdem sie eine un- 
gemein bedenkliche Seite habe, nämlich eine sozia- 
listische Tendenz. 

Wer bis jetzt noch daran gezweifelt hat, dass 
Virchows Rede sich gegen die Freiheit der Lehre 
wendet, dem werden die unglaublichen Worte über 
die bedenkliche Seite der Descendenzlehre diesen 
Zweifel benehmen. ^Nun stellen Sie sich einmal 
vor,** sagte Virchow, „wie sich die Descendenztheorie 
schon heute im Kopf eines Sozialisten darstellt. Ja, 
meine Herren, das mag manchem lächerlich er- 
scheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen, 
dass die Descendenztheorie für uns nicht alle die 
Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorieen im 
Nachbarland angerichtet haben. Immerhin hat auch 
diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt 
wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und dass der 
Sozialismus mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird 
Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen 
uns das ganz klar machen.** Was diese Denunziation 
damals zu bedeuten hatte, begreift man, wenn man 
sich erinnert, dass bald nachher die Attentate 
Hödels und Nobilings den Hass gegen den Sozialismus 
zur Siedehitze entbrennen Hessen. 

Den Jubel aller reaktionären Elemente über 
Virchows Rede kann man sich vorstellen. „Es ist 
ein konservativer Zug im besten Sinne des Wortes," 
schrieb die neue evangelische Kirchenzeitung, „der 
durch diese Äusserungen des gelehrten Fortschritts- 



— 247 — 

mannes hindurchklingt. ^ Und die Germania schloss 
ihren Artikel mit den Worten: ^So viel steht fest: 
die Haeckelianer , resp. Affenfanatiker, haben in 
München eine grosse Niederlage erlitten.* Dagegen 
traten die Organe des Forschritts für Haeckel ein. 
„Es wäre ein gewichtiges Wort gewesen," schrieb 
die Frankfurter Zeitung, „das Virchow an der Seite 
Haeckels zugunsten des geistigen Fortschritts, nament- 
lich in bezug auf das in der Schwebe befindliche 
ünterrichtsgesetz in die Wagschale hätte werfen 
können; er hat es nicht getan, er hat im Gegenteil 
angeklagt und zu hemmen versucht, wo noch die 
Beschleunigung not tut. Ob Virchows Angstruf Erfolg 
hat? Schwerlich! Die Wissenschaft lässt sich nicht 
mehr in das Professorenkämmerlein sperren, mit 
ihrem feinen Geäder ist sie in alle Ritzen des Ge- 
sellschaftsgbäudes eingedrungen und will zu einer neuen 
luftigen Halle heranwachsen. Wer vernünftig ist, 
der hemmt nicht den Strom, sondern sucht ihn zu 
leiten." 

Haeckels Antwort auf Virchows Münchner Rede 
erschien im folgenden Jahr unter dem Titel: „Freie 
Wissenschaft und freie Lehre". Es ist dies vielleicht 
die schönste Streitschrift, die Haeckel geschrieben, 
die schönste vielleicht, die der ganze Darwinismus- 
kampf gezeitigt hat. Hier kommt Haeckels Kampf- 
natur zu herrlicher Geltung, hier fuhrt er die Waffen 
so scharf und schneidig für eine grosse Sache der 
Kultur und doch gegen einen Gegner, dessen Grösse 
er nicht leugnet, für den die Verehrung in ihm noch 



— 248 — 

nicht erstorben ist. Nur die Sache trifft er, nicht 
die Person, nur mit tiefer Trauer sieht er einen 
Virchow unter den Feinden der höchsten Güter des 
n;iodernen Staates. Amicus Plato, amicus Socrates, 
magis amica veritas, dieser Gesichtspunkt leitet ihn. 
Im Eingang der Schrift preist Haeckel sein liebes 
Jena als unabhängige Zufluchtsstätte freier Wissen- 
schaft und freier Lehre. Dann zeigt er in lichtvoller 
Weise, dass die Descendenztheorie und die aus ihr 
gezognen Konsequenzen, wie die Affenabstammung 
des Menschen und die Cellularpsychologie , doch 
tiefer und besser begründet sind, als Virchow zu* 
geben will. Die Erklärung für die rätselhafte Stellung 
Virchows im Kampf um den Transformismus sieht 
er in der Entfremdung des Berliner Gelehrten von 
dem Zweig der biologischen Wissenschaft, in dem 
die Descendenzlehre die tiefsten Wurzeln ihrer Kraft 
besitzt, der Morphologie. Mit Entscbiedenheit wendet 
er sich gegen die Virchowsche Forderung, nur das 
objektiv Festgestellte zu lehren und führt in glänzen- 
der Beweisführung aus, dass es keine Grenze zwischen 
dem spekulativen Gebiet der Naturwissenschaft und 
dem tatsächlich errungnen und vollkommen fest- 
gestellten Gebiete gibt. Mathematik, Physik und 
Chemie, Geologie und Biologie, Philosophie und Ge- 
schichte, Sprach-, Staats- und Rechtswissenschaft lässt 
er Revue passieren, um zu zeigen, dass sie undenk- 
bar wären, wenn sie sich auf die Sammlung nackter 
Tatsachen beschränken und auf Theorieen und 
Hypothesen verzichten wollten. Und grade in der 



— 249 — 

Lehre der Probleme, der unsichern Theorien und 
wechselnden Hypothesen, die zur Erklärung dieser 
Probleme dienen, sieht er den Reiz und Wert des 
Unterrichts. Für den jugendlich strebenden Geist 
könne es nichts Bildendres und Bessres geben, als 
die Übung des Denkens an den Problemen der 
Forschung. 

Eine scharfe Zurückweisung erfährt auch Virchows 
Verquickung der Descendenzlehre mit der Sozial- 
demokratie. Haeckel sieht im Darwinismus eher 
eine aristokratische als eine demokratische oder gar 
sozialistische Tendenz. Aber er betont zugleich 
mit Recht, dass die politischen Konsequenzen, die 
aus einer wissenschaftlichen Theorie gezogen werden 
können, den Forscher überhaupt nichts angehen, 
dass dieser vielmehr allein die Aufgabe hat, nach 
der Wahrheit zu forschen und das, was er als Wahr- 
heit erkannt hat, zu lehren, unbekümmert darum^ 
welche Folgerungen etwa die verscbiednen Parteien 
in Staat und Kir-che daraus ableiten mögen. 

Zum Schlu^s seiner Schrift stellt Haeckel die 
Virchowsche Rede in Parallele mit der berühmten 
Ignorabimusrede , die Du Bois Reymond 1872 auf 
der 45- Versammlung deutscher Naturforscher 
in Leipzig gehalten hatte. Er sieht in dieser 
Rede nur den ersten Teil desselben Berliner Kreuz- 
zugs gegen die Freiheit der Wissenschaft, dessen 
zweiten Teil Virchows Restringamurrede darstellt. 
Er erinnert an frühre Zeiten, in denen grade die 
Berliner Gdehrtenwelt den wichtigsten Fortschritten 



— 250 — 

der Wissenschaft sich mit besondrer Kraft entgegen- 
stemmte, an den berühmten Grundsatz Stahls: die 
Wissenschaft muss umkehren, und an die Behandlung, 
die Caspar Friedrich WolfFin Berlin zuteil wurde. So be- 
klagenswert ihm ein derartiges Verhalten der Berliner 
Gelehrtenwelt auch erscheint, so sieht er darin doch 
andrerseits die Bewahrung vor dem grossen Übel 
der Centralisation der Wissenschaft. Und er schliesst 
seine glänzende Streitschrift mit den begeisterten 
Worten: „Wenn Emil du Bois Reymond sein Ignora- 
bimus und Rudolf Virchow sein noch viel weiter 
gehendes Restringamur zur Parole der Wissenschaft 
erheben wollen, so tönt ihnen aus Jena wie aus 
hundert andern Bildungsstätten der Ruf entgegen: 
Impavidi progrediamur." 

Darwin konnte natürlich nicht unberührt bleiben 
von diesem Geisteskampf zwischen zweien der her- 
vorragendsten Vertreter der deutschen Wissenschaft 
und des deutschen Universitätswesens. Er las Haeckels 
Streitschrift in der englischen Übersetzung mit dem 
grössten Interesse und fand diesmal kein Wort zu 
scharf, keinen Satz zu schroff. „Ich stimme mit 
allem überein, was darin steht^, schrieb er an den 
Verfasser. Mit bei ihm ungewöhnlicher Bitterkeit 
sprach er sich über Virchow aus, den Mann, dem 
er früher eine besondre Verehrung gewidmet habe. 
Er hoffe, dass Virchow eines Tages selbst Scham 
empfinden werde über das, was er getan habe. Und 
in bezug auf Virchows Verquickung von Descendenz- 
lehre und Sozialdemokratie schrieb er an Dr. Scherzer, 



— 251 — 

den Verfasser der Novarareise: „Was für eine törichte 
Idee über den Zusammenhang zwischen Sozialismus 
und Entwicklung durch natürliche Zuchtwahl scheint 
in Deutschland zu herrschen." 

Fünf Jahre nach den Münchner Ereignissen 
sprach Haeckel abermals auf einem Naturforscher- 
kongress. Hatte er in seinem Stettiner Vortrag für 
die Darwinsche Lehre die erste Lanze eingelegt, in 
seiner Münchner Rede die Fortschritte der Ent- 
wicklungstheorie gefeiert und ihre Einführung in den 
Schulunterricht verlangt, so gab er jetzt in Eisenach 
in seinem Vortrag über die Naturanschauung von 
Darwin, Goethe und Lamarck eine Apotheose des 
grossen Reformators der Biologie. 

Am 19. April 1882 war Charles Darwin aus 
seinem tatenreichen Leben geschieden. Zwei Monate 
vorher hatte Haeckel ihm von der Spitze des Adams- 
piks auf Ceylon den Gruss zum 73. Geburtstag 
gesandt, den letzten Gruss, den der dankbare Schüler 
dem geliebten Lehrer und Meister übermittelt. Auf 
der Heimreise von Indien ereilte ihn die schmerzliche 
Nachricht vom Ende des Mannes, der seinem Leben 
das Gepräge gegeben hatte. Im September desselben 
Jahres hielt er ihm die Weiherede und feierte darin 
zugleich den siegreichen Abschluss der transformisti- 
schen Kämpfe der vorausgehnden beiden Dezennien. 

Keine Stätte konnte wohl für dies Darwin geschul- 
dete Dankopfer geeigneter sein, als Eisenach mit seiner 
Wartburg. Hatte man doch vielfach das Reform- 
werk Darwins mit dem Luthers in Parallele gestellt. 



— 252 — 

Auch Haeckel leitet mit diesem Gedanken seine 
Rede ein, um dann den beispiellosen Erfolg zu 
schildern, den Darwin in dem kurzen Zeitraum von 
dreiundzwanzig Jahren errungen hatte. Die Ursache 
dieser ausserordentlichen Wirkung der Darwinschen 
Lehren sieht er nicht zum wenigsten in den seltnen 
Charaktereigenschaften des Mannes, der eine solche 
Riesenaufgabe löste. Nur ein Denker, der wie 
Darwin zugleich ein kenntnisreicher und scharfsinniger 
Naturforscher, wie ein weitblickender und umfassen- 
der Philosoph war, konnte dieser Aufgabe gerecht 
werden. Eine seltne Beobachtungs- und Urteilskraft 
verband sich bei ihm mit unermüdlicher Ausdauer 
in der Verfolgung der gesteckten Ziele, peinlichster 
gewissenhaftigkeit in der Zusammenstellung der Ge- 
sicherten Ergebnisse, reinstem Streben nach natür- 
licher Wahrheit und einfacher Offenheit in Mitteilung 
der Endresultate. Nicht minder rühmt Haeckel die 
ausserordentliche Bescheidenheit, mit der Darwin 
seine Ansichten vortrug, und die milde Sanftmut, mit 
der er auf die scharfen sachlichen Angriffe seiner 
Gegner antwortete, während er die persönlichen Be- 
schimpfungen einfach ignorierte. Anmutig belebt 
wird diese Charakteristik durch die Schilderung des 
ersten Besuchs, den Haeckel bei Darwin im Jahre 
1866 machte. 

Die Rede gibt dann der Überzeugung Ausdruck, 
dass der Glanz des Darwinschen Namens nur ge- 
winnen könne, wenn wir sehen, dass er in den wich- 
tigsten Grundsätzen seiner Naturanschauung eins war 



— 253 — 

mit einer auserwählten Anzahl der grössten Geister, 
die die Kulturgeschichte kennt. Unter ihnen feiert 
Haeckel vor allen Goethe und Lamarck als Vor- 
gänger des grossen Briten. Er sieht in ihnen wie in 
Darwin entschiedne Vertreter jener einheitlichen 
Weltauffassung , die eine zusammenhängende Ent- 
wicklung der ganzen organischen Natur annimmt, 
eine Entwicklung allein durch die Wirkung natür- 
licher Ursachen, mit Ausschluss aller äbernatürlichen 
Schöpfungswunder. Als Beweis dkfür, dass auch 
Charles Darwin kein kurzsichtiger Bekenner irgend 
einer besondern Kirchenkonfession war, teilt Haeckel 
einen Brief Darwins an einen Jenaer Studenten mit, 
in dem er schreibt: „Wissenschaft hat mit Christus 
nichts zu tun , ausgenommen insofern , als die Ge- 
wöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann 
vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen. Was mich 
selbst betrifft, so glaube ich nicht, dass jemals irgend 
eine Offenbarung stattgefunden hat. In betreff aber 
eines zukünftigen Lebens muss jedermann für sich 
selbst die Entscheidung treffen zwischen wider- 
sprechenden unbestimmten Wahrscheinlichkeiten." 
Haeckel schliesst daraus, dass die 'Religion Darwins 
keine andre war, als die Goethes und Lessings, La- 
marcks und Spinozas. Mit einem Preise dieser 
Männer, die uns durch ihre genetische und mo- 
nistische Naturanschauung zur lichten Höhe der Er- 
kenntnis geführt haben, schliesst die Rede. 

Überblickt man die lange Reihe wertvoller Bei- 
träge, die Haeckel zur Förderung der Entwicklungs- 



— 254 — 

lehre geliefert hat, so bemerkt man auf den Ge- 
bieten, die Darwins eigenste Forschungen berühren, 
eine bis fast in alle Einzelheiten gehnde Überein- 
stimmung mit den Ansichten des englischen Forschers. 
Auch in dem grossen Streit, der sich besonders nach 
Darwins Tod über die Vererbbarkeit erworbner 
Eigenschaften und die Tragweite der Selektions- 
theorie erhoben hat, hielt er treu an dem Standpunkt 
fest, den Darwin selbst einnahm, indem er sowohl 
die Eimersche Lehre von der Ohnmacht wie die 
Weismannsche Theorie von der Allmacht der Natur- 
züchtung bekämpfte und den Neolamarckismus nicht 
weniger als den Neodarwinismus als Einseitigkeiten 
zurückwies. Nur in einem einzigen Punkte ist er 
jemals den Ansichten seines Meisters entgegenge- 
treten. Als Darwin 1868 seine Theorie der Pan- 
genesis zur Erklärung der Vererbungserscheinungen 
veröffentlichte, da fühlte sich Haeckel sofort in ent- 
schiednem innern Widerspruch mit dieser Lehre, der 
um so stärker und unüberwindlicher wurde, je mehr 
er sich durch eingehendes Nachdenken mit ihr zu 
befreunden versuchte. Wie er selbst sagt, war er 
aber von viel zu hoher Verehrung für Darwin, von 
viel zu aufrichtiger Bewundrung für seine leitenden 
Ideen erfüllt, als dass er einer so umfassenden und 
grossartig angelegten Hypothese hätte entgegentreten 
und ihre Widerlegung versuchen mögen ohne irgend 
etwas andres an ihre Stelle setzen zu können. Er 
berührte daher in seinen Werken die Pangenesis zu- 
nächst nicht und veröffentlichte erst 1876 eine 



— 255 — 

kritische Darlegung, als er imstande war, ihr eine 
neue selbständige Hypothese, die Perigen esistheorie, 
gegenüberzustellen. Es ist nun rührend zu sehen, mit 
welcher Schonung hier Haeckel seine Kritik anlegt, 
wie ängstlich besorgt er ist, auch den geringsten 
Schein einer schroffen Opposition zu vermeiden und 
jedes Miss Verständnis nicht nur gegenüber Darwin 
selbst , sondern vor allem gegenüber den Wider- 
sachern der Entwicklungslehre zu vermeiden. Kaum 
anderswo erscheint seine grosse Anhänglichkeit, Ver- 
ehrung und Bewundrung für den englischen Forscher 
in so hellem Licht wie grade in dieser gegen ihn 
gerichteten Schrift. Sie zeigt aber auch zugleich, 
dass es Haeckel um die Wahrheit und nur um die 
Wahrheit zu tun war, und dass er ihr Ausdruck ver- 
leihen musste auch da, wo er sie dem Mann gegen- 
über zu verteidigen hatte, in dem er den grössten 
Repräsentanten der Wahrheitsforschung verehrte. 

Fanatische Gegner Haeckels haben nicht nur 
die tatsächliche Wahrheit, sondern auch die persön- 
liche Wahrhaftigkeit seiner Überzeugungen in Zweifel 
gezogen. Ihnen vor allen sollte sein Verhältnis zu 
Darwin zu denken geben. Die Verehrer des greisen 
Jenaer Gelehrten aber werden in dem innigen Zu- 
sammenwirken der beiden im Grunde ihres Wesens 
so verschiednen Geister stets eine der hellsten und 
ruhmvollsten Erscheinungen erblicken, die der grosse 
Darwinismuskampf des neunzehnten Jahrhunderts ge- 
zeitigt hat. 




B er icht ij^ung: 

Pag. 10 lies: „Humboldts 150. Geburtsug wird 
stille vorüber gehen" statt „ging stille vorüber" 



Buchdruckerei Roitzsch vorm. Otto Noack & Co. 



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