Skip to main content

Full text of "Goethe-schriften, ischer .."

See other formats 


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  bix>k  lhat  was  preservcd  for  gcncralions  on  library  sIil-Ivl-s  before  il  was  carcfully  scanncd  by  Google  as  pari  ol'a  projeel 

to  makc  the  world's  books  discovcrable  online. 

Il  has  survived  long  enough  Tor  the  Copyright  lo  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subjeel 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  terni  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  niay  vary  country  tocountry.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past.  representing  a  wealth  ol'history.  eulture  and  knowledge  that 's  ol'ten  dillicult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  marginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  lile  -  a  reminder  of  this  book's  long  journey  from  the 

publisher  lo  a  library  and  linally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  lo  digili/e  public  domain  malerials  and  make  ihem  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  cuslodians.  Neverlheless.  this  work  is  expensive.  so  in  order  lo  keep  providing  this  resource.  we  have  laken  Steps  lo 
prevent  abuse  by  commercial  parlics.  iiicIiiJiiig  placmg  lechnical  reslriclions  on  aulomatecl  querying. 
We  alsoasklhat  you: 

+  Make  non  -commercial  u.se  of  the  fites  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals.  and  we  reüuesl  lhat  you  usc  these  files  for 
personal,  non -commercial  purposes. 

+  Refrain  from  imtomuted  qu  erring  Do  not  send  aulomated  üueries  of  any  sorl  to  Google's  System:  If  you  are  conducling  research  on  machine 
translation.  optical  characler  recognilion  or  olher  areas  where  access  to  a  large  amounl  of  lex!  is  helpful.  please  contacl  us.  We  encourage  the 
use  of  public  domain  malerials  for  these  purposes  and  may  bc  able  to  help. 

+  Maintain  attribution  The  Google  "walermark"  you  see  on  each  lile  is  essential  for  informing  people  about  this  projeel  and  hclping  them  lind 
additional  malerials  ihrough  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use.  remember  that  you  are  responsable  for  ensuring  lhat  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  ihc  United  Siatcs.  lhat  ihc  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 

counlries.  Whelher  a  book  is  slill  in  Copyright  varies  from  counlry  lo  counlry.  and  we  can'l  offer  guidance  on  whelher  any  specific  use  of 
any  specific  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  means  it  can  be  usec!  in  any  manncr 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringemenl  liability  can  bc  quite  severe. 

About  Google  Book  Search 

Google 's  mission  is  lo  organize  the  world's  information  and  to  make  it  universally  accessible  and  useful.  Google  Book  Search  helps  readers 
discover  ihc  world's  books  wlulc  liclpmg  aulliors  and  publishers  rcacli  new  audiences.  You  can  searcli  ihrough  llic  lull  lexl  of  this  book  on  llic  web 
al|_-.:. :.-.-::  /  /  bööki  .  qooqle  .  com/| 


Google 


Über  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches.  Jas  seil  Generalionen  in  Jen  Renalen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Well  online  verfügbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 

Das  Buch  hat  Jas  Urlieberreclil  ühcrdaucrl  imJ  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  isi.  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheil  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar.  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren.  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Original  band  enthalten  sind,  linden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Niitmngsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.      Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.      Nichlsdcstoiroiz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  verhindern.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  für  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sic  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sic  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zcichcncrkcnnung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist.  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  für  diese  Zwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google- Markende  meinen  Das  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sic  in  jeder  Datei  linden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuchczu  linden.  Bitte  entfernen  Sic  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sic  nicht  davon  aus.  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  isi.  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sic  nicht  davon  aus.  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.   Eine  Urheberrechlsverlelzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.    Google 

Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unlcrslül/1  Aulmvii  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppen  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchlexl  können  Sic  im  Internet  unter|htt:'- :  /  /-■:,■:,<.-:  .  .j -;.-;.  .j _  ^  . .::-;. -y]  durchsuchen. 


*?! 


f 

f 

l 


?3F 


y 


** 


Fo3 


WA 


Et 


/ 


■   _  • 


(ßoetl)e-5d)rtftctt 


üon 


i  'l  <f* 


Äuno  $tfdjer. 


<\A. — 


£  r  ft  e   Keifte. 


«$* 


C 


1.  8oetfi.es  Ipßigenie.  *^ 

2.  Die  Äufctanuigsarten,  ([es  ©oetfiefcftcn  lauft. 

3.  ßoetües  Saffb. 


1 


fceibefoerg. 

Garl  Söinter'3  UniöerfitätSbu^^anblung. 

1890. 


:• 


1 


mt  fficd&te  üor&e&alten. 


m 

ar 

rl 
IL 


®oetfie~ScliiMften 


uon 


firnio  <4Ftfdjex% 


1. 


-••• 


®oet!je3  ^Ijtgettie» 


•» 


Sfcftöortrag 

gehalten 

in  Söeimar  ben  26.  2ttai  1888  bei  ber  brüten  ©eneral* 
tterfanimlimg  ber  @oet$e*@efeEfd)aft 


bon 


Ättno  t?ifdjer. 


äweit«  Sttf,»ae* 


<£art  2öinter'a  Unit>en:fität8&u(^anblunQ. 


2lflc  SRed&te  toorfie^altetu 


%n$att. 

I.  Die  ©ntßetpmg  ber  Sptjlgenie 7 

1.  S)aS  3aljr  1779 7 

2.  $ie  3pljt8enienfaa.e.     $te  taurifd)e  unb 

belpfjtfdje  3pl)tQente     13 

3.  Spljiaenie  auf  SautiS 17 

IL  Der  reltgtä|e  GtyaraRter  ber  Spljfgenie  ....  19 

1.  2>ie  ©enbung  3pljia.emen3 19 

2.  S)ie  ©emütfjSart  3p^tgenicnS 24 

III.  Die  Sdjulb  be*  ©antalu* 29 

1.  S)ic  ©age  unb  SpfyigentenS  Urtfjeü  .   .  29 

2.  3)a3  Urteil  bcr  Tarsen 31 

3.  3)ie  Jhmbe  beä  £i)oa3 31 

IV.  Die  ©ntßtynnng  be«  <Dre|t 34 

1.  S)ic  äBtebererfennung 34 

2.  £>ie  ©cntfitfäart  beä  Otcft 37 

3.  S)cr  üfluttermötber  unb  bie  (ürinntyen  .  39 

4.  S)ic  ßrlöfunö  bcS  Oreft 41 

V.  Da»  pteltoertretenbe  Äelben 45 

VI.  $ ptffgente  in  Wehttar  unb  in  Stallen 48 

VII.  Die  ©renfen  ber  üenfajtjeit  unb  üa*  ©öttltdje  5& 


-oD»<3*^- 


I«  |>te  gttfßeQimg  Iretc  Steigerte. 

1.  2>a3  3a^r  1779. 

2118  ber  gefd&aftsfüljrenbe  Sluäföufi  ber  Ijiefigen 
©oetljegefettfdjaft  bie  eljrentootte  ßinlabung  an  tmd) 
richtete,  bei  bet  bieSjäljrigen  ©enerafoerfammlung 
ben  3eftt)ortrag  ju  galten,  fo  fjabe  idj  in  meiner 
Bereitauüigen  2lnnaljme  midj  tooljl  jn  feljr  t)on 
ber  eigenen  Neigung  leiten  laffen  unb  gu  toentg 
geprüft,  ob  idj  e3  unternehmen  bürfe,  bei  einer 
folgen  ©etegen^ett  aber  ©oetfje  gu  fpredjen,  ba 
feit  längerer  3«t  mid)  arbeiten  onberer  SCrt  toon  ber 
23efd)äftigung  mit  unferem  ®id)ter  entfernt  gelten. 
3)enn  man  mufc  ftetig  in  iljm  le6en,  um  einen 
©egenfianb,  ber  in  feine  ßanbe  gehört,  eingeljenb 
ju  be^anbeln.  @o  forbert  e§  ber  unerfdjöpfltd&e 
©etft  feiner  SBerfe  unb  ber  beftänbige  Fortgang 
ber  if)tn  getmbmeten  Unterfudjungen.  Sine  foldje 
in    rüfUger    Arbeit    begriffene,    burd)    gludElidje 


8  3)te  <gntfte$uitft  ber  SMigetrie.  [8 

Stuffinbungen  belohnte  unb  loljnenbe  Sorfdjung, 
bic  ja^rlic^  Ujre  guten  3rüd)te  trägt,  ift  ber  Srotd 
unb  ©rfolfl  ber  toeimar'ftfien  ©oetljegefettfdjaft, 
San!  bem  erhabenen  SBitfen,  ber  fte  ins  ßeben 
gerufen!  3fdj  füllte  midj  Don  ber  Aufgabe  gelotft, 
in  SBeimar,  btefem  gegenwärtigen  9JittteIpun!te  ber 
©oetljeforfdjung,  über  ben  25idjter  gu  reben. 

Unter  ©oetljeS  toeltfunbigen  bramattfd&en  2)idj= 
tungen  finb  gtoei,  bie  feinem  ßeben  in  SBeimar 
unb  gtoar  ber  erften  nodj  jugenbltdjen  ^eriobe  beS= 
felben  iljren  Urforung  öerbanfen:  S^ljtgenie  auf 
£auri8  unb  Torquato  SEaffo,  SBerfe,  bie 
niemals  aus  ber  früheren  Seit  beS  ©turmS  unb 
SrangS,  aus  jenen  5ran!furtcr  Sauren  Ratten 
Verborgenen  fömten,  bie  in  ©ötj  unb  2Bertf)er,  in 
©atyroS,  SPrometljeuS  unb  ber  älteften  3fauftbidj= 
tung,  in  ©foöigo,  ©teüa  unb  ben  Anfängen  beS 
(Sgmont  ausgelebt  tourben. 

3i>l)igenie  unb  Staffo  ljabcn,  toa§  iljre  6nt= 
fte^ungSgefd^td^te  betrifft,  gemeinfame  ©djidfale 
gehabt:  SBeimar  toar  iljre  erfte  §eimatlj, 
Stauen  bie  gtoeite.  „SJieine  tiianifdjen  Sbeen 
toaren  nur  ßuftgeftalten,  bie  einer  emften  ßtyodje 
toorftmften."     @o  fdjrteb  ©oetlje  im  Januar  1788 


9]  3>a8  Satjr  1779.  9 

in  fein  ttalienifdjeS  SEagebudj,  tt>enige  SBodjen  bor 
feinem  Slbfd^iebc  Don  9iom,  als  er  tum  Ijier  aus  auf 
bie  legten  fünfjeljn  3aljre  feines  SebenS  jurüdblicfte. 

3)ie  ernfie  ßpodje  !am  nidjt  gtetd5  nüt  betn 
erften  Sage,  too  er  in  SBeimar  erfd)ien,  fie  fcradj 
fid)  attmäljlid)  f&afyn  unter  mancherlei  ©türmen, 
bie  nodj  ausgetobt  fein  toottten,  toie  unter  bem 
@ett)id)te  fdjtoieriger  kämpfe  unb  Aufgaben.  3)aS 
3faljr  1779  bejeidjnet  iljren  2)urdjbrud),  bie  be= 
beutfame  ©renjfd)eibe  innerhalb  ber  erften  ^eriobe 
ber  toeimar'fdjen  ©oet^ejeit  Don  feiner  Stnfunft  bis 
jur  italienifdjen  IRctfe. 

3n  biefem  Sfafjre  DoÜenbete  ©oetlje  fein  erfteS 
9Jtenfd)enalter,  er  trat  in  bie  fjüljrung  ber  ©taatS= 
gefd)äfte  unb  übernahm  bie  ßeitung  einiger  33er= 
ttjaltungSjtoeige ;  bann  folgte  feine  jtoeite  @d)toeiger= 
reife,  er  begleitete  ben  £erjog,  mit  bem  er  t>ier 
SRonate  lang  fo  gut  toie  allein  blieb.  Unterwegs 
erlebte  er  ©rinnerungen  feljr  ernfter  unb  rüljrenber 
3lrt,  loomit  er  öon  feiner  Siugenb  Reibet:  ber 
leijte  2lbfdjiebSgruf$  in  ©efenljeim,  baS  ©rab  ber 
©djtoefler  in  @mmenbingen !  -Jtadj  ben  ungeheuren 
©inbrficlen,  bie  er  mit  bzm  &erjog  gemeinfam  in 
ben  (SiSgebirgen  ©afcoijenS  erlebt  Ijat,  fiel)t  er  fidj 


10  Sie  entftefjunfl  ber  SMigente.  [10 

gum  gtoeitenmale  auf  ben  &öfyen  beä  ©ottljarb, 
t>or  ftdj  bcrt  2Beg  nad)  Italien,  aber  e8  lodtt  iljn 
nic^t,  ba8  ßanb  feiner  ©eljnfudjt,  benn  er  ljätt 
cS  für  geboten  unb  beffer,  mit  feinem  fürftlidjen 
ftreunbe  I)eimgufel)ren.  @r  füljlt  feine  Stellung 
in  SBeimar  unb  fein  perfönlidjeS  SSerijältnifc  gu 
$arl  Sluguft  als  eine  ©enbung,  bie  iljm  Befdjieben 
fei  unb  erfüllt  fein  tooüe  nidjt  Bios  burd)  SBerfe 
ber  SMd&tfunft.  „ßein  liebetooÖeg  SBort  !ann 
feinen  ©eift  entljüüen  unb  fein  ©efang  bie  Ijoljen 
2Bogen  fußen."  @r  liebt  ben  jugenbli^en  dürften 
unb  füljlt  fidj  Berufen,  iljm  audj  ein  ßeiter  gu  fein. 
n$loü)  ift  Bei  tiefer  Steigung  für  baS  SBafjre  il)m 
Srrtljum  eine  ßeibenf djaf t. " 

©djon  bamate  lebte  in  ©oetljeS  ©eele  jene 
fjofje  ©timmung,  toorin  ifjtn  fein  toetmar'fdjeg  ßeben 
alg  eine  getoidjtige  ©enbung  erfdjien,  bie  aud)  bem 
ßanbe,  baS  iljm  eine  gtueite  |>eimatfj  getoorben, 
inSbefonbere  aber  bem  £ergog  perfönlid)  getoeiljt 
fei,  an  beffen  SBefen  er  ben  toerftänbnifc  unb  liebe= 
tooffften  2lntf)eil  natjm.  6r  Ijat  biefe  ©timmung 
toier  3iaf)re  fpater  in  bem  Ijerrlidjften  aller  §of= 
unb  ©eBurtStagSgebidjte  toie  ein  feierliches  Se= 
fenntnife  auSgefprodjen : 


11]  3>tt3  3üfa  1779.  11 

$ier  ift  $u  fdjtoetQen  unb  ju  leiben  3^it, 
3$  bin  bir  nid&t  im  ©tanbe  felbfi  gu  jagen, 
2öof)er  id)  fei,  tter  tnic^  Ijterfjer  gefanbt, 
SBon  fremben  3<"ten  bin  idj  fjer  öerf^tagen 
Unb  burdj  bie  grcunbfdjaft  feftgebannt. 

2)ie  größte  poetifdfje  ©eburt  be3  3faljre8  1779 
tt>ar  bie  Spljigenie,  unb  bie  ernfte  ©runbftimmung 
beä  Sinters,  toorin  er  eine  grofce  unb  fjeilfame 
SDlifjton  öor  jtdj  faf),  Ijatte  ettoaS  ber  ©runbibee 
btefer  2)id)tung  toertoanbteS. 

Sei  aller  SWjnüd&feit,  bie  in  Slnfeljung  iljrer 
@uttt>i<felung§gefd£)idjte  jttnfd&en  ben  Stiftungen  ber 
Spfjigenie  unb  beS  S£affo  befielt,  fear  bod)  ber 
©ong  unb  bie  3lrt  iljrer  6ntftel)ung  fetjr  öer= 
fd&ieben.  SBäljrenb  ber  Saffo  in  SBeimar  begon= 
nen  unb  öottenbet  ttmrbe,  nadjbem  er  in  3taÜen 
utngeftaltet  unb  gereift  fear  —  er  nmdjS  nadj 
©oetljeä  fdjöner  SSergleidjung  tangfam,  toie  ein 
Orangenbaum  —  burd&lief  bie  ®id)tung  ber  3fplji= 
genie  a(§  ein  ©anje§  eine  Steige  Don  @nttt>t<felung3= 
unb  2lu3bilbung3formen ,  bereu  fünfte  unb  letjte 
erft  unter  bem  §immel  Italiens  gebief). 

6in  befonberS  gtinftigeS  ©dfjicffal  f)at  bei  biefem 
SBcrfe  bie  ßraft  be§  35id&tet§  beföttungt,  fo  ba& 
e§  aufcerorbentlid)  fd^nett  ju  ©tanbe  !am.     3fm 


> 


12  2)ie  (Sntfte^ung  ber  Spfjißenie.  [12 

erften  SBurf  ift  e8  fertig,  au§  einem  ©ufc,  in 
allen  toefentlidjen  3ügen  gelungen,  toie  biel  audj  im 
einjelnen  ju  änbern,  ju  feilen  unb  ju  beffern  toar. 
®en  14.  Februar  1779  ttmrbe  c§  begonnen*,  ben 
28.  2Hftrj  twffenbet.  @in  menfd&Udjer  Sujnter 
brauet  etwas  meljr  3eit  aU  ber  göttlidfje;  bie 
©eburt  ber  ©oetfje'fd&en  3ty!jigenie  fear,  tote  bie  ber 
SJHnerba ! 

<£r  Ijat  ben  vierten  2lct  auf  bem  ©d)toatbens 
ftein  bei  Slmenau  in  einem  Sage  getrieben. 
@8  toar  am  19.  3Jiärj  1779.  $af$  e3  ,,nad)  einer 
flßafjl  Don  brei  Sauren"  gefdfjeljen  fei,  ttrill  Stiemer 
3tt>eiunbffinfaig3fafjre  foäterbon  ©oetlje  gehört  fjaben. 
Slber  nadfjbem  bie  brei  erften  Slcte  in  brei  Sßodjen 
getrieben  toaren,  ift  nidfjt  ju  begreifen,  tt)te  ber 
inerte  Slct  ©egenftanb  einer  SBaljl  getoefen  fein  fott, 
bie  brei  Sichre  gebauert  Ijabe x.  Slud^  toeifc  ©oetfjeS 
Sfagebud)  nidjtä    batoon,  e3  berietet  unter   bem 

1  Set  2Bert$t  Ziemers  Ijat  gu  ber  Slnnaljme  geführt, 
ba$  bie  3>id)tung.  bet  3^igente  fdjon  1776  eniftanben  fei, 
al8  fia)  ©oetlje  mit  einem  $rauerg,ebid&te  auf  btn  %ob  bei 
IJHdjte  ©ludtö  trug;  er  Ijabe  bem  Sonbidjter  ber  aulif$en 
3pljig,enie  $u  (Sfljren  bie  2)idjtung,  ber  taurifdjen  unternommen 
unb  baburdf)  oielleidjt  ©lud  felbft  Quf  ben  ©ebanfen  ge* 
fcradjt,  aud)  eine  3$>1jia,enie  in  £auri8  ju  compomren,  bie 


13]   Sie  3t>5tgenienfaßf.    $ie  taurifd&e  wtb  belpfjiföe  3pf>igenie.    13 

19.  SJlarj:  „Slffein  auf  bcm  ©d&tt>at6enftein  bcn 
vierten  2lct  ber  3ft>l)igenie  gefd)rie&en". 

2.  S)ic  Q^igenienfage.    3)ic  taurifdje  unb  bic  betpf)tfdje 

g^igenic. 

2Bie  lange  Seit  bic  JBorkrettung  geteert  unb 
©oetlje  ütier  bcn  ©toff  bet  3tyf)igenienfage  unb 
feine  Raffung  berfelben  nad&gefonnen  fyat,  6i§  er  jur 
2lu§füf)ruug  beS  SBerfeS  fdjritt,  loiffeu  feir  nidjt. 
@r  ljat  biefen  ©toff,  in  toeldjem  fid)  bic  <£ultu3= 
fagc  Don  ber  SSerpffanjung  ber  taurifd&cn  2lrtemiS 
nad)  ©riedjentanb  mit  ber  trojanif^en  #eroenfage, 
mit  ber  ©rjäljlung  t>on  ben  grauenvollen  SDjaten 
ber  5|}eIopibcn,  toon  ber  £eimfeljr  beS  Agamemnon 
unb  ben  ©djidfaten  be§  £)refte3  toerfd)toiftert  Ijattc, 
aus  btn  gried)ifd)en  SEragifern,  ber  Dreftie  be£ 
2tefd)tytu3,  ber  eieltra  bc3  ©op^o!le§,  ben  3t>l)i= 
genten  beS  ßurifcibeS  unb  au§  bem  römtfdjen 

in  bemfelben  3a^rc  erfdjien,  worin  bic  ©oetfje'fd&e  ent* 
ftanben  toar.  (§crmann  ©rimm,  SBorlefungen  über  ©oetlje, 
XV.  6.  269-271.)  dagegen  ijat  (gridj  ©djtnibt  gang 
neuerbingS  tt>a^rfd^einlic^  gu  madjen  gefugt,  bafc  jene& 
Sraucrgcbi^t  ©oetljeS  Sßroferpina  fei.  (SHertelja^rS* 
fdjrift  für  8iteraturgefd&u$te  1888.  S3b.  I.  ©.  27-52.) 
9la%  2öietanb8  brief lidjen  Steigerungen  gegen  ©lud  ift  ba£ 
©oetlje'f  dje  £rauergebidjt  tooljl  gor  m$t  31t  ftanbe  gef  ommem 


14  ®te  gntftetywig  bcr  Sjrijigenie.  [14 

$abelbudje  beö  £ljginu§  lernten  gelernt  unb  fo 
umgeftaltet,  tote  e3  feinem  ©eniuS  unb  fetner  in 
SBeimar  gereiften  unb  Vertieften  8eben§anfd)auung 

3)en  ©runbjug  ber  ©uttuSfage  naljm  er  Von 
(SurtyibeS  auf,  um  ifyn  in  ber  eigenen  Stdjtung 
ju  tilgen.  2)er  9Jiuttermörber  foll  entfüljnt  fein, 
toenn  er  ba$  SSilb  ber  taurtfdjen  ©öttin  nad) 
©riedjenlanb  bringt.  Sei  Surtyibeä  ift  btefeö  Siel 
Sitten,  bei  ©oetlje  ©elpfji.  3tyotto  verlangt  nadj 
ber  ©djtoefter,  fein  ßrafelfprud)  ift  ätoeibeutig: 

33ring,ft  bu  bie  (sdjtoefter,  bic  an  üauris  Ufer 
3m  §eüiatfjume  n>tber  Söiflen  toeilt, 
9tadj  ©rie<f)enlanb ,  fo  löfet  fitfj  bcr  3flu<$. 

SJerftanbeu  unter  biefem  SQßort  toirb  von  bem 
@d)ttlbigen  bie  ©d)tt>efier  be§  ©otte§,  gemeint  ift 
bie  be3  DrefteS.  ©er  glud)  toirb  gelöft  nidjt  burd) 
eine  bem  ©ott  tooljlgefällige  ©ultuSljanblung,  fon= 
bern  burdj  bie  ßauterleit  unb  Siebe  ber  ©djtoefier1. 
3n  bem  römifd)en  ftdbzlbufyt  f)atte  ©oetlje 
uod)  eine  toettere  Qfortbilbung  bcr  3tyt}igenienfage 

1  „Wit  menfdjltdjen  ©ebretfjen  fü^net  reine  SJtenfdj* 
lidjfeit."  S5iefe3  äöort  f^rieb  ©oetlje  in  ein  6jetnplar 
feiner  SMdjtung,  btö  er  adjtunbbieraia,  3^te  nad)  beren 
<£ntfteljunQ,  einem  vortrefflichen  S)arftefler  beS  Creft  fdjenf te. 


15]   5Die  SMigemenfase.   $te  taurtfd&e  unb  belpljtfd&e  Spljigeme.    15 

gefunben,  toeldje  in  S)elpl)i  fpielt.  2)er  tragifdje 
€>toff  fyrtte  ftd^  ju  einer  £rilogie  auSeinanberge* 
legt:  3fpl)igenie  in  2luli3,  in  StauriS,  in  2)elplji. 
^ierljer  fei  ßleftra  gegangen,  um  bon  bem  Orafel 
ba§  ©d&idffal  beö  ÜBruberS  gu  erfunben,  nad)bem 
fie  gehört,  bafc  er  in  SEauriä  ber  ©öttin  geopfert 
ttwrben  fei;  fte  bringt  btö  33eil  mit  fidj,  too= 
mit  Ältytätnneftra  ben  Agamemnon,  DrefteS  bie 
fötutter  erfdjlagen  Jjat,  um  e§  im  §eiligtljum  beö 
@otte§  niebergulegen ,  bamit  eä  ru^e.  Spljigenie 
fommt  mit  Drefteä  unb  5ßt)labe3,  bie  fie  gerettet 
tjdt,  nadj  ©elplji  unb  tt>irb  l)ier  ber  (Sleftra 
aU  bie  5Prieftertn  6e3eid)net,  bie  ba§  Dpfer  boÜ= 
jogen  fjabe.  @d)on  ergebt  jene  ba§  33eil,  um  ben 
S3ruber  ju  rotten,  ba  erfolgt  bie  SBiebererfennung 
unb  ^Bereinigung  ber  ©efdjtoifter. 

<£§  toax  tooljt  biefe  ©age,  bie  ©oetljen  betoogen 
Ijat,  ben  Drafelfprudj,  ber  ben  DrefteS  nad)  2auri§ 
fenbet,  fo.  umäugeftalten,  ba%  biefer  ba§  SBilb  ber 
©öttin  nad)  ©elplji  bringen  fott.  ®amit  toar 
in  ber  Spljigenie  in  £auri§  fdjon  bie  in  ®elplji 
angelegt  unb  motimrt,  ganj  nad)  ©oetfjeS  3lrt,  ber 
©lieb  in  ©lieb  fügt.  S)iefer  Slnlage  gemäfc  fottte 
(Sleftra,  bie  ben  ©prud)  unb  bie  ©enbung  fennt, 


16  $te  Gntftefjung  ber  3Migeni«.  [16 

nad)  ©clplji  geljen,  um  f}ier  ben  ©ruber  gu  er= 
toarten,  unb  bcr  fünfte  Slct  biefer  jtoeiten  3fol}igenien= 
bidjtung  foflte  bie  SBiebererfennung  enthalten. 
@r  fd&rteB  ben  18.  Dctober  1786  bon  »otogne* 
an  bie  ^reunbin  in  SBeimar:  „£eute  frülj  Ijatte 
\$  bas  ©lütf,  t)on  Sento  Ijerüberfaljrenb,  jttrifdjen 
©djtaf  unb  SBadjen  ben  5ßlan  jur  Spljigeme  auf 
2)efyl)o3  rein  gu  ftnben.  @§  gießt  einen  fünften 
2lct  unb  eine  SBiebererlennung,  beSgleidjen  ntd&t  öiet 
foK  Qufjutoeifen  fein.  3d)  Ijabe  felfcft  barüber  ge- 
toeint  toie  ein  ßinb."  „SBenn  biefc  ©cene  gelingt", 
fagt  er  in  ber  foateren  @rjäf)tung  ber  italienifdjen 
sJteife,  too  er  ben  5ßlan  ettoaS  nläljer  barlegt,  „fo 
ift  nidjt  leidjt  ettoaS  ©röfcereS  unb  Stüfjrenbcrea 
auf  bem  Slljeater  gefe^en  toorben". 

9hm.  ttmrbe  aber  in  ©oetljeg  taurifd&er  3pt|i- 
genie  ber  Drafelftmtd),  ber  nadj  2)elpl)i  ttrieS,  in 
einem  gang  anberen  ©inne  erfüllt  als  in  bem  ber 
<£uttu§fage.  SDaS  93itb  ber  ©öttin  blieb  in  SEauriS, 
bie  ©efd&toifter  gingen  nadj  9ttt)Ienä  unb  Ratten 
feinen  ©runb  meljr,  nad)  3)efylji  gu  toanbern, 
loentgftenS  nidjt  ben,  toeldjer  bie  Gleftra  bort  ben 
33ruber  ertoarten  liefe.  -Jiadjbem  auf  biefe  Slrt  btö 
S3anb,  bag  bie  befyljifdje  Styljigenie  mit  ber  taurifdjen 


I 


17]  aMigenie  auf  Säurt*.  17 

toerfnüpfen  foöie,  in  bcr  legieren  abgefänitten  fear, 
modjte  es  für  @oetf)e  toeit  leidster  fein,  ben  fünften 
3lct  ber  Spljigenie  in  ©efylji  gu  finben,  als  ben 
erjien. 

3.  Sp^igenie  auf  SauriS. 

SBeldjer  merftoürbige  ©ang  bcr  ©djidfale,  ben 
unfere  beutfd&e  Styljigenie  erlebt  tjat!  3ff)rer  erften 
SSottenbung  in  rl$tljmif<f)er  5ßrofa  folgten  fogleitfy 
bie  erften  Aufführungen  auf  bem  fürftlidjen  Sieb= 
Ijabertljeater,  bie  britte  gefd&al)  bm  12.  3fuli  1779 
in  ©tterSburg:  Corona  gab  bie  Spljigenie,  ßarl 
Stuguft  ben  SßtytabeS,  ©oetf)e  ben  Drefi.  (Sin  2lugen= 
geuge  f Gilbert  ben  unöergefjlidjen  3lnb(itf:  „©oetlje 
in  griedjifdjer  Straft,  ttrie  ein  Styott  l)era6geftiegen, 
um  bie  @df)önf)eit  ©riedjenlanbs  gu  berfötpern  unb 
im  SBort  gu  beleben!  9lie  tourbe  eine  gleite 
^Bereinigung  geiftiger  unb  pljtyfifdjer  a3oÜfommeu= 
Reiten  gefeljen." 

3>ie  erfte  Ausführung  in  $rofa  Ijatte  fedfjS 
SBod&en  gebauert,  bie  letjte  in  ber  metrifdjen 
(form,  toorin  bie  SBelt  biefe  ®id&tung  gu  lefen 
unb  gu  Ijören  getoöfjnt  ift,  braudjte  fcier  2ttonate: 
toom  12.  September  1786  bis  gum  12.  Januar  beS 
folgenben  ^aljreS.  ®ie  §eimatlj  iljrer  fd)öj)ferifdf)en 

St.  gfifdjer,  ©oetlje  -  ©ä)rifteu.  2 


18  Sie  gntfte^ung  ber  ^^tgenie.  [18 

©eftattung  mar  ©oetljeS  ©artenljauS,  ba£ 
©djlö&d&en  in  ©ornburg,  Slpolba,  too  bcr 
Äönig  £fjoaS  rcbcn  fottte,  aU  ob  bie  @trumj)f= 
ttrirfer  nitft  lungerten,  »uttftäbt,  StUftebt, 
bcr  ©djfoalbenftein  unb  SBeimar.  ©ie  £eimatlj 
iljrer  legten  Sfortnöottcnbung  toar  am  ©arbafec, 
Söcrona,  SBtcenja,  SBenebig,  ^Bologna  unb 
Slotn! 

©oetlje  fiattc  Sftelruten  auäjuljeben  unb  ben 
SBegebau  ju  beauffidjtigen ,  tüoju  audf)  baS  toei= 
mar'fdje  ©tra^cn^flaftcr  gehörte,  ate  er  bic  3S^i= 
genie  fdjuf.  3fn  SButtftöbt  fafj  t^n  Änebel,  Don 
Stefruten  umgeben ,  bic  ©onf  crtytionSliften  auf  bem 
Sltfd),  barunter  bte  §anbfd)rift  bcr  Spljigenie. 
SBäre  e3  nid)t  ©oetfje,  man  fönnte  an  eine  ©cenc 
in  §einridj  IV.  erinnert  fein! 

3n  ©ologna  fal)  er  ba§  SBtlb  ber  Ijettigen 
5lgat^e:  ,,3fd)  Ijabe  mir  fie  tooljt  gemerft", 
fdfjrieb  er  ber  ^reunbin,  ,,id)  »erbe  biefem  3beal 
meine  Sfp^tgcme  toorlefen  unb  meine  &elbin  nidfjts 
fagen  laffen,  toa3  biefe  fettige  nidfjt  fagen  lönnte1/' 

1  ©Triften  bcr  ©oetlje  «©efeflfäaft.  »b.  II,  $erau8* 
gegeben  bon  @ri$  ©d&mibt.  6. 188.    (S)en  19.  Oct.  1786.) 


19]  $ie  Genbitng.  19 

II.  3>e*  teßgidfe  gflaraftfer  ber  3>p(Kgroie. 

1.  2)ie  ©enbung. 

Snbeffen  f)ätte  unferer  Sfoljigenie  feine  3form= 
DoÜenbung  ben  SluSbrucf  einer  ^eiligen  öerleifjen 
fönnen,  foenn  ntd^t  iljr  (S&arafter  toon  ©runb  aus 
fo  gejlimmt  unb  gerietet  toar,  bafc  in  jeber 
Sleujjerung  eine  £o!jeit  unb  ÜDtübe ,  eine  ftifle,  un= 
naljbare  Qfaffung  unb  eine  liebevolle  fanfte  Streit 
nannte  erfdfjeinen  mußte,  mit  ber  fidf)  aud&  bie 
teifefte  £ftrte  ober  ©dfjroffljeit  nidf)t  meljr  bertragen 
tooKte.  @ine  foldfje  ©emütljStoottfommenljeit  reift 
nur  attmftljtid)  im  Seben  ttrie  in  ber  3)id(jtung. 
Sie  ©eburt  ber  3fof|igenie  gefd&af)  fdjnett,  iljre 
SluSbtfbung  langfam,  in  einer  Steige  öon  5ßl>afen, 
toobei  bem  2)idjter  ba3  SM  befiänbig  toorfd&toebte 
unb  er  juletjt  bie  ^eilige  in  93ologna  ju  &ülfe  naljm. 

3Ba8  Don  bem  SBefen  ber  3^igenie  gilt,  mufc 
öon  ber  gangen  S)id^tung  gelten,  in  beren  Söiittefc 
jmnfte  fie  fte^t.  35on  ben  jtoanjig  Auftritten  unfereg 
©djaufjuete  erfdjjeint  3l)^igenie  in  fedj3gef)n,  bar= 
unter  in  fünf  SDhmologen.  S)er  retigiöfe  ©runb= 
gug,  ber  fie  unb  bie  ©idjtung  beljerrfdfjt,  ift  fo 
mäd&ttg,  bafe   unter  feiner  ©etoalt  aüe  erotifd&en 

2- 


20  $et  teUfliöfe  tSljatafter  ber  3Migente.  [20 

©efüljle  fdjtoeigen,  unb  audfj  bm  Äönig  in  feiner 
SBerbung  nid)t  befümmen,  gefdjtoeige  mit  fidj  fort* 
reiben.  Siefen  reügiöfen  ©fjarafter  näljer  gu 
beleudjten,  ift  baS  3tel  meiner  Siebe.  @3  fjiefce 
ju  toenig  fagen,  toottte  man  nur  auf  bie  SBaljr* 
Ijaftigfeit  unferer  3fpl)igenie  fjintoeifen,  bie  im 
©egenfat}  ju  ber  beS  <£urtyibe3  ben  33etrug  ntd^t 
über  ftd)  bringt.  2Bat)rf)aft  im  Ijödjften  ©inn  ift 
aud)  Slntigone  gegen  «Kreon,  loaljr  ift  ober  toirb 
audj  JfteoptotemoS  gegenüber  bem  5J3f)tfoftet  im 
©egenfat}  jum  DbljffeuS. 

Sin  bie  ©teile  eines  DrafelforudjS  laßt  ©oetfje 
in  feiner  2)idjtung  bie  ©rfüttung  einer  religiöfen 
©enbung  treten,  fcon  ber  feine  £elbin  fidj  getragen 
füljtt.  @ie  ftammt  aus  einem  §ol)en,  ftuc^=  unb 
fdjulbbelabenen  ©efdjledjt,  in  toeldjem  bie  3Ser= 
lettung  fd)re<ßid)er  Saaten  unb  ©efd^ide  burdj  fünf 
©enerationen  fortgetoirft  fjat:  Don  ÜantaluS  buref) 
^elopS,  beffen  ©öljne  unb  @nfel  bis  gum  Dreft, 
SIgamemnon  Ijat  burdf)  feine  33ermeffenf)ett  ben 
3orn  ber  3lrtemiS  gereijt  unb  iljr  feine  erftgeborene 
S£od)ter  Styfjigenie  opfern  muffen.  S)ie  £od)ter  ju 
rädjen,  erfdjlägt  cßfytämnefira  mit  ifjrem  Suhlen 
ben  fjeimgefeljrten  ©emafyt;  ben  SBater  ju  rftd&en, 


31]  &te  ©enbung.  21 

ermorbet  Dreft  bie  S0luttcr  unb  toirb   t>on  ben 
fjurien  Verfolgt. 

9TBer  bic  ©öttin  Ijat  3tyljtgem«n  gerettet  unb 
Ttadj  Xauxü  gebraut,  too  fie  in  iljrem  #eiligtl)um 
als  ?ßriefterin  bient,  mitten  in  bem  fünbljaften 
©efdjledjte  bie  eingige  reine  unb  fdjulblofe 
©eele,  iljrem  ^aufe  plötjlid)  burdfj  ©ötterljanb 
entrüdft  unb  in  ein  fernes  33arbarenlanb  berfefct, 
too  fie  einfam  lebt,  t>on  &eimtt)elj  erfüllt  unb  toon 
beut  SSertraüen,  bafc  fie  burd)  eine  göttlidje  Stljat 
#u  einem  Ijöljeren  3toccf  betoaljrt  fei,  at§  nur  ba§ 
ßeben  gu  friften.  „grei  atljmen  mad)t  ba3  ßeben 
niefet  allein."  „6in  unnülj  ßeben  ift  ein  früljer 
S£ob."  ©ie  glaubt  fid)  gerettet,  um  bie  Retterin 
ifjreS  Kaufes  gu  toerben:  bie§  fei  iljre  geljeimnifc 
toolle  ©enbung,  bie  nur  erfüllt  toerben  fönne,  toenn 
fie  bie  eigene  Seele  rein  unb  fdjulbtos  erhalte. 
@ie  fleljt  gu  iljrer  ©öttin: 

Bü  jpefc  au$.  mi4  ben  meinen  enblid)  toieber 
Unb  rette  mt<5,  5te  btr  t&m  %ok  ernte*, 
9ütdj  Don  bem  ßeben  ljier,  bem  gtoeiten  Slobe! 

©ie  bittet  ben  ßönig: 

ßafc  mid)  mit  reinem  §ergen,  reiner  §anb 
^inübetgetyn  unb  imfer  §au8  entffiljnen. 


V 


22  $er  reltgiöfe  ^araftet  bcr  ^tgenie.  [22 

2Bie  tief  fie  ben  ©ebanfen  einer  folgen  ©en= 
bung  tri  iljrem  3innerffrn  gehegt  l)at  unb  Ijegt, 
fagen  in  bem  ©elbftgeforäd) ,  toeldjeS  tljrer  legten 
Unterrebung  mit  ?ßt)labe3  folgt,  bie  SBorte: 

@o  Ijofft'  idj  benn  bergebenS  fjier  bertoatyrt, 
93 on  meines  §aufe3  6d)icffal  abgefdjteben, 
3)ereinfi  mit  reiner  §anb  unb  reinem  bergen 
$ie  f<$tt>er  befleefte  äöofjnung  ju  entfüljnen! 

@eit  SEantaluS  trögt  i^r  ©efd&tedjt  ben  £afc 
ber  ©ötter.  35icfe  ifjrem  £anfe  toieber  ju  toerföfjnen, 
ift  bie  erlöfenbe  £ljat,  ju  ber  S^igenie  fidf) 
berufen  glaubt;  Ijat  fie  bo<$  burd)  bie  eigene  Rettung 
erfahren,  bafc  bie  ©ötter  gut  unb  tnenföenf reunbtid), 
barum  aud)  öerföfjnlid)  ftnb: 

2>enn  bie  Unfterbltdjen  lieben  ber  9Jtenfd)en 
SDöeit  berbreitete  gute  ©efd&led&ter 
Unb  fie  friften  bat  ftfidjtige  Beben 
(Seme  bem  Sterblichen,  tooEen  itjm  gerne 
31)reS  eigenen,  ewigen  #tmrael3 
9Jtttgeniefcenbe8  fror)Iid^ed  Slnfdjaun 
@ine  äöeile  gönnen  unb  laffen. 

®ie  ©öttin,  beren  ^riejterin  fie  ift,  ift  Ja  audj 
bie  ©öttin  beS  9ÄonbeS: 

Unb  bein  83Iitf  ruljt  über  ben  Steinen, 
2öic  bein  ßic^t,  baä  ßeben  ber  <RS$te, 
Ueber  ber  @rbe  ruljet  unb  toaltet. 


23]  3)ie  ©enbuiiß.  23 

©ie  Uxät  gu  her  ©öttin  beS  9ttonbe3  eutyor, 
toie  iljr  2)id)ter  (für g  Dörfer)  gu  bem  SBtonbe  f  elbft : 

Sreiteft  über  mein  ©eftlb 
ßinbernb  bellten  S3licf, 
SGÖie  beä  SfteunbcS  2lua,e  milb 
lieber  mein  ©efdjtcf. 

3^r  JBertrauen  auf  bie  ©fite  unb  9Jienf<$en= 
freunbiidtfeit  ber  ©ötter  ftärft  ba§  ©efityt  Ujrer 
©enbung  unb  btc  Hoffnung  auf  beren  6rfüttung. 
SBenn  biefer  ©laube  fic  täufd&te!  SBcnn  jener  3flud), 
ber  ben  S£antalu§  getroffen  unb  in  feinem  @e* 
f djledjte  fortgetoirft  fyrt,  audj  fic  ergriffe  unb  nötigte, 
um  ben  33ruber  gu  retten,  ettoa§  gfludjtuürbigeS  gu 
tljun,  bann  toären  bie  ©ötter  unöerföljnUd)  unb 
nur  fürdjterltd) : 

Soor  meinen  ßfyren  tönt  baä  alte  Sieb, 
JBergeffen  Jjatt'  i$'S  unb  öergafe  e8  gern, 
S)ci8  Sieb  ber  ^arjen,  bas  fte  graufenb  fangen, 
%U  £antalu$  t>om  golbnen  ©tutjle  fiel: 

©3  fürdjte  bie  ©ötter 

S)a8  3ttenf<$enöef$led&t! 

6ie  galten  bie  §errfd)aft 

3n  eitrigen  £änben 

Unb  fönnen  fte  brausen, 

2öie'3  tfyten  gefällt. 

SBBer  toirb  Stecht  behalten:  ber  ©laube  unb 
bie  Hoffnung  Sfp^igenienS  in  if)rem  ©ebet  an  bie 


24  2>er  reltgiöfe  (Styatafter  bei  3p$igenie.  [24 

©öttin  ober  jenes  alte  graufige  $Parjenlieb, 
toeldjeS  fie  fd&on  bergeffen  Ijatte,  unb  ba3  iljr  un* 
toitffürttdfj  in  ben  ©inn  lommt,  ba  fie,  t)on  Stabes 
gebrängt,  ben  33ruber  retten  fott,  inbem  fie  ben 
SttjoaS  Betrügt?  2Jtit  bem  ©ebet  fdfjüefct  ber  erfte, 
mit  bem  ^Jarjenlieb  ber  Dtette  3Ict  unfereS  ©dfjau* 
ftriefä,  ber  letjte  bringt  bie  (Sntfdfjetbung.  3Jlan 
fönnte  bas  gange  SEIjema  ber  Sichtung  imb  aud& 
beren  ©Keberung  in  bie  Qform  biefer  3*age  unb 
i^rer  ßöfung  f offen.  ®en  ©df)tuf$  be3  jtueiten  SlcteS 
fiifbet  bie  (grgaljlung  be8  5jfylabe§,  tooburdj  Spfy* 
genie  baS  ©d&idffal  iljreS  SßaterS  erfahrt,  ben  ©d&tufe 
be§  brüten  bie  Sntfütjnung  be8  Dreft,  btn  beS 
legten  ber  2tbfd)ieb. 

2.  2>ie  ©emütf)8art  3pf)igenienS. 

S^igenie  fönnte  iljre  ©enbung  nid)t  erfüllen, 
toenn  nidjt  i^re  ©eele  Don  ben  ©türmen  ber  8eiben= 
föaften,  bie  in  bem  £aufe  ber  üantatiben  getoütljet 
$aben  nnb  forttoütfjen,  toöKig  unberührt  geblieben 
toäre.  ©ie  lebt  in  jenem  @emütf)3guftanbe  einer 
füllen  unb  tief  nadf)  innen  geridjteten  Qfaffung,  für 
toeldje  ein  großer  beutfdfjer  Sötyftifer  einen  fdjönen 
2lu3bnuf  gef unben  Ijat,  ber  audj  in  unferer  ©id&tung 


25]  Sie  ©emittiert  3p$igenieii§.  25 

nidjt  feljtt.  2)er  SKeifter  @clart  fat  biefe  2Binb= 
fiiffe  ber  Segierben,  biefe  gottergebene  2BiHen8ru§e 
bte  ©elaffenljeit  genannt.  ®8  ift  bie  Sftulje,  mit 
toetdjer  auf  bie  ffrage  be§  2trla3: 

2öittft  bu  benn  alles  fo  gelaffen  toagen? 

Spljigenie  antwortet: 

3$  §ab'  es  in  ber  ©ötter  $anb  gelegt. 

3fn  ityrer  ungetrübten  Älar^eit  erlennt  fie  bie 
6d)i<ffale  U)re3  ^aufeS,  fie  fteljt,  toie  alles  ge= 
lommen  ift  unb  fo  fommen  mufcte,  ba  jftgellofe 
5lffecte  ben  gewaltigen  SBitten  mächtiger  SJienfdjen, 
bie  nid&ts  ljemmte,  ttnber  einanber  in  2tufruf)r  ge= 
Bracht  Ratten.  Ungeheure .  ßraft,  gepaart  mit  un= 
geheurer  JBerblenbung!  ©o  öerfjiett  e§  fidj  mit  ben 
3?ad)fommen  be3  S£aritalu8: 

3toar  bie  getoalt'ge  JBruft  unb  ber  Titanen 
ÄraftboffeS  3Jlarf  toar  feiner  ©ö^n*  unb  ©nfel 
©etoiffeS  ©rfctljeil;  bodj  e3  fdjmiebete 
$er  ©ott  um  ifjre  ©tirn  ein  efjern  Stonb. 
9lat$,  2Jtaf$igung  unb  SBeiSljeit  unb  ©ebulb 
JBerbarg  er  ifjrem  fdjeuen,  büfiern  83Iicf; 
3ur  Söutlj  toarb  ifjnen  jegliche  Segier, 
Unb  grenzenlos  brang  iljre  SButlj  untrer. 

23on  ©efd&led&t  ju  ©efdjledjt  toad)fen  burdj  tljre 

Sorterbung  bie  ßeibenfdjaften  unb  mit  iljnen  bie 

Untaten.    2Ba3  in  ber  entarteten  2ftenfdjl)ett  nadj 


26  $er  teligiöfe  C^arafter  ber  geigen  te.  [26 

ber  alten  ßirdjenleljre  bie  ©rbfftnbe  Ijeifct,  nennt 
bie  fjeutige  ßnttoidfelungSleljre  im  ©uten  tote  im 
SBöfett  baS  ©efet}  ber  SBererbung: 

3>enn  e8  erzeugt  nidjt  glei$ 

ein  §au8  ben  Halbgott  nodj  baö  Ungeheuer; 

6frft  eine  9teü)e  SBöfer  ober  ©uter 

©ringt  enblidj  ba8  (Sntfefcen,  bringt  bie  fjfreube 

2)er  äöelt  ijeröor. 

Um  baS  Uebel  gu  feilen,  mu&  man  es  bis  auf 
ben  ©runb  erfennen.  @o  flar  erleudjtet  fid)  3fpl)i= 
genie  bie  ©efd&td&tc  iljreS  &aufeS,  fo  erjäljlt  fie 
biefelbe  bem  Könige ;  fie  tfjut  es  unfreiwillig,  benn 
itjre  £erfunft  foüte,  toie  tljre  ©enbung,  iljr  ©e= 
t)eimnif$  Bleiben: 

@inmat  oertraut,  berlä&t  e8  oljne  Stüiffeljr 
£)e8  tiefen  ^erjenä  fid&re  SBoljnung,,  fdjabet, 
äöie  e*  bie  ©ötter  motten,  ober  nüfct. 
Vernimm!  3$  bin  aus  Xantalu8'  ©efd&leä)t. 

betroffen  Don  biefer  ©röfce  iljrer  §erfunft  unb 
Don  bem  SEon  ber  Shtlje  unb  Ergebung,  toomit  fie 
biefelbe  befennt,  fagt  SEIjoaS: 

2)u  fpridtft  ein  grofeeS  äöort  gel äffen  aus. 

4  9hm  entfjüHt  fie  bie  Untaten  iljreS  ©efd&ledjts, 

fo  toie  fie  gefdjefyen  finb,  bis  auf  ben  ©runb,  aus 

bem  fte  Ijeroorgingen,  bis  in  baS  innere  @lenb,  baS 
fie  3ur  3Wge  Ratten;  fie  malt  es  mit  jtoei  SBorten: 


27]  $ie  ©emüttjSart  ^igenien«.  2? 

ftati),  ÜRftfcigung  unb  2öel8f)eit  unb  ©ebutb 
Verbarg  et  intern  freiten,  büftern  Stiel. 

2)iefe  ßrjäljlung  3pl)igenicn3  toon  ber  fdjred= 
lidjen  SBergangenljeit  iljreS  &aufe3  ift  mir  immer 
afe  ein  betounberung3tt>ürbigeg  2Berl  ©oetlje'fdjer 
2)id)tfunft  erfdjienen.  ©ie  fdjitbert,  toie  bie  ©räuel 
ftdj  überbieten,  fie  malt  ben  eignen  ©rofctoater,  ben 
entfei}lid)en  2ltreu§,  toie  er  ahnungslos  an  bem 
eigenen  @of)n  feine  3fcad)gier  mit  tuoflüftiger  ©rau* 
famfeit  fftttigt: 

£)er  Äönig 
©traft  graufam  ben  gefanbten  3Jcörber,  nmljnenb, 
<£r  tobte  feine«  33ruber8  ©oljn.    3u  foät 
(SrfcHjrt  er,  toer  bor  feinen  trunf neu  2lugen 
©emarteTt  ftirbt;  unb  bie  Segier  ber  SRac&e 
2tu8  feiner  JBruft  au  tilgen,  finnt  er  ftitt 
2luf  unerhörte  Sfjat. 

Unb  öon  bem  Srbfeinb  ityreä  §aufe8,  bem 
graufen  SCljtjefteS  bei  jenem  SÄafjle,  bem  bie  ©onne 
nid)t  metyr  leuchten  tooßte,  Ijat  fie  menfdtfidje  3üge 
betoafyrt,  plötflid)  ertoadjte,  rüfjrenbe  Regungen  ber 

SSaterliebe: 

2)a  —  eine  Söeljmutfj  iljn  ergreift, 

(Er  naä)  ben  Aiubern  fragt,  ben  Stritt,  bie  ©timme 

$er  Knaben  an  beg  6aale8  Eljfire  fd&on 

3u  työren  glaubt,  nrirft  2ttreu3  grinfenb 

3fjm  $aupt  unb  Sfufee  ber  (grfdjlag'nen  Ijin. 


4 


28  ©er  reltgiöfe  e^araftcr  bei  3Mtgenie.  [28 

@ie  toerfdjtoeigt  ittdjts,    fic  bcfd^öntgt  nidjtS, 
r  fte  befennt  jtdj  ju  biefcm  ©efdjledjte  her  33ruber= 
unb  ßtnbermörber,  bie  (Snfeltn  be§  3ttreu§,  ber 
betn  SEf)t)efte§  btc  ©öljne  gefd)ta$tet  Ijat: 

S)u  toenbeft  fdjaubernb  beut  ©eftdjt,  o  Äönig, 
6o  toenbete  btc  ©onn'  iljr  Slntlifc  toeg 
Unb  iljren  Söagen  aus  bem  eto'g.en  ©Ieife. 
2>ie8  finb  bic  2U)tt!jerrn  betner  SPrtefterin! 

©ie  3pf)igenie  be§  @uriptbe§  gürnt  betn  SSater, 
ber  fic  opfern  tooÜte,  erbarmungslos  unb  iljrent 
Stehen  taub,  fte  glüfjt  Don  Sftad&e  totber  alle,  btc 
tljre  Opferung  berfdjulbet  ljaben,  tote  £elena, 
ßaldja§,  DbtyffeuS,  fic  triumj>f)irt  über  ben  Untcr= 
gang  beS  2td)itfeu8,  t^reS  trügerifdjen  ^eter§. 
©oet^eS  3tyf)igenie  gebenft  be§  STgametnnon  mit 
ünbltdjer  SSere^rung: 

<£r  ift  mein  Skier,  bod)  td)  barf  es  fagen, 

3n  iljm  ljaV  id&  feit  meiner  erften  3*tt 

©in  dufter  be8  tooflf ommnen.  üfflatta&  fttf*^*»- 


§at  fte*  Sfdjjtff  in  feiner  £>errlidjfeit  er* 
Bfidft  unb  biefeS  33ilb  in  i^rer  ©eele  betoaljrt. 
SBte  *P*)labe§  erjagt,  ba%  bie  ©rieben  Stroja  3er- 
ftört,  aber  bie  ©räber  i^rer  SBeften  bort  äurüd= 
gelaffen  Ijaben : 


29]  $ie  ©a&e  unb  3i>$igenien3  Urteil.  89 

&<$ttt  liegt  bort  mit  feinem  fdjönen  2freunbe 

fagt  fie  tum  SErauer  Bctocgt: 

So  feib  ifjr  ©ötterbilber  audj  au  Staub! 

III.  |>ie  #ditt(b  be$  fanfafus. 

1.  $>ie  6qqc  unb  Sp^igcntenö  Urtfjeif. 

Sin  feljr  djarafteriftifdjer  3ug  unfereS  ©ebidjts 
ift  bte  25arftetfung  bcr  6djulb  beS  SEantaluS:  e3 
ift  bic  Urfdjulb,  toomit  bte  Satoute  bcr  ^rcbcl 
anhebt,  bic  fid)  burdj  fünf  ©efdjled)ter  fortgetoäljt 
ljat  unb  juletjt  ben  Orefteä  ergreift.  Stad)  ber 
©age  IjaBe  er  ba8  Vertrauen  Jupiters,  beffen 
Slifd&genoffe  er  toar,  gemi&braudjt  unb  feine  *ßWne 
ben  ©terblid&en  benagen.  3n  iljrer  ©rjäljiung 
fagt  3p§igenie  nidjt,  toa3  SEantaluä  eigentlidj  öer= 
fdjulbet  ljat,  toie  ftc  e3  bod)  beim  %dop$,  S^efteS 
unb  2ttreu8  tljut,  aber  fie  nimmt  feine  ©djulb  als 
bie  öerjeil)lidjfie  toon  aßen.  @r  ftanb  ben  ©öttern 
ju  natj  unb  bic  Äluft  jtoif  djen  beiben  toar  ju  grofe : 

©ötter  fottten  nid&t 
3JIU  ÜRenföen  tote  mit  iljreä  ©leiten  toanbeln; 
S)a8  fterblidjje  @eföle$t  ift  biel  au  fätoa<$, 
3n  ungewohnter  §ölje  nidjt  au  fd&toinbeln. 
Unebel  toar  er  nicr)t  unb  fein  28errätf)er, 
allein  aum  ßne$t  au  flrofc  unb  jutn  ©efeflen 


80  Sie  ©d&ulb  be§  SantaluS.  [30 

S)eS  gtogen  Shmn'rerS  nur  ein  3ttenfdj.    @o  toar 
2luä)  fein  Sergefjen  menfdjUdj;  tljr  ©eriä)t 
SBar  ftrena.. 

Sic  ©age  flammt  t>on  ben  3)i$tern,  bie  tooljl 
ben  ©öttetn  gu  gefallen  bie  ©cf)ulb  be£  SEantaluS 
tjergröfecrt  Ijaben,  bamit  fte  nid^t  Heiner  erlerne 
als  bie  ©träfe.  3foljtgenie  lögt  ftdj  in  iljrem  Ur= 
t^eil  uidjt  Don  ber  ©age  befiimmen: 

$)i$ter  fingen:  Uebermutfj 

Unb  Untreu'  pursten  i&n  toon  3ot)iS  £tf4 

3ur  8ä)maä)  beä  alten  Tartarus  Ijinab. 

©ie  gebenft  feiner  mit  61)rfurd)t,  audj  Dreft 
nennt  iljn  „ba§  tljeure,  toielberef)rte  £au:pt".  33on 
einer  ßiebe  gu  ben  ©einigen  ift  eigentlich  nur  bei 
üjm  bie  Siebe.  „Sßeloltf  ber  ©etoaltigtoottenbe"  fjeifjt 
in  3j>I)tgenien3  ßrjäljlung  „be8  SlantaluS  geliebter 
©oljn".  Unter  ben  dualen  ber  &ötte  befümmert 
tljn  baS  ©djidffal  feiner  9iadjfommen,  toie  er  bie 
Margen  fingen  I)ört,  bafj  ber  3orn  ber  ©ötter  ben 
3lljnljerrn  nodj  in  ben  ©nfeln  Verfölge: 

€53  Ijordjt  ber  Verbannte 
yn  nad)tliä)en  fcöljlen, 
S)er  Site,  bie  Sieber, 
3)enft  Äinber  unb  (ünfel 
Unb  fd)&ttelt  baS  §aupt. 


Sl]  Sag  Urteil  ber  $atsen.    Sie  Äunbe  beg  2$oa3.  31 

@3  ifi  in  unfcrcr  SDid&tung  fo  oft  bon  ber 
©djutb  be3  SEantaluS  bie  Siebe,  aber  toorin  biefe 
Urfdjulb  etgentlid)  beftanben  Ijabe,  bleibt  ungefagt 
unb  bunfet.  „©ein  SßergeJjen  toar  menfdtfid);  ttjr 
©eridjt  toar  ftreng."  @o  urteilt  Sfoljigenie.  2Ba3 
bie  2>id)ter  „tont  Uebermutl)  unb  Untreu"  fingen, 
ljält  fte  für  falfd).  „ttnebel  toar  er  nid&t  unb 
fein  SSerrätljer." 

2.  S)aS  Uttt)etf  ber  Tarsen. 

Itnfere  ©idjtung  bringt  nod)  ein  britteS  Urteil, 
toetdjeS  bem  ber  S)idjter  unb  ber  93otf3fage  toöflig 
entgegengefeljt  ift  unb  fidj  im  &aufe  be§  ÜantaluS 
gleidj  einer  fjatnilienfage  erhalten  Ijat,  fo  bafj 
3fot)igenie  e§  fdjon  bon  iljrer  Stmme  gebort.  S)iefe§ 
Urteil  lautet:  SlantaluS  toar  unfdjulbig  unb  bas 
©erid)t  ber  ©ötter  Ijödjft  ungeredjt  unb  graufam. 
,,©o  fangen  bie  ^ßarjen",  „fie  litten  mit  bem 
eblen  Sreunbe." 

3.  S>te  Äunbe  beS  21)oa3. 

SBie  es  fidj  aber  mit  ber  ©djulb  be3  SEantaluS 
im  ©inne  unferer  Sidjtung  toirflidj  behalten  Ijat, 
fagt  S£ljoa$,  nadjbem  er  jenes  grofce  unb  gelaffene 
SBort  3ty!jigenien3  öemommen  Ijat: 


32  Sie  €($ulb  bcg  SantaluS.  [32 

SRennft  bu  ben  beincn  Stfjnljerrn,  bcn  bic  3Mt 
3118  einen  e1)tnal3  §o(pegnabigten 
®er  ©ötter  !ennt?  3ft3  jener  Santalug, 
2>en  Jupiter  au  föatlj  unb  Safel  30g, 
9In  beffen  atterfaftrnen,  Dielen  ©inn 
»erfnityfenben  ©eforäd&en  ©ötter  felBft 
SQßte  an  ©rafeltyrfid&en  ftd)  ergöfcten? 

3ft>f)tgenie  Bejaht  bic  i$xa§t:  „@r  ifi  e§." 
2)afj  SantatuS  bcr  Slifdjgenoffe  SfuptterS  toar, 
ttmfjte  aud)  bic  @age,  aber  baft  bic  ©ötter  feinen 
Söorten  toie  Drafelfprüdjen  tauföten,  ttmfjte  fie  nid&t, 
@r  burfte  alfo  nid^t  6lo3  bie  Dflat^fd5IäQC  ber  ©ötter 
anfjören,  fonbern  iljnen  felbft  toeldfje  fpenben.  ®a§ 
toar  ju  biet  für  ben  fterMidjen  3Jtann  att  ber 
SEafel  ber  ©ötter,  für  biefen  (Smporfömmling  auf 
bem  Otymp,  er  toar  nidjt  6fo3  bcr  ©aft  bcr 
Oftjmpier,  fonbern  tourbe  ja  faft  iljr  (College  unb 
3Jtitgott.  3)icfer  Santaluä  ijat  bie  SRatijfdjiäge 
3upiter§  rttd^t  toerratljen  —  „er  toar  lein  SJer* 
rätljer"  fagt  Sfp^tgcnie  —  fonbern  mit  üjnen  je? 
toetteifert,  unb  in  biefetn  SBcttftreit  fam  öon  feiner 
©ette,  toa8  ntd^t  ausbleiben  fonnte,  ein  Slugenbticf 
menfd&lidjer  Ueberlje&ung  unb  äJermeffenljeit, 
toeldje  bie  ©ötter  nie  ju  toergeiljen  pflegen.  @3 
berieft  fid&  mit  feiner  @<§ulb,  toie  Sfpljigenie  fie 
bem  SEIjoaS  barfteüt:  er  toar 


33]  $ie  ftunbe  be*  2$oa8.  33 

3utn  Äned&t  gu  gtofc  unb  gum  ©efeflen 

3)e8  grofjen  Stonn'rerS  nur  ein  ÜDlenfä.  ©o  toar 

$tudj  fein  Setgeljen  menfdjlidj. 

3fdj  motzte  bic  Sßorte  „junt  «ßnedjt  gu  grofc" 
nidjt  fo  beuten,  ttrie  i#  mid)  erinnere,  jte  irgenbtoo 
erllftrt  gefunben  ju  Mafien:  ba§  SEantaluS  an  ber 
©ottertafel  ju  tief  unten  fyabt  fitjen  muffen  unb 
mit  feinem  5ßla§  ungufrieben  getoefen  fei!  Sßenn 
iljm  Jupiter  feine  platte  anvertraut  Ijat,  fo  fafe  er 
bem  SSater  ber  ©ötter  gettrifc  nalje  genug. 

2tber  als  fidj  ber  SQBettftreit  erljob,  naljm  bie 
Sfreunbfdjaft  ein  J>lö§lid)e3  @nbe,  bie  ©ötter  toaren 
feiner  fatt  unb  liefen  ifjn  fallen,  um  tfjn  nie  nneber= 
jufeljen.  2Ben  bie  ©ötter  fallen  laffen,  ber  faßt 
mdtf  Mos,  fonbern  ftärgt  in  ben  Slbgrunb  unb  ber= 
fd&toinbet  in  näd&ttid&en  £ö!)ten,  too  er  an  ßinber 
unb  ßnfel  beulen  unb  über  baä  eigene  ©d)i<ffal 
fein  &au})t  fdjütteln  fann. 

2)er  ffirdjte  fte  bo^elt, 
2>en  je  fic  erfje&en. 
2luf  Alicen  unb  aOßotfcn 
©inb  ©tfiljle  bereitet 
Um  golbene  2ifd)e. 
Strebet  ein  3toift  fidj: 
©o  ftüraen  bie  ©dfte, 
@ef$mäl)t  unb  geföänbet, 

Ä.  gfift^er,  ©oetlje»©d&riften.  3 


34  $ie  entfitfjtiung  be3  Dreft.  [34 

3n  nädjtüd&e  liefen 
Unb  Ijarren  toergebeng 
3m  Sfinftein  gebunben 
©ered&ten  ©ertdjtes. 

@o  fangen  bie  5ßarjen!  ®ie  SJermeffenljeit, 
toeldje  5£antalu3  feftft  fo  fdjtoer  büften  mufcte, 
ttmrbe  jur  Urfd&ulb  feines  ganjen  ©ef$led)t3:  er 
ift  ber  SSater  ber  Sfciobe,  ber  Sfljnljerr  be8  2tga= 
memnon,  ber  fid&  toermafj,  bie  SlrtetniS  ju  über* 
treffen,  unb  biefen  Prebet  mit  ber  Opferung  ber 
3tyf)igeme  füljnen  fottte.    216er 

3)u  Ijaft  SB&olfen,  gnäbige  Retterin, 
einju^ütten  unfdjulbtg  Verfolgte! 

Um  biefeä  ©efdjledjt  au  entfüljnen,  mufc  man 
feine  Urfdjulb,  bie  35ermeffent)eit,  bie  gule^t  alle 
Slffecte  fcertmtbert,  mit  ber  SQBurgel  tilgen  unb  ge* 
rabe  tljr  ©egentljeil,  bie  Ijimmtifdje  2ugenb  ber 
©elaffenljeit  in  fidj  aufnehmen.  S)ie§  ift  Don 
©runb  au§  bie  ©efinnung  ber  StyJjtgenie  unb  ber 
SBeg  ju  iljrem  3tel.  2)iefe8  3iel  ift  bie  (Sntfüljnung 
be3  33ruber3. 

1.  $ie  Sötebererfennung. 

3JUt  toeld)er  Spannung  folgt  3it>l)tgenie  ber 
©rjäljluug  beS  Sß^tabeS   Don  bem  ftatte  SCrojaS  ' 


35]  $ie  SOSiebeterfettnung.  35 

unb  ber  IRücffc^r  ber  gelben!  ©ie  erfährt  bic 
©räuel  in  üDtyfatä,  ben  eljebredjerifdjen  SBunb  ber 
ÜJhttter,  bie  ^eimtüdftfd&c  (Srmorbung  be§  33ater§, 
ben  jene  feit  bem  Opfer  in  StutiS  gefaßt  Ijabe. 
3et}t  gehört  iljre  ©enbung  ben  ©efdjtoifiern.  SBie  ftc 
toemhnmt,  ba§  beibe  leben,  ergießt  fid)  i!jr  ©efü^I 
in  ein  ®anf  gebet: 

©olbne  ©onne,  leilje  mir 
£>ie  fdjönften  ©trafen,  lege  jie  pm  £>anf 
Soor  3obiS  SEljron,  benn  iä)  bin  arm  unb  ftumm. 

©ie  f)ört  e§  Don  Dreft,  ahnungslos,  baß  er  es 
felbfi  ifi,  ber  3U  iljr  rebet  unb  burd)  feine  toeitere 
(Srjäljlung  iljre  aufleudjtenbe  Hoffnung  nieberfdjlägt. 
Dreft  Ijat  btn  33ater  burd)  bm  SKuttermorb  ge= 
räd)t.  @8  fdjeint,  bafc  fie  nad)  bem  SBiKen  ber 
©ötter  nid)t  iljr  £au§  erttfüljnen,  fonbern  nur  bie 
6rnte  ber  öerjüngten  2)radjenfaat  erleben  foff: 

§abt  iljr  nur  barum  mid?  fo  mcmdjeS  3a^r 

SSon  9Jlenfd)en  abgefonbert,  mid)  fo  nal) 

Sei  eudjj  gehalten,  mir  bic  finblidje 

SBefd&äftigung,  beö  Ijeirgen  SfcucrS  ©tutr) 

3u  näljren,  aufgetragen,  meine  ©eele 

3)er  3f(amme  gteid)  in  eto'ger,  frommer  Älarljeit 

3u  euren  SÖßoljnungen  hinaufgezogen, 

3)a6  idj  nur  meines  §aufeö  ©räuel  ftärfer 

Unb  tiefer  füllen  foflte? 

3* 


36  2>ie  CntffUjnung  beä  Oreft  [36 

SHefer  3tt>eifcl  ift  nur  ein  flüchtiger  ©Ratten, 
ber  einen  Stugcnblidf  lang  iljre  ©eete  trübt.  3^r 
©ruber  lebt,  fdfjulbbelaben,  unglüdftidj,  |ei}t  ift  er 
ber  ©egenftanb  itjrer  ©enbung: 

©age  mir 
$om  nnglüdf f ergen !    <5px\ä)  mir  üon  Oreft! 

£>en  SDtuttermorb  f)at  er  gefd&ilbert,  nun  fdjitbert 
er  bie  Furien,  bie  ben  9Jiörber  Verfolgen,  unb  tote 
er  fein  inneres  entljüflt  Ijat,  ttrill  er  audj  feine 
Sßerfon  ntd^t  länger  Verbergen:  „ Stoifdfjen  uns  fei 
äBa^eit!    3$  bin  Oreft!" 

SDte  ©tunbe  ift  gefommen,  tt)o  iljre  ©enbung 
fid)  erfüllen  fott,  bie  lang  unb  ljet&  erfeljnte;  fie  Ijat 
nur  biefeä  eine  ©efüf)t:  „Erfüllung!"  Sie  ©ötter 
Ijaben  iljr  ©ebet  erfjört,  mefjr  al§  erfjört,  fie  gönnen 
iljr  nidjt  blo§  bie  Sftüdfefjr,  fie  fenben  iljr  jur  dtüfe 
fefjr  ben  SBruber  felbft,  er  fteljt  bor  iljr: 

©o  fteigft  bu  bemt,  ©rfüttung,  fdjönfie  Softer 
S)e3  größten  83ater8,  entließ  gu  mir  nieber! 
2öie  ungeheuer  ftefjt  bein  SBilb  öor  mir! 

S)ie  ©ntfüljnung  be§  Dreft  ift  feine  8rlöfung 

'  aus  ber  £anb  ber  Surien;  bartn  erfüllt  ftdfj  bie 

-  SDltffion  3^igenien§.    Slber  ber  ©egenftanb  biefer 

(Sntfüljnung  ift  ein  fdjulbbelabeneS   Safein   ganj 

anberer  Strt,  afe  jene  bertneffenen ,  übermütigen 


87]  Sie  Gemütsart  beS  ©reft.  37 

imb    ttnlben   fjretrter,    bie    fic    bem   ü£Ijoa§    ge= 
f Gilbert  Ijat. 

2.  3)ie  ©emütljSart  be8  Oreft. 

Unter  ben  jdjulbbelabenen  S£antaliben  ift  Drefteä 
bcr  etnjtge,  ben  bie  gurten  verfolgen.  SBir  Ijören 
nidjt,  bafc  bie  Unikaten  be§  5ßelo^S;  S^efteS  unb 
SttreuS  fie  getoedft  Ijaben;  f)ier  tt>ar  jeber  Prebet 
gefättigte  ©ier,  bie  neue  Prebet  gebar.  2tud)  öon 
ber  3Jermeffenf)eit,  jener  Urfdjulb  be§  £antatu§, 
ift  nidjtä  im  Oreft.  ©tatt  be3  UebermutljS  l)at 
ba§  @d)idfal  fdjon  in  früher  ßinb^eit  bie  ©d^tt)cr= 
mutlj  in  feine  ©eele  geflößt: 

S)c8  SebenS  bunfle  Secfe  breitete 

2)ie  üölutter  fdjon  mir  um  baä  jarte  §aupt, 

Unb  fo  toudjS  iä)  herauf,  ein  ©benbilb 

2)e3  SkterS,  unb  e§  mar  mein  ftummer  SBlitf 

6in  bitt'rer  SBormurf  ifjr  unb  iljrem  SBuljlen. 

SJon  ben  trauertooöen  Erinnerungen,  bie  aus 
ben  SEagen  ber  $inbf)eit  in  iljm  fortleben,  trägt 
eine  unau§töf<£)Iidje  3üge: 

Söie  oft,  menn  ftitf  (Sleftra,  meine  ©djtoefter, 
Slm  fjeuer  in  ber  tiefen  §atte  fafc, 
drangt'  idj  bettommen  miefj  an  iljren  ©3>o& 
Unb  ftarrte,  mie  fie  bitter  meinte,  fie 
3JHt  großen  3lugen  an.    S)ann  fagte  fie 
S5on  unferm  Soften  Skier  öiel;  mie  feljr 
Verlangt'  iä),  Ujn  $u  fefm,  bei  ifjm  su  fein! 


38  Sie  Gutfü&iiung  bc8  Oreft  [38 

SaS  SBilb  bc§  Ijoljen  SSaterä  Ijat  fid^  tief  in 
feine  ©eele  geprägt.  2fm  SEage  be3  3Äorbe3  ljat 
iljn  bie  ©djtoefter  gerettet,  ©djtoermtttl)ig,  pfjantafie* 
tooll,  ber  8ieBe  bebfirfttg,  lebt  er  im  33aterljaufe 
be3  Stabes,  ber  feine  fjreunbfd&aft  getoinnt  unb 
mit  feuriger  Eingebung  ertoibert.  S)ie  3*eunb= 
fdjaft  erweitert  iljre  §erjen.  3tu§  bem  fdjn>er= 
müßigen  Dreft  ttrirb  ein  tljatenburftiger  Süngling, 
ber  mit  feinem  $Ptylabe§  in  ben  Vorgefühlen  einer 
tf)atenreidjen  Sulunft  fdjtoelgt.  Sftie  §at  ein  Sidjter 
bie  ibeale  3füngling8freunbfdjaft  entjüdenber  unb 
mächtiger  gefdjilbert,  als  ©oetlje  in  ben  SBorten 
beS  Dreft: 

©ro&e  Saaten?  3a, 
3$  toeifj  bie  3cit,  ba  tirir  fte  oor  uns  faljn! 
äöenn  mir  gufammen  oft  bem  SBübe  nadj 
£>urdj  JBerg  unb  £fjäler  rannten,  unb  bereinft 
3ln  SBruft  unb  Sfauft  bem  Ijofjen  2lfmf}errn  gleid), 
SJlit  Äeur  unb  ©djtoert  bem  Ungeheuer  fo, 
3)em  SRäuber  auf  ber  ©pur  ju  jagen  ljofften; 
Unb  bann  toir  Slbenba  an  ber  weiten  ©ee 
Uns  an  etnanber  leljnenb  rufjig  fafcen, 
2)ie  äöetten  bis  ju  unfern  Sfü&en  fpielten, 
£)ie  2Bett  fo  tueit,  fo  offen  oor  und  lag: 
£>a  fufjr  tooljl  einer  mandjjmal  nadj  bem  ©ä^toert, 
Unb  fünft'ge  Saaten  brangen  tote  bie  ©terne 
9ting§  um  uns  $er  ungäljlig  auä  ber  Üfta<$t. 


89]  ©er  90lutterm5rber  unb  bie  (grimmen.  39 

ßreft  fiefjt  in  bett  SBorfaljren  nur  bie  3Sor= 
büber,  er  fieljt  nidjt  ifjre  Untaten,  nur  ifyre 
£elbent!jaten  unb  btefe  nidjt  in  ben  ÜÄängeln, 
bic  jebem  Süienfdjentoerf  anhaften,  fonbern  in  ber 
SBerflärung  ber  SjJljantafie;  er  fiefjt  fie,  ntd)t  toie 
fic  gefdje^en,  fonbern  tote  fic  gebidjtet  finb,  unb 
bon  biefer  Stäufdjung  beftridt,  ttritt  er  i^nen  nad)= 
eifern.  3)ie§  ift  bie  ©efaljr,  toor  Weimer  ber  lebend 
funbige  5P*)tabe§  ben  Sreunb  betoaljren  möd&te.  SBaS 
fein@emütlj  erfüllt,  bebötfert  gteidfj  feine  Sßljantafie: 
3)iefe  3üge  §at  Dreft  Don  feinem  Sinter. 

3.  $>er  9ttuttermörber  unb  bie  ßirinntyen. 

Unter  allen  Staaten,  bie  er  Vollbringen  möchte, 
erfdjeint  iljm  eine  aU  bie  größte,  bie  toie  eine  9luf= 
gäbe  auf  feine  ©eele  gelegt  ift:  ben  §oljen  SBater 
ju  rädjen!  @r  f djilbert  e8  ber  3ft>I)tgenie,  inbem 
er  toon  ftdj  unb  5P^labe§  aU  britten  5ßerfonen  rebet: 

Unb  toie  fie  toudjfen,  ttmd)8  in  iljrer  ©ecle 
$>ie  fcrennenbe  Regier,  beg  ßönigS  Xob 
3u  rädjen. 

3)iefe  brennenbe  JBegier  ber  3tad)e  ift  ber  2)ämon 
be§  &aufe3,  ber  nun  audj  ben  Dreft  mit  fid)  fort= 
reifet.  6r  eilt  mit  bem  fjreunbe  in  bie  £eimat$ 
jurücf,  er  fiefjt  bie  9Jtutter  unb  bor  ifjrem  Slnblirf 


40  SDie  Qntfü^nung  beS  ßrefi.  [40 

tootten  bic  Stadjegeifter  in  feiner  SBrufi  erlösen, 
aber  bie  ^euergunge  ber  ©d&toefter  entgttnbet  fie 
toieber  gu  bofler  ©lutlj  unb  Idfct  bur<$  tljre  @<$itbe= 
rungen  bie  alten  ©tnbrüde  beg  ©tenbs  unb  ber 
©d&mad)  in  feiner  ^Ijantafie  auftobern. 

■Wun  ift  bie  9iad&e  bottftreeft,  oljne  3tad)gier 
im  ©runbe  feines  &ergen3.  SluS  ber  ©rofctljat 
ift  bie  ©$anbtljat,  aus  beut  9vad)er  beS  S3ater£ 
ber  SDhittermörber  getoorben.  S3ebor  fie  gefdjeljen, 
fafj  er  nur  bie  ©rofjtljat  bor  ftdj;  bie  boflbradjte 
SL^at  geigt  iljm  nur  bas  Slnttitj  ber  fdjredflidjften 
©djutb,  in  toei$e  bie  ©ötter  iljn  berftridt  Ijaben : 

9Jtid)  fyaben  fie  jum  ©djlddjter  auSerforen, 
3um  SJtörber  meiner  bod)  bereiten  Butter, 
Unb,  eine  ©djaubtljat  fdjänbttd)  rädjenb,  midj 
5)urdj  iljren  SDÖin!  gu  ©runb  gerietet. 

33on  ben  Furien  Verfolgt,  fleljt  er  ben  bel= 
)>l)ifc^en  ©ott  um  ßrrettung,  fie  toirb  il)tn  in  SEauriä 
berljeifjen,  unb  tyier  finbet  er  in  ber  5ßriefterin,  bie 
iljn  opfern  fofl,  bie  6#toefter  toieber,  bie  er  ge= 
opfert  glaubt,  ©er  STob  ift  iljm  toittfommen,  ein 
3iel  aufs  innigfte  gu  toünfdjen,  baS  ßnbe  ber 
ßebenSqual !  2Iudj  für  bie  ©d&toefter,  bie  iljn  Iiebe= 
Doli  unb  mit  (Srbarmen  anbltcft,  toeife  er  nichts 
beff  eres : 


41]  $ie  «rlöfung  be8  Oteft  41 

Unb  Ia&  bir  ratzen,  Ijabe 
3)te  (Sonne  nidjt  ju  lieb  unb  m$t  bie  ©terne; 
Äomm,  folge  mir  in8  bunfle  9tei$  Ijinab! 
Söie  ftdj  Dom  (Sdjtoefetyful)!'  erzeugte  S)radjen 
JBelantpfenb  bie  oertoanbte  SBrut  oerfd&lingen, 
Sexftört  ft«  fetbft  ba3  toütfonbe  @efd)led)t; 
Äomm  finbertoS  unb  fdjulbloS  mit  Ijinab! 

4.  2)te  ©rlöfung  be8  Oteft 

3n  ber  2)id(jtung  bes  erhabenen  $lef  d&ijluä  toirb 
OrefteS  Don  ben  (Srinnljen  Dexfolgt  unb  angeflagt, 
bon  Sfyoflo  befd&üt}t  unb  fcertljeibigt,  guletjt  burdfc 
bie  ©timme  bcr  ©öttin  Sltljene  auf  bem  9lreo= 
pag  iljrer  ©tabt  freigefprod&en ;  aber  feine  3>er= 
folgerinnen  toerben  beSljalb  nidf)t  berurtfjeilt  unb 
berjagt.  <£§  toäre  fdjlimm  um  bie  fittlid&e  Seben3= 
orbnung  beftefft,  toenn  fie  nidjt  toären,  biefe  2)ä= 
monen  be3  menf d&Ud&en  ©djulbbenm&tfeins,  biefe 
£öffe  be§  ©ettnffenä,  unmljtijotogifcJj  gu  reben.  ®ann 
gäbe  eS  nur  ©d&ulb  ofjne  ©d&ulbgefül)l,  3frebel= 
traten  ofjne  ©etoiffen,  nur  Sctrüttung  ofyne  2Bieber= 
fyerfteflung  unb  Teilung.  2)ie  ©d&ulb  ift  ber 
Uebel  größtes,  ntdjt  bie  Furien!  S)iefe  fönnen  unb 
foffen  bem  3Äenfdf)en  nid&t  gum  SBerberben,  fonbern 
gum  §eile,  nid&t  gur  SBerljeerung,  fonbern  gum 
©egen  gereid&en:  fie  f offen  nid&t  ber  3lad&e,  fon= 


42  Sic  Gntfüfaun«  be3  Oreft.  [42 

bern  bct  ßäuterung  bienen,  oljne  toeldje  fein 
§auS  unb  fein  ©emeintoefen  gebeten  fann.  ©ie 
feien  ni<$t  toutfjentbrannt,  fonbern  toofytgefinnt  unb 
tooljltljuenb :  mit  einem  SBorte  nidjt  ßrinntyen, 
fonbern  <£umentben!  60  lautet  ber  ©prudj  ber 
toeifen  unb  fjerrlidjen  ©öttin  SltljenS.  $n  unferer 
Süidjtung  ift  e§  Spljigenie,  toetd)e  bie  ©rinmjen  beS 
33ruberS  befänftigt  unb  in  ©umeniben  bcrtöanbeft. 
2Bie  er  iljr  ben  SJluttermorb  fdjilbert,  erlebt 
er  Don  neuem  bie  fdjrecflidje  Slljat,  unb  fie  toirb 
in  feiner  5ßl)antafie  fo  gegenwärtig,  bafc  er  fidj 
ganj  in  ber  ©eloalt  ber  Furien  füljtt,  bie  Seilte 
beS  3lud)S,  ber  bas  &auS  beS  StantafuS  bernidjtet. 
Sliemanb  fann  unb  barf  an  iljm  tljeilueljmen,  er 
ift  betpeftet,  er  fieljt  in-ier  3frau,  bie  tiebefcotf 
ifjre  2Irme  na<$  iljm  ausbreitet,  J)ie  unljeiittfidje 
©ier  einer  {Jurie  ober  einer  SBaäjantin.  Unter  ben 
@rfd)fitterungen  beS  ©d&ulbbemufetf eins ,  bie  baS 
Sleufcerfte  erreicht  Ijaben,  ijört  er  3fol)igenien8  fanfte 
Stimme: 

2ftein  £d)icffal  ift  an  beineS  fefigebunben. 
3d)  bringe  [üfeeS  $aud)tt>erf  in  bie  3flaintnc. 
€  lafi  ben  reinen  §au$  ber  Siebe  bir 
$>ie  ©lutl)  beS  JBufenS  leife  roeljenb  füllen. 
O,  toenn  bergoffnen  3HutterMute8  ©ttmme 


43]  Sie  (grTftfiMg  beß  Oreft.  43 

3ur  §ött'  Ijtnab  mit  buntyfen  Sänen  ruft, 
€>otf  nidjt  ber  reinen  ©djtoefter  ©egenStoort 
#filfreid&e  ©ötter  öom  CfympuS  rufen? 

UntoiKfürlidj  öffnet  fidj  btefer  ©ttmme  fein 
gefoltertes  §erj: 

Seit  meinen  erften  Sagten  Ijab*  t<$  ntdjtS 
©eliebt,  toie  id)  bid)  lieben  tonnte,  ©d&tt>efter. 

2)ie  gurten  Ijaben  ausgetobt  unb  fcerftummen* 
3n  ©egentoart  biefer  reinen  ©eele  ^aben  ffc  im 
Snnern  beS  Dreft  nod)  einmal  alle  2lnffogen  gegen 
iljn  gefdjleubert,  unb  Spljigenie  fagt  ju  Dreft,  toie 
bie  ©öttin  2ltl)enS: 

S)u  ttrirft  ni$t  unterge^n! 

2)er  ungeheuren  6rfd)fitterung  folgt  eine  S3eiäu= 
bung,  bie  iljn  mit  tooljltljätiger  SSergeffenljeit  um- 
fängt. 9luS  Ü)r  ertoad&t  er  mit  bem  SSorgefüljt  ber 
SSerf  öfynung : 

9lo$  ©inen!  reidje  mir  auä  ßettjeS  Sflut^en 
S)en  legten  füllen  JBedjer  ber  (grquidung! 

3m  toadjen  ^antafietraum  fielet  er  ft$  in  ber 
Untertoelt.  Sein  Slraum  ift  ber  eines  fd&ulbtofen 
ÄinbeS:  toaS  er  fdjaut,  ift  ein  gamüienibtyfl,  bie 
SEantaliben  finb  auSgeföfjnt  unb  toanbeln  frieb= 
li$  mit  einauber.  21IS  ob  er  fie  in  ber  Unter= 
weit  empfinge,  begrübt  er  bie  ©djtoefter  unb  bm 
tJfreunb : 


44  Sie  (gittfiUjnung  beö  Oreft.  [44 

6cib  tljr  aud)  fdjon  Ijerabgefominen?  • 

2)iefe3  ©ejtd&t  ift  fein  Slraum,  f onbern  JBirf* 
lidjfeit.  ©ein  £erj  Ijat  bic  quafootte  Säuterung  be= 
ftanben  unb  öffnet  fid)  toieber  ber  ßefcenSfreube 
unb  ber  Slljatenlufi. 

@ä  löfet  fidj  bet  gfludj,  mit  fagt'8  bad  §ers. 
SDtc  eumemben1  aieljn,  i<$  Ijöre  fie, 
3um  Sartatuä  unb  fd)lagen  hinter  fid) 
3)ie  ernten  £l)ore  fernabbonnernb  ju. 
£)ie  @rbe  bamfcft  erquiefenben  @erud) 
Unb  labet  mtdj  auf  ifyren  Sflädjen  ein, 
9todj  SebenSfreub'  unb  grofcer  £!jat  gu  jagen. 

®iefe  (Sntffiljnung  be§  Drefi  in  ben  Sinnen  ber 
3j>ljtgenie  nannte  ©oetfye  „bie  2l<$fe  be§  ©tftdEö". 
<£r  f)atte  ber  Slngeüfa  Äaufmann  in  9tom  fein 
©ebidjt  borgelefen,  unb  biefe  Ijatte,  tt)ie  ©oetfje 
ber  Qfreunbin  förieb,  bie  ©teile  „feib  iljr  audj 
fd&on  Ijerabgefommen?"  gar  gemütljüä)  gejeidjnet. 

®ie  SBiebergeburt  be3  Dreft  erinnert  un§  an 
bie  beä  Sauft  im  S3eginn  be3  feiten  SE^ctlS.  &ier 
fingen  bie  ©eifter: 

©ein  3nn're8  reinigt  Don  erlebtem  ©rauö, 
(Srft  fenft  fein  #aupt  auf8  füljle  ^olfter  nieber, 
£)ann  babet  tfyn  im  £fjau  au8  Setljeö  Sflut^. 


1  3n  bet  profaifdjen  Sfaffung  Ijtefe  eS:  „bie  ©rinnen*. 


45]  3>a8  ftett&erttetenbe  Seiben.  45 

Unb  bie  erften  SBorte  bcS  ermatten  Sauft  lauten: 

£>e3  ßebenä  $ulfe  fragen  frtfd)  lebenbig 
9letl)erifd)e  2)ämuitung  inilbe  gu  begrüben, 
2>u  @rbe  toatft  aud)  biefe  Sftadjt  beftänbig 
ttnb  atljmeft  neu  erquieft  gu  meinen  Sfüfecn. 

Y.  |te$  fielbetfrefettbe  Reiben. 

2>ie  religtöfen  3üge  unfern  S)idjtung  laffen 
fidj  auf  einen  ©runbjug  jutfldffüljren,  au$  bem 
fte  flammen,  unb  ber  baSjenige  @tement  berfelBen 
ausmalt,  toeld&eä  man  tooljl  iljren  djriftttdjen 
©Ijarafter  genannt  Ijat.  3dj  fud&e  biefen  3ug  gu 
erteutfjten,  fo  fjefl  i<fj  e§  Vermag  unb  mit  fo  wenigen 
SQBorten. 

<£§  ift  fdjon  gefagt,  bafc  bie  @ntfüf)nung 
eines  fdjulbfcelabenen  ©efdjtedjtä  ba§  ©runbtfjema 
unferer  2)tdjtung  auSmadjt,  unb  biefeS  SEIjema  Ijat 
im  ^öd^ften  ©inn  eine  religiöfe  Sebeutung.  3e 
BUnber  bie  Seibenfdjaften  in  ber  üttenfd&ennatur 
toütljen  unb  ©djulb  auf  ©<$ulb  Raufen,  um  fo 
berffritfter  finb  bie  3Jienfdjen  in  iljre  Uebeltfjaten, 
um  fo  toeuiger  rüf)rt  fidj  iljr  ©etoiffen.  SERtt  ber 
ßäuterung  Beginnt  unb  toädjft  an  £iefe  ba§  6djulb= 
gefüljl,  toeldjeS  ber  SJtenfdj  in  feiner  ©ünben 
SJiatenMfitlje    nidjt    Ijat.     3n   jebem,    ber   eine 


46  .  $a3  ftettoertretenbc  Seiben.  [46 

ttrirflid&e,  ernftljafte  SAutaung  in  fidj  erlebt,  ift 
e8  ber  fdjon  gebefferte  unb  neue  SÄenfd),  ber  ba% 
@d)ulbgefül)l  trägt  unb  leibet  für  ben  alten,  nodj 
ungebefferten  unb  fdjulbigen:  er  leibet  ftatt  feiner 
ober  an  feiner  ©teile.  (Sine  Völlig  lautere  unb  reine 
©eele,  bie  leine  eigene  @$ulb  f>at ,  füljlt  unb 
leibet  bie  ©<$ulb  berer,  toeldje  fie  liebt,  bon  iljrem 
€lenbe  befreien,  Don  iljrer  ©d&ulb  entlaften  unb 
gu  einem  neuen  geläuterten  ßeben  führen  mö$te. 
SBenn  bie  anberen,  bie  fie  liebt,  bie  ganje  2Äenfdj= 
§eit  finb,  fo  befielt  in  biefem  ftelfoertretenben  unb 
erlßfenben  Seiben  bie  <£l)riftu3tl)at. 

3fn  unferer  3)id)tung  ift  e$  btö  ©efd&ledjt  be3 
SEantaluä,  baä  ber  gntfüljnung  bebarf,  unb  aus 
bem  eine  ©eele  Ijeroorgegangen  ift,  DöBig  rein 
unb  fdjulbloS,  bie  an  bzn  Seibeuf d&aften ,  bie  tljr 
£au8  jerrüttet  Ijaben,  an  ben  Sfretoeln,  biebarauä 
entfprungen  finb,  gar  feinen  Slntyeil  Ijat,  aber 
beSljatb  biefe  Qfrebel  M*  te  iljre  SBurjeln  erfennt, 
unb  ba  fie  baS  fdjulbbelabene  ©efd)led)t  liebt,  fo 
ift  fie  e3,  bie  fflr  alle  bie  anberen  ba§  @djulb= 
gefügt  trägt  unb  leibet,  ©arum  ift  unb  füljlt  aud& 
fie  allein  fi<$  berufen  gur  ßntfüljnung  be8  &aufe8. 

3fd)  ntöd&te  nid&t  nti&berftanben  fein,  toenn  idj 


4  7]  2)aS  ftettbcrtretenbe  Seiben.  47 

ben  SluSbrud  „ftelfoertretenbeg  Seiten"  braudje, 
toomit  befanntlid)  btö  tieffte  unb  nad&  ber  ge= 
toöljnKd&en  SÄeinung  bunfelfte  3Ät)fterium  ber 
d)rifttt<$en  ffteliflion  unb  ßirdje  begei^nct  ttrirb. 
3d)  Ijalte  midj  I)ier  mit  biefer  JBorftettung  in  ben 
©renjen  einer  rein  menfd&Kdjen  ^Betrachtung.  @3 
ift  fein  üöhjfterium,  ba§  baä  ©<$ulb gefügt  beffer 
ift  als  bie  ©djulb;  e3  ift  aud)  lein  3Jtyfiertum, 
ba&  bie  lauterfte  ©efinnung  äugleid)  bie  Ixibt- 
toolifte  ift,  bie  bat  tieffte  9Jtitgefüljl  mit  bem  Un= 
gliicfe  anberer  Ijegt,  mit  ifjren  unglüdflidjen  @eelens 
juftänben,  bie  ntd)t  elenber  fein  fönnen,  als  toenn 
fie  fdjulbbelaben  finb  oljne  ©d^uIbbciDUßtf ein ,  toie 
bie  3uftanbe  jener  Minben  ©elbftfud&t  unb  3tpie= 
trad&t,  tt>o  »ererbte  ßeibenfdjaften  grenjenloä  toütljen. 
S)ie  @<3&ulb  fällt  in  bie  böfen  SJlenfd&en  „mit  bem 
fdjeuen,  büftero  33li<f",  ba&  @<%ulbgefül)l  in  ben 
guten,  biefer  leibet  für  jene,  ob  nun  ber  böfe  Sttenfd) 
er  felbft  in  feiner  JBergangenfjeit  ift,  ober  ob  e$ 
feine  SMutäbertoanbten  finb  ober  feine  3Jtitmenfdjen. 
©ott  aber  baä  fietfoertretenbe  ßeiben  audj  in  biefem 
Sinn  ein  3Jtyfterium  fein,  bann  befenne  id),  ba& 
mir  baSfelbe  in  leiner  2)id)tung  fo  einteudjtenb 
ent^üÖt  toorben,  mie  in  ©oetljeä  Styljigenie. 


48  Sie  3tfigenie  in  SDÖcimat  itnb  in  Italien.  [48 

▼I.  Stte  SWigarfe  in  Heimat  ttnb  in  §i*riett. 

63  geteert  ein  ljof)e8  Sntereffe,  in  bcr  <£nt= 
tm<fclung3gefd&id)te  unferer  3)id)tung  btc  erfte  2lu§= 
btlbung  mit  bcr  legten,  bic  3^igcnic  in  Sßeimar 
mit  bcr  in  Italien  ju  Dergleichen  unb  gu  feljen, 
toetdje  JBeränberungen  bicfcS  ©eelengemälbe  burdj 
getoiffe  £tnjufügungen ,  tote  burd&  geteufte  Umge= 
ftaltungcn  erfahren  Ijat.  £ier  ift  ein  harter,  mifc 
tönenber  SluSbrutf  getilgt  unb  baburd)  ein  3ug 
au3gelöfd)t,  eine  Unebenheit  geglättet  toorben,  bie 
fid)  mit  bem  ©runbton  be§  SljarafterS  nid)t  t)er= 
trug.  2ln  einer  anberen  ©teile  ift  mit  bem  3BoI)l= 
laut  ber  ©prad&e  jugleid)  eine  ©eelenfdjönljeit  cnt= 
fjüttt  ober  gef  djaffen  toorben ,  bie  in  ba§  <£Ijarafter= 
frilb  unjerer  2)idjtung  gehört. 

3fol)igenien3  crftc  SBortc  fxnb  erfüllt  Don 
fdjmerjlidiiem  #eimtt)elj: 

S)enn  ad) !  miä)  trennt  baS  9Jleer  öon  ben  ©dichten, 

Unb  an  bem  Ufer  ftelj'  id)  lange  Sage, 

S)a8  8anb  ber  ©rieben  mit  ber  Seele  fudjenb. 

SBäljrenb  fie  nad&  ber  £eimatlj  bliift,  Ijört  fte 
ba§  9Äeer  rauften: 

Unb  gegen  meine  ©eufger  bringt  bie  äöette 
ÜRur  bumpfe  £öne  braufenb  mir  fjerüber. 


49]  $ie  dJripgettie  in  SBeimar  unb  in  Italien.  49 

©tefe  SBorte,  bie  gleid&fam  bie  bumpfe  troft= 
lofe  Slnttoort  auf  ifjre  ©eufjer  geben,  Ijat  ©oetlje 
crft  Ijinjugefügt,  als  er  ben  ©arbafee  bor  fid) 
falj;  er  lag  im  SHrgtl  bie  ©teile,  toeld)e  bie  an* 
fcraufenbe  giutlj  btcfeö  ©ee§  fdjitbert  unb  fdjrieb 
in  glüdKtdjer  ©ttmmung  ber  fjreunbin  in  SBetmar: 
„©er  erfte  lateinifdje  ÜBerS,  beffen  ©egenftanb  mir 
lebenbig  borjleljt!"  6r  naljm  ben  Slnblid  beS 
erften  itattenifd&en  @ee8,  ben  er  t>or  3(ugen  Ijatte, 
fröl)lid)er  afe  feine  §elbin  ben  be3  untt>irtf)Kd)en 
$ontu3. 

3fn  iljrem  erften  ©eforädj  mit  3trfa§  fagt  bie 
toeimar'fdje  3foljtgenie,  inbem  fie  toon  if)rer  3fugenb 
rebet:  „ßetber  tourbe  id)  in  baS  @Ienb  meines 
Kaufes  frttlj  t>em>i<felt".  Sag  Hingt,  als  ob  fie 
iljre  &erlunft  unb  bamit  iljre  ©enbung  Beilage, 
bie  bodj  aus  bem  @(enbe  ifjreä  &aufe3  Ijert)orgel)t. 
©er  fJfadj  ift  ü)*  fremb,  nidjt  ba§  6Ienb  ber 
Steigen,  tooran  fie  ben  Kebeboflftcn  Stntljeil  nimmt, 
©ie  ljat  bm  2tu8fprud&  in  Statten  geanbert  unb 

ItuMei&teS:  8eibcr  f„6,e  ba 

©in  frember  JJIud)  tntdj  an. 

®ie  erften  SBorte,  toomit  3fpljigenie  bem  SEljoaS 
itjr  ©eijeimmfc   entljüöt,   lauteten   in  ber  erften 

Ä.  Sfifd&e*,  ®oetlje«©($riften.  4 


50  $ie  Sfyljigenie  in  äßeintar  unb  in  Italien.  [50 

Raffung:  „3idj  bin  aus  Xantal'S  merltoürbigem 
©eföte^t".  2>a3  Kingt  ja  faft,  ai§  ob  fie  fid&  ifjrer 
§erfunft  räumte,  toeSljalb  SlljoaS  l)ier  aud&  nid)t 
fagt:  „®u  fprid^ft  ein  grofceS  SBort  gelaffen 
aus",  fonbern  nur:  „2)u  fpridjft  ein  grofceS 
SBort".  Studj  bie  Silber  beS  rad)etrunlenen  3ltreu§ 
unb  be§  na<$  feinen  Äinbern  bangenben  S^efteS 
finb  ber  <£rjäl)tung  3^igenien§  erft  Don  ber 
toottenbenben  §anb  be§  3)td)ter3  eingefügt  toorben. 

9iad&  t^rem  legten  ©eforädj  mit  ^tylabeS, 
ber  if)r  bie  Rettung  beS  23ruber§  burd)  ben  S3e= 
trug  be§  Königs  jur  5pflidjt  mad&en  tootfte,  ringt 
iljre  ©eete  gegen  biefe  23erfu<f)ung  jum  Unban!. 
3n  ber  erften  Raffung  täfct  fie  ber  ®i<$ter  in  bie 
ßfage  au§bredjen:  ,,2W)!  toarum  fdjeint  ber  Unban! 
mir,  toie  taufenb  anberen,  nidjt  ein  leid&teS,  un= 
bebeutenbeS  SBergeljen ! " 

3u  biefen  SBorten  j^at  bie  ^eilige  in  83otogna 
getoifj  ben  Äopf  gerüttelt,  al§  ©oetlje  fie  iljr 
Dorfes.  Spljigenie  lonnte  bod)  in  einer  ber  Ijäfc 
tieften  Untugenben  ni<$t  fein  tootten,  toie  taufenb 
anbere,  fie,  bie  nodj  eben  allen  ©rünben  unb  UeBer= 
rebung3fftnften  beS  5Jfylabe3  toiberftanben  unb  ge= 
fagt  fjatte: 


51]  2>te  3Mtgenic  in  SBeimar  unb  in  Italien.  51 

,3?dj  unterfuge  ntdjt,  id)  füt)(e  nur. 

©ang  unfceflecft  genießt  fid)  nur  bog  §erj." 

©iefcr  3ug  ift  in  ber  testen  Raffung  toer= 
fönmnben,  e3  fear  ein  Sied  in  unferem  ©eeleu= 
gemälbe.  9ln  feine  ©teile  ljat  bie  fcotfenbenbe 
&anb  beä  2)id)ter3  einen  anberen  treten  laffen,  unb 
toir  afyien  ntdjt  mefjr,  toa§  3>pf)igenie  Ijier  juerft 
gefagt  Ijatte.  Sfeijt  erfdjeint  iljr  bie  SEIjat  beS 
UnbanfS,  bie  5ßljfobe§  forbert,  als  eine  SSirfung 
be8  ©ötterfludjä ,  ber  audj  fie  ergreifen  unb  nid)t 
bulben  ttritt,  bafc  fie  i^re  fegenSreidje  ©enbung 
erfülle,  2)ie  Erinnerung  an  btö  ^arjenlieb  ertoadjt, 
unb  fie  fleljt  bie  ©ötter  an,  fie  bor  bem  fjtudj  ju 
betoaljren. 

bettet  mid) 
Unb  rettet  euer  S3ilb  in  meiner  6ecle! 

©te  ift  entfdjloffen,  bem  ßönige  bie  2Baf)rf)eit 
gu  befennen.  ©ie  erfte  ffaffung  enthielt  jtoei  3lu§= 
brüde,  bie  fid)  mit  ber  ©prad&e  3p1)igenien3  nid)t 
vertrugen,  benn  ber  eine  toar  unnüt}  unb  ber  anbere 
fyäfelid).  „ßönnteft  bu  feljen,  tpie  meine  ©eete  burcfc 
einanber  fämpft,  ein  bös  ©efdjtoür,  ba§  fie  er= 
greifen  toitt,  im  erften  2tnfatj  muttyig  abzutreiben." 
3fn  ber  Dottettbeten  3?orm  lauten  bie  Sßorte: 

4* 


52  $ie  Spfjtgenie  in  SBeimar  unb  in  Italien.  [52 

O  fäfjeft  bu,  tote  meine  ©eele  fämpft, 
®in  bös  ©efdjid,  ba%  fte  ergreifen  hntf, 
3m  erften  Stnfatf  mutljiö  a&autreifcen! 

Sine  ber  fd&önften  unb  glüdKidjften  Umge= 
ftaltungen  Betrifft  bie  ©teile,  in  toetdjer  SEIjoaS  feine 
SBerbung  einleitet.  -Kalbern  er  bie  gfeinbe  beftegt 
f)at,  toiff  er  fein  bereinfamteä  §au§  toieber  beleben 
unb  begehrt  bie  ^riefterin  gur  O^tu;  er  Ijat  in 
ber  @djta$t  feinen  legten  ©oljn  verloren  unb 
feijt  borauS,  ba&  Sfoljigenie  $unbe  batoon  erhalten. 
„6§  toirb  bie  -ftadjrid&t  ju  bir  fommen  fein,  bafc 
in  ber  ©d)lad)t  mit  meinen  9iad&baru  i<%  meinen 
legten  @ol)n  Verloren.  @o  lange  bie  Stadje  nod) 
meinen  ©eift  befafc,  empfanb  idj  nid&t  ben  ©^merj, 
empfanb  nid&t,  tote  teer  e§  um  ben  ^Beraubten  fei. 
■ftun  lomme  id)  ^ier^er  in  biefen  Stempel,  too  id) 
fo  oft  um  ©ieg  gebeten  unb  für  ©ieg  gebanft,  mit 
einem  Verlangen,  btö  fdjon  alt  in  meiner  ©eete 
ift,  unb  toünfd&e  jum  ©egen  mir  unb  meinem  Stoße, 
bidj  afe  meine  SBraut  in  meine  SBoIjnung  einju= 
führen." 

3n  ber  bottenbeten  3tow  toirb  bur<%  eine  an 
Söorten  geringe,  an  Sebeutung  tiefe  unb  be= 
ttmnberungStoürbige  3lenberung  biefer  ©teile  bie 


53]  Sie  3tötgenie  in  SESeimat  unb  in  Italien.  53 

SBerbung  mdjt  Wo§  eingeleitet,  fonbern  begrttnbet 
unb  ätoar  fo,  baft  bie  ©eefenfdjönf)eit  ber  Sfpljigente 
unb  bte  eble  ®emütl)3art  be3  £f)oa3  beibe  in  i^rem 
toaljren  ßid&te  erfdjeinen.  3fjr  ift  nidjt  bloä  bie 
SRad&rid&t  jugefommen,  ba&  £ljoa§  feinen  ©ofjn  ber= 
loren,  fonbern  fie  fjat  biefen  SSerluft  mit  iljm  er= 
lebt  unb  getragen.    35er  ßönig  fagt: 

$u  naljmeft  £fjeil  an  meinen  tiefen  ©djmerjen, 
$18  mir  ba3  ©d)tt)ert  ber  Qrcinbc  meinen  ©ofjn, 
$en  legten,  tieften,  bon  ber  Seite  riß. 

3)iefe  SBorte  jeigen  im  föönften  ßuf)t,  toie 
3p^igenie  in  bem  fernen  33arbarenfanbe  fd&on  in  ber 
<£rfütfung  einer  fegenSreid&en  ©enbung  lebt,  an  beu 
ßeiben  auberer  tf)eitnef)menb,  troftfyenbenb,  btn  ©inn 
be£  $onig3  erfjeiternb,  bie  ©itten  be§  äJotfö  öer- 
ebelnb,  eine  ©eelforgerin,  tote  2(r!a§  fie  f Gilbert: 

3)a3  nennft  bu  unnüfc,  toenn  öon  beinern  Söefen 
Slnf  £aufenbe  fjerab  ein  SBalfam  träufelt? 
3öenn  bu  bem  33otfe,  bem  ein  ©ott  bid)  braute, 
S)eö  neuen  ©lüdfeä  eU)'g,e  Duette  wirft? 

©ie  f}at  bie  SKenföenopfer  abgefd&afft,  ben 
3)ienft  ber  ©öttin  geläutert  unb  einen  ©uttitö  ein= 
geführt,  toie  $tjlabe3  iljn  finbet: 

@in  reine3  §era  unb  äöeiljraudj  unb  ©ebet 
Bringt  fie  ben  ©öttern  bar.    Sttan  rühmet  tyoa) 
$ie  ©fitige. 


54  2>te  SMigenie  ™  ÄBeitnar  unb  in  Stalten.  [54 

3fefet  toerfteljen  toir  fo  gut,  toie  22)oa$  eine 
fülle  Steigung  für  biefe  troft  =  unb  fegenSreidje 
3*au  faffen  tnufcte,  bie  feine  tiefen  ©d&merjen  ge- 
seilt unb  geKnbert  Ijat.  3fm  ©treite  toegen  beS 
CtyferS,  bon  3orn  betoegt,  ruft  er  aus,  ba  er  fie 
bitten  §ört:  „SBie  oft  befanftigte  midj  biefe 
©timme!"  Unmoglid),  bafe  SEIjoaS  biefer  grau  ben 
SBruber  raubt,  bie  #eimfel}r  berfagt,  ofyne  ßebe= 
tooljl  Don  tljr  fd&eibet. 

3113  ber  fiönig  baä  £)J>fer  bcfc^lcunigt  fefjen 
toxü  unb  t)on  3tyljigenie  forbert,  bafc  fie  iljtn  ge= 
Ijordje,  fagt  biefe  in  ber  erften  Raffung:  „Sern 
StuSforud)  eines  raupen  9Äanne3  bin  idj  mid) 
ju  fügen  nid)t  getränt". 

@o  burften  biefe  Sßorte  md)t  bleiben,  oljne  bie 
©emütljSart  bes  £ljoag  gu  entftetten.  9Jiit  einer 
glücßidj  toeränberten  SBortftettung  mürbe  in  ber 
legten  Raffung  geholfen.    £ier  fagt  Spljtgenie: 

3>em  raupen  SCuSfprud)  eines  2ttanne8  mid) 
3u  fügen,  lernt'  id)  toeber  bort  nod)  tyter. 

6$  ift  ja  ein  grofeer  Unterfdjieb,  ob  ber  9Jlann 
raul)  ift  ober  fein  StuSfprud)! 

Ueberljaupt  lann  man  an  meljr  als  einer 
©teile  bemerlen,  tote  bie  bottenbete  3fortn  au<§  bem 


55]  $ie  3p$genie  in  äBeimar  unb  in  Italien.  55 

SEljoas  gu  gute  gefommen  ift.  3n  ber  erften 
Raffung  fast  SlrfaS:  „Sern  fiömg  fottte  nidjts 
©eJjetmntfc  fein.  Unb  ob  er'S  gteid)  nidjt  forbert, 
füf)lt  er'S  bodj  unb  füljtt  e§  tief,  bafc  bu  forgfältig 
bidj  bor  iljm  bewarft."  2)ie  letjte  Raffung 
lautet : 

Unb  df>  er'$  gleidj  nidjt  forbert,  fü^lt  et'8  bodj 
Unb  füljU  es  tief  in  feinet  gro&en  ©eele, 
®aj$  bu  forgfäftig  bidj  fcor  ifjm  toettoafjrft. 

3)iefe§  SBort  Ijebt  ben  ßljaralter  beS  ßönigS 
unb  giebt  uns  fdjon  ben  ßinbrud  besfelben,  nodj 
betoor  nrir  iljn  felbft  l)ören. 

3n  ba§  tetjte  ©efprädj  gtoifdjen  Spljigenie  unb 
SWfaS  Ijat  ber  SHdjter  eine  für  bie  nteifien  ßefer" 
tool)t  Verlorne,  gebanfentooüe  ©teile  t>on  rüljrenber 
Srljabenljett  unb  Ijiftorifdjer  ßraft  erft  eingefügt, 
als  er  bie  Soffung  feines  SBerlS  toottenbete.  ®er 
»ote  bittet  bie  Sßrtefterin,  ben  SBunfö  beS  ÄönigS 
gu  erfüllen,  bamit  bie  ©efittung  beS  JBoKS,  bie 
fie  angelangt  Ijat,  fortbaure  unb  gebei^e.  ©ie 
möge  tf)r  eigenes  SBerf,  baS  ber  üJtenfdjenfcereblung 
im  ßanbe  ber  Sarbaren,  nidjt  im  ©tidj  laffen: 

O  toenbe  nid&t  t>on  uns,  toa8  bu  toertnagft! 
$u  enbeft  leidjt,  frag  bu  begonnen  f)aft: 


56  $te  ©renken  ber  aHenfätjeit  unb  ba8  ©öttli($e.  [56 

3)enn  nirgenbS  baut  bte  9Mbe,  bic  Ijerab 
3n  menfdjttdjer  ©cftalt  toom  £tmmel  fomntt, 
6in  SReid)  fidj  fdjneffer,  al8  too  trüb  unb  ttrilb 
ein  neues  SBolf,  öott  Beben,  SJtutt)  unb  Äraft, 
©id)  fctbft  unb  banget  Slfjnuna,  überlaffen, 
S)eS  ÜDUnfdjenlebenö  fdjtoere  SBfirben  trägt. 

T1L  J>ie  $tett}ett  bet  $fettf<Mktf  ttttb 

bas  ^ofitt^e. 

©in  9Kenfd(jenalter  toar  fett  her  Srfdjeinmtg 
bcr  Sfoljigenie  Vergangen,  als  ©oetfje  im  fünf= 
jeljnten  83udj  ber  Sefenntniffe  aus  feinem  ßefien 
biefeS  SBerfeS  gebadjte,  nadjbem  er  unmittelbar  bor= 
Ijer  bon  feinem  5ßrometl)eu3  gerebet.  ®er  titanifdj= 
gigantifdje,  Ijtmmelftürmcnbe  ©inn  fjabe  feiner 
2)idjtung§art  leinen  ©toff  metyr  berlieljen ,  bo$  feien 
©eftatten,  tote  S£antalu§,  Sfeion,  ©iftypljus  nodj  feine 
^eiligen  getoefen.  „3fn  bie  ©efellfdjaft  ber  ©ötter 
aufgenommen,  motten  fic  fidj  nidjt  untergeordnet 
genug  betragen ,  als  übermütige  ©äfte  iljreS  nrirtlj= 
litten  ©önner§  3orn  fcerbtent  unb  fidfj  eine  traurige 
Verbannung  angezogen  Ijaben.  $dj  bemitleibete 
fie,  iljr  3uftanb  toar  Don  ben  Sitten  fdfjon  als 
toaljrljaft  tragtfd)  anerfannt,  unb  wenn  idj  fie  als 
©lieber  einer  ungeheuren  £>M)ofition  im  £inter= 


57]  $ie  ©renjen  bcr  9Renf^eit  unb  ba8  ©öttltd&e.  57 

grunbe  meiner  3£l)igenie  geigte,  fo  Bin  idj  tljnen 
tooijl  einen  SEljeit  ber  SBirfung  fd&ulbig,  toeldje 
biefeS  ©tüd  Ijertoorjubringen  baS  ©lud  Ijatte/ 

3n  biefen  (Srinnerungeu ,  bie  burdj  bie  3fal)re 
ettoaS  toerblid&en  toaren,  Ijat  ©oetlje  meljr  feinen 
SEantaluS  bor  Slugen,  als  feine  3tyljigenie,  bie  bod) 
eingig  unb  allein  bie  §elbtn,  nrie  bie  &  eilige 
feiner  2>idjtung  toar.  Srettidj  bot  jener  titanifdj- 
gigantifdje  ©imt,  ber  im  5ßromet^eu§  Ijerrfdjte, 
feiner  ©idjtung  leinen  ©toff  meljr,  er  toar  au8= 
gelebt,  unb  bie  toetmar'fdje  3*it  braute  Aufgaben 
unb  ^orberungen  mit  fidj,  praftifdje  tote  aud) 
bid&terifdje ,  bie  nidjt  me^r  titanifdj  genommen 
fein  toottten.  9ttan  öergleidje  nur  ©oetljeS  Sßro* 
metljeus  mit  feiner  3pl)igenie,  um  öon  bem  ©egen= 
fafce,  ber  fie  trennt,  ergriffen  ju  »erben!  3)er 
titanifdje  SBibertoitte  gegen  bie  ofympifdjen  ©ötter 
grollt  nur  nodj  im  5ßar  jenliebe ,  toeldjeS  berljattt. 
3)ie  religiöfe  ßebenSanfdjauung,  bie  ber  3foljigenie 
ju  ©runbe  liegt,  erfüllte  ©oetljen  felbft  unb  ergofc 
fid)  in  einigen  erhabenen  2)id)tungen,  bie  mit  ber 
unfrigen  fo  gut  n>ie  gleidjjettig  toaren. 

3m  ©efüljt  feiner  fdjaffenben  ßünftterfraft,  bie 
nur  in  fid)  ruljen  unb  alles  felbft  öüflenben  toitt, 


I 


58  $te  ©tenscn  ber  ölenfd&Ijeit  unb  bag  «öttlidbe.  [58 

Ijatte  ber  ©oetlje'fdje  5ßrometIjeu8  bem  SSater  ber 
©ötter  SErofc  geboten: 

3<$  fenne  niä)t$  ärmeres 

Unter  ber  6onn',  als  eudj,  ©ötter! 

3ftr  —  barbtet,  mären 

9fcid&t  Äinber  unb  »etiler 

£offnung,8t>ofle  Sporen. 

3$  big  eljren?  2öoffir? 

©er  SDidjter,  ber  bie  Spljigenie  gefd^affen  ^atte, 
gafc  feinem  5ßrometl)eu8  bie  Slnttoort  auf  biefe 
gfrage:  ,3*  bid&  eljren?  SBofür?"  2Ba8  ift  ber 
SWenfdj  in  feiner  SBerffiätte  gegen  ben  Söater 
ber  SBelt! 

2öenn  ber  uralte 
^eilige  Söater 
9ttit  gelaffener  #anb 
&u8  roflenben  SBolfen 
©egnenbe  SMifce 
Hebet  bie  Grbe  fä't, 
Äfiff  id&  ben  legten 
(Saum  feined  ftleibed, 
Hinblicke  ©ä)auer 
£reu  in  ber  ©ruft. 
Denn  mit  btn  ©öttern 
©oll  fi<$  ni<$t  meffen 
Srgenb  ein  SWenfdj! 

2)er  ©idjter  ber  3pljigenie  toufcte  e8  tooljl, 
ba&  ber  SWenfdj,  ber  mit  ben  ©öttern  fidj  miftt, 


59]  $te  ©ttttaen  bex  SRenfdfteit  unb  baS  ®öttlt<$e.  59 

ftdj  öermijjt,  unb  ba§  aus  bcr  äJermeffenljeit  bie 
immertoftljrenbe  unbefriebicjte  ©ier  folgt,  toorin  bic 
SEantaluSqual  befielt,  nidjt  bloS  in  bcr  Unterwelt, 
audj  in  bcr  ßbertoelt!  @r  fannte  bic  „©renjen 
bcr  3ttenfä$eit"  unb  „baS  ©öttli^e",  baS  fufc  in 
iljr,  tote  in  feinem  anberen  bcr  gefdjaffenen  SBefen 
um  uns  Ijer  offenbart.  2)a§  ©öttlidje  in  uns  cr= 
leuchtet  uns  baS  SBefen  bcr  ©ottljeit  unb  bilbet 
ben  ©runb  unfcrcS  ©taubenS,  nur  fott  es  nid)t 
bloS  flefagt,  fonbern  erlebt  unb  erfüllt  fein: 

©bei  fei  ber  9ttenfd), 
£ftlfreiä)  unb  gut! 
Senn  baS  allein 
Untertreibet  itjn 
SBon  allen  SBefen, 
$ie  toir  lennen. 

#eit  ben  unbefannten 
#öljeren  SBefen, 
Sie  toir  aljncn! 
€>ein  JBeifpiel  le^r*  un8, 
Sfene  glauben. 

Unb  toir  bereiten 

Sie  Unfhrblidjen, 

2118  toären  fte  9Kenfd)en, 

Späten  im  ©ro&en, 

3Ba8  ber  SBefte  im  kleinen 

£ljut  ober  möäjte. 


60  $ie  ©rengen  bet  aRenföfceit  unb  baS  ©öttlifle.  [60 

2)er  eble  SKenfö 
©ei  ^ülfxcid^  unb  gut! 
Unermübet  fdjaff'  et 
$a3  ftüfelidje,  IRed^te, 
©et  und  ein  Storbilb 
3encr  gearteten  2GÖefcn! 

5Bon  btefem  ©lauten  fear  ber  ©Ijarafter  unferer 
Sfpljtgenie  erfüllt,  in  btefem  ©lauben  tt)ar  er  ge= 
btdjtet. 


<S.  5-  SQBtnter'föe  »u<$bruc!erei. 


®oetfte~Scfi*iften 


tum 


ßtmo  JftfÜJZX. 


2. 


-•••- 


§fe  <Mtörmt00<trtett 


bes 


©oettjefdjen  $iroft 


#on 


Anno  fHfdjer. 


fcribelberg. 

©arl  2Btnter'S  Unit>erfüat8fcud&i)anblung. 


Sitte  9te$te  öorfceljalten. 


* 

•sr 


Sortoott. 


S5aS  SHjema  biefer  ©djrift  tft  bcr  ©egen* 
ftartb  eines  Vortrages,  ben  idj  bor  gtoei  Starren  in 
ber  9JtufeumSgefeKfd)afi  ju  ßarlSrulje  gehalten 
Ijabe  unb  in  feinem  bamaligen  SBortlaut  beröffent= 
lidjen  toollte.  216er  ba  gleidjjeitig  bie  Stuffinbung 
einer  Slbfdjrift  ber  älteften  gauftbidjtung  ©oetljeS 
berfünbet  ttmrbe  unb  beren  Verausgabe  bet>or= 
ftanb,  fo  unterblieb  junädjft  bie  SluSfüljrung  meiner 
2lbfidjt  unb  ijat  fidj,  toeil  unborljergefeljene  unb 
bringenbe  arbeiten  bajttrifdjentraten,  bis  Ijeute  Der* 
jögert.  Sleljnlid)  toar  eS  ber  neuen  Auflage  meiner 
©d&rift  Aber  ©oetljeS  gauft  ergangen,  bie  jur  3*it 
jenes  Vortrages  erfdjten.  Einige  für  baS  Stljema 
ttridjtige  fünfte,  bie  in  bem  SBudje  ausführlich 
enitoitfelt  toaren,  enthielt  ber  Sßortrag  in  gebr&ngter 
ßürje.  3idj  Ijabe  bie  5orm  beS  letjteren  betbe= 
galten,  tooburdj  bem  Umfange  ber  ©djrtft  getoiffe 


66  »ortoott  [6 

©rengcn  gefegt  finb.  ®iefe  ntc^t  ju  toeit  ju  über= 
freiten,  Ijabe  idj  l}iet  barQitf  t>ergtd^ten  muffen, 
bie  @rflärungSarten  bis  in  iljre  Slntoenbung  auf 
bic  31  uS legung  unfereS  SBerleS  im  (Sinjelnen  ju 
Verfolgen,  darüber  ttritt  idj  meine  Söetradjtungen 
an  einem  anbeten  Orte  ausführen. 

2BaS  ben  3fnljalt  meines  Vortrages  betrifft,  fo 
Ijabe  idj  an  ben  ©tunbjügen  beSfelben  im  2Befent= 
üdjen  nidjtS  gu  ftnbern  gehabt,  aber  idj  toar  burdj 
bie  neuen  ßrgebniffe  ber  ffauftforfdjung  in  fjfolge 
jenes  unerwarteten  {JatnbeS  ju  neuen  3luSeinanber= 
fefcungen  unb  Ausführungen  berpfßdjtet,  toeld^e  ber 
aufmerlfame  ßefer  gleidj  als  fotdje  erfennen  toirb. 

§eibelberg,  im  SDTftrj  1889. 


SMalt. 

Seite. 

I.  3)a8  3citalter  be3  @ebi$teS 9 

II.  $te  Milofopljifdje  erflärungöart 14 

in.  $te  ^iftorifdge  erHärunggart 18 

IV.  Stte  Slbtoege  beiber  (SrfiarungSarten 24 

1.  Stte  falfdje  3tnna^me  bet  ßrbidjtung    .   .  25 

2.  $ie  falfdje  Unna^me  bet  (Entlehnung   .  .  29 

V.  3>ie  p^ilologif^e  erfldrungSart 33 

1.  S)ic  un!titifd)e  SBergleidjung 36 

2.  Sie  fritifdje  SBetgletdjung 41 

VI.  3)ie  pl)itoIogifd)e  UnterföeibungSfunft  ....  57 

1.  3>er  Urfauft  in  $rofa 57 

%  S)er  Urinonolog 62 

3.  Sie  @ret<$enttagöbie 69 

VII.  ein  ©tumnunggoilb  im  gfauft 84 

Vin.  3)ie  religiofe  3bce  be8  ©ebtdjteS 88 


I*  3>ft*  geitattex  fce*  $tbi<$fe$. 

3m  nädjften  3aljre  toerbeu  ©oeiljeä  Sauft  unb 
S£ajfo  ba3  erfte  Sfaljrfiunbert  iljrer  öffentlichen  ßauf= 
baljn  tjottenben.  (£§  toar  freüidj  nur  ein  SBrudj* 
ftüdf  beS  gauft,  toeldjeS  äu  Oftern  1790  ersten, 
faum  ber  fünfte  SEljetl  be8  ©anjen;  cxft  adjtje^n 
3toljre  fpäter  folgte  ber  bottenbete  erfte  Stljetl  unb 
nod&  muftte  btc  SBelt  faft  ein  SSierteljaljrljunbert 
toarten,  bebor  fie  im  SobeSja^re  beS  3)idi)ter3  ben 
jtoeiten  empfing,  ber  bie  Steige  ber  nadjgelaffenen 
SBerfe  eröffnete.  @eit  jenen  Sfugenbtagen  in  2Be|* 
for,  tt)o  ©oetlje  ben  2Bertl)er  erlebte  unb  ber  Sauft 
in  iljm  gäljrte,  toaren  gtoei  3Jlettf djenalter  ber= 
gangen.  Unb  gtt)ei  3faljrljunberte  älter  atä  jenes 
Sragment  toaren  bie  älteften  Jöolfäbüdjcr  Dom  Sauft 
unb  bie  erfte  Saufttragöbie,  toetdje  ber  ßnglänber 
SUlarlotoe  gebietet  Ijatte.  S)iefer  toaren  im  ßaufe  beS 
fiebjeljnten  3fal)rljunbert3  bie  beutfdjen  ÜBolföfdjau- 


70  $ie  SrftärungSartcn  bc8  (Soetyefd&en  ftauft  [10 

fpiele  Dom  2)octor  fjauft  gefolgt,  tooraus  gegen  bie 
3Äitte  beS  adfjt  jeljnten  bie  SPuppenfoiele  Ijertoorgingen, 
bereit  eines  bie  Spijantajte  unfereS  3)id)terS  frfifc 
jeitig  unb  tief  ergriffen  Ijatte,  fo  ba§  bie  Bebeutfame 
5J>uJ)pcnfpiclfabcl  gar  öieltönig  in  il)tn  nadjflang. 
9Äit  bem  ftlteften  3<*ufiBud),  toeld&eS  jur  §er6ftmeffe 
1587  in  ©oetljeS  SSatcrftabt  erfdfjien,  Begann  bie 
3?auftliteratur,  beren  bramatifd&e  ©idfjtungen  bie 
3aljl  fyuubert  tocit  üBerfieigt. 

»IS  ©oetlje  im  Saljre  1813  ben  ©idjter,  bem 
feine  Ijödjfle  SJetounberung  getoibmet  mar  nnb  Blieb, 
Don  neuem  unb  umfaffenber  als  je  toürbigen  tooüte, 
naljm  er  jur  UeBerfdjrift  bie  SBorte:  „©Ijafefteare 
unb  fein  @nbe\  „@S  ift  über  ©Ijafefpeare  fdjou 
fo  Diel  gefagt,  bafj  eS  fdfjeinen  tnöd&te,  es  toäre 
nidjtS  meljr  ju  fagen  übrig,  unb  bodf)  ift  bieS  bie 
©genfd&aft  beS  ©eifteS,  bafc  er  ben  ©eift  etoig 
anregt."     ©o  Begann  er  feine  ^Betrachtung. 

S)affel6e  gilt  aud)  fcon  iljm  unb  feinem  Sauft. 
ÜDtan  toirb  nie  aufhören,  Stentes  2Beltgebidf)t  ju 
lefen,  benn  ber  ©egenftanb,  ben  es  barftefft,  ift 
ein  £f)ema  t>on  etoigem  Snljalt:  bie  ©djulb,  bie 
ßäuterung  unb  bie  ©rlöfung  beS  Sötenfdfjen.  <£Ben= 
baffelbe  gilt  toon  ber  SBebeutung  unb  Stotofrfung 


11]  $a3  Stitalttx  bc8  <8ebtd&te8.  71 

be3  ©oet^cfd&en  ffauft-  (£8  toürbe  barum  eine 
ber  Kterartfdjen  SBeltorbnung  unb  tt)rer  SBerilje 
unfunbige  35enfart  öerratljen,  tooflte  jemanb  im  STone 
beä  Labels  fagen:  „©oetljeä  ^auft  unb  !ein  @nbe". 
Set  Stammbaum  biefeä  ©ebidjteS  ttmrjeft  tief 
in  ber  SSergangenljeit  unb  toirb  baburd)  nid)t 
geringer,  bafc  feine  JBorfaljren  SBolföbüdjer  unb 
33olf§fd)aufpiele  toaren,  benn  man  toeifc,  toa3  im 
Sfteidje  ber  ©idjtung  bie  t>olfötl)ümüdf)e  ^erfunft 
im  Unterfdjiebe  bön  ber  fcorneljmen,  b.  I}.  toon  ber 
gelehrten  unb  funftmäfcigen,  bebeutet.  S)ie  eigene 
©egentoart  aber,  bie  es  erlebt  Ijat  unb  in  fidj 
trägt,  toar  eines  ber  traten-  unb  ibeenreidjfien 
3eitalter,  toeWje  bie  SDtenfdjljeit  je  gefeljen  unb  nie 
in  einem  fo  furjen  Seitraum.  Site  baS  Fragment 
unfereS  fjfauft  erfdjien,  Ijatte  bie  frangöfifdje  9leöos 
lution  iljren  ßauf  begonnen;  fie  ^atte  benfelben 
tooflenbei  unb  einen  ßäfar  geboren,  ber  fdjon  ber 
©ebieter  ber  SBelt  toar,  als  ber  erfte  SEfjeil  be3 
fjauft  an  btö  ßidjt  trat.  2fn  bemfelben  3(aljre  er= 
festen  Stapoleon  in  6rfurt,  too  er  ben  2)id)ter 
beS  SBertljer  ju  fidj  berief  unb  iljn  aufforberte, 
nunmehr  einen  ßäfar  ju  bieten,  ba  jejjt  bie  $Poütif 
ba&  ©d&itffat  ber  SBelt  fei. 


72  Die  Grflänmg&arten  beft  (Soetycföen  ftauft  [12 

911s  ©oetlje  gefragt  ttmrbe,  toeld&en  unter  ben 
neueren  5ß^ilofo^en  er  für  ben  t>orgügtid)ften  Ijalte, 
antwortete  er:  „Ofjne  allen  3»ctfel  Äant,  benn 
er  tft  berjenige,  beffen  Seljre  ftdj  forttoirfenb  er* 
toiefen  unb  am  tiefften  in  unfere  beutfdje  ßultur 
eingebrungen  tft".  @Ieid)geittg  mit  ber  (Sntfteljung 
ber  ßantifdjen  SBernunftfriti!  toar  bie  be8  ©oetljefdjen 
gauft ;  gleidjgeitig  mit  ber  Ärttif  ber  Urtljeitefraft, 
biefem  legten  ^aupttoerfe  fiants,  erfdjien  bas  3frag= 
ment.  Der  <ßönig3berger  5ßf}ilofo:pl)  ftanb  bamate 
auf  ber  £öl)e  feiner  ©eifteStljat.  2)ie  ^ß^tlofop^en 
iJidjte,  ©djefling  unb  &egel  toaren  xf)m  gefolgt 
unb  Ratten  baS  Seitalter  mit  i^ren  3been  erfüllt, 
ate  ©oetlje  im  3afjre  1808  ben  erften  S^eit  feiner 
fjaufttragöbie  Verausgab.  (Sinige  ftebgig  3fauft= 
bidjtungen  Ijabcn  mit  iljr  gu  wetteifern  getoagt, 
aber  finb  in  bem  ßidfote  be§  großen  ©eftirnö  fdjnett 
toerblaftt;  leine  toar  im  ©tanbe,  bie  ©eifieSfütfe 
be§  f djidf fals  =  unb  gebanlentootten  3^ttaltcrS  f o,  roie 
bie  unfrige,  auszuprägen  unb  gu  offenbaren,  &aben 
bodj  alle  einflufjreidjen  3)enfer  ber  Seit  iljre  Sbeen 
mit  ©oetfyeS  Sauft  gu  toergleidjen  unb  iljrc  ©eifte§öcr= 
toanbtfdjaft  mit  bemfelben  nadjgutoeifen  gefudjt,  um 
babur<$il)reneigenenSert$unb©eI)aftgubeurfunben. 


13]  $a8  3eita(tet  bc8  (äkbtdjte».  73 

Unb  ber  getoaltigjte  ®id)ter  ber  nadjgoetljefdjeu 
3eit  füllte  fidj  toon  3fbcen  erfüllt  unb  getrieben, 
bie  aus  unferem  gfauji  ftammten.  2lls  er  feinen 
©arbanapat  bem  25idjter  beS  fjauft  ttribmete,  fagte 
ßorb  Sljron:  „3)em  großen  ©oetlje!  ©in  2luS= 
länber  wagt  es,  bie  £ulbigung  eines  literarifdjen 
SBafatten  feinem  ßefjnsijerrn  barjubringen,  ber  bie 
ßiteratur  feines  SBaterlanbeS  gefd&affen  unb  bie 
ßuropaS  berljerrüdjt  fjat. "  ©eine  eigenen  2)id)tungen 
fjaben  fid^  gleidtfam  in  bie  beiben  (Seelen  unfereS 
Sauft  geseilt:  „2)ie  eine  Ijftlt  in  berber  ßiebeSluft 
ftdf)  an  bie  SBelt  mit  flammernben  Organen,  bie 
anbere  Ijebt  getoaltfam  fidj  bom  2)uft  ju  ben  ©e= 
filben  Ijoljer  SHjnen"!  2lu8  Jener  ift  StyronS 
©arbanapal  unb  3)on  Sfuan,  aus  biefer  fein  3Jtan= 
freb  unb  Äain  hervorgegangen.  3Ran  fennt  ben 
beljerrfdjenben  ©influfj,  ben  biefer  englifdje  Sinter, 
ber  ein  SBafatf  ©oetfyeS  fein  mottte^  auf  bie  euro* 
:päifd)e  ßiteratur  ausgeübt  f)at.  ®S  würbe  nidjt 
fdjtoer  fein  nadjjutoeifen,  ttrie  eine  Steige  ber  eigen* 
tljümlid&ften  3)id)tungen  unfereS  SfaljrljunbertS  S£Ije= 
mata  beljanbeln  unb  bariiren,  toeldje  ber  ©oetljefdje 
gauft  in  fid)  fdjlie&t,  es  feien  nun  ©runb*  ober  , 
ffatgetljemata.    ®ineS  ber  lederen  ift  j.  33fp.  ber 


74  $te  @ttt&rung3<reten  bc8  ®oet&efd)en  ftauft.  [14 

£ejenfabbatlj,  bcr  auf  bem  SBlocfSberge  einmal  im 
3aljr,  in  unfcrcn  grofeen  SBeltftäbten  tägtidj  unb 
taufenbfad)  erlebt  ttrirb.  Unb  toaS  tljun  einige 
unferer  gelefenften  unb  intereffanteften  £ageS* 
tomane  anbereS,  als  bafj  fte  foldje  SDjemata  in 
Ijödtft  anfdjaulid&er  fjütte  barfteff cn  ? 

Unmögtirf)  lann  ein  ©ebidjt,  toeldjeS  eine  fo 
grofce  SBergangenljeit,  ©egentoart  unb  -ftadjfolge 
Bc^errfc^t,  fo  furjlebig  fein,  ba§  es  faum  3tt>ei 
9Äenfdjenalter  nad)  feiner  Stollenbung  ausgelebt 
unb  feine  ©rgrünbung  crfd&öpft  fein  fottte.  @d)on 
bie  jaljlreid&e  unb  ftets  toad)fenbe  iDienge  ber  @r= 
läuterungSfdjriften  ju  ©oetljeS  ^auft  betoeift  uns, 
bafc  bie  SBelt  eine  (Srflärung  biefeS  SBerfeS  be= 
geljrt  unb  bie  bisherigen  JBerfudje  iljre  Aufgabe 
enttoeber  toerfeljlt  ober  nidjt  grünblid)  unb  Dott= 
fiänbig  genug  gelöft  Ijaben.  (Ss  fei  mir  bergönnt, 
bie  3lrt  biefer  ÜBerfudje  in  bem  gegentoärtigen  33or= 
trage,  fo  toeit  feine  ©renjen  reidjen,  nftljer  ins 
Stuge  ju  faffen  unb  ju  prüfen. 

n.  |>te  pfltfofopIHfdJe  §xmxun$*axt. 

S5er  Äem  aller  Sauftbidjtung  ift  eine  reli* 
giöfe  Säbel.    (Sin  Ijodjftrebenber  unb  Ijodjbegabter 


15]  £te  tfirofotätfge  ©tH&trotgSart.  75 

3Äenfd),  t>on  Surft  nadj  SBaljrljeit  unb  SHSelt  ge= 
trieben,  toirb  bem  SDienfte  ©otteS  untreu,  trautet 
nad)  Swberlräften,  befd)toört  ben  S£eufel  unb  Der* 
fdjreibt  iljm  feine  ©eele,  bie  für  immer  ber  &öfle 
gehören  fott,  nadjbem  er  eine  ftolje  unb  üppige 
»ettfafri  genoffen  $at.  fciefe  3fabel  enthalt  felbft 
in  i^rer  rodelten  {faffung  eine  Stetfje  gettridjttger 
SSorftellungen  über  ben  Äampf  be3  ©uten  unb 
SBöfen  im  £erjen  ber  SKenfdjljeit,  über  bie  Strieb* 
febern  ber  ©djulb  unb  beS  33erberben8:  lauter 
£t)emata,  toorin  tief  geljenbe  fragen  ber  [Religion 
unb  Iß^itofo^ie  gufammentreffen. 

3m  ßaufe  be3  fedjSjeljnten  3aljrl)unbert3,  bem 
Seitalter  ber  beutfdjen  SBiebergeburt  beS  6ljrtften= 
tljumä  unb  be8  SlltertljumS ,  unter  bem  ©nfiufe 
ber  bamaligen  religiofen  unb  pljilofopljifd&en  3cits 
ibeen  entftanb  ber  SDtytljttS  öom  ©octor  Sauft, 
beffen  religiofe  Senbenj  fidj  in  ben  5Bolf3büd)ern 
ausprägte. 

3n  ben  Starren  öon  1771—1831,  einem  öon 
religiofen  unb  ^ilofo^ifdjen  Sbeen  tief  betoegten 
Seitalter,  bem  größten  ber  beutfdjen  Spijilofopljie, 
ba8  öon  ben  anfangen  ber  ©podje  ßante  bis  junt 
SEobe  legete    reidjte,    entftanb,    entttritfelte   unb 


76  Die  (Erft&rungSatten  be8  ®oct$efd&cn  Sauft  [16 

bottenbete  jtd)  bcr  ©oetfjefdfje  fjfauft.  2)ie  alte  ^abel 
bom  beutfdjen  3Äagu3  be§  fcd&Sje^nten  3al)tl)imbert§ 
unb  bte  neuen  3fbeen  ber  beutfdjen  $ljilofot>I)te, 
toelcfie  ba8  legte  SJienfdfjenalter  be8  Vorigen,  ba§ 
erfte  btefeS  3a^r^unbertS  betoegt  Ijaben:  ba§  ftnb 
bie  Sletnente,  toeldje  unfer  ©ebidjt  in  jtd)  auf= 
nehmen  unb  toerbinben  tnufcte,  benn  eS  burfte 
lueber  feine  ©rbfd^aft  nodb  feine  ©eburt  Verleugnen. 
3)arum  ift  biefeä  2Berf  Iraft  feines  UrforungS  eine 
religiöfe  unb  J)I)tlofoJ)i)ifd)e  2>id)tung,  bie  ofjne  bie 
©rfenntnifc  ber  in  üjr  ttrirffamen  SSbcen  m<$t  tooljt 
gefaxt  unb  burdjbrungen  toerben  !ann.  2)a8  2Jer= 
ftänbnifc  beffelben  toax  unb  bleibt  beSljalb  eine 
J)I)ilofo:|)I)tfd(je  Slufgabe. 

Slud)  nahmen  bie  erften  StflärungSöerfud&e,  bie 
bem  ©ebtdjt  auf  bem  Sufce  gefolgt  ftnb,  biefe 
Sftid&tung*  fie  ftcUten  fidj  bie  Slufgabe,  bie  fjabel 
unferer  fjaufttragobie  ju  erörtern  unb  beren  ÜDtoral 
auSfinbig  gu  tnadjen.  2)iefe  galt  als  bie  ©runb= 
ibee,  toeld&e  in  ben  5ßerfonen  unb  #anblungen  ber 
©idjtung  un§  bilblidj  bargefteüt  fein  fottte.  ©o 
hmrbe  bie  ^ilofop^ifd&e  drtlärung  jur  allegori= 
fdjen  ©eutung  unb  ©eutelei.  2>a8  gange  ©ebidjt 
erfd&ien  guletjt  trne  eine  3wberft>Ijare,  innerhalb 


17]  $ie  MtofoMfc&e  ®tfläTunfl8att  77 

bcrcn  man  nid)t  mc^r  feinen  ©innen  trauen  bürfe 
unb  bie  natürlidjften  3)inge  für  ettoaS  ganj  anbereS 
anfeljen  muffe,  als 'fie  finb  unb  ftdj  geben.  SJlan 
tourbe  belehrt,  toaS  bie  ©pajiergänger  toor  bem 
SEIjore  bebeuten,  ber  Üang  unter  ber  ßinbe,  bie 
Statte,  bie  baS  Pentagramm  jernagt,  bie  %i$zx  in 
2luerba<$S  ßeßer,  ber  SBein,  ber  aus  ber  SEifdjlabe 
fliefet,  baS  ©djmudffäfidjen  in  ©retdjenS  ©djrein, 
ber  ©djlüffelbunb  unb  bie  Sßad&tlam^e,  womit  gauft 
©retdjenS  ßerter  Betritt,  unb  toaS  bergleidjen 
9tätljfel  meljr  finb.  @S  ttmrbe  fogar  gefragt:  »aS 
bebeutet  ©retdjen? 

©er  ©runbfefjtcr  aKer  biefer  (Srllärungen  toar, 
bafc  fie  t>on  einer  fertigen  ©runbibee  ausgingen, 
bie  man  ber  2)id)tung  unterlegte,  unb  toorauS  bie= 
felbe  entfprungen  fein  foHte,  toie  bie  gäbet  aus  ber 
SJtoral.  Ueber  bie  ©runbibee  felbfi  toaren  bie  2luS= 
leger  feineStoegS  einig.  216er  fie  nahmen  bie  2)id)= 
tung,  als  ob  ©oetfje  feine  gfauftfabel  lebiglid)  er- 
funben  unb  iljrer  Slbfidjt  gemäfc  baS  SBerf  nadj 
einem  Sßlan  unb  in  einem  ®uf$  ausgeführt  fjabe, 
toäfjrenb  bodj  bie  fjauftfage  fdjon  jtoei  3af)r1)unberte 
alt  toar,  als  ©oetlje  fte  ergriff,  unb  ©oetljeS  Sauft 
jtoei  SDlenfdjenalter,  als  er  gur  SßoHenbung  gelangte. 

fluno  ftifdjer,  ®oct^«s ©Stiften.  6 


78  $te  @rffönmfl8arten  bc8  GJoetfjefdfjen  ftauft.  [18 

2Iuf  bcm  SBege  bicfer  unb  äljnlidjer  @rflarung§= 
arten  liefe  ftd)  bie  SlufgaBc  nid^t  löfen,  ba  man 
Don  bem  ttrforunge  unb  ber  Sntfteljungäart  be§ 
SBerleS  fatfdje  JBorfteflungen  ^atte.1 

ID.  |>ie  §iftotif$e  grßtörungsarf. 

ßrfannte  3rrtl)ümer  ftnb  oft  unfere  befien  2Beg= 
toetfer.  2)ie  pfjtlofopljifdjen  2)eutung8t>erfud)e  mußten 
aufgegeben  unb  ber  SBeg  ber  fjiftorifdjen  Unter= 
fudjung  eingefdjlagen  toerben.  9htn  rücften  eine 
SDtenge  Etagen  in  ben  SBorbergrunb ,  bie  bisher 
fo  gut  tt)ie  unbeadjtet  geblieben.  (Sine  Srage  roedte 
bie  anbere.  68  mar  nid)t  genug,  bie  (Sntfteljung 
unb  5örtbilbung  be§  ©oetljefdjen  fjauft  ju  er= 
forfdjen;  man  mußte,  ba  man  feinen  Stammbaum 
bor  fidj  faf),  audj  bie  ©ebilbe  ber  fcorgoetljefdjen 
ftaufibidjtung  in§  STuge  faffen  unb  auf  i^ren  Ur= 
fprung  unterfudjen,  man  mufete  öor  aüem  bie  33otfö= 
büdjer,  biefe  Urformen  ber  Sauftliteratur ,  ger= 
gliebern,  inSbefonbere  ba§  erfte  unb  ältefie,  unb  ba 
bem  Qüuftbud)  bod^  bie  2lu3bilbung  ber  Sctuftfage 


1  ÜDteine  ©djrift:  ©oetfjeS  Sfouft  nad)  feiner  (£nt* 
ftefjung,  3bee  unb  (Sompofition.  3tt)eitef  neu  Bearbeitete 
unb  öennefjrte  2luflag,e.  (Stuttgart,  Gotta  1887.)  6.8-15. 


19]  «Die  Wtortfdfc  ©rHärunflSart  79 

vorausging,  fo  toax  bie  6ntfiel)ung  ber  leiteten 
ju  ergrünben.  3cigtc  fid)  nun,  bafc  beibe,  bic 
Sfauftbüdjer  tote  bic  fjauftfagen,  ©ammeltoerle 
Don  feljr  bunter  3ufammenfet}ung  finb,  fo  mufeten 
fic  in  iljre  StüdEe  gerlegt  unb  jebeS  berfelben 
auf  feinen  Urforung  geprüft  »erben,  ©o  Raufen 
unb  treuen  fid)  bic  l)iftorifd)eu  fragen,  um 
fidj  lieber  gu  Raufen  unb  ju  feilen,  toobei  eS 
natürlich  nid)t  ausbleiben  lann,  baf$  eben  fo  Diele 
Streitfragen  entfielen  als  fragen  unb  unfid&ere 
annahmen. 

©laubtoürbige  SRänner  Ijaben  in  ben  erften 
ffiecennien  beS  fed)Sgef)nten  SaljrljunbertS  aus  eigener 
ßenntnifc  Don  einem  lanbftreidjenben  ©aufler  be= 
rietet,  ber  fidj  ben  jüngeren  Sauft,  ben  gtoeiten 
SRaguS  nannte  unb  tt>ol)t  bie  $erfon  toar,  bie 
f  d&on  bei  ßebjeiten  ein  ©egenftanb  fagen^after  Ueber= 
lieferung  mürbe:  ber  «Rem,  toorauS  in  ber  gtoeiten 
£älfte  beS  SaljrfyunbertS  baS  coßectiDe  ©agengebilbe 
„Don  bem  (Srggauberer  3)octor  Sfoljann  Sauft" 
IjerDorging.  ©o  toieS  nun  au<$  bie  Sauftfage  eben= 
falls  über  fid&  IjinauS  auf  baS  SBorbilb  eines  älteren 
Sauft,  eines  erften  SJlaguS,  unb  nötigte  bie 
3?orfd)ung,  fid)  auf  bie   früheren  3öuberfagen  .gu 

6* 


80  $le  ©rttärmtßäarten  be»  ®oet$efc&en  3fauft  [20 

erftreden,  um  jte  mit  bcr  ffcmftfage  unb  bem 
©oetfjefd&en  gfauft  ju  Dergleichen. 

3u  einer  SBergteidjung  biefer  Slrt  mögen  nament= 
Ud)  fotö)e  3<*uberfagen  ber  SSergangenljeit  auf= 
forbern,  bie,  äljnlid)  ber  ftauftfage,  eine  religionS* 
gefd)id)tlidje  33ebeutung  Ijabeu  unb  in  d&arafte* 
riftifd&en  3ügen  ben  ©laubenäatoieftmlt  iljrer  3eit= 
alter  abriegeln. 

2lu§  bem  @d)0J3e  be3  Urd)riftentljum8  unb  btn 
apoftolifdjen  ©lauben3lämt>fen  entftanb  bie  ©efdjidjte 
Dom  ©imon  3Jiagu8,  jenem  famaritanifdjen  3<*ube= 
rer,  ber  Dom  95oHe  als  „bie  ffraft  ©otteS,  bie  ba  grofc 
ift",  angeftaunt,  t)on  betrug  aber  berbammt  tourbe, 
»eil  er  bie  ©aben  be8  ^eiligen  ©eifteS  für  ©elb 
laufen  tooüte.  (Sine  fpätere  religionspljtlofo^ifdje 
unb  gnoftifd&e  öeljre  fjat  biefen  3auberer  als  bie 
roelterleudjtenbe  ßraft  vergöttert  unb  mit  ber  ßid)t= 
göttin  §elcna  Dermalst. 

SBätjrenb  ber  ©ötterglaube  im  ©inlen  unb  ber 
ß^riftuöglaube  im  Steigen  begriffen  toar,  mu&te 
ein  $unft  Jomtnen,  too  beibe  einanber  gegenäber= 
ftanben  unb  iljre  Gräfte  maßen.  3n  bem  3ialjr= 
ljunbert,  toeldjeS  ber  ©podfje  ©onftantinS  folgte, 
toar  bas  fiegretd&e  Setou&tfein  fd&on  auf  feiten  be3 


21]  $te  ^iftorifdfc  ©rflätunggatt  81 

<£l)rtfteitti)um§  unb  liefe  feinen  S£riumt>I)  in  ber 
$erfon  beS  (Sljprian  Don  2lntio<$ien,  bem  l)elleui= 
ftifdfj  gefinnten  Spijilofopljen  unb  Sauberer,  er= 
feinen,  ber  Dom  ©ötterglauben  abfaßt,  fid)  jum 
©IjriftuSglaubeu  befe^rt  unb  in  ber  ©torie  beS 
ÜJlärtt(rer3  enbet.  @r  Ijatte  erfahren,  bafe  ber 
2)ämon,  ber  iljm  bienen  follte,  fcor  bem  Beiden 
beS  «ßreugeS  gitterte.  2lu8  biefer  ßegenbe  ift  eine 
ber  erljabenften  djriftlidjen  ©idjtungen  f)erbor= 
gegangen:  (Salberons  tounbertfjätiger  SDtaguS.1 

SBenu  bie  iubendjriftlid)  gefinnte  ßegenbe  Dom 
©imon  SölaguS  bie  urdjrifilid&e,  bie  Dom  ©^rian 
bie  altfird)lid)e  3Jtagu8fage  Ijeifeen  barf,  fo  mufe 
man  bie  t>om  Qfoup,  tote  fidj  biefelbe  in  ben  9Solf8= 
büdjern  bargefteßt  Ijat,  bie  lutljerifdje  nennen. 
Sie  gauftbüdjer  entfielen,  nadjbem  baS  ßutf)ertf)um 
in  ber  ©oncorbienformel  feine  engfte  unb  auS= 
fd)liefeenbe  Sftidjtung  ausgefragt  fjat.  9ttit  un= 
berfennbarer  Slbftdjt  ttrirb  ber  t>om  2Biffens=  unb 
2Beltburft  erfüllte,  Dom  SBibelglauben  unb  ßutf)er= 
tljum  abgefallene  ftauft  als  ba§  ©egenbtlb  beS 
Reformators  gefdjilbert  unb  mit  allen  3ägen  auS= 


Sgl.  bie  oben  genannte  ©djrtft,  ©.  36-56. 


82  $U  <£rffärmtg8atten  beg  ©oetfcfäcn  Sauft.  [22 

geftattet,  bie  bem  lutljerifdjen  ©lauben  öerfja&t  unb 
antilut^erif^  geprägt  finb.  2Bo  ba§  lut^erifd&c 
SJoll  bic  fdjlimmften  Sfeinbe  beS  ßljriftentljumä, 
ber  Deformation  unb  bes  eigenften  ©taubenä  ju 
feljen  getoöljnt  ift,  ba  laffen  bte  aSoßSbüdfjer  ben 
abtrünnigen  2flagu3  feinen  bergnüglid&ften  2lufent= 
Ijalt  jtnben :  int  Stotif  an  gu  Dom,  in  ben  ^ßalaften 
be§  ©ultan§ ,  am  §ofe  ,8arl§  V.  gu  3inn3bru<f , 
bei  bem  caftiniftifdf)  gefinnten  ©rafen  Don  Slnljatt. 
3m  SBatüan  freut  er  fid),  feineSgleidjen  gu  feljen, 
in  Sonftantinopel  ftnelt  er  ben  *ßro:pl)eten  3JtoIjam= 
meb  unb  fleibet  fid)  in  bie  ©etoanber  be3  5ßapfte8, 
in  SfnnSbrud  ^ulbtgt  er  bem  ©ieger  Don  2JhiI)lberg 
unb  befdfjtoört  bem  römifdj= fatljolif  d)en  3Bettbef)err= 
fd&er  ben  griedjifdj=I)eibnifd&en  2Betteroberer. 

3n  bemfelben  $al)re,  too  ßutfjer  in  2Borm§  er= 
fd&eint,  bann  auf  ber  Stfartburg  baS  SBerf  ber 
SBibelttberfetjung  unternimmt,  bem  Steufel  toiber= 
fteljt  unb  ba%  2)intenfafc  nadj  if)tn  fdjleubert,  fdjliefct 
fjauft  feinen  33uub  mit  bem  ©atan  unb  öerfd&retbt 
ü)m  bie  ©eele  mit  feinem  SBlut.  ©iefer  ©egenfaij 
ttrirb  in  einem  ber  SSolfSbüdjer  fo  auSbrüdlidj 
Ijertoorgeljoben  unb  gur  ©djau  gefteÖt,  bafj  man 
bie  gefüffentüd&e  ©rfinbung  fofort  erfennt  unb  audj 


23]  $le  Ijlftorifd&e  ®tttänmfl8ati  88 

ftef)t,  tote  bcr  SBcrfaffcr  bie  ßljronologie  feinet 
gaujigefdjidjte  aus  jener  ©ntgegenfetjung  I)er* 
leitet. 

3tn  bemfelben  Starre,  too  ßut^er  feinen  frommen 
£augftanb  grünbet,  beginnt  gauft  mit  bem  SLeufel 
feine  gud&ttofe  SBeltfaljrt.  @r  muft  bem  SEeufet  bie 
(Slje  abfdjtoören,  ein  eljelofeS,  toottüftigeS  öeben 
führen  unb  ftatt  ber  ®irne,  bie  er  Ijeiratljen  toxU, 
fidj  mit  bem  ©efyenft  be§  Ijeiltofen  Ijeibnifd&en 
SBeibeS  Dermalen.  3lm  Sonntage  bor  Dftern  be= 
fd&toört  er  bei  einem  ©tubentenbanlet  bie  griedjifdje 
&elena,  bie  iljm  unb  feinen  ©äfien  bie  6inne  be= 
rütft.  SBäljrenb  bie  gläubige  SBelt  fid)  gum  SIuf= 
erfteljungäfeft  ©Ijrifti  vorbereitet,  Iftfct  Sauft  bie 
£etena  auferfieljen! 

©elbft  ber  typifdje  ©octortitel  beS  gauft  Hingt 
antiti#>ifd& :  ber  ®octor  gauft  gegen  ben  2)octor 
ßutljer!  Um  uns  biefen  ©ontraft  bid)t  Vor  bie 
Slugen  gu  rüden,  laffen  bie  SBolföbüdjer  iljren  gauft 
in  SBittenberg  nid)t  blo3  ftubieren  ober  t)orüber= 
geljenb  fid^  aufhalten,  fonbern  aU  S3ürger  unb 
Uniberfitätäleljrer  angefeffen  fein,  unbefümmert,  ob 
eine  foldje  SE^atfadöc  je  ftattgefunben  f)at  ober  ftatt= 
finben  fonntc.    ßutljer  lote  9Mand)tljon  foKen  iljn 


84  Sie  <$tftärting8arten  beä  ©oet!jef<$cn  ftauft.  [24 

öerbammt  fjaben,  obtoofyl  in  feiner  iljrer  ©Triften 
fein  -Kernte  genannt  toirb. 

2Bie  ©imon  9Kagu3  ber  anttiubaifttfd)e,  ß^rian 
ber  antif>etteniftifd)e,  fo  ift  3öuft  ber  antttut^crif  d^e 
SDtaguS.  ©eit  bem  Sfa^r^unbcrt  ber  Deformation 
Ijat  eS  leine  religiöfe  SBolfSbetoegung  gegeben,  bie 
fid)  mit  ber  lutljerifd)en  öergleidjcn  üefee.  SDaljer 
ift  audfj  feine  3Jtagu8fage  aufgetreten,  bie  an  reü= 
gion3gefd&id)tü<$er  unb  öotfötljümlidjer  33ebeutung 
mit  ber  fjauftfage  wetteifern  fönnte.  Unb  fie  toirb 
fo  toenig  erlernen,  tote  ein  jtoetter  ßutljer!1 

IT.  |>ie  jMtoege  ber  Beibett  §xM&tnn$*axten. 

2)er  l>ljilofo:t>Ijifd&en  (Srflärung  ber  früheren  3lrt, 
b.  Ij.  ber  attegorifdjen  3)eutung,  fyabe  id)  bie  l)iftortf<$e 
fjorfd&ung  t>on  Ijeute  gegenttberfteflen  nnb  jeigen 
tooflen,  tote  toeit  bie  teuere  ifjre  fragen  ausbe^nt 
unb  in  fo  biete  ©injetunterfudjungen  jerlegt.  @nt= 
gegengefetjt ,  toie  üjre  Stiftungen,  finb  audb  bie 
2lbtoege,  in  toeldje  betbe  (SrflärungStoeifen  geraden. 
SBenn  bie  2Wegorifien  bie  Ueberlieferung  gar  nidjt 
ober  ju  toenig  gu  Statte  jogen   unb  am  liebften 


»gl.  meine  ©<$rift,  6. 134-139. 


26]  $ie  abbiege  ber  beibtn  @rflÄrunQ8arten-  85 

attcS  bett  toertneintlidjen  Sfbeen  unb  Srfinbungen 
bcS  2)idjter3  jufdjreiben  tooüten,  fo  finb  titele  unferer 
heutigen  Ijiftorifdjen  (Srflärer  geneigt,  ben  6influj$ 
ber  Ueberlieferung  bergejlalt  ju  überfoannen,  bafc 
fte  ber  Grfinbunggfraft  unb  ben  eigenen  Sfbeen  beS 
2)idjter§  am  liebften  nidjtS  übrig  taffen  motten. 
9la$  jenen  foff  ber  3)id)ter  too  möglid)  alles  er« 
fonnen,  nadj  biefen  too  mögltdj  alles  entlehnt 
Ijaben.  SBir  ftnben,  bafc  bie  einen  betn  Sinter 
be§  fjfüuft  $been,  bie  anberen  bagegen  (Entlehnungen 
unterfdjieben,  an  bie  er  niemals  gebaut  Ijat.  ©o 
berühren  jtd)  aud)  I)ier  bie  (Sjtreme. 

1.  2)te  falföe  3lnnaljtne  ber  @rbi<$tung. 

(Ein  feljr  anfdjaulidjes  SSeifpiel  ber  allegoriftifdjen 
SBerirrungen  bietet  bie  Auslegung  ber  ©cene  in 
9luerbad)3  «Retter,  beren  3üge  fämtntlidj  in  ber 
toittfürlidjften  unb  tounberlid&ften  SBeife  gebeutet 
toorbcn  finb,  toftljrenb  fie  fftmtnttid)  in  ber  lieber» 
lieferung  enthalten  toaren.  ßerdjeuner  l)atte  erjäljlt, 
bafc  ein  faljrenber  ©aufler  bei  einem  fürftltcften  ©aft= 
tnaljl  Sieben  unb  Strauben  aus  ber  Stifdrtrfatte  l)er= 
borgejaubert  unb  ben  ©äften  jum  ©djneiben  ange= 
boten,  biefe  aber  bergeftalt  fcerblenbet  Ijabe,  bafc  fie 


86  $te  ©rflärutigSarten  be8  ®oet$efdKtt  ftauft  [26 

iljre  9tofen  für  Strauben  gelten,  ©<f)on  ba§  5ran!= 
furtcr  SBolföbudj  übertragt  bic  ©efdjidjte  auf  ben 
Sauft  unb  läßt  biefelbe  in  einer  borneljmen  föeid)^ 
ftabt  gefdjeljen.  -Wad)  ber  SluSgabe  Don  1590  foielt 
fic  in  ©rfurt,  too  Sauft  bei  bem  ©aftmaljle  be§ 
©tabtjunferä  ftatt  ber  Sfteben  unb  SErauben  gleid) 
bte  ebelften  Sßeine  felbft  au§  ber  Stifd&platte  Ijeröor= 
jaubert.  3n  bemfelben  33ud)e  lefen  ttrir,  baß  Sauft 
auf  ber  Seidiger  SDleffe  ein  großes  SBeinfaß,  ba3 
nientanb  bon  ber  ©teile  rüden  fonnte,  auö  bem 
ßetter  ^erauSgeritten  Ijabe.  ®a3  3auberftü<f  toirb 
Hon  ber  fpäteren  ©age  in  9luerbad)3  ßetter  üerlegt 
unb  ljier  mit  ber  SaljreSjaljl  1525  bilblid)  bar= 
geftettt.  2)iefe  Seüangabe  ftammt  au§  bem  toeit 
älteren  Sßibmannfd&en  Sauftbudj,  ba$  im  Saljr 
1525  (lutljerifc&en  9lnbenfen§)  gfaufts  Sßeltfafct 
beginnen  läßt. 

Sitte  biefe  3üge  toertoebt  ©oetlje  unb  fdjafft 
barauS  frei  unb  genial  jene  ergöt}lid)e  ©cene,  too* 
mit  audj  er  SauftS  SBeltfa^rt  eröffnet.  SOBte  bei 
bem  ©aftmaf)l  in  ©rfurt  fließen  bie  Sßeine  au3 
ben  ßöd&ern  ber  £tfd#latte ;  tote  bei  bem  ©aft= 
maljle,  toeldjeS  ßerd&eimer  unb  ba§  ältefte  3?auft= 
bu<$  erjäljlen,  toerben  bte  ©äfte  burd)  baS  Stenbtoerf 


27]  Die  Stöfoegc  ber  betben  (Srtfärunßgarten.  87 

ber  Trauben  bejaubert  unb  in  berfclfien  SBcifc  toie 
bort  entzaubert.  Sludj  ber  gafcritt  feljlt  nid)t. 
„Sdj  Ijab'  xf)n  felbft  Ijinauä  gur  Äeüert^üre  auf 
einem  fjaffc  reiten  feljn",  fagt  Slltmatyer. 

S)ie  Ueberlieferung  lafjt  bie  Slenbtoerfe  burd) 
gauft  gefdfjefyen,  unfere  ©idjtung  burdj  5Dlcp^tfto= 
J)t)ele§.  2lber  audj  in  biefem  djaralteriftifdjen  3uge 
Ijat  ©oe'tlje  ben  2Beg  ber  Ueberlieferung  erft  foäter 
toerlaffen.  3n  ber  alteren  3orm  feines  ©ebid}te3, 
bie  jüngft  nadj  (Sridj  ©d)tnibt3  glütftidjer  2luf= 
finbung  ber  ©ödjljaufenfd&en  Slbfdjrift  gur  ßenntnifc 
ber  SBelt  gefomnten  ift,  Ijatte  er  nodj  bie  Ueber= 
(ieferung  befolgt  unb  bie  3<*ubereien  in  2luerbad)3 
Keffer  bur<$  Sauft  felbft  boHfüljren  laffen.  &ier 
ift  e3  3*ofd),  ber  ausruft:  „3$  I)ab'  iljn  auf  einem 
gaffe  l)inau§reiten  feljn".1 

Siene  alten  Silber,  bie  b^n  gafjritt  unb  ba§ 
3ed&gelage  barftellen,  Ijatte  ©oetlje  ate  ßetyjiger 
©tubent  fc^r  oft  ©elegenfjett  ju  feljen,  benn  er  fam 
Ijäufig  in  3luerbad)§  §of,  too  fein  greunb  SBc^rifcft 
tooljnte.    Site  biefer  ßetygig  toerlaffen  Ijatte,  fdjrieb 


1  ©oetljes  gfauft  in  urfprftttQftdjer  ©eftalt,  nad)  ber 
@ödjl)aufenfd)en  2l&fd)rift  IjerauSgeßeben  t>on  Qmdj  ©<$mtbt 
(Söeima*  1887).    ©,  26-31, 


88  $te  (MärungSattcn  beS  ®oet$ef<$tn  gfauft  [28 

iljm  ©oetlje:  „Sdj  fomme  nidjt  meljr  in  2luerbad)S 
£of,  tt>o  id)  fonft  alle  SCage  lag".1 

9?un  toergleid)e  man  biefe  einfadje  unb  gefunbe 
Stxt,  tt)ic  bie  ©cene  in  2(uerbad)3  ßetter  aus  ber 
tteberlieferung  feineStoegS  bloS  entlehnt,  fonbern 
toaljrijaft  bidjterifdj  entftanben  ift,  mit  ben  Deutungen 
ber  Slttegoriften,  bic  fie  aus  i^ren  ttuttfürlidjen  unb 
leeren  3fbeen,  b.  1).  aus  nidjts  motten  Verborgenen 
laff  en ! 

©ettrifc  Ijaben  jene  (Sinbrütfe  ber  fdjriftlid)en 
unb  bilblidjen  tteberlieferung  in  ©oetlje  fortgetoirft 
unb  iljn  toermodjt,  bie  ©cene  in  2luerbad)S  ßetter 
ju  bieten,  bie  oljne  fold&e  Sebtngungen  niemals 
entfianben  toäre.  @inbrtt<fe  aber  jtnb  nid)t  @on= 
cejrttonen,  gefätoetge  Sttdjtungen.  @S  toäre  feljr 
unrichtig  unb  ungefdjid)tli<fj  gebaut,  toottte  man 
aus  ©oetljeS  ßetyjiger  ©inbrüden  auf  ben  gteicfc 
jeitigen  2lnfang  feines  Sauft  fdjliefeen  unb  fogar 
auf  bie  Urform.  äBirflidj  toar  ein  feiner  3*ü  6e= 
rfiljmter  £iftorifer  auf  ben  ©infatt  geraden,  bafe 
bie  2luerbad)fcene  bie  erfte  unb  ältefte  ber  ganjen 
2)idjtung  fei,  bie  ©oetlje  unter  bem  @inbru<f  jener 

1  @oetIje-3af)rbud)  (1886).  6.  86.  »rief  uom  16. 
Oftober  1767. 


29]  Sie  fttoege  bet  betben  Grrft&rungSarten.  89 

Silber  fd)on  in  ßeifegig  Derfafet  unb  toorauS,  tote 
aus  feiner  Urgelle,  fidj  ber  fjauft  attmftljlidj  ent= 
toiäelt  l)abe.  <£r  tyatte  bie  Unbefangenheit,  ©oetljen 
felbft,  als  er  iljn  gum  erftenmale  fal),  biefe  2ln= 
ftdjt  toorgutragen  unb  baS  ©efprädj,  toorin  er  bem 
2)id)ter  be£  ^auft  ben  Urforung  feines  SBerfeS 
bargelegt  Ijatte,  brutfen  ju  laffen. 

2.  3)te  falfdje  Slnna^me  ber  Gntleljnung. 

2)er  Slbtoeg  ber  Slttcgoriftcn  unb  überlaufet  ber 
fe^ilofofe^ifd&en  ©rllärer,  bie  fitfj  gu  toenig  um  bie 
©efdjidjte  be§  SBerleS  lümmern,  ift  bie  Deutung §= 
fudjt;  ber  Slbroeg  ber  Ijiftorifdjen  Srftärer,  bie  gu 
toenig  bie  fdjöfeferifdje  ÄraftfttÜe  beS  2)id)ter3  in 
SRedmung  gießen,  ift  bie  SntleljnungSfudjt.  68 
mag  gut  unb  lefjrreidj  fein,  bie  ßegenben  unb 
2)i$tungen  t>om  ©imon,  Gijprian  unb  fjauft  mit* 
einanber  gu  bergleidjen,  aber  man  barf  auf  3lel)nlicfj= 
leiten,  todren  fie  nod)  fo  bebeutfam,  nid&t  oljne 
toeitereS  ben  genealogifdjen  3ufammenljang  unb  bie 
Slbftammung  grünben,  benn  Sleljnlidjfeiten  fönnen 
tooljl  folgen  ber  33ertt>anbtfd)aft  fein,  nie  beren 
©rünbe.  9hm  foöen  bie  ©agen  toom  ©imon  unb 
ß^ferian  als  „bie  ©tammtoäter  ber  fjauftfagc"  unb 


90  $ie  @rfläruttö8artcn  be8  ®oet$efd&en  Sauft.  130 

baburdj  mittelbar  aud(j  als  bie  be§  ©oetl)efdf)en 
Ofaufl  gelten.  9tamentlid&  bie  35ermäl)lung  beS 
tJauft  mit  ber  Helena,  bie  einen  fo  toefentlidfjen 
Stfjeil  ber  ©oetljefdjen  3)idf)tung  bilbet,  fei  t>on  ber 
©imonfage  entlehnt.  Slber  bie  ©enoffin  beS  ©imon 
flammt  aus  einem  gnoftifd&en  Sbeenfreife  beS  jtoeiten 
djriftlidjen  3faljrljunbertS ,  bie  beS  ftauft  aus  ber 
^omerifdjen  ®id()tung,  bie  ein  3al)rtaufenb  älter  ift. 
8s  bebarf  ber  fünftlidjfteu  3)eutungStt)ege,  um  bon 
ber  gnofttftfjen  Helena  gut  ljomerifd()en  unb  Dom 
SJtonbe  nadj  £roja  gu  gelangen.  @S  feljtt  jebeS 
3lngeidien,  bafc  in  bem  ©efid&tsfreife  ber  Ofauftbüdjer 
tt>ie  ber  ©oetljefdjen  2)idjtung  bie  Sage  bon  bem 
Vergötterten  ©imon  unb  feiner  SBermä^lung  mit 
ber  Helena  audfj  nur  befannt,  gefdjtoeige  einflufcreidfj 
unb  toorbitblidj  getoefen  fei.  S)ie  gried&ifdje  ßegenbe 
toom  ©^rian  Ijat  ©oetlje  ni<Jjl  gefannt.  ßalberonS 
munbert^ätigen  SftaguS  Ijat  er  in  beutf d&er  Ueberfejjung 
erft  gelefen,  nad^bem  ber  erfte  Streit  feinet  Sauft 
feit  Sauren  erfdfjienen  toar.  2lud(j  Ijat  er  gelegentlich 
felbft  geäußert,  baft  ©alberon  teinerlei  ©tnflufc  auf  ifjn 
ausgeübt  Ijabe.  ©o  toerben  unferem  ©idjter  unter 
bem  ©d&ein  einer  tiefen  ^iftorifd^en  Verleitung  6nt= 
le^nungen  gugefdfjrieben,  bie  tljm  DoÖig  fremb  finb. 


31]  2)ie  Sf&tDcge  bet  beibcn  ©rflätwißSarteit.  91 

©ie  lutljerif<f)e  Stenbenj  ber  gauftbüdjer  trotte 
e§  mit  fidj,  ba§  ber  gottlofe  SDtaguS  böttig  onti- 
lutljerifclj  gefinnt  fein  imb  barum  audj  bic  61je 
abfdjtoörett  mu&te.  2)a3  SBcrbot  toetfte  bie  ßuft, 
bie  auf  bie  ®auer  nidjt  oljne  ©egenftanb  bleiben 
burfte.  Sie  legten  93olf§büdjer  ergäben,  bafe  ftaufi 
bie  üötagb  eines  ßrämerS  in  feiner  Sftadjbarfd&aft 
gur  <£Ije  begehrt,  SftepljiftopIjeteS  it)m  aber  bie  6r= 
füflung  biefeS  SSunfdjeS  toerfagt  unb  ftatt  ber  fdjönen 
SDlagb  in  SBittenberg  bie  fdjöne  &elena  au§  ©riedjen= 
lanb  gugefütjrt  l>abe.  Offenbar  ift  biefe  £eiratf)8= 
gefdjidjte  aus  bem  £eiratljSt)erbot  IjerauSgefponnen, 
um  ben  Uebergang  gu  ber  SSermäljlung  mit  ber 
Helena  gu  bilben,  unb  Ijat  ttid&t  baS  minbefte  mit 
einer  £ergenSgefd)idjte  gu  tfjun.  2tber  Ijeutgutage 
lüttt  man  l)ier  ben  ßeim  entbedt  Ijaben,  toorauS 
baS  ©retten  in  ©oetfjeS  ©idjtung  entftanbeu  fei. 
9l\$t  aus  ber  pljantafiebollen  ©rinnerung  an  baS 
©retdjen  in  granffurt  ober  bie  5PfarrerStod>ter  in 
©efenljeim  toäre  bemnadj  baS  ©retdjen  im  ^auft 
hervorgegangen,  fonbern  aus  einer  ©djartefe  ent= 
leljnt  unb  alfo  nid)t  erlebt  unb  gefdjaffen,  fonbern 
titerarif^  fabricirt!1 

1  Steine  obengenannte  ©d&rift,  ©.  150. 


92  Sie  ©tflÜTung»atten  be9  ®oet$efdKit  ffruft  [82 

(jemals  fragte  man  bei  bem  ^ejeneinmaleinS : 
toaS  bebeuten  biefe  tteffinnigen  SBorte  ?  ®ie  ffrage 
toar  falfdj,  ba  bie  SBorte  finnloS  finb  unb  fein 
tootten,  benn  gum  &ejeucultuS  gehört  ber  llnfinn, 
ber  fidj  mtyftifdj  geberbet.  3etjt  fragt  man :  tt>o  Ijat 
©oetlje  biefe  SBorte  Ijer?  2Bo  ftanbgu  lefen:  „®u 
mußt  toerftefyn!  aus  ßinS  mad)'  3*!Jn"  u.  f.  tt>.  ober 
„®enug,  genug,  o  treffliche  ©ibtyffe !'' ?  ©ic  fjragc 
ift  umfonft,  benn  baS  §e£eneinmaletnS  fteljt  nirgenbs. 
SBttt  man  fie  ftetfen,  fo  ^at  5riebridj  SDieljer  fe^r 
gut  auf  ein  italienifdjeS  Sottobud)  Ijingettriefen,  toorin 
fidj  getoiffe  91nflänge  finben,  bie  bem  3)i$ter  t>iel= 
leicht  im  Dljr  lagen,  als  er  in  9tom  bie  §ejen= 
Ittdje  fdirieb.1 

Unfere  Srflärer  fotften  in  iljren  SluSlegungen 
©oetljefdjer  SBorte  bie  Sfagb  nadj  Entlehnungen 
nidjt  fo  toeit  treiben,  baf$  fie  ber  fo  gerühmten 
ßrfinbungSfraft  beS  3)idjterS  faum  ettoaS  übrig  laffen. 
2ll§  @<fermann  aus  ©djellingS  Sud)  über  bie 
«ßabiren  einige  Sfnfpielungen  in  ber  claffifdjen  3Bal= 
Jmrgisnadjt  ju  toerfteljen  gelernt  Ijatte  unb  ©oetljen 
feine  fjreube  barüber  auSfpradj,  fagte  biefer:  „3idj 


Hrd&it>  f.  ßit..@ef<$.  XIII.  6.  239-250. 


38]  Sie  täilofogiföe  erHttnmgSatt  98 

Ijabe  immer  gefunben,  ba§  es  gut  ift,  ettoaS  gu 
totff ett "  •  2lm  Gnbe  tt>irb  man  nod)  gu  erforfdjen 
fudjen,  tooljer  biefe  SBorte  ftammen?  SBer  Ijat  bor 
©oetlje  gejagt:  es  ift  gut,  ettoaS  gu  ttriffen?  2Ber 
Ijat  e3  guerft  gefagt?  SBenn  ©oetlje  felbfi,  um 
feinen  SluSbrud  gu  brausen,  „poetifdjeS  Söilbferet" 
jagte  unb  fing,  fo  meinte  er  gang  anbere  3)inge 
als  ©täte. 

V.  JKe  pQifofogiföe  £rfttörttttg$art. 

Sie  l>f)itofol>l)ifdje  (Srflärung  ber  alten  Slrt,  bie 
in  ©eutungen  beftanb,  ift  Veraltet  unb  abgetan; 
btetoeilen  erfdjeint  nod)  ein  Verdateter  *Rad)gügler, 
ber  unbeadjtet  Vorübergeht.  S)ie  Ijiftorifdje  (Srflärung 
ift  an  ifjre  ©teile  getreten,  fie  ift  in  ifjrem  3te$t 
unb  in  ber  £errfd)aft.  ©obalb  fie  auf  bie  STbioegc 
gerate  bie  ttrir  lennen  gelernt  Ijaben,  Ijört  fie  auf 
fjifiorifd)  gu  fein  unb  verliert  i^ren  Sinflufc,  ba  fie 
iljre  Aufgabe  verfehlt  l)at.  S)iefe  bleibt.  3)ie  SBerfe 
beS  ®idjter§  muffen  auf  i^re  <£ntftel)ung  unter= 
fudjt  unb  beSfjalb  nid)t  bloS  mit  ber  fremben 
ßiteratur,  bie  auf  iljn  eingetirirft  f)at,  fonbern  aud) 
miteinanber  Verglichen  toerben,  bamit  bie  Unter= 
fd)iebe  unb  ©tufen  iljrer  SluSbilbung  einleud&ten. 

Äuno  gftfd&et,  (Soetäe« ©Triften.  7 


94  $te  erftärungSartcn  beS  ®oct$efd>tn  ftauft  [84 

Unb  ba  e§  ftd)  hierbei  Dorjüglid)  um  bic  6nt= 
toidlungSformen  bed  fyradjlidjen  Sluäbrudfö  f)an= 
belt,  fo  toixb  bic  gefdjidjtlidje  6rflärung3art  auf 
biefem  ©ebiete  beu  (Sljarafter  ber  p^ilologif^en 
SBergleidjung  unb  Seurtljeilung  annehmen  muffen. 
©8  ifi  ber  heutigen  ©oetfjeforfdjung  nadjjurflljmen, 
bafc  fie  fid&  mit  biefer  lel)rreidjen  Aufgabe  befdjäftigt 
unb  ben  @nttoi<ftung3gang  ber  ©pradje  bc§  3)idjter3 
bur$  iljre  Derfdjiebenen  ©tufen  unb  gormtoedjfel  l)in= 
burdj,  Don  ber  erften  naturmädjtigen  unb  tt6erquetten= 
ben  2Iu8brudf8tt>eife  bis  jur  fünftlerifd)en  SBoÖenbung 
Dotter  ßraft  unb  ©djönljeit  unb  toieberum  Dom  tjoljen 
unb  fronen  ©tit  bis  ju  ben  feterfid&en  unb  fünft« 
tid)en  formen  jum  ©egenftanbe  eingeljenber,  fadj« 
mäßiger  ttnterfudmngen  gemacht  ^at.  3toei  feljr 
ungleichartige  5orfd)er  Ijaben  in  toed)felfeitiger  Sin« 
erfennung  ftdj  fortorirfenbe  SBcrbtenftc  um  bic  6r= 
fenntnife  unb  SBürbigung  ber  ©pradje.  ©oetljeS  er= 
toorben:  Don  ber  äftljetifdjen  ©eite  Qfr.  2Jifd)er, 
Don  ber  germaniftif dj  -  pljilologif djen  ber  feiner 
SBiffenfd&aft  unb  feinem  SBirfungSlreife  ju  frfilj  ent= 
riff ene  SB.  ©d&erer.  ®od)  ljabe  id)  ietft  nid)t  bie  banf= 
bare  Slufgabe,  biefe  SSerbienfte  näljer  ju  erörtern. 
Sfdj  toitt  Ijier  bie  t>Ijilologifd)e  33etradjtung3toeife  nur 


86]  Die  p$itologtf$e  Gtfl&timgftart  95 

in  iljrer  bisherigen  äntoenbung  auf  bie  (Srflärung 
beS  Sauft  unb  auf  bic  fragen  nad)  feiner  @nt= 
fteljung  ins  Sluge  faffen  unb  geigen,  toie  fidj  bie= 
felbe  uns  barfteHt.  hierbei  adtfen  ttrir  befonberS 
auf  bie  3trt  unb  SBeife,  tote  ©oet^efd^e  ©teilen  mit« 
einanber  öerglidjen  unb  barauS  @d)lüffe  auf  t^rc 
(Entfteljung  gegogen  »erben.  3)ie  SBergleidjung  bietet 
9tel)nlid)f  eiten  unb  Unterf triebe :  fte  f ann  fo  gefdjeljen, 
bafc,  nad)  ber  2Jerfd)iebenljeit  ber  ©eifteSart,  ber 
©pürlraft  unb  getoiffer  toorgefafeter  Slnfidfrten,  baS 
£auptgetoidjt  toon  ber  einen  Seite  auf  bie  fpradj* 
lidjen  Sleljnlidjfeiten,  öon  ber  anberen  auf  bie  fpradj* 
liefen  Unterfdjtebe  gelegt  toirb.  @S  fei  erlaubt, 
bie  5Bergleid)ung  auf  Äoften  ber  Unterfdjiebe  un= 
fritifd),  bie  auf  Äoften  ber.Sleljnlidtfeiten  ^per= 
fritifd)  gu  nennen,  ein  SluSbrud,  ben  gelegentlich 
aud)  Äant  gebraust  Ijat.  6s  fteljt  gu  fürdjten, 
bafe  auf  beiben  SBegen  ber  2)id)ter  3toang  leiben, 
bafe  auf  bem  einen  Ungufammengel)örigeS  berfnttjjft, 
auf  bem  anbern  3ufammengeIjörigeS  gerriffen  toirb. 
3dj  ljabe  es  §ier  nidjt  mit  5ßerfonen  gu  tf)un,  fom 
bem  nur  mit  ©rflftrungSarten,  unb  idj  glaube  bte 
lederen  am  beften  aufd&aulid)  gu  machen,  toenn 
id)  ftc  an  totd^tigen  SSeiftnelen  barftette. 

7* 


96  £>te  (StttttrungSarten  bc3  ®oet$efdjen  ftauft  [36 

1.  2)ie  unfrittfd&e  33erßleid)ung. 

2)te  SSergleid)ung  ift  bo^clt  unfritifdj,  toenn 
fie  crftcnS  über  flauen  Sleljnlidjfeiten  tiefgeljenbe 
Unterfdjiebe  aufeer  2ld)t  läfct,  unb  bann  nadfj  biefer 
unridjtigen  ©d)äfcung  ©oetljefdjer  StuSfprücftc  bie 
ßntfteljung  berfelben  Bcurt^cttt.  Um  ein  5JJaar  &t)n= 
lidjer  Silber  toitten  erfdjeinen  ©teilen,  bie  audj 
forad&lidj  toeit  auSeinauber  liegen  unb  feljr  un= 
gleichartig  entyfunben  finb,  nun  als  gleidjartig  unb 
als  gleid)jeitig  entftanben.  @§  toar  uid&t  tooljlgetljan, 
ben  ©oetljefdjen  Sauft  ttrie  überhaupt  bie  Sauft- 
bid)tung  unb  gauftfage  mit  fremben  ©agen  unb 
©W&tungen  fo  gu  dergleichen  r  bafc  aus  getoiffen 
Sleljnlidjfeiten  ouf  bie  CSntfteljung,  Slbftammung  unb 
ßntleljnung  gefd&loffen  ttmrbe.   9Kan  !ann  ©oet^en 

9 

auf  falfdje  Slrt  audj  mit  fidj  felbft  bergleidjen. 
2)ie$  ift  ber  $unft,  toon  bem  idj  rebe.  3dj  null 
biefen  3JU&braudj  ©oetljefdjer  5ßarattelftetten  an 
einem  SSeiftriele  erläutern. 

3n  einem  poetifdjen  ©enbfd&reiben  an  feinen 
3?reunb  Sftiefe  toergleidjt  fidj  ber  bamalige  Seidiger 
©tubent,  ber  fi<$  fd)on  als  2)id)ter  ju  füllen  be= 
gönnen  Ijat,  mit  bem  SBurm  im  ©taube,  ber  ben 
Slbler  jur  ©onne  fliegen  fiel)t  unb  fidj  bergeblidj  f  ef)nt, 


37]  $te  »üUologtföe  (SrftärungSart.  97 

U)tn  gu  folgen;  bie  ©öttcr  tooflen  nidjt  ju  iljm 
Ijerabfteigen,  tüte  fein  ©tolj  getoäljnt,  er  fönne  ntd&t 
ju  tynen  emporfliegen,  toie  er  einen  Slugenbtid  ge= 
träumt  Ijabe: 

2)a  fal)  ia)  erft,  bafc  mein  cr^ab'ncr  Sffug, 
2Bic  es  mir  festen,  nid^td  fear  als  ba8  SBemülj'n 
2)e3  SöurmS  im  ©taube,  ber  ben  Ubier  fteljt 
3ut  (Sonn*  fiä)  fd&toingen  unb  tote  ber  hinauf 
©id)  feljnt1  u.  f.  f. 

SBüfcte  man  nidjt,  ba&  ber  fedjSje^nialjrige  ©oetlje 
biefe  3^ilen  gefdjrieben  Ijat,  jo  möd)te  fie  bod)  ge= 
fdjrieben  Ijaben,  toer  ba  toottte  aus  ber  Sctyi  ber 
S)idjter,  bie  ßegion  Ijeifct!  SWc^tS  ift  barin  bebeutenb 
als  ber  ©treit  jtinfd)en  bem  ©efüljle  ber  Äraft  unb 
bem  ber  £)l)nmad)t,  benn  biefeS  lefctere  toürbe  fein 
Sidjterüng  gehabt  unb  ausgeflogen  Ijaben. 

3n  feinem  jtoeiten  SÄonologe  fagt  3fauft: 

2>en  ©öttem  gletäy  tä)  niäjt!  3u  tief  ifl  e«  gefügt; 
2)em  Söurme  glctäV  tä),  ber  ben  ©taub  burd&toüljlt  u.  f.  f. 

35on  £obe8feljnfu<fjt  Ijingeriffen  unb  fdjon  im 
33orgefül)l  ber  3?reil)eit  Dorn  S)rudfe  be3  Öeben3, 
ruft  er  au8: 


1  2)er  junge  ©oetlje.  I.  6.12-15. 


98  Sie  @tttärung8«ten  beS  ©oetfjcfdjen  gauft  [38 

@tn  gfcuettoagcn  fätoebt,  auf  leisten  ©d&toingen, 

3ln  mid)  ljeran!    3d)  füljle  tnid&  bereit 

2luf  neuer  SBaljn  ben  Hetzer  §u  burdjbrtngen, 

3u  neuen  ©öftren  reiuer  £ljättgfeit. 

2)ie3  fjolje  ßeben,  biefe  ©öttertoonne ! 

2)u,  erft  no$  Söurnt,  unb  bie  berbieneft  bu?  u.  f.  f. 

SBcrglcidicn  tt>ir  biefe  Siebe  be§  Sauft  mit  ben 
ßeipgiger  SSerfen,  fo  ift  in  beiben  Dom  SBurm  im 
©taube,  Don  ben  ©öttern  in  ber  §ölje  unb  audj 
toon  ©djttringen  bie  fftebe,  SBeiter  reidjt  bie  Ueber= 
einftimmung  nid)t.  2Ba§  ber  fed)3§eljniäljrige  ©tu= 
beut  fagt,  finb  befannte  Silber  in  fd)ülerljafter 
ßmpftnbung  unb  ©prad&e.  2Ba8  ^auft  fagt,  fliefet 
au§  einer  Sülle  *>on  ©eelenfdjmerj  unb  firaft,  bie 
fidj  in  jebem  SBorte  unnad)aljmlicl)  ausprägen. 

2)odj  ttrir  muffen  mit  unferem  fttyrti  ben  8Beg 
ber  JBergleidjung  nod)  bis  ju  jener  ©teile  be§  Öfter* 
•fpajiergangeS  fortfetfen,  tt>o  Sauft  ber  fd&eibenben 
©onne  nadjblitft  unb  fidj  S^gel  roünf <f)t ,  -  ifjr  ju 
folgen,  bann  Don  ber  ©etynfudjt  nad)  ber  S^tne 
unb  &ölje,  toie  bon  £eimtt)elj  ergriffen,  in  bie 
SBorte  ausbricht: 

3l<fj!  SU  beS  ©eifteä  gflügeln  tüitb  fo  leidjt 
Äein  IBtperltd&er  Sflfigel  ftd&  gefeflen. 
$0$  ift  e3  jebem  eingeboren, 
3)aj3  fein  ©efüfyt  fjinauf*  unb  oortoärtsbringt, 


?: : 


•••  #»#  «  • 

••  •  •  •  * 

•  •  •  •  • 

•  •  •  • 


39]  $ie  tf>Uologtfd&e  <£rK&tung«art  99 

SOßenn  übet  und  im  blauen  (Raum  öerloren, 

3f)t  fä^metternb  Sieb  bie  8er$e  fingt; 

SOßenn  übet  peilen  3ftdjtenl)öfjen 

2)er  3lbler  ausgebreitet  fdjtoebt, 

Unb  übet  Srlä^en,  über  Seen 

S)ex  Äranidj  na$  ber  §eimatlj  ftrebt. 

aScrglei^cn  nnr  biefen  (Srgufc  be3  Sauft  mit 
ben  öetyjiger  SSerfen,  fo  ift  in  Beibett  Don  ber 
©el)nfud)t  nad)  bügeln  unb  bom  Slbler  in  ber  ßuft 
bie  Diebe.  SBeiter  reidjt  bie  UeBereinftimmung  nid&t. 
©er  fed)8jel)njft(jrige  ©tubent  ift  nod)  nid&t  flügge, 
in  ber  Siebe  beS  Sauft  ift  Slblerflug.  2Ber  biefe 
SBorte  toernimmt,  rnufc  im  Sfonerften  babon  ergriffen 
unb  emporgehoben  »erben,  als  06  er  bie  Silber  er« 
lebte,  toon  benen  fte  erfüllt  unb  inftnrirt  finb.  Um 
foldje  Sfofdjauungen  in  einer  folgen  ÜBottfommem 
ljeit  gu  ^aBen  unb  auSjufpredöen,  fo  Bannenb  unb 
fo  erljeBenb,  mit  ber  ©etoalt  ber  Sftatur  unb  ber 
fjrei^eit  be§  ßünftlerä :  baju  gehört  nidjt  BI08  eine 
Ijödtft  geniale,  fonbern  audj  eine  Ijödjfi  entnadelte 
3)idf)terfraft  unb  eine  ©eifteSftärfe,  bie  lein  2fn= 
fanget  fjaBen  !ann,  unb  toäre  er  jjefjnmat  ein  ©oetlje ! 

■Kidjt  bie  SSergteidjung  ber  angeführten  ©teilen 
ftnbe  id)  ju  tabeln,  tooljl  aber  bie  unfritifdje  Strt, 
ttrie  fte  angefteßt,  Dertoertljet  unb  ju  Folgerungen 


100  Sie  ®tflätung#arten  be*  ®oet$ef<&m  fjfmift  [40 

gebraust  tDtrb,  bie  eine  falfdje  SBorjlettung  t)on  bem 
6nttoi<flung3gange  be§  ®id^terö  unb  feines  SBerfeS 
liefern.  (Sin  paar  gleiche  SBorte  unb  33ilber,  ein 
paar  fitptlidje  SBenbungen  unb  ßontrafte  genügen 
bem  Grflärer,  um  bie  poetifdjen  SBertlje  ber  ber= 
glidjenen  ©teilen  auf  gletdjem  gfufce  ju  beljanbeln 
unb  auf  iljre  benad&barte  ßntfie^ungSgeit  ju  fd&liefeen. 
Sßeil  fdjon  ber  ßeipjtger  ©tubent  in  einem  poetifd)en 
©enbfd&reiben  feine  ©emütljSjuftänbe  in  Silbern  be= 
fdjrieben  Ijat,  toorin  SBurm  unb  2lbler,  ©ötter  unb 
Sflügel  toorfommen,  beäljalb  foffen  toir  glauben,  ba§ 
audj  ber  Dfterfpajiergang  unb  ber  jtoeite  SBtonolog 
be3  fjauft  „nid)t  triel  fpäter  entftanben  fein  löunen 
unb  jebenfaüs  ©tüde  ber  älteften  ©idjtung  finb" ! 
3)ie  ßeipjiger  SBerfe  ftammen  aus  bem  2tpril 
1766.  2ln  ba8  ßid)t  getreten  finb  ber  £)fterfoagier= 
gang  unb  ber  jtueite  SDionolog  ätoeiunbmerjtg  Saljre 
fpäter !  23eibe  ©cenen  fehlen  in  bem  Fragment  beö 
fjauft,  btö  1790  erfd)ien;  fie  fehlen  aud)  in  ber 
©öd)ljaufenfdjen  Stbfdjrift,  bie  man  je^t  ben  Ur* 
fauft  ju  nennen  pflegt,  unb  bie  ein  Original  bor* 
ausfegt,  ba%  minbeftenä  ac^t  ober  neun  Saljre  fpäter 
ift,  aU  baä  ©enbfdjreiben  an  fftiefe.  68  ift  toaljr= 
fdjeintidj,  ba$  ©nttoürfe  unb  ©cenen  beS  @pajier= 


•  •  •         ••••      •• 


41]  SMc  tf  Uofogtffr  (StflärungSatt  101 

gangeä  bor  bcm  SEIjor  fd^on  in  fjtanffurt  entftan= 
bcn  finb,  aber  fidjer  nidjt  in  ber  SBoHftänbigfeit 
unb  in  ber  SluSfüljrung ,  toorin  ttrir  fic  lefen.  Unb 
toer  bic  beiben  erfiten  SJtonotoge  be§  Sauft  ju  cm= 
pftnben  unb  unterf Reiben  berfteljt,  erfennt  nadj 
ifprem  3n6alt  toie  nadj  iljrem  fprad^Iic^en  SluSbrud 
bcn  großen  jeitlidjen  Slbftanb  beiber. 

SBitt  man  bic  obigen  ©teilen  toegen  iljrer  2leljn= 
ltd&fctt  auf  flauer  §anb  bergletdjen ,  fo  beleudjte 
man  toor  allem  iljren  IjimmeltDeiten  Unterfd&ieb. 
3fn  bem  ßeipjiger  ©tubenten  ttiar  nodj  nidjtä  bom 
Sauft  unb  $rometf)eu3.  Um  bie  unfritifdfje  95er= 
gleidjungSart  anfdjaulidj  ju  machen,  Ijabe  idj  ein 
33eifpiel  getoäljlt,  ba8  in  einem  ber  iüngften  unb 
t>ietgetefenen  $auftcommentare  t)or  3lugen  liegt. 

2.   2)te  frttifdje  Sßerglei^ung. 

SBenn  man  ©oetljefdje  ^Parallelen  mit  feinem 
unb  richtigem  SBIidE  aufjufinben  toeifc,  fo  laffen 
fidj  baraus  audj  djronologifdje  feigen  feljr  tooljl 
beurteilen  unb  melleidf)t  löfen,  toenn  audj  nidjt  mit 
matljematifdjer  ©idjerljeit,  toie  man  in  ©leidjungen 
aus  befannten  ©röfeen  bie  unbefannte  beftimmt. 
63  ift  neulidj  im  @oettje=;3al)rbudj  baoon  bie  0tebe 


102  2)ie  @rfldrung8arten  beS  ©oet&efäen  gauft  [42 

getoefen,   ba&   ÄeftnerS    ©djilberung   beS   jungen 

©oetlje  in  SBeljlar  eine  6l)arafteriftif  feiner  reib 

giöfen  ©inneöart  enthalte,   bie  mit  ber  2lrt  unb 

SBeife,  toie  getuft  bie  feinige  in  bem  ©eforad&e  mit 

©retten  funbtljut,  böttig  ubereinftimme.    3?auft§ 

SBefenntniffe  finb  ben  begeifterten  unb  Ijurgebung3= 

Motten  3laturgefül)ten  feljr  äljnlid),  bie  SQBcrt^er  in 

feinen  ©riefen  au8ft>ri$t.    3)iefer  möchte  „auä  bem 

fdjäumenben   SBcdjer    beS   Unenblidjen   fdjtoettenbe 

ßebenStoonne  trinfen  unb  nur  einen  Stugenblid  in 

ber    eingefd&ränften    ßraft    feines    33ufen3    einen 

SEropfen  ber  ©eligleit  beS  SßefenS  füllen,  bas  alles 

in  ftd)  unb  burd)  fid)  hervorbringt".   S)a3  ift  „ber 

2tttumfaff er ,  ber  2ltter  Rätter",  t>on  bem  Qfauft  ju 

©retten  fagt:  „fjafct  unb  erhalt  er  nicfyt  bid),  mid), 

fid)  felbft?"    2)q3  ift  jene  fdjtoettenbe  8eben§tr>otine, 

bie  Sauft  ber  ©eliebten  al§  ba3  3id  aller  ©e^n= 

fudjt  ganj  nadj  2Bert(jer3  Slrt  fdjilbert  unb  an= 

greift : 

©rfülT  batoon  bein  §era,  fo  groß  e8  ift, 
Unb  toenn  Du  ganj  in  bem  ©efü&le  feiig  fctft, 
■Wenn'  e8  bann,  lote  bu  toittft, 
ftenn'g  ©lud!  £erj!  Siebe!  ©ott! 
3$  tiabe  feinen  tarnen 
S)afür.    ©effif)t  ift  atteS. 


43]  $te  täUoloaiföe  ©tflätunggart  103 

Sic  3&ertt>attbt|d)aft  beiber  ßmpftnbungädrten  ift 
fo  auSbrudSbofl  unb  fyredjenb,  bafc  man  fd)on 
be3f)alb  auf  ben  gleid)jeitigen  Urforung  beiber 
2)id)tungen  fd&Uc§en  unb  inäbefonbere  bie  tUn 
ertoäljnte  ©arten»  unb  ßiebeäfcene  im  fjauft 
ju  beffen  Urbeftanbtljeüen  rennen  burftc.  Unb 
fo  Ijat  eä  fidj  aud)  urfunblidj  beftätigt.  9Jtan 
foflte,  beiläufig  gefagt,  biefe  ©cene  ittc^t,  toie 
eä  in  ben  Kommentaren  ljdufig  ju  gefd&eljen 
pflegt,  baS  „SReligionSgeforäd)"  nennen,  benn  fie 
fotelt  in  3Jtartljen8  ©arten,  nid)t  in  ber  Äird)en= 
gefdjidjte. 

SBenn  ©.  b.  ßoeper  baS  ©oetfjefdje  ©ebidjt 
„©antymeb"  mit  bem  93riefe  SBert^erS  Dom  10.  ÜDtai 
öerglidjen  unb  aus  ber  Sleljnlidjfeit  ber  ©efüljle  unb 
Silber  gefd&loffen  Ijat,  ba&  jene  Dbe  rooljl  in  baä 
Saljr  1774  gebore,  fo  finbe  idj  beibeS  gut,  bie 
SBergtetdjung  toie  bie  SSermutljung.  2)ie  Slnfüljrung 
biefeS  ©oettyeforfdjerä  erinnert  mid)  an  eine  anbere 
tooMgetroffene  33ergleid)ung.  3m  elften  SBudje  t>on 
2)td)tung  unb  SBaljrljeit  fagt  ©oetfje  in  feiner 
©djilberung  ber  ©türm»  unb  ©rangjeit:  „@d)on 
früher  unb  toieberfjolt  auf  bie  Jlatur  getoiefen, 
tooflten  toir  nid)t£  gelten  laffen  als  SBaljrljeit  unb 


104  $ie  (StflttrungSarten  beS  ®ottijefö«n  Sauft  [44 

Slufridjtigfeit  be§  ©efü^ls  unb  bcn  raffen  berben 
SluSbrud  beffelben: 

gfreunbfäaft,  Siebe,  JBrfiberfäaft, 
SSrägt  bie  frtf)  ni<$t  Don  f eiber  öor? 

toar  (unfre)  ßofung  unb  ftelbgefd&ret."  Saju  Ijatte 
@.  D.  ßoejier  commentirenb  bemerft:  ,,9iad)  ©ebanle 
unb  3tu8bru<f  erinnern  biefe  SBorte  an  bie  brann- 
ten im  3?auft: 

@S  trägt  SBerftanb  unb  redjter  ©inn 
ÜJHt  toenig  Äunft  ftdj  f  eiber  oor/ 

®tf  Saljre  foäter  erfdjeint  „@oett)e8  gaujt  in 
urfprünglidjer  ©eftatt"  unb  Ijier  fielen  in  bem 
©eforädje  mit  SBagner  nidjt  bie  SBorte:  „@8  trägt 
SSerftanb  unb  redjter  @inn  mit  toenig  «ßunft  fidj 
f eiber  öor",  fonbern  ftatt  iljrer: 

Unb  gfreunbftfaft,  Siebe,  Srüberföaft, 
£räQt  bie  ft<$  nidjt  tum  f eiber  por? 

(Sine  ber  intereffanteften  unb  totdjtigften  fragen 
fritifdjer  23ergteid&ung  betrifft  ben  SKonolog  in 
„SBalb  unb  ^ö^le"  nebft  bem  3toiegeforäd)e,  toeldjeS 
iljm  folgt  unb  bon  feiten  beS  gauft  mit  bem 
tragifdjen  2tu3brudj:  „2Ba3  ift  bie  ^immetefreub' 
in  iljren  2Irmen?"  u.  f.  f.,  bon  feiten  be§  3)lept)i= 
ftop^eleS  mit  ben  Sorten  enbet,  bie  jenen  3lu§= 


45]  $ie  »Wotogiföe  @rttärunßSart  105 

brud)    Verlanen:    „SBie'ä    toieber    fiebet,    ttrieber 
ßXü^t!"  u.  f.  f. 

3Sn  unfercm  „Urfauft"  fieljt  fcon  jenem  9Jiono= 
löge  nid)t§  unb  t>on  bem  Stoiegefyräd&e  nur  ber 
eben  bejeidjnete  ©djtufc *,  unb  3toar  an  einer  ©teile, 
bie  tooljl  bem  3toeifant})fe  unb  bem  SEobe  35alentin§ 
Vorausgehen  fottte,  ba  beffen  SDionolog  unb  ber 
Stnfang  beS  ©cfpräd^S  gtoifdjen  gauft  unb  3Jlel)ljt= 
ftopljeteg,  toetdjeS  in  ber  Röteren  Sichtung  in  ber 
SDUtte  jtirifdjen  ben  JBalentingfcenen  ftefjt,  unmittel= 
bar  borljergeljen.  @S  beginnt  mit  ben  Sorten 
be§  fjauft:  „2Bie  t>on  bem  Sanfter  bort  ber  @a= 
friftei  auftoärts  ber  ©djein  be§  ero'gen  ßämpdjenS 
flämmert"  u.  f.  f.  3n  ber  3lnttt>ort  beS  3Jleplji= 
ftoj)f)ele8  feljtt  bie  Slnftnelung  auf  bie  2Bafyurgi§= 
nad)t: 

©o  ftmft  mir  fdjon  burdj  alle  (Bliebet 
2)ie  fjerrltdje  2öaIl>urQ,tgnad)t. 
2)ie  fommt  uns  übermorgen  toicber, 
25a  toeift  man  bod),  toarum  man  toadjt. 


1  9lur  bte  ©djlufctoorte  beg  aRepfjiftojrfjeleS  festen: 
($3  lebe,  toer  ft$  tapfer  $ätt! 
2)u  bift  bodj  fonft  fo  atemlidj  ciitgcteufclt. 
ftidjts  SlbQefdjmacfterS  flnb'  idj  auf  ber  Söelt 
2U3  einen  Teufel,  ber  Derjtoeifelt. 


106  $ie  @ttlänntg8arten  be»  ©oetyefd&en  Sauft  [46 

3n  ber  älteften  2)id)tung  lag  nodj  nid)t$  toom  *ßlan 
ber  2Bafyurgt8nad)t,  ber  tool)l  aus  ©oetljeS  £ar}= 
reifen  fjertoorging  imb  erft  in  ber  &ejtenfüdje  an- 
gebeutet ttmrbe.  ©tatt  jener  ©teile  fagt  2Rep^t= 
ftopljeteg  im  Urfauft: 

9tur  fort,  e8  ift  ein  großer  Samtner! 
Qljr  foflt  in  eures  ßiebdjenS  ßammer, 
SRidjt  ettoa  in  ben  2ob. 

2)iefe  Sßorte  Ijat  ber  Sinter  fpftter  in  bas 
neue  3toiegefpra(^  berfetft,  toetdjeS  betn  SDhmotog  in 
SBalb  unb  £öljte  nachfolgte.  2tn  biefer  ©teile  beö 
„Urfauft"  beftnben  toir  uns  in  ber  SDiitte  un= 
georbneter  unb  unausgeführter  ©cenen.  3)a8  Ori= 
ginal,  toeldjeä  bie  @öd)ljaufenfd)e  Slbfd&rift  mittet 
bar  ober  unmittelbar  jur  95orau8fe§ung  Ijat,  toar 
fo  befdjaffen ,  tt)ie  •  es  ©oetlje  in  einem  fetner 
SBriefe  an  ©Ritter  bef treibt:  „2>a8  alte,  nodj  bor= 
rotzige,  Ijöd)ft  confufe  SDianufcrtyt". 

3m  Fragmente  folgt  ber  SDtonoIog  unb  ba§ 
nädjfte  ©efprädj  unmittelbar  nad)  ber  jtoetten 
©artenfcene,  b.  f).  nad)  ©retd)en3  S&erfflljrung,  öon 
beren  ©dmlb  fidj  Sauft  in  naturbefdjaulidjer  unb 
bidjterifd&er  Sinfamfett  gu  retten  fud)t,  toö^renb 
SJtepIjiftopljeleS  ifjn  ju  neuem  Siebeägenufe  unb  jur 


47]  ®te  D&itologifäe  @Tttätung3art.  107 

3tüdftel)r  antreibt,  bie  33atentin§  3tadje  unb  @r= 
morbung,  ffrufte  Slutfdjulb  unb  $lud)t,  ©retdöenö 
völliges  äfcrberben  jur  ^olge  Ijaben  toirb. 

3m  erften  Steile  bagcgen  folgt  ber  SRonolog 
unb  ba§  3tt)tcgcfprä(%  unmittelbar  nad)  bcr  erften 
©arten  =  unb  ßiebeäfeene,  b.%  bor  ©retdjenS  95er- 
füljrung,  fo  bafc  Sauft  im  einfatnen  ©enufc  ber 
Sftatur  unb  2)id)tung  fidj  bor  ßcibenfd^aft  unb 
@d)ulb  ju  betoaljren  fudjt,  toäljrenb  aJlep^iftop^eleS 
feine  Segierbe  ftad&elt  unb  iljn  jur  SBerfüljrung 
anreijt  unb  lotft.  Sftad)  bem  erften  ßiebeSgeftänbnifc 
erfdjeinen  Ijier  bie  ßiebenben  in  ber  Trennung, 
jebeS  Ijftlt  feinen  SJionolog:  fjauft  in  SBalb  unb 
§öf)le,  ©retdjen  am  ©pinnrab. 

@o  öiel  fieljt  fefi,  bafc  bie  SSalentinStragöbie, 
obtooljl  erft  f^ater  ausgeführt,  fdjon  in  ber  älteften 
3)id)tung  als  ein  Stljeil  ber  ©retdjentragöbie  nidjt 
Mos  geplant,  fonbern  aud&  angelegt  unb  begonnen 
ttrnr.  ©djon  l)ier  toamt  9Jiepf)iftol)f)ele8  ben  fjauft 
bor  ben  „rädjenben  ©eiftern,  bie  über  ber  ©tätte 
be§  ©rfdjlagenen  fdjtoeben".  2)er  ©ruber  ate  9läc^cr 
ber  ©djtoefter  unb  #lö  ein  Opfer  i^rer  ©d&ulb !  &ier 
jeigt  ftd)  eine  getoiffe  parallele  gtoifdjen  biefem  ©tüd 
ber  alten  ^aufttragöbie  unb  bem  ©tabigo. 


108  $>lc  ®tKärutifl8arten  bc8  ©oet^ef^en  ftauft.  [48 

$auft3  Icibcnfc^aftlid&c  ßiebe§glutf)  crfcftcint  in 
ber  urfprüngttdjen  2)id)tung  fo  übermädjtig  unb 
bämonifd),  bafe  fie  t^n  tote  ein  untoiberfteljndjeS 
©djiäfat  mit  fid&  fortreifet  in  ©djulb  unb  35er= 
berben.  Sie  SSergleid&ung  beS  9Jienfd)enleben3  unb 
feiner  ©d&idjale  mit  ber  SBafferffotf)  im  SBcd^fet 
t^rcr  ©eftaltungen ,  iljrer  gehemmten  unb  un= 
gehemmten  ©rgüffe  toar  unferem  2)idjter  fo  t>er= 
traut  unb  eingelebt.  $n  feiner  eigenen  ©turm= 
unb  SJranggeit  füllte  er  fidj  bem  ftürmenben  unb 
brongenben  Elemente  fo  bertoanbt  unb  erblidte 
barin  fo  gern  fein  eigenes  Slbbilb.  Unfer  ^auft 
gleidjt  feinem  2)idjter.  3fn  ruljelofer,  toiber  bie 
feften  ©Uranien  beg  ßebenS  unb  ber  ©itte  an= 
ftürmenber  SBeltfa^rt  begriffen,  t>on  tiefer  ßeiben= 
föafi  für  ba§  $olbe,  Ijarmlofe  ßinb  gefeffelt,  füljlt 
er  fid)  bem  SBafferfturs  äljnlidj,  ber  mit  ben  Reifen 
aud)  bie  £ütte  jertrümmert: 

3öa3  ift  bie  ^immelsfreub'  in  i^ren  Slrmen? 

Sa&  mid)  an  iljrer  Söruft  ertoarmen! 

3füfjf  id)  nid^t  immer  iljre  Sftotf)? 

SBin  id)  ber  Sflüdjtlina.  mc$t,  ber  Unbeftaufie, 

$er  Unmenfd)  oljne  3&>ecf  unb  Olulj, 

2>er  tote  ein  SOÖafferfturg  öon  gfelS  ju  ftelfen  braufte, 

SBegierig  toütfjenb  nad)  bem  Slbarunb  gu? 


49]  $ie  t>$ilo(o0tf$e  ®r«ärung8aTt.  109 

_Unb  feittoärtS  fie  mit  finbliä)  bumpfen  ©innen, 

3m  ^üttd^en  auf  bcm  Keinen  Sltyenfelb, 

Unb  att  ifjr  !jäu8Hä)e3  ^Beginnen 

Umfangen  in  bet  Keinen  2öelt. 

Unb  tä),  ber  ©ottbetljafjte,  Ijatte  niä)t  genug, 

S)afc  i$  bie  greifen  fagte  unb  fie  p  Krümmern  f$lug! 

©ie,  iljren  fjrieben  mufft*  i$  untergraben!  u.  f.  f. 

®iefe  SBorte  unb  alle  barin  enthaltenen  @e= 
füljle,  Silber  unb  3Jlotiöe  ftnb  fo  urgoetljifd)  unb 
barum  aud)  fo  urfauftifd),  bafc  id)  mit  toaljrer 
fjreube  biefe  ©teöe  in  bem  Urfauft  nad)  ber 
©öd)ljaufenfd)en  2lbfd)rift  angetroffen  Ijabe. *  ©a§ 
titanifdje  ©elbftgefüfyl,  ba%  fein  ©piegelbilb  in  bem 
rei&enben  S3ergftrom  finbet,  toie  ber  lftnberbef)err= 
fd)enbe  SBeltftrom,  ber  bem  Dcean  jueilt,  ba3  ©bieget 
bilb  be§  SBelterobererä  mar,  ber  eine  SBeltreligion  ge= 
ftiftet!  Unb  gugleidj  biefer  feljnfüdjtige  93lidC  nadj 
ber  glitte  unb  bem  ©lud,  ba§  fie  beherbergt!  2Bie 
erinnert  un§  biefer  3ug  an  ben  „SBanberer"  unb  an 
ben  ©d)lu&  in  „2Banberer8  ©turmlieb" !  3)a3  alles 
finb  ßieblingSöorfteßungen  beä  jungen  ©oetlje,  bie 
er  in  ber  Sliefe  feiner  ©inbitbungsfraft  Ijegte  unb 
pflegte,  in  benen  feine  ©eele  Ijeimtfd)  fear,  toie  ein 
SSolf  in  feiner  SDtytljologie ! 

1  üfteine  obengenannte  ©<$tift,  ©.  443. 

Äuno  8ftf#e*,  ®oet$ts©($tfftciu  8 


110  $te  drttttrunaSaiten  bcä  ®ottf)tfätn  Sauft  [60 

Um  aber  auf  unfere  urfauftifdje  SRebe  gurüd= 
gufommen,  fo  glaube  idj,  ba$  fie  einige  her  ßin= 
bräde  t>orau8f  et}t ,  bie  ©oetlje  auf  feiner  erfien 
©d)toeijerreife  erlebt  Ijat,  bafc  fie  baljer  toof)l  nad) 
biefer  eniftanben  fein  mag  unb  t>ietteid)t  eines  ber 
legten  ©tfltfe  ber  gauftbid&tung  toar,  ba3  nod(j  in 
3?ranffuri  gefdjrieben  nmrbe. 

®er  3Jlonolog  in  SBalb  unb  £öl)te  finbet  fid& 
nid)t  im  Urfauft,  fonbern  erft  im  Fragment:     - 

erhabner  (Seift,  bu  ga&ft  mir,  gabft  mir  alles, 
SQÖarum  idj  bat.    2)u  Ijaft  mir  nid&t  umfonft 
$ein  2tngeftdjt  im  Sfeucr  jugctoenbct  u.  f.  f. 

9Jiandje  ber  früheren  (Srttärer  Ijaben  fidfj  ben 
ßopf  gerbrod&en,  tt)er  biefer  erhabene  ©eift  tooljl 
fein  möge?  @iner  meinte,  e8  fei  Berber;  ein 
anberer  badjte  an  ©Jnnoga.  @S  ift  ber  (Sirbgeift, 
ber  bem  Urfauft  auf  feinen  Stuf  erf d&ienen,  aber 
toieber  entfd)ttmnben,  bodf)  Dom  3)id)ter  gu  einer 
fortiotrfenben  Stolle  beftimmt  tt>ar:  er  fotttc  bem 
tJauft  bon  neuem  erfdjeinen  unb  ben  3Jtel>ljijtol>ljele3 
jum  ©efeöen  für  bie  SBeltfa^rt  fenben.  3)afc  eine 
fotd&e  ©enbung  ftattgefunben  ljabe,  tourbe  audj  in 
jenem  ©eforäd&e  gtotfcften  fjauft  unb  afte^iftopljeleg, 
ber  einjigen  ©cene,  bie  in  5Profa  gefdjrieben  toar 


51]  Sie  tfUotoQiföe  ©rflärmtgSaTt  111 

utib  blieb,  auSbrüdKidfj  t>orau8gefef>t.  Unfer  2Jtono= 
log  frridjt  e8  au8: 

3)u  gabft  gu  btefer  äöonne, 
$ie  mi$  ben  Göttern  na§  unb  nä$er  Bringt, 
3Jlir  ben  ©ef&ljrten,  ben  id)  ?<$on  ni$t  me$r 
©ntbe^rcn  fann  u.  f.  f. 

3fn  btefen  SBorten  liegt  bag  93anb,  tt>etöje§  biefen 
Monolog  nodj  mit  bem  Urfauft  unb  bem  platte 
ber  ftlteften  ®t<Jjtung  toerfnüpft. 

©onft  ift  berfelbe  nadj  3?orm  unb  Sfnljalt  nid^t 
meljr  urfauftifdj.  ©ie  3cit  ber  ^an3  ©ad)8=35erfe 
ift  vorüber  unb  an  iljre  ©teile  bie  Äunftfprad&e 
ber  reimtofen  Sfamben  getreten.  2>er  ©octljefd&e 
Qfauft  rebet  in  feinem  SWonolog  bie  ©pradje,  toorin 
bie  letjte  Qfotm  ber  3pf)igenie  in  Italien  au8= 
geführt  ttmrbe.  ®ie  3eit  ber  SBertljerleiben  ift 
Darüber  unb  an  bie  ©tette  ber  entljufiafttfdjen 
9taturgefül)le  bie  forfdjenbe  -Waturbetrad&tung  ge= 
treten,  fteldje  ben  3ufammen^ang  unb  bie  Sin^eit 
afleä  ßebenbtgen  ju  burdjbringen  fud&t.  ©<Jjon  ift 
bie  ßinljett  ber  SPffonjcntoelt  in  ber  3Jlannid(jfaltig= 
feit  if)rer  formen  ©oetljen  in  ber  $Pflanjenmeta= 
morpljofe  aufgegangen,  bereu  3tbee  ebenfalls  in 
Stalten  gut  Steife  gebiet). 

8* 


112  $ie  <5rfIäTiing8arten  beS  <Soet&ef#«i  Sauft  [52 

3)u  gabft  mit  alles, 

SBarum  id&  bat 

©abfi  mir  bie  ^crrlic^c  SRatut  gum  Aönigreiä), 
Ätaft  fie  gu  füllen,  311  genießen.    9Hä)t 
Aalt  ftaunenben  JBefuä)  crlaubft  bu  nur, 
SBetgönneft  mit  in  iljte  tiefe  SBtuft, 
2Bie  in  ben  Shifen  eineä  SfteunbS,  ju  flauen. 
.  S)u  füf)tfi  bie  9teüje  ber  ßebenbigen 
$or  mit  botbet  unb  leljtft  mia)  meine  Grübet 
3m  ftiffen  SJufä),  in  ßuft  unb  Sfiaffer  fennen. 

@S  barf  ^eute  tooljl  für  eine  ausgemalte  ©ad)e 
gelten,  bafc  btefer  Ijerrlidje  2Jtonolog  bie  föfttidjfte 
ber  wenigen  ^rüd&te  ift,  bie  ©oetljeS  fJöuft  in 
Italien  geerntet  ljat.1 

•Jtod)  beS  Sinters  eigener  SluSfage  fcftctnt 
toäfjrenb  feines  Aufenthaltes  in  Italien  t>or  ber 
legten  O^bruartoodje  1788  faum  etwas  am  Sauft 
gefdjeljen  ju  fein.  „Utatürlid)  ift  es  ein  anber 
Sing",  föreibt  er  ben  1.  3Jiärg  1788,  „baS  Stütf 
jetjt  ober  t>or  ftinfjetjn  Sauren  auSfdjreiben ;  id) 
benfe,  es  fott  nidjts  habet  Verlieren,  befonberS  ba 
id)  glaube,  ben  Stoben  toiebergefunben  gu  Ijaben. 
2ludj  ttiaS  ben  Ston  beS  ©anjen  betrifft,  bin  id) 
getröftet ;  idj  Ijabe  f djon  eine  neue  ©cene  ausgeführt, 


J8gl.  meine  obengenannte  ©djrtft.    ©.  257—258. 


53]  Sie  Mtotogtfd&e  ®rflttnmg*art.  113 

unb  toenn  idj  ba3  Rapier  räud&ere,  fo  bdd^te  id), 
foüte  fte  mir  niemanb  aus  ben  alten  IjerauSfinben." 

©er  feine  ©pürfinn  unferer  ^ttologcn  toirb 
fid)  burdj  eine  fotdje  9täud)erung  ftd)erlid)  nidjt 
bergeftalt  trüben  laffen,  bafc  er  ben  9Äonolog  in 
2Balb  unb  &öl)le  für  biefe  ©cene  anfeljen  foflte, 
bie  Don  ben  alten  nid&t  ju  unterfd&eiben  toftre,  Don 
benen  fie  bod^  nad)  Qform  unb  3nljalt  fo  getoalttg 
abftid)t.  2lud)  ttnrb  man  bem  3)id)ter  felbft  ntd^t 
jutrauen,  bafe  er  fid)  barüber  tauften  fonnte.  ßr 
toäre  in  feinen  2)id)tungen  fidj  ber  Unterfdjtebe 
jttrifdjen  fjranffurt  unb  3tom  fo  toenig  berufet  ge= 
toefen,  bafe  er  Ijätte  meinen  fotten,  biefe  Unter= 
fdjiebe  toegräud)ern  ju  fönnen? 

Itnb  bodj  nriifete  idj  unter  ben  neuen,  bem  llr= 
fauft  Ijüijugefügten  ©cenen  feine  anbere,  Don  ber 
fidj  im  genauen  SSerftanbe  fagen  liefee,  bafe  fie  ben 
Dom  3)idjter  „toiebergefunbenen  Qfaben"  ber  alten 
®id)tung  aufgenommen  unb  fortjufüljren  gefugt 
Ijabe,  als  biefen  Sttonolog.  2)erfefl>e  toar  unab= 
gängig  Don  ber  ©retdjentragobie  entftanben,  bie 
Diele  3aljre  jurütf  in  ber  Vergangenheit  lag,  er 
enthielt  lein  SJioment,  ba§  mit  iljr  Derfnüpft  ober 
auf  fie  beregnet  toar;  nun  follte  er  alä  ein  toirf= 


114  $te  (Stflärungftarten  beS  <Bo«t$efd&en  ftauft.  [54 

fameö  ©Heb  in  biefelbe  eingefügt  toerben..  3)er 
Steter  toufcte  felbft  nid)t  red)t  too.  3ln  einem 
anbern  Ort  fteljt  ber  ÜÄonolog  im  Fragment,  an 
einem  anbern  im  erften  StljetL  @3  gab  nur  eine 
eingige  2lrt,  ityn  in  ber  ©retd&entragöbie  gu  &er= 
toenben:  {ftufi  mu&te  aus  feiner  gebanfen&oflen 
©infamfeit  gu  ©retdjen  gurtttffeljren  in  leibenfdjaft* 
li^er  unb  berberbttdjer  ©lutlj;  ein  ©eforftdj  mit 
9Jiej)I)ifto^ele§  mufcte  in  biefer  Stimmung  unb 
mit  bem  leibenfdjaftlid>en  9lu36rud)e  biefes  ©nt= 
fdjlüffeS  enben.  SDie  Elemente  bagu  bot  ba3  alte 
Qfranffurter  3Äanufcript.  £ier  fanb  ©oetlje  bas 
Srudjftfid  eines  3toiegeft>rädj$ ,  beffen  ©d)luj$  für 
feinen  3roe<f  toortreffüd)  fagte  unb  nad)  bem  2Rono= 
löge  gfaufts  in  Sßalb  unb  &öljle  toeit  Beffer  am 
^lafce  toar  als  toor  ©retdjenS  £au«,  in  ber  9?d^e 
ber  ©afriftei,  na<§  JBalentinS  SDtonolog,  too  e8  bie 
alte  £anbfd)rift  Ijatte.  @in  neues  ©efprädj  mit 
biefem  fd)on  gegebenen  ©dtfufi  toar  gu  bidjten. 
©arin  beftanb  bie  Aufgabe,  bie  gur  ßinfüljrung 
be3  neuen  9Jtonolog8  in  bie  ©retdjentragöbie  gu 
löfen  toar.  ©oetlje  fttljrt  bie  ©cene  au$,  bie  ben 
2Ronotog  in  SBatb  unb  £öl)le  mit  ber  ©retdjen* 
tragöbie  Derlnüpfen  fottte.    „3$  Ijabe  fdjon  eine 


66]  $ie  täUofogifge  dtftttrungeari  116 

neue  ©cene  gebietet,  unb  toenn  irf)  baS  Rapier 
räudjere,  fo  bftd&te  i<$,  fottte  fie  mir  niemanb  aus 
ben  alten  IjeraüSfinben."  3)iefe  ©cene  getnifj  nid&t! 
2Bar  fie  bodj  iljrer  SEenbenj  unb  in  einigen  ©tttcfen 
felbft  bem  SBortlaute  nadj  fd&on  in  ben  alten  ©ceneu 
enthalten.  3dj  ^atte  ©oetljeS  Slnbeutung  früher 
auf  bie  „&ej:enlttd)e"  bejogen,  toeil  idj  jenes  3toie= 
gefprftdj  für  ein  ©tut!  ber  ältefien  ©idjtung  ge= 
galten  Ijabe,  bis  idj  jefct  burdj  ben  ^auft  nadj 
ber  ©ödjljaufenfd&en  3lbfdjrift  eines  SBcffcrcn  ober 
toielmeljr  ©enaueren  belehrt  bin.1 

3)aft  ©oetlje  bie  £ejen!üdje  eines  SEageS  im 
©arten  ber  SBiffa  Sorgljefe  gu  9tom  gebietet  Ijat, 
loiffcn  mir  aus  feinen  ©efprftdjen  mit  (Sdfermann. 
3)aS  ©runbmotto  biefer  ©cene  tag  in  bem  Silbe 
ber  £elena,  bie  ^uft  im  3auberfpiegel  erblidfen 
fottte.  2)er  ©djauplatj  beS  SlltertljumS,  auf  bem 
er  fid)  befanb,  mufcte  unferem  2)id&ter  lebhafter 
als  je  öergegentoärtigen ,  toeld&e  Stolle  baS  fc^önftc 
SBeib  aus  ber  ©agenroelt  beS  SlltertljumS  in 
ber  Qfauftfage  unb  tJauftbidjtung  gezielt  unb  gu 
fpielen  Ijat. 

1  S8a.l.  meine  6$rift  über  ©oetfje«  gfauft:  Aap.  XII. 
©.  252—257. 


116  $te  ©tttärung&atten  beS  ®oet$efd&en  Sauft  [56 

2)er  SDionolog  in  SBalb  unb  <g>ö^le  begießt  fid) 
in  feinen  ©d&lu&toortcn  auf  biefe  Srfd&einung  im 
3auberfl>ieget  ber  &ejenfüd)e  jurttcf: 

(Er  fad^t  in  meiner  ©ruft  ein  tmlbeS  gfeuer 
Üftad)  jenem  frönen  SBilb  gef^äftig  an. 
©o  tauml'  tdj  t)on  SBegierbe  gu  ©enu6 
Unb  im  ©enuft  üerf^ma^t'  idj  nadj  Segierbe. 

2lu8  biefen  ©rttnben  neunte  idj  an,  bafc  bie 
^ejenfüdje,  ber  ÜDtonolog  in  SBalb  unb  £öljte  unb 
ba3  ©efpräd),  toeldjeä  iljm  folgt  unb  mit  einem 
©tücfe  ber  ätteften  2)idjtung  enbet,  in  Stauen  ent= 
ftanben  finb,  unb  jttmr  in  ber  genannten  ^Reihenfolge.1 

&ier  öffnet  ftd)  bie  2Iu8fidjt  auf  eine  Sfceilje  Don 
fragen  nad)  bem  $lan  unb  ber  ßompofition  ber 
©oetljefdjen  ^auftbid^tung.  3Sd)  laffe  biefelben  un= 
berührt,  ba  id)  biefeS  umfaffenbe  unb  biet  Der* 
jtoeigte  SCIjema  in  meiner  @$rift  einge^enb  be= 
Ijanbelt  Ijabe.  2ln  ber  gegenwärtigen  ©teile  Ijabe 
id)  e§  mit  ben  6rflärung3arten  ju  tl)un,  beren  eine 
in  ber  fritifdjen  JBergleidjungSart  Befielt,  bie  id)  an 
einigen  SBcifpictcn  unb  groben  barftetten  tooÖte. 


1  Söenn  ©tid)  ©<$mibt  mit  (einet  „flehten  gfauftljtypo* 
t^efe"  retfct  tjat,  fo  tourbe  bie  §ejen!ü$e  im  ©ommer  1787 
gebietet.    (©Triften  bet  ©oetlje  *  @ef ettf $.  II.  ©.429.) 


67]  Sie  MUotogtfdje  Unterfd&etbimggfuitft  117 

VI.  $ie  j^ifofogiföe  &utetföeibm$*&uuft. 

3)ie  unfritifd&e  JBergleidjung  unb  bie  ljt#er= 
fritifd&e  Unterfdfjeibung  finb  jtoar  nad&  ©eifteö  =  unb 
Urtljeiteart  fc^r  berfd&ieben,  aber  fie  fönncn  beibe 
in  bcr  6rftärung  bid&tertfd^cr  SBerfe  gu  Slnnaljmen 
geführt  »erben,  bie  betn  ttrirflidjen  Urforunge  unb 
gntttridtlungSgange  berfelben  jutoiberlaufen.  3JUt 
gekannter  Slufmerffamfeit  toerben  toir  bie  3cr= 
glieberungen  beobad&ten,  bie  ein  fc^arf finniger,  in 
ben  grofeen  fragen  ber  ßiteratur  geübter  unb  ein= 
l)eimifd&er  3forfd&er  mit  beut  ©oetljefd&en  tfauft 
vorgenommen  Ijat.  ©old&e  Unterfud&ungen  Ijaben 
ftetö  iljre  lehrreichen  (Srfolge,  aud)  toenn  iljre  ©r= 
gebnijfe  jtoeifelljaft  ober  falfdj  finb. 

1.  2)cr  Utfauft  in  $rofa. 

3n  unferer  SDidjtung,  toie  fie  bie  SBelt  Don 
©oetlje  erhalten  Ijat,  giebt  es  nur  eine  in  $rofa 
toerfafcte  ©cene:  ba%  ©efprädj  nadj  ber  2Safyurgi3= 
nad^t#  worin  fidj  3faufi  in  toilben  Sßertottnfdjungeu 
ttriber  aJtepIjiftopljeleS  ergebt,  toeit  iljm  biefer  baS 
©djicf  fal  ©retdjens  toerljeimlidjt  Ijat.  2>afc  biefe  ©cene 
ju  benen  gehörte,  toetdje  ©oetlje  nadj  SBeimar  mitge= 
(irad&t  unb  bort  borgelefen  Ijat,  bafür  giebt  e8  innere 


118  Sie  (Srttärungftarten  be8  ®oet$eföen  ftauft  [68 

unb  äußere  39ett>ei8grünbe  genug.  9htn  ftnben  ftd& 
nodj  einige  anbete  reimlofe  ©teilen,  bie  ebenfo  gut 
in  3orm  ber  $rofa  als  ber  abgefegten  3eilen, 
toorin  toir  fie  lefen,  getrieben  fein  fönnten:  toie 
bie  Ausrufungen  fjfaufte  bot  ber  (Srfd&einung  bc§ 
©rbgeifteS,  ©retd&enä  SBlumenoraW,  fjaufts  ©lau* 
benSbefenntnifc  in  ber  ©artenfcene,  roenn  man  ben 
6rgu6  feiner  religiöfen  ©efttljle  fo  nennen  toiH, 
bie  ©timme  bed  böfen  ©eifteä  unb  ©rettend  ab= 
geriffene  angftootte  SBorte  im  3)om.  darauf  Ijat 
SBilljelm  ©djerer  bie  Annahme  gegrünbet,  ba&  ber 
urft>rflnglid&e  gntnmrf  beS  Qfauft  in  5Jh:ofa  öerfafet 
unb  unmittelbar  nadj  ber  ©ramatifirung  ©ottfriebs 
toon  SBerlid&ingen,  alfo  im  3aljre  1772  entftanben 
fei.  S)ie  gereimte  ^Bearbeitung  fei  in  ber  @nt= 
ttndftung  be$  ©ebictjtö  fdjon  eine  gtoeite  $Ijafe,  bie 
erft  1773  begonnen  Ijabe.  Sine  einzige  ©cene  unb 
ein  paar  Strammer  Ij&tten  ftd)  nodj  au%  biefem  Ur= 
fauft  in  $rofa  erhalten. 

Sitte  2lu8fagen  be3  2)ic^terS  foredjen  bagegen. 
<£r  Ijat  in  feinem  italienifdjen  Stagebud)  toon  bem 
alten  9ftanufcrtyte  be*  fjauft  bemerft:  „@8  i|t  nodj 
ba$  erfte,  ja  in  ben  $auptfcenen  gleich  fo  oljne 
©oncept  Ijingefd&rieben".    @r  berietet  in  2)t<fjtung 


59]  Sic  täilo(00tf($e  UnterfättbungSfunfL  119 

unb  3BaIjtf)eit  öon  ber  (SntfieljungSart  beS  ©öi} 
unb  beS  Sauft:  „3dj  trug  biefe  Sttnge  mit  mir 
Ijcrum  unb  ergö^te  mid&  batan  in  einfamen  ©tunben, 
oljne  jebodj  etoaS  babon  aufzutreiben".  SSötttg 
bamit  übereinftimmenb  ift  bic  3leufjerung  in  einem 
©eforftdje  mit  (SdEermann:  „2)er  ^auft  entftanb  mit 
meinem  SBertljer,  idj  braute  iljn  im  3aljr  1775 
mit  nadj  SBeimar.  3}dj  Ijatte  Hjn  auf  Sßoftyapier 
gefdjrieben  unb  ntd&ts  batoon  geftrtc^en ,  benn  idj 
hütete  midj,  eine  3*tfe  nieberjuf d&retben,  bie  nidjt 
gut  War  unb  bie  nidjt  befteljen  fonnte." 

@S  ift,  meine  idj,  bei  unferer  grage  gleichgültig, 
06  bie  SBorte  beS  italienifdjen  StagebudjS  aus  ber 
3eit  ber  Steife  ober  ber  Sftebaction  flammen,  benn 
©oetlje  felbft  Ijat  es  gejagt.  Unb  idj  mödjte  bie 
3luSft>rüdje  beS  Sinters  über  feine  eigenen  ©djöj>f= 
ungen  nid&t  fo  leidjt  genommen  feljen,  bafe  fie  mit 
bem  £>autf)  einer  &typotljefe  toegjublafen  ftnb;  es 
fei  benn,  bafc  bie  Slnnaljme  über  bie  ©ntfieljungs* 
art  eines  ©oetljefdjen  SßerfeS  fidj  aus  biefem  felbft 
redjtfertigt. 

(Siner  ber  Iritifdjen  ©rünbe,  toorauf  ©djerer 
bie  Slnna^me  über  bie  6ntfteljuttgSjeit  feines  Ur= 
fauft  geftütjt  Ijat,  lag  in  ber  ftiliftifd&cn  JBergleidjung 


120  $te  (grfi&tungSarten  beS  ®oe$ef<$en  %cax%  [60 

jener  5ßrofafcene  beS  Sauft  mit  her  Urform  bcS 
©öij.  S)ie  aSergleid&ung  als  fotd&e  ift  gut  unb  er* 
giebig  an  feinen  SBeobad&tungen ,  aber  ber  ©djtufe, 
ju  bem  fie  toertoenbet  toirb,  ift  feineStoegS  gutreffenb. 
■Wad)  ber  2)ramati|trung  beö  ©ottfrieb  fei  in  ber 
©pradje  ©oetljeS  fd&on  eine  äBanblung  unb  eine 
fold&e  ÜDh&ljaltung  beS  9luSbru<fS  eingetreten,  ba§ 
aus  ftiltfttfd^cn  ©rflnben  jene  $rofafcene  im  {Jauft 
md)t  fpäteren  UrforungS  fein  fönne.  S)ie  Urform 
beS  ©öfc  ftammt  aus  bem  ©Jjftüjerbjt  1771,  bie 
9lbfaf[ung  beS  ßlatrigo  aus  bem  grtt^a^r  1774. 
Unb  bie  radtfüdjtigen  aButyauSbrttdje  beS  95eau? 
mardjais  im  vierten  Stet  beS  ©fatoigo  finb  nod) 
mafclofer,  ttrilber,  fannibalifdjer  als  bie  ber  Sauern 
im  ©ottfrieb.  Aber  gerabe  bie  2leljnlidjfett  ber 
teueren  mit  ben  SButljauSbrüd&en  beS  $auft  in  ber 
?Profafcene  mar  ber  SSergleidjungSjmnft,  auf  ben 
man  ein  fo  grofceS  ©enudjt  legte. 

®ie  Qfrage  nad)  ber  ©eftalt  beS  Urfauft  unb 
ber  ©treit  barüber  ift  feit  ©djererS  &!#otljefe  er= 
regt  unb  mit  ßebfyaftigfeit  geführt  toorben.  3ene 
erfte  §anbf  d&rift ,  bie  ©oetlje  mit  einem  alten 
ßobej  toergltd&en,  ejiftirt  nid&t  meljr.  Dljne  3*oeifel 
^at  er  felbft  biefen  „Sobef"  gerftört,  um  ber  2ßelt 


61]  Sie  tfUologif$e  Untetföctbuitflftfunft  121 

leinen  ©inbtidf  in  bie  SBerfftätte  feine«  Sauft  gu 
gemalten.  SBir  Ijaben  nur,  toaS  uns  ber  Sinter 
felbft  barüber  gefagt  Ijat.  ©iefer  ßobej  toax  bie 
Urfdjrift,  ber  lein  ©oneept  voranging,  bie  fjorm 
ifjrer  Slbfaffung  mar  bie  Urform.  3ft  un8  eine 
Slbfdjrift  batoon  erhalten,  fo  ift  audj  bie  fjfrage  unb 
ber  ©treit  über  bie  9lrt  ber  Urgeftalt,  ob  biefelbe 
in  Sprofa  ober  keimen  beftanb,  einmal  für  immer 
entfliehen. 

6$  toerljält  fidj  mit  bem  ©treu  über  ben  Ur= 
faufi,  tüte  mit  bem  über  baä  Urebangelium  unb 
über  ben  Urring.  2Ba8  fagt  bodj  gleich  ber  Sftidtfer 
hn  SRat^an?  „Sßenn  iljr  mir  nun  ben  SBater  nidjt 
balb  gur  ©teile  föafft,  fo  toeif  id)  eudf)  t>on  meinem 
©tuljle."  „Ober  fyarret  iljr,  bis  ba§  ber  redete 
Sfting  ben  3Runb  eröffne?" 

■Jiun  ift  e8  bem  erften  2)irector  be3  eröffneten 
©oetljeardjitoä  burd)  feinen  glüdftidjen  unb  rafilofen 
ßifer  ttrirfüd)  gelungen,  gtoar  nid&t  ben  SBater  felbft, 
bodj  ettoaä  t)om  SBater,  einen  ungtoeibeutigen  9te= 
präfentanten  beffelben  in  ber  9lbfd)rift  beS  fträuleinS 
Don  ©ödjljaufen  gur  ©teile  gu  fdjaffen.  3et}t  finb 
ttrir  fidler,  bafc  ber  Urfauft  mit  2lu8naljme  breier 
©cenen  in  Werfen  berfa&t  toar.    3)iefe  SluSnaljmen 


122  $te  (SrflttrungSartcn  bc8  ®ott$efdjen  3?<roft  [62 

finb:  bic  ©cene  in  SluerbadjS  Äetter,  bie  ßerfer= 
fcene  unb  ba8  ertönte  ©efpräd),  toeldjeä  ©oet^e 
erft  in  bie  fpfttere  2)idjtung  aufnahm  unb  Ijter 
unmittelbar  auf  bic  SBatyurgiSnadjt  folgen  liefe. 

2.  $er  Unnonolog. 

3)ie  £ljpot!}efe  bon  einem  Urfauft  in  Sßtofa  ift 
Ijinfällig.  Unter  ben  $auptfcenen,  bie  nad)  ©oetljeS 
eigener  2lu8fage  „gleid)  fo  o$ne  (Soncefct  l)in= 
gefd&rieben  ttmrben",  finb  bie  älteften  ju  toerfteljen: 
3?auft8  erfter  Monolog,  bie  @rf Meinung  be3  6rb= 
geifteg,  ba8  ©eforäd)  mit  bem  ^amuluS.  Siefe 
bilben  bie  erfte  ©ruM>e  ber  #auptfcenen.  3)ie 
gtoeite  umfafet  bie  ©retdjentragftbie.  ©eit  ber 
©ramatiftrung  be8  gaufi  tt>ar  unb  blieb  ber  9Äono= 
log  im  ©tubirjimmer  ber  t^ifd^e  Slnfang,  ber 
fidj  aus  ber  5ltt  unb  Sßeife,  ttrie  bie  ©efd)id)te  Dom 
Sauft  erjäljlt  unb  ber  £elb  berfelben  gefdjilbert 
ttmrbe,  einem  bramatiföen  Äolpfe,  tüte  SÄarlotoe, 
Don  felbft  ergab.  Siefer  ljatte  bie  erfte  ©cene 
fogleid)  mit  genialer  Stidjtigfett  ergriffen  unb  feft= 
gefteöt.  SBon  bem  englifd&en  S)id)ter  $aben  iljn  bie 
beutfdjen  aSolfefd&auftnele,  bon  biefen  bie  5PuM>en= 
fptetc   geerbt.    68  toar  ein  bielftimmigeS  €djo! 


-  63]  $ie  Wlologiföe  Untttfd&etbungBfunft.  123 

Unb  ©oetlje  fd&ilbert  feine  gfaufterbfdjaft  treffenb, 
toenn  er  fagt:  „®ie  alte  5ßu:p:penft>ielfabel  Hang 
unb  fummte  gar  bieltönig  in  mir  torieber". 

©er  jugenbltdje  ©oetlje  erblttfte  im  Sauft  torie 
im  $rometf)eu8  fein  ©egenbilb.  ©leidj  in  ben  erften 
SBorten  be3  Qfftufl  fcernaljm  er  feine  eigensten  @e= 
filmte.  @r  Ijörte  fidj  reben,  toenn  alles  gelehrte 
SBiffen  für  eitel  unb  unnüfc  erflärt  unb  ftatt  affer 
Silber  ein  eingigeä  begehrt  tourbe,  toeldjeä  bie 
magifdjen  ßräfte  beä  @rfennen8  unb  SBirlenS  t>er= 
leiten  fönnte.  &ier  lag  bie  ttrbertoanbtfdjaft,  bie 
unfer  SDic^ter  mit  bem  9Äagu8  ber  alten  35olfö= 
fdjauftriele  em^fanb,  bie  Sin jieljunggfraf t ,  toomit 
iljn  biefer  ergriff;  Ijierau8  affein  erll&rt  jtd)  jener 
äBieberljaH  ber  „SPitWenfotelfabel"  in  feinem  @e= 
mtttlj.  £ören  ttrir  aufmerffam,  toaä  ©oetlje  über 
bie  6ntftel)ung  feine«  Sauft  in  „3)id)tung  unb  SBaljr* 
Ijeit"  mitteilt.  3)ie  SBorte  finb  affbefannt,  aber 
beadjtungätoürbiger,  als  man  fie  ju  nehmen  pflegt. 
@r  fagt:  ,,©ie  bebeutenbe  ^u^^enfpielfabel  be3 
Sauft  Hang  unb  fummte  gar  bieltdnig  in  mir 
ttriebcr.  91  u  4  idj  ^atte  mid)  in  allem  SBiffen 
untergetrieben  unb  mar  frälj  genug  auf  bie  @itel= 
feit  beffelben  tyingenriefen  toorben.    3dj  Ijatte  e$ 


124  Sic  (StftiiTungSarten  be8  ®oeti&efc$en  $auft  [ß4 

aud)  im  Öeben  auf  allerlei  SBeife  fcerfud&t  unb  toar 
immer  unbefrtebigter  unb  gequälter  gurücf  gel  ommen. " 
3)tefe  Slrt  ber  ©etfteätoertoanbtfd&aft  mit 
bem  Qfauft  toar  bemnadj  ber  SBetoeggrunb 
unb  Urquell  feiner  ©iditung,  i^r  erfteS 
Slljema,  iljr  2lnfang. 

3)aljer  müfete  ber  Urfauft  in  Sßrofa  nid&t  biefe 
ober  jene  @cene,  fonbern  bor  allem  btcfeS  erfte 
©elbfigeforädj  in  $rofa  fein. 

9tad)  ben  eben  angeführten  SBorten  fä^rt  ©oetlje 
fo  fort :  „3hm  trug  id&  biefe  3)inge,  ttrie  mandje  anbere, 
mit  mir  Ijcrum  unb  ergötjte  mid)  baran  in  einfamen 
©tunben,  ol)ne  jebo$  ettoaS  babon  aufjufd&reiben". 
@r  pa^tt  ben  Sauft  ft$  an,  ttrie  er  ja  aud)  ba3  @e* 
loanb  be§  alten  Slitanen  fidj  nad)  feinem  SBudjfe  ju= 
redjtfdjnitt.  ®ie  bertoanbte  ©emütljsftimmung  ergofj 
er  in  einfamen  Selbftgefprädien,  ttrir  nehmen 
ba§  SBort  in  ber  bud)ftäbtid)en  SBebeutung.  (£r  ftrielte 
für  fid)  felbft  ben  Sauft  unb  nad)  fo  fielen  groben 
gleidjfam  entftanb  ba§  ©elbftgeforäd) ,  toeld&e§  ber 
SBelt  offenbart  tourbe:  bie  erfte  unb  ältefte  ber 
§auptf cenen ,  ber  llrm onolog  be§  ©oetljefdjen 
Sauft.  „2ld&!  loa«  in  tiefer  ©ruft  uns  ba  ent= 
fprungen,  tt>a3  fid)  bie  2\ppt  fdmdjtern  borgelallt!" 


65]  Die  p&i(otO0if$e  Untetf^eibungStunft  125 

®ie  äBirlung  biefeä  Sflonologä  gleidjt  feinem 
Urforung.  ©oetlje  fjat  benfelben  oft  für  ftd)  ge* 
polten  unb  toufete  iljn  auStoenbig,  id)  tnödjte  l)ier 
am  Iiebften  fagen  „par  coeur",  fo  bafc  er  tljn 
„gleidj  fo  oljne  ©oncejrt"  I)infd)reiben  formte!  Unb 
toer  ljat  tooljl  je  unfere  ®id)tung  gelefen,  ofjne  ntd^t 
einmQl  unb  öfter  in  einfamen  ©tunben  fidj  baran 
gu  ergoßen,  toie  tljm  ber  ÜDhmolog  ju  ©efidjt  fteljt 
unb  bem  ©oetljefdjen  fjauji  uad) jufored&en : 

§aBc  nun,  adj!  ^fjilofop^ie, 
Surtfterei  unb  ÜWcbicin 
Unb  letbert  au$  2^eologtc 
S)uri$au3  ftubirt,  mit  feigem  SBcmü^n. 

3tn  biefem  erften  üttonolog,  ber  nadj  ©oetljeä 
SBefenntniffen  ein  ungehemmter  (Srgufc  fear,  unter* 
fd)eibet  nun  bie  J>l)ttofogifd)e  «ßunft  aus  fprad&lid&en 
unb  fad&Itd&en  ©rünben  oier  Sibfd&nitte,  gtoifd&en 
benen  ©inljeit  unb  Sufammenljang  ju  öermiffen 
fei.  3)a§  erfte  ©tut!  beginne  mit  ber  Slbtoenbung 
bon  aller  3unftgele^rfamleit  unb  cnbe  mit  ber 
&intoenbung  jur  9Jiagie: 

2)rum  Ijab'  idj  mid)  ber  3Jlagte  ergeben, 
Ob  mir  burd)  ©etfieStraft  unb  SJtunb 
SRidjt  man<$  ©eljeünnife  tofirbe  funb, 

fluno  griffet,  ®oetl>es@d&riftetu  » 


126  $te  ©rttänmgSartcn  bc8  <3toetlKfd&tn  gauft  [66 

2)a&  id&  ni<$t  mefjr  mit  faurem  @$toei&, 

3u  fagen  brause,  toaS  t$  md&t  toeifs. 

2)afc  i<$  erlernte,  toaS  bie  SGßelt 

3m  3nncrftcn  gufammenljait, 

©<$au'  ade  SQßirlenSfraft  unb  ©amen, 

Unb  t^u'  nidjt  meljr  in  Söorten  tramen. 

2)a§  jtoeite  Beginne  mit  ber  feinfühligen  S5e= 
grüfjung  beS  SSottmonbeS :  „£)  fäfjft  bu,  Dotter 
SJlonbenfdjein,  jutn  letztenmal  auf  meine  5ßein" 
u.  f.  to.  unb  enbe  mit  ben  Sßorten:  „Umfonft,  bafc 
trodfneS  ©innen  Ijier  bie  ^eiPgen  3cid^en  bir 
erlttrt-. 

2)er  3?ortfd>ritt  t>on  bem  erften  Slbfdmitt  gum 
jtoeiten  ift  allerbingS  fjödjft  BemerfenStoerti).  ©ort 
berneljmen  toir  nod)  ben  9?adjljall  ber  Stimme  beS 
SDiarlotoe'fdjen  ^aufteS,  bie  burd)  bie  beutfdjen 
SBoKSfd&aufoiele  forttönt.  Slber  ber  ©oetljefdje  Sauft 
ift  ein  anberer  als  ber  ÜKaguS  beS  fedjSjeljnten 
3aljrljunbert3,  ber  mit  fdjneKen  ©djritten  ber 
£ötte  jueilt;  ber  unfrige  breitet  feine  Slrme  aus 
nad)  ber  -Watur,  loie  es  bie  föpodje  beS  Sturms 
unb  2)rangS,  beffen  feurigfte  ©eburt  er  toar,  forberte. 
3^n  loden  bie  3auber  ber  SÄonbnad&t :  „O  fäljft  bu, 
öoüer  Sttonbenfd&ein,  jutn  lefctenmal  auf  meine 
$ein !  £)  lönnt'  i<§  bod)  auf  SBergeS^ö^n  in  beinern 


67]  3>le  Wtorogtfäe  Unterfäelbunflgfunft.  '  127 

lieben  ßidjte  geljn!"  3n  biefen  ©mpfinbungen  jmtftrt 
her  ©oetljefdje  Sauft.  @ie  bilben  ba§  SHjema 
beS  gtoeiten  2tbfd)nitt3.  2)ie  J)ljilologifd)e  Untcr= 
fdjeibunggfunft  finbct  l)ier  bie  ©prad&e  betoegter, 
flüffiger,  anfdjaulidjer  al§  im  crftcn  unb  gelangt 
burdj  bic  Sluffpürung  grammattfdjer,  tnetttfefter  unb 
fiiliftifdjer  5Berfd)iebenl)eiten  im  (Singetnen  gu  bem 
(Srgebnifc,  bafc  gtoifd&en  ben  Betben  erften  Stbfdjnitten 
unfereS  9Jtonolog3  eine  «Kluft  Befiele.  @§  feien 
nid&t  ©lieber  einer  9tebe,  fonbern  „gtoei  urfprünglid) 
getrennte",  in  berfdjiebencn  ©podjen  ber  ©oetljefd&en 
©pradje  fcerfafete  ©tütfe.  2)emnad)  finb  bie  erften 
trierunbfiebgig  SSerfe  unfereS  S^uft  erft  nad)  mand&cr= 
lei  SQBanblungen  be§  poetifdjen  @ttl3  gu  ©tanbe  ge= 
lommen  unb  in  bie  SSerfnityfung  gebraut  toorben, 
toorin  tirir  fie  lefen. 

Verfölgen  ttrir  nad6  btefer  fritifd&en  9tid)tfd)nur 
ben  Monolog  nodj  ettoaS  toeiter.  gauft  fd)lägt 
fein  3auberbudj  auf  unb  erblidt  btö  3eidjen  be3 
9JiafroloSmu3.  SSoller  (Sntgüden  Betrautet  er  ba§ 
23ilb  be3  göttlid&en  Stillebens,  ©o  entgüdt  fönnte  er 
nidjt  fein,  toenn  i^m  23ilb  unb  ©inbrud  nid)t  öölltg 
neu  toären :  alf o  Ijabe  fjauft  bag  Seiten  nie  borljer 
erblidt,  alfo  au<$  ba§  33udj  nie  öorljer  geöffnet, 

1    9* 


128  $te  ©rfittrungearten  beS  ®oetl>efd&en  ftaufh  68] 

alfo  audf)  nidjt  früher  gehabt,  fonbem  eben  erft  er= 
galten.  2)ie  j>ljilologifd&e  Unterfd&eibungSfunft 
entbetft  Ijier  eine  jtüeite  Surfe.  2)ie  Siebe  beS 
Sauft  fetje  Daraus,  bafe  iljm  ein  3auberbud)  ge= 
brad&t  toorben  fei,  toaS  aud&  im  5ßuWenftriet  ge= 
fdjelje,  aber  nid)t  in  ©oetljeS  Sichtung,  nidjt  in  ber 
Sorm,  toie  uns  biefelbe  vorliegt. 

„3*  fü^r«,  bu  fötoebft  um  mid),  erster  ©eift" 
ruft  Sauft.  2tber  toir  Ijaben  ja  nid&t  gehört,  bafc 
et  ifjtt  erficht  Ijat.  #ier  alfo  jeige  fidj  eine  brüte, 
Don  ber  pljilologifdjen  UnterfdjeibungSfunft  nadfc 
getmefene  ßüde. 

„3)u  f)aft  midj  mä$tig  angezogen, 
2tn  meiner  ©pljäre  long  gefogen" 

fagt  ber  (Srbgeift  ju  Saufr  9iud)  biefe  SBorte 
fd&einen  nad)  ber  fd)ärfften  ^ilotogifd&en  Prüfung 
in  bem  gegenwärtigen  Sejte  nidjt  motbirt.  S)enn 
bie  Slnrufung  beS  ©rbgctftcS  fei  ja  eben  erft  ge= 
fdjjeljen  unb  Ijabe  feineStoegS  lange  gebauert. 

Sluf  biefem  SBege  ttrirb  in  ben  Urfcenen  beS 
Sauft  eine  SDienge  toon  2lbbrfid&en  unb  Süden  ge= 
funben,  Don  benen  bie  Sefer  nie  ettoaS  gemerlt 
tjaben.  9lu$  nt$t  ber  Sinter  felbft.  9hm  ift 
fein  „Sanft  in  urforttnglidier  ©eftalt"  erjdjienen: 


69]  Sie  Wtotofitföc  Unterfd&etbunggfunft  129 

bie  ©ompofition  feinet  erften  ©cenen  ift  btefelbe, 
toeldje  bic  SBelt  feit  1790  fennt,  fie  geigen  feine 
©pur  einer  ßütfe  unb  feine  ©pur  einer  profaifdjen 
§erfunft. 

3.  2)te  ©retd&entragöbte. 

@S  ift  ganj  ridjtig,  bafc  bie  Slebetoeife  OretdjenS 
iljrem  SBefen  entfpredjen  foff.  SiefeS  ßinb  ber 
Statur  unb  beS  SSolfeS  toermag  bic  Sttefe  beS  eige= 
nen  <£m:pfinbenS  nidjt  in  SBorten  barjufteffen  unb 
ju  erfd&öpfen.  3töre  SfaSbrudStoeife  Ijat  ettoaS  @e= 
I)emmteS  unb  UnentfalteteS.  2)aS  2Bort:  „®S  toirb 
mir  fo,  id&  toeifc  nid&t  tote",  pafct  ganj  für  iljre 
©emütljSart.  ©ie  füfytt,  bafc  äffe  &errlid#eiten 
ber  SBelt  roertljloS  finb  gegen  baS  ßleinob  eines 
SlnbenfenS,  toeldjeS  treue  Siebe  giebt  unb  empfängt, 
ober  baS  fprtdjt  fie  nid^t  als  iljre  93etradjtung  aus, 
fonbern  in  ber  ©timmung,  toorin  fie  ift,  fommt 
iljr  unttnfffilrlidj  bie  SSaffabe  t)om  «König  in  X^ule 
unb  feinem  SSedjer: 

@3  ging  tljm  nidjtg  barüber, 
(Er  leert  if)tt  jeben  ©djmau«, 
$)ie  klugen  gingen  iljnt  über, 
©o  oft  er  tränt  bar  au  3. 

£>b  fie  geliebt  nnrb,   fragt  fie  ntd^t  iljr  33ettmf$t= 


130  351«  @rHtttimß8arttn  b«8  ®oet$efd&tn  ftauft  [70 

fein,  fonbern  bie  33lume,  unb  tote  ba§  33lumen= 
orafel  iljre  gfrage  bejaht  unb  bcr  ©eliebte  biefeS 
3a  befrfiftigt,  burdjbebt  fie  unbefd)reibÜdje3  @nt- 
gflden:  „3JIW&  übertäuft'g!" 

®ie  ©entnerlafi  ber  ©djulb  auf  iljrem  &erjen 
pdfjtet  fic  in  ben  3)om;  fie  toermag  iljr  ©djulb= 
gefügt  unb  iljre  ©eelenangft  nidjt  in  Sßorte  ju 
f äffen.  2)er  6öfe  ©eift  rebet  ftatt  ifjrer.  ©ie  fagt: 
„SBelj!  toel)!  2Bär'  idj  bex  ©ebanfen  lo§,  bic  mit 
herüber  unb  hinübergehen  toiber  mtd)!" 

Sttefer  3tuffaffung  ber  Statur  unb  ©pradje 
©retdjenS  treten  nun  nad)  btn  Srtoägungen  unferer 
Äritif  bie  beiben  3Konologe  entgegen,  toetdje  bie 
SEiefe  unb  SDtadjt  iljrer  ©mpfinbung  in  SBorten 
barftetten,  mit  völliger  «Klarheit,  mit  einer  getmffen 
rebnerifdjen  Orbnung  unb  güöe :  ber  Sötonotog  am 
©pinnrabe  unb  ber  im  3toinger  bor  bem  Silbe 
ber  mater  dolorosa ;  bort  ber  ungehemmte  (Srgufc 
Ieibenfd)aftlid)fter  ©eljnfudjt  unb  ßiebe,  Ijier  ber  un= 
gehemmte  (Srgufc  reue=  unb  angftoottftcn  ©dfjulb* 
gefügte.  3n  biefen  beiben  Monologen  rebe  nidjt 
©retten,  fonbern  ©oetlje,  nidjt  baS  Sftaturfinb, 
ba§  SMäbdjen  aus  bem  SSotfe,  fonbern  ein  bidjte« 
rifdjeS  ©efdjöpf,   fie  rebe  ©ebidfjte,  nidjt  9tatur= 


71]  $te  p&Uütofltfäe  UntetföctbungSfunft  131 

fonbern  fiunftpoefie  ober,  um  cS  pf)ilotogifd)  unb 
literarfjiftorifdj  auSjubrüden,  jte  rcbe  nidjt  meljr 
bic  ©pradje  be§  erften,  fonbern  fdjon  beS  gtoeiten 
©oet^cfd^cn  ©tife.  ®a§  gute  ©retdjen  aljnt  nic^t, 
bafc  fic  mit  ben  SBorten:  „3fteine  SRu!)'  ift  Ijin, 
mein  &erj  ift  fdjtoer "  einen  ©titoedjfel  Jmfftrt. 
3)ie  ©cene  im  2)om  unb  bie  im  3toinger  l)aben 
baffelbe  SDjema  unb  fdjilbem  benfelben  bon  ©d)ulb 
unb  Slngft  gefolterten  ©eelenjufianb  ©retdjcnS,  aber 
iljre  ©arftettungSart  fei  fo  betrieben  ftiltfirt,  bafc 
man  bie  ©cene  im  2)om  als  bie  ältere,  nodj  bem 
SProfa^auft  angeljörige  ßonceptiou  betrauten  muffe, 
ben  3ftonolog  im  3toinger  bagegen  als  eine  foätere 
Raffung,  bie  tooljl  beftimmt  mar,  an  bie  ©teile  ber 
©omfeene  ju  treten.  3d)  fürdjte,  bafe  bie  J>Ijtlo= 
logifdje  UnterfdjeibungSfunft  hierbei  bie  Stedjnung 
oljne  ben  SBirtI)  gemadjt  unb  eine  Sluffaffung  öon 
jenen  beiben  ©cenen  gewonnen  Ijat,  toeldje  ber  @nt* 
fteljungSart  ber  ©retdjentragöbie  tt)ie  ben  Slbfidjten 
beS  3)id)ter§  ttriberftreitet.  3)enn  bie  ©arftellung 
©retdjens  im  3toinger  unb  im  3)om  finb  feinet 
toegS  nur  toerfdjieben  ftilifirte,  im  Sßefentlidjen  fo 
gleichartige  ©eelengemälbe,  bafe  eines  ba§  anbere 
enibetjrltd)  madjen  fönnte.    Sie  brei  ©cenen  am 


132  $tt  (Sxaätunggarten  bc8  (goetijefd&ett  gauft  [72 

Sxunnen,  im  3^ittgcr  unb  im  S)om  finb  in  bcr 
©d&ilberung  beä  ©djulbgefüljte  unb  feiner  Dualen, 
tote  biefe  Don  ©retdjen  empfunben  toerben,  eine 
J>f*$ologifd)e  Steigerung  t>on  tiefer  unb  er= 
fäütternber  Sßirfung. 

■Wadj  bem  ©eforädj  am  SBrunnen  f}at  in  ©ret- 
ten ba§  SBettmfjtfein  ber  eigenen  ©üribe  im  ©tttten 
atte  ©elbftgeredjtigfeit  auägelöfdjt,  alles,  toa§  in  ber 
menfdjlidjen  Statur  5ßljarifäifd)e3  ift: 

Unb  fegnet*  mic§  unb  tljat  fo  grofc, 
Unb  bin  nun  felbft  ber  ©finbe  Hofe! 

@ie  toirb  eine  SJtagbalene  toerben! 

SBott  2tngft  unb  3teue  flautet  fie  jur  mater 
dolorosa,  bie  ja  felbft  ein  ©djtoert  im  £erjen  tragt; 
bie  fdjmeräenreidje  3Jtutter  ift  aud)  bie  gnaben= 
reidje.  Sei  iljr  toirb  fie  Erbarmen  unb  §ütfe 
jtnben : 

§ilf!  rette  tnid)  öon  ©djraad)  unb  £ob! 

%$  neige, 

3)u  ©djmeraenreidje, 

S)etn  Slntlifc  gnäbig  meiner  üftotl)! 

©te  eilt  in  ben  2)om,  too  alle  gequälte  £erjen 
S£roft  ftnben,  aber  ba3  irrige  mufe  trofttoS  t>er= 
jtoeifeln.    SDa3  Sraueramt,  bie  lobten meffer  ber 


73]  Sie  tötlofogtföe  Untetfd>etbimfl8funft  133 

(Sljorgefang,  ber  ba§  jüngfte  ©ertdjt  toerfünbet, 
fieigert  iljr  ©djulbgefüljl  bis  ju  bem  3fa8brui  er= 
barmungälofen  unb  furdjtbaren  6rnfte3,  toomit  bie 
©timme  rebet,  toeldje  ber  Siebter  ben  böfen  ©eift 
genannt  I)at:  bu  toarft  ein  glüdßidjeg  IjarmlofeS 
ßinb,  jetjt  bift  bu  ein  toertoorfene8  ©efdjölpf,  baä 
feine  Unfdjulb  berloren,  feine  6ljre  gefd)änbet,  ben 
SLob  ber  3)httter,  ben  3ftorb  beS  SBruberS  toer= 
fdjulbet  !jat;  bir  broljt  ber  jüngftc  SEag,  ber  bidj 
ertoeden  toirb,  bamii  bu  auf  etoig  toerbammt 
toerbeft!  ©o  fteljt  es  mit  beiner  JBergangenljeit, 
©egentoart  unb  3ufunft."  3)er  böfe  ©eift  rebet  nur 
bie  ©pradje  il)re§  eigenen  ©emiffens,  er  fagt,  toaä 
fie  innerttdj  befiürmt,  er  giebt  bie  beutlidje  2lu§= 
fitfjrung  iljrer  eigenen  buntyfen  SBorte: 

SÖÖeij!   SBefj! 
äöär'  id)  ber  ©ebanfen  log, 
2)ie  mit  herüber  unb  hinübergehen 
äöiber  tnidj! 

2Ber  eine  foldje  Höllenfahrt  beS  ©etoiffenS  er= 
lebt,  toirb  audj  bie  SBelt  übertotnben. 

3dj  fottte  meinen,  bafc  biefe  beiben  ©cenen,  — 
©retten  im  3»inger  bor  ber  gnabenreidjen  SJRutter 
unb  ©retten  im  Som  bor  bem  böfen  ©eifte,  bort 


184  Sie  (grttänmgSarten  bc«  ®oetytfd)tn  Sauft  [74 

Rettung  erfteljenb,  Ijier  ju  etoiger  SSerbammung 
toerurtljeitt,  fid)  fefbfi  toerbammenb  —  jtoei  eng  gu= 
fammengeljörige,  in  ber  2)arftettung  beS  ®djulb= 
gefügig  fortfe^reitenbe  ©eelengemälbe  finb 
unb  leineStoegg  ©oubletten,  beren  Unterföiebe  fidfe 
au&  bem  ©tile  be§  3)idjter§  erHären. 

2Bir  finb  in  ©efaljr,  bie  gange  ©retdjenbidjtung 
§u  berfennen.  SBenn  in  gegriffen  ©cenen  ber  ©idjter 
feinem  ©retten  eine  ©prad&e  gelteren  Ijaben  foll,  bie 
für  iljr  2Befen  nidjt  Jmfet,  fo  ttrirb  baburdj  bie  ©in= 
Ijeit  biefer  SHdjtung  tote  biefeS  @ljarafter3  geftört, 
unb  eine  ber  natürlidjften  unb  genialften  ©d&öpf ungen 
geljt  uns  Verloren. 

2Ran  ntag  bie  ©inljeit  in  bem  Gfjarafter  be3 
Sauft  beftreiten,  nidjt  bie  in  bem  ©Ijarafter  unb 
Sßefen  ©retdjenä.  3ijre  ©emütl»8art  Bleibt  fid) 
gleidj,  aber  fie  erfährt  burdj  bie  auffeimenbe  SFlet= 
gung,  baS  botfe  Siebegglücf,  bie  ©eljnfudjt  unb  baS 
geucr  ber  ßeibenf  djaft ,  bie  ©rfdjütterungen  ber 
©djulb  unb  be§  ©djitffalS  eine  ©ntfaltung,  bie 
audj  iljren  foradjlidjen  Sluäbrud  ergreift,  bie  £em= 
mungen  toegräumt  unb  fie  fäljig  madjt,  iljre  inner= 
ften  ©efüljle  gu  enthüllen.  ®ieS  entforidjt  t)ott= 
fommen   einer  folgen  Uiatur,   toie  fie  ift.     Unb 


75]  $ie  tfttobgtfdfc  UnttrfäctbunflSfunft  135 

©oetlje  Ijat  uns  biefe  Entfaltung  fo  t>or  Stugcn 
geführt,  bafe  toir  fie  erleben.  SBon  betn  erften  2fa3= 
brudt  einer  nod)  unbetou&ten  Neigung : 

3$  gab'  toaS  brutn,  toenn  idj  nur  teufet', 
SÖßcr  ijeut  ber  §err  gettefen  tft! 

Bt§  ju  bem  Sötoment,  too  bie  ßiebe  in  iljrem  S3e= 
tou&tfetn  aufblüht: 

Hefter  füiamt!  Don  ^erjen  lieb1  iä)  btä)! 

tft  jebeS  2Bort,  baS  fie  fpridjt,  ein  inneres  (Srlebnifc, 
baS  aus  einer  iljr  felbft  Verborgenen  ©etnütljStiefe  I)er= 
toortritt  unb  i^r  aSetoufctfetn  erljöljt.  SBaS  fidj  in 
biefem  Setoufetfein  aflmäljüd)  erbeut  Ijat,  toirb  nie 
ttrieber  bunf ei.  2)ieS  gilt  Don  tljrer  ßiebe  toie  Don  iljrer 
©djulb.  Sie  toirb  aus  ßiebe  eine  ©ünberin  unb  Don 
iljrem  ©djulbgefüljle  nidjt  btoS  erfüllt,  fonbem  er= 
leudjtet,  eine  Süfcerin,  unb  guleift  gleidj  einer 
SBerflärten,  ber  bie  SBeft  nidjts  tneljr  anljat.  ©ie 
brüdt  bte  ©üfjne  an  iljr  §erj,  unb  toaS  bie  Sßett 
Rettung  nennt,  erfdjeint  iljr  tote  eine  ©etoalttljat : 

Safe  tnid)!  Sfteut,  iä)  leibe  feine  ©etoalt! 

Sfaffe  mid)  ntdjt  fo  mörbcrifc§  an! 

©onft  ftab'  ic§  bir  Ja  alles  gu  Sieb1  getfcan.1 


1  3n  bem  „Urfauft"  lauten  bie  2Borte,  toie  Sauft  fie 
ergreift  unb  toegtragen  null:  „3$  fdjreie  laut,  laut  baß 
alles  ertoadjt !" 


186  Sic  ©rMürung&orien  be8  ®oet$efd&en  %au%  [76 

2lud)  tljr  ©djulbgefftljl  erleudjtet  fidj  nur  all* 
tna^lic^.  68  giebt  einen  SKoment,  too  e$  fie  er= 
brüdt  unb  tljr  SBettmfjtfein  toerbunfelt.  ©iefen 
SDtoment  Ijat  man  feljr  irrtljflmlidjer  SBeife  für 
SBaljnfinn  genommen,  ein  3frrtl)um,  ber  audj  bie 
bramatifdje  ©arflellung  iljreS  ©IjaralterS  Derun* 
ftaltct  $at. 

Sie  ©retdjenbidjtung  mufc  in  iljrem  SBerlauf 
Ijinrei&enb,  erfdjütternb  unb  burdj  iljren  @d)luf$  er* 
Ijebenb  totrfen,  aber  jeber  biefer  ©inbrttie  ift  mit 
einer  Störung  toerbunben,  bie  idj  mit  ben  SBirlungen 
feiner  anberen  35idjtung  Dergleichen  fann.  ©iefe 
9tfiljrung  erflart  fidj  baraus,  bafc  in  bem  ßljarafter 
©retdjenS  bie  f  inblidje  ©emfltljSart  ber  ©runbton 
ift  unb  bleibt,  bafe  eS  ein  IjolbeS,  bemütljigeS,  frommes 
fiinb  ift,  baS  biefe  ©djicffale  erlebt  unb  erbulbet. 
©oetlje  felbft  Ijat  gleidj  im  SBeginn  ber  ©idjtung 
biefeS  33ilb  ©retdjcnS  auf  uns  mirfen  laffen.  SBie 
Sauft  fie  gefeljen,  ruft  er  auS: 

Seim  Fimmel,  MefeS  Ätnb  ift  fdjönl 

Unb  toie  er  in  iljrem  3immer  mit  fidj  allein  ift, 
iljre  -Ralje  füljlt,  ben  alten  ©ro&toaterftuljl  erblidt, 
ba  toerftummt   in   iljm    jebe   unlautere   Regung 


77]  £te  p$Uofa>0if$e  Untetfd&etbmiflSfunft.  137 

unb  ein  rfiljrenbeS  SBilb  au§  ©retdjenä  Äinbljeit 
fteljt  t>or  feinen  Stugen: 

SBte  oft,  a$!  ljat  an  tiefem  SBäterttyron 
©djon  eine  ©djaar  oon  Jhnbern  ring«  gegangen! 
93ieücid^t  ljat,  banfbar  für  ben  fjetf'gen  <£fjrift, 
üttetn  ßieod&en  Ijier,  mit  ootten  ßinbertoangen, 
$>em  SNjnijerTn  fromm  bie  toelfe  §anb  gefü&t. 

2)iefe§  SSilb  felje  id)  im  §intergrunb  jeber 
©retdjenfeene,  unb  idj  Ijöre  ba3  ßinb,  toenn  bie 
fdjon  fcerflärte  Süfcerin  bie  ßebenärettung  bertoirft 
unb  ausruft: 

3)ein  bin  i$,  Sater!  rette  mid)! 

9iad)bem  man  bie  Sßirfungen  bei  ©retdjen* 
tragöbie  erlebt  ljat,  um  fie  nie  gu  fcergeffen,  muß 
man  über  ben  geringen  äußeren  Umfang  ber 
©cenen  erftaunen,  in  benen  ©oetlje  biefe  mäßigen 
©eelengemälbe  gu  entfalten  gcttmfct  ljat.  2ludj  barin 
ift  btefe  ©idjtung  unDergteidjlidj.  SBir  Ijafcen  ein 
®rama  ber  ßiebe  fennen  gelernt,  ba§  gu  ben  ge= 
toaltigften  unb  größten  fetner  2trt  gäljlt.  gauft 
unb  ©retten  gehören  gu  ben  mljtljologifdjen  ßicbcS- 
paaren,  bie  ft>ridjtt>örtlidj  finb.  Unb  bodj  finb  e§ 
nur  gmei  Heine  ©artenfeenen,  ettoag  über  gtoeiljunbert 
ÜBerfe,  toorin  tDir  biefeS  ßiebe3t>aar  feljen  unb  Ijören, 


138  Sie  @rttftTunfl8arteit  be8  ®ott$ef#en  ftauft  [78 

nur  in  einer  eingigen  mit  fid)  allein,  ©a  finb  biete 
©eetenborgänge  in  ber  SEiefe  betoegt  unb  toirffam, 
bie  nidjt  auSgefyrocfjen  finb,  aber  empfunben  unb 
nadjgefüljlt  toerben. 

Sie  @d)öj>fung  eines  ©ljarafters,  tt>ie  baS 
©retten  int  {Jauft,  ift  eine  Stuf  gäbe,  toeldje  bie 
I)ödjften  bidjterifdjen  ßräfte  forbert.  3n  ber  ßöfung 
berfelben  erlebt  audj  bie  ©pradje  beS  Sid)tcr§  eine 
(Spodje,  fie  ift  nad)  einer  folgen  ©djöpfung  mäd)= 
tiger  unb  enttoidelter  als  Dörfer.  3$  toürbe  beS= 
Ijalb  bie  ©titformen  ©oetljeS  nidjt  toon  feinen  ©egen= 
ftänben  abfonbern  unb  unterfudjen,  toetdjen  (Sinflufj 
ein  getoiffer  Sßedjfel  im  ©tit  unb  in  ber  fiunft 
beS  foracfjlidjen  SluSbrudS  auf  bie  2)arfteflung 
©retdjenS  gehabt  Ijat,  fonbern  lieber  umgefeljrt 
fragen:  toeldjen  (ginflufc  eine  fotdje  ©dfjöpfung  auf 
bie  ©pradje  be3  3)id)ter3  auggeübt  Ijat  unb  au$= 
üben  mufete? 

Kim  ift  auf  ©runb  ber  ©ödjljaufenfdjen  Slb= 
fd^rtft  bie  ©retdjentragöbie  in  iljrer  urtyrüngüdjen 
unb  bottftänbigen  ©eftalt  erfdjienen,  bie  au§  ben 
Sauren  1773—1775  fjerrüljrt,  tote  man  mit 
guten  ©rünben  annehmen  burfte  unb  jetjt  mit 
einer    gettriffen    urfunblidjen   ©idjerljeit    feftfteöen 


79]  2>it  MUoIoßtfd&e  Untctfäeiburtflgfunft.  189 

fann.  Sie  «ßerferfcene  xoax  in  Sßrofa  gefd&rieben 
unb  tourbe  in  ba3  fjragment  Dorn  Safyre  1790 
nidjt  aufgenommen,  fonbern  erft  1808  beröffent* 
üdjt,  nadjbem  ©oetlje  fie  tooljl  geljn  Sfaljre  früfier 
in  Steime  gebraut  unb  in  ber  3?orm  Ijergeftettt 
Ijatte,  toortn  bie  SBelt  fie  lennen  gelernt.  3)ie  frfi= 
Ijeren  Slnnaljmen  finb  baburdj  Bestätigt.  Unter  ben 
brieflichen  9Jiittl)etfungen  an  ©djiller,  »eldje  ben 
Sauft  betreffen,  finbet  ft$  auä  bem  SM  1798 
eine  ©teile,  bie  fidj  nur  auf  bie  Äerferfcene  be* 
jieljen  läßt:  „Einige  tragiföe  ©cenen  toaren  in 
5ßrofa  gefd&rieben,  fie  finb  burdj  iljre  Sftatürüdjfeit 
unb  ©tärle  im  SJerljäftnifj  gegen  baS  anbere  ganj 
unertrftglidj.  3$  fudje  fie  belegen  in  Steinte  ju 
bringen,  ba  benn  bie  3bee  toie  burd)  einen  fjlor 
burdjfdjeint,  unb  bie  unmittelbare  SBirfung  be§ 
ungeheueren  -  ©toffg  gebämpft  toirb."1 

3n  ber  Siebe  be3  böfen  ©eifteS  fehlen  im  $rag= 
mente  Don  1790  bie  Sorte:  „Sluf  beiner  ©djtoefle 
toeffen  93lut?"  SDlan  f)at  barauä  fd)ttefceu  footten, 
baf$  ber  Sßlan  ber  Sinfü^ruug  SSalentinS  unb  feiner 
(Srmorbung  burdj  gauft  nidjt  in  ber  urforüngüdjen 

1  5ögl.  barübet  meine  obengenannte  ©djrift:  6.  285 
bis  286. 


140  $le  Grflänmg3atten  bc8  ©oet^ef^en  §auft  [80 

©idtfung  enthalten  mar.  2)iefc  SSermutljung  mibcx= 
legte  ftdj  fdjon  burdj  bie  @teQe  in  ©retdjenä  6r= 
jä^Iung:  „2Äein  ©ruber  ifi  ©olbat",  meldje  SBorte 
gemifi  nid)t  gejagt  morben  mären,  menn  ber  Sttdjter 
nid)t  bie  ©inmirfung  biefeä  SruberS  auf  ben  ©ang 
tl)re§  ©djidffals  geplant  Ijfttte.  @r  läfct  bettfetben 
fd)on  in  ber  urfprünglidjen  35idjtung  auftreten,  aber 
ntd)t  toor,  fonbern  unmittelbar  na  $  ber  ©omfeene, 
meSljalb  bie  Stnfpiclung  be§  böfen  ©eifieä  unter- 
bleiben tnufete.  Slud)  mürbe  Ijter  nur  33alentin$ 
9ftonolog  ausgeführt,  nid)t  fein  3meilami>f  unb 
SEob,  obmoljl  aü$  biefe  beabfidjtigt  maren.1 

3n  beut  3eitraum  t>on  1773  —  1775,  morin 
bie  ©retdfjentragöbie  entftanb  unb  öottenbet  mürbe, 
giebt  es  feinen  ©tilmedjfel  ©oetljeS,  beut  ju= 
folge  man  in  biefer  2)idjtmtg  fcerfdjiebene  5ßljafen 
unterfdjeiben  unb  an  öerfdjiebene  Sporen  ober 
fyradjüdje  SntmiilungSformen  be§  2)idjter3  ber- 
geftalt  bertljeilen  fönnte,  ba&  bie  ©cene  im  S)om 
einer  filteren,  bie  im  3toinger  einer  festeren  ©tufe 
angeboren  ober  jmifdjen  ben  erften  Monologen 
©retd&enS  unb  bem  am  ©pinnrabe  ein  ©tilmedjfel 


1  ©iefje  oben  6.  46—47. 


81]  $te  Mtotostfäe  Unterföettnmtffttnft  141 

ftattgefunben  Ijaben  fott.  Statur =  unb  ßunftforadje, 
toenn  man  biefe  Stuäbrfiie  braudjen  unb  aU  @til= 
formen  unterfdjeiben  toiü,  finben  fid&  in  ben  Sieben 
©retd&enä,  tote  toir  fie  in  ber  urforftngftdjen  2)idjtung 
lefen,  unmittelbar  neben  einanber  unb  mit  einanber 
gemifdjt.  $m  fteljt  ber  berfce  unb  niebere,  ber 
gehemmte  unb  unbeholfene,  ber  ungefdjidte  unb 
felbft  unridjtige  SluSbrutf  mitten  in  einer  Sftebe 
öott  einfacher  unb  ädjter  9totttrltd)!eit,  Doli  erregter 
unb  tiefer  ©emütljSoffenbarung,  für  toeldje  ba8 
©enie  unfereS  ©idjters  ben  tjoflfommenften  unb 
einjig  toaljren  StuSbrui  BetounberungStoürbtg  ge= 
troffen  Ijat.  SBie  ©retdjen  in  bem  ©darein,  ben 
fie  toerfdjloffen  Ijat,  ba8  ©d&mudffäftdjen  erblidt, 
lauten  iljre  SBorte  nadj  ber  ©ödjljaufenfdjen  916= 
f  *tift : 

2öie  lommt  ba8  fd&öne  Ääft<$en  Ijier  herein? 
3$  fd^tofe  bodj  gan)  g,etoi&  ben  Schrein, 
3öa8  ©ucfQUcf  mag,  babrinne  fein? 

3)iefen  StuSforudj  Ijat  ber  3)idjter  foäter  nidfjt 
bloS  Gerebelt,  fonbern  beridjtigt,  benn  bie  SBer* 
tounberung  ift  Ijier  bie  erfie  ©mpfinbung,  bie 
nodfj  ber  SKeugierbe  t>orangeljt.  S)arum  t&fct.  er 
©retdjen  jagen: 

«uno  fSrif d^er,  Gtoet&e* @c$tiftetu  10 


142  Sic  Grtttnm&iXTUn  to#  OkKtfcrtfca  &nk.  [SS 

3BU  tommt  ba*  föone  Jtäjia)en  frier  Ijerera  ? 

SA  Wofe  bo^  aanj  getoi%  ben  S^reiiL 

<Z*  ift  boa)  munberbar !    3Ba3  mag  toofrl  brinne  fein? 

9(3  fte  iljr  3tntmer  betritt,  toetdjeS  Qfaufi  unb 
9Kep^iftop^ele§  foeben  berlaffen  Ijaben,  fü^lt  fte 
ftdfj  Don  ber  unheimlichen  Stmofpipre  befangen 
unb  fagt  in  ber  älteften  3form : 

(E£  tft  fo  fä)u>nl  unb  burapftg  frier 

Unb  mad)t  bocfr  eben  fo  toarm  nkfrt  brau£. 

63  toirb  mir  fo!  i$  tocife  niä)t  toie. 

3n  ber  foäteren  Sfaffung  lauten  iljre  SBorte: 

(£3  ift  fo  fdjtoül,  fo  bumppg  frier 

Unb  ift  bo<fr  eben  fo  warm  nid)t  brauä. 

6«  toirb  mir  fo,  i$  toei&  nüfrt  tote. 

9lel>nlidj  fprtd&t  fie  nadj  SSolfSart  im  25om,  toon 
i^rem  ©etoiffen  gefoltert: 

SB&efr!  SGßefr! 
SBär'  tefr  ber  ©ebanfen  los, 
S)ie  mir  rüber  unb  nuber  gefrn, 
Söiber  mi<fr. 

©elbfi  biefer  2)idjter  Ijat  ben  einfadjften  unb 
allein  toaljrcn  91u§brud  nid&t  immer  gleid)  jur 
£anb  gehabt.  S)er  erften  ^Begegnung  jtoifdjen 
Sauft  unb  ©retdjen  ift  in  fürjefter  fjrift  ba3 
erfte  2BieberfeIjen  gefolgt,   baS  mit  bem  toed)fel= 


88]  Sie  tfttorogiföe  UnterföctbimgSfimft  148 

fettigen  ßteBeägeftänbnife  enbet.    6t  liefe  ©retdjen 
in  ber  urfyrünglidjen  ©idjtung  fagen: 

JBefter  3ttann,  fd&on  lange  lieb'  id)  bu$, 

toäljrenb  bodj  ber  ridjtige  SluSbrui,  btn  er  fpätcr 
getüftelt  fjat,  fo  nalje  lag: 

Sejier  2ftann!  t>on  bergen  UcB'  i$  bid). 

3ludj  ber  ÜDtonolog  am  ©pinnrabe,  biefer  bott= 
!ommenfte  ©rgufi  toei&lidjer  ßiebe§fel)nfudjt,  toorin 
jebeS  SBort  naturtnädjtig  unb  bidjterifdj  infpirirt 
ift,  enthält  in  feiner  urfpröngüdjen  $orm  nodj 
eine  ©teile,  obtooljl  nur  eine  einjige,  toorin  bem 
®idjter  ber  nädjfte  unb  einfadjfte  2lu3brudE  berfagt 
unb  bafür  ber  gröbfte  unb  Ijäfelidjfte  fidj  eingefunden 
Ijat.  ©tatt  ber  2Borie:  „3Jtein  SBufeu  brängt  ftd) 
nadj  iljm  Ijtn"  lefen  toir  in  ber  ©Mjljaufenfdjen 
Stbf d&rift :  „3Jtem  ©djoog!  ©ott!  brängt  fö  na* 
iljm  Ijin".1 


1  ©oet^es  gfaufi  in  urforünglidjer  ©efialt:  »ctS  605— 
607,  635-637,  1055,  1098—1099,  1329  —  1332.  Uebet 
©djeretS  ^otljefen,  betreff cnb  ben  ttrfaufi  in  $rofa, 
bie  3ufamtnenfe|unö  be3  erften  2JtonoIog,8  unb  bie  beiben 
©ret^enfeenen  im  3toing.er  unb  im  S)om  bgj[.©rid)  ©$mibt8 
Einleitung,  gu  „©oetfjeS  gfauft  in  urfprüna.tt<$er  gfaffung,1': 
6.  XVII— XIX.  Ueber  ben  SDtonoIog  in  SQÖalb  unb  $ö#e 
unb  ba8  folgenbe  ©eforäd)  togl.  6.  XXXII  unb  XXXIH. 

10* 


144  $tc  «tttänmflSattett  be&  ®oet$ef<&ett  $auft  [84 

$)ie  ©retdjentragobte  ift  in  2lnfel)ung  iljreS 
Pan§  tote  iljrer  3ett  uub  ©pradje  ein  ©anjeS 
au§  einem  ©tüdf,  toeldjeg  leine  $>§ifologifd)e 
©d&eibefunfl  in  jetttidE)  nnb  forad&ttdj  berfd)iebene 
©temente  aufjulöfen  bermag.  £)afe  fie  es  ift,  toirb 
nun  audj  für  urfunblidj  bettriefen  gelten.  2113  ber 
Sinter  bie  lefcte  £anb  an  feinen  tJauft  legte,  be= 
t>or  er  baS  Fragment  Verausgab,  beburfte  bie 
©reidjentragöbie  nur  ber  fjfeite.  ®ie  Äerferfcene 
behielt  er  jurütf  unb  brauste  fte  nur  umjuge= 
ft alten,  ate  er  an  bie  SBoflenbung  beä  erften  Steiles 
ging;  freiließ  foflte  biefe  Umgeftaltung  meljr  fein 
ate  nur  eine  gereimte  ^Bearbeitung. 

Tu.  fin  #ttmtmwg*0ifb  im  $auft. 

9Äan  barf  bie  ^rage  auftoerfen,  toetdje  £)ert= 
lidjfeiten  unferem  Sinter  im  fjauft  borgefdjtoebt 
Ijaben?  &ier  ift  bie  fRcbc  Don  ber  äfteften  Ranfts 
bidjtung.  Stttc  ©cenen  bor  bem  Antritte  ber 
SBeftfafct  Ijaben  ©oetljeS  23aterftabt  unb  beren 
Umgegenb  ju  Ujrem  ©djauplatj;  ju  biefen  ©cenen 
reimen  toir  audj  ben  @nttourf  be8  ©pajiergangS 
bor  bem  SHjor.  S)ie  Sßeltfaljrt  beginnt,  toie  im 
Beben   be3  2)idjter8  fetöft,  mit  ßety}ig,   too  bie 


86]  @in  etimmung«6iÜ>  im  gfauft  145 

Stuerbadjfcene  f pielt ;  mir  lernten  bie  SBebtngungen 
fotooljt  ber  ^Überlieferung  als  ber  Sfofd&auung, 
toorauS  btefelbe  Ijerborging.  2)er  britte  Ort  ift 
©retdjenS  35atcrftabt#  bie  toir  uns  nad)  ben  in  ber 
3)idjtung  felbfi  enthaltenen  Angaben  als  eine  alte, 
fefte,  Don  ÜÄauern  umgebene,  toon  ©olbaten  be= 
fdjirmte  ©tabt  borjjuftetten  Jjaben,  mit  bem  S)om 
in  üjrer  SÄitte  unb  einer  fatljolifdjen  33ebölferung 
unter  bem  Ijerrfdjenben,  gett>oljnljeit3mäfjigen  @in* 
fCuffe  ber  5|Jriefter.  £ier  ift  ©retten  im  frommen 
Äir<$englauben  ergogen  toorben  unb  gur  Jungfrau 
aufgeblüht : 

2)a  bie?    Sie  fatn  Don  ifttera  $f äffen, 
2)er  fprad)  fie  atfer  ©ünben  frei  — 
6&  ift  ein  gar  unf$ulbig  2)ing, 
S)a8  ibzn  für  ni$t3  gur  Seidjte  ging; 
Heber  bie  $ab'  idj  leine  ©etoalt! 

Sfljre  Sftutter  ifi  eine  ftreng  firdjlidj  gefinnte  $rau, 
bie  ba$  unljetmlid&e  ©efd&enf  fogleidj  bem  Pfaffen 
befennt  unb  ausliefert.  „2)ie  gfrau  Ijat  gar  einen 
feinen  ©erudj,  fdjnuffelt  immer  im  ©ebetbudj"  u.  f.  f. 
3fm  3toinger  ber  ©tabt  fteljt  in  ber  9Jlauer= 
nifd^c  ein  SDtuttergotteSbilb ,  aufcerljalb  ber  ©tabt 
am  2Bege  ein  ßructfij,  toie  e8  bie  ©itte  fatljo- 
Ufdjer  Drtfdjaften  mit  fid}  bringt.    $or  ben  Sporen 


146  ,     Sie  (Sttt&xvmqiaxttn  bc8  ®ot«Kfd>en  Sauft  [86 

Kcgcn  £ftufer  unb  ©arten,  barunter  audj  ein 
Keines  Sefitjtljum ,  ba3  ©retdjenS  SBater  ljinter= 
laffen  Ijat:  „SDiein  äJater  unterliefe  ein  Ijübfdj  JBcr= 
mögen,  ein  £ftu§djen  unb  ein  ©ärtdjen  bor  ber 
©täbt".  ©old^e  SBorte  fmb  nid&t  umfonft  gefagt, 
am  toenigften  bei  unferem  25id)ter. 

3)er  junge  ©oetlje  träumte  fein  ßiebe§glü<f  gern 
in  ber  füllen,  einfam  gelegenen  £ütte.  <£r  ift 
biefem  3nge  treu  geblieben,  ßäfct  er  bodj  in  ber 
Seit  feiner  fcotfenbeten  Steife  felbft  ben  menfd)en= 
iprüfenben  §errn  ber  <£rbe  bie  bofle  ßtebeäprobe, 
bie  ifjn  jufrieben  fteflt,  erft  in  ber  &tttte  fudjen 
unb  ftnben :  „Site  er  nun  hinausgegangen,  too  bie 
legten  Käufer  ftnb41  u.  f.  f.  (Sin  £üttdjen  fern  bon 
ber  ©tabt  burfte  aud)  in  ber  ©cenerie  ber  @retd>en= 
bidjtung  nidjt  fehlen. 

gauft  unb  SäÄepIjiftopIjeleS  nüljern  fidj  auf  iljrer 
SBanberung  ber  mittelalterlichen,  feften  ©tabt,  bie 
toir  gefdjitbert  Ijaben.  ,r6iu  ßreug  am  SBege,  redjts 
auf  bem  &ügel  ein  altes  ©djlofc,  in  ber  gerne 
ein  33auernljüttd)en."  ©o  betreibt  ber  2)id)ter  bie 
©cene,  bie  fie  auf  ber  „ßanbftrafte"  bor  fidj 
feljen.  3Äet>l)iftol)ljete3  Ijat  einen  feinen  ©erudj,  toie 
©retdjens  ÜDlutter,  nur  toon  entgegengefetfter  @m= 


87]  <5in  <5timmun08bi(b  im  Sauft.  147 

pftnbKd)! ett :  „fie  tieft'S  einem  jeben  9tteubel  an, 
ob  btö  2)tng  heilig  ift  ober  profan";  er  toittert 
unbetyaglid)  fdjon  bie  Jftälje  ber  firdjlidfjen  ©tabt, 
too  iljm  audj  toirHidj  einiger  Slerger  beDorfteljt.  6r 
lann  nidjt  fdjnell  genug  an  jenem  ßrucifij,  btö  am 
SBege  fteljt  unb  beffen  Slnbtid  er  fd&eut,  borftbereilen : 

„SBaS  gicBt^  gjlep^ifto,  $af*  bu  «il\ 
SöaS  fd&lägft  bor'm  Äreuj  bic  £ugen  nieber?" 
„3$  toeifc  es  tooljl,  es  ift  ein  SBorutifjetf, 
allein  genug,  mir  ifi'3  einmal  juanbet/ 

3)iefe  ©cene  finbet  fidj,  toie  burd)  bie  @odj= 
Ijaufenfd&e  3lbfd)rift  jetft  beurfunbet  ifi,  in  ber  älteften 
3)id)tung,  unb  jtoar  unmittelbar  nad&  ber  Sluerbacfc 
feene  unb  bor  ber  ©retdjenbidjtung,  auf  bem  SBege 
ber  beiben  SBanberer  Don  ßetygig  nad)  ber  ©tabt,  too 
Sauft  ber  ßiebe  SBonne  unb  ©djulb  erleben  fott. 
2)urdj  biefe  ßoealifirung  fdhetnt  mir  bie  33ebeutung 
ber  Keinen  ©cene,  mit  ber  man  bisher,  fo  Diel  idj 
felje,  nid)t§  ober  nidjt§  red)te8  anjufangen  gettm&t 
Ijat,  gur  ©enüge  erffärt. 

2118  ©oetfje  fie  fdjrieb,  bad)te  er  nidjt  an  bie 
„&e£enfüd)e",  bie  fo  Diele  Sfaljre  fpftter  in  Stalien 
entftanb  unb  bann  jtoifd&en  ber  2luerbad)fcene  unb 
ber  ©retdjenbid&tung  bem  $aufifragment  einverleibt 


148  $ie  ©rffttrtntg&atten  bc8  (Boetfjefd&en  Sauft  [88 

ttmrbe;  fie  berbrängte  unfere  Heine  ©cene,  bie  nun 
in  bet  3<mfttragöbte  ftberljaufct  feinen  5ßlafc  meljr 
ftuben  fonnte  unb  baljer  unter  bie  „?Parattyomeua 
jum  3rauft"  gerietl),  too  fie  Don  ieljer  bie  2lufmerf= 
famfeit  nidjt  Mo8  ber  fjorfd^cr  erregt  Ijat,  benn  man 
ftnbct  fie  häufig  in  ©itaten  benufct. 

3)en  ftorfdjer  mu§  fie  aus  meljr  aU  einem 
©runbe  intereffiren.  5lte  ©oetlje  fie  fdjrieb,  fonnte 
9Jiepljiftol)ljele8  bem  Sauft  nidjt  aU  Steufet  gelten, 
fonft  toöre  feine  Qfrage  unerKftrttdj.  @S  toftre  bodj 
gar  ju  tounberüdj,  ben  Sleufel  nodj  erft  gu  fragen, 
toarum  baS  Äreuj  tljm  unljeimüdj  ift!  2)aljer  ift  in 
bem  @nttt>t<Hung§gange  unferer  ©idjtung  biefe  ©cene 
tooljl  in  einem  3eityunft  entftanben,  tt>o  Qfauft  ba8 
SBefen  be8  3Äe:pIjiftot)Ijete8  nodj  feineStoegS  fo  burdj* 
fdjaute,  n>ie  in  jenem  ©eforädj,  toeldjeS  bem  @nbe 
ber  ©retdjentragöbie  toorauSgeljt.  Unfere  Heine  ©cene 
ift  fidler  toon  älteftem  Urforung. 

Till,  pie  refigiofe  $bee  bes  §fottfl. 

3$  toottte  bie  2Bege  aeigen,  toeldje  bie  ©rftärung 
beS  ©oetljefdjen  Sauft  fotooljt  in  ber  pljitofopljifdjen 
ate  in  ber  Ijiftorifdben  unb  pljilotogijdjen  Stiftung 
genommen  Ijat.  ®a§  ©ebidjt  bebarf  einer  ©rflftrung, 


89]  Sic  «Ugiöfe  3bcc  be»  Sauft  14» 

bie  feine  Sfbeen  tüte  feine  @ntfteljung  iljrem  ganjen 
Umfange  nad)  ju  burdfjbringen  fudjt,  toa§  nur  ge= 
lingen  fann,  toenn  fteibe  Strien  bet  S3etrad()tung,  bie 
pljUofopljifdje  unb  bie  entttridttungägef djidjtlidje ,  in 
ber  audj  bie  £f)itologifd)e  enthalten  ift,  fidf)  t>cr= 
einigen,  ©etrennt  bon  einanber,  geljt  leine  bm 
richtigen  SBeg.  Sie  ^itofopljifdje  23etrad)tung,  bie 
Ijeute  biefen  Tanten  toerbicnt,  ift  felbft  tjiftorifdjer 
9lrt :  fie  Ijat  in  bem  (Sntoicf hmgägange  be§  ®id&ter§ 
bie  $been  ju  erlernten,  bie  fein  SBerf  in  2Bafjr= 
Ijeit  betoegt  unb  erfüllt  f)aben.  2Bo  fidj  biefeä 
SBerf  felbft  allegorifdj  geftattet,  muß  bemgemäfc  bie 
^itofofcljifdje  (Srflärung  attegorifdf)  auffallen;  fie 
tnufj  beifpietStoctfe  fragen :  toaä  bebeutet  bie  §ej;en= 
füdje,  ber  §ej:enfabbatlj,  bie  SJtütter,  ber  §omun= 
cutu§,  bie  ctaffifdje  2Batyurgi§nadjt  ? 

S)ie  Sage  toom  Sauft  fear  eine  religiöfe  ^abet 
unb  iljr  Sljema  bie  ©djulb  unb  JBerbammung 
einer  Ijoci&firebenben ,  t>on  ber  SQBeltluft  befiridften 
9Jtenfdjennatur.  35er  ©oetfjefcije  gauft  ift  eine 
religiöfe  2)id)tung  unb  iljr  £ljema  bie  ©dfjulb  unb 
ßäuterung  eines  erhabenen  9Jienfd(jen,  bzn  ber 
SBeltgenufc  lotft,  audj  mit  fidj  fortreißt,  aber  nie 
befriebigt.    SBöre  biefe  9lic!jtbefriebigung  ba§  enb» 


10** 


*\ 


160  Sie  @rt(ärung*aiten  bc8  ®oetl)efdjeit  ftauft  [90 

gültige  Stljema  beS  ©oct^cfd^cit  Sauft,  toie  man 
tooljl  gemeint  ljai,  .fo.  toürbe  idj  bie  3)id)tung 
nidjt  religiös  nennen,  fie  toäre  bann  nur  peffi- 
miftifd),  toie  bie  2)id)tungen  SBijronS.  @S  gtebt 
eine  religiöfe  Stnfic^t  bon  betn  Sßeltelenb  unb  eine 
1)effimiftif dje :  bie  leitete  finbet  bie  SBelt  fdjled)t, 
toeit  fie  nidjt  genufcretdj  genug  ift;  btefer  SJJef firniß 
muS,  ben  unfere  Stage  jur  3Äobe  gemadjt  Ijaben, 
ift  im  ©runbe  nid&ts  als  unbefriebigte  @enufcfud)t. 
3)ieS  toar  nid)t  bie  Stnfdjauung  ©oetljeS,  nidjt 
bie  feines  ^auft.  3n  feinem  gtoeiten  9Äonologe 
füf)lt  unb  [Gilbert  er  baS  Slenb  beS  menfdjlidjen 
©afeinS  in  einer  Sßeife,  bie  ftdj  nur  mit  bem  be= 
rühmten  Monologe  £amlets  bergleidjen  läfct.  Studj 
unferem  gauft  erfdjeint  ber  Zob  als  ein  3H 
auf  baS  Sfnnigfte  ju  toünfdjen.  ®r  tottt  baS  ßeben 
Don  fidj  toerfen,  toie  Sattaft.  2)a  rüljrt  iljn  ber 
Dftergefang  mit  ber  9Jta!jnung :  baS  ßeben  ift  leine 
ßajt,  es  ift  eine  Prüfung,  eine  fdjmerjlidje  unb 
Ijeilfame ! 

(S^rifi'  ift  erftanben! 
©cUq  ber  ßiebenbe, 
S)cr  bie  betrübenbe, 
£etffam'  unb  fibetibe 
Prüfung  befianben! 


I 


91]  SDic  tetigiöfc  Sbee  beä  gauft  151 

3)a§  ßeben  Ijat  bie  SBebeutung  einer  Prüfung, 
bie  burdj  fortfd^rettenbc  Säuterung  bcftanben  fein 
totö:  bie§  ift  ber.religiöfe  ©runbgebanle ,  ben 
©oetlje  mit  bem  Prolog  im  §immet  in  bie  Sauft* 
fragöbie  eingeführt  unb  jum  Stljema  berfelben 
gemad)t  ljat.  <£r  läfet  feinen  S^uft  toortoärt§= 
ftreben  unb  eine  £ölje  erteilen,  too  bie  SMtgenüffe 
unb  ba§  SBettelenb  if)tn  nid^tö  meljr  angaben. 

2lnf  biefer  §öl)e  antwortet  er  bem  SSerfudjer, 
ber  tljm  bie  SReidje  unb  ©enüffe  ber  2Belt  bor  3lugen 
ftettt:  ,,©d)led)t  unb  mobern,  ©arbana^al ! "  ,,©e= 
niesen  madf)t  gemein!" 

2luf  biefer  §ölje  fagt  er  jur  6orge,  bie  iljm 
nodfj  einmal  ba$  Slenb  ber  SBelt  ausmalt:  „34 
toerbe  bicij  ntd)t  anerfennen".  S)ie  S£üdjtigfett  ber 
Slrbeit  unb  be§  ©treben§  ift  burdj  ben  Sammer  ber 
ßebensforgen  nidjt  einjufdjüdjtern.  @3  giebt  eine 
äcijte  unb  toaljre  !JHdjtbefriebigung ,  fie  quillt  nidjt 
au§  bem  ©tenbe  ber  SBelt,  fonbern  au§  bem  Solange! 
unb  ben  Hemmungen  ber  eigenen  ßraft: 

(£r  ftelje  fcft  unb  fcl>c  f)ier  fidj  um, 
3)em  £fi<$ttgen  ift  biefe  Söelt  nidjt  ftumm. 
3m  SBeiterfdjreiten  finb'  er  dual  unb  ©Iücf, 
@r,  unbefriebigt  jeben  Slugenblitf! 


152  2>le  (frttärungSarten  be3  ©oeti)efd)cn  ftauft  [92 

3)odj  e§  ift  nidjt  bie  Slufgabe  btefcS  93or= 
träges,  in  bcn  ©nttoicflungSgang  bcr  2)idjtung  fetbft 
eingugeljen,  ba  id)  nur  iljre  (SrflärungSarten  bar= 
tljun  unb  beurteilen  wollte.  2)a§  333er!  ift  mit 
bem  2)id)ter  unb  feinen  ßebenäanfdjauungen  fort* 
gefdjritten,  unb  e§  mar  jtoei  Sölenfd&enalter  ijinburdj 
im  SBerben  begriffen.  Um  e§  ridjtig  ju  toürbigen 
unb  bie  Sfbeen  gu  erfennen,  toelcfye  biefeä  S33clt= 
gebidjt  in  feinen  ©rfdjeinungen  barfteßt,  nehmen 
wir  un§  jene  liebevolle  SBetradjtung  ber  SBelt  felbft 
jum  SSorbilbe,  bie  ber  £err  im  5ßrologe  bon  ben 
©einigen  forbert: 

Erfreut  eudj  bcr  lebenbtg  reiben  <S<$öne! 
2>a8  Söerbenbe,  ba8  etoig  ttirft  unb  lebt, 
Umfaff'  eu<$  mit  bcr  Siebe  Ijolben  ©djranfen, 
Unb  tt>a£  in  fcfyt>anfenber  @rfd)einun($  fdjttebt, 
SBcfeftigct  mit  bauexnben  ©ebanfen. 


_ -o~$~dK>-g>-$~^ 


®oetfte~S<ftHften 


mm 

$wto  <4ttfdjjer* 

3. 
•«. 


®oetI)e3  £affo* 


3hm 


Äitito  $ifd)er. 


Jwette    31  it  f  C  a  g  e. 


l>ei&ribe*jj. 

aar!  SÖHnter'*  Unit>erfttäUfcu<$f)anbtun8. 


3tffe  fflc$te  borte&altou 


?  Snljalt. 


4- 
.4 

,-i 


Seite. 

I.  2)te  3*ü  ber  £affobid)tung 9 

3                                 1.  Sauft  unb  fcaffo.    aOßertfjer  unb  fcaffo  .  9 

2.  ©leidfaeittge  2)i<$tungen    .   > 13 

3.  $te  Stc^nlid&tctt  3tt)if$en  @oet$e  unb  Saffo  15 
II.  $te  anfange  ber  2>t<$tung 16 

1.  S)ie  3a$re  1780—81     ,16 

2.  2)ie  Gfrfinbung  unb  ber  Srortgang  ...  19 

3.  2>ie  beiben  crftcn  Stete 25 

III.  2>te  Umgeftaltung  ber  S)tä)tung 28 

'                                    1.  S)ie  3a^rc  1787-88     28 

.  2.  $ie  Steife  na*  ©teilten 30 

3.  2)er  fttoeite  römifd&e  Slufentfjalt    ....  32 

4.  $te  Slufgabe  bei  Umarbeitung    ....  34 

5.  ftaffo  in  ber  Starfteflung  ber  italienifä)en 

9«eife 35 

6.  $ierantonio  ©eraffi 38 

IV.  S)te  JBottenbung  ber  2)i<$tung 40 

1.  2)aS  $au8ltä)e  ßiebeSgtücf 40 

2.  2)aS  3al)r  ber  löoflenbung 43 

V.  Die  alte  unb  neue  £affobi$tung 48 

1.  2>te  8ntontobtd&tung 48 

2.  $ie  patljotogif d)e  S)id)tung  unb  bad  ßunft- 

toert* 52 

>                                 3.  Äünftter*  gtpotljeofe 63 

4.  $ie  Erneuerung  bc§  £affo  öon  ©runb  aus  65 


158                                              3»$<Ut  [* 

©eite. 

VI.  3>ie  @ef$i<$te  Zafioi 67 

1.  Saffo*  Seitalter 67 

2.  £affo*  3ugenb 74 

8.  2aflo0  gjtoeflid&e  3aljre  in  3ferrara  ...  82 

4.  S)ie  ffletffion  be§  ©cbid^tö  unb  bie  Keife 

na*  Äotn 89 

5.  2)ie  SBerfjanbtungen  mit  gflorens  ....  91 

6.  SRiffteftigleiten.    $er   JBerfolgunaStoaljn 

unb  bie  &erl)aftuna, 94 

7.  $ie  8flu<$t  nad&  Sorrent 98 

8.  Mafios  IRüdffe^r  unb  weitere  JJrrfaljrten  .  100 

9.  $ie  ©efanßenfäaft 103 

10.  Saffo«  ©erafttfj«franf$ett 109 

11.  $te  legten  Safjre  unb  ba8  €nbe ....  114 

VII.  Xaffo«  Sfeinbe  in  gerrara 118 

1.  0.  ».  $igna 119 

2.  @.  ».  ©uarini 120 

3.  Untonio  3Rontecatino 127 

vni.  3>ie  ^xinaeffin  ßeonora  b'@ftc 135 

1«  Stte  ^erfönltd^feit  ber  «Prinjeffm     ...  136 

2.  Saffo»  eanjone 138 

8.  Xaffo*  »riefe 139 

4.  Sofronia  unb  Olinbo 141 

5.  2)a8  ©eföenf 145 

6.  2>te  mfttterlidje  «rbföaft 148 

7.  2)a8  ©onett:  «dubio  crudele»    ....  151 

8.  S)a8  ©nbe 154 

IX.  2)ie  £affoleg,enbe 156 

1.  @iot>.  »att.  üttanfo 156 

2.  ©.  »rufoni 166 

3.  &  8.  aJlutatori 167 

4.  30.  fceinfe 176 


7]                                              3n$alt.  159 

Seite. 

X.  Sag  @oetfcföe  ©djaufpiel 178 

1.  Sie  Sfabel •. 178 

2.  Sie  Gompofition 182 

3.  Sie  ©runbibee 188 

XI.  Sie  SBelt  beg  @oetl>ef<$en  Saffo 194 

1.  Sie  itaüemfd&e  föenaiffance 194 

2.  Sag  3bt)tt  in  »elrtguarbo 198 

3.  Set  ©ultug  beg  ©eniug 200 

4.  Sie  äftyetifdje  ©eftttung,  unb  gfteUjeit    .  208 

5.  Sie  ©egenfäfee  ber  ßtyaraltere     ....  211 

XII.  Stimmig  ber  3toeitc 213 

1.  Sie  fjumane  ©innegart 213 

2.  Sag  »erhalten  31t  Saffo 215 

3.  Set  fürfttidje  fcumor 222 

XIII.  ßeonore  bon  @fte 225 

1.  Älarljeit  unb  öattterfeit 225 

2.  Seiben  unb  (gntfagung.     Sag  fülle  geben  230 

3.  Sie  Siebe  gu  Saffo 237 

4.  Ser  9tbfdjieb  unb  bie  Jöerfto&ung  ...  257 

XIV.  Seonore  ©antritale 264 

1.  Sie  3freunbfdjaft  mit  ber  $rinaeffin  .   .  264 

2.  Söett     unb    SßeltbUbung.       Sttadj     beut 

Seben 267 

3.  Sie  Siebe  au  fcaffo 282 

XV.  Antonio  3ttontecaiino 291 

1.  Sie  »efanntföaft  mit  Saffo 291 

2.  Ser  ©egenfafc  ju  Saffo 298 

3.  Sag  Spiel  ber  Seibenfa>ften 304 

4.  Set  Streit  unb  feine  ^folgen.    Hntoniog 

€<$ulb 309 

5.  Sie  «ugföfotung 316 


160  3n$aft.  [8 

6ette 
XVI.  Torquato  fcaffo 322 

1.  $te  ©efaljr  be*  äöafjnjinnS.    ©er  2öe#fel 

ber  ©emütljsfttmmungen 322 

2.  2)aS  f^tnerali^e  Sßeltgefü^.  S)ie  ©infam* 

feit  unb  bic  Sfreunbe 326 

3.  2)tc  Stete  sur  «Prinaeffin 332 

4.  ©er  3>id)tet  unb  feine  »erlaffenfjeit    .   .  334 

5.  3)et  Äünftler  unb  f«in  2Berf 344 

6.  Antonio  unb  fcaffo 352 


• — «SSm-S»— ♦' 


I.  |>ie  £ett  bei;  %af(obi$tuu$. 

1.    tjfaufi  unb  £affo.    Söcrt^er  unb  £affo. 

@in  3aljrl)unbert  ift  betroffen,    feit  ©oetljeS 

(Jauft  unb  Jetn  SEorquato  Stoff o  —  jener  in  frag* 

tnentarifdjer  3?orm,  btefer  in  boflenbeter  SluSfüljrung 

i  —  an  baS  ßid)t  ber  SQBett  traten,  ©eibe  3)idjtungen 

Ijaben  bartn  äljnftdje  ©djtdfale  gehabt,  bafc  iljre  Ur= 
geftati  unferenStugen  verborgen  blieb  unb  bon  ©oetlje 
jerftört  ttmrbe ,  beibe  Ijaben  fid)  langfam  enttt>i<f  ett 
unb  fefir  berfd)tebene  ßebenSepodjen  burd)taufen, 
freiltdj  mit  bem  großen  Unterf djtebe ,  bafc  jur 
SluSbUbung  be§  Qfauft  bon  feinen  Slnföngen  bis  gu 
feiner  legten  SBoHenbung  faft  gtoet  9Jtenfd)enalter 
nötljtg  toaren,  ju  ber  be3  Stoff  o  ein  Saljrjeljnt 
(1780—1790).  3nbem  erjien  3al)re  nad)  feiner 
9tü<ffeljr  aus  Italien  Ijat  ©oetlje  ben  SEaffo  boffenbet 
unb  in  bie  Stortn  gebraut,  njorin  er  1790  erfdjten. 


182  (SoetfceS  Torquato  Xafio.  [10 

3toifd)en  SBertljer  unb  SEaffo  befielt  eine  geiftige 
aSlutSbermanbtidjaft,  toeld&e  ber  junge  3. 3L  Slmpfere, 
ber  ©oljn  be3  berühmten  UiaturforfdjerS,  tooftf  er= 
fannt  Ijat,  als  er  in  feiner  SBeurtfjeilung  ber  bra= 
matifd&en  ®id)tungen  ©oetljeä  ben  £affo  „  einen 
gefteigerten  SBertljer"  nannte,  ©oetlje  forad)  oft  unb 
gern  öon  bem  Urteil  beS  franjöfifdjen  Äritiferä 
unb  fanb  feinen  SluSbrudE  treffenb.  „3)er  ©tanb= 
punft  beS  §errn  SlMpfere",  fagte  er  gu  <£cf  ermann, 
„ift  ein  feljr  Ijoljer.  SBenn  beutfd^c  Stecenfenten 
bei  äljnlid)en  Slnläffen  gern  bon  ber  Sp^tlofo^^ie 
ausgeben  unb  Bei  5Betrad)tung  unb  93eforedjung 
eines  bi<$terifd)en  (SrjeugniffeS  auf  eine  SBeife  öer= 
fahren,  bafc  baäjenige,  toa3  fie  gu  beffen  Stufftärung 
beibringen,  nur  Sßljifofopljen  tljrer  eigenen  ©d)ule 
gugängüd),  für  anbere  ßeute  aber  toeit  bunfler  ift  atö 
ba3  2Berf,  baS  fie  erläutern  »ollen,  felber,  fo  be= 
nimmt  fi<6  bagegen  §err  2lm:pfere  burdijauS  praftifd) 
unb  menfd&Iid).  2lte  einer,  ber  baS  SKetier  aus  bem 
©runbe  fennt,  jeigt  er  bie  5Bertt>anbtfd)aft  beä  <£r= 
Beugten  mit  bem  (Srgeuger  unb  beurteilt  bie  öer= 
fd)tebenen  poetifd&en  Sßrobuctionen  als  Vertriebene 
3früd)te  toerfdjiebener  ßebenSepod&en  be3  2>id)ter3. 
6r  Ijat  ben  abtoedjfelnben  ©ang  meiner  irbifdjen 


11  $te  3elt  bec  SaffobUStunß.  168 

Saufbaljn  unb  meiner  ©eetenguftänbe  am  tiefften 
ftubirt  unb  fogar  bie  $äl)ig?eit  gehabt,  btö  ju  fel>en, 
toa§  iß  ntd&t  ausgestoßen,  unb  tna§  fojufagen  nur 
jttrifßen  ben  3ctlen  ju  lefen  toar.  2öie  richtig  Ijat 
er  bemerft,  bafj  iß  in  bm  erften  jeljn  3fa^ren 
meinet  toetmarifßen  3)ienft=  unb  £ofleben3  fo  gut 
tt)ic  gar  nißts  gemaßt,  bafc  bie  äJergtoeiflung  miß 
naß  Statten  getrieben,  unb  ba§  iß  bort  mit  neuer 
ßuft  gu  fßaffen  bie  ©efßißte  beS  SEaffo  ergriffen, 
um  miß  in  SJeljanbtung  biefeS  angemeffenen 
©toffs  öon  bemjjenigen  frei  gu  maßen,  toaS  mir 
noß  aus  meinen  toeimarifßen  Erinnerungen  an= 
Hebte!  ©eljr  treffenb  nennt  er  baljer  auß  ben  SEafftf 
einen  gefteigerten  SSJertfjer."  ginige  £age  foäter 
fam  ba3  ©eforftß  lieber  auf  ben  SEaffo  unb  bie 
3fbee,  bie  barin  jur  Slnfßauung  gebraßt  fein  tootte. 
„3bee?"  fagte  ©oet^e,  „ba&  iß  nißt  toüfcte!  3ß 
^atte  ba$  ßeben  2affo§,  iß  Ijatte  mein  eigenes 
Seben,  unb  inbem  iß  jtoei  fo  tounberliße  Figuren 
mit  iljren  6igenljeiten  gufammemoarf,  entftanb  mir 
baS  SBilb  beS  £affo ,  bem  iß  als  profaifßen 
©ontraft  ben  Antonio  entgegenftettte,  toogu  es  mir 
auß  nißt  an  JBorbübern  fehlte.  S)ie  »eiteren  §of=, 
8eben$=  unb  ßiebeSberljältniffe  toaren  übrigens  in 


161  ©oefyeS  Torquato  £affo.  [12 

SBeimar,  lote  in  gcrraro,  unb  idj  fann  mit  Sftedtf 
fcon  meiner  3)arfteÖung  fagen:  fte  ift  Sein  bon 
meinem  33ein  unb  $Ieifd)  Don  meinem  tjleifdj." l 

2)iefe  Steuerungen  finb  Ijödjft  bemerfenSioertlj. 
Snbeffen  toaren  feit  ben  anfangen  feiner  Staffo* 
bidjtung  fiebenunboierjig  3a^re  Vergangen,  unb  bie 
(Sntfteljung  feines  SBerlä  Ijatte  fidj  nid)t  gang  fo 
gugeiragen,  tote  ber  ©idjter  im  Qflufj  jener  Unter* 
rebungen  gelegentlidj  funbgab;  er  Ijatte  ben  ©toff 
be8  SEaffo  ntdjt  erft  in  Italien  ergriffen  unb  toar 
bemfelben  feineStoegg  toon  ber  ©emtttijsftrömung, 
bie  feinen  toeimarifdjen  SBerljältniffen  gutoiberlief, 
gieid)|am  erft  jugetrieben  toorben.  Stber  in  ber 
£au:ptfadje,  bie  feine  SBertoanbtfdjaft  mit  bem  ©toff 
beS  SCaffo  betraf,  toaren  feine  ©rflärungen  treffenb. 
&atte  er  bo$  fdjon  öierjig  Sfaljre  früher  in  einem 
SBriefe  au&  9fcom  aud)  bem  &ergog  belannt:  „3)er 
Steig,  ber  mid)  gu  biefem  ©egenftanbe  führte,  ent* 
ftanb  au3  bem  3fnnerften  meiner  9latur'\* 

Äraft    einer  inneren  untoiberfteljüdjen  Sftotfc 


1  ©tfermann,  ©eforäd&e,  Zf).  III.  6.  109  ff.  6. 117  ff. 
(3.  u.  6.  3Jlat  1827). 

*  S3rieftt)edjfel  be8  ©toffterjog«  Äarl  Sluguft  unb 
©oettje»,  Job.  I.f  »r.  46  (b.  28.  3flärs  1788). 


18]  Sie  3<it  bet  fcüffobW&tiraö.  165 

toenbigleit  ^atte  er  ctnft  „bte  ßeiben  be§  jungen 
SBertfjerS"  gefd)rieben  unb  baS  SBerl  feinem  fjreunbe 
Äeftner  gegenüber,  ber  fidj  burd)  biefe  ©idjtung 
berleijt  füllte,  eben  bamit  geregt  fertigt:  „SBertljer 
mu&,  mu&  fein!"  *  2)ie  gleite  9totl)tt>enbtgfeit  gilt 
aud)  öon  feinem  SCaffo,  biefem  gefteigerten  SBertljer. 

2.  ©leidfoeitige  3>i<$tungen. 

5Bier  feiner  toeltfunbigen  3)ramen,  toerfdjiebenen 
@J)odjen  nadj  iljrem  Urfptunge  angeljörig,  er* 
föeinen  in  einem  getoiffen  3cit})unfte  iljrer  2lu3= 
bilbung  äufammen  in  ber  SQBerfftätte  beS  SidtferS : 
{fauft ,  (Sgmont ,  S^igenie  unb  SCaffo.  S)ie  beiben 
erften,  untooöenbet  ttrie  jte  toaren,  Ratten  H)n  toon 
ffranffurt  nadj  SBeimar,  alle  öier  öon  SBeimar 
nadj  Italien  begleitet,  um  Ijter  au^geftaltet  unb 
tootfenbet  gu  toerben.  9fcur  in  2lnfeljung  ber  3p!jis 
genie  unb  beS  ©gmont  ttmrben  bie  Aufgaben  ge* 
löft:  beibe  lehrten  in  fertiger  3form  öon  9iom 
nad)  SBeimar  jurüdf,  jene  im  Sfanuar,  biefer  im 
September  1787.  2)er  Sauft  tourbe  nur  um  gtoei 
©cenen,  bie  £ejenfüd&e  unb  ben  Monolog  in  „SBalb 


©oetfje  unb  SBettier,  J8r.  109  (21.  9to*.  1774). 


166  ©oetfK«  Torquato  fcaffo.  [14 

unb  §öljle",r  bereichert,  tm  SBefentftdjen  nidjt  toeiter 
geführt.    SBaS  gef  djalj  am  %af\o  ? 

©otooljl  bie  ©efdjidjte  biefer  SDidjtung  als  audj 
bie  befonbere  9trt  tljrer  Slufgabe  unb  iljreS  ©egen* 
ftanbeS  ift  unter  ben  SBerfen  ©oetljeS  einjig:  fie 
ttnrb  in  Sßeimar  geboren,  in  Statten  umgeftaltet 
unb  nadj  ber  Sftücffeljr  alsbalb  in  SBeimar  boflenbet. 
SBie  in  feinem  anbern  SBerfe  tjat  ©oetlje  Ijier  einen 
Sinter  gefd)ilbert,  bem  er  ftdj  bertoanbt  füllte, 
bie  ßetb^en  eines  2)id)terS,  bie  er  nadjjuentyfinben 
unb  gu  burdjfdjauen  toufcte:  ber  größte  beutfdje 
2)i<$ter  geftaltete  bor  unfern  STugen  einen  ber  größten 
unb  bolfstljümlidjften  italienifc&en  Steter,  in  beffen 
©enie,  ©emütljSart  unb  ©<$t<ffaten  er  2lel)nlidj= 
feiten  mit  ftdj  felbft  entbedt  Ijat,  bie  iljn  ergreifen 
unb  rühren.  „3tä  Ijatte  baS  Seben  Jaffas,  i<$ 
Ijatte  mein  eigenes,  unb  inbem  idj  jtoei  fo  tounber= 
lidje  Figuren  mit  iljren  Eigenheiten  gufammentoarf, 
entftanb  mir  baS  93ilb  SaffoS."  SDaS  Sßerf  ent= 
foringt  in  ber  SDltttc  ber  er  jien  meimarif d&en  5ßeriobe 
unb  e§  erreicht  feine  SBoÖenbung  in  ben  Anfängen 
ber  jtoeiten,  nadjbem  es  mit  bem  3)idjter  felbft  eine 
SBiebergeburt  in  Statten  erlebt  Ijat.  ©erabe  barüber 
färetbt  ©oetlje  in  jenem  »riefe  aus  9tom  an  Äarl 


15]  2>te  3eit  bei  fcaffobtd&tunß.  167 

Sluguft:  „2Bie  ber  9teij,  bcr  mi<$  ju  biefem  @egen= 
ftanb  führte,  aus  bem  Snnerften  meiner  Statur 
entftanb,  fo  fdjliefct  fidj  jetjt  bie  Slrbeit,  bie  idj 
unternehme,  um  es  ju  enbigen,  ganj  fonberbar  an 
baS  6nbe  meiner  italienifdjen  ßaufbaljn,  unb  td) 
fann  nid)t  tottnfd&en,  bafj  es  anberS  fein  möge.  SQBir 
»otten  feljen,  mas  es  toirb". 

3.  2)ie  3te^nli$!eit  att>ifd)en  ©oetfye  unb  £affo. 

Sßirflidj  mufete  ©oetfyen  baS  SBilfa  SEaffoS,  ime 
er  baffefte  bor  fid)  falj,  bxnrd^  eine  gfttfle  äf)n= 
linier  3ügeü6errafd)en:  ein  f)o<$begabter  Jüngling, 
nadj  bem  SBunfdje  beS  SSaterS  gur  juriftifdjen  8auf= 
baljn  beftimmt,  burd)  ben  eigenen  ©eniuS  jur  2)id)t= 
fünft  berufen,  gleid)  burdi)  fein  erfteS  Sugenbtoerf 
berühmt,  fd)on  in  ber  2luSfül)rung  einer  ^octifd^en 
©rofctljat  begriffen,  bie  er  in  fidj  trägt,  ber  ©tolg 
unb  bie  Hoffnung  feines  SanbeS,  bie  3icrbe  eines 
Keinen  aljnen=  unb  ruljmreidjen  SiirftenljofeS,  bamafö 
beS  erften  ÜÄufenfitjeS  in  Italien,  ber  ßiebling  beS 
&ergogS  unb  jtoeier  fürftlidjer  Owuen,  Don  leiben« 
fdjaftlidjer  ßiebe  unb  ÜBereljrung  für  eine  öftere 
iljm  unerreidjbare  fjfrau  tief  ergriffen,  bie  ttrie  ein 
guter  ©djutjgeift  iljn  leitet,  ber  ©egenftanb  t>tcl= 


168  ®oet$e»  Torquato  Xafio.  [16 

fadjen  SReibeS ,  bcr  ftd^  in  bcr  ©iitte  regt  unb  iljm 
auflauert;  bann  feines  bisherigen  £of=  unb  ©tcnfi= 
leben«  überbrüfftg,  fetjnt  er  fid)  nadj  9tom,  um 
bort  baS  grofce  2Berl,  baS  feinem  tarnen  bie 
Unfterblidjfeit  verbürgt,  fünftlerifd)  ju  öottenben. 
@S  §at  tooljl  nie  in  ber  SBelt  ein  Steuer  gelebt,  ber 
unferem  ©oetlje  in  einem  getoiffen  3eityunfte  feiner 
toeimarifdjen  (Spfienj  fo  äljnlid)  mar  ober  fdijien, 
als  biefer  SCaffo  in  feiner  SBlüt^c  ju  fterrara.  @S 
giebt  audj  fein  anbereS  bidfjterifdjeS  SBerf,  an 
beffen  &erborbringung  bon  feinem  erften  Urfprunge 
bis  ju  feiner  SBottenbungSBetmarunb  Sftom  einen 
fo  gemeinfamen  unb  bebeutungSboöen,  nidjt  bloS 
frrtlidjen,  fonbern  innerlichen  31ntf)eil  gehabt  Ijaben, 
als  ©oetljeS  Saffo. 

H.  |>ie  Jlnfftnge  ber  Dtyfttng. 

1.  2)ic  3a^re  1780-81. 

3toifdjen  bie  3SJ>f)igenie,  bie  im  ^rü^a^r  1779 
begonnen  unb  in  ifyrer  erften  ©eftalt  aud)  tooßenbet 
ttmrbe,  unb  ben  Sßlan  ber  SEaffobid&tung  faßt  jene 
SReifc  in  bie  ©djtoeij,  bie  innerhalb  ber  erften 
tteimarifdjen  ^eriobe  gleid)fam  bie  ©renjfdjeibe 
bilbete,   tooburdj   bie  3*iten    getrennt    unb    bem 


17]  Sie  Anfänge  ber  Sichtung.  16f 

©türm  unb  SDrang  für  immer  ein  3iel  gefegt 
ttmrbe.  JBier  SDionate  Blieb  er  fern  toon  SBeimar, 
mit  feinem  fürfilid&en  Sfreunbe  fo  gut  tote  allein 
unb  in  bejldnbigem,  innerem  SluStaufdjj.  9ta<| 
feiner  9ttt<ffeljr  ift  er  ber  bertrautefte  {Jreunb 
unb  erfte  SfcatljgeBer  feines  dürften.  !Kad)bem  tyn 
ber  Äaifer  geabett  unb  ber  §erjog  an  bie  ©pifce 
ber  ^inanjDertoaftung  geftettt  fyxt,  ift  er  nad)  bem 
ßanbeSljerrn  ber  erfte  Sütann  in  bem  Keinen  @taat§= 
toefen.  @r  fiepet  bie  ffreunbfdjaft  ber  Sttutter  toie 
ber  ©ernannt  be§  £ergog3,  jetjt  aud)  baS  SSer* 
trauen  ber  lederen,  einer  grofcgefinnten  Qtan,  §u 
ber  ©oetlje  emjuft&ttdtt.  ©ein  leibenfdjafttid&es 
33erl)ältni&  ju  Charlotte  t)on  ©tein  erlangt  enbüd& 
bie  fdjöne  SBefriebigung  einer  öotfen,  burd)  leinerlei 
3toeifetequalen  meljr  gehörten  ©eelengemeinjd&aft. 
3)ie  Siebe  ju  biefer  ©^arlotte  toar  für  i^n  gletd)= 
fam  eine  neue,  glttcflidjere  2Bertfjeraeit  r  @r  felbft 
mad^t  biefe  35ergleid&ung.  SBie  beglüdft  er  ftdj 
följlt,  fagen  uns  bie  23riefe  jener  Sage.  „Stbieu, 
füfce  Unterhaltung  meines  innerften  §erjen8." 
„Stuf  baS  ©iegel  brücf  id)  einen  ffiu&  unb  Bin 
bein  für  etoig."  Slm  folgenben  Sage,  ben  12. 
3ttära   1781,  treibt  er:    „3Keine  ©eele  ijl  feft 

Äuno  Sfifger,  ®oet$e* Triften.  12 


17Ö  ©octijeg  Torquato  Zafto.  [18 

an  bie  beine  angetoadjfen,  idj  mag  leine  SBorte 
ntadjen,  bu  toetfet,  bafc  idj  toon  bir  ungertrennüdj 
Bin,  unb  bafc  toeber  §olje8  nod)  SüefeS  mid)  gu 
treiben  fcermag.  3<J)  tooflte ,  bafc  e§  irgenb  ein 
©elübbe  ober  ©aframent  gäbe,  ba§  mid)  bir  audj 
ftd^tttd^  unb  gefeljlidj  gu  eigen  madjte,  toie  toertlj 
fottte  e§  mir  fein.  Unb  mein  -ftobigiat  mar 
bod)  lang  genug,  um  fi$  gu  bebenden.  2Ibieu. 
3$  fann  nid)t  meljr  @ie  fd)reiben,  toie  id)  eine 
Seit  lang  nidjt  2)u  fagen  fonnte."1  Um  ©oetljeS 
3Serf)äftnife  gu  $rau  Don  ©tein  unb  bie  $f)afen, 
bie  e§  burdjlaufen  Ijat,  ridjtig  gu  fdjätjen,  barf 
man  fidj  biefe  ©teile  gum  ßeitftern  bienen  taffen. 
3fn  ben  fed)§unbfünfgig  3at)ren  feiner  toeima= 
rifdjen  Seit  Ijat  ©oetlje  eine  bo^elte  Stfme  erlebt: 
bie  erfte  fallt  in  ba&  Saljrgeljnt  öon  ber  Steife  in 
bie  ©djtoeig  bis  nadj  ber  Sftüdffefjr  au§  Italien 
(1779—1789),  bie  gtoeite  in  ba§  Saljrgeijnt  feiner 
fjfreunbfdjaft  unb  ©eifteSgemeinfdjaft  mit  ©djiffer 
(1794—1805).  Surfen  toir  innerhalb  ber  erften 
nodj  engere  ©rengen  gießen,  fo  ift  e§  bie  lurge 
unb  erlefene  3eit  gtoeier  3faljre,  toorin  ba%  ©tfltf 

1  ©oetljeS  SBttcf  e  an  grau  ö.  ©tein.  2.  öcrbottftanbtßte 
«uff.  (Söß.  gfieüfc),  m.  I.  S5r.  602,  603. 


19J  Sie  Anfänge  ber  SMc^timg.  17* 

feiner  ßtebe  mit  einer  Ijoljen  bid&terifdjen  Staubig* 
feit  £anb  in  §anb  ging.  33att>  foffte  bie  leitete 
burdj  bie  Itebernaljme  ernfter  unb  fd)toieriget  @e= 
fdjäfte  gehemmt  toerbeu.  3fn  biefe  Starre  (1780 
unb  1781)  fallen  bie  anfange  beS  SCaffo. 

2.  $)te  ©rfmbmtö  unb  bcr  2f  ortgang. 

ßarl  Sluguft  ift  tooljl  ber  erfte  getoefen,  bem 
©oct^e  bie  3lbfid)t  einer  SEaffobid&tung  anvertraut 
Ijat.  S)er  §erjog,  bem  fogleidj  ber  trielberufene 
ßiebeS^anbel  jttrifdjen  SEaffo  unb  ber  ^ßrirtjeffin 
fcorfä)tt)eben  modjte,  fanb  ben  Sßlan  gefäljrlid)  unb 
ttriberrietl)  bie  2lu§fiüjrung.  Snbeffen  ging  ©oetlje 
feiner  $bee  nadj  unb  Ijatte,  tt>ie  baS  Stagebudj  be= 
rietet,  ben  30.  SJiärj  1780  „ben  erfinbenben  $Eag". 
@§  Ijetfct:  „8u  3Jiittag  nadj  Siefurt  ju  ^u^. 
©ute  Srfinbung  Saffo".  SJiad^bem  er  bie  <£r= 
finbung  über  fünf  Sttonate  mit  fidj  herumgetragen, 
fdjritt  er  jur  StuSfüljrung.  S)en  14.  ßctober  be= 
rietet  ba§  S£agebudj:  „SLaffo  angefangen  gu 
fdjreiben".  81m  erften  9tot>ember  fäljrt  er  fort. 
S)ie  SEagebudjberic&te  toerben  unterbrochen.  SDen 
1.  Sluguft  1781  Reifet  e3:  „@3  tfyut  mir  leib, 
bafj  tdj  bisher  fcerfäumt  Ijabe  aufjuf ^reiben.  2)iefe3 

12* 


172  <Soe$eS  fcorqiwto  Soffo.  [20 

$atte  3^^  toaT  mir  fe^r  merftoürbig.  Ston  f)eut 
an  toifl  id)  toieber  fortfahren/'  SBtr  prcn  toeiter, 
bafj  er  ben  4.  unb  20,  frülj  am  £affo  gefdjrieben 
unb  ben  25.  Slugujl  ber  ^erjogin  ßuife  bie  Sttdjtung 
fcorgelefen  Ijat.  3)ann  ftodt  bie  3Irbeit  unb  ein 
anbereS  2Ber!  tritt  bajtoifdjen.  2)en  19.  Stuguft 
Reifet  e$:  „ßtyenor  angefangen".1 

3)ie  gleichzeitigen  ©riefe  an  ftxau  öon  ©tein 
erleudjten  uns  ettoaS  näljer  bm  Fortgang  be§  be= 
gonneneu  SBerfeä.  S5en  7.  -Jiobember  1780  Ijatte 
©oetlje  fein  erfteS  ßuftrum  in  SBeimar  fcottenbet. 
2tu3  münblidjen  ÜDtittljeilungen  foulte  bie-tJreunbin 
*<m  bem  Sßlan  unb  SSeginn  ber  neuen  £>id)tung, 
an  ber  fie  burdj  ben  regften  Slntljeil  gleidjjam  mit= 
toirlte.  S)en  10.  9tot>ember  SlfienbS  null  ©oetfje 
fommen,  um  bei  iljr  in  föntMä  ©egentoart  bie 
erjte  ©cene  bon  SLaffo  ju  lefen.  „©§  fdjeint  mir 
rfttljlid)  ju  fein,  bafj  toir  un§  nad)  unb  nad&  mit 
biefem  ©tüde  befannt  madjen." 

SDie  nftdjften  Slage  toaren  für  bie  Sidjtung 
Ijödjft  frudjtbar,  unb  in  bemfelfien  ÜDtafce  finb  uns 
bie  briefttdjen  SRadjrid&ten  barüber  bon  bejonberer 

1  ©oct^c«  SageMdier.  »b.  I.  (SD&etmar  1887.)  ©.  113, 
<£.  125,  128—131. 


21]  Sie  Knfftnge  bei  St^tim*.  178 

SBidjtigfett.  ©d^on  ben  12.  -ftotoemBer  fdjreiBt  er: 
„9Jteut  erfter  2lct  muJ3  Ijeut  fertig  fein",  ttnb 
brei  S£age  fpäter:  „31jr  gütiges  3ureben  unb  meitt 
JBerforedjen  Ijaben  mtdj  ^eut  frülj  gtfidttid)  ben 
jtoeiten  31  et  anfangen  laffen.  £ter  ift  ber  erfte. 
9Köge  er  in  ber  !ftftlje  Bei  toieberljoltem  ßefen 
feinen  9teig  Behalten!  ßaffen  ©te  iljn  niemanb 
feilen".  „Seljalten  ©ie  ben  2tct",  fd&reiBt  er  am 
folgenben  SEage,  f/er  toirb  mir  crft  lieb,  ba  ©ie 
Ujn  lieben."1 

•ftadj  einer  SBodje  läfct  er  fid)  ben  erften  IStct 
jurüdgeBe«,  um  toeiter  ju  fdjreiBen.  S)aBet  Bemerft 
er:  „Sie  erfte  ©cene  be§  jtoeiten  ift  fo  giemKdj 
fertig".  2)en  25.  ftobemBer  SIBenbS  toill  er  fie 
toorfefen.  Samt  gerätlj  bie  3)td)tuug  ins  ©todtenf 
unb  es  fdjeint  nidjt,  bafc  fie  in  biefem  Sfaljre  nodj 
toeiter  geförbert  ttmrbe.  @o  feljr  aud)  bie  Sreunbin 
brängte,  bie  STageSgefdjftfte  berfdjttngen  bie  frudjt= 
Baren  Stimmungen.  2lm  legten  Sage  beS  SaljreS 
fdjreiBt  tJjr  ©oetlje:  „9Jtein  SCaffo  bauert  mi<$ 
felBft,  er  liegt  auf  bem  ?Pult  unb  fteljt  midj 
freunbüdj   an,   aber   tt)te   töitt  tdj  jureidjen,   tdj 

1  ©oetljeg  «riefe  an  gfr.  t>.  Steht  29b.  L  JBr.  500f 
501,  503. 


174  ®oeti&e8  Torquato  £affo.  [2& 

tmtfe  audj  all  meinen  SBetjen  unter  ba§  6ommi8= 
brob  baden".1 

@§  bauerte  big  gum  ^rüfyling  beS  neuen 
SfaljreS,  bebor  ©oetlje  ju  fetner  2)idjtung  jurü<f= 
lehren  unb  jene  erfte  ©cene  be§  jtoeiten  Stets  toieber 
aufnehmen  fonnte,  bte  nodj  ber  SSoflenbung  beburfte, 
benn  fte  toar  erft  „giemüd)  fertig".  SBeldje  23er= 
änberungen  biefe  ©cene  aud)  f^äter  erfahren  Ijat, 
iljr  Slljema  toar  unb  blieb  baS  ©cfpräd^  jtoifcljen 
ber  SPringeffin  unb  SCaffo.  3fn  biefem  Seityunft 
toar  ©Ijartotte  fcon  ©tein  ti)irHi$  bte  3)htfe,  unter 
beren  ßtnflufc  bie  35id)tung  gebielj.  Sitte  Trübungen, 
bie  ba§  aSer^ältnife  beiber  oft  unb  nodj  jüngft  ge* 
ftört  Jjatten,  finb  toerfdjttmnben.  ®a§  5Rot)ijiat  ift 
beftanben.  ©ie  Ijat  jetjt  iljre  ©eele  iljm  gang  gu 
eigen  gegeben,  unb  fein  £erg  ftrömt  über  Don  beut 
©efüljl  biefeS  Olttifs.  „ftoeb  nie  fab  itf)  ©ie  fo 
lieb  gehabt,  unb  nod)  nie  bin  idj  fo  nalj  getoefen, 
Stirer  ßiebe  toertlj  ju  fein."  „3dj  t)abe  ntein  £erj 
einem  9laubfd)loffe  toerglidjen,  ba$  ©ie  nun  in  33efi£ 
genommen  Ijaben,  ba§  ©efinbel  ift  brau§  bertrieben, 
unb   galten   ©ie  e§   nur  ber  SBad^e  toertl),  nur 


e6cnbafelbft  I.  S3r.  498—500,  503-505,  509,  539. 


23]  $te  Hnfätiße  bei  fcid&tung.  175 

burdfj  @iferfud&t  auf   ben  33efU}  erhalt  man  bie 
SSefi^ümer."1 

©crabe  jefct  jtnb  biejenigen  ©cenen  im  SBcrbcn 
begriffen,  in  toeldjen  SEaffo  feine  ©efütrfe  für  bie 
Sßrin jeffin  ergiefjt,  bie  beiben  erften  beS  jweiten 
SlctS :  ba§  3n>iegeft>räd)  nnb  ber  SJionolog.  2Bie 
feljr  ftimmen  biefe  ©cenen  mit  ber  ©emütljslage 
unfereS  S)id(jter3!  SBie  feljnt  er  fidfj,  fie  ju  ge= 
ftalten!  „Sin  Staffo  toirb  Ijeut  fd&toerltd&  gebaut 
toerben",  fd&reibt  er  btn  25.  2Jiärj  1781.  „3Jierfen 
©ie  aber  nid&t,  toie  bie  Siebe  für  3ff)ren  SDidjter 
forgt.  95or  9Äonaten  toar  mir  bie  nädfjfte  ©cene  un= 
tnöglidfj,  ttrie  leidet  toirb  fie  mir  jefct  aus  bem  &erjen 
fliegen.-  SJiüfct  idfj  nur  nid&t  fo  einen  fdfjönen  9tulje= 
tag  audfj  mit  angeben,  um  bon  meinen  ©djulben 
loSjulommen. "  <Snblid&  finben  fidf)  bie  erfeljnten 
Sage.  wS)a  midfj  gute  ©elfter  in  meinem  §aufe 
befugt  Ijaben",  fd&reibt  er  ben  19.  Styril,  „bin 
id)  nidfjt  auStoärtS  gegangen,  fie  aufjufinben.  ?lm 
Staffo  ift  gefdfjrieben,  unb  toenn  ©ie  fidfj  alles  ju= 
eignen  tooHen,  toaS  SEaffo  fagt,  fo  §ab  id&  Ijeute 
fdfjon  fobiel  an  ©ie  gefdjrieben,  bafc  idfj  nidfjt  toeiter 


«benbaf.  I.  S3r.  599,  600. 


176  Gtoefl&e»  Torquato  £affo.  [24 

tmb  nid)t  brüber  !ann."  ©inige  SEage  fester  Reifet 
eS:  „3)iefen  2Jtorgen  toarb  mtr'3  fo  tooljl,  bafc  mtd& 
ein  Stegen  jum  SEajfo  toedtte.  Site  Stnrufung  an 
btd)  ift  getoifc  gut,  toaS  idfj  gefdjrieben  Ijabe.  06'$ 
ate  ©cene  unb  an  bem  Ort  gut  ift,  toetfj  idfj  nid&t" l 

3)er  Sttcf  Dom  27.  Styrtl  beginnt  mit  ben 
SBorten:  ,,©ie  toirb  lommen!  ©ie  toirb  fotmnen! 
toar  mein  StuSruf,  ate  idfj  bie  Slugen  aufmalte 
unb  bie  ©onne  fal).  S)ie  ©tunben  biefeS  S£ag8 
bringen  mir  ein  fdfjöneS  ©lud."  3fft  es  nidjt,  ate 
ob  man  ben  ©oetljefdjen  SEaffo  reben  Ijört?  3fn 
ben  legten  £agen  bes  Steril  ift  er  mit  bem  SBerfe 
befdjäftigt.  ©en  9.  3Jiai  Reifet  eS:  „&eut  friUft 
lebt  S£affo  in  meinem  Äopf  unb  läfct  fidfj  burdfj 
nichts  irren",  @r  fenbet  ber  ^reunbin  fein  Sßerf 
unb  läfjt  e§  in  iljren  £änben,  au3  benen  es  ßnebet 
empfangen  fott.  2)iefer  Ijatte,  tote  ©oeilje  bemerlt, 
„über  ben  erften  Slct  curiofe  ©adjen  gefagt,  aber 
gute".2 

©otoeit  laffen  fidfj  bie  ©puren  ber  erften  SEaffo- 
bid&tung  Verfolgen,  unb  es  ift  nidjt  anjuneljmen, 
bafc  fie  nodj  in  SBeimar  bor  ber  [Reife  nadj  Italien 

1  ©benbaf.  I.  )8r.  617,  )8r.  645  unb  648. 

2  «benbaf.  I.  S5r.  651,  655,  660,  679. 


25]  Sie  anfange  ber  Sichtung.  177 

merftid)  toeiter  geförbert  tmirbe.  2Bie  fie  bamafe 
toar  unb  Hegen  Wieb,  befianb  fie  in  jtoei  Steten, 
bie  in  rljtytljmifdjer  $rofa  gefd)rieben  toaren,  toie 
bie  3fol)igeme  in  iljrer  Urform,  ßeiber  ift  uns 
biefe  Urgeftalt  be§  Staffo  nid)t  aufbetoaljrt  toorben, 
tme  bie  ber  3j)Ijigenie. 

2tbgefeijen  bon  beut  SEage  ber  „guten  Srfinbung" 
toaren  einige  Sage  im  -ftotoember  1780,  einige  im 
Styril  1781  für  bie  Sajfobid&tung  Ijöd&ft  ergiebig. 
@8  toar  eine  fjütte  bon  ©lud  unb  ßraft  in  ©oetlje, 
als  er  bie  erften  ©cenen  be§  gtoeiten  Stets  bietete, 
©onntag  ben  22.  Steril  fdjrieb  er  ber  S^unbin: 
„©eftern  9ladjt  $aW  idj  grofce  8uft,  meinen  Sfting 
tme  5Poltjfrate§  in  baS  SBaffer  ju  toerfeu,  benn 
idj  fummirte  in  ber  füllen  iftad&t  meine  ©lüdf- 
fetigfeit  unb  fanb  eine  ungeheure  ©umme.  3fdf) 
toerbe  tooljl  am  SEaffo  fdfjreiben  fönnen".1 

3.  S)te  Betben  erften  Hcte. 

SluS  ben  brieflichen  Angaben  über  ben  tJort* 
gang  unferer  2)id)tung  laffen  fidf)  einige  fixere 
©bluffe  über  iljren  Umfang  gewinnen.     @3  Ijat 


Gbenbaf.  I.  23r.  647.  »gl.  Sagebfid&er,  2,  Styril  1780. 


178  <§toe$e8  Torquato  Saffo.  [26 

t>ter  bottc  2Bod)en  Strbeit  gefoftet  (bom  14.  Dctober 
bis  10.  SWobember),  bebor  bic  erftc  ©cene  fo  toett 
fertig  gefteHt  toar,  ba§  ©oetlje  fie  toorlefen  fonnte. 
■Jiiemanb  toirb  glauben,  bafc  er  in  ben  fünf  nädjften 
SEagen  ben  erften  Slct  t)ottenbet  unb  bm  ahmten 
begonnen  Ijat,  toenn  toir  ben  Umfang  beS  erften 
Stets  in  ber  uns  be!annten  ©eftalt  t)or  Slugen 
Ijaben.  Unmöglidj,  bafc  ©oetlje  binnen  üier  SBodjen 
bie  erfte  ©cene  unb  in  brei  Stagen  bie  brei  fol= 
genben  ausgeführt  Ijat,  fo  bafc  er  ben  13.  Zobern* 
ber  fagen  lonnte:  „2Jiein  erfter  2lct  ift  fertig 
getoorben". 

®al)er  leitetet  uns  ein,  baft  ber  erfte  2lct  beS 
alten  SBerfeS  Heiner  toar,  als  ber  beS  fyäteren. 
3)aS  SEljema  beffelben  toar  unb  blieb  bie  33e= 
Iränjung  StaffoS,  toeldjer  baS  ©etyrädj  ber  beiben 
ßeonoren  unb  iljre  Unterrebung  mit  SllfonS  borauS* 
geljen  mußten.  3fn  biefen  brei  ©cenen  beftanb  bem 
Sinljalte  nadj  jener  erfte  2lct,  ben  $rau  bon  ©tein 
am  15.  Sftobember  1780  aus  ber  £anb  beS  2)id)terS 
empfing.  3fdj  fdjliefce  toeiter:  ba§  bamals  ber 
erfte  Slct  oljne  bie  bierte  ©cene  für  ooüenbet  galt, 
alfo  ben  Slntonio  nod)  nidjt  !annte  unb  toal)r= 
fdjeintidj  aud)  feine  Slnfpielung  auf  biefe  Sßerfon 


27]  $ie  Anfänge  fcer  2)td&tung.  179 

enthielt.  @3  toetben  fid)  im  Sortgange  unfeter 
Untetfud&uttgen  nodj  gang  anbete  ©rünbc  unb 
felbft  3eugmffe  utfunblidjet  3Trt  batbieten,  bic 
unfere  Folgerung  betätigen.  2Jtöge  ber  ßefet  fic 
vorläufig  als  eine  JBetmutljung  gelten  laffen! 
2lu§  ben  ©tiefen  an  ßfjaiplotte  Don  ©tein  in 
ben  2tytiltagen  1781  l)aben  toit  fdjon  bie  beiben 
erften  ©cenen  beS  gtoeiten  Stets  l)ett)otleud)ten  feljen. 
!Bettnutl)tidj  ttmtbe  benfelben  nod)  eine  bxitte  ©cene 
Ijingugeffigt,  toeldje  bie  SJotgänge  enthielt,  bie  auf 
eine  anbete  aU  bie  un§  befamtte  2ltt  bie  $etau§= 
fotberung  gum  Stoeüampf  Don  Seiten  SCaffoS  unb 
beffen  £aft  Ijetbeifüljtte.  3)ann  etft  fonnte  bet 
gmette  21ct  füt  twKenbet  getten:  baä  S£f)ema 
beffelben  toat  unb  blieb  bie  SSetfyaftung  £affo§, 
lote  ba§  be§  etften  bie  33eftängung,  2Jtan  ge= 
toaste  un§  bie  9lnnal)tne,  ba$  bie  beiben  etften 
Stete  bet  alten  2)td)tung  feine  ©cene  Ratten,  toottn 
Antonio  aufttat,  bafc  feine  iljtet  ©cenen  33e= 
gieljung  auf  i^n  naljm,  feine  eine  ^anbtung  be§= 
felben  OotauSf e%te ,  ba%  fibetf)auj)t  bie  gange  erfte 
SEaffobidjtung  oljne  ben  Stntonio  conctyitt  toat.1 

1  9kdj  bem  ÜUlagftabe  bet  3pl)ig,eme  ju   urteilen, 
toar  ber  Umfang  ber  fettigen  ©tftefe   ber  erften  Saffo» 


180  <Soe$e8  Torquato  fcaffo.  [28 

HL   |>ie  Qm$eftattunb  hex  2>ic0ttt«g. 

1.    S)ie  SMre  1787—88. 

©edjs  Bis  fieBen  3faljre  bergeljen,  6ct)or  ©oetlje 
in  Stalten  baS  Begonnene  2Ber!  tmeber  aufnimmt. 
SSergegentoärtigen  tmr  uns  in  ber  Äürje  ben  ©ang 
feiner  italienifdjen  Sftetfe.  Stom  3.  6e£temBer  1786, 
bem  SEage  ber  SIBreife  bon  ÄarlsBab,  erftredft  fid) 
biefelBe  Bis  gum  18.  3funi  1788,  bem  Sage  ber 
Stücffeljr  nadj  SBeimar.  3toifdjen  feinen  erften 
unb  gtoeiten  9tufent^alt  in  9tom  fällt  bie  ftdfyxt  nadj 
Neapel  unb  ©icilien  (fcom  21.  {JeBruar  Bis  6.  3uni 
1787).  (Sine  biertoödjentlidje  SSitteggtatur  in  3fraS= 
cati,  StlBano  unb  ©aftel  ©anbolfo  (t>on  Snbe  @ej>* 
temBer  BiS6nbe£)ctoBer  1787)  unterBridjt  ben  jtoeiten 
römifdjen  Slufentijait,  ber  ben  16.  2tyrit  1788  mit 
bem  SIBfdjiebe  bon  fftom  enbet.  S)en  6. 3M  fdjretBt 


bttijtung  tooljl  größer,  als  bie  beiben  etften  2tcte  ber  3pl)i= 
gerne  in  öottenbeter  Sform:  biefe  jd^It  2173  SBerfe,  £ajfo 
in  feiner  Dollenbeten  3lu8füf)rung  3453.  $te  brei  erften 
©cenen  be8  £affo  enthalten  fünf  SBerfe  uteljr,  als  ber 
ganje  erfte  Slct  ber  Spljtgenie  (565  :  560),  unb  bie  beiben 
erften  ©cenen  be3  gtoeiten  2lct8  sägten  einunba^tjig 
SBcrfc  raetjr  als  ber  ganje  Stoeite  5tct  ber  g^igenie 
(446 :  365). 


29]  $le  Umgcftaltung  ber  2)l<$tuttfl.  181 

er  Don  Storeng  an  bcn  #ergog:  „2)a  idj  bon  bem 
9Kagnetberge  einmal  los  bin,  geigt  meine  üftabel 
toteber  nadj  Sorben". 

2)ie  erfie  ©efammtauSgabe  fetner  ©Triften,  bie 
in  btn  Sauren  1787 — 90  in  ßeipjig  erfdjien,  toar 
fdjon  im  ©ange  unb  foffte  audj  iene  t)ier  SBerfe  ent= 
galten,  bie  ©oetfje  gur  2lu§bilbung  unb  SSottenbung 
nadj  Statten  mitgenommen  Ijatte.  S)ie  Spljigente 
toar  fertig  unb  nur  aus  ber  $orm  ber  rljljtljmifdjen 
Sßrofa  in  bie  ber  reimtofen  Sfamben  umgugeftatten, 
e§  gefc^a^  nodj  bor  SIblauf  beS  SaljreS  1786.  ©er 
ßgmont  gemann  ben  förmttdjen  Slbfdjtufc,  ber  nodj 
fehlte,  im  September  1787,  befcor  ©oetlje  in 
bie  römifdje  Sampagna  ging. *  Slaffo  unb  Sauft 
toaren  übrig.  2Bir  tiriffen,  toa§  am  Sauft  toäl)= 
renb  beS  gtoeiten  römifdjen  Slufentljalteg  gefdjalj. 

S)er  Saffo  toar  umgugeftaften ,  gteidj  ber 
SpJjigenie,  unb  au&erbem  gu  boffenben.  @§  fehlten 
nidjt  toeniger  als  brei  Slcte.  2Bemt  toir  baS  ge= 
brudfte  SBerf  gum  Sötafcftab  nehmen,  fehlte  nodj 
toeit  mef)i\    Sngtoifdjen  Ijatte  fidj  ©oetfje  ber  ur= 


1  3)er  britte  S3anb  ber  ©efammtauSgabe  Braute  bie 
3rtiflcnie  (1787),  ber  fünfte  im  folgenben  3a1jre  btxt 
©gmont. 


182  ©oetyeS  Torquato  Xafto.  [30 

forünglid)en  3)id)tung  entfrembet,  unb  es  xoax 
borauSjufeljen,  bafe  bic  SBieberantnftpfung  unb 
Fortführung  iljm  fdjtoer  fallen  toürbe. 

2.    2)te  Steife  na$  ©teilten. 

SBon  feinen  btd^terifd&cn  arbeiten  toar  ber  SEaffo 
bie  einjige,  bie  er  nadj  ©teilten  mitnahm.  2tuf  ber 
©eefaljrt  nad)  Palermo  (bom  29.  SJtärj  bis  jum 
2.  Styril)  „ttmrbe  baS  ganje  ©tüdf  um  unb  um 
unb  burdj  unb  burdj  gebaut".  3fn  ber  „italienifdjen 
Reife11  Reifet  eS  unter  bem  30.  SDtdrj  1787:  „®ie 
jtoei  erften  Slcte  beS  £affo,  in  fcoetifdjer  $rofa  ge= 
fd)riebeu,  Ijatte  idj  t)on  allen  Spalieren  allein  mit 
über  ©ee  genommen.  S)iefe  beiben  Slcte,  in  Stbfidjt 
auf  ?pian  unb  ©ang  ungefähr  ben  gegenwärtigen 
gleid),  aber  fd&on  bor  geljn  3fa!)ren  gefdjrieben, 
Ratten  ettoaS  SBeidjlidjeS  unb  Nebelhaftes,  toeldjeS 
fidj  balb  berlor,  als  idj  nadj  neuen  Stnfid^ten  bie 
fjorm  fcortoalten  unb  ben  StljtjtljmuS  eintreten 
liefe".1 

©iefe  ©teÖe  ift  nidjt  unter  bm  angegebenen 
3)atum  gefdjrieben,    fonbern    faft  breifeig  3ialjre 


1  6ammtl.  «Kerle.  ((Sotta  1851.)  »b.  XIX.  ©.  209. 


31]  $ie  Umgeftartung  bet  $i*tung.  183 

foäter;  baljer  fmb  bie  (Erinnerungen  ungenau:  erläßt 
Ijier  bie  Betben  etften  Stete  1777  entfielen,  toäljrenb 
fein  S&rgeBud)  Begeugt,  baß  er  ben  14.  October 
1780  ben  Saffo  gu  fdjreiBen  anfing.  ©Ben  fo 
ungenau  ift  bie  25ergleid)ung  mit  beut  gebrudften 
SBerf:  „ungefähr  gleidj  in  Slbfidjt  auf  Sßlan  unb 
©ang".  9lur  fo  tuet  ift  richtig,  bafe  bie  £aupt= 
Begebenheit  be3  erjien  2lcte3  bie  33ef  rängung,  bie 
be§  gleiten  bie  §aft  SEaffoS  toar  unb  BfteB. 

®er  Slufentljalt  in  ©icitien  toar  nidjt  bagu 
angetan,  unfere  Sidjtung  gu  förbern.  S)ie  &err= 
üdjfeiten,  bie  ©oetlje  Bier  falj,  ttrirlten  wattiger 
auf  ifjn  als  feine  Rapiere,  er  füllte  fidj  in  bie 
SBett  ber  ©btyffee  toerfetjt  unb  erlebte  eine  btd^tcrtfd&e 
Umftimmung,  bie  in  feine  StrBeitSJrtäne  eingriff. 
3n  ben  tmtnbertjoflen  ©arten  auf  ber  Strebe  bon 
Palermo  glaubte  er  fidj  im  ßanbe  ber  $1)äa?en, 
unb  auf  einem  ©pagiergange  nad)  bem  *PeKegrin 
faftte  er  ben  5J}lan ,  bie  ljomerifdje  Sftaufilaa 
bramatifdj  gu  geftatten.  -ftod)  in  Staormina,  auf 
bem  Orangenbaum  eines  33auerngartejt§  fann  er  ber 
2tu§füljrung  .  biefeS  planes  toeiter  nadj:  einer 
SHdjtung,  in  ber  bie  ßbijffee  gteidjfam  bramatifdj 
concentrirt  toerben  fottte.    2Bie  feinem  Staffo  im 


IM  0oc$ci  Zoxqnato  Xafio.  [82 

Sfagufl  1781  ber  ©fyenor  in  bcn  SBeg  getreten 
toar,  fo  ietjt  bie  JWaujtfaa. 

3.    S)cr  gtoeitc  Tömifäe  Aufenthalt. 

Dljne  toefentlidje  {Jörberung  Bradjte  er  bett 
Slaffo  nadj  3tom  gurüdf.  ©ie  frönen  DctoBertage 
in  ßaftel  ©anbolfo  toecften  bie  ßufi  am  ßanbfdjaft3= 
jei^ncn  unb  bie  SSelanntfdjaft  ber  jungen  3Kai= 
Iftnberin  bie  ßuft  am  fronen  ©efdjledjte,  mit 
toeldjem  ©oetlje  toäljrenb  feines  bisherigen  ßeBenS 
in  Italien  nodj  leinen  näheren  33er!eljr  gehabt 
Ijatie,  ausgenommen  bie  SHalerin  3lngeli!a  ßauff= 
mann,  bie  adji  Saljre  älter  toar  als  er.  SluS 
biefem  bo^elten  ßuftgeffiljle,  baS  bie  fdjöne  ßanb= 
fdjaft  unb  bie  fdjöne  3Jiaüänberin  hervorriefen, 
entftanb  leine  trfiBfinmge  Staffoftimmung,  fonbem 
„Stmor  als  ßanbfdjaftsmaler". 

2118  er  nadj  9tom  jurüdgefeljrt  toar,  Begannen 
einige  SBorfyiele  ju  jenen  „romifdjen  ©legten",  bie 
erft  in  ber  beutfdjen  §eimatlj  gebietet  unb  grttnb= 
lidj  erlebt  toerben  follten.  ©en  29.  ©ecemBer  1787 
fdjrteB  er  an  ßarl  Stuguft:  „Sftidj  §at  ber  füfce 
Heine  ©ott  in  einen  Böfen  SBelttmnlel  relegirt".1 

1SBrieftt)c$fcIatt)tf$cttSarl5(uöuitu.@oct^c.  I.  23r.43. 


88]  $te  ttmgejtaftwig  ber  fctd&tmig.  181 

2)arau8  -ging  nun  audj  feine  SEaffofiimmung  §er* 
t)orf  tüoljl  aber  baS  aüerltebfte  ©ebte^t,  baS  er 
fein  Seibliebdjen  nannte: 

Äupibo,  lofer  eigenftnntget  Änafce, 

S)u  Batft  midj  um  Ouaxtier  auf  einige  Stunben! 

SBie  ötele  %atf  unb  ftädjte  bift  bu  geblieben 

Unb  bift  nun  tyerttfd)  unb  3Jlcificr  im  #aufe  getoorben! 

2)ie  bidjterifdjen  Saunen  ©oet^eS  fingen  feljr 
genau  mit  feinen  (Srlebniffen  jufammen,  unb  er 
toar  jetft  gar  nidjt  in  ber  Stimmung,  fid)  t)on 
einer  Siebe  rühren  gu  laffen,  mit  tt>etd)er  ber  lofe 
Änabe  nidjts  gu  tljun  Ijaben  foflte.  „2Bemt  e8  mit 
ber  Fertigung  meiner  ©Triften  unter  gleiten  ©on= 
fteüationen  fortgebt,  fo  mufe  id)  mid)  im  Saufe 
biefeS  3faljre§  in  eine  ^rinjeffin  Verlieben,  um  ben 
Staffo,  id)  mufc  midj  bem  Teufel  ergeben,  um  ben 
fjauft  fdjreiben  gu  fönnen,  ob  idj  mir  gleidj  ju 
beiben  menig  Suft  füljle."  @o  fdjrieb  er  ben 
10.  Januar  1788.  * 

«Sein  3ug  be§  meimarifdjen  Saffo  betoegt  tljn- 
@S  ift  iljm  gang  red&t,  ben  Slaffo  immer  toieber 
t)on  ber  StageSorbnung  feiner  SBerfe  abgufejjen  unb 
ftdj  teidjteren  Singen  gu  toibmen.    9loä)  Ijat  er  ja 


1  aOßerfe.   XIX.   6.  443. 
fluno  griffet,  ®oet$e*@d&riftetu  13 


186  <goe$e8  Torquato  fcaffo.  [84 

bie  alten  ©ingfpiele  (Ertönt  unb  (Slmire  unb 
Älaubine  öon  SSiffa  Seilet  nadj  bem  neuen  ßunft* 
ftyl  umgugeftalteu,  bamit  fie  redjtgeitig  in  ber  @e= 
fammtauSgabe  erfd)einen  lönuen. 

4.  S)ic  Aufgabe  bet  Umarbeitung. 

JRun  aud)  biefe  Arbeit  gefdjefjen  tft,  läfct  ftd& 
ber  SEaffo  nidjt  länger  bei  ©eite  fd)i eben;  enttoeber 
ffl  ba3  Sßerf  aufgugeben  ober  gu  öoüenben.  2)a 
geigt  fidj  bei  näherer  Prüfung,  ba§  bie  öorljam 
benen  Steile  nid^t  blo3  in  bie  ßunfiforadje  gu 
übertragen,  fonbern  intjaltlidj  umgugeftalteu  finb. 
Salb  ift  er  bie  beiben  ©tngfpiele  los,  bie  im  fünften 
S5anb  mit  bem  ülaffo  gugleidj  er f feinen  foKen. 
„2)ann  gel)t  eine  neue  -Jiotlj  an",  fd)reibt  ©oetlje 
ben  1.  (Jfebruar  1788,  „toorin  mir  niemanb  ratzen 
unb  Reifen  fann.  SEaffo  mufc  umgearbeitet  toerben ; 
toaS  ba  fteljt,  ift  gu  nichts  gu  brausen;  id)  fann 
toeber  fo  enbigen  nodj  aüe§  loegloerfen.  ©oldje 
«ttoty  Ijat  ©ott  ben  3Jlenfäen  gegeben!"1 

fieine  £ülfe  in  biefer  -Jiotl},  aber  eine  toiff= 
fommene  Serjireuung  getoäljrte  iljm  ber  römifdje 
Äarnetml,  ben  er  gum  gtoeitenmal  falj  unb  mit 

»  Gbenbafel&ft  6.  450. 


85]  2>te  Utngeftaftung  ber  S>t(3&tuiig.  187 

fünfHerifd&em  SBeljagen  jum  ©egenflanb  einer  58e* 
fd&teibung  naljm,  bie  nadj  fetner  9tüdfeljr  audj  ati 
eine  befonbere  ©djrift  erfd^tcn. 

5.  SEaffo  in  ber  SJarflettung  ber  ttalienifdjen  fftetfe. 

SRad)  bem  SEagebud),  toie  un§  ©oetije  baffetbe 
in  ber  itatientfdjen  Steife  lefen  läfjt,  toax  ben 
1.  3Jiärj  1788  „ber  $tan  be§  SEaffo  in  £)rbnung\ 
2tber  erft  fed&S  äBod^en  fyäter,  jtoei  SEage  bet)or  er 
Sftom  für  immer  berläfct,  entfdjlieftt  er  fidj,  mitten 
in  ber  Str&eit  beS  SOtobeHirenS,  tt)ie  mit  einem 
Jrtötjlidjen  fftxttf  jur  Inangriffnahme  beS  £affo. 
@r  fdjreibt  ben  14.  3fyrit:  „3fnbem  idj  nidjt  ab= 
liefe,  an  jenem  fjufc  fort  ju  mobeffiren,  ging  mir 
auf,  bafc  id)  nun  meljr  SEaffo  unmittelbar  angreifen 
mfifete,  ju  bem  fid)  benn  audj  meine  ©ebanfen  Ijin= 
toenbeten  —  ein  ttuttlommener  ©efäljrte  jur  be= 
toorftefjenben  Steife".1 

©er  Slbfdjteb  Don  0tom  bradjte  unferen  Sinter 
in  eine  elegifdje  Stimmung,  toorin  er  bie  S£rauer= 
Hagen  beS  €bib  nadjenipfanb,  benn  i^m  toar  ju 
9Kuilj,  ate  ob  er  in  bie  Verbannung  gefdjidt 
tofirbe.    9hm  ertoadjte  bie  SEaffoftimmung  unb  er- 


ebcnbaf.  6.  487,  504. 

13* 


188  (Stoetfje»  Torquato  Xaffo.  [86 

griff  fein  ©emütlj.  3)te  ©d)ttberung  ber  fdjmerj* 
fi$  feljnfüd&tigen  ©efft^le,  bie  i$n  auf  bcr  Md-- 
reifc  betoegt  unb  in  ftctotffcn  ©teilen  feiner  Stdjtung 
ftd&  ausgeprägt  §aben,  bilbet  ben  ©d&lufc  ber 
SDarftellung  feiner  italientfdjen  9teife.  „3fdj  er= 
mannte  mtd&  ju  einer  freieren  poetifdjen  St^ätigleit, 
ber  ©eban!e  an  S£affo  toarb  angefnityft  unb  id) 
bearbeitete  bie  ©teilen  mit  fcorgügtid&er  -Jleigung, 
bie  mir  in  biefem  Slugenblid  junädtft  lagen.  ®en 
größten  Stljeil  meines  2tufentl)atteS  in  fjforenj  toer= 
braute  id)  in  ben  bortigen  ßuft=  unb  ?ßradjtgärten. 
©ort  fdjrieb  idj  bie  ©teilen,  bie  mir  nod)  jetjt 
jene  3*it,  jene  ©efüfyfe  unmittelbar  jurüdtrufen." 
„2Bie  mit  Dbib  bem  ßocat  nad),  fo  fonnte  idj  midj 
mit  SEaffo  bem  ©djicffale  nadj  Dergleichen.  3)er 
fdjmerjüdje  3ug  einer  teibenfdjaftlidjen  ©eele,  bie 
nntotberfteljtidj  ju  einer  untmberruftidjen  5Ber= 
bannung  Ijingegogen  ttrirb,  gel)t  burdj  baS  ganje 
©tücf.  35iefe  ©timmung  Verliefe  mid)  audj  nidjt 
auf  ber  Steife,  trotj  aller  3erftreuung  unb  316= 
lenfung,  unb  fonberbar  genug,  als  toenn  Ijarmomfdje 
Umgebungen  mid)  immer  begünftigen  fottten,  fdjtofj 
ftdj  nadj  meiner  9tücttel)r  baS  ©anje   bei  einem 

• 

aufäßigen  2lufentf}alt  gu  Settoebere ,   too  fo  t)iele 


87]  Sie  Umgestaltung  ber  $t<$tmig.  18t 

Erinnerungen    bebeutenber    SOtomente    mtd)    um« 
fd&toebten." l 

©t^öner  lieg  ft<$  ber  ©dtfufc  ber  itctlienifdjen 
Steife  nidjt  abrunben.  SBie  in  „©idjtung  unb 
SBaljrljeit",  fo  Ijat  ©oetlje  audj  in  ber  (Srjäljlunfl 
feiner  italienifdjen  Steife,  bie  als  bie  Sortierung 
jener  ßebenäerinnerungen  genommen  fein  toittT 
bie  ^Begebenheiten  fo  ju  beleud&ten  unb  ju  grup* 
ptren,  bur<§  SBeglaffungen  unb  «&injufügungen  fa 
barjufteüen  getouftt,  toie  e§  nidjt  immer  bem  tt)irf= 
liefen  Hergänge  ber  3)inge,  fonbern  ben  fünfte 
rifd&en  9l6ftd&ten  feiner  (Sompofition  entfprad).  S5ie3 
gilt  insbefonbere  bon  ber  Slrt  unb  SBeife,  tote  er 
in  bem  legten  2lbfdjnitt  jenes  SBerfS  ben  £affo 
unter  feinen  btdjterifdjen  arbeiten  auftauten  unb 
fcerf d)toinben ,  toieber  auftauten  unb  toieber  t>er= 
fdjtoinben  unb  anbere  ©egenftänbe  fic§  Ijerborbrängen 
lägt,  bis  er  sulejjt  in  iljm  ben  gemütljSDertoanbtett 
9teifegefäljrten  finbet,  bem  er  fid)  mit  boller  ©eele 
gutoenbet.  <£r  lägt  julefct,  toie  in  einen  @djlu&= 
aecorb,  bie  italicnifd&e  Steife  gleidjfam  auStöuen  in 
ben  ©d&lufc  beä  SCaffo,  ber  ein  3fa^r  foäter  in 
SBeltoebere  ju  ©taube  tarn. 

1  Gfcenbaf.  ©.  515—16. 


$90  <3oe$eS  Torquato  Xafto.  [38 

6.  ^picrantonio  ©eraffi. 

2luS  biefen  SDtittljeüungen  ©oetljeS  toirb  nie= 
manb  ein  SBtlb  bon  ber  Umgeftaltung  ber  alten 
unb  bem  (£f)aralter  ber  neuen  2)id)tung  gewinnen 
fönnen,  benn  aus  Wo&en  ©efüljlen  unb  Stimmungen 
ergeugen  fidj  ntd)t  fold&c  SBerle.  @8  toar  aud) 
gar  nidjt  feine  2l6ftd)t,  uns  einen  foldjen  (SinMitf 
gettrinnen  m  laffen.  SSielme^r  lafct  er  in  feiner 
ttalienifdjen  fftetfc  baäjenige  Sßerl  ganj  uner= 
toä^nt,  beffen  ©tubium  bie  Umgeftaltung  ber  SEaffo= 
bidjtung  fotooljt  geforbert  als  ermöglid)t  Ijat.  Äurj 
elje  ©oetlje  nadj  3tom  laut,  tt>ar  t>on  bem  Slbate 
?ßierantonio  ©eraffi  bie  erfte,  auf  Ijiftorifdje 
Unterfudjung  gegrünbete,  mit  großem  Steife  unb 
auSgejeid&neter  ©adtfenntnifc  gefdjriebene  ßebenS« 
gefd)id)te  SaffoS  erfdjienen.1  3fi  biefeS  SQßerf  für 
leben,  ber  bie  ©d)idfate  beS  fo  Berühmten  unb  un= 
glüdttidjen  2)idjter3  lennen  lernen  tt)ifl,  eine  Ijödjft 
beleljrenbe  unb  feffelnbe  ßectüre,  fo  mufcte  fidj 
biefeS  2fntereffe  bei  ©oetlje,  bem  3)tdjter  beS  SEaffo, 


1  La  vita  di  Torquato  Tasso,  scritta  dall'  Abate 
Pierantonio  Serassi  etc.  In  Koma  1785.  $ie  Seetüre 
tiefes  SBerfeS,  bat  in  brei  SBudjer  ^erfüllt  unb  einen  Ouar« 
tonten  üon  614  ©eiten  bitbet,  ift  ein  ©tubium. 


39]  $ic  Umgcftattimg  bet  $t<$tnnß.  191 

ate  er  in  9tom  fein  Sßerf  auSjufüIjren  tradjtete, 
bo^ett  unb  bretfad^  fieigern.  @8  täfct  fidj  nadfc 
toeifen,  bafc  ©oetlje  biefeS  2Berf  fefjr  genau  6i3 
in  bie  SInmerfungen  gelefen  unb  ftubirt  Ijat ,  tooju 
2Bod)en  unb  SJiouate  gehörten,  ©ein  Slagelmdj 
mag  todf)l  biefer  öeetüre  gebaut  fyrfien,  aber  et 
Ijat  biefe  Duette  feiner  italienifdjen  Steife  jum 
größten  Streite  jerftort  unb  in  ber  teueren  felbft 
nidjt§  üon  ©eraffi  gefagt.  Sftur  in  feinem  33rief= 
toed&fet  mit  ßarl  3luguft  ift  einmal  batoon  bie 
fRcbc.  §ier  Reifet  e§  ben  28.  TOärj  1788:  ,,3d) 
lefe  jetjt  ba§  ßeben  beg  £affo,  ba§  2I6ate  ©eraffi 
unb  jtoar  rec^t  gut  gefdjriefcen  Ijat.  3Jteine  9l6fid)t 
ift,  meinen  ©eift  mit  beut  <£Ijarafter  unb  ben  ©djid- 
falen  btefeS  ®id)ter§  gu  ffltten,  um  auf  ber  Steife 
ettt)a§  gu  Mafien,  ba§  mid)  befdijäfttgt.  3fd)  toünfdje 
ba§  angefangene  ©tüd  too  nid)t  gu  enbigen,  bod& 
Leiter  gu  führen,  efje  i<fi  gurücftomme."  x 

2)a§  erfte  SBerf  au§  ben  Saljren  1780  unb 
1781  grünbete  fid&  auf  bie  Saffolegenbe  unb  ben 
biograpljifdjen  ©toff,  ben  ber  3ftard)efe  ©iotoanni 
SBattifta  9ftanfo  in  feiner  ße6en§gefdjid)te  SlaffoS 


Jörteftoedjfel,  I.  S3r.  46.  6.  421  ff. 


192  Qottfyi  Torquato  fcaffo.  [40 

geliefert  $atie l ;  bie  Umgestaltung  unb  JBottenbung 
be3  SBerfeS  in  ben  Sfaljren  1788  unb  89  beruht 
auf  ©eraffi.  88  toar  ntd&t  letdjt,  biefe  beiben  Der* 
fdjiebenen,  fid)  toiberjlreitenben  ßebensbilber  £affo§ 
in  einanber  ju  fügen,  ©djon  in  biefer  Aufgabe 
lagen  ©djtoierigfeiten  genug,  toorüber  ©oet^e 
feufgen  lonnte:  ,,©otd)e  Süiülje  l)at  ©ott  btn 
SJtenfdjen  gegeben". 

IT.  pie  ^offenbung  bei;  pi^tuttg. 

1.  S)a8  t)äu8li$e  ßiebeSgtücf. 

3n  ben  ßebenSanfd&auungen  ©oetlje§  Ijatte  fidfj 
toäljrenb  feines  italienifdjen  unb  römifdjen  Slufent- 
^alteS  eine  SScrdnberung  Doüjogen,  bie  in  ber 
§eimatf)  fogleid)  gu  Sage  trat  unb  aud&  fein  25er= 
tyältnifj  ju  ffrau  Don  ©tein  nicfyt  unberührt  liefe, 
©ie  Ijatte  eä  fdijmerjlid},  ja  untoillig  empfunben, 
bafe  ber  geliebte  9ftann  fie  berlaffen  unb  Saljre 
lang  fern  Don  iljr  bleiben  fonnte.  3fnjtDif(ften  toar 
bie  fieben  3al>re  ältere  unb  franlli^e  fixan  eine 


1  Vita  di  Torquato  Tasso,  scritta  da  Gio.  Battista 
Manso,  Marchese  della  Villa.  In  Roma  1634.  S)a8  SBerf 
jcrföüt  in  bret  Steile  unb  bilbet  ein  ©ebeafcüd&lein  öon 
356  (Seiten. 


41]  $te  SBottenbung  ber  SMc^tuttg.  198 

SRatame  getoorben,  toäljrettb  fidj  @oet$e  in  Stalten 
öerjüngt  Ijatte.  SBaS  in  feinen  ©efüljlen  für 
Charlotte  tum  ©tetn  nod)  SBertljerartigeS  getoefen, 
bie  3üge  abhängiger  unb  fdjtoärmerifdjer  Eingebung 
toaren  nad)  ber  Umtoanblung,  bie  er  in  Stalten 
erlebt  l>atte,  mit  ber  SBurjel  berfdjtounben.  <£r 
mar  tljrer  £errfdjaft  Döttig  enttoadjfen.  Sitte,  bie 
iljn  tmeberfaljen ,  füllten  bie  JBeränberung ,  bie 
mit  iljm  toorgegangeu  war,  am  meiften  3ftau  tum 
©tein  felbft.  ©etoaltfam  unterbrüdtte  fie  iljre 
fdjmerjljäfte  Srregung,  fie  emDfing  unb  beljanbelte 
iljn  füljl,  fo  bafj  iljre  9laty  nidjt  fieimlid)  unb 
tooljltljuenb  auf  i^n  cintoirJtc.  3febe  Slnnöljerung 
bermeljrte  bie  (Entfernung.  2Bo  fie  einanber  be= 
gegneten,  naljm  bie  gefeöige  3ufammenfunft  ein 
fleifcS  unb  gejtoungeneä  Sßefen  an,  mag  allen,  bie 
ifjre  SBejte^ungcn  fannten,  peinlich  auffiel. 

©efyr  balb  traten  SSerljältniffe  ein,  bie  bon 
iljrer  ©eite  eine  böHige  unb  erbitterte  Slbtoenbung 
jur  ^olge  Ratten.  2)er  lofe  eigenfinnige  ßnabe, 
ber  unfern  2)i$ter  fdjon  in  SRorn  befugt  l)atte, 
mar  jetjt  in  SBeimar  bei  if)tn  eingelegt  unb  Ijatte 
e3  ftd)  in  £ütte  unb  §au§  bequem  gemalt,  nid^t 
auf  toenige  ©tunben,  fonbern   für  immer.    S)ie 


IM  ©octf)c8  Torquato  Xaflo.  [42 

junge  ßljriftiane  aSufytuS  toar,  toie  grau  gerbet 
tljrem  SDtanne  nadj  Sfcom  fdjrieb,  fein  „Älärdjen" 
getoorben.  ©ie  getoftljrte  if)tn  ba3  ©Ißd,  baS  feiner 
Spijantafie  t>on  jeljer  als  baS  fdjönfte  aller  3bl)tte 
Vorgefdjtoebt  Ijatte.  SBor  fünfgeljn  Sauren  toar  aus 
biefer  ©el)nfud)t  „SDer  SBanberer"  hervorgegangen; 
jetjt  entftanben  aus  beut  ©enufe  ber  füllen,  IjäuS= 
lidjen,  erotifdjen©lficffetigfeit  bie  „römifdjenßlegien'' . 
@r  Ijat  biefeS  verborgene  ßiebeSglücf  fo  tief  unb 
banfbar  enipfunben,  bafe  er  e§  neun  3aljre  foäter 
fogar  mtjtljifdj  geftaltet  unb  gleidjfam  vergöttert 
unb  Verilärt  Ijat  in  ber  23aflabe:  „®er  ©ott  unb 
bie  SBaiabere". 

@r  tooflte  bie  SSefriebigungen  nid)t  mefjr  ent= 
beeren,  bie  iljm  „ber  füfee,  Heine  ©ott"  bereitet 
Ijatte,  unb  fonnte  baljer  bie  SBebingung  nidjt  er= 
fußen,  an  toeldje  Qxan  von  ©tein  bie  gortbauer 
iljrer  greunbfd&aft  fnttyfte,  als  jte  im  Februar  1789 
©oetljeS  ßiebeSVerfjättnife  mit  ber  jungen  33ufyiuS 
entbetfte,  baS  bereits  feit  bem  12.  ^uli  beS  Vorigen 
QaljreS  beftanb.  <£r  liefe  fidj  ben  Sßerluft  feiner  93e= 
jieljungen  ju  grau  Von  ©tein  gefallen,  fdjmerj= 
lidj,  aber  nidjt  ungetröftet.  ©ie  erfdjien  jtdj  je^t 
tote  eine  verlaffene  £>ibo  unb  faf)   in  ibm  einen 


43]  Sie  SBottenbmtg  bcr  $ld&tung.  195 

treulofen  2tenea§.  Um  ben  ßiebeSgram,  bcn  er 
Dcrfd^ulbct  fjatte,  ju  fetten,  fonnte  ©oetlje  biStoeilen 
ttad)  einer  erftauttltd^  naiben  SJletljobe  toerfaljren. 
Qfttr  bie  troftlofe  gfrieberüe  in  ©efenljeim  liefe  er 
SBonbonS  bon  ©trafcburg  !ommen  unb  ber  Staut 
Don  ©tein  toiberrietf)  er  ben  Safe. 

©eine  legten  ©rtoiberungen ,  nad)  tocld^cn  in 
iljrem  33rieftt>ed)fet  eine  meljr  a(§  jtebenjftljrige 
5ßaufe  eintritt  unb  ber  S£on  inniger  3ufammen= 
geljörigfeit  nie  toieber  gehört  toirb,  finb.bom  1. 
unb  8. 3uni  1789.  ®er  b$te  »rief  fdfttiefjt  mit  ben 
SBorten:  „SEaffo  ift  Beinah  fertig".  3^n  ÜJtonate 
früher  f$rieb  er:  „SEaffo  riltft  audj,  obgleich  lang= 
fam\ * 

2.  ®a§  Saljr  ber  Jöollenbung. 

SBäljrenb  bie  ©efettfdjaft  an  ©oetljeä  Ijau8üd)em 
ßeben  ben  größten  Stnftoft  naljm,  gab  es  in  2Bet= 
mar  eine  ^rau,  e8  toar  bie  erfte  be§  ßanbeS,  ein 
SDtufter  toon  ©ittenremljeit  unb  Strenge,  jugteid) 
ber  Qfrau  *on  ©tein  tooljtgefinnt  unb  befreunbet, 


1  ©oct^cS  ©riefe  an  3frau  bon  Stein.  II.  ©r.  831, 
832.  3n  ben  erften  biergefnt  3aljren  f)at  ©oetfje  832 
uns  befannte  SBriefe  an  3fr.  ö.  ©tein  a.efdjrieben,  in  ben 
legten  breifetg.  (nadj  Jener  ftebenjäl)rta.en  $aufe)  nur  133. 


196  <So€$e9  Torquato  £affo,  [44 

bie  tnilb  unb  etnfic^tSooIX,  menfd)en=  unb  goetlje* 
funbig  urteilte  unb  tote  ein  guter  ©djufcgeiji  gu 
iljm  ftanb.  ©ie  na^m  toerftftnbnifcbollen  unb  er» 
tnunternben  Slnttyeil  an  feiner  2)id)tung  unb  liefe 
ftdj  biefelbe  gern  Dorlefen.  2Benn  ©oetljeS  SCaffo  in 
bem  ©tabium  feiner  SJollenbung  nodj  eine  9Jlufe 
beburft  unb  gehabt  ljat,  fo  mar  e8  bie  ^erjogitt  ßuife. 
„SBenn  id)  nur  irgenb  toüfete,  31jrer  Qfrau 
©emaljlin  {freube  gu  madjen!"  fdjrieb  ©oetlje  im 
£erbft  1788  an  ßarl  Siuguft.  „3*  Ijabe  iljr  bie 
Slbenbe  einigemal  ettoag  gelefen  unb  eile  nun  ben 
SEaffo  ju  enbigen,  ba  fte  ba§  ©tütf  ju  intereffiren 
fd)eint.  63  geljt  mir  bamit,  ttrie  e§  einem  im 
SEraum  ju  geljen  pflegt,  man  ift  fo  nal)  am  ©egen= 
ftanb  unb  fann  i§n  ntd)t  faffen."  S)en  1.  October 
berietet  er:  „Seit  meiner  Sftüdfunft  (t)on  Ilmenau) 
l)abe  id)  fleißig  an  meinen  DperibuS  gearbeitet 
unb  ftoffe  nun  balb  über  ben  £affo  baS  Ueber= 
geteilt  gu  Iriegen.  @3  ift  einer  ber  fonberbarften 
gölle,  in  benen  id)  getoefen  bin,  befonberS  ba  id) 
nidjt  allein  bie  ©djtoierigfeiten  be§  ©üjetS,  fonbern 
aud)  3(Ijr  SJorurtljeil  ju  übertoinben  arbeiten  mufe." 
3)en  19.  fjebruar  1789  gebenft  er  be§  fortfdjrei* 
tenben  SBerfä:  „Staffo  toöd&ft  toie  ein  Orangenbaum 


46]  Sie  aSottcttbunfl  bet  $idjtung.  197 

feljr  tangfam.    S)a§  er  nur  aud)  toofilfdjmetfenbe 
fjrfld&te  trage!" l 

3Säl)renb  her  §ergog  in  StfdjerSlefcen  fein  Deiters 
regtment  befehligt  unb  ftdj  ju  einer  9tebue  t>or= 
bereitet,  geniest  ©oetlje  in  contemplatitoer  ©tiffe 
„unter  blüljenben  Säumen  unb  bei  beut  ©efange 
ber  3tad)tigallen"  bie  erften  fdjönen  gfrüljlingstage 
unb  arbeitet  au  ber  SJolIenbung  feines  SBerfeS. 
„©eftern  las  idj  Sförer  grau  ©emaf)lin  ben  SEaffo 
toor,  fie  fdjien  aufrieben.  2)ie  fefjlenben  ©cenen 
erjagte  id(j,  fo  gut  es  möglid)  toar."  @S  bergefjen 
fünf  bis  fed&S  2Bod)en,  unb  nod)  immer  ift  bie  5Bol= 
lenbung  ntdftt  erreid)t.  „£affo  fdfjeint  ben  SBeifaff 
31>rer  fjrau  ©emaljlin  gu  Ijaben",  fdjreibt  ©oetlje 
ben  12.  Söiai  1789.  „Söenn  idfj  gang  fertig  toäre, 
toofff  idj  midi  feljr  glüdlidj  fdjätjen."  S)er  &er= 
jogin  lieft  er  ben  SEaffo  toor  unb  bem  alten  fjreunbe 
bie  rßmifdfjen  ©legten.  (£r  berietet  bem  &erjog 
beibeS  in  unmittelbarer  golge:  „33on  ben  (SroticiS 
Ijabe  id)  SBielanben  toieber  fcorgelefen,  beffen  gute 
2trt  unb  antifer  ©inn,  fie  angufefjen,  mir  Diel 
greube  gemadjt  Ijat".2 

i  ©rieftoed&fer,  Job.  I.  23r.  52,  53  (üqI.  46),  55. 

8  Gbenbaf.  I.  S3r.  58,  60  (Styrtl  unb  12.  9Jlat  1789). 


198      *  ©oetyeS  Torquato  £affo.  [46 

S)aS  SJorurÜjeil,  toeld(je3  ßart  Stugufi  toibet 
ben  Staffo  Ijatte,  ift  glüdttidf)  überttmnben.  „Sföre 
Qfrau  ©entafjün  fagt  mir,  bafe  ©ie  Qfreube  an 
bcn  erften  ©cenen  be§  £affo  gehabt.  3)aburd&  ift 
ein  SBunfdj),  bcn  id(j  bei  biefer  gefäfjrlid&en  Unter» 
neljutung  toorgüglid)  geljegt,  erfüllt,  unb  idjj  gel)e 
befto  mutiger  bem  6nbe  entgegen.  3<fi  l)abe  nod(j 
brei  ©cenen  gu  fdfjreiben,  bie  mid&  ttrie  lofe  9ii)m= 
pljen  gum  SBeften  Ijaben,  tnidfj  balb  anläd&etn  unb 
fidfj  nalje  geigen,  bann  toieber  fyröbe  tfjun  unb  fid^ 
entfernen." * 

SBenn  unter  ben  brei  nodj  gu  fdfjretbenben  ©cenen 
bie  legten  gu  berfteljen  jtnb,  fo  waren  biefe  nic&t 
bie  eingigen,  toeldfje  nodfj  fehlten.  3)er  Srief  toom 
6.  Sfyril  1789  entölt  eine  2JUttI)etfung,  bie  ni<f)t 
blo§  ben  gleidfjgeitigen  ©tanb  unferer  2)idjtung, 
fonbern  audf)  beren  @ntfteljung§gefd&idf)te  bis  in  bie 
erften  Slnfänge  hinein  erleuchtet.  @ie  lautet: 
„SBenn  idfj  t>or  ben  Feiertagen  bie  leljte  ©cene 
be§  erften  2tcte§,  too  Antonio  gu  bm  bier  5ßer= 
fönen,  bie  toir  nun  lennen,  Ijingutritt,  fertigen 
fönnte,   toäre  idjj  feljr  glüdöidfj.    gaft  gtoeifle  idfj 


(gbenbaf.  I.  S3r.  59. 


47J  Sie  SBottenbung  bei  Srtd&iunfl.  199 

bratt.  ©oBalb  fie  gcfd&rtcben  ift,  fdjide  id)  fie." 
&iet  ift  ba§  urlunblidje  3cugnif3,  toorauf  td)  früher 
^itigen>iefen  IjaBe,  unb  auf  toeld)e§  td)  fogleidj 
nätjer  gurüdfornmen  toiß.1 

SOBä^renb  bcr  Sfunitage,  bie  ©oeilje  mit  htm 
(SrBjmnjen  in  Sefoebere  juBradjte,  ttmrbe  ber  £affo 
beinahe  fettig,  ©eitbem  toar  ein  Süionat  Vergangen, 
als  er  bem  §erjog  fd&rteb :  „JBon  5£affo  finb  brei 
Stete  ganj  aBfofoirt,  bie  Beiben  legten  nodj  in 
Ste&ifion.  -Jiod)  toenige  S£age,  fo  toäre  benn  audj 
btefeS  fdjtoere  Sfaljrtoerf  tooHenbet".2  @3  bauerte 
nad)  ber  Stfidttefjr  aus  Stauen  nod)  über  ein 
Sfaljr,  Bis  ber  S£affo  ju  @nbe  geführt  fear;  baS 
2Berf  erfriert  tttd^t  im  fünften,  fonbern  erft  im 
fedtften  Söanbe  ber  ©efammtauSgaBe. 


1  ©beubaf.  I.  »r.  59  (©.  146).  —  2)a  ©oetlje  in  bem 
obigen  Jöriefe  auSbrücHiä)  fagt,  bafc  er  „nodj  brei  ©cenen 
ju  föreiben  fjabe11,  fo  f)ätte  §r.  2>ünfcer  barunter  nid&t 
bie  oi er  legten  oerfteljen  fotten,  benn  brei  finb  niä)t  bier. 
2)a  ©oetlje  audbrücHiä)  fagt,  bajj  er  bie  oierte  ©cene  beS 
erften  Stets  nodj  ju  f  abreiben  tyabe,  fo  f)ätte  §r.  2)ünfcer 
e8  nid&t  für  „ein  offenbares  3Jtt&berftänbni&1'  erflaren 
fotten,  bafj  jemanb  biefe  ©cene  gu  ben  feljlenben  geregnet 
f>at.  ((Erläuterungen.  XVII.  6. 151.) 

2  »rieftted&fet,  I.  S3r.  61  (5.  3uli  1789). 


200  ®oet$e»  Torquato  £affo.  [48 


T.  |>te  äffe  unb  neue  gaflobi^fmtg. 

1.  3)ic  2lntoniobid&tung. 

2Bir  toiffen  nun  aus  ©oetljeS  eigenem  Sflunbe, 
bafe  jene  bierte  ©cene  beS  erften  Stets,  toorin  Slntonto 
gum  erftenmate  erfd&eint,  nodj  ben  6.  Slprü  1789 
unausgeführt  toar  unb  atfo  im  -ftotoember  1780 
ntd)t  einmal  beabfid&ttgt  fein  fonnte,  benn  ber  erfte 
9Tct  galt  bamals  oljne  biefelbe  für  fertig.  SBenn 
aber  btefe  ©cene  nid)t  Mos  in  ber  SluSfüljrung, 
fonberu  im  5JJlane  beS  alten  2Ber!s  fehlte,  fo  barf 
man  tooljl  annehmen,'  ba§  ber  Antonio  barin  über* 
Ijaupt  nodj  leine  ©teile  Ijatte. 

3fn  bem  3*ityunfte,  toorin  SCaffo  fein  grofceS 
6poS  bollenbete,  toax  Slntonio  üttontecatino  feit 
einer  Sfteilje  bon  ^a^ren  aus  einem  anfänglichen 
fjreunbe  fdjon  fein  Sreinb  unb  baS  §aupt  feiner 
©egner  getoorben.  3n  ©oetljeS  Staffo  erhält  man 
Don  ber  trierten  ©cene  ben  Sinbrudf,  bafc  bie  beiben 
Scanner  fid^  ietjt  erft  lernten  lernen  unb  einanber 
fremb  unb  neu  finb.  Siefer  SinbrudE  Beftätigt  fidj, 
toenn  man  im  Stnfange  beS  jtoeiten  SlctS  Staffo  ju 
ber  SPrutjeffm  fagen  Ijört: 


49]  Sie  alte  nnb  bte  neue  £afJobid>tung.  201 

3$  toitC  bir  gern  gefteljn,  e8  Ijat  bei  <Dlann, 
$er  unertoartet  au  uns  trat,  ni$t  fanft 
5lu3  einem  fdjönen  Staunt  mi$  aufgetoectt 

2Iud)  bte  'SBorte  bcr  SPrinjeffm  fcejeugen  bte 
9teul)eit  jener  SBefanntf d)aft  : 

Unb  nun,  ba  nur  Antonio  töieber  fjaben, 
3ft  btr  ein  neuer,  Huger  gfreunb  aettrifc. 

2Bie  Ijätte  audj  S£affo  fonft  bei  ber  gloeiten 
33egegnung  31t  Antonio  fagen  lönnen: 

Sei  mir  nriflfommen,  ben  td)  Qleidjfam  jefct 

3um  erftenmal  erblicfe!    ©djöner  ttmrb 

Äein  üüiann  mir  angelunbigt.    Sei  nriflfommen! 

Unb  tote  Slntonio  fid)  ableljnenb  behält: 

63  mag  benn  fein. 
3eü  unb  $elanntf$aft  feigen  bi<$  öiettettfct 
3)ie  ©abe  toärmer  forbern,  bie  bu  jefct 
60  falt  bei  ©eite  leljnft  unb  faft  öerfdjmäljft. l 

3fn  SBaljrljeit  t)erf)ält  fid&  bie  ©ad)e  fo,  baft 
Antonio  jtoar  in  ber  ©efd)id)te  beS  ttrirflidfjen  £affo, 
als  biefer  ben  Äranj  toegen  feines  @poS  toerbtente, 
fdjon  eine  feljr  alte  23elanntf$aft,  aber  in  ber  ©e= 
fd^td&tc  be§  ©oetljefdjen  S£affo  eine  gang  neue  toar, 


1  ©oeüjeg  SDÖerfe  (@oj>fjienau8Qabe).  23b.  X.  Torquato 
Xaffo.  IL  «ct.  1. Sluftr.  95. 760-762, 939-940.  IL  3.  Huftr. 
SB.  1196—1198.  JB.  1219—1222. 

Äuno  tSrtfdjcr,  ®oe$es ©Triften.  14 


SOS  <3ottt)t$  Torquato  £affo.  [60 

bie  imfer  SDtdjter  crft  in  Storn  getoonnen  unb  bcm 
W>ate  ©eraffi  ju  Derbanfen  Ijatte. 

2BöI)er  aud)  ^atte  ©oetlje  ettoas  Don  Stntonio 
toiffen  f offen?  Set  Sütanfo  toar  berfelbe  mit  fetner 
©übe  genannt,  in  ben  Umlauf enben  ©agen  Don 
SEaffoS  ßiebeSgefcfjidjte  ftnelte  er  feine  $offe;  in 
ben  vertrauten  ©riefen  SEaffoS  toar  toof)i  öfter  Don 
feinem  §auj)tfeinbe  bie  Siebe,  ber  fein  anberer  als 
Antonio  ÜJlontecatino  toar,  aber  getoöljnlidj  in 
Umfdjreibungen  unb  oljne  SRennung  beS  StamenS. 
©o  toeit  bie  Ueberüeferung  Dor  ©eraffi  reifte  unb 
©oettjen  jugänglid)  toar,  Blieb  Antonio  im  ©unfct. 
6rft  in  ber  ßebenSgefdjidfjte,  bie  ©eraffi  gefdjrieben 
^at,  tritt  bie  SPerfon  beS  Antonio  beuttidj  fjerbor, 
fie  erfdjeint  in  Derfdjiebenen  3eiten  unb  in  Doffem 
ßidjte  erft  als  SEaffoS  greunb,  bann  als  fein  ©egner, 
gwletjt  als  ber  einfKuf$reid)ftc  Jftatljgeber  beS  £erjogS 
unb  ber  förmliche  2lnti=SEaffo  am  £ofe  ju  Stotara. 
SDer  Sontraft  jtoifdjen  bem  Staatsmann  unb  bem 
2)idjter,  jtoifd^en  bem  2Jiann  ber  ©efdjäfte  unb  bem 
ber  $ljantafie  mufjte  unfern  ©oetlje,  ber  beibeS 
toar,  auf  baS  tebljaftefte  ergreifen  unb  feffeln,  als 
fidö  mit  einemmale  in  SEaffoS  ßebenSgefdjid)te  biefer 
©egenfalj  Dor  i^m  auftrat.    Unb  baS  in  einem 


51]  Sie  alte  unb  bie  neue  fcaffobld&tung.  203 

3eitpunfte,  too  er  felbft  in  feinem  eignen  öeben  bie 
ßntfdjeibung  treffen  mußte  jtoifdjen  2)tdjter  unb 
Staatsmann ! 

£ter  getoinnt  feine  S5id)tung  ein  neues  SEIjema, 
bem  gemäß  ber  5ßlan  unb  bie  x$aM  gu  finbern 
finb.  3)en  1.  2Jiärä  1788  berietet  ©oet^e:  „3iu$ 
ift  ber  SPIan  Don  SLaffo  in  Drbnung".  <£r  toar 
alfo  borljer  nidjt  in  Drbnung.  5Bier  2Bod&en  früher 
Ijieß  eS:  „SCaffo  muß  umgearbeitet  toerben;  tt>as 
ba  ftefjt,  ift  ju  ntd^tS  ju  Brausen". 

Stefem  ©ontrafte  jtoifdjen  Sinter  unb  Staats* 
mann,  ben  ©oetlje  in  fidj  felbft  erlebt  fjatte  unb 
mit  ttypifdjer  Älar^ett  fcorftettte ,  mußte  nun  ber 
(Sljarafter  beS  SBfatonio  angepaßt  toerben.  Sarin 
beftanb  feine  neue  bid&terifdje  Stuf  gäbe,  gleidjfam 
baS  SJjema  ber  SIntoniobid)tung ,  toorauf  bie  alte 
Staffobidjtung  gar  nidjt  angelegt  unb  gerietet  toar. 
3*oei  fo  heterogene  SL^emata  finb  in  einanber  ju 
fügen:  „@oWje  Sütülje  ljat  ©ott  ben  3Jienfd&en 
gegeben!" 

©er  ©fjarafter  beS  Antonio,  toie  @oetI)e  ben* 
felben  in  feiner  neuen  2)id)tung  bertoertljen  toottte, 
forberte  in  ffienfart  tirie  2tuSbru<I  ein  fo  beftimmteS 
unb  fixeres  ©efcrage,  baß  er  auf  alles  „2Beidjlid)c 

14* 


204  <3oet$e8  Torquato  £affo.  [52 

unb  ^icbel^afte",  baS  bie  alte  ©idjtung,  insbefonbere 
SEaffo  felbft,  tooljl  nid)t  BtoS  in-  bcr  ©pradje,  fon* 
bcrn  in  ber  gangen  ©efüfjlStoeife  Ijatte,  ein  tool)l= 
tljuenbeS  unb  berfdjeudjenbeS  ©egengettricf)t  ausübte, 
©in  foldjer  ßljarafter  nötigte  ben  Siebter  gu  einer 
burdjgängttjen  plaftijdjen  ©eftaltung.  ©erabe 
baS  tottnfd)te  ©oetlje  felbft,  es  fear  feine  eigenfte, 
unter  ben  (Sinbrüd en  Italiens  unb  ber  Slntüe  böfltg 
gereifte  STufgaBe.  2>aljer  ift  er  innertid)  biefetn  3ln= 
tonio  fo  geneigt  unb  madjt  fid)  Ijeimtid)  gu  feinem 
SJerBünbeten,  benn  toir  werben  ©oetljen  nidjt  ein= 
räumen,  bafe  er  ben  Stntonio  „nur  als  £rofaifd)en 
ßontraft  bem  S£affo  entgegengestellt  Ijabe". 

3fd)  rebe  Ijier  t)on  htm  Urtyrunge  ber 
@oetljefd)en  2lntoniobid)tung,  nid)t  t)on  iljrer  2tuS= 
füljrung.  (Srft  toenn  id)  in  bem  legten  9lbfd)nitte 
bie  2tu3fül)rung  ber  ©fjaraftere  Betrachte,  toerbe 
idj  bie  unbeadjtete  %xa$t  gu  erörtern  Ijaben,  toie 
es  fidj  in  unfrer  ©idjtung  mit  SEaffo  unb  Antonio 
betfjätt:   ob  fie  alte  Sefannte  finb  ober  neue? 

2.  ©te  pat^ologifd^e  2)idjtung  unb  ba§  ßunfttoert. 

9*0$  lurg  bor  ber  ttmgeftaltung  festen  unferem 
©idjter  ber  $o*tgang  feines  SBerfS  babon  abgu* 


68]  5>te  alte  unb  bie  neue  fcaffobtdjhmg.  206 

Rängen,  bafe  bte  ©efü^le,  bte  er  mit  feinem  S£affo 
gemein  ^atte,  neu  Belebt  toürben  ober  toie  er  fd&erg= 
Ijaft  fagte:  „SBenn  e§  mit  ber  Fertigung  meiner 
©Triften  unter  gleiten  ©onjlettattonen  fortgebt, 
fo  mu%  i<$  mid&  im  ßaufe  biefeä  3aljre8  in  eine 
Sßringeffin  berlieben,  um  ben  £affo,  id&  mufc  mid^ 
bem  Teufel  ergeben,  um  ben  gauft  fd&reiben  gu 
fönnen,  ob  idf)  mir  gteidf)  gu  beiben  wenig  ßuft 
ffifjle,  benn  bisher  ift'S  fo  gegangen".  „SUfo  bie 
SPringeffin  unb  ben  SEeufel  tootten  ttrir  in  ©ebulb 
abtoarten." *  Slber  foldfje  ©onjtettationen  blieben 
aus.  Sluf  biefem  SBege  rüdte  ber  SEaffo  nidjt  toor= 
toärtä.  -Jttdjt  bie  $ßringeffin  fam,  fonbem  ©eraffu 
2)ret  SBodfjen  fyater  Reifet  eS:  „Staffo  mu§ 
umgearbeitet  werben;  ttaä  ba  fte^t ,  ift  gu  nid&te 
gu  brausen".  3fn  biefer  3tt>tfd&engeit  Ijatte  er 
©eraffU  2Berf  lernten  gelernt  unb  fid&  in  bie 
neuen  Slnfd&auungen  Dom  ßeben  StaffoS  t>er= 
tieft. 

2Bie  fid&  ©oet^e  nod)  eben  ben  3tort9<*ng  feiner 
©idjtung  fcorgeftettt  Ijatte,  fottte  biefelbe  burdfj  gleidfc 
artige  ßeibenf d(jaften,  b.  Ij.  patljologifd&  geförbert 


1  6.  oben  ©.  II.  3.  6.  33. 


90«  ©oetlje»  Torquato  Itaffo.  [54 

toerben.  3et}t  aber  Ijat  er  eine  Aufgabe  bor  ftd^r 
bie  fünftlertfcfc  gclöft  fein  toottte.  3)ie  alte  3£affo* 
btd&tung  toar  pat^ologtfd^;  bie  neue,  toeld&e  ben 
©fcarafter  beS  Antonio  in  fid)  aufnimmt  unb  aus 
einer  burdjgftngigen  Umgeftaltung  ber  alten  ljerfcor= 
geljt,  ifl  fünjllerifdj.  (üne  foldje  Stufgabe  fam 
unferem  3)idjter  am  ©d)luffe  feines  römifdjen  Stuf* 
entyatteS  ttrie  gerufen.  äBenn  er  ftd&  mitten  im 
SÄobfcÖtren  an  ben  STaffo  gemannt  finbet  unb  nun 
biefeS  2Berf  in  Angriff  nimmt,  fo  ift  biefer  23or* 
gätig,\  ben  er  uns  ergäbt,  tnetteidjt  meljr  ftymbolifd) 
gu  nehmen,  als  factifd).  3el}t  toar  bie  ßteBc  gu 
feinem  neuen  ßunfiibeal  für  ben  SEaffo  förberlid&er 
als  bie  Siebe  gu  einer  ^ringefjtn. 

3n  ber  (Srfenntntfj  feines  eigenen  SßefenS,  bie 
tiefer  unb  fixerer  als  alle  früheren  ©elbfibeiradjs 
tungen  fear,  lag  bie  Sßurgel  ber  (gpod&e,  bie  ©oetlje 
in  Statten  erlebt  Ijatte,  unb  bie  nun  befiftnbig  in 
iljm  forttoirlen  follte.  -ftidjt  in  ber  ^flangentoelt 
HoS  toar  ifjm  bie  (Sinljeit  unb  Urform  ber  @r= 
fd&einungen  aufgegangen,  audj  in  bem  ©etriebe  unb 
in  ben  ©eBilben  feines  eignen  SebenS.  @r  ttmfcte 
je§t,  bafe  er  nid)t  beftimmt  fei,  biefeS  unb  jenes 
unb  nod)  ein  britteS  unb  trierteS  gu  fein  unb  gu 


56]  $te  alte  unb  bte  neue  STafTobt^tung.    .  207 

tijun:  SBegebauten  gu  beaufftd^tigen,  Sfteftuten  au3« 
Sieben,  ganangen  gu  bertoalien,  93ergtoerfe  gu 
controltren  unb  allerljanb  anbete  nütjüd&e  ©efd^äfte 
auSguüben  unb  baneben  aud)  ettoaS  gu  bidjten.  @r 
fei  gum  Äünftler  berufen  unb  Ijabe  btefen  Seruf 
afö  SDidjter  gu  erfüllen.  2)ie  Söottenbung  unb 
Umgeftaltung  jener  btd&tcrifd^cn  SBerfe,  bte  er  mit 
fidj  nad)  Stauen  genommen  Ijatte,  fear  feineStoegS 
auf  ben  Umfang  unb  bie  ©egenftänbe  biefer  9lr= 
beiten  befdjränft:  fie  galt  iljm  felbft,  er  toar  iljr 
innerfter  ©runb  unb  3tt)ed,  fie  waren  bie  @r- 
fd&einungen,  in  benen  er  feine  ©elbftenttoufhmg 
tooKgog  unb  erfannte. 

darüber  l>at  fidj  ©oetfje  in  einem  feiner  SJriefe 
an  «Karl  Stuguft  mit  tooKfter  Offenheit  auSgefprodjen, 
„2)afj  idj  meine  älteren  ©adjen  fertig  arbeite,  bient 
mir  erftaunenb.  <£§  ift  eine  JUecapituIation  meines 
SebenS  unb  meiner  $unft,  unb  inbem  id)  gegttungen 
bin,  midj  unb  meine  ieljige  ©enfart,  meine  neuere 
Spanier  nadj  meiner  erjien  gurüdgubilben,  baS,  toaä 
tdj  nur  entworfen  Ijatte,  neu  auSgufü^ren,  fo  lern 
tdj  mid)  felbft  unb  meine  Sngen  unb  SBetten  redji 
fennen.  £ätte  idj  bie  alten  ©adjen  fielen  unb 
liegen  laffen,  idj  tüürbe  niemals  fo  toeit  geJomme» 


208-  (goetyeS  Torquato  £üffo.  [oft 

fein,  afe  id)  ietjt  ju  reiben  fjoffe."    ©o  fd)reibt  et 
ben  IL  3lufluft  1787, 1 

3)te  ©efjnfud&t,  bie  tf)n  nadj  Stalten  trieb,  be= 
geljrte  nic^t  allein  ba%  8anb  bet  SJtyrten  unb 
Sorbeeren,  fonbern  bot  allem  ba§  ber  toa^ren  ßunft 
yt  flauen,  tote  er  e8  gtoei  Sa^re  toor  bem  SBegtnn 
ber  Sftctfe  burd)  ben  9Jhinb  feiner  Sftignon  aus* 
gefprodjen  Ijatte: 

Äennft  bu  bag  #au«:  auf  ©öuten  ruft  fein  2)ad&, 
©8  gtängt  ber  ©aal,  ed  flimmert  baS  ©emadj, 
Unb  ÜRarmorbUbet  fteljn  unb  fe$n  ini$  an. 

3efet  toar  biefe  ©eljnfud&t  erfüßt.  „2)ie  £aut>t* 
abfidjt  meiner  Steife  toar",  fo  f djreibt  er  bem  &ergog 
ben  25.  Januar  1788,  „midj  toon  ben  £fjl)fifdj= 
tnoralifdjen  Uebeln  gu  feilen,  bie  midj  in  2)eutfdjlanb 
quälten  unb  midj  guletjt  unbrauchbar  matten;  \o* 
bann  ben  Ijeifren  Surft  nadj  toaljrer  ßunft  ju  füllen. 
3)a8  erfte  ift  mir  giemlidj,  baS  letjte  gang  ge- 
fllürft." 2 

®aS  tieffte  feiner  ©elbftbefenntniffe,  bie  er  bem 
&ergog  abgelegt  Ijat,  finbet  fidj  in  bem  S3riefe  Dom 
17.  2Jtärg  1788,  einem  ber  legten  toor  feinem  2lb^ 


«  93iieftoe$fel  I.  S3r.  37. 
*  (Sbenbaf.  I.  23r.  44. 


57]  $ie  atte  unb  bie  neue  fcaffobid&hmg.  209 

fliehe  toon  9tom.  „3d&  barf  toofyt  fagen:  td)  ljabe 
mid)  in  btefer  anbertljalbjftfirigen  ßinfamfeit  felbft 
totebergef  unben ;  aber  als  toaS?  —  als  «ßttnfiler! 
SBaS  idj  fonft  nodfj  Bin,  toerben  ©ie  Bcurt^cilcn  unb 
nutjen.  ©ie  Ijabenburdf)  3^r  fortbauernbeS,  tote 
fenbeS  Seben  jene  fürftlid&e  Äenntnifc,  toogu  bie 
SJtenfdjen  gu  brausen  jtnb,  immer  meljr  erweitert 
unb  gefd&ftrft,  tote  midO  jeber  Sförer  33riefe  beutlid) 
feljen  läßt;  biefer  ^Beurteilung  untertoerfe  idf)  mid) 
gem.  Stemmen  ©ie  mid)  als  ©aft  auf,  laffen  ©ie 
mid)  an  öftrer  ©*ite  baS  ganje  9Kafe  meiner 
(Sjiftenj  ausfüllen  unb  beS  ßebenS  genießen,  fo  toirb 
meine  ßraft  toie  eine  neu  geöffnete,  gefammelte, 
gereinigte  Quelle  Don  einer  §öl)e  nadj  Syrern 
SBitten  leidjt  ba^in  ober  borten  ju  leiten  fein! 
Störe  ©efinnungen,  bie  ©ie  mir  vorläufig  in  3ff)ren 
©riefen  ju  erfennen •  geben,  finb  fo  fd&ön  unb  für 
mtd&  bis  jur  33ef Rainung  efjrentooll!  3tdj  fann  nur 
fagen:  &err,  fyie  bin  idj,  madfje  aus  beinern  «ßnedjt, 
toaS  bu  toittft!  3eber  $lafc,  jebeS  Päfcd&en,  bie. 
©ie  mir  aufgeben,  foKen  mir  lieb  fein,  idf)  toitt 
gern  gef)en  unb  fommen,  nieberfiljen  unb  auffteljn."1 


*  ebenbaf.  I.  23r.  45. 


210  ®oet$e8  Torquato  £affo.  [68 

SBir  f  eljen  Staxl  Stugufi  toor  uns  nadj  bcm  Sttobett 
beS  ©oetljefdjen  Sllfonfo  unb  ©oetljen  felbft,  bex 
gleid)  feinem  SEaffo  ju  iljm  f^rid^t  (nur  bafc  er 
iljm  lein  Sud),  fonbem  fid)  felbft  nribmet): 

Unb  tote  bet  2ftenfd&  nur  fagen  fann:  £ie  bin  id)! 
$a6  2fteunbe  feiner  fd&onenb  fid)  erfreuen; 
©o  !ann  id)  au<$  nur  fagen:  Sftimm  es  Ijin! 

S)er  &erjog  Ijatte  in  einem  uns  leiber  nid^t 
erhaltenen  SSriefe  feine  fritifdjen  83emer!ungen  über 
ben  @gmont  ausgeflogen,  bie,  tote  ©oetlje  fanb, 
für  ben  2lutor  nidjt  feljr  tröftlidj  ausgefallen  toaren. 
@r  antwortete  barauf  in  feinem  toorletjten  ©treiben 
aus  9tom:  „©ettrife  fonnte  audj  lein  gefährlicherer 
ßefer  für  baS  @tüd  fein  als  Sie.  2Ber  felbft 
auf  bem  5J}unfte  ber  (Sjifteng  fteljt,  um  »eichen  ber 
©idjter  ftdj  ftrielenb  breljt,  bem  lönnen  bie  ©aule« 
leten  ber  5ßoejte,  tDcId&c  aus  bem  ©ebiet  ber  2Baljr= 
Ijeit  tn'S  ©ebiet  ber  ßüge  fdjtoanft,  toeber  genug 
tljun,  toetl  er  es  beffer  toetfc,  nod)  lönnen  fte  il)n 
ergoßen,  toetl  er  ju  nalje  fteljt  unb  es  toor  feinen 
Slugen  fein  ©anjeS  ttrirb."  l  33ei  biefen  SBorten 
©oet^eS  mödjte  man  mit  feinem  SEaffo  fagen:  „3dj 
Ijör'.  3lntonio  reben!" 


1  Gbenbaf.  I.  ©r.  46. 


W]  Sie  alte  unb  bie  neue  £afTobt$tutt0.  211 

'  9tun  fottte  er  ben  Seruf  be8  ÄttnftterS,  ate 
toeld&en  er  ftd&  toiebergefunben  Ijatte,  in  ben  SBerfen 
erfüllen,  bie  er  nadj  Stalten  mitgenommen  Ijatte. 
S^igenie  unb  ©gmont  toaren  abgetan  unb  fielen 
noef)  nidjt  unter  ben  ©tanbpunft  feiner  neuen 
Äunftanfd&auung ,  ben  erft  ber  Sfljfdjlufc  ber  rö= 
mifdjen  Sfyod&e  jur  boflen  Steife  gebieten  liefe.  SDen 
tJauft  jum  Äunfttoerf  gu  gehalten,  toar  eine  3luf= 
gäbe,  bie  er  gtoar  t>or  fidf)  fal),  aber  erft  fieben  3aljre 
foäter  gu  löfen  unternahm,  toobei  er  auf  @djttrierig= 
leiten  ftiefe,  bie  er  nid)t  gang  übertoinben  lonnte. l 
(Sine  ©teile  im  Sauft  toar  Don  bem  ©eift  ber 
römifdfjen  ©podfje  erfüllt  unb  aus  iljm  I)ertoor= 
gegangen :  ber  SDlonolog  in  2Balb  unb  §öljte.  SDafe 
er  nadj  anbertljatbiäljriger  (Sinfamfeit  jtdfj  als 
Äünjitcr  toiebergefunben,  tone  er  an  ßarl  Stuguft 
fdjriebf  banft  er  in  Jenem  3?auftmonolog  feinem 
©eniuä,  ber  ifjm  nid&t  umfonft  fein  Stngeftdfjt  im 
CJeuer  gugetoenbet: 

S)ann  füf)rft  bu  tnid)  jur  ftdjern  §öl)Ie,  aeigft 
SJlidg  bann  mir  felbft,  unb  meiner  eignen  Shruft 
©eljeime,  tiefe  Söunber  öffnen  fu$. 


1  93gl.  meine  ©d)tift:  ©oetlje«  Sfaujt  u.  f.  f.  2.  neu 
fcearb.  u.  toerm.  &ufL  (ßotta  1887.)  &a\>.  xm,  ©.  272  -  284. 


212  ©oetfjeä  Torquato  fcaffo.  [6a 

2hm  feinen  im  SBerfe  befinblidjen  ©idjtungen 
Blieb  bemnad)  gut  SluSffi^rung  eines  claffifd&en 
ÄunfitoerfS  nur  ber  2affo  übrig,  ber  nodj  umju= 
bitten  unb  ju  öottenben  fear,  ©oettje  fctbft  fyat 
es  als  eine  befonbere  fjügung  entpfunben,  ba& 
gerabe  biefe  Arbeit  fid)  an  baS  6nbe  feiner  ita= 
lienifdjen  ßaufbaljn  anfd&liefcen  unb  bie  erfte  fjfrudjt 
berfelben  jeitigen  foflte.  „Slaffo  toädjft  tote  ein 
Orangenbaum  fefjr  langfam.  Safe  er  nur  aud) 
tooljlfdjmedfenbe  3?rüd&te  trage!"  SDiefc  SBorte  fdjrieb 
er  adjt  ÜDlonate  nad)  feiner  Sftüdle^r.  @S  fear 
baS  einzige  mal,  baß  ©oetlje  einen  italienifdjen 
©toff,  baS  einjige  mal,  baß  er  bie  ©djidfale  eines 
3)id)terS  bramatifd)  ju  geftatten  Ijatte. 

3)as  Sntereffe,  baS  er  an  biefem  ©toff  toäljrenb 
ber  Anfänge  feines  SBerfS  naljm,  toar  patljologifdfj ; 
in  ben  ©tabien  ber  Umbilbung  unb  Stollenbung 
toar-eS  rein  fünftterifdj.  JftidjtS  ift  in  ben  8e* 
benSjuftänben,  tt)cl(3&c  ben  SnttoidElungSgang  biefeS 
SBerlS  begleitet  Ijaben,  fo  djarafterifiif dj ,  als 
bafe  mit  ber  alten  Saffobtdjtung  bie  ©riefe  an 
Qfrau  öon  ©tein,  mit  ber  neuen  bie  römifdjen 
(Siegten  £anb  in  &anb  gingen.  3)aS  bamalige 
ßiebeSglüi,    toomit    ber  lofe   ßnabe    nia)tS    ge= 


61]  3>te  alte  unb  bie  neue  Xaffobldjtunß.  213 

mein  ^otte ,  getoäljrte  ifjm  ßljartoite  toon  ©tein, 
ba§  gegenwärtige  Gljriftiane  SButpiug.  ©eine  @e= 
filmte  für  Stau  t>on  ©tein  übten  ben  unmittelbarften 
©influfc  auf  bie  SDid&tung  beS  S£affo  unb  gingen 
in  jte  über.  „2)a  ©ie  fi<$  aKe§  jueignen  footten, 
toaS  SEaffo  fagt,  fo  fjab  i<$  Ijeut  fdfjon  fo  t>iel  an 
©ie  gefdjrieben,  ba$  idfj  nidfjt  »euer  unb  nidjt  brüber 
lann."  „3d&  Ijabe  gleich  am  S£ajfo  fdjretbenb  bid& 
angebetet."  „Site  Anrufung  an  btdj  ift  gettrife  gut, 
toaS  i<$  gefdjrieben  Ijabe.  O&'ä  atä  ©cene  unb 
an  bem  Ort  gut  ift,  toeife  idf)  nid&t. " *  SBaS  id) 
unter  ©oet^e§  j>atf)ologifdjem  Slntljeil  an  feiner 
2)idjtung  fcerftanben  toiffen  triff,  lafct  fidf)  nidjt 
beutlidfjer  ausbrächen,  ate  e§  ber  ©idjter  felbft  in 
ben  angeführten  SBorten  gefagt  Ijat. 

r 

©eine  ©efüfjte  für  ©fjriftiane  35ul})iuS  übten 
auf  bie  SDtdfjtung  beS  Staffo  gar  feinen  unmittel= 
baren  (Sinftufc  unb  Ratten  if)rer  ganjen  58efd)affen= 
Ijeit  wtdj  nichts  mit  it)r  ju  t§un;  jte  nahmen 
ifjren  2Beg  in  bie  römifdjen  Plegien  unb  gewannen 
^ier  auf  eine  untoergteidjüdje  2lrt  i^ren  t>oetifd^en 
unb   fünftlerifdjen  Sluäbrud.     3)arum   ließen  fie 

1  »tiefe  ©oetljeg  an  fjfrau  t>.  ©tetn,  I.  f&x.  645,  46, 
48.    (19* '20.,  23.  Styrtt  1781.) 


214  @oe$eg  Torquato  fcaffo.  [62 

iljn  audj  für  btc  3)id&tung  bes  S£affo  gang  frei. 
9hm  Ijatte  er  nid&t  meljr  nötlftg,  feine  eigensten 
@emüiI)Sbett>egungen,  tüte  fie  ber  Sag  toedte  unb 
fteigerte,  in  biefe  2)id&tung  gu  ergießen,  fonbem 
fonnte  bie  ©fjaraftere  berfelben  aus  fid)  felbfi  IjerauS 
füllen,  reben  unb  Ijanbeln  laffen.  @6en  bieg  toar 
Aufgabe  beS  ÄünftlerS.  Um  fte  gu  löfen,  um 
bie  ßljaraftere  feiner  2)idjtung  plaftifdj  unb  freubig 
gu  geftalten,  bagu  beburfte  er  bie  bottfte  @emttt$S= 
freiljett  unb  bagu  jenes  fülle  befriebigte,  IjäuSlid&e 
©lud,  baS  bie  junge  6l)riftiane  SSufyiuS  bem  faft 
Dierjigiftljrigen  SKanne  tooljl  gum  erstenmal  in 
feinem  ßeben  toerfdjafft  ljat.  SBie  es  in  btn  „ gähnten 
Xenien"  Reifet: 

3$  toünfd&e  mit  eine  $übfd)e  JJfrau, 
2)ie  ntdjt  alle*  näijme  gar  gu  genau, 
S)o$  aber  augtetd)  am  beften  öerftänbe, 
SBie  id)  mid)  felbft  am  tieften  befdnbe. 

Sttefen  SBunfdj  ljat  (Sljriftiane  erfüllt,  benn  fie 
toerftanb  eS  am  Beften.  Sarum  ljat  aud&  ©oetljeS 
SDhittcr  /  bie  in  ber  2Belt  nidjtS  inbrünftiger 
toünfd&te,  als  bafc  üjr  6oljn  fid)  fo  tooljl  als  mßg= 
lidj  befänbe,  fte  tljre  gute  fjreunbin  unb  iljre  liebe 
Stodjter   genannt     SBenn  ©oetljes  $auSgenoffin 


68]  Sie  alte  unb  bte  neue  £affobt$hmg.  215 

unb  fpötcre  {Jrau,  toetdfje  bie  SDtitoelt  fo  gertttfl 
gefdjäfct  Ijat,  nodj  bei  ber  SRadjtoett  einer  [Rettung 
bebürfen  foflte,  fo  ift  biefe  gefdjeljen,  2)anf  bet 
©röffnung  beS  ©oet!je=2trd)it>8  unb  ber  jüngfien 
Sdjrift,  toeldje  bie  ©oetfje=@efeflfd()aft  foeben  barauS 
veröffentlicht  $at  l 

3n  betn  SJoflenbungSjaljre  unfereS  2Berf£,  too 
ber  S£ajfo  emportoudfjs  ttrie  ein  Orangenbaum,  ftanb 
baS  ljäu§ftd)e  SiebeSglüdE  ©oetfjeS  in  feiner  erften 
SBIüt^e.  Sljriftiane  JBufyiuS  l>at  auf  biefe  2)id)tung 
gtoar  feinen  unmittelbaren,  aber  tUn  beSljalb  einen 
um  fo  größeren  mittelbaren  (Sinflufc  ausgeübt, 
ba  fie  bem  2)id(jter  burd)  baS  befriebigte  ©afein 
in  glitte  unb  £au3  bie  3?ret^ett  beS  ©djaffenS 
geftdjert  Ijat.    @8  toar  baS  erfte  3M)r  nadj  feiner 

3.  Äünftters  3Ü>otfjeofe. 

©letd)  im  ©ingange  feiner  neuen  3eü,  bie  aus 
ber  römtf  djen  ®podje  Ijerborging,  gab  ©oetlje  burdj 
eine  Heine  bebeutungSüotte  2)idjtung  lunb,  in 
toeW&em  ©inn  er  lünftterifdj  ju  fdjaffen  gefonnen 


1  »riefe  ©oetfje«  Butter  an  iijren  ®o!jn,  ^rifiiane 
unb  «ufluft  o.  ©oetlje  (SDßeimar  1889). 


216  «oetfjeä  Torquato  fcaffo.  [64 

toar.  3ur  ßrgän jung  Don  „fiünftlerg  ßrbetoatfen", 
einem  fteinen  S)rama  aus  ben  Sagen  beS  ©öfc  unb 
be§SaBer%r,^rieberie^twÄttnftler33H)ot^eofeÄ, 
ein  Heines  2)rama,  baS  er  bei  einem  33efud)  in 
©otlja  in  ber  3eit  Dom  13.— 17.  September  17C9 
toenn  nidtf  ausgeführt,  bodj  ju  (Snbe  geführt  Ijat. 
6S  galt  ber  SSerljerrüdjung  ber  foaljren  Äunft 
unb  Äunfterfenntnifj.  5iur  ber  „©djüler"  fttljU 
fidj  nodj  Don  bem  JBorbilbe  abfj&ngig  unb  gefeffelt; 
nur  ber  „ßiebljaber"  ftmdjt  uod)  Don  -ftatur,  3fn* 
ftinct  unb  ©enie;  ber  toeife  „SJieifter"  Derlangt 
ju  ber  ^Begabung,  in  ber  baS  SJermögen  nmrjelt, 
gu  ber  Stnfdjauung,  bie  ben  33litf  bilbet,  ben  toaljreu 
Hunftfinn  unb  ßunftDerftanb,  ber  erft  jutn  freien 
©Raffen  befolgt: 

Sie  ftunft  Bleibt  Äunft!  SBer  fte  ni<$t  bur$a,ebad)t, 
S)er  batf  ftdj  feinen  Äünftler  nennen: 
§ier  ljilft  baS  Sappen  nid)t8;  elj  man  toaS  ©ute8  inadfjt, 
3Jlu6  man  es  erft  ted^t  flauer  fennen. 

6r  fagt  bem  ©djüler,  ber  an  feinem  SBorbilbe  f)ängt: 

2)er  3ttann  ift  öielfad^  grofc,  ben  bu  bir  auSertoäljlt, 
2)u  tannft  bi<$  lang  an  feinen  äöerten  üben; 
9tur  lerne  balb  erfennen,  toa8  tljtn  feljlt! 
Sütan  ntufe  bie  Äunft  unb  ntdfjt  baS  dufter  Ueben. 


65]  $te  arte  unb  ble  neue  fcaffobtdjtung.  217 

4.  $ie  Erneuerung  b*8  £affo  t-on  ©runb  aus. 

2Bir  tooffen  bas  33er1)ältnif$  bcr  betbeu  2)idj* 
tungen  enbgültig  feftjletten.  311s  ©oetlje  mit  bcn 
Slnfängen  beS  SßerfS  na$  Stalten  ging,  §ielt  er 
bie  fpradjlidfje  Umgestaltung  tu  bie  fjorm  reimlofer 
Sfamben  unb  bte  S5oHftänbtg!ett  ber  SluSfüljrung 
für  feine  Slufgabe.  9?ad)bem  er  neue  Stnfidjten 
toon  ber  «ßunft  burdj  fein  ßeben  in  9tom  unb  neu« 
Stnfidjten  Don  ber  ©efdjidjte  SEaffoS  burdj  ©erafft 
gewonnen  Ijatte,  erweiterte  unb  Vertiefte  ftd)  bie 
Slufgabe,  fo  bafc  iljm  audfj  bie  inljaltlidje  Ulnar* 
bettung  beS  SßerfS  als  notljtoenbig  erfd)ien.  ©ief* 
aber  griff  in  ben  Gtljarafter  ber  alten  3)id)tung 
foeit  tiefer  ein,  als  ©oetlje  fid)  anfängltdfj  borgeftellt 
Ijatte.  2Bie  er  jur  SluSfüljrung  fd&rttt,  falj  er 
balb,  ba§  ber  Umbau,  ben  er  fcorljatte,  fid)  mit 
bem  alten  ©ebäube  ntdjt  vertrug  unb  er  btefeS, 
toie  eS  tuar,  fo  gut  tote  ganj  abtragen  muffte* 
©djon  auf  ber  SRüdretfe  toon  9Mlanb  aus  madjte 
er  ben  24.  3ttai  1788  feinem  fjreunbe  Knebel  bie 
merftt)ürbige  unb  für  ben  ©taub  ber  2)id)tung 
fef)r  djarafteriftifdje  Sühttljeilung:  „3et}t  bin  idj 
an  einer  fonberbaren   Aufgabe,   an  SEaffo.    3fdf) 

Äutto  fjifd&er,  ®oetfjcs@d)riftctt.  16 


218  Qoctyeft  Torquato  Xafio.  [Oft 

fann  unb  barf  nichts  barüber  fagen.    2)ie  erjien 
Slcte  muffen  fafl  ganj  aufgeopfert  toerben." 

SBtr  erinnern  uns,  bafc  er  ben  10.  -Roöember 
1780  bei  grau  ton  ©tein  anfragte,  ob  er  iljr 
bie  erfte  ©cene  *>on  SCaffo  bringen  bürfe?  „ßs 
fd^eint  mir  rätljlidj  ju  fein,  ba$  toir  uns  nadj 
unb  nadj  mit  biefem  ©tfldE  belannt  madjen.  flnebeln 
mottf  xäj  es  fagen  laffen."  9la$  einem  meljr 
als  adjtiäfjrigen  3eitraum  f treibt  er  im  Januar 
1789  an  Änebel:  „&eut  frül)  ift  bie  erfte  ©cene 
beS  SEaffo  fertig  geworben.  3$  gelje  an  §of 
unb  lefe  jie  audj  biefen  -Jtadjmittag  bei  3*au  bon 
©tein,  wenn  nidjtS  l)inbert.  3$  möä)te  eudj  nur 
nad)  unb  nad)  mit  bem  ©tüdE  belannt  madjen  unb 
nudj  mit  eudj  gum  ©djtufc  ermuntern."  * 

SluS  biefen  urfunblidjen  2Ktttl)eilungen  erljettt, 
bafc  bie  Umarbeitung  ber  alten  ©idjtung  eine  @r  = 
neuerung  bes  gangen  ©tüds  toon  ©runb 
aus  mar.  ®S  ging,  tote  mit  bem  neuen  SBein 
unb  ben  alten  ©djlftudjen! 


1  SBrieftoed&fet  steiften  ©oetlje  unb  Änefcel.  93r.  76 
unb  85.  (6.  87  u.  93.)    @.  oben  II.  2.  6.  20. 


$te  ©cfdjldjtc  fcaffo». 


»9 


Tl.  $ie  &ef$x$te  §*flb$. 

ttrir  un§  t)on  ber  ©efdjidjte  be§  ©oetlje* 

b  gu  ber  be§  toirflidjen,   um  btc  3tyt, 

biefem  auf  jenen  übergegangen  finb,  unb 

iffereng  beiber  gu  erlernten.  SQBtr  »ollen  t>on 

en  toaljren  ©djidfalen  S£affoS  eine  georbnete  unb 

beutüdje  Storfteßung  gu  getoinnen  fudjen  unb  bann 

bie  2Bege  verfolgen,   tt)ie  bie  SEaffofage  jtdj  im 

SÄunbe  ber  ßeute  gebübet  unb  Bis  gu  ©oetlje  fort= 

gelangt,  ber  jte  umgeftaltet  unb  in  bie  5orm 

einer  fjabel  toerttmnbett  Ijat,  bie,  gteid)  ber  ^auftfage, 

fein  ©piegelbilb  ttmrbe.  Um  aber  gu  ben  ridjtigen 

Ijiftortfdjen  Slnfdjauungen  gu  gelangen,  laffen  tt)ir 

uns  ©eraffis  ßeben8gefdjid)te  SCaffoS  unb  bie  jüngfle 

SluSgaBe  feiner  S3riefe,  bie  ßefare  ©uafti  in  t)or= 

gügüd&er    Sßeife    beforgt    Ijat,     gur    Südjtfdjnur 

bienen. * 

1.    SaffoS  3eitalter. 

SMdjer  ttnterfdjieb  ber  3eiten,  tt)enn  tt)ir  ben 
itafienifdjen  Sinter  mit  bem  beutfdjen  fcergleidjen, 


1  Le  lettere  di  Torquato  Tasso,  disposte  per 
ordine  di  tempo  ed  illustrate  da  Cesare  Guasti, 
6  vol.  (Firenze  1853—1856.) 

15* 


220  ©oetM  Torquato  Xafto.  [68 

ber  jenen  gum  ©egenftanbe  einer  feiner  Ijerrlidjften 
©id&tungen  gemalt  Ijat!  3tt)ei  Sfaljrljunberte  liegen 
gtoifdjen  bem  3eityunfte,  in  meinem  Slaffo  am  §ofe 
gu  Sferrara  fein  großes  ©ebtdjt  bottenbete,  unb  bem 
3aljr,  toorin  ©oetlje  fein  ßeben  am  &ofe  ju  SBeimar 
begann,  jtoei  Sfaljrljunberte  jttrifdjen  bem  3eüs 
punite,  in  toeldjem  „ba§  befreite  Sterufalem"  ba5 
ßtdjt  ber  2Belt  erblidfte  (1581),  unb  ben  Verborgenen 
Anfängen  be§  ©oetljefd&en  SEaffo.  3m  Saljre  1779 
war  ©oetlje  in  SBeimar  nidjt  meljr  bto§  ber  ge* 
feierte  3)idjter,  fonbern  audj  in  feinem  2tmt  ber 
erfte  unb  öertrautefte  Statlj  feines  dürften;  er  toar 
ietjt  gugtetdj  ber  Staffo  unb  ber  Antonio  be8 
toeimarifdjen  §ofe§;  $mi  Sfaljrljunberte  Vorder  lieft 
ber  ^ergog  Don  O^tara  feinen  S£affo  in  baS  Sfrren* 
IjauS  be3  2lnnenIjoft)ital§  einfperren  unb  bort  un= 
barmljergtg  über  fieben  lange  3faljre  fdjmadjten, 
3m  3faljre  1586  tourbe  SEaffo  in  fjrei^eit  gefegt; 
jtoei  $aljrljunberte  fpötcr  ging  ©oetlje  nadj  Italien. 
Site  S£affo  fein  grofce§  ©poS  begonnen  Ijatte,  ttmrbe 
in  SßariS  bie  Sluttjodjjeit  gefeiert;  ate  ©oetlje 
feinen  Staffo  eben  botlenbet  Ijatte,  tourbe  in  *ßari3 
bie  Eaftiffe  geftiirmt! 

3)ie  3^it  ber  tooffenbeten  Sfletfterfdjaft  unfereS 


69]  Sie  ©eföid&te  ZaffoS.  821 

S)id)ter8  fällt  mit  bcr  gpodje  ber  franjöfifdjen 
Stetoolution  gufammen.  2)a§  3eitalter  SCaffoS,  bie 
jtoeite  §älfte  beS  fedjSjeljnten  3fal)ri)unbert3 ,  ifl 
Beljerrfdjt  fcon  bcr  ©egenref  ormation ,  toorin  bic 
römtfdje  Äirdje  ben  33rud)  mit  ber  ©podje  bcr 
Stenaiffance  öottjic^t,  bic  fic  cinft  gcförbcrt  unb 
gefdjüljt  Ijatte.  ©in  3fal)r  nad)  bcr  ©eburt  £af[o$ 
ttmrbe  bas  tribcntinif dje  ©oncil  eröffnet ;  er  mar  f djon 
ein  berühmter  Sinter,  als  es  gu  @nbc  ging.  3m 
ijijlorifdjen  &intergrunbe  feines  ßebenS  erblitfen  toir 
bie  fyamfdje  2Bettl)errfd)aft,  bie  in  Italien,  toenn 
nidjt  ©iferfüd&teleien  bajtoif^cn  traten,  ben  Sfnterejfen 
bcr  päpftüdjen  9Jtad)t  jur  ©eite  ftanb  unb  bientc. 
©eine  ßinMjeit  läuft  gleidjjeitig  mit  beut 
fdjmalfalbtfdjen  ßriege,  ber  Unterbrütfung  bcr 
beutfdjen  ^Reformation ,  ber  Siinfüljrung  ber  3fn= 
quifition  in  5fteaJ>el,  feinem  SSaterlanbe,  toeldje 
^Begebenheit  für  baS  ©djitffat  feiner  ©ttern  toie 
baS  feinige  bie  fcerberbltdtften  folgen  Ijaben 
fottte.  (Sr  »ar  ein  ßnabe  fcon  elf  Sauren,  als 
ftarl  V.  Don  bem  Stljrone  bcr  SBelt  l)erabftieg; 
fein  ganjeS  übriges  ßeben  fällt  in  bie  Slera 
SpijilijtyS  IL  Slts  in  SRom  ber  ©ieg  Don  ßepanto 
unb  bie  ?Parifer  3Korbnad)t  gefeiert  ttmrben,  Ijatte 


322  <Soet$e8  Torquato  gaffo.  [70 

ber  jugenblidje  Saffo  fdjon  bcn  erften  3)id)terruljm 
erlebt  unb  trug  in  bem  großen  SBerf ,  baS  in  ber 
Stille  gebiel),  baS  33orgefül)l  ber  fäönften  3u!unft 
in  jtdj.  ©antäte  toar  er  ber  ßiebttng  be§  £ofe3 
Don  ^errara  unb  fonnte  in  SBaljrlieit  mit  unferem 
Saffo  fagen:  „©tili  ru^et  nod)  ber  3ufunft  golbne 
SMfe  mir  umS  £aupt\ 

SBie  fönett  fottte  fid)  btefc  SBolIe  Derbunfein 
unb  feine  3ufunft  umnähtet  toerben!  Site  jtoan* 
Jtg  Saljre  nadj  ber  SSolIenbung  feines  SBerte 
©temenS  VIIL,  ber  für  bie  ©egenreformation  fo 
günfttg  geftnnt  toar,  toie  ßeo  X.  für  bit  9te= 
naiffance,  iljn  auf  bem  ©ajutol  frönen  laffen 
toollte,  toar  Slaffo,  obtooljl  erft  einunbfünfgig  alt, 
ein  lebenSmttber  ©reis,  ber  ben  glänjenben  (Eitel* 
feiten,  bie  iljm  ber  ?ßap\t  gugebadjt  Ijatte,  burd) 
ben  SEob  entging.  S)er  letjte  SBunfdj  beS  Sterben* 
ben  Jjiefc:  „SSerbrennt  alle  meine  SBerfe,  Dor  allen 
mein  Befreites  Sierufalem!" 

<£r  fear  nidjt  bloS  ber  3eit  nadj  ein  ©oljn 
ber  firdjlidjen  3tefiauration3e:podje,  fonbem  aud) 
innerlich  Don  iljr  abhängig,  iljren  Slutoritdten  in 
ben  $erfonen  ber  SJJäpfte  unb  ©arbinöle  bemtttljtg 
ergeben,    Don   iljren  Sbealen  betoegt,    Don  btm 


71]  ®U  ®mi$tt  XafioSL  22» 

rüfttgften  unb  toirffamften  iljrer  Sßerfjeuge,  beit 
Sefuiten,  in  früher  «Kinbljeit  ergogen  unb  fdjtt>ftr= 
merifdj  angeregt,  fcon  ber  Snquifttion ,  bie  in  et* 
neuter  Söiadjt  auftrat,  Bis  in  fein  3nnerfte8  ein= 
gefd)üd)tert  unb  forgfältig  befltffen,  iljren  33erbad)t 
ju  bermeiben.  ©ein  Befreites  Sferufalem  toar  bon 
ben  firdjüdjen  3eitibeaten  infoirirt,  e§  tooflte  einen 
neuen  fiegreidjen  «ßreugjug  gegen  bie  ^ctnbc  ber 
$trdje  führen  unb  beS^alb  aud)  im  bogmatifd&en 
©inne  lirdjHd)  correct  fein.  2)iefer  3ug,  otyne  toel= 
djen  bie  ©emütf)§art  toie  bie  ©djicffale  beS  tta- 
lienifdjen  2)td)ter§  nidjt  gu  berfteljen  finb,  Jmfcte 
toenig  gu  bem  ©oetfjefdjen  !£affo  unb  blieb  Don 
unferem  2)id)ter  unbeachtet. 

<£§  gab  eine  lünfilerifd&e  Slufgabe,  bie  im 
©eift  ber  italienifdjen  Stenatffance  gelegen  unb  in 
ber  italienifdjen  Sidjtung  beS  fed)§gel)nien  3Mjr* 
fjunberts  nod)  gu  löfen  toar,  fie  Ijatte  nichts  mit 
ben  £enbengen  ber  ftrdjlidjen  ©egenreformatiwt  gu 
f Raffen  unb  fear  fritfjer  als  biefe:  ein  @:po§ 
na<$  bem  50iufter  ber  Sitten,  na$  bem  JBorbilbe 
be§  §omer  ober  tnelmeljr  be§  SJirgil,  ber  für  bie 
Sinter  Stalieng  ba&  emljeimifdje  SSorbttb  toar 
unb   fdjon    ben    erften   unb    tieffinnigften    biefer 


22i  @ot$eS  Torquato  fcaffo.  [7» 

2)id&ter  burdj  bie  Untertoelt  geführt  Ijatte.  <S& 
Ijanbelte  fid)  um  ein  neues  itaüenifdjeS  @j>o§, 
nidjt  als  bunte  2)id)tung,  fonbern  afe  einljeittidje& 
ßunfttoerf,  öon  einer  ©runbibee  getragen,  fcon 
einer  £auptljanbtung ,  ber  alle  ©jrifoben  unter« 
georbnet  fein  fotften,  erfüllt,  in  aßen  feinen  Steilen 
nadj  einer  fünjlterifdjen  Sftidjtfdjnur  ^tanmäfeig  ber* 
Initpft  unb  georbnet. 

SDtcS  toar  bie  Aufgabe,  toetdfjt  Torquato  SEaffo- 
fdjon  als  ©tubent  in  5ßabua  erfannt  Ijatte  unb  in 
feinen  „discorsi"  tljeoretifd)  feftfteffte.  SBenn  fid) 
ein  @t>o§  fdjaffen  liefe,  beffen  Sau  nadj  ben  3te* 
fteln  beS  SlriftoteleS  gefügt  unb  beffen  &elb  bem 
neu  ertoadjten,  friegSluftigen  unb  fiegreidjen  ©tau- 
benSeifer  ber  $irdje  gerndfe  toar,  fo  fonnte  bie 
Aufgabe  ber  itatienifdjen  ©idjtfunfi,  tirie  biefelbe 
im  Saufe  be§  fedjSjefjnten  SaljrfjunbertS  fid)  ent* 
toidCctt  Ijatte  unb  in  ber  jtoeiten  §älfte  beffelben 
beftanb,  nidfrt  beffer  gelöft  toerben.  Torquato  Slaffo 
erfdfjien  unb  madjte  ©ottfrieb  fcon  33ouiKon  ju 
feinem  gelben: 

S)cn  Sfclb^crrn  fing'  id)  unb  bie  frommen  2öaffenf 
@o  beS  ©xlöferä  fjoljeg  ©rab  befreit. 


73]  Sie  Gkfd&id&te  £affo».  226 

3»nf  djen  S£aff  öS  befreitem  Seruf  alem  unb  StrioftoS 
rafenbem  Sftolanb  lag  ein  IjalbeS  3al)rl)unbert.  Sie 
eptfd^en  3)idjter,  bie  jenem  Vorangingen,  Ratten  iljre 
©toffe  aus  bem  farüngifdjen  ©agenfreife  unb  ben 
f))anifd5 s  franjöjtfdjen  8titterromanen  gefdjöpft : 
SBojarbo  Bradjte  ben  in  Siebe  entbrannten  Sftotanb, 
Striofto  ben  aus  ßiebe  toaljnftnnigen,  33ernarbo 
Staffo  in  einem  (SfyoS  Don  Ijunbert  ©efängen  ben 
SlmabiS,  toeldjem  Torquato  SEaffo  ber  ©oljn  mit 
feinem  erften  Gl>oS,  bem  9tinalbo,  auf  bem  fju&e 
nachfolgte. 

3)amalS  toar  ber  Sürftenljof  ber  @fte  in  ^errara 
3tatien3  erfter  SDhifenfitj :  3)er  ©raf  Sojarbo  lebte 
am  &ofe  beS  6rcole  L,  3lriofto  biente  ben  ©oljnen, 
bem  ©arbinal  3ppoüto  unb  bem  §erjog  Sflfonfo  L, 
Torquato  S£affo  biente  ben  <£nfeln,  bem  ©arbinat 
ßuigi  unb  bem  §erjog  Sttfonfo  IL,  mit  bem  ber 
©tamm  ber  @fte  in  ^errara  erlofd). 

SBer  ift  größer:  Slriofi  ober  STaffo?  2)iefe 
{frage  ift  in  Italien  bis  fjeute  berebet  toorben,  toie 
bei  uns  bie  SBergleidjung  ätoifdjen  ©oetlje  unb 
©djiKer.  @in  llnterfdjteb  fpringt  fogtetdj  in  bie 
Slugen:  2lrioftoS  @poS  befielt  in  bem  bunten, 
fdjnetten  2Bed)fel  Don  Spifoben  unb  bilbet  ben  lofen 


226  <Boe$c9  Torquato  fcaffo.  [74 

Stoben,  ber  fie  toerinüpft;  StaffoS  @po8  ifl  im  ge- 
fliffentlidjen  ©egenfalje  baju  ein  abftdjt8tootfeS, 
planmäßig  gebadjteS  unb  eingerichtetes  Äunfhoerfc 
2)tefen  8ug  fannte  ©oetfje  fefyr  rooljl  unb  !&&t  bie 
SPrinjjeffm  e§  bem  SBerfe  StaffoS  nadjrüljmen: 

63  f ott  fidj  fein  (Bebtet  gum  ©anjen  rünben : 
6r  tritt  nt$t  3Jl&l)r<$ett  über  3Jta1jr<$ett  fj&ufen, 
2)ie  xetgenb  unterhalten  unb  sulefct 
SDßic  lofe  SDßorte  nur  oerftingenb  tauften. 

2.  SaffoS  3ugenb. 

Torquato  pflegte  brei  ©täbte  als  bie  Orte  feiner 
£erfunft  ju  nennen:  SBergamo,  bie  £eimatlj  be§ 
bäterlidjen  ©efd)led)t8  toon  altem  Slbel,  Neapel,  bie 
beS  mfitterlidjen,  unb  ©orrent,  too  er  felbft  ben 
11.  2Jtörj  1544  geboren  toar.  ©ein  95ater  toar  früfc 
jettig  in  bie  ©ienfte  be§  dürften  ^tränte  ©an- 
fe&ertno  tum  ©alerno  getreten  unb  beffen  erfter 
©ecretär  unb  ©efdjäftsfüljrer  geworben,  ©er  5&*fl 
toar  einer  ber  mädjtigften  unb  populdrften  ©rofcen 
be8  $önigreid)§  Neapel.  Sernarbo  Staffo  Ijatte 
iljn  auf  bem  ßriegSguge  nad)  SCuniS  unter  ßarl  V. 
begleitet  unb  ging  mit  iljm  an  ben  §of  beS  ÄaiferS 
nad)  Nürnberg,  tooljin  bie  Neapolitaner  ben  dürften 
an  ber  ©pitje  einer  Deputation  gefenbet  Ijatten, 


76]  Sie  (SJefd&td&te  £affo8.  227 

um  bie  (Sinfüljrung  ber  3fnquifttion  rütfgftngig  gu 
madfjen,  bie  baS  Voll  in  Stufruljr  oerfetjt  Ijattc. 
(1547).  2)te  Deputation  tourbe  lange  Eingehalten 
unb  enblid)  oljne  toirflidjen  (Srfolg  toerabfdjiebet 
5Die  ttngufriebenljeit  toudjS,  unb  bie  tJeinbfeligfeit 
beS  SftceiönigS  ?ßietro  bi  SEolebo  braute  guletjt  ben 
dürften  fo  toeii,  bafe  er  jum  Äönige  Don  ^ranl* 
reid),  bem  (Srbfeinbe  beS  ÄaiferS,  überging,  um 
bie  (Eroberung  9leat>efä  burdj  frangöftfdfje  SBaffen 
Ijerbeigufttljren. 

2Iud)  Bei  btefem  äufcerften  Stritt  blieb  SBernarbo 
SEaffo  an  feiner  ©eite.  2)er  Sttrft  tourbe  als  £odfj* 
toerrätljer  geästet,  gum  SEobe  Oerurtljeitt  unb  fein 
Vermögen  conftScirt;  bie  ©träfe  ber  Verbannung 
unb  GonftScation  traf  audj  feinen  erften  ©iener, 
ber  nun  gegtoungen  toar,  im  Slenb  unb  fern  fcon 
bm  ©einen  gu  leben,  ©eine  ©attin,  eine  $orgia 
bei  9toffi,  toar  mit  iljren  beiben  Äinbem  Cornelia 
unb  Torquato  nad)  Neapel  gegangen  unb  tourbe 
jetjt  als  bie  5rau  eines  Verbannten  Don  iljren  Ijab= 
gierigen  JBrübern  iljreS  Vermögens  beraubt,  ©o 
erlebte  Torquato  nod)  im  «Knabenalter  baS  ©lenb 
unb  bie  oöllige  Verarmung  ber  61tern,  bie  audj 
tljn  traf  unb  bte  Quelle  Dieter  ßeiben  tourbe.    <£r 


228  ©oetljeg  Torquato  £affo.  [7ff 

falj  jid)  Dorn  ©djidffal  Derurtljeilt,  ben  6dfjulj  ber 
©ro&eu  gu  bebürfen  unb  auf  feinen  flöteten 
Säuberungen  unb  Srrfaljrten  fcon  ben  SBoIjltljaten 
ber  ©aftfreunbfdjaft,  ber  £oftritäler  unb  Älöfter  gu 
leben.  Slfe  er  geljnjäljrig  Don  ber  9Jtutter  Slbfdfjieb 
naljm,  fagte  fie:  „3$  »erbe  btd)  nie  toieberfeljen!" 
Sie  ftarb  gtoei  Saljre  fyäter:  am  Uebermafj  be& 
©dfjmergeS,  toie  iljr  ©atte  toofyt  mit  9ted)i  glaubte, 
©d&on  in  ber  ßinb^eit  fdjtoebte  ein  tragifdjeS 
©efdjitf  über  bem  Sinter,  ber  in  Statten  ber 
größte  feines  3eitalterS  »erben  fottte.  Unb  eS  ift 
tief  unb  ridjtig  gebaut,  bafc  ber  ©oetljefd&e  SEaffo 
fidj  gleidfj  in  feinem  erften  Stuftritte  öon  biefem 
tragifdjen  ©c&idffal  ergriffen  geigt: 

©o  ljatte  midj  baS  eigenftnn'ge  ©lücf 

3Jlit  grimmiger  ©ctoalt  bon  jt$  gefto&en: 

Unb  gog  bie  fd&öne  SBelt  ben  f&lxd  be8  Knaben 

3Jlit  iljrer  ganzen  Sffitte  Jjerrlidj  an, 

©o  trübte  balb  ben  jugenblic&en  ©inn 

3)er  treuem  ©Item  unöerbiente  9totlj. 

Eröffnete  bie  ßtype  ftdj  ju  fingen, 

©o  f(o&  ein  traurig  Sieb  öon  iljr  Ijerab, 

Unb  t$  begleitete  mit  leifen  %'önm 

S)e8  SBaterS  S^merjen  unb  ber  Sülutter  dual. 

3fn  9leapct  Ratten  bie  3efuiten  ben  «Knaben  brei 
Saljre  lang  unterridjtet  unb  fdjon  mit  neun  Sfa^ren 


77]  Sie  ©ef4i<$tt  SaffoS.  22d 

gu  bem  ©enufj  beS  Ijeiligen  9Jtal)le8  gugelaffcn, 
topbei  jtc  feine  Seele  mit  bem  gangen  ©djauer  be8 
9Jtyfterium8  gu  erfüllen  genmfet.  3)a  Sernarbo 
SEaffo  bei  ben  Sftepoten  5ßaul8  IV.  ©djufc  gefunben 
Ijatte,  fo  Keß  er  ben  ©oljn  gu  ftd)  nad)  Sftom 
fommen  unb  ijier  feine  2lu8bilbung  in  ben  alten 
©pradjen,  bie  er  mit  erftaunlidjer  ßeidjtigfeit  er* 
lernte,  fortfefcen.  5piöt}lid)  bro!)te  ein  ßrieg  gttrifdjen 
Spanien  unb  bem  ^topfte  auggubredjen ,  toe8l)alb 
Torquato  fd^teunig  nad)  SBergamo,  ber  ©tabt  feiner 
träterlidjen  SBertoanbtfdjaft,  geflüchtet  nmrbe,  too  er 
aber  nur  ein  IjalbeS  3a^r  blieb;  benn  ber  §ergog 
t)on  Urbino,  ber  bem  SBater  günftig  gefinnt  toar, 
tofinfd)te  iljn  gum  ©pielgenoffen  feines  ©oljneS. 
Torquato  lam  im  Styril  1557  unb  blieb  gtoei 
Saljre,  bie  er  t^eite  in  $ßefaro,  tljeilä  in  Urbino 
gubradjte,  an  bem  §ofe  beS  £ergog8;  ^ier  ttmrbe 
er  in  ber  9JiatI)emattf  unterridjtet  unb  in  ben  ritter= 
lid&en  fünften  gebilbet,  in  beren  2lu8übung  er  eine 
toorgüglidje  ^ertigfeit  getoann.  ©ein  ©jrielgenoffe, 
ber  (Srbpring  granceSco  3ttarta,  nadjmals  ber 
©emaljt  ber  *Pringeffin  ßueregia  b'gfte,  betoaljrte 
iljm  feine  Qfreunbfdjaft,  unb  bie  Srtefe,  bie  SEaffo 
an  iljn,  als  er  fdjon  £ergog  t>on  Urbino  fear,  in 


280  ©oct&eä  Torquato  Saffo.  [78 

ben  Sagen  beS  UnglüifS  gefdjrieben  fyat,  finb  für  bie 
biogra^ifdje  Unterfudjung  Don  großer  Sßidjtigfeti 

SDer  häufige  DrtötDed^fel  be3  SSaterS,  tüte  eg  bte 
JBerbannung  unb  baS  33ebfirfmf$  ber  3uflud)t  mit 
ftdj  brauten,  gog  ben  be$  ©oljneS  nadj  fidj.  Semarbo 
Ijatte  fein  ©|)o8  „ß'Slmabigi"  bollenbet,  ba§  gu= 
erft  bem  Könige  Don  {Jfranfreidj  getoibmet  toerben 
foflte,  bann  aber  bem  Äönige  SßljiliM)  H.  öon 
©panien  getoibmet  tourbe,  in  ber  Hoffnung  anf 
feine  Segnabigung.  Sfobeffen  blieben  alle  ©djritte, 
bie  in  biefer  2lbftd)t  öon  feiten  beS  SßaterS  tote  be§ 
©oljneS  berfudjt  tourben,  umfonft. 

2>ie  benejtamfdje  3(fabemie  tottnfdjte  ba3  ©poS 
83ernarbo8  in  iljren  ©Triften  IjerauSjugeben,  fie 
berief  ben  ©idjter  nad)  SSenebig  unb  ernannte  iljn 
gu  i^rem  ©ecretar.  Torquato  folgte  bem  SSater 
unb  Ijalf  bemfelben  bei  ber  2)urd()fid)t  unb  2)rud£= 
legung  feines  SßerfeS,  ba8  im  SSaljre  1560  er* 
fdjien.  3feljt  ftubirte  er  au<$  bie  SB&ter  ber  ita= 
tienifdjen  ©pradje  unb  ßiteratur:  Sante,  ^ßetrard^a 
unb  83occaccio,  unb  Vertiefte  ftd)  befonberS  in  bie 
SBerle  beS  erften;  er  las  bie  ©efänge  ber  «divina 
commedia»  nid&t  bIo$,  fonbern  lebte  ftdj  in  fie  hin- 
ein, inbem  er  fie  abfc&rteb  unb  feinem  ©ebädjtnifc 


79]  $ie  (Skfatc&te  Xafioi.  281 

einprägte,  was  gu  feiner  poetifd&en  StuSBübung 
fe^r  tuet  Beitrug.  2)ie8  toar  eine  toertljbotfe  fjrud&t 
feines  benegianifdjen  Stuf  entljatts ,  ber  bom  ftrül)* 
jal)r  1559  bis  gum  &erBfi  1560  gebauert  Ijatte. 

Sie  3rit  ber  afabemifdjen  ©tubien  toar  ges 
fommen.  Sem  toäterlidjen  SBunfdje  gemftfc  fottte  er 
bie  juriftifdje  ßaufbafjn  madjen  unb  fidj  in  Sßabua 
fcagu  Vorbereiten.  Sftur  ein  IjalBeS  3faljr  ertrug  er 
bie  9ted)t3ftubien,  bann  liefe  er  fte  fallen  unb  folgte 
ber  eigenen  Steigung,  bie  Ujn  jur  5ßf}tfofol>l)ie  unb 
©idjtfunft  gog.  <£r  las  ben  £)*>ib  unb  Slrioft, 
Ijörte  Bei  ©igonio  bie  SJoriefung  de  arte  poetica 
unb  erlannte  fdjon  bamals  jene  geiigemä&e  2luf- 
gaBe  ber  italienifdjen  $Poefie,  nad)  toeldjer  bie  er= 
gäljlenbe  2)id)tung  fttnftterifdj  gu  geftatten  toar. 
SBinnen  gef)n  SJionaten  fdjrieB  er  fein  erfteS  <Sj)oS 
Sftinatbo,  bas  mit  (Sintoißtgung  beS  SSaterS  im 
Styril  1562  erfdjien.  ®er  23ater  faf)  fidj  im  ©oljn 
übertroffen  unb  biefen  auf  ber  33aljn  beS  OtuljmeS; 
er  felBft  fanb  enblidj  eine  fixere  3uflud)t  Bei  bem 
§ergog  ©ugüelmo  t>on  SJtantua,  in  beffen  ©ienften 
er  1569  ftarB. 

Torquato  erntete  mit  feinem  Slinalbo  fogletdj 
ben  größten  SBeifaK  unb  galt  als  ber  Sttdjter  ber 


232  @oetfje8  Torquato  Zafio.  [80 

3ufunft.  2)er  p&pfttidje  ßegat  berief  bett  adfjtgeljn» 
irrigen  3>üngting  an  bie  ttntoerfität  ^Bologna, 
too  er  burd)  SSorlefungen  gum  Stuffdjnmnge  ber 
gefunfenen  ©tubien  Reifen  foflte;  balb  aber  tinirbe 
tljm  ber  2lufentfjalt  Verleibet,  ba  er  in  ben  im- 
geregten  SBcrbad^t  geraten  toar,  5ßaSquinate  ber* 
fafet  gu  Ijaben.  @r  t>erlte§  Sologna  im  ffibtuat 
1564  unb  lehrte  nad)  5ßabua  gurüd,  too  fein 
fjfreunb  ©ctyione  ©ongaga  (fpäter  5ßatriard)  Don 
3ferufalem,  gutefct  ßarbinal  ber  römifdjen  Äirdje) 
unter  bem  tarnen  ber  «Eterei»  eine  afabemtfdje 
©efeflfdjaft  in  feinem  §aufe  geftiftet  Ijatte.  SEaffo 
nannte  fidj  als  SJtitglieb  biefer  ©efeÜfdjaft  „pentito" 
(ber  Reuige),  toeit  er  es  bereute,  Sßabua  toertaffen 
3U  Ijaben.  ©eine  ga!)lreid)en  ©riefe  an  ©etytone 
©ongaga  finb  eine  feljr  ergiebige  fjunbgrube  fttr 
ben  S3iogra^en. 

2)aS  Ijolje  3iel,  toefdjeS  iljm  toorfdjtoebte,  fear, 
ber  JBirgit  nidjt  bloS  feines  äJatertanbeS,  fonbern 
ber  djriftlidjen  2Mt  gu  toerben.  3m  ©runbe  gab 
es  nur  ein  SOjema,  toeldjeS  biefer  Aufgabe  ent* 
fyradj,  ba  eS  mitten  aus  bm  djrifttidjen  &eroens 
ttjum  gefdjötft  fear:  bie  ^Befreiung  SerufalemS 
burd)  bm  erften  «ßreuggug,  an  beffeu  ©pitje  ©ott- 


i 


61]  2>te  ®tW$tt  Saffo*.  «» 

fricb  ftanb,  in  S£affoS  2Iugen  baS  3beal  eines 
(fjrijilidjen  2leneaS,  ein  9Jlufter  ritterlid&er  SEugenb 
unb  ^eiliger  ©efinnung.  2>aS  grofce  @J)08  foKte 
„©otifrebo"  Reißen.  2)er  5JJtan  toar  in  $abua 
gefaxt,  ber  Anfang  ber  SluSffiljrung  in  ^Bologna 
gemadjt  toorben. 

@r  Ijatte  feine  bid&terifdje  ßaufbaljn  mit  bem 
Sftinalbo  gtängenb  begonnen,  eine  größere  eröffnete 
iljm  fein  ©otifrebo.  2fl>er  er  fear  arm  nnb  mu&te 
bei  feinem  3htljme  ju  ©afte  geljen,  b.  %  bei  benen, 
bie  im  ©tanbe  toaren,  ben  Sinter  ju  toürbigen 
unb  ju  belohnen.  Unter  ben  italienifdjen  dürften* 
gefriedetem  toaren  jtoei,  bie  in  ber  @d)ät}ung  unb 
©rtoerbung  geijiiger  ©röfcen  wetteiferten;  in  beiben 
narrte  bie  SCxabitiort  iljrer  Käufer  ettoaS  t>on  ber 
©efinmtng,  bie  ©oetlje  feinem  SflpIjonS  in  ben 
3Jlunb  legt:  „Sin  gfelb^ert  oljne  &eer  fc^etnt  mir 
ein  Surft,  ber  bie  SEalente  nidfjt  um  ftd)  toer= 
fammett".  @S  toaren  bie  SJiebici  in  Stören  j  unb 
bie  @fte  in  fjerrara :  biefe  eines  ber  ftlteften 
Sairfiengefd&ledjter ,  jene  eines  ber  jüngften,  baS 
aber  an  mäcenatifd&em  SRuljm  mehrere  Saljrjeljnte 
toorauS  Ijatte.  3Jun  toax  baS  neue  ©efdfjledjt  audj 
in  ber  ^ürftentofirbe  &em  ößwt  nidjt  Mos  gteidK 

Äuno  8ftf$et,  ©oetfjc*  ©Triften.  16 


234  <9oetfje3  Torquato  fcaffo.  [82 

fonbern  jufcorgefommen ,  tooburdj  Bei  btefem  bie 
gereijten  Smpftnbungen  Dcrfd^ärft  ttmrben.  6S  er= 
ftttterie  ben  vierten  £erjog  aus  bem  ©tamm  ber 
@fte,  bie  f$on  feit  3faf)r1)unberten  als  SDtarfgrafen 
geljerrfdjt  Ratten,  bafc  ber  Stopft,  fein  ßeljnSljerr, 
bem  erften  £erjog  ber  9Jtebici,  bie  erft  feit  einem 
3Kenf$enalter  bie  gürftenttnirbe  befafcen,  ben  Xitel 
eines  ©rof$erjogS  erteilte;  er  felbfi  erhielt  gleid)= 
zeitig  toie  jitr  (Sntfdjäbigung  baS  *ßräbicat  „§of)eit" 
(1569).  SBir  muffen  biefe  eiferfüdjtigen  unb  ge= 
xetjten  Stimmungen  Beamten,  ba  fie  auf  bie 
©djidffale  SEaffoS  eingetoirft  Ijaben,  unb  gtoar  triel 
berberblidjer,  als  man  früher  geahnt  f)at. 

3.    2affo§  glficfltdje  3aljre  in  Sfcrrara. 

©eit  einem  Ratten  Sa^r^unbert  lonnten  bie 
@fte  fid)  rühmen,  bafc  bie  größten  Sinter  ber 
3eit  an  iljrem  §ofe  gelebt  Ratten.  Stuf  ben  9tatl) 
beS  JBaterS  toibmete  Torquato  feinen  9tinalbo  bem 
©arbinal  ßuigi  ba  @fte,  bem  Sruber  beS  §erjogS 
Sllfonfö  IL,  unb  trat  im  3aljr  1565  in  beffen 
SMenfte.  ©ie  nädjften  geljn  3aljre  toaren  feine 
glücfltd)ften;  bann  begannen  bie  Trübungen  Don 
aufcen  unb  innen,  unb  es  folgten  geljn  bunlle  Saljre 


83]  $te  @ef$i$te  Saffo».  235 

ber  SOföf^eÜigfeiten,  2Bal)nge&ilbe,  3n:fal)rten  unb 
einer  langen,  fdjredlidjen  ©efangenfdjaft;  juletjt 
nodj  einige  3aljre  ber  ßetben,  ber  Sßeltentfagung 
unb  ßäuterung,  unb  bie  SEragöbie  feines  ßebenä 
toax  ju  @nbe.  3m  IRüdCblicI  auf  ben  brei&ig= 
irrigen  ©ang  ber  ©d)i<Ifale,  bie  er  feit  bem  Sage 
feiner  9lrt!unft  in  fjerrara  erlebt  Ijatte,  fonnte  er 
mit  IRcd^t  fagen:  „Sfteine  ^aljrt  toar  umgefeljrt, 
tote  bie  be§  ©ante:  erft  ba§  5ßarabie8,  bann  bie 
£5Üe  unb  juletjt  baS  gfegefeuer". 

®a  {JfenQta  ein  :j3äj)fttidje3  Seijen  toar,  fo  ge* 
Ijörte  bie  firdjlidje  ©emotion  gu  ben  ©itten  be§ 
regierenben  &aufe8,  nur  bafc  ftd)  biefetbe  in  ber 
erften  &älfte  be§  3faljrl)unbert§  toeniger  ftreng 
au&prägte  afö  in  ber  jtoeiten.  Sie  3eiten  be§ 
2lrioft  toaren  nod)  anbere,  als  bie  be§  £affix 
3tt>ei  3fal)re  nadj  htm  SEobe  beS  Slrioft  lonnte  6al= 
bin  am  §ofe  beS  (Srcole  II.  in  ber  SSerborgen^eit 
einige  SJionate  toertoeilen  unb  bie  ^ergogin  9tcnatat 
bie  Slodjter  ßubtmgS  XII.,  ju  feinem  ©lauben 
belehren  (1535).  2113  tljre  ßetjerei  entbedt  tourbe, 
entjog  man  bie  (Srjieljung  ber  SEödjter  allem 
mütterlichen  Sinflufe.  SllS  aber  Sflfonfo  n.  jur 
^Regierung  lam  (1559),  toar  bie  ©egenreformation 

16* 


2S6  GtoetfjeS  Xoxqnato  Xafio.  [84 

in  Stalten  unb  bic  3fnquifttion  in  Senrara  fdjon 
fo  getoaltig,  bafc  bcr  ^crgog  ftdj  genötigt  falj, 
bic  eigene  SJtutter  toegen  iljreä  ©lauBenS  ju  ber* 
bannen,  fte  feljrte  nad&  Qfranfreid)  jurfidf,  too  fie 
in  iljrent  ©d&loffe  3flontargiS  flarb  (1575). 

Sttlfonfo  H,  ber  Snfel  bet  ßuere^ia  93orgia,  bet 
üEodjter  SHejanberS  VL,  ber  ©oljn  ber  cafoimftifdj 
gefinnten  Renata  bon  ^ranfreidj,  bermftljlte  fid) 
in  jtoetter  Slje  mit  ber  ©rg^erjogin  föaxbaxa  bon 
Defterreid),  ber  Stodjter  be§  ÄaiferS  ^erbinanb  L, 
bie  ben  2.  ©ecember  1565  iljren  feierlidjen  Ginjug 
in  ^errara  ijtett.  2)amal8  ttmrben  jene  glänjenben 
Sefte  unb  Storniere  gefeiert,  bon  benen  ganj  Stauen 
foradj,  unb  beren  3*uge  Torquato  Staffo  toar,  feit 
einigen  SBodjen  in  ben  SDienftcn  be§  SarbinalS  als 
einer  feiner  ßbelteute. 

®ie  nodj  un&ermäljlten  ©djtoeftern  beS  §ergog8 
toaren  ßueregia  unb  ßeonora  b'6fte.  ®iefe  tt)ar 
in  bem  Saljre  geboren,  toorin  iljre  SDhttter  ben 
©tauben  6albin3  angenommen  Ijatte,  fie  n>ar 
breifcig,  als  ber  einunbjtoanaigiäljrige  Staffo  am 
£ofe  iljreä  SöruberS  erfdjien.  Sie  ^rinjeffin  ßuerejia 
Dermalste  fid)  mit  bem  gr&prinjen  bon  ttrbino,  ber 
fünfjeljn  Sfafjre  jünger  toar  als  fie,  unb  lehrte  nadj 


86]  Sie  Gkfd&ld&te  SaffoS.  237 

einet  furjen  finberlofen  6lje  im  Dctober  1574  für 
immer  nad&  Qferrara  §urü<f,  too  fte  fdfjon  toftljrenb 
ber  beiben  legten  Sfa^jre  meifienS  gelebt  ^attc 
3HS  nadf)  bem  Stöbe  iljreS  JBruberS  bte  @fte  auf= 
fyörten  £er  joge  öon  ^erratet  ju  fein,  ba  ©temens  Vm. 
mit  bewaffneter  £anb  baS  ßeljen  jurüdEnaljm,  biente 
fie  ben  päfcfUidjen  Sntereffen  unb  $interlief}  iljr 
SJermögen  ben  -Kepcten. 

SBir  bliden  nadf)  Staffo.  SBemt  man  ben  Stob 
feines  SSaterS  ausnimmt,  ben  er  auf  baS  fd&merj= 
tiefte  empfanb  unb  beftagte,  fo  geigte  ftdj  an  feinem 
£immel  faum  ein  trübes  ©etoölf.  6r  ttmrbe  balb 
ber  ßiebling  ber  fürftlid&en  ©d&toeftern  unb  beS  £er* 
jogS,  bie  Settmnberung  unb  greube  ber  Sßelt,  felbjt 
lebensfroh  offen  unb  t>ott  bidfjterifdfjer  ßuft.  -Katürliclj 
gab  eS  audj  bamals  fd^on  mifcgünftige  Stimmungen 
genug,  aber  fein  ©lud  toar  fo  DoÜgültig,  ba%  es 
ben  !Jieib  in  Saum  Ijielt  unb  einfd&ränfte,  er 
regte  ftdj  tooljl,  aber  rührte  fidf)  nidfjt.  S)iefe  3eü 
im  ßeben  StaffoS  Ijat  ©oetlje  treffenb  mit  ben 
SBorten  feines  Antonio  gefdjilbert: 

S)u  geljft  mit  botten  ©egeln!    ©<$etnt  eS  bod), 

3)u  bift  gettoljnt  au  fiegen,  überall 

S)ie  äöege  breit,  bte  Pforten  toeit  ju  fmben. 


288  <Stoet$c8  Torquato  Xafio.  [86 

Sin  bct  Slf abernte  gu  Sferrara  blühte  bie  J)Ia= 
tonifdje  SPfjtlofopfyie,  unb  ba3  bielfeitige  SBefen 
be8  ßroS,  ber  in  iljr  eine  fo  toidjtige  JRotte  ftrielte, 
getoäljrte  einen  fel)r  toittfommenen  unb  beliebten 
©toff  gu  SBefen,  bie  in  ©treitreben  erörtert  ttmrben. 
3m  3aljr  1568  Ijatte  SEaffo  fünfgig  fotdjer  «con- 
clusioni  amorose»  aufgestellt,  toorüber  er  brei 
Soge  lang  gut  @rgöt}ung  unb  3ufrtebenljeit  aller 
in  ©egentoart  beS  §ofe§  nidjt  HoS  bor,  fonbern 
audj  mit  2)amen  biäputtrte. 

©r  gehörte  gu  ben  £>au§genoffen  ber  fürftlid^cn 
JJamtlie.  ©er  Garbinal  naljm  iljn  im  3fal)re  1571 
auf  feiner  Jtrc^enpolitif^en  Steife  mit  fidj  nadj 
fjfranfreidf)  unb  ?Pari§,  »o  £affo  ben  §of  ßarlS  IX. 
falj,  audj  ^ierre  SRonfarb,  ber  an  ber  ©pitje  ber 
neuen  ßiteratur  3franfreic&8  fianb,  lernten  lernte 
unb  bon  bem  «Könige  felbft  mit  SluSgeidjnung  6e» 
Ijanbelt  ttmrbe.  S)ie  frangöfifdjen  Ritter  modjte  er 
fidj  ttrie  bie  SBaffengefäljrten  feines  ©ottfrieb  bor= 
geftettt  Ijaben  unb  fanb  ftd)  enttäufd&t.  9lodj  öor 
6nbe  be§  3faf)re§  lehrte  SEaffo  oljne  ben  ©arbinal 
uad)  Italien  gurücf. 

63  fdjeint,  bafc  biefer  fein  SBeneljmen  bigmeüen 
tabelnäroertt)  unb  ntc^t  Ijofmännifdj  genug  gefunben 


87]  Sie  Gkf$t<$tt  fcaffo*.  238 

Ijatte.  9Jtit  bcm  SBeginn  be§  SaljreS  1572  trat 
SEaffo  in  bie  ©ienfte  be§  &erjog3,  beffen  ©emaljlm 
Sarbara  ben  18.  (September  1572  ftarb;  SHfonfo 
begab  fidj  für  ben  SBinter  nadj  Sftom,  um  feinem 
ße^eng^errn  ©regor  .  XIII. ,  ber  im  SDlai  btefeS 
3af)re§  ben  ©tufyt  5JJetri  befliegen  Ijatte,  feine 
£ulbigung  barjubringen. 

2Bäf)renb  feiner  Slbtoefenljeit  bietete  Slaffo  ben 
„Sinti  nta"  unb  fd&uf  bamit  im  äßiberftnel  ju  bem 
fjercifd&en  @po§  ba§  bramatifdje  £irtengebidjt  ®ie 
9lufful)rung,  bie  im  Styril  1573  &or  bem  &ergog 
gefdjat,,  entgüdte  alle  SBett  unb  lonnte  audj  in 
anbern  fürftlidjen  ©tobten  nidjt  oft  genug  toieber- 
Ijolt  toexben.  @§  Reifet,  baf*  S£affo  im  ©tyino  ben 
©taatsfecretär  $igna,  im  ÜJiopfo,  ber  in  bem  ©tüd 
nur  in  britter  5|}erfon  oorfommt,  ben®idjter  ©uarini, 
im  Slirfi  ftdj  fetbft  bargefteüt  unb  butdj  ben  3Jtmtb 
beS  teueren  bie  ©rfdjeinung  be§  &erjog8  gefdjilbert 
Ijabe.  SEirft  erjäljlt,  tote  er  in  bie  3<*uberftabt 
gefangt  unb  toor  bem  Eingänge  beS  ^eenpalafteg 
bem  SQBäc^ter  beweiben,  einem  erhabenen  3Jtanne,  be- 
gegnet fei,  beffen  Slnblid  einen  folgen  ©inbrud 
*>on  ©eelengröfce  unb  atf)tetifd)er  «Kraft  gemadjt 
ljabe,  bafi  er  nidji  redjt  toufcte,  ob  es  ein  ftelbljerr 


840  <9ot$cg  Torquato  fctoffo.  [88 

ober  ein  bittet  toar,  ber  iljn  mit  freunbüdj  ernfter 
2Riene  jum  eintritt  in  baS  ©dtfofc  einhtb.1 

£erjog  SUfonfo  n.  toar  ein  IriegSfunbiger 
SKann,  unb  too  in  SlaffoS  SBerf  friegerifdje  2>inge, 
ttrie  Belagerungen  unb  ©djlad&ten,  barguftetten  toaren, 
liefe  er  fidj  gern  t>on  btm  2)idjter  um  fftat^  fragen 
unb  nafrn  fo  an  ber  2tu3füljrung  be§  SBerfS  nid)t 
allein  einen  feljr  regen  empfänglidjen,  fonbern  auä) 
einen  gettnffen  tätigen  2TntI)eiI,  tooburd)  er  fidj 
nod)  enger  mit  ber  2)idjtung  felbft  befreunbete. 
3lud)  biefen  3ug  f)at  ©oet^e  in  feinen  Staffo  auf* 
genommen,  ber,  tote  ber  toirflidje  SCaffo,  toon  ber 
$erfönlid)feit  SllfonfoS  beijerrfd&t  unb  gladjfam 
fcegauBert  erfdjeint: 

S)er  tijatenlofe  3önöIinQ  —  naljm  er  too^I 
2>ie  S)t<$tung  aus  ft$  f ctbp  ?    Sie  ftuge  Seitung 
®e8  raffen  ÄriegcS  —  Ijat  er  bie  etfonneu? 
3)ie  Äunft  ber  Söaffen,  bie  ein  jebet  #elb 
An  betn  fcejdjiebnen  Sage  trafttg  geigt, 
SDeS  Sfelb^errn  ßluaj&eit  unb  bet  bitter  SOhtt^j, 
Unb  toie  fidj  Sift  unb  Söadjfamfett  Befämpft, 
§aft  bu  mit  ni$t,  o  ftuger,  tapfrer  8fürft, 


1  Aminta.    Atto  I.  2.  Op.  di  T.  Tasso  (Mil.  1805). 
Vol.  IV.    pg.  27-28. 


88]  ftie  Gkfölgte  Saffo«.  841 

$aS  51ÜC8  eingeflößt,  als  toäreft  bu 
9Jtein  ©eniuö,  ber  eine  (Jfreube  fftnbe, 
©ein  fjoljeS,  unerreichbar  fjoljeö  SOÖefen 
2)urd&  einen  ©terbli<$en  §u  offenbaren?1 

4.  2)ie  SfteDiflon  be8  ©ebid&tS  unb  bie  IRetfe  naä)  SRom. 

@nblid)  mar  ba8  ©poS  in  itoanjig  ©efängen 
ju  ©tanbe  gefommen.  3Han  foflte  glauben,  bafc 
nun  ber  ©tdjter,  frol)  feines  toottenbeten  2Berf8, 
fcon  ben  3Rü^en  einer  jtoölfiäljrigen  Strbeit  l)ätte 
aufatmen  unb  ausrufen  fönnen.  ßeiber  berijielt 
e$  fid&  nidjt  fo.  Äautn  toar  er  fertig  unb  nidjt 
meljr  fdjöpferifdj  bon  ber  Arbeit  erfüllt,  fo  begann 
feine  ©emüt^ftintmung  jtdj  ju  trüben.  63  gab 
Hemmungen  mannidjfadjer  3trt,  bie  er  jetft  erft 
füllte.  SDer  £erjog  toünfdjte  baS  i^m  getoibmete 
SBerf  fo  fdjnett  als  möglid)  gebrudt  ju  feljen, 
toogegen  £affo  fidj  unfd&tüffig  unb  bebenftidj  jeigte. 
<£r  tooßte  jutoor  fein  SBerf  bon  einer  Steige  ge= 
ttrid)tiger  Stimmen  prüfen  unb  beurteilen  Iaffen; 
er  fejjte  fidj  jur  SRetoifion  beffelben  eine  9frt  ©eridjt8= 
Ijof  unb  fdjtug  ein  SSerfaljren  ein,  baS  nid&t  3tt>ecf= 
toibriger  fein  fonnte.    Sie  £anbfd)rift  tourbe  @tü<f 


*  ©oetfjeö  Saffo.   I.   3.   SB.  426-439. 


242  ©oe$eS  Torquato  Saffo.  [90 

für  @tü<f  nadj  Sftotn  an  ©ctyione  ©ongaga  gcfenbet 
unb  toeiter  an  anbete  mitgeteilt,  bie  Hjre  3Jteinung 
fagen  fottten,  toie  ©perone  ©peroni,  2tngelio  ba 
83arga,  fjtamminio  be'Sftobili,  ©ilbioSlntoniano  u.  a. 
ßangttrierige  SSerljanblungen  tourben  geführt,  einen 
SHjeil  ber  fdjriftlidjen  tefen  toir  in  SEajfoS  «lettere 
poetiche».  2)ie  ©intoürfe  nahmen  lein  6nbe, 
barunter  foldje,  bie  ben  Sinter  ängfteten.  2BäI)renb 
er  ftdj  ber  fiirdje  fd)tt)ätmerifdj  ergeben  füllte  unb 
tote  ein  ßreujfaljrer  empfanb,  mufcte  er  Ijören,  bafc 
fein  ©ebidjt  biele  ©teilen  enthielte,  bie,  firdjlidj  ge= 
nommen,  feineStoegS  correct  toären;  bafc  gettriffe 
Sfbeen  unb  Silber  aus  bem  S5orftelIung§freife  ber 
Stenaiffance  f)errüf)rten,  ber  ben  richtigen  ©taubcn§= 
anfdjauungen  gutoiberliefe,  bafc  bie  ßiebeSepifoben 
unb  3öubergefdjidjten  romantifd)er  unb  profaner 
9lrt  bem  ©efd&mad  ber  fird)lt(I)en  Steftauration 
totbertyrädjen.  3lrmiba  unb  bie  Snquifition! 
■Wamentlidf)  toar  e§  ©itbio  2lntoniano,  ber  fidj  in 
biefer  Sejieljung  toertoerfenb  aufwerte.  @3  toaren 
nidjt  meljr  bie  3eiten  ßeo3  X.,  fonbern  bie 
©regors  XIII.  1  3fe^t  überfam  ben  2)id)ter  plbfy 
lid&  ba§  ängftlid&e  ©efüljl,  er  fönne  für  einen 
$etjer  gehalten  toerben;  nodj  erfdjretfenber  toar  bie 


91]  $te  <3ef$i$te  Saffo».  243 

Qfurdjt,  er  fönne  e§  fein.  2)te  ©efdjöpfe,  bie  in 
ber  äßeite  feiner  ?pijantafietoett  fid)  entfaltet  Ratten, 
gerieten  jefet  in  bie  @nge  ber  Seiten  unb  ttmrben 
erbrütft:  la  strettezza  dei  tempil 

Um  bie  SSerfjanbtungen  abgufürgen  unb  mttnb* 
Kdj  gu  <£nbe  gu  führen,  tooflte  er  gum  ©djlufc  beS 
3ti6etial)re§  1575  nadj  Stom  gelten,  ©er  £erjog 
falj  es  ungern;  ßucregia,  bie  £ergogin  toon  Urbino, 
gab  iljm  ben  ftugen  Statlj,  bie  9teife  gu  unterlaffcn 
unb  ba§  SBerf  gu  toeröffentlidjen.  ®enno$  ging 
er  im  -Jtobember  1575  unb  feljrte  im  Sanuar  be§ 
folgenben  3aljre3  Derftimmt  unb  unterrichteter 
S)iuge  nad)  ^errara  gurüd.  <£r  toergögerte  unb 
unterließ  bie  23eröffenttidjung,  toeil  er  fie  fürchtete. 
@o  fam  e§,  baft  biefelbe  fünfgeljn  3fal)re  tyäter 
oljne  fein  SBtffcn  unb  gegen  feinen  SBiUen  gefd&alj. 

5.  Die  Sßcr^anblunöcn  mit  Srtorcna. 

®r  Ijatte  gu  jener  fRctfe  nad)  9tom  nod&  einen 
©runb,  btn  er  geheim  fyidl  ©eit  bcr  Stottenbung 
feines  2Berfe3  im  8früföa$r  1575  füllte  er  ftdj  in 
fjerrara  nidjt  mef)r  n>oI)t.  3)a§  ßlima  ber  5ßo= 
nteberung,  tote  bie  fumpftge  SJlinciogegenb  oon 
SDtantua  motten  iljm  fd&äblid)  getoefen  fein,  benn 


244  (BoetyeS  Torquato  £affo.  [92 

er  Ijatte  toäljrenb  bcr  legten  3aljre  nrieberljolt  an 
Qfieberanfftffen  gelitten.  Hoffnungen,  bie  er  gehegt, 
SSerforedjungen,  bte  man  iljm  gemad)t  l)atte,  toaren 
unerfüllt  geblieben.  2)ieS  alles  Ijatte  iljn  öerftimmt, 
tote  ntan  aus  feinen  ^Briefen  jur  ©enüge  erlennt. 
2lu8  ©etoo^n^eit  unb  Sßljantafie  liebte  er  ben  £)rts= 
toedjfel.  3tun  »ufete  er  burd)  feinen  greunb  ©ci= 
£ione  ©onjaga,  bafc  Ujn  bie  3Rebici  ju  Ijaben 
tottnfdjten,  unb  ber  finge  ©arbinal  O^rbinanbo  in 
9tom,  ber  33ruber,  foäter  ber  SRadjfolger  beS  ©rofj- 
fjerjogS  ftranceSco,  2lnträge  für  iljn  fydbz.  SCaffo 
fdjtoanfte  jttrifdjen  $errara  unb  Floren  j,  er  toar 
geneigt,  an  ben  §of  ber  3Rebici  überguftebeln  unb 
lieft  fidj  auf  SBerljanblungen  ein. 

Um  t)on  bem  S)ienfte  ber  (Sfte  auf  eine  ge= 
fdjiite  2lrt  loSjufommen,  toollte  er  fidj  um  ein 
Slmt  bewerben,  toeldjeS  ber  £erjog  iljm  abfragen 
toürbe;  er  l)iett  btefe  Sntfdjeibung  für  fidjer.  2lber 
Sllfonfo  nmr  ein  toeit  befferer  ©Iplomat  als  ber 
gute  Slaffo,  ber  gar  feiner  toar;  er  mufcte  alles, 
toas  biefer  geheim  l)ielt,  unb  fannie  genau  beffen 
glätte.  2llS  SEaffo  nadj  ^errara  jurüdfeljrte,  mar 
Pgna  tobt,  Antonio  2Jtontecatino  ©taatsfecretär, 
unb  bie  ©teile  eines  Hiftortograpfjen  beS  §aufeS 


98]  $ie  ®efölc$te  fcaffo».  246 

6fte,  bie  gu  ben  Slemtetn  Sßigna«  gehörte  Ijatte, 
nodj  unbefefct.  Um  biefe  ©teile  betoarb  fidj  SEaffo 
unb  erhielt  biefetbe  Togtctdö  tTOftrj  1576).  S)a3 
Slmt  bcö  &ofljiftoriogra:t>ljen  pa$U  für  ben  Steter 
fo  toentg,  als  btc  ?Profeffur  ber  SÄatljentatif,  btc 
ifjm  ber  £erjog  brei  Sfaljre  früher  (Januar  1573) 
in  ber  guten  2lbjtdjt  ertfjeüt  Ijatte,  feine  ©infünfte 
ju  berntefjren.  ©o  Ijatte  fidj  SCaffo  btc  ©djlinge 
felbjt  gelegt,  toorin  er  gefangen  toar. 

SQBir  !ennen  btc  Sttoalität  jtoifdjen  ben  @fte 
unb  bcn  SJiebict,  inSbefonbere  btc  fett  1569  nodj 
geretjtere  Stimmung  2ltfonfo3.  (£3  ift  lein  3toetfel, 
bafe  bie  Ijeimüdje  Slbtrttnnigfeit  SEaffoS  btc  erfie 
Urfadje  toar,  bte  ben  &erjog  erbitterte  unb  Don 
iljm  abgetoenbet  Ijat.  SDanttt  begann  feine  Un= 
glüdföjeit  in  ^errara,  toie  c§  SEaffo  felbft  gelegen^ 
lid)  auSgefyrodjen  unb  neuerbingS  ber  3Jlardjefe 
ßapponi  nadjjutoeifen  gefugt  Ijat. * 

^nbeffen  toufcte  Sllfonfo  nad)  2trt  ber  italicni= 
fdjen  SEtjrannen  feine  ©epnnungen  ju  verbergen, 
er  toar  berfdjteiert  in  ©eban!en  unb  bertoidett 
in   SBorten.     35er    toflanifdje    ©efanbte    Drajio 

1  Gaetauo  Capponi:  Saggio  Bulla  causa  finora  ig- 
nota  delle  sventure  di  Torquato  Tasso  (Firenze  1840). 


246  ©oetyeS  Torquato  Zatfo.  [94 

Urbani  fagt  in  einem  fetner  33eri$te:  „2)er  §er= 
309  Kebt  in  feinen  Sitbm  grofje  Umfdjtoeife  unb 
fdjöne  Sßorte,  fo  bafe  bie  ^öret  julet}t  nidjt  redjt 
totffen,  toaS  er  gefagt  Ijat;  idj  laffe  baljingefießt, 
ob  ber  ©runb  batoon  meljr  in  ber  33ottfommenf)eit 
feiner  Sieben  ober  in  ber  UnboKfommenljeit  feiner 
&örer  liegt". * 

9iod)  toaljrte  er  gegen  SEaffo  bie  äußere  3?reunb= 
ftdfofeit,  t>tcttetd^t  in  ber  ungeljeud&etten  Slbfidjt, 
iljn  baburd)  in  feinem  Sienfte  ju  feffeln;  er  naljm 
ifjn  mit  fidj  auf  ba§  ßanb  unb  ermunterte  iljn 
jur  ©rljolung  unb  ju  froljem  SebenSgenufc;  \a  bei 
einer  ©elegenljeit,  bie  biet  Don  fidj  reben  mad)te 
unb  leidet  jum  Stäben  be§  ®idjter§  Ijätte  au§= 
falten  fönnen,  gab  er  iljm  eine  5ßrobe  feiner  @e* 
redjtigfeit  unb  feines  ©djutjeS. 

6.  aJtxjtfjetttöfeüen.    S)cx  SöerfoIgungStoaljn  unb  bie 

SBerljaftuttg* 

(Sin  fatfd^cr  Qfreunb,  beffen  $ßerfon  unb  -Kante 
nidfot  feftfteljen,  Ijatte  ein  ßiebeSgeljeimnift,  btö  SEaffo 
iljm  anvertraut  Ijatte,  toerratljen.  2Iuf gebradjt  fteüte 
iljn  biefer  bei  ber  erften  Segegnung  im  §ofe  be§ 

*  Le  lettere.  Vol.  III,  p.  XXII. 


95]  Sie  ©efd&ld&te  £affo&  247 

Ijerjoglidjen  ©djloffeS  jur  Sftebe,  unb  ba  ber  anbete 
ntdjt  BloS  feine  ©djulb  ableugnete,  fonbern  SEaffo 
felbft  ber  ßüge  jiel),  fo  geriet!)  biefer  aufcer  fidf)  unb 
fdjlug  iljn  in  baS  ©efidjt.  3fener  nal^m  bie  SBef(^im= 
pfung  l)in  unb  räd)te  ftd&  auf  bie  nid)tStt)ürbigfte 
2lrt:  Betoaffnet  legte  er  fid)  mit  feinen  93rübem 
mitten  in  ber  ©tabt  in  einen  $interl)alt  unb 
überfiel  ben  Sinter,  als  berfelbe  ahnungslos  bor= 
überging.  @d)neH  gog  Soffo  ben  Segen  unb  jagte 
bie  SJufdjIlepper  in  bie  fjludjt.  3m  SSolfe  Ijieft 
eS:  „Sötit  ber  $eber  unb  bem  Segen  ift  SEaffo  allen 
überlegen".  S)er  £erjog  aber  Belobte  S£affo  toegen 
feiner  Stapferfett  unb  Verfolgte  bie  feigen  ©egner. 
©iefer  SSorfaK,  ber  fidj  im  September  1576  gu= 
getragen  Ijat,  ift  fpäter  entftettt  unb  namentlidj 
öon  9Jtanfo  ganj  falfdj  bargeftettt  toorben,  als  ob 
ber  §erjog  toegen  jener  SEI)ätli<f)feiten  Slaffo  Ijabe 
einfperren  laffen  unb  btefer  fidj  ber  gu  langen  §aft 
burd)  bie  3fadjt  entgogen  l)abe.  SBir  finben  eine 
©pur  biefer  falfd^en  3)arfteüung  nod)  in  ber  ^abel 
beS  ©oetljefdjen  ©djaufpielS.1 

2>ie  3?urdjt,  ba§  er  ber  fietjerei  toerbädjtig,  Diel« 
leid&t  gar  fd&ulbtg  fei,  toedte  in  SEaffo  bie  3?urd)t 

1  Serassi.  Lib.  II,  pg.  235—239  (pg.  238  not.). 


848  0oc$el  Torquato  Xafto.  [96 

bor  ber  3tnquifttion  unb  liefe  iljm  feine  Stulje;  er 
toottte  ©etoifeljeit  ljaben  unb  ficHte  jtdj  freinriflig  erfi 
betn  3nquijttor  in  ^Bologna,  bann  bem  in  gerrara. 
33eibe  beruhigten  iljn  unb  erflärten  feine  9ted)t= 
gläubigfeit  für  unbebenflid);  feine  !8effird)tung,  ein 
Jtetjer  ju  fein,  galt  i^nen  tooljl  als  ein  genägenber 
SJetoetS,  ba&  er  feiner  toar.  SEaffo  felbft  aber  be* 
ruljigte  fidj  feineSroegS,  fcielmeljr  erfdjien  iljm  baS 
JBerfaljren  ber  3nquifitoren,  ba  fte  bie  ©laubenS* 
unterfudjung  ntdjt  in  ber  borfdjriftsmäfjigen  Sforot 
geführt  Ratten,  als  eine  täufdjenbe  üttafcregel,  um 
iljn  fidjer  ju  madjen,  bamit  er  fidj  feinen  ©laubenS* 
irrtljflmern  um  fo  ungefdjeuter  übcrlaffe  unb  um 
fo  getoiffer  in  bie  Steife  ber  Snquijttion  falle, 

Stun  begann  ber  SBcrf  olgungStoaljn  in  feiner 
©eele  gu  toudjern.  SBenn  iljn  ber  &erjog  ju  frölj* 
lidjem  ßeben  aufforberte,  fo  erfdjien  iljm  eine  foldje 
üflaljnung  nid&t  als  bie  Slbfidjt,  iljn  ju  erweitern, 
fonbern  gu  Derberben.  Sie  ©taubenSridjter  tooflten 
if)n  redjt  bon  ©runb  aus  fetjerifdj  unb  ber  &erjog 
redjt  t>on  ©runb  aus  „epifurifdj"  toerben  laffen. 
UeberaÜ  falj  er  fidj  toon  ^ctnbcn  unb  Spionen 
umgeben  unb  ffirdjtete  SJerratlj  unb  3Jleudjelmorb 
bur$  ©ift. 


*7J  Die  ©efd&td&te  Xdfit*.  249 

@ine3  StageS,  als  er  fid)  gum  33efnd)  in  bert 
3immern  ber  £ergogin  bon  Urbino  befanb,  glaubte 
tx  in  bem  einen  tfjrer  ©iener  einen  ©Jrion  ber 
Snquifition  gu  erfennen  unb  ging  mit  gegfidftem 
©oldj  auf  iljn  lo8.  9?o<§  an  bemfelben  Slbenb,  es 
toar  ber  17.  3funi  1577,  erteilte  ber  £ergog  tljm 
©iubenarrefi.  ®er  to8fanifd>e  ©efanbte  Ijat  ben 
5Borfafff  als  eine  Qfolge  tum  SEaffoS  meland)olifd>em 
©ebtfit,  feinem  &ofe  berietet  mit  SBorten  be3  3Rit* 
teibS  für  ben  Steter  «per  il  suo  valore  e  per 
la  sua  bontä».1 

©ie  ©träfe  toar  milb  unb  furg.  SWadj  einigen 
Sßodjen  gab  iljm  ber  §ergog  bie  3*eüjeit  gurütf 
unb  naljm  iljn  mit  ftdj  nad)  SBelriguarbo,  too  er 
iljn  vergebens  aufguljeitem  fud&te.  ©ein  ©emütlj 
toar  Don  S£rübftnn  unb  Ärgtooljn  bergeftolt  Der* 
bfiftert,  bafc  er  ben  11.  3fuli  ft<$  toeltfdjeu  in  baS 
gfrangiäfanerftofter  gu  fterraw  gurfitfgog  unb  bem 
©eban!en  nadföing  3RBnd&  gu  toerbeu«  316er  audj 
Ijter  litt  e$  iljn  nur  toenige  £age.  6r  entflog 
Ijeimlidj  aus  $errara  unb  lieft  feine  §abfeligleiten 
gurücfc     3)a8  2BertIjt>ollfte,   toaS  er  Befaß,  feine 

1  Manso.  Part.  I,  §  53—55  (pg.  85—90);  t>gl. 
Serassi.  Lib.  HI,  pg.  253—256. 

fluno  gfif^ci,  ®o«i$e*6d&rifien.  17 


950  <3ot$e8  Torquato  EofTo.  [98« 

Ijanbfd&riftlidjen  SBerfe  toaren  nun  in  ben  &änben 
beS  £erjog8. 

7»  2>te  t$fa<$t  na$  ©orrent. 

3n  bcr  jtoeiten  &älfte  bc§  3fuli  1577  besinnen 
bie  SSrtfa^rten  SlaffoS,  bie  mit  feiner  ©infyerrung 
in  ba3  2lnnenljofl)ital  im  SÜidrj  1579  enben  follten. 

Unter  bem  ©rudf  ber  unljeimtid)ften  ©efüljle, 
bie  in  ^errara  fein  ©emütl)  jerquälten,  toar  baS 
§eitmoelj  nad)  bem  frönen  ßanbe  feiner  frühen 
$inbf)eit  ermaßt,  nadj  ber  einjigen  ©djtoefier,  bie 
iljm  bort  nodj  lebte,  unb  bie  er  bor  breiunbjtoanjig 
Sauren  jum  lefctenmale  gefeiert,  ©ie  toar  je^t 
baä  3tel  feiner  ©eljnfudji  Stuf  einfamen  SBegen 
eilte  er  burdj  bie  Slbrujjen  nadj  Neapel,  feinem 
JBaterlanbe,  tooraus  er  f$on  afe  Änabe  berBannt 
toorben;  I)ier  naljm  er  £irtenfleiber  unb  fd^Itd^  fid) 
fo  Verborgen  toie  m&glidj  nadj  ©orrent,  too  er  afe 
unBefannter  SBanberer  an  ba§  &au3  feiner  fdjon 
bertoitttoeten  ©djtoefter  Gornelia  ©erfale  gelangte. 
2>te  ßinber  ftrielten  bor  ber  S£ljür.  @r  gab  fidj 
als  einen  93oten,  ber  Brief Udje  Sftadjrtdjten  bom 
©ruber  Bringe:  biefer  fdjtoeBe  in  ljödjfter  ©efaljr, 
toenn  iljm  bie  ©djtoefter  nidjt  ju  §ülfe  eile.    9iadj= 


99]  $le  ©cfätd&te  %a\)oi.  251 

betn  er  gefeiert,  tote  tief  fie  *>on  btefer  flunbe  er= 
fäüttert  tourbe,  liefe  er  fid)  aflmöljttd)  erfennen,  3)ie 
£errlidjfeiten  ber  Statur  unb  beS  «ßlimaä,  bie 
gftrtüdje  ßiebe  ber  ©djtoefter  unb  tljrer  Beiben 
©öljne  traten  iljm  tooljt,  unb  er  berlebte  einige  gtüd= 
Kdje  SDtonate  in  ber  fdjönften  Staljreägeit  unb  in 
Weiterer  Stimmung. 

Siefe  3?Iudjt  nadj  ©orrent,  bie  Slnfunft  im 
§aufe  ber  ©d)toefter  unb  ba3  Sßieberfeljen  Ijat 
2affo  ffinfgeljn  Saljre  foftter  feinem  fjreunbe 
9ttanfo  betrieben;  biefer  Ijat  fid)  ben  Hergang  audj 
Don  einem  ber  beiben  ©öljne,  bie  Stugenjeugen  toaren, 
miinblidj  berieten  laffen  unb  in  feiner  SebenS« 
gefd&id&te  SEaffoä  erjagt.  3Kan  !ann  e8  nadjfiUjlen, 
toie  lebljaft  gerabe  bon  biefer  ^Begebenheit  in  bera 
©djitff  aislauf  be3  unglüdftidjen  SLaffo  ©oeüje  er* 
griffen  unb  gerührt  tourbe  r  ein  Sidjter  auf  ber  3fod)t 
toor  ber  SBett,  bie  iljn  toerbüftert,  unb  baS  §au3 
feiner  einzigen  ©djtoefter  afe  bie  einjige  3uf(udji, 
bie  er  fudjt  unb  ftnbet!  Studj  ©oetljeä  eingige 
©djtoefter,  bie  er  fo  innig  geliebt  $atte  unb  nidjt 
meljr  toieberfeljen  fonnte,  Ijiefj  ©ornelta. 

Unb  toie  Ijat  ©oetlje  biefe  3üge  in  ben  ©ang 
feiner  Sidjtung  einzufügen  getoufet!    @r  läfct  bie 


•  252  ©octfrS  Torquato  Zaflo.  [100 

gejdjilberten  SBegebenljeiten  in  bcr  $ljantafie  beS 
3)id)ter3  gefd&eljen,  her  im  ©efüljle  Zottiger  3to= 
laffenljeit,  in  bcr  Slufregung  bc8  fdjmerjlidjften 
9l6fdjieb3  fid)  fd&on  „im  armen  Sftoif  beS  5ßilgerS 
Dbcr  @d&äfcxöJI  ftieljen,  als  bflfteren  Sfrembling 
mit  toitbem  &aar  an  bie  ©djtoelte  bcr  @d)toefier 
gelangen  fte^t  unb  fein  Slenb  ftd)  in  Silbern  au8* 
malt,  bie  btö  §erj  ber  Sßrinjeffm  erfäüttern 
unbr  einen  übertoftftigten  SfoSbrucI  iljreS  SDtitgefüljlS 
^erborrufen,  toomit  bie  ©djlufcfataftrojrfje  in  unferer 
SDid&tung  beginnt.  3)ie  8lrt  unb  SBetfe,  toie  ©oetlje 
bie  ßrjäljlung  toon  ber  gludjt  SlaffoS  nad)  ©orrent 
in  feiner  ©idjtung  umgeftaltet  unb  bertoertljet  Ijat, 
gehört  ju  ben  eigen  artigften  unb  fdjönften  6r» 
finbungen  feines  ©enieS. 

8.  SafioS  Sftftc!lel)r  unb  tocitcre  3rrfal)tten. 

Salb  Ijatte  £affo  fein  3b#l  in  ©orrent  au8* 
gelebt.  2)ie  ©eljnfud&t  nadj  ber  getooljnten  SLl)ätigs 
feit,  nadj  feinen  SBüdfjern  unb  §anbfd&riften,  nad& 
ber  SluSföljnung  mit  bem  $erjog,  ben  er  burdfj 
feine  ^ludjt  ferner  ergürnt  ljatte,  trieb  tyn  nadj 
Qferrara  gurüdf.  3m  -ftobember  fam  er  nadfj  9tom, 
»o  er  in  bem  ßarbinal  ©irolamo  Sllbano,  einem 


101]  fcle  ©efc&ltfte  SaffoS.  253 

8anb$mann  feines  JöaterS,  einen  etnflufireidjen 
©önner  unb  fjfürfpredjer  fyatte;  biefer  fd&rieb  an 
ben  &erjog  unb  legte  für  Staffo,  «quel  raro  e 
felice  ingegno»,  ein  gutes  2Bort  eilt-  SHfonfo  ge= 
to^rte  bie  SRüiffeljr,  fdjrieb  aber  jugleid)  an  feinen 
©efanbten  in  Sfcom,  bafc  fid&  SCaffo  einer  ftrjtlid)en 
ßur  unterwerfen  muffe ;  fonft,  toenn  bie  alten  böfen 
ßaunen  ftd)  toieber  einftetten  fottten,  toerbe  er  iljn 
fflr  immer  Derbannen. 

3fm  ^riUjjaljr  1578  lehrte  SEaffo  nad&  (Jerrara 
jurüdf.  Slerjtlidje  Suren  toaren  iljm  t>on  jeljer 
jutmber  getoefen,  er  liebte  toürjige  SBeine  meljr 
als  toibrig  fd&mecfenbe  Slrgneien,  in  Siran!  unb 
©^eife  Derzeit  er  ftdj  toie  ein  Äinb,  er  afc  unb 
tranf,  toas  iljm  besagte,  oft  t>erf<f)lang  er  es  gierig. 
•Kadj  einigen  Monaten  fanb  er  feinen  3uftanb 
ttrieberum  fo  unertrftglidj,  bafc  er  jum  gtoeitenmale 
entflog  unb  alles  jurüdliefc. 

Sßlöfclidj  erfdjien  er  in  SJKantua,  in  einem 
iammerbollen  Slufjuge  ju  5J)ferbe,  Sßelj  um  bie 
fjü^e  fdjlotternb,  in  abgeriffenen  «Kleibern,  oljne 
Steifegelb,  fo  arm,  bafc  er  einen  ©djmud,  ben  iljm 
bie  &erjogin  ßuerejia  gefdjenft  Ijatte,  Verlaufen 
mufcte,  um  gu  leben,     ©o  irrte  er  untrer,  bettel= 


354  ©oetlje»  Torquato  fcaffo.  [103 

Ijaft  unb  toerbüftert,  nirgenbs  meljt  ein  gern  ge- 
legener ©afl;  bie  ©onjaga  begegneten  iljm  md)t 
freunblid&er  atS  bie  (Sfte,  er  eilte  toon  SDtantua 
nadj  $abua,  nad)  JBenebtg,  er  fud&te  toergeblid) 
ein  2lfyl  in  5ßefaro  unb  in  Ur&ino,  enblidj  gegen 
@nbe  September  reifte  er  nadj  Satrin  unb  fanb 
Ijier  gaftltdje  Stufna^me.  ©er  ^erjog  (Sart  @manuel 
t>on  ©atootjen  madjte  iljm  2tnerbietungen,  um  iljtt 
gu  behalten;  ber  2Jlardjefe  fJUippo  b'ßfte,  ein  5Ber* 
toanbter  beS  $erjog8,  beherbergte  ifjn  in  feinem 
&aufe  unb  foürbe  gern  für  i^n  geforgt  Jjaben. 
Slber  bie  toerljängmfjtwtte  ©eljnfudjt  nadj  ^trara, 
bie  iljn  in  ©orrent  nid)t  ijatte  ru^en  taffen,  t>cr=* 
trieb  i$n  jeljt  audj  t>on  SEurin.  SBiber  bm  guten 
9tatlj  feines  ©aftfreunbeS  6ra^  er  plBljtidj  auf 
unb  eilte  in  fein  SSerberben. 

3fene§  gaftUAe  §au3  in  SEurin,  ba§  iljn  be- 
herbergt Ijatte,  ift  Ijeute  eine  feiner  ^Reliquien,  eS 
trögt  feit  1846  bie  3fnfdjrifi:  „Torquato  SEaffo  be* 
tooljnte  biefeS  £au3  für  einige  SJtonate  unb  toei^te 
es  für  äffe  Saljrljunberte".  Sin  erhabenes  SBort, 
ba§  an  ben  SluSforudj  unfereä  ©idjterg  erinnert: 

Unb  es  tft  öottljetlljaft,  ben  ©cniuS 
SBetoirtljen ;  fltefcft  bu  üjm  ein  ©aftgeföenf, 


403]  $it  @eföi$te  XaftoS.  288 

©o  lä&t  er  bir  ein  fdjöneres  ptüÄ. 
S)ic  ©tätte,  bic  ein  guter  Sflenfd)  Betrat, 
3|t  eingetoetljt;  na<$  fytnbert  Sauren  Hingt 
®tin  SGßürt  unb  feine  £l)at  betn  C£n!el  toiebet, 

9.  $>ie  ©efana.enf$aft. 

2)en  21.  Februar  1579  erfd&ien  STaffo  toiebet 
in  JJerrara,  jmet  Sage  bor  bem  @tnguge  ber  brüten 
©emaljliu  be3  ^erjogS,  *>er  ^Pttnjefpn  9Äarg1)ertta 
©onjaga  fcon  9Kantua.  -JUemanb  empfing  bm 
armen  S£affo,  memanb  Begegnete  il)tn  aud)  ttur 
$5fK$,  man  liefe  iljn  am  SBege  fteljen,  feine  Sitten 
um  ©eljör  bei  bem  ^erjog  unb  beffen  ©djtoefiern 
tourben  abgefd&Iagen.  2)a  fcerKefe  ben  tfnglücfüdjen 
ber  lefcte  IReft  Don  ©elbftbeljerrfdjung,  er  brad)  in 
@<$mäljungen  aus  ttriber  ben  &erjog  unb  fein 
£au§,  er  ttriberrief  atteS  ßob  unb  toertoünfdjte  aHe 
SHenfte,  bie  er  biefem  unbanlbaren  unb  rud&lofen 
©efdjtedjte  je  getoibmet  Ijabe. 

3et}t  befaßt  ber  §erjog  feine  ©infperrung  in 
bem  @t.=2lnnenIjofl)itaI,  einem  Äranfenljaufe  für 
9trme  unb  Sfrre;  £affo  lam  in  bie  StbtljeUung 
für  bie  SBerrüdten.  Umfonft  rief  er  ben  Äaifer 
fftubolf  II.  um  &filfe,  ben  &erjog  um  ©nabe,  bie 
IJJrin jeffinnen  um  iljre  ftüxtyxafyt  an ;  er  blieb  fieben 


25*  GfotttyeS  Torquato  Zatfo,  [10* 

3af)re  toter  SKonate  (*on  3JMte  3Jtörj  1579  bis 
3JUtte  3uü  1586)  in  biefer  fdjrecftid&en  ©efangen= 
fd)aft,  bic  erji  intern  @nbe  fid)  näherte,  nadjbem 
Sßapft  ©ijtuS  V.,  bcr  ßeljnsljerr  SferraraS,  f$on 
im  crftcn  3fal)re  feines  *ßontificat8  fid)  für  bie 
$)efreiunft  beS  ©td^texS  bertoenbet  §atte. 

Seht  ©efftngnifc  toar  ntd^t  baS  enge,  bunfle 
Sod),  toeldjeS  man  als  foldjeS,  mit  einer  3n* 
förift  öerfe^en,  bie  nod)  baju  eine  falfdje  3eit* 
angäbe  entölt/  in  fjferrara  ben  ^remben  ju  geigen 
pflegt.  3n  einer  folgen  ©pelunfe  I)ätte  SCaffo  fid> 
faum  betoegen,  gefdjtoeige  bie  SJriefe,  ©ebidjte, 
©efprädie  unb  Stbljanblungen  fdjreiben  fönnen,  bie 
er  toäljrenb  feiner  ©efangenfdjaft  berfa&t  Ijat. 

3toei  Saljrfyunberte  toaren  feit  ber  ^Befreiung, 
S£affoS  toerfloffen,  als  ©oetlje,  toon  ber  eigenen 
Xaffobid&tung  erfüllt,  nadj  fjerrara  fam  itnb  biefen 
Äerfer  falj.  „Statt  SCaffoS  ©efängnift  geigen  fie 
einen  ^olgftatt  ober  ©eroolbe,  too  er  getoifj  nidjt 
aufbetoaljrt  toorben  ift.  ©S  toeifc  aud)  laum  im 
£aufe  me^r  jemanb,  toaS  man  «ritt."  ©0  fd&rieb 
er  ben  16.  Dctober  1786  in  fein  SEagebudj.1 

1  £agebüdjer  unb  ©riefe  ©oetljeg  aus  Stalten.   @.  181 
11,  390  ff.  SöaL  3taL  &etfe,  XIX.  ©.  89  ftab. 


106]  $ie  ©efäid&te  STaffo».  267 

8otb  Scroti  bagegen,  bcr  ein  SDtenfd&enalter 
fpftter  in  Serrara  crfd&tenf  fattb  biefc  &öl)Ie  ganj 
.nad&  bcm  SBebürfnife  feiner  Imagination;  er  lieft 
fid&  jtoei  ©tunben  in  biefelbe  einfoerren  unb  als 
er  heraustrat,  ttmfjte  er,  toeldje  Dualen  SCaffo  ge* 
litten,  ber  Ijier  in  einer  mel)r  als  ftebenjäljrigen 
©efangenfdfjaft  feine  ßtebe  gu  ßeonora  b'ßfte  ab* 
gebüfet  Ijabe.  Sftod)  an  bemfelben  Sage  (ben  20. 
Sfyril  1817)  bietete  er  „SCaffoS  Älagen",  toie  er 
im  Saljre  toorljer  nid&t  nadfj  ber  2Btrfli^Ieit,  fon= 
bern  nadf)  bem  ©ränge  feiner  Smagination  fid) 
„ben  ©efangenen  bon  ß^itton"  gebietet  Ijatte.  3n 
bem  alten  gürftenljaufe  ber  6fte  Ijatte  fidjj  eine 
entfefelid&e  Gegebenheit  jugetragen,  bte  Styron 
jum  ©egenftanbe  einer  erjäljtenben  3)tdjtung  ge= 
mad&t  Ijat:  ber  SJtarfgraf  -JlifolauS  m.  Ijatte  feine 
gtoeite  ©emaljlin  „Sßarifina"  unb  feinen ©oljnllgo, 
jtorifdjen  benen  eine  eljebred&erifd&e  ßiebe  Beftanb, 
ben  Stob  burd)  £enferSljanb  fterben  laffen  (21.  9Äai 
1425).  S)er  ©d&ayplafc  beibe*  Untaten  toar  baS 
ßaftetto  becdjto,  ber  ^alaft,  ben  2Hfonfo  II.  be= 
tpoljnte.  3m  9Jhmbe  33t)ronS  öertoanbeln  fidj  bie 
klagen  SCaffoS  in  ben  ftfadfj  beS  ©ängerS:  „2ßelj 
eudfj,  iljr  ftoljen  Ratten  I"   Unb  toar  e§  ntdjt  audj  in 


258  ©octfjeS  Torquato  fcaffo.  [106 

einem  SKomente  faffungslofen  3orne3  ber  3flud) 
be§  2affo  fetbfi,  ben  bie  @efd)id)te  an  ben  8jle 
in  fterrara  fdjnefl  crfütCt  Ijat? 

Sie  Slrt  ber  ©efangenfd&aft  S£affo8  Blieb  toftlp 
renb  iljrer  langen  ©auer  md)t  biefelbe.  S)ie  ©renjen 
fotooljl  bei  SBoljnung  als  be8  SSerfeljrä,  bie  in  ben 
erften  Seiten  fe^r  eng  betneffen  toaren,  ttmrben 
attmftljitdj  erweitert.  9ladj  SJtanfo  Ijabe  ber  £erjog 
fogteidj  bie-H&cften  unb  angeneljmften  3itnmer  beS 
£oftrital§  für  SEaffo  einräumen  laffen. x  68  ift 
fefjr  jtoeifetljaft,  ob  es  fold&e  3itnmer  überhaupt 
gab,  ba  bor  feiner  Bautzen  Umgestaltung  im 
Saljre  1748  baS  2lnnenljoft>ital  tooljl  nur  jellen* 
artige  SBoljnungSräume  enthielt.  SBir  Ijören,  bafc 
SLaffo  Sefudje  empfangen  unb  ertotbern,  SEage8* 
einlabungen  annehmen ,  ©pajiergänge  mad&en, 
2JlaSiengttgen ,  t>on  benen  fterrara  im  Januar 
1585  toimmelte,  Beitoo^nen  burfte,  atteä  unter  ber 
Segteitung  eines  SluffeljerS.  @r  toar  unb  blieb 
ein  ©efangener.  Stföo  3Kanujio,  ber  iljn  am 
7.  September  1582  befudjte,  fanb  feinen  Suftanb 
erbarmungStoürbig :  „6r  toar  toöttig  bei  ©innen, 
aber  er  litt  junger  unb  toar  nadt". 

1  Manso.  Part.  I.  §  68.  pg.  108. 


107]  Sie  ©eföi&e  ZaffoS«  269 

2Bie  SEaffo  felbfi  feine  ©infoerrung  empfanb, 
fagen  uns  bie  erfdjütternben  ßlagen,  in  bie  er  fid) 
gegen  ©cipione  ©onjaga  in  einem  auSfüljrlid&en 
©d&reiben  ergoffen  Ijat,  ba§  au$  ben  Slnfängen 
feiner  ©efangenfdjaft  Ijerrüljrt  unb  in  feinen 
©riefen  eine  bebeutfame  ©teile  einnimmt:  „ftdj 
bin  ausgeflogen,  nidjt  Mos  aus  -Jleapel  unb 
3?errara,  fonbern  aus  ber  gangen  SBelt!  3fdj  allein 
fott  nid)t  mefjr  fagen  bürfen,  toaS  jeber  anbere 
toon  fid&  fagen  barf:  «3$  bin  ein  SBettbttrger!» 
3<$  toitt  toiffen,  ob  biefe  Surften  midj  feilen 
ober  jttdjttgen  ober  quftlen  tootten,  um  ftdj  an 
mir  ju  rädjen?  3dj  tottnfdje  bie  Teilung,  idj  beuge 
midj  unter  bie  3üdjtigung,  aber  gegen  U)re  IRad^e 
rufe  idj  $unmet  unb  ©rbe  um  £ülfe  an  unb 
berge  midj  bemütljig  unter  ben  ©djufc  iljrer 
Sfreunbe  unb  SBertoanbten." 1 

Unter  ben  dürften  finb  bie  beiben  83rüber  ju 
toerfteljen:  ber  £erjog  unb  ber  ©arbinal.  ©eit 
SEaffoS  äterljanblungen  mit  ben  SDlcbtct  grollte 
iljm  ber  £erjog;  feine  büfteren  unb  melandjolifdjen 
ßaunen  toaren  iljm  gutoiber.  S)ie  jtoeimalige  fjlucfet 

i  Le   lettere.  Vol.  II.    Nr.  123  (pg.  9.  29).  Vol.  III. 
pg.  XVIII. 


260  @oc$e*  fcotquato  Xafto.  [108 

ljatte  bie  letjte  ©ebulb  be3  §ergog3  erfd)öpft,  unb 
bie  ©djmäfjungen  naljm  er  ate  ein  2Rajeftät§t)er= 
brechen,  ba3  er  mit  bem  geifltgen  unb  bürgerlichen 
Sobe  ju  [trafen  gefonnen  toor.  SEaffo  fotttc  für 
toößig  toerrücft  gelten  unb  im  Sfrrenljaufe  enben. 
3)abei  rebete  ber  $erjog  t>iel  Don  Teilung  unb 
3üd)tigung;  er  pflegte  gu  fagen,  bafc  btm  SEaffo 
bie  <£ur  gur  ©träfe  unb  bie  ©träfe  gur  <£ur  bienen 
fotte.  ©ein  toaljrer  SBetoeggrunb  toar  bie  9tadje. 
SBenn  ber  Styrann  in  Sllfonfo  unbewußt  auftrat, 
fo  geigte  er  ftd)  radjgierig  unb  graufam,  erbar* 
mungSloS  unb  unberföljntid&.  3118  er  enblidj  ge= 
nötigt  toar,  iljn  freigutaff  en ,  erlaubte  er  nid&t, 
ba§  S£affo  öon  iljm  Slbfd&ieb  naljm.  3118  ber 
fterbenSfranfe  2)id)ter  aus  sJtom  im  ©efüfyl  be§ 
fyerannaljenben  SLobeS  nod)  einmal  an  iljn  fdjrieb 
unb  in  Döffigftcr  ©emiitljigung  unb  ©elbftoer* 
leugnung  bm  Sftäuber  feines  SBerfeS  unb  feiner 
Ofreiljeit  um  SBergeiljung  bat,  blieb  ber  §ergog 
ftarr  unb  antwortete  feine  ©ttbe.  Unb  biefen 
Sllfonfo  pflegte  SEaffo  «demente  e  generoso»  gu 
nennen! 

SBir  Ijaben  in  2)eutfd)lanb  gtoei  Safjrljuuberte 
nadj   ben   zbzn   gefd&itberten  Vorgängen  ein  äfin« 


109]  Sit  ©efd&ld&tt  Zafioi.  2«1 

lid&e$  SBcifpicI  fürftüd)er  fRac^e  an  einem  ©idjter 
erlebt,  toeldjeS  £erjog  fiarl  Don  SBttrttemberg  au3 
al>nKd)en  ©rünben,  b.  !j.  um  eine  perfönltdfje  5Be- 
leibtgung  gu  rä<$en,  an  ©d&ubart  burd)  jeljniäljrtge 
©efangenfd&aft  tooffftredt  I)at,  audj  unter  bem 
©cfceine  tool)ltI)ätiger  3üdjtigung. 

10.   Saffos  ©emfitySfranKjett. 

Unter  ben  Urfadjen,  toeld&e  bie  ßinfoerrung 
SEaffoS  herbeigeführt  Ijaben,  foielen  feine  ßran!§eit§= 
guftftnbe  eine  tnitttnrfenbe  unb  feljr  bemerfen$toertl)e 
Statte.  3Bar  ber  2)id)ter  beS  befreiten  3ferufalem3 
toirftid)  öerrüdt,  toöffig  ober  tljeUtoeife?  Ober  fear 
er  e$  gar  nid&t  unb  nur  Dom  &etjog  öerurtljettt, 
bafür  ju  gelten?  Ober  Ijat  er  felbji  fidj  toaljn= 
finnig  gefteffi,  um  eine  tiefe  unb  gefftl)rfi<$e 
ßeibenfdjaft  ju  Verbergen?  SSerfud&en  toir,  biefen 
triel  erörterten  fragen  burdj  eine  fadjgemdfce  3eft= 
fiettung  }u  begegnen. 

(Sine  angeborene  ©dfroermutl) ,  bie  toofyC  ein 
mfitterlidjeS  6rbtl}eil  unb  aud)  eine  SDUtgift  feiner 
btdjierifdjen  Statur  fein  mochte,  Ijatte  fid&  unter 
ben  toieberfjolten  fjieberanf  äffen,   ben  fört>erlid)en 


202  Ooctyef  Torquato  fcaffo.  [110 

<£ntfrftftungen ,  ben  erregteren  gciftigen  Arbeiten, 
tnSbefonbere  aud&  unter  ben  quälenben  ©lauben8= 
fctu^eln  unb  Sebrftngniffen  bis  ju  einer  &öU  ge= 
fietgert,  bie  nadj  feinen  eigenen  SBorten  alles  SWafc 
überflieg.    Sie  ßinftüffe,   bie  er  Don  Seiten  beS 
AlimaS  tote  beS  3eitalterö  gu  leiben  Ijatte,  toaren 
bie  ungfinjiigften.   2tu3  beut  toadjfenben  Slrübfinn 
enttoicfelte  fid)  bülb  bie  f5rmüd&e  ©emütljslranfljeit 
ber    SDtelandjolie,    beren   Symptome    bie  Um= 
gebungen  beS  SDidjierS  toaljrnaljmen ,    aber  nidjt 
rid&tig  ju  beurteilen  Derjlanben,  am  toenigften  ber 
f<$on  ergrimmte  §erjog,  ber  fte,  tote  Diel  er  audj 
Don  Äranfljeit  unb  Rettung  rebete,  für  böStoiflige 
unb  flrafbare  Unarten  anfal).    ©ab  e3  bod)  über= 
Ijaulpt    jur   Aenntnifc    unb    SBeljanblung    fold^er 
ßeiben,    toie    bie    SEaffoS,    in  Jener  Seit  toeber 
ftrjtlidje    ßinftd)t    nodj    Äunji,    unb    toären   fie 
irgenbtoo  gu  ftnben  getoefen,  fo  toar  ber  Ieijte  Drt 
baS  Slnnenljoflritat  in  3*rrara. 

SDturatori  nennt  £affo3  ©emütljSbefdiaffenljeit 
«un  temperamento  sommamente  malinconio», 
es  toar  eine  Aranfljeit,  Don  ber  SEaffo  nie  ge= 
nefen  tft,  6r  litt  an  ©ejtdjtS*  unb  ©ebädjtnifc 
fd)toäd)e,  an  ©inneSbelirien  unb  £attucinattonen, 


111]  Sie  ©efäicfcte  Saffog.  263 

er  $örte  ©eräufdje,  aU  ob  in  feinem  D$r  ein  UI)r= 
tt>erf  toäre,  er  falj  in  feinem  3itnmer  ßatjen  unb 
©efpenfter,  ©ftmonen  unb  ^eilige,  er  ^atte  ©eifler* 
erfd&einungen  aller  Strt.  @o  glaubte  er  ftdj  Don 
einem  Steufetefobotb  (ü  folletto)  geklagt,  ber  ifjtn 
auflauerte  unb,  tt>a§  er  nodj  eben  in  £änben  Ijtelt, 
toegnaljm.  @3  gab  aud)  einen  guten  ©eift  (il  buono 
spirito,  l'amico),  ber  iljm  in  leudjtenber  3üng= 
KngSgeftalt  erfd)ien  unb  tieffinnige  Unterrebungen 
mit  iljm  pflegte,  SJianfo  erjagt  eine  fotdje  ©cene, 
bie  er  miterlebt  f)at,  als  fid^  £affo  im  ©ommer 
1588  in  SHfaccia  bei  iljm  auffielt;  er  toar  bamat§ 
fröfjlidj  geftimmt  unb  Vergnügte  fttf)  beS  SEageS  mit 
ber  3agb.  SineS  Stbenbs,  tüte  beibe  Jrfaubernb 
am  fiamin  fafcen,  toerjiummte  SEaffo  Jrföljttd)  unb 
blidte  nad)  bem  Senfter,  ba§  fcon  ber  fdjeibenben 
©onne  cxteit^tct  fear.  „@iel)e  ba!"  rief  er,  „mein 
$reunb  ber  ©eift  ift  gelommen  unb  ttritt  fidj  mit  mir 
unterreben."  SDlanfo  falj  ©onnenftra^len,  too  Saffo 
ben  ©eift  erbtidfte,  unb  er  Ijorte  nur  ben  SDidjter 
reben  unb  antworten.  3)iefer  f^rac^  mit  fidj  felbft.1 
©er  ©raf  ©iacomo  ßeoparbi  Ijat  feiner  ^peffi- 


1  Manso.  Part.  §  80,  pg.  147. 


284  <§>oe$e8  Torquato  Xafto,  [112 

miftifd)en  S5enfart  gemäg  eine  Unterrebung  jttrifd&en 
Saffo  unb  feinem  §au5geifi  erbietet,  »orin  ber 
festere  bem  unglüdttidjen  Siebter  ba3  3Jttttel  ber* 
rfttlj,  toetöjeä  allein  baju  f)tlft,  ba§  SBeltelenb  auf 
einen  Slugenblid  ju  toergeffen.  2)iefer  £au$geift 
ift  ein  ©alamanber  ganj  befonberer  3(rt:  er  tooljnt 
im  {Jfeuer  be3  3Beiu3! 

Stuf  ganj  anbere  9lrt  lagt  ©oetlje,  tooljl  unter 
bem  @ittbrud  öon  3Äanfo3  @rjäl)lung,  feinen  SCaffo 
jtdj  mit  ©eiftern  unterreben,  t>on  ber  ©egentoart 
nid)t  gebrückt,  fonbern  erljöljt: 

(£3  ift  bie  ©egentoart,  bie  midj  erljöljt; 
Slbtoefcnb  f^ein'  id)  nur,  i$  Bin  entgüät! 

68  ift  bie  ©fftafe,  toorin  bie  SPrtnjeffm  ben 
©idjter  ftnbet  unb  erfennt: 

3$  freue  mi$,  toenn  bu  mit  ©eiftern  rebeft, 
$aft  bu  fo  menfcijlid)  fprid)ft,  unb  ijör*  es  gem.1 

Sie  fdjlimmfte  ftotge  feiner  Jranfljaften  9Maus 
djolie  toar  ber  33erfolgung3toaljn,  ber  feine 
5Pfjantafie  mit  ©d&redEbilbern  erfüllte.  2Bir  lernten 
nur  einen  gatt,  »orin  berfette  einen  gefftfjrlidjen 
2lu§6ru<$  Ijatte:  als  er  jenen  Steuer  in  ben  ©e= 
mad&ern  ber  &erjogm  ßuerejia  mit  bem  SDottf)  6e* 


1  ©oetljeS  Saffo,  I.  3.  SB.  560-563. 


118]  Sie  <3fcföl$te  Saffofc  2tt 

brodle,  ©eine  natürüdfje  ©emütl)3art  toar  fo  fanft, 
baf$  fie  aud)  ben  SSerfolgungStoafin  in  3ctum  Ijielt; 
unb  eigentftd)  niemanb  baruntcr  litt  ate  er  felbfi. 
äterrüdt  in  betn  ©rabe,  bafc  nadj  ber  frühem 
3toang8metfcobe  bie  ©infyerrung  nötljtg  gefeierten 
Ijätte,  toax  er  nie.  2)a3  2lnnen!joft>ital  mar  für 
iljn  nur  ein  ©ef  ftngntfc ,  toorin  er  eine  Sfteilje 
©Triften  feljr  toerfd&iebener  Slrt  toerfafct  unb  feinen 
berühmten  ©treit  mit  ber  fforentinifdjen  accademia 
della  crusca  in  ben  Sauren  1582 — 1585  geführt 
Ijat,  ben  toir  Ijier  nidjt  nftljer  erörtern  tooffen. 

SQBte  beut  ttngtüdüd&en  gu  Sttuäj  ift,  ber  überall 
fid)  Uerfolgt  unb  bie  SBelt  toerftnftert  fieljt,  ba3 
Ijat  SEaffo  fclbft  in  feinem  SEancreb  tounberbar  ge* 
f Gilbert  ,  nadjbem  biefer  entbetft  $at,  bafc  er 
©torinben  getöbtet: 

2öaljntt>iiig  irr'  idj,  bon  geredeten  Dualen 
Verfolgt,  um^cr  in  namenlofer  $ein: 
S)ie  buntle  Sftadjt  toirb  mein  Serbred&en  malen 
ttnb  üjre  ©Ratten  toerb'  tdj  bebenb  fdjenn; 
S)er  ©onne  ßtc^t,  ba§  mit  berljafcten  ©trafen 
$)ie  £ljat  berrietlj,  toirb  mir  (Sntfefcen  fein, 
3ftir  felbjt  ein  eto'ger  6d)retfen,  toerb'  id^  immer 
3JH<$  felber  flieljn,  bod)  mir  entfliegen  nimmer.1 

*  Ger.  üb.   XII.   Str.  77. 
fluno  giftet,  ®oct$c* ©d&rlften.  18 


S6ft  QoctfcS  Xorqtioto  Xafto.  [114 

»13  3.  3.  IRouffeau,  felbft  Dom  »erfolgungS* 
»a^n  erfaßt,  biefe  ©teile  las,  fagte  er:  „SEaffo  §at 
an  mid&gebad&t,  als  er  pe  fd&rieb!" 

11.  2>te  legten  3a§re  unb  ba3  <£nbe. 

2ßS  Slaffo  aus  feinem  ©efängmS  entlaffen 
ttmrbe,  ljatte  Sllfonfo  feineStoegS  bie  Slbftdjt,  i§m 
feine  ööttige  Sfrei^eit  toieberjugeben,  er  toerbannte 
i^n  für  immer  aus  feinen  ßanben  unb  überliefe 
iljn  bem  ^ergog  fcon  SJiantua,  ber  für  feine  fernere 
Sluffidjt  unb  Aufbewahrung  ju  forgen  t>erft>rad). 
Ueber  ein  3a^r  blieb  SEaffo  in  9Kantua  unb  lehrte 
audj  öon  33ergamo,  tooljin  er  fid)  im  Auguft  1587 
begeben  Ijatte,  auf  bie  -ftadjridjt  Don  bem  S£obe  beS 
§erjog3  ©uglielmo  baljtn  gurüd,  aber  nur  auf 
einige  SKonate. 

3m  ©pätljerbft  1587  begannen  tum  neuem  feine 
ruljelofen  SBariberungen.  SBäljrenb  ber  legten  fieben 
bis  adjt  ßebenSjaljre  Ijat  er  feinen  Aufenthalt  ge^n= 
bis  elfmal  getoedjfelt.  Sie  längfte  3eü  toertoeilte 
er  in  Sftom,  im  gangen  fünf  3a§re,  bie  fid)  aber 
in  fed)S  toerfdjiebene  Aufenthalte  feilen.  3n  bie 
3»)ifd&enjeit  fallen  feine  Aufenthalte  in  -Keapel,  too 
er  ju  brei  öerfdjiebenen  malen  unb  ftets  am  liebften 


115]  Sie  ®efd&id)te  XafioZ.  207 

&ertt>eilte,  in  Qflorenj,  too  er  Dorn  gfcityiafr'  Bis  in 
ben  §odjfommer  1590  tooljnte,  unb  bic  leijte  SRütf* 
fef)r  nadf)  SKantua,  tooljin  er  fidj  im  SKarj  1591 
auf  bie  ßinlabung  beS  £ergogS  SSincenjio,  feines 
gfreunbes,  BegaB.  3m  ©pätljerBfl  ging  er  mit  bem 
&erjog  uadj  $lom.  ©eitbem  toed&fette  fein  2luf= 
enthalt  nur  nod)  gtoifdjen  Stom  utib  Neapel. 

SBaljrenb  biefer  Seit  Befdjaftigten  il)n  bidjterifdje 
SBerle,  aus  benen  ber  toeltlid&e  3*oljfmn  unb  bie 
romanttfdje  ^pijantafteluft  berfdjtomnben  ftnb.  3n 
SWantua  t>oHenbcte  er  gleich  in  ben  erften  Saljren 
ber  3freil)eit  feinen  «Torrismondo»,  bie  einzige 
Slragäbte,  bie  er  berfafet  Ijat;  in  9teaj>el  Begann 
er  im  2Äat  1588  bie  Umbidjtung  feines  (SpoS:  aus 
bem  befreiten  Sierufalem  nmrbe  bem  eroBerungS* 
luftigen  Settgcific  ber  Äird&e  gemäfc  baS  er« 
oBerte,  baS  er  in  trierunbjtoanjig  33fid)em  im 
3uü  1592  ju  9tom  öoHenbet  Ijat  unb  gegen  @nbe 
beS  folgenben  SaljreS  erfdjeinen  lieft  (Gerusalemme 
conquistata).  2)er  le^te  ©egenftanb  beS  tt>eltent= 
frembeten  unb  toeftftüdjtigen  ©idjters  war  bie 
©djöpfuug  ber  SBelt.  ßr  6egann  biefeS  fein  leijteS 
SBerl  («le  sette  giornate»)  ju  Anfang  beS 
SaljreS  1592  Bei  feinem  Qfreunbe  9Äanfo  in  Neapel. 

18* 


268  <8oet$c0  ^Torquato  fcaffo.  [116 

in  bcffett  Ijerrlidjer,  Don  ©orten  umgebener,  Ijodf* 
gelegener  9HQa  am  SÄeer,  too  et  ft$  förperlid) 
unb  getfttg  erqutdft  füllte  unb  tote  in  einem  §afen 
ber  ähilp. 

8ange  Dor  ber"3rit  toar  er  ein  ©reis  getoorben. 
3fn  einem  Silbe,  baS  uns  ben  Dier jigiftljrigen  3ftamt 
barfiellt,  erfdjeint  er  lafyffityftg,  abgejeljrt,  bleich ; 
auf  feinen  legten  Pilgerfahrten  fe^en  toir  tljn  ein* 
l>erfd)letdjen,  fdjtoad),  front,  Dom  lieber  geklagt, 
bie  l)o!je  ©efialt  eingefallen  unb  gebeugt.  SfteiftenS 
lebt  er  in  Älöftern,  toie  in  ÜJlonte  OßDeto  ju 
9teaj>el  unb  bei  fjflorenj,  in  6t.  SJlaria  nuoDa 
unb  SJlaria  bei  popolo  in  tftom.  3m  @J)ital  ber 
SergamaSler  in  SRom  empfingt  er  im  9toDember 
1589  bie  ©inlabung  nadf)  glorenj.  3fn  Scripten, 
bie  feinen  3uftanb  f djilbern,  Reifet  e8  immer  toieber: 
«giace  infermö»,  «fastidiosa  infermitäl»  3)aju 
!ommt  feine  Slrmutl).  ©er  SIgent  be§  £erjog§  Don 
Urbino  nennt  U)n  in  feinen  SBeridjten  aus  9tom 
til  povero  Tasso»,  «questo  poverello».  Sll8 
iljn  ber  gffirft  ßonca  ju  fid)  nadj  Neapel  einlub, 
mufcte  \fyai  SEaffo  befennen,  bafj  er  fein  @elb  Ijabe, 
um  ju  reifen;  er  mu&te  ftdf)  ba8  ©elb  fdjenfen  laffen. 

88  ift  eine  Ijödjft  feltfame  unb  auf  ben  erften 


117]  2>te  <3efötd&te  Saffo».  869 

SlnMtrf  f  aum  erilftrbare  ©rfdjeinung :  bief er  Ijerum* 
irrenbe,  im  (SIenbc  bon  Äranlljeit  unb  Strmutlj 
toerfttmmerte,  in  Älöjtern  unb  ©Jritälern  3uffodjt 
fudjenbe  Staffo,  ben,  foBalb  er  öffentlich  er&ttdft 
ftrirb,  bie  ßeute  in  ©djaren  umbrängen,  um  ben 
grofeen  2)idjter  in  ber  ÜRälje  gu  feljen! 

@r  fear  in  bem  Senebiftinerflofter  ©an  ©eberino 
gu  Neapel,  ate  er  bon  bem  ©arbinal  2llbobranbtni, 
bem  Steffen  beS  SPafcfieS,  bie  GSinlabung  nad)  9tom 
erhielt,  too  iljn  ßlemenS  VIII.  auf  bem  ©a^itol 
mit  bem  2)id)terforbeer  frönen  laffen  toottte.  6r 
lam  in  ben  erften  JRobembertagen  1594,  geljorfam 
bem  SRufe  be3  SßapfteS,  abgeftorben  ber  SBelt  unb 
iljren  ©djeintoertljen.  Sie  pomphafte  Äomöbie 
muftte  bis  jum  3frül)jaljr  aufgefdjoben  toerben, 
ba  ba3  SBetter  fdjledjt  unb  ber  ©arbinal  Iran! 
toar.  ©lüdflidjertoeife  Ijat  fie  Staffo  nid)t  meljr  er= 
lebt.  3JUt  bem  3früföal»r  füllte  er  fein  <£nbe 
naljen.  6r  feinte  fidj  nid)t  nad)  bem  Gapitol, 
fonbem  nadj  bem  frieblidjen  Älofter  ©an  Dnofrio 
auf  bem  Saniculum.  3n  ben  erften  Sagen  beS 
Stpril  !am  er  im  SBagen  beS  SarbinalS  unb  fagte 
ju  ben  berfammelten  SÄöndjen,  bie  iljn  empfingen : 
„3$  fomme,  um  l)ier  gu  fterben".    @r  tjatte  ba8 


270  ®oet$e8  ^Torquato  %afio.  [118 

ßeben  fo  grünbltdj  fatt,  bafe  er  audj  in  feinen 
SBerfen  nidjt  fortguleben  tofinfdjte.  35eoor  er 
allein  mit  bem  <JJriefter  im  ©ebet  ben  testen 
©eufjer  au8l>aud)te  (ben  25.  Steril  1595),  Ijatte  er 
bem  ©arbtnal  uodj  eine  Sitte  an8  §erj  gelegt: 
man  möge  alle  feine  in  ber  SBelt  jerftreuten  SBerfe 
fammeln  unb  Derbrennen,  üor  allen  ba$  SBerf, 
toeldjeS  feinen  tarnen  unjierbfidj  gemalt  Ijatte, 
fein  befreite«  3erufalem! 

TU.  Qaffo*  §feinbe  in  Renata. 

3fn  ber  ßebenggefd&idjte  S£affo3  Ijaben  jtoei  @r» 
fdfjeinungen  fdjon  unfere  Slufmerlfamfeit  erregt, 
bodj  Ijaben  toir  uns  gefliffentftdj  jeber  näheren 
(Erörterung  enthalten,  toeil  jebe  biefer  beiben  @r= 
fdjeinungen  ein  S£l)ema  fftr  ftdj  auSmadjt  unb 
unfere  gefammelte  Setradjtung  in  Slnforudj  nimmt: 
idj  meine  bie  bem  Sinter  feinbtidje  ©onfoiratiori 
.am  £ofe  2llfonfo8  unb  bie  $rinjeffin  ßeonore. 

Unter  ben  ©egnem,  bie  iljn  angefeinbet  Ijaben, 
finb  für  un8  toon  befonberem  Sntereffe  ber  ©e= 
fdjid)t3fdjreiber  unb  ©taatäfecretftr  Sßigna;  ber 
©idjter  ©uarini  unb  bor  allen  ber  ^üofo^^  unb 
fofttere  ©taatäfecretftr  Stntonto  SDtontecatino. 


119]  £affo8  ftetabt  in  $ert«r«.  271 

1.  ©.  ö.  «ptgna, 

©er  Staatsmann  unb  ©cfd&id&tsfd6rctbcr  $tgna, 
ber  fidfj  jugteict)  afä  Diebner  unb  3)id(jter  füllte, 
falj  auf  ben  Neuling  tooljl  ettoaä  fcorneljm  IjeraB, 
ttctbifdö  auf  beffen  toad&fenbe  Serfiljmtljett  unb  §of= 
gunft,  benn  e§  toar  bctmals  in  gerrara,  nantent= 
Udj  in  ber  Stauetttoelt,  2flobe,  für  ben  2)id)ter  beS 
Stinalbo  unb  2tminta  ju  fdjfoärmen;  er  Benetbete 
iljm  ni$t  Bios  bie  StuSjeidjnungen  ber  ^Jringefjtn 
ßuerejia,  bie  an  ber  @))t§e  ber  SEaffofd&märmerinnen 
ftanb,  fonbern  wetteiferte  fetBft  mit  tljm  in  bidjte* 
rifdjen  §ulbtgungen,  bie  ber  ßueregia  SBenbtbio,  beut 
fdjßnften  ©betfräulein  in  ^errara,  galten. 

S)ie  5ßrinjeffin  ßeonore  mar  eifrig  BeftreBt, 
bie  Beiben  ÜÄänner  einanber  ju  nähern  unb  iljren 
©treit  fcerföljnüd)  auSjugleidfjen ,  inbem  fie  SEaffo 
ben  gefdjidteften  2lu3toeg  finben  liefe,  pgna 
Ijatte  bie  fd&öne  ßuerejia  in  einer  Steige  ©anjonen 
Vergöttert;  Slaffo  Beurteilte  einige  berfelBen  unb 
toibmete  feine  ©dfjrift  ber  ^rittgefftn,  fo  bafe  er 
in  bemfelben  SBerf,  gleidfjfam  mit  einem  2ltljem, 
fßigna  loBen,  ßueregia  greifen  unb  ßeonoren  ge= 
Ijord&en  tonnte. *       ■ 

1  SerassL  Lib.  I,  pg.  140, 


.272  9odfr§  Xttiapti*  Soffo.  [1» 

SHefeS  öerijolten  ber  ^rinjefftn  in  bem  Streit 
jtotfdjen  $igna  unb  JEaffo,  tote  e3  ©«rafft  berietet, 
Ijat  Goethe  feinen  3toedten  gemftjj  auf  ben  Streit 
jttrifdjen  Antonio  unb  STaffo  übertragen;  er  Iä§t 
biefen,  nadjbem  ßeonore  e§  getofinfdjt  Ijat,  mit 
offenen  Ernten  jenem  entgegeneilen.  3m  9tü(f= 
KidE  auf  ben  früheren  3totfi  Ijatte  er  in  bem  bor* 
Ijergeljenben  ©eforädj  SEaffo  ju  ber  SPringeffin  fagen 

Iaffett:  Hur  gu  oft 

£ljat  idj  im  3rriljum,  toaä  bidj  f^merjen  mufjte, 
Seletbtgte  ben  üftamt,  ben  bu  fcefäfijteji, 
Jöertorote  unttuß,  toaS  bu  löfen  toottieft  u.  f.  to. 

3)a3  3Jtotit>  gu  biefer  ©teile,  bie  nidjt  aus  bem 
ßeeren  gefdjityft  fein  !amt,  Ijat  ©oetlje  in  ©eraffi 
gefunben:  fie  fteljt  im  erften  Sluf tritt  be3  gtoetten 
Stets,  aber  getoift  nidjt  in  bem,  toeldjen  ©oetlje 
aus  SBeimar  nadj  Italien  mitbrachte,  -ftirgenbg 
giebt  ©eraffi  eine  Slnbeutung,  bafc  bte  5ßrinjeffin 
ßeonore  toon  ber  Qfeinbfdjaft  gtoifdjen  Antonio  unb 
SEaffo  je  bte  minbefte  9?otig  genommen  Ijabe. 

2,  @.  J».  ©uartni. 

Sludj  ©uarini  Ijatte  an  jenem  bidjterifdjen  2Bett= 
fampf  SHjetl  genommen  unb  ber  fdjönen  ßueregia 


4 

121]  SaffoS  Sfeinbe  in  Settara.  278 

SBenbibio  in  JBerfen  geljulbigt  2Äit  SCaffo  toar 
er  Don  Sßabua  Ijer  ntdjt  Bios  Befannt,  fonbern  be= 
freunbet  unb  bertraut,  aber  afe  fie  einanber  am 
§ofe  in  fjferrara  toteber  Begegneten,  tourbe  biefer 
©djaujrfafc  balb  gu  eng  für  3tr>ei  3)i<f)ter  tiper 
2trt:  Beibe  f)od)fire6enb ,  eljrgetjtg  unb  Bebeutenb. 
SÄi&toergnügt  fal)  ber  ältere  unb  einljeumföe  Steter 
ftd)  burdj  ben  fdjnetten  Sluljm  be8  jüngeren  unb 
fremben  in  ©Ratten  gejiettt.  3tt)ifd&cn  iljnen  gaB 
es  tneljr  als  eine  IRttoalttät ,  benn  iljr  SBettftreit 
erging  fidj  in  ben  Beiben  großen  ©eBieten  ber 
SieBe  unb  ber  3)t$tfunft. 

Sie  ©teilen,  toortn  ©craffi  iljre  toedjfelfeitige 
ßiferfudjt,  biefen  ©treit  jtoeter  2)id)ter,  f Gilbert, 
IjaBen  auf  ©oetlje  offenBar  eine  f  eljr  leBIjafte,  in  feiner 
S£affobid)tung  frudjtbare  Sßirfung  auSgeüBt;  audj 
©uartnis  @tferfud)t  toiber  SEaffo  Ijat  er  auf  feinen 
Antonio  übertragen  unb  biefen  baS  Soltyettljema 
tljreS  SBettftreitS  t)or  ber  ©rftftn  ßeonore  auS= 
foredfjen  laffen: 

@ar  ticle  2)tnge  flnb  in  biefer  Söelt, 
S)ie  man  bcm  anbcrn  gönnt  unb  gerne  tfjeüt; 
3ebod)  es  ift  ein  @d)afc,  ben  man  allein 
Sem  §od)t>erbtenten  gerne  gönnen  mag, 


274  GtoetyeS  Torquato  Xofio.  [122 

Sin  anbxer,  ben  matt  mit  bcm  §5$ftt>erbienten 
3ftit  gutem  2öiffen  niemals  teilen  toirb,  — 
ttnb  fragft  bu  mt<$  nad&  biefen  Betben  ©<$äfcen: 
S)et  ßorbeer  ijt  e$  unb  bie  @unjt  ber  gfraun.  * 

©inige  SBodjen  nad)  SEaffoS  IRücRc^r  bon  jener 
toerljängniffrotten  unb  ätoedfaribrigen  IRctfc  nadj  SRom 
erf dienen  am  &ofe  SllfonfoS  jtoei  IjerrKdje  grauen: 
©teonore  ©antritaü,  ©räftn  bon  ©canbiano,  unb 
iljre  Stiefmutter  ^Barbara  ©anfe&erino,  ©räfin  toon 
©ala,  biefe  eine  majeftätifdje  Srfdjeinung,  jene  erji 
lüngft  Dermalst,  in  ber  anmutfjigften  SSlfttlje  ber 
3fugenb,  ©djönljett  unb  SBübung,  öofler  (gntyfäng* 
lü&Wt  für  bie  ©oben  ber  SKd&tftmft  Sitte  SBelt 
toar  entjüdt,  bor  aßen  ©uarini  unb  SEaffo,  bie  in 
einem  SBettftreite  öon  Sonetten,  toorin  fie  iljr 
Ijulbigten,  mit  einanber  unb  gegen  einanber  ent* 
brannten. 

3n  einem  feiner  ©onette  Ijatte  SEaffo  ben 
Nebenbuhler  als  einen  unbeftänbigen  unb  toanfefc 
müßigen  ßiebljaber  gefd&itbert;  biefer  antwortete 
mit  einem  ©egenfonett,  toorin  er  bem  anberen 
toortoarf,  nid&t  Mos  unbeftdnbig,  fonbern  fatfdj  ju 


i  in.  4.  SB.  2013-2020. 


123]  XaffoS  ftetnbe  in  tyxvaxa.  275 

fein,   ba  er  mit  ber  ßicBe  ein  SDöWelftriel  treibe. 
Sag  erfte  SEerjett  feines  ©ebidjts  lautete: 

Di  due  flamme  si  vanta,  e  stringe  e  spessa 
Piü  volte  un  nodo,  e  con  quest'  arti  piega 
(Chi  1  crederebbe!)  a  suo  favore  i  dei. 

S)iefe  ©teile  Ijat  ©oetije  bem  ©uarini  ober 
trielmeljr  bem  ©eraffi,  ber  fte  anführt  uttb  erflftrt, 
fo  gut  toie  toörtttd)  entlehnt  unb  feinem  Antonio 
in  bem  ©eforddj,  toetöjeS  toir  foeben  ertodJjnt 
fjaben,  in  ben  ÜDhmb  gelegt: 

@r  xüljmt  ftä)  atoeter  gflamraenl  fnüt>ft  unb  löft 
S)ie  Änoten  fjtn  unb  ttrieber,  unb  genrinnt 
SJltt  folgen  Äünftcn  foldje  fceraen!   3jt'8 
3u  glauben?  * 

■Jiod)  toeit  ben!tt)ürbiger  ift  iljr  SBettftreit  im 
^elbe  ber  ©idjtfunft  SEaffo  Ijatte  mit  feinem 
„2lminta"  baS  £irtenbrama  begrilnbet  unb  in 
ber  italienifdjen  toie  neueuropdifdjen  Sßoefie  bamit 
eine  Stiftung  eröffnet,  bie  bem  S^ttalter  aufeer* 
orbentlid)  gefiel;  ©uarini  fdjritt  auf  biefem  SBegefort 
unb  fd&uf  in  feinem  „Sßaftor  ftöo"  ba8  3Äufter 


i  Serassi.  Lib.  II,  p.  215-16,  234—35,  ©oet$e8  Saffo 
m.  4.  —  @erafft  begießt  bie  Bctbcn  Sflammen  auf 
ßeonore  ©atttntaliunbßucresiaSenbibioj  tä)  glaube  nidjt, 
bafe  er  red)t  fjat,  benn  e§  toatjen  geljn  3a^te  vergangen, 
fettbem  Xaffo  für  ßueregta  ge}ä)to)ärmt. 


876  SoctycS  £ot<ruato  fcaffo.  [124 

be8  SPafioratgebid&te,  ba$  burdj  feine  Erfolge  bei  ber 
9Äit=  unb  9tad)toeft  bett  ©ieg  über  Saffo  batwn* 
trug,  S)er  Slminta,  fd&on  1573  entftanben  unb 
aufgeführt,  erfd^ten  1581;  ber  „SPaftor  ftbo"  folgte 
auf  betn  ftu&e  ™d)  unb  Betrat  guerjt  in  Surin 
bie  SBüljne.  ©uarini  tooflte  bie  ©idjtung  £affo£ 
ni$t  blo8  f  ortbilben,  fonbern  in  iljren  Stnfdjauungefl 
Don  ©runb  aus  befämpfen.  ©tc  Säuberung  bc§ 
golbenen  3eitatter8  (la  bella  etä,  delT  oro)  mar 
in  einem  £trtengebid)t  ein  feljr  jmjfenbeS  unb 
abgelegenes  SEIjema,  meines  SEaffo  im  erften 
©fjorgefange  be8  Slminta,  ©uarini  im  inerten  beS 
Sßaftor  fibo  ausführte,  toobei  er  SLaffo^  SBenbungen 
unb  SBorte  nadjaljmte,  aber  bie  @ad>e  felbft  in 
entgegengefefctem  ©um  beljanbette,  fo  bafc  mandje 
feinen  ©fjorgefang  für  ein  Plagiat  gelten,  toftljrenb 
berfelbe  eine  5ßarobie  toar.1 

SEaffo  ^rie§  ba*  golbene  Bettalter,  nidjt  toeit 
man  bamals  genießen  tonnte,  ol)ne  ju  arbeiten, 

1  Opere  di  Tasso  (Mü.  1806).  Vol.IV,  pag.  29-31. 
Guarini:  il  pastor  fido  (Mil.  1807),  pag.  368—70: 
La  fede  aver  per  legge, 
Fu  di  quell*  ahne  al  ben  oprar  avezze 
Cura  d'onor  felice, 
Cui  dettava  onesta:  piaccia  se  lice.  i 


126]  £affo9  $fetnbe  in  $etr«CL  277 

fottbem  toeil  bie  Gonbentionen  unb  ©Uten  bet 
gefettfd&aftlidjen  Ungtetdjljeit  nodj  nidjt  ba8  freie 
ßeben  unb  bte  freie  Siebe  unter  jod)t  Ratten,  unb  nur 
ba8  ©efefc  ber  Statur  galt:  «S'ei  piace,  ei  lice» 
Erlaubt  ift,  toaS  gefallt".  Sie  Statur  $at 
bie  9ftenfdjen  gut,  bie  ©efellfd&aft  Ijat  pe  fd)led)t 
gemalt.  @o  lehrte  Sftouffeau.  @r  Ijfttte  aud)  Don 
htm  erften  ©Vorliebe  im  Slminta  fagen  fönnen: 
„Xaffo  Ijat  an  midj  gebaut,  als  er  e§  fdjrieb!" 

SDiefer  5Berljerrlid)ung  ber  natürlichen  Ofreiljeit 
auf  Äoften  ber  ©itte  unb  ©tttltdtfeit  trat  nun 
©uarini  entgegen,  inbem  er  feinen  (£fjor  bie 
golbne  3ett  gerabe  beSljalb  greifen  liefe,  toeil  ba* 
ntals  bie  Sttenfdjen  Don  !Ratur  traten  be§  ©efefceS 
SBerf,  toetl  tljre  ©efttljle  mit  ben  ©eboten  ber 
©itte  unb  ©ittlidjfeit  fibereinftimmten  unb  il)re 
Siebe  treu  unb  beftänbig  blieb,  toie  bie  beS  „?ßaftor 
fibo".  SDamalS  toar  bte  toafcljaft  golbene  Seit,  als 
nid)t  erlaubt  toar,  toaä  gefiel,  fonbern  nur  gefiel, 
toaS  erlaubt  mar.  3)er  ©prud)  toenbet  fidj  mit 
SEaffoS  eigenen  SBorten  gegen  iljn:  «piaccia  se 
lice».    „Erlaubt  iji,  toa§  fid)  jiemt." 

Unfere  ßefer  erlennen  fogleidj,  toeldje  fd)öne 
Slntoenbung  ©oetlje  öon  biefem  ©treit  ber  beiben 


278  <Soe$e8  Torquato  STaffo.  [196 

itaüenifdjen  SDidjter  gemalt,  tote  er  ba§  ©egen= 
ftriel  iljrer  <£l)öre  itt  baS  ©eforad)  jtoifdjen  SEaffo 
unb  ber  5Prinjef  jtn  berffodjten  unb  biefer  in  ber 
2fttJ>retfung  beS  gotbenen  3eitalter§  bie  SRotfe 
©uarintä  übertragen  Ijat.  ©obalb  jte  ber  golbenen 
Seit  unb  iljrer  äßieberljerfieflung  gebenft,  fitfjtt 
SEaffo  fid&  in  feinem  SU)ema.  9hm  läfct  iljn 
©oetlje  jenes  Sßeltalter  ganj  nad)  bem  JBorbtlb 
beS  ttrirllidjen  Staffo  f djitbern: 

O  toeldjeS  Söort  ftmdjt  meine  fjürflin  au8! 
3)ie  Qolbne  $tit,  tooljin  ift  fte  geflogen, 
%laä)  ber  fi<$  jebeS  §er&  öergebenS  fetynt? 
SDa  auf  ber  freien  @rbe  3Jtenfd)en  jtd) 
2öte  frolje  §eetben  im  ©enufc  verbreiteten; 
2Bo  in  htm  ©rafe  bie  gefdjeudjte  Solange 
Unfd&äblid)  ftdjj  uerlor,  ber  fftljne  Sfaun, 
Stom  tetpfem  3fing.ling  balb  beftraft,  entffolj; 
Söo  jeber  Söget  in  ber  freien  ßuft, 
Unb  jebe*  fcljier,  burd)  S3erg  unb  Sudler  fätoeifenb, 
3um  3Jtenfd)en  forad):  Erlaubt  ift,  toaS  gefaxt. 

Unb  er  läfct  bie  ^Jrinjef fin  nadj  bem  SSorbübe 
©uariniS  ertotbern: 

ÜRur  in  bem  Sößdjlfprud)  änbert  ftdfc,  mein  Sftwnb, 
©in  einjig  SQÖort:  ©rlaubt  ift,  toag  ftd)  giemt,1 


1  II.  1.   SB.  978-994,  1006. 


127]  fcaffo»  $etabe  in  ftctxata.  279 

3$  glaube  ntdbt  f  bafc  ©oetlje  bctt  ©treit  ber 
beiben  italienifd&en  Steter  in  btcfcr  2luS:prägüng 
fannte,  bebor  et  ben  ©eraffi  gelefen  Ijatte.  $ier 
aber  fatib  et  ntd^t  bloS  iljren  SBettfirett  gefd&tlbert, 
fmtbern  audf)  in  einer  Slnmerlung  jene  beiben 
©(jorlieber  ertoäljut. 1  2)af)er  mufc  ber  erfle  2tuf= 
tritt  bes  gleiten  Stets ,  ber  audf)  in  ber  alten 
©idjtung  oljne  3toeifel  in  bem  3toiegeforäd)  ber 
SPringeffin  mit  SEaffo  beftanben  Ijat,  in  ber  neuen 
eine  völlige  ttmgeftaltung  erfahren  Ijaben. 

3.  Antonio  ÜUtontecathu). 

5ßigna  unb  ©uartni,  bie  am  §ofe  2llfonfoS 
glängten,  als  SCajfo  nad)  fjferrara  fam,  finb  tooljl 
feine  ©egner,  aber  nid&t  eigentlich  feine  Verfolger 
getoefen,  toogu  audfj  bie  3*tt  nid&t  reif  genug  toar, 
als  Sßigna  ben  4.  JJtofcember  1575  ftarb.  ©er 
fdfjlimmfte  Qfeinb  follte  i^m  erft  in  ber  Sßerfon  beS 
Antonio  9Kontecatino  erfteljen,  ben  ber  £ergog  im 
Sfyril  1568  gum  5ßrofeffor  ber  ^ilofoj)^ie  an  ber 
SKabemie  in  Qferrara  ernannt  Ijatte.  StamalS 
modfjte  eS  bem  flugen  3Kanne  rätljlidfj  fdjeinen,  ftc^ 
bie  fjfreunbfdljaft  StaffoS  gu  ertoerben,  ber  im  ßtd&te 


1  Serassi.  Lib.  II.  pag.  234. 


80  <9oe$eft  fcowjuato  fcaflo.  L*28 

ber  #ofgunfl  blühte  unb  Bei  ben  fürftttdjen  ©trübem 
unb  ©djtoeflern  persona  gratissima  nmr.  ©eljr 
6alb  fanb  ftdj  bie  ertofinfdjte  ©elegen^eit  Sei 
jener  Simulation  über  bte  Siebe  fonnte  Slntonio 
beut  Sinter  feinen  Seiftanb  leiten  unb  Ujm 
©treitfftfce  jur  StufftcHung  tote  ©rünbe  ju  beten 
JBertljeibigung  liefern. 

Ueberfjaupt  fdjeint  Antonio  als  ße§rer  ber 
Pfjttofop^ie  in  ber  italieniföen  ©pfttrenatffance 
eine  getoiffe  fRoHe  gezielt  ju  Ijaben,  bie  ntan 
burd)  eine  befonbere  9tad)forfdjung  nft^er  erleuchten 
fottte.  STaffo  felbft  Ijat  iljn  als  ben  ftärfften 
^ilofop^en  in  ber  ©djule  fotooljl  ber  Sßlatonifer 
als  ber  SßeriDatetifer  ber  3^t  gepriefen.  -Wad&bem 
feine  SEragöbie  in  fjerrara  ausgelitten  toar,  Belannte 
er  gelegentlich,  aus  einer  ©djrtft  beS  Slntonio 
in  einem  SRonat  meljr  gelernt  ju  Ijaben,  als  Don 
Dielen  anberen  in  Dielen  Sauren.  3118  Slntonio 
ber  -ftadjfolger  pgnaS  im  Slmte  beS  Staats* 
fecretftrS  getoorben  toar,  ttmrbe  fein  JWadtfolger  im 
ßeljramte  ber  ^ilofo^ie  ^ranceSco  Sßatrtjji, 
ber  fid&  als  ©egner  beS  SlriftoteleS  in  ben 
Slnnalen  ber  italtenifd&en  5ß^ilofo^ie  beS  fed&S* 
Sehnten  SaljrljunbertS  einen  3lamen  ertoor&en  Ijat. 


129]  fttffoS  ftctnbe  in  fjertata.  281 

3fn  btn  Sauren  Don  1576  —  90  leljrte  er  in 
gerrara,  ein  perfönlidjer  tirie  literartfdjer  ©egner 
StaffoS  unb  ein  3euge  feiner  ßeiben.  @r  Ijat  ben 
feiten  SEfjeil  feines  &aupttoerfs  betn  Antonio 
fDtontecatino  als  feinem  SSorbilbe,  ßeljrer  unb 
SBoljltljäter  getoibmet  unb  iljn  in  biefer  Sneignung 
nid&t  HoS  atS  ben  ßenfer  ber  pljitofofeljifdien 
€>d)ule  gu  fjerrara,  fonbern  als  eine  ber  erften 
Ipljilofopljifdjen  3ßitgröfcen  ( « vir  philosophiae 
literaturaeque  universae  longe  princeps») 
mit  fiberfdjtoenglid&en  Sßorten  gepriefen. * 

@S  i(t  ncuetbingS  über  5£affo  bon  feiten  feiner 
ßanbsleute  fo  biel  gcforfd^t  unb  gefd&rieben  toorben, 
»>aS  uns  gu  banfenStoertljer  23elel)rung  gereid&t, 
bafe  toir  uns  Billig  ttmnbero  muffen ,  toie  nodj 
leiner  ben  ^ilofopljen  unb  Staatsmann  Antonio 
SKontecatino  gum  ©egenftanb  einer  attonogra^ie 
genommen  Ijat.  Sludj  bie  Stoffe,  bie  er  im  ßeben 
StaffoS  gefoielt,  läfct  uns  eine  foldje  Untere 
fudjung  als  eine  feljr  intereffante  unb  loljnenbe 
Slufgabe  erfreuten. 


1  Franciscus  Patricius:  Discussiones  peripateticae 
(Basü.  1581  fol.).  Tom.  H  pag.  179—89. 

fluno  fSFifd^er,  @0e$es@$riftetu  19 


282  ©oe$e8  Torquato  fcaffo.  [180 

@d)on  in  feiner  olabemiföen  Stellung  ju 
fterrara  getoann  fid)  Slntonio  in  fjoljem  3tta&e 
baS  Vertrauen  beS  §erjog$.  <£r  toar  &oft)Ijilofol)lj, 
BeDor  er  ©taatsfecretftr  tourbe.  Salb  änberte  ftdj 
fein  Verhalten  gegen  Slaffo,  mit  bem  er  ungern 
bie  fürfilid&e  ©unft  feilte.  3fn  ben  ^Briefen  beS 
3)id)terS  an  ©ctyione  ©ongaga  aus  bem  SDiärg  unb 
October  1576  begegnen  toir  heftigen  ßlagen  toiber 
Slntonio:  er  fei  SßignaS  !Jiad)f  olger  nidjt  bloS  als 
©taatsfecretftr,  fonbern  aud)  im  Uebeltoollen  gegen 
i^n ,  nur  no<§  entfdjloff ener  unb  rttdfid&tslofer  als 
jener.  Sßäljrenb  feiner  Slbtoefenljett  in  2Äobena 
Ijabe  man  iljm  3immer  unb  ©affette  erbrod&en 
unb  feine  Srieffd&aften  burd&ftöbert.  3et}t  erfdjeint 
Slntonio  nid&t  bloS  als  fein  ^einb,  fonbern  als 
fein  Skrberber,  als  baS  §au:pt  einer  t>erfolgungS= 
füd)tigen,  toiber  iljn  toerfdjtoorenen  ©d&ar  t>on 
©egnern  am  §ofe  SllfonfoS,  als  ber  gefäljrlidtfie 
unb  fdjlimmfte  Don  allen,  ba  er  baS  Vertrauen 
unb  baS  Oljr  beS  &erjogS  Ijabe.  ©eit  Sauren  fei 
biefer  SJtann  bie  Duelle  aller  toiber  tljn  auSge= 
ftreuten  Serldumbungen  unb  baS  Sßerfjeug  iljrer 
Verbreitung,  ©etoöljnlidj  toermeibet  es  SEaffo,  bm 
yiamtn  felbft  ju  nennen,  er  fagt  «il  dottor»,  «il 


191]  SaffoS  fjfeinbe  in  Renata.  283 

consigliere  maligno»  ober  begetd)net  iljn  burd) 
aflerfjanb  bittere  ttmf d&reibungen :  „jener  ©op^tft 
unb  5J}f)tfof  oJ)lj ,  ber  bie  ßunft  gu  öffnen  unb  ju 
fdtfiefcen  Derfieljt,  ber  bte  5ßI}tlofoJ)ljie  fälfd&t,  tote 
bie  ©ieget  ber  SBriefe";  er  fagt  audj  too^t  iromfd): 
„jener  ©opljift  ober  Dielmeljr  5|}I}tlofo:pI) ,  toie  xä) 
fagen  tooflte,  idj  Derfpredje  mi<§  iebeStnal  (sempre 
qui  erro)'\ 

3En  ben  Sagen  fetner  jtoetten  3flud)t  Ijat  SEaffo 
eine  fe^r  auSfüIjrKd&e  Senlfd&rift  an  ben  &erjog 
Don  Urbino  gerietet,  toorin  er  feinem  3ugenb- 
frennbe  bie  ttebel,  bie  er  in  ^errara  jn  erbulben 
gehabt,  eingeljenb  f Gilbert  nnb  anf  ben  Slntonio 
afö  iljren  £auj)turf)eber  jnrütfftt^rt.  2)tefe  ©djrift, 
toie  man  ans  einem  gleidföeitigen  23riefe  SlaffoS 
an  feine  @d)toefter  fteljt,  ift  im  September  1578 
ju  5ßefaro  begonnen  toorben  unb  foHte  abfdjrifttid) 
Derbreitet  toerben,  um  gegen  bie  SSerleumbungen 
Antonios  iljm  ju  feiner  SIbtoeljr  unb  3tedjtfertigung 
ju  bienen. * 

1  Le  lettere.  Vol.L  Nr.  58, 86, 106, 109,  pg.  140, 218- 
220, 268, 282-89.  (Sin  ber  lefctgenannten  ©teile  figuritt  An- 
tonio als  „filosofo  di  nome  e  d'abito  e  sofista  d'ingegno 
ed  ippoerito  di  costume".)  Sögt.  Serassi.  Lib.  II.  pg.  215, 
230.  Not.  2. 

19* 


884  @oe$e8  Torquato  Xefio.  [U82 

3)er  ^ergog  blieb  bcn  ßlagen  SEaffoS  gegen* 
Aber  taub  unb  tljat,  als  ob  bie  ©))ione,  über 
bereit  §eimfud&ung  ber  S)id)ter  33ef#toerbe  führte, 
nur  ©cfd&öpfc  feiner  @inbilbung  toären.  ©elbft 
gute  Sreunbe,  toie  ßuea  ©calabrino,  toarnten  iljn 
bor  übertriebenem  Slrgtooljn.  ©ctotfe  toar  bie 
SBarnung  too^lgemeint  unb  in  trieler  ^inpd&t  be* 
grünbet.  2)a&  SEaffo  an  juneljmenbem  33erfolgung3* 
toaljn  litt,  ift  fidjer;  bod)  follte  man  barauS  nid)t 
ofyte  tDcttcrcS  fdjlie&en,  ba%  in  SQSirlli^feit  iljn 
niemanb  Verfolgt  Ijabe.  2)af$  toftljrenb  feiner 
Slbtoefen^eit  man  iljm  3intmer  unb  ©djatutte  er* 
brodln,  ba&  ein  2lugenjeuge  if)m  ben  2ftann  unb 
ben  ©djloffer,  bie  er  in  feine  SBo^nung  Ijatte 
geljen  feljen,  genannt,  bafc  er  felbft  ben  ©djloffer 
auf  gefugt  unb  biefer  iljm  ben  Vorgang  beftätigt 
Ijat:  ba§  alles  finb  bod)  nidjt  Singe,  bie  Staffo 
geträumt  ober  erfunben  unb  bann  feinem  fjreunbe 
unb  ©önner  ©cipione  ©onjaga  briefti^  bor* 
Jjljantajtrt  ober  Dorgefdjtoinbelt  1)<Ä! 

Ser  3ufammenljang  ift  einleudjtenb  genug, 
©eitbem  Sllfonfo  lou&te,  bafc  SEaffo  nadj  htm  #ofe 
ber  SDiebici  tradjte,  toar  es  mit  feiner  ©unft  t>or= 
über;  f eitbem  bie  -Weiber  ttmfcten,  baß  $affo  beim 


133]  £affo8  3?eistbe  in  frtxtaxtu 

£erjog  gefunfen  fei,  fönben  jte  ifjre  Seit  gelommen. 
Um  bem  Raubet  mit  Sforenj  grfiubtidj  auf  bie 
©pur  ju  lommttt.  bemäd&tigte  man  ftäj  feiner 
©orrefponbenjen ,  burdjftöberte  bie  borfjanbenen 
ttrie  bie  laufenben  Sriefe  unb  fanb  meljr,  als  man 
gefudjt  t)atte,  benn  e3  gab  au$  ©^reiben  öoH 
fritifdjer  (gintoürfe  unb  firdjUd&er  SBebenlen  toiber 
fein  SBerf.  -ftun  §atte  man  Setoeife  genug,  um 
bei  bem  §erjog  uidjt  blo§  SEaffoS  ©ienjitreue, 
fonbern  audj  feinen  2)id)terrul)m  in  9Jti&crebit  ju 
bringen.  68  ift  feljr  toaljrfdjeinüd),  baf$  biefe 
Spionerie  mit  htm  SBitten  beS  &erjog§  burdj 
Antonio  unb  beffen  SBerfjeuge  betrieben  tourbk 
SBann  Ijätte  bie  *ßolitif  ber  Scannen  unb  iljrer 
©ünfttinge  je  ein  foldjeä  3JlitteI  berfd&mftljt  unb 
entbehren  fönnen?  * 

2luf  biefem  SBege  tourbe  bas  ÜBerberben  StaffoS 
Befd&leunigt,  toogu  freiließ  aud)  feine  eigene  Un= 
Hugljeit  feljr  triel  beitrug,  ba  fte  btn  Seinben  in 
bie  £änbe  arbeitete.  @r  fettji  toar  Don  Sftatur 
fanft,  mitleibig  unb  berföljnlidj.  (Sin  3aljr  nadj 
feiner  Befreiung  fdjrieb  Antonio,  ber  nun  aud)  in 

1  Le  lettere.  Vol.  in :  della  prigionia  di  T.  Tasso. 
pg.  IX. 


886  tgoetycft  gotquoto  JCaffa.  [134 

her  ©unft  beS  ^erjogö  gefallen  fear,  an  Xaffo 
nad)  SDtantua  unb  ma^te  iljtn  eine  fetner  ©djriften 
jum  ©eft&enl  Sottet  3)anfbarfeit  antwortete  biefer 
fogletc^,  al§  ob  er  nie  ben  bttterften  ©roll  gegen 
Antonio  gehegt;  er  gebenlt  nur  feiner  SM&tung  oor 
beffen  IjoI)em  ©eift  unb  tiefer  ©eleljrfamfeit  unb 
begrüßt  fein  ©eföenf  als  ein  3*idjen  neuer  ober 
erneuerter  3*eunbfdjaft.  Sei  biefer  ©elegenljeit 
tyenbete  er  ber  SBijfenföaft  unb  ßeljrfunft  Antonios 
jenes  oben  ertoftljnte  8ob,  baS  nid)t  größer  gebadjt 
»erben  lamt.  * 

©oetlje  mußte  aus  €>erafft  toiffen,  baß  bie 
Verfolgungen,  toelc^e  SEaffo  in  Sferrara  ju  erleiben 
gehabt,  feineStoegS  nur  leere  unb  franfl)afte  (Sin- 
bilbungen  toaren;  aber  biefe  iljm  jugeffigten  ttebel 
fetjten  fotooljl  in  bem  (Sfjarafter  beS  £erjogS  als  in 
bem  feines  ©taatSfecretftrS  bösartige  3üge  borauS, 
bie  toeber  ju  ©oetljeS  SlfyljonS  nod)  ju  feinem 
Slntonio  faßten,  ©aljer  ließ  er  öon  ben  35er* 
folgungen  nidjts  übrig  als  ben  SJerfolgungS- 
toa^n  unb  naljm  fte  fämmtlid)  auf  bie  SRedjnung 
beS  ©idjterS.   3Äit  einer  ©eelenlenntniß ,  bie  nur 


1  Le  lettere.  Vol.  ÜL  Nr.  863,  pg.  232. 


186]  $le  {ßtinaeffln  Semiota  b'djte.  287 

Ujm  gu  ©ebote  ftanb,  bertoebte  et  biefe  $pijantajte= 
gebübe  beS  SlrgtooljnS  in  bie  ©runbjfige  eines 
bid)tertfd)=genialen,  Don  9iatur  finbtidjen  unb  arg* 
lofen  ©IjarafterS  unb  gemattete  bemgemäfc  baS  33ilb 
feines  Slaffo. 

VIII.  pie  ^rittjefltn  <£e<wow  b'gfle. 

©djon  bei  Öebjetten  StaffoS  ttmrben  bie  Utfad)en 
fetner  (Sinfyerrung  tote  lidjt|d)eue  Singe  angefeljen, 
bie  ber  3Jhntel  eines  bieten  ©eljeimniffeS  Der* 
berge.  Slaffo  felbft  fofl  einem  neugierigen  Qfrager 
geantwortet  Mafien,  ba§  bon  aüen  SQBtnben  berjemge 
am  toibertoärtigftcn  fei,  toeldjer  uns  ben  SJtantel 
raube.  2)a  nun  alle  SQSelt  an  feinen  @d)tdfaten 
ben  regften  Stntljeil  naljm  unb  über  beren  Urfadjcn 
Diel  gerebet,  aber  nid&ts  ©idjereS  gemußt  ttmrbe, 
fo  füllte  fidj  feine  2ebenSgefd)idjte  in  fjerrara  in 
einen  ©agenfretS,  unb  es  entftanb  eine  SEaffo* 
legenbe,  auf  bie  toir  im  näd)fteu  Stbfd&nitt  näljer 
eingeben  tooflen. 

SluS  ©eraffis  SebenSbefdjreibung  unb  StaffoS 
©riefen  fteKt  fidj  uns  ber  ©ang  unb  3ufammen= 
f)ang  feiner  ©d&ictfale  fo  beutüd)  t>or  Slugen,  bafc 
toir  nidjt   nötljig  Ijaben,  mit  unbefannten   ober 


168  <Boc$el  ätoquato  fcaffo.  [186 

gefjeunmfttooften   Urfa^en  }U  rennen.     3)agegen 
toaren  bie  3*ügenoffen  Aber  bie  ätorgänge  in  Qferrara 
unb  beten  innere  SSriebfebern  biel  gu  toenig  unter* 
richtet,  um  fid)  bie  ©efangenfd&aft  SLaffoS  genttgenb 
erflären  ju  fömten.   9hm  entflanben  ©erüdjte.  65 
Ijiefc,  ba&  ein  ßiebegljanbel  jttrifdjen   SEaffo  unb 
ber  Sßrinjeffin  Seonore  beftanben  ^abe  unb  plöt}lid& 
an  ben  5£ag  gelommen  fei.    2Bie  man  bte  @nt= 
bedung  gemalt,  barflber  timrbe  allerlei  gefabelt: 
balb  foflten  bie  SBetoeife  in  ben  Raineren  S£affo$ 
gefunben,  balb  ber  §erjog  felbft  ber  ungefeljene 
Slugenjeuge  getoefen  fein,  ber  in  einem  t>errät^e= 
tifdjen   ©})iegel    bie    ßiebenben  beobad)tet    Ijabe. 
SDiefe  unglüdflid&e  Seibenfdjaft  SlaffoS   toar  nad) 
ben  einen  bie  llrfad&e,  nad)  ben  anbern  bie  fjolge 
feines  SBaljnfinnS;  einige  hielten  fogar  ben  3BaIjn= 
finn  SEaffoS  für  eine  blofce  2Äa3fe,  bie  feiner  Selben» 
fdjaft  ben  ©djein  einer  tfjöridjten  Träumerei  leiten 
foKte. 

1.  S)ie  $erf5nli^fett  ber  SPrutjeJjtn. 

Seonora  b'ßfte  toar  mit  iljrer  ©Hefter 
ßuerejia  gemeinfäm  erjogen  unb  in  ben  fdjönen 
SBiffenf djaften  unterrid)tet  toorben,  jte  liebte  bie 
2)id)tfunft,  bor  allen  aber  bie  Sttufif,  bie  in  bem 


187]  $te  $rtn}ef{Ui  ßeonow  b'fcfte.  289 

£aufe  ber  6fte  mit  @ifer.  gepflegt  nmrbe  unb  audjj 

tyrem  Sruber,  bcm  §erjog  3llfonfo,  gu  Ijödjftem 

SBoIjlgefallen  gereifte.    3fn  tljren  bieten  einfamen 

©tunben  erquidte  ftd)  ßeonore  mit  bcm  ©enufc  itnb 

bcr  Ausübung  bicfer  Äunfi.   ©ie  erging  jtc§  gern 

in    ernften    S3etrad)hmgen  unb   ©eforddjen  unb 

fcatte  tum  iljrer  2Jlutter  bie   reltgiöfe   ©emflttjS* 

ort,  nur  ba&  fte  burd)  iljre  flöfterlidje  (Srjieljung 

t>or    „bem   fremben    Srrtljum"    ber  mtttterlidjen 

Äefcerei  betoaljrt  Blieb,  unb  gtoar  fo  ftreng  unb 

forgfftltig,  baft  t^re  fromme  ©inneSart  ben  Höfter* 

liefen  unb  ür^lic^en  ßljaralter  annahm,  nid)t  auf 

fanatifdje  2lrt,  fonbem  in  ber  fanften,  anmutigen 

unb  toofjltljfttigen  SBeif  e,  bie  iljrer  ©emütljsbef  djaffen= 

!)eit  entforad).    ©ie  lebte  toie  eine  getoeiljte  3ung* 

frau,  erfd&tcn  feiten  in  öffentlichen  Greifen  unb  blieb 

gern  in  i^ren  ©emftdjern  ober  in  länblidjer  ©.infam* 

ieit,  fem  öon  bem  ©etümmel  unb  ben  (Sitelleiten 

ber  SBelt.  3^re  Straft  jeigte  nidjtä  öon  toeiblidjem 

$Put}.     93on  Slatur  frftnßid)  unb  f)äufig  franf, 

toar  fte  aud)  burdj  iljre  lörperltd&en  3uftftnbe  auf 

ein  fold&eg  nad)  innen  geridjteteS,  öon  ber  2Beft 

abgeriebenes  ßeben  Ijingettriefen,  toomit  fid)  eine 

Weitere  Smpfänglidtfeit  für  geiftige  Qrreuben  unb 


290  ©octycft  XoTQuato  fcaffo.  [188 

einen  ertträljlten  gefeQigen  Äreig  redjt  tooljl  Dertrug. 
3m  Stoße  ttmrbe  fie  tote  eine  ^eilige  bereit, 
beten  ©ebete  für  toirffatne  ©djuijmittet  galten  unb 
fidj  in  Seiten  ber  !ftot!),  al8  ^errara  Don  tteber= 
fd&toetnmungen  unb  ©rberfdjfitterungen  Ijeimgefudjt 
tourbe,  audj  al8  fold&e  betDä^rt  ljaben  foHten.  2)ie 
©ebanfen  an  SBermäljlung  unb  tt>eltlid)$  Siebe  lagen 
iljr  fem. 

2.  SaffoS  (Sangone. 

2118  balb  nad)  ber  Slnfunft  SEaffoS  jene  pxa$U 
Dollen  §odföeit8fefte  in  gerrara  gefeiert  tourben, 
toar  bie  5J}rinjeffin  burdfo  längere  ßranfljeit  in  i^re 
3immer  gebannt  unb  unftdjtbar  für  bie  SBelt. 
©rft  na<§  SDionaten  fonnte  fie  ben  jungen  2)id)ter 
empfangen,  beffen  Sftinalbo  fie  gelefen  unb  lieb 
getoonnen  Ijatte.  SBie  innig  SEaffo  Don  beut  erften 
Slnblid  ber  fürftlid&en  fjfrau  gerührt  tourbe,  ^at 
er  f  elbjt  in  einer  feiner  f d&önften  ©anjonen  geföilbert. 
3)iefeu  ergreifenben  SDioment  lernte  ©oet^e  erft 
aus  ©eraffi  !ennen  unb  tonnte  baljer,  obtool)!  eS 
in  bem  erften  Sluf tritt  beS  jioeiten  SlcteS  gefd)iel)t, 
erft  in  ber  neuen  ©idjtung  feinen  SEaffo  biefeS  un* 
Dergefclid&e  ©rlebnifc  fd)ilbern  lajfen: 


189]  $te  Sßrhtsefftn  ßeonora  b'Gfte.  291 

Unb  iä),  ber  idj,  betäubt  oon  beut  ©etoiimnet 
2)e8  brdngenben  ©etoüljls,  Don  fo  biet  ©lattj 
©ebfenbet,  unb  oon  mattier  ßctbenfd&aft 
25en.egt,  bur<$  ftitlc  ©äuge  bcS  *Palaft3, 
2tn  betner  ©tyoeßer  Seite  fdjtoeigenb  ging, 
3)ann  in  ba3  3hnmer  trat,  too  bu  und  balb, 
2luf  beine  fjfrau'n  gelernt,  erfdjieneft  —  mir 
2öet$  ein  2Jtoment  toar  biefer! x 

3.  SaffoS  »riefe. 

SBir  toiffen,  tote  eifrig  bie  5ßrinjeffin  beftrebt 
tt>ar,  SCaffo  mit  ?pigna  gu  befreunben.  S3on  ben 
ßanjonen,  toorin  biefer  bie  fdjöne  Öucrejia  SBenbibio 
fcerijerrtidjt  ober,  wie  S£affo  fagte,  vergöttert  Ijatte, 
toftljtte  er  brei  unb  beurteilte  fie  auf  ba3  günftigfte 
in  einer  ©djrift,  bie  er  ber  5prhtjeffin  toibmete. * 

SSott  ben  glüdEItd^en  Sauren,  bie  SEaffo  in 
3?errara  erlebt  Ijat,  loar  ba§  $al)r  1573  triefleid&t 
bas  glüdlid&fte.  3m  ftrüljüng  (atte  bie  3Iuf* 
fttljrung  feines  Slminta  ben  §of  in  Serrara,  im 
©ommer  ben  in  5ßefaro  entjüdt,  tooljin  ßuerejia 
ben  2)idjter  mit  fid)  genommen  Ijatte.  SQBä^rcnb 
iljrer  gemeinfamen  SBiKeggiatur  in  ©aftelburante 
fd&reibt  er  ben  3.  September  1573  an  bie  5ßrin= 

1  II.  1.   »gl.  Serassi.  Lib.  II,  pg.  131. 

2  Le  Lettere.  Vol.  I.  Nr.  8.  (1568).  ©.  oben  ©.  119. 


292  <3oc$eS  Xoxquato  fcaffo.  [140 

geffin,  ber  er  jebe  neue  3)idjtung  ju  fenben  t>er= 
foroifcen  Ijatte,  unb  fd)i<ft  iljr  ein  ©onett,  toorin 
ein  armer  ßiebljaber,  ber  ben  3toift  mit  ber  @e- 
liebten  nidjt  länger  ertragen  fann,  jtdj  enbttd)  ergiebt 
unb  um  ©nabe  fleljt.  ©a  nun  Meter  arme  ßieb- 
Ijaber  natürlid)  ber  SDid&ter  felbft  ift,  fo  $at  man 
fein  ©onett  für  ein  ßiebeSbelenntnifj  angefeljen, 
toeldjeS  ©ioöanni  SRofini  auf  bie  Sßrütjef  fin  ßeonore, 
©aetano  ßappont  bagegen  auf  bie  Sßrinjeffin 
ßucrejia  Bejogen  toiffen  ttritt.  @o  geljt  e3,  toenn 
man  Sonette  für  ©ocumenie  anfielt! * 

©leidd  in  ber  erjien  3*ife  feines  SriefeS  ent« 
fd&ulbigt  fid)  SEaffo,  ba$  er  feit  Sütonaten  gefd)toiegen 
tyabe,  toorauS  allerbin  g§  erteilt,  bafy  jttrifd&en  ber 
Sßrinjeffin  unb  iljm  ein  Sriefttiedjfel  beflanb.  Unb 
ba  bis  Ijeute  nur  groei  fixere  Sriefe,  bie  beiben 
angeführten ,  belannt  finb ,  fo  muffen  bie  übrigen 
öerioren  gegangen  ober  öernidjtet  loorben  fein.  Sin 
britter  im  ©efängnift  gefd&riebener  Srief,  toomit 
er  bie  SBibmung  feiner  gefammelten  ©ebid&te  an 
beibe  *ßringeffinnen  begleitet,  Ijat  für  bie  gegen* 
toärtige  fjrage  leine  »eitere  Söebeutung. * 

*  Le  lettere..  Vol.  I,  Nr.  16,  pg.  47.  Not.  1. 

»  Gbenbaf .  Vol.  II,  Nr.  140  (20.  Nov.  1580),  pg.  99. 


141]  $le  Sßrinaeffln  ßtonota  b'dfte.  898 

4.  ©ofronia  unb  Olinbo. 

@S  ift  feljr  toaljrfdieinüd),  bafe  her  tiefe  unb 
rfiljrenbe  ©nbrudf,  ben  biefe  fromme  5J>rinjefjut 
auf  SEaffoS  rclißtöfe  5ßl)antafte  ausgeübt,  audj  in 
ben  gletdjjettigen  Anfängen  feines  grofcen  8j>o8 
fortgetoirlt  unb  namentlid)  in  Jener  berühmten 
©pifobe  beS  jtoeiten  ©efangeS  ft$  ausgeprägt  Ijat, 
toorauS  ju  SefftngS  3*iten  unfer  ©ronegf  eine 
d&rtftltd&c  SCragöbte  mad)en  tooflte.  l 

S)er  Äönig  t>on  Serufalem  tofitljet  gegen  bie 
©Triften,  bie  baS  SDiabonnenbtlb  toieber  geraubt 
fjaben  fotten,  toeld&eS  er  iljren  ^rieftern  entriffen 
unb  auf  ben  SRatlj  eines  3<*ubererS  in  bie  üötofdjee 
gebraut  f)at,  bamit  es  ber  ©tabt  jum  StaliSman 
totber  baS  £eer  ber  Äreugfaljrer  biene.  ©a  er= 
f^etnt  bie  fromme  ©ofronia  unb  belennt  ben  Staub 
berübt  ju  ^aben,  um  fidj  für  iljre  ©taubenSgenoffen 
ju  opfern;  alsbalb  aber  eilt  ber  Junge  Oßnbo 
fjerbei  unb  giebt  fidj  für  ben  Släuber  aus,  um  für 
©ofronia,  bie  er  liebt,  ober  mit  itjr  gu  fterben. 
SBie  ber  ©id&ter  biefe  ©ofronia,  eine  ©eburt  feiner 


Seffing:  ^amfcurgifdje  Dramaturgie,  ©tfiel  I— V. 


894  (Bottytl  Torquato  Xafto.  [148 

Spijantajte,  fdjilbert,   toergegentoärtigt  ftd)  uns  ba8 
33ilb  bet  ßeonora  b'ßfie: 

©in  2Rabd&en  toar'*,  no$  in  beS  Beben*  ÜJlorgen, 
(gntgÄdenb  föön,  ergaben  Don  ©emütlj; 
Äanm  föien  flc  meljr  für  tljren  IReig  gu  forden, 
2118  toetf  burdj  ü)n  bie  Xugenb  frönet  blüljt. 
Sftx  grd&ter  Söertlj  ijt,  ba&  fte,  jiitt  Derborgen, 
3>em  SBItcf  bei  SBelt  bett  grölen  2Bertl)  entsteht 
Unb  ferne  Don  ber  ©djmeid)Ier  ßob  unb  Streben 
3n  Sinfamfeit  es  toagt,  ft<$  felbft  311  leben. 

SfretKd)  ftanb  ßeonore,  bie  bantate  bte  bret^ige 
fi&erfdjritten  Ijatte,  nid)t  tneljr  „in  be§  ßebenS 
SDiorgen",  aber  biefe  2Borte  fielen  aud)  ntd^t  im 
SEejt,  fonbern  nur  in  OrieS'  Ueberfefcung.  SCajfo 
fc^rieb : 

Vergine  era  fra  lor,  di  giä  matura 
Verginita. 

2)iefer  3ug  pafjt  ganj  auf  bie  5Prinjeffin  unb 
tt)äre  oljne  iljr  SSorbilb  tooljl  fd)toertidj  ber 
©ofronia  eigen  getoefett-  Sie  ©Witterung  OHnboS 
gteid&t  bem  Siebter  felbft,  bet  ju  ßeonoren  empor« 
Wirft: 

©ofronia  unb  ©ftnb  nennt  man  bie  beiben, 

S)erfelben  ©tabt,  beffelben  ©laubenS  3«r, 

©0  retjenb  fle,  fo  feljr  ift  er  betreiben, 

Soll  äöunfö,  an  Hoffnung  arm,  fem  Don  SBegier; 


148]  2>te  Sßtingeffin  Scottora  b'@fte.  295 

.    3u  rcbcn  Bang,  erträgt  er  ftitt  fein  ßetben, 
SBemt  ntd&t  r»erf<$mal)t,  bo<$  unbemerft  öon  tljr. 
©o  Ijat  ber  Sinne  längft  für  fie  gefd&madjtet, 
S)te  tljn  nidjt  ftefjt,  nidjt  fennt,  öietteidjt  bereitet.  * 

2lffe  39ebenfen,  tocld^e  bic  3tetriforen  beS  ©e= 
bidjtes  fcorgubringen  Ratten,  bereinigten  fid&  gegen 
biefe  (Sjrifobe,  unb  S£affo  toar  nalje  baran,  fie  gu 
vertilgen.  SBenn  et  eS  nid&t  iljat,  fo  gefdjal)  es, 
tote  ex  an  ©cipione  ©ongaga  ben  15.  3fyrtf  1575 
fdjrieb,  „beut  eigenen  ©eniuS  unb  beut  Surften  gu 
Siebe".  2Ufo  Ijatte  Sltfonfo  an  jener  ©ptfobe  ein 
befonbereS  SBoIjlgef allen  gefunben,  beffen  ©runb, 
tote  ©erafft  meint,  lein  anberer  fein  tonnte  als 
bie  ©djilberung  feiner  ©djtoefter  in  ber  ©eftalt  ber 
©ofronia.  2 

2Bie  lebhaft  ntu&te  ftdj  ©oetlje  t>on  biefer  bid)= 
terifdjen  SEIjat  SEaffoS,  bie  itjtn  ©eraffi  ergäbt  Ijat, 
angeforodjen  füllen!  SQßar  fie  bodj  gang  in  ber 
9trt  feines  eigenen  ©eniuS.  2ludj  SEaffoS  Siebe 
offenbarte  ftdj  in  feiner  Sidjtung :  eine  ljolje  fixan, 
bie  er  bor  Slugen  unb  int  bergen  Ijatte,  tourbe 
bie  2Jtufe  feines  ©ebidjteS,  unb  eine  ber  rüljrenbften 


*  Ger.  Lib.  IL  Str.  14-16. 

*  Le  lettere.  Vol.  I.  N.  25.  SBgl.  Serassi.  Lib.  II, 
pg.  196—98. 


(BoetyeS  Torquato  fcafFo."  [144 

©eftalten,  bie  er  gefdjaffen,  toar  tum  feiner  ßtefie 
ju  t^r  inf^irtrt.  9lun  ertoeiterte  fid)  ©oetlje  ben 
Umfang,  in  toelc&em  biefe  ßiebe  SEaffoS  auf  bie 
©eftalten  feines  @po8  etngetoirft  unb  fi$  in  ben* 
fetten  gleidjfam  öerf örpert  Jjatte :  fte  tft  nid^t  6I0S 
©ofronia,  fte  tft  au<$  Arminia  unb  ©forinbe, 
er  tft  ntd)t  bfos  OKnbo,  fonbem  au$  SCancreb. 
@o  entftanb  jene  ©teile,  toorin  fein  Staffo,  I)in= 
geriffen  Don  ber  ©egentoart  ßeonorenS  unb  bem 
Sfloment  iljreg  3totegeforäd)8,  fein  befreites  3teru» 
falem  in  ein  SBefenntnifc  feiner  ßiebe  fcertoanbeft. 
Unfere  gange  2)id)tung  ift  in  biefen  SBorten  glei(Ij* 
fam  concentrirt,  benn  alles  Vorangegangene  ifi 
barin  gefamnteft  unb  alles  ^olgenbe  geljt  barauS 
Ijerbor : 

SDßaS  au$  in  meinem  Siebe  toiebetftingt, 
3$  Bin  nur  ©iner,  ®iner  alle«  föulbtg! 
®3  fdfjtoebt  fein  getftig  unbeftimmteS  S5tlb 
Jöor  meinet  ©tirne,  baä  bet  ©eete  balb 
©i<$  überglänjenb  naljte,  balb  entzöge. 
SDUt  meinen  3lugen  fjab'  i<$  e8  gefeljn, 
5)a8  Urbilb  jeher  Xugenb,  jeber  ®<$öne; 
SBa8  id&  nad)  iljm  gebübet,  baS  toirb  bleiben: 
2ancreben8  #elbenliebe  gu  CStyforinben, 
®rminien8  fHtfe,  ntd&t  bemerfte  Shreue, 
©ofronienS  ©ro&Ijeit  unb  OlinbenS  Utotl), 


145]  Sie  gfringeffto  Seonota  b*@fte.  897 

(£8  ftnb  niajt  ©Ratten,  bic  ber  SBaljn  erzeugte, 
3$  toeifc  e8,  fte  ftnb  enrig.,  benn  ftc  finb. 
Unb  toa8  f)at  mef)r  ba8  IRed^t,  Saljrtjunberte 
3u  bleiben  unb  im  ©litten  fortauttrirfen, 
Als  baS  @eljeiinni&  einer  eblen  Siebe, 
2)em  $olben  Sieb  bef Reiben  anvertraut?1 

5.  S)a8  ©efdjenf. 

■ftad)  feiner  SftüdEfefjr  aus  Stanfret^  toar  SEaffo 
mit  bem  1.  Sanuar  1572  in  bie  ©ienfte  beS 
£erjogS  getreten,  bodj  Begab  er  fi<$  ntc^t  gleidj 
an  Ort  unb  ©teile,  fonbern  blieb  brei  bis  trier 
3ttonate  in  3tom,  elje  er  am  1.  9Jlai  in  {Jerrara 
eintraf.  Äaum  toar  er  angelangt,  fo  erhielt  er 
t)on  ber  £anb  ber  5ßrinjefftn  ßeonore,  bie  fid) 
bereits  in  ßonfanbolo  auffielt,  baS  ©efdjenf  einer 
fttnftooflen  ©tieferei,  toomit  ber  ©inbanb  eines 
ShidjeS,  baS  iljr  SEaffo  geliehen  Ijatte,  gefdjmfidft  toar. 

©ie  fjatte  biefeS  ©efdjenf  mit  folgenben 
3eilen  begleitet:  „liefet  oljne  baS  größte  2Biber= 
ftre6en  unb  nur  auf  3ljre  ttrieberljolten  Sitten  Ijabe 
td)  midj  entfdjüefcen  lönnen,  mit  meiner  -Kabel  ben 
2)edel  eines  93ud)eS  ju  fd&müdfen,  baS  id)  jur 
@ljre    meines    ©efdjtedjteS    eigentlich    ^ätte    ben 


'  n.  1,  JB.  1092-1108. 
fiuno  Sfifd&et,  ©oet$e*@c$ttften.  20 


298  Goetye»  Torquato  Xafio.  [146 

ftlammen  übergeben  foflen.  Sodj  i$  toiU  baS 
®ebot  be§  (ätoangeliumS  befolgen  unb  unferen  fjcin* 
ben  tooljltf)un.  ®a§  ©efdjeni  meiner  ©djtoefter 
toirb  bem  meinigen  guöorgefommen  fein  unb  mufj 
burd)  bie  gefdjidftere  Äunft,  n>te  burd)  bie  $erfon 
ber  ©eberin  in  Stljren  Slugen  ben  größeren  SQBcrt^ 
ljaben;  ber  be£  meinigen  befielt,  tüte  gefagt,  nur 
in  ber  e&angetifdjen  &anblung,  bie  idj  um  3ljret= 
toitten  geübt  Ijabe.  3!jnen  gebührt  jebeS  3*idjen 
ber  #odjfdjät}ung  unb  beS  SBoljfoolIenS.  ©ott 
gebe  31jnen  afleä  ©ebeiljen."  Sie  unter geidjnet : 
«Desiderosissima  di  servirla  Leonora  d'Este». 
Saffo  antwortete  ben  5.  9Jlai  mit  einem  (Srgufc 
überftrömenben  2)anfe3  unb  ausfdjliefcenber  &ulbi= 
gung:  „Sa8  ©efdjenf,  toeldjeS  (Sure  ßjeeffeng 
mir  gu  fenben  geruht  ljaben,  ift  faft  mit  mir  gu= 
gteidj  nadj  3-errara  gefommen  unb  für  midj  armen 
6belmann  ein  fo  reidjer  unb  loftbarer  ©djai},  bafc 
idj  fidjer  bin:  toenn  Sfafon  nod)  lebte  unb  mit 
feinen  Argonauten  erf d&tcnc ,  toürbe  er  biefen  ©djatj 
nidjt  bloS  bem  gotbenen  SSliefe,  fonbern  ben  fel= 
tenften  unb  fojlbarften  Singen  ber  gangen  SBett 
öorgieljen.  SDlit  Ijeifjen  SBünfdjen  Ijabe  idj  bie 
Sftücffeljr  an  biefen  £of  erfeljnt,  too  idj  Dom  erften 


147]  $ie  SßtinaeffUt  ßeottota  b'@|te.  299 

SlugenMid  an  tncin  &erj  burdj  fanftc  unb  fefte 
»anbe  gefeffelt  füllte.  3efct  ^offc  td),  bafc  ber 
Stob  allein  im  ©taube  fein  toirb,  biefe  SBanbe  ju 
löfen  unb  midj  ton  biefem  &ofe  ju  trennen.  Sitte 
meine  $Pfli(§ten  toeilje  idj  3fljnen  unb  ber  erlaubten 
fjfrau  ßücrejia,  beren  ©efdjenf  i<$  in  Ijödjften  (Sljren 
^alte,  benn  e$  tfl  Sljre  @(§toefter,  aus  beren 
£ftnben  e8  lommt.  @8  bergegentoärtigt  mir  jene 
Orte,  too  id)  ber  eitlen  Sagbluft  gefröljnt  Ijabe 
unb  barauf  ausging,  unfdjulbige  Spiere,  tote  &afen, 
£irfd&e  unb  9tel)e,  ju  treffen;  3fljr  ©efdjen!  erfreut, 
ja  befeligt  meine  ßinbilbung,  ba  e§  mir  jenen 
glfldfeligen  Ort  gurttdruft,  too  tdj  felbft  getroffen 
tourbe.  3d)  »erbe  biefeS  ©efdjenf  fo  forgfältig 
unb  eifrig  betoaljren,  toie  bie  Seftalinnen  btö 
Ijeilige  Qfeuer.  SBie  biefeS  ben  Slltar  ber  ©otttjeit, 
fo  fott  jenes  meine  SDlufc  nähren,  bie  idj  ber  33er* 
Ijerrlidjung  ber  gelben  unb  Lettinnen  3Ijre3  ur* 
alten  erhabenen  §aufe3  getoeiljt  IjaBe:  t)or  allen 
ßiner,  beren  9tame  ieber  unb  jebe  in  ©fjren  Ijält 
(le  onora)."  1 


i  Le  Lettere.  Vol.  Nr.  1563,  pg.  227, 256.  »eibe  »riefe 
finb  öon  bem  ©rofen  3ttoerti  in  feiner  #anbfdjriftenfcunm» 
fang  aum  erften  mal  1837  t>eröffentli$t  unb  Don  ©uafti 

20* 


IM  Otocty»  gotquato  Jtaffo.  [148 

6.  Sie  mütterliche  Grbfd&aft. 

9?ad)  beut  SEobe  ber  £crgogin  Renata,  bie  ben 
2.  3ult  1575  in  iljrem  £eimatlj3lanbe  geftorben 
toar,  gelangte  bic  ^Priitjcffin  ßeonore  in  ben  SJefifc 
ber  mütterlichen  ©rbfdjaft  unb  baburdj  in  eine 
öfonomifdj  bequemere  Sage,  als  iljre  bisherige 
getoefen  toar.  Slaffo,  tote  totr  ttriffen,  toar  toon  ft<$ 
aus  ganj  arm;  bte  JBefolbung,  bte  er  al$  «corti- 
giano»  erhielt,  toar  fo  gering,  bafc  t^m  ber  §erjog 
jene  5ßrofeffur  ber  SDlatljematif  erteilte,  bte  feine 
Sirbetten  faum  unb  feine  (Sinfünfte  etma§  bermeljrte. 
2Ran  meine  nidji,  bafe  bte  italientfdjen  dürften 
jener  3^tt  überaus  freigebig  toaren,  toeber  bie  <£fie 
nod)  bie  9Kebici.  9118  SCaffo  bie  ©efangenfdjaft 
überftanben  §atte  unb  be3  Slllernöiljigften  entbehrte, 
fdjenite  iljm  bie  ©ro^erjogin  t>on  SDtöfana  ein 
paar  Stfjaler  unb  nadjljer  einen  ftlbernen  33edjer, 


in  ben  Slnljang,  fetner  tluSgabe  bet  ^Briefe  £affo8  auf- 
genommen toorben;  er  beaetd&net  fle  als  Sfyofrtyrfja,  oljne 
fte  beSljalb  für  uned)t  ju  galten;  im  ©egentljeil,  er  nennt 
iljre  Slufftnbung,  »eine  fcl)r  glfiiflid)e\  —  3)a8  ©üb,  toeld)e8 
bie  ^ringef fln  geftidft  Ijatte,  toar  eine  §atte  in  (Sonfanbolo. 
SBeibe  ©ä)toeftern  übten  bie  Äunfi  ber  ©tiderei,  tooritt 
tyte  ÜUtutter  eine  meifterfjafte  fjertigfeit  befafc. 


149]  Sie  $tttt|effln  ßeonota  b*<5fte.  901 

für  tpclc^e  großmütigen  ©eföenle  er  fidj  bemütljtfl 
ju  bebanlen  Ijatie. 

3el}t  toerforad)  iljm  bie  5JJritt jcffin  ßeonore  eine 
©elbunterftüfcung.  3m  SIprtf  1576  treibt  Saffo 
feinem  fjreunbe  ßuea  ©catabrino:  „SJtabama 
ßeonora  Ijat  mir  Ijeute  ganä  aus  freien  ©tüden  ge= 
fagt,  bafc  fie  bis  jeijt  fidj  in  einer  t>ecumär  beengten 
ßage  befunben  Ijabe,  nun  aber  burdj  bie  müttet* 
Udje  (Srbfdjaft  in  gttnftigere  SSetfjftltniffe  gefommen 
fei  unb  mir  einige  §ütfe  ju|ommen  lajfen  toolle* 
3fd(j  forbere  nidjts  unb  toerbe  nidjts  f orbern,  tdj 
toerbe  audj  nidjt  an  biefeS  JBerforedjen  erinnern, 
toeber  fie  nodj  ben  $ergog.  2Bemt  fie  e§  tljut, 
toerbe  idj  jebe  Herne  ©unft  banfbar  empfangen 
unb  gern  annehmen." *    ©rfjatien  Ijat  er  ntdjte. 

2tud)  biefe  ßrjäljtung,  toie  bie  ßenntmfj  be8 
SJriefeS  an  ©calabrino  fdjöpfte  ©oetlje  lebiglidj 
aus  bem  SBerfe  ©eraffis.  @r  Ijat  biefelbe  in  ber 
eigenen  2)i<$tung  fo  bertoertljet,  bafc  in  bem  Silbe 
feiner  ?Prin3effm  ein  feljr  djarafteriftifdjer  3ug 
barauS  $ert>orghtg.  @ie  gefielt  fetbft,  bafj  tfyre  öfono* 
tntfd&c  ßage  gu  eingefdjr&nft  toar,  um  nadj  ©efatten 

1  Le  lettere.  VoJ.  I.  Nr.  62,  pg.  159.  3g(.  Serarai. 
Lib.  II,  pg.  222, 


808  (SoetycS  Sotquato  fcaffo.  [150 

tljren  Qfreunb  unterftftfcen  ju  lönnen.  ©in  gutes 
SBort  bei  iljrem  ©ruber  ljfttte  iljr  geholfen.  SBarum 
fagt  pe  e8  nidjt?  3>on  biefem  Sllfonfo,  tote 
©oetlje  xtyx  gefaxt  ljatte,  war  leine  Äargljeit  ju 
befürchten,  benn  fxe  Detirägt  ftdj  toeber  mit  jei&er 
brttberüdjen  nodj  mit  feiner  fürfttid^cn  Slrt.  S)afj 
fie  fötoeigt  unb  bie  Sitte  jurflcHjftlt,  rnufc  baljer 
in  intern  eigenen  ßljaralter  begrflnbet  fein  unb  nad) 
ber  Slrt,  toie  ©oetlje  bramatifd)  ju  beulen  pflegt, 
aus  intern  innerften  SBefen  motünrt  toerben.  So 
entfielt  jener  jarte  unb  tiefgegrünbete  3ug,  oljne 
ben  wir  uns  bie  ©eeleneigentljümttdjfeit  ber  ?ßrins 
jeffin  in  unferem  £affo  nidjt  fcorfietfen  fönnen; 
jugleidj  Ijat  ©oetlje  mit  großer  Sfeinljeit  biefen 
3ug  benflfct,  um  bie  beiben  ©djtoeftern  gu  unter» 
fdjeiben : 

3$  fann,  bu  toeifet  e8,  meine  gfteunbtn,  nidfo 

SOßtc'«  meine  ©djtocfhr  üon  Urbino  fann, ' 

Srür  mid&  unb  für  bie  9tt einen  toa§  erbitten. 

3$  leBc  gern  fo  {litte  üor  mid&  fjin 

Unb  neunte  öon  bem  ©ruber  banlbar  an, 

2öa8.er  mir  immer  geben  lann  unb  toitt. 

3<6  tjabe  fonft  barüber  mannen  Jöortourf 

SJlir  felbft  gemalt;  nun  Ijab'  i$  übertounben.  ; 

<£*  fäalt  mid&  eine  Sfreunbin  oft  barum:  | 

2)u  bift  uneigennfifeig,  jagte  fte, 


151]  SMc  jßrtnaefffo  ßeonora  b'fcfte.  303 

$a3  ift  red)t  fäön;  allein  fo  fefjr  btft  bu'8, 
Stafe  bu  auä)  bas  Jöebfirfnife  betner  gfreunbe 
Sftidjt  redjt  empftnben  lannft.      3$  Ia|f  c8  gefm, 
Unb  mufj  benn  eben  biefen  SBoramrf  tragen. 
Um  befto  meljr  erfreut  es  miä),  bat*  id) 
ÜKun  in  ber  £ljat  bem  gfreunbe  nüfcen  fann; 
@8  fättt  mir  meiner  9Jlutter  (Srbfdjaft  au, 
Unb  gerne  null  iä)  für  iljn  forgen  Reifem1 

6.    2)a8  Sonett:  «dubio  crudele». 

Sie  £ulbigungen,  toeld&e  SEaffo  bcr  frönen 
©räfin  ßeonora  ©anfcitaü  barbradjte,  fd&einen  bie 
5Prinjeffin  ernftlidj  berfttmmt  gu  Ijaben,  fic  nafjm 
ben  Steter  ate  einen  teidjtfinnigen ,  treulofen 
Slattergeift  unb  tieft  iljn  burdj  bie  Aalte  iljreS 
33encl)men8  unb  ben  getrübten  2lu3brud  iljrer 
Seltenen  bte  SSeränberung  iljrer  ©efüfyle  toal)r= 
nehmen.  SEaffo  beltagte  ft<$  barüber  in  einem  ©onett, 
btö  er  an  bie  erlaubte  ßeonora  b'©ftc  ridjtete 
unb  iljr  jufenbete;  fie  fd&idte  es  mit  ber  Ueberfdjrift 
«Dubio  crudele»  unb  einer  Sfteilje  33emer!ungen 
jurüd,  bie  fie  über  getoiffe  ©teilen  be§  SEegteS 
auf  bie  ßeljrfeite  be§  SBlatteS  getrieben  Ijatte. 

3(n  bem  legten  SEerjett  toaren  bie  ßaunen  beS 
2lmor  mit  bem  treutofen  SJJteere  öergltd^en,   baS 

i  III.  2.  35.  1751-1768. 


SO*  0oct$e»  Sotquöto  «toffo.  [IBS» 

betn  ttnto>rjtd)tigen  ©teuermann  bie  fpiegelglatte 
ftlädje  geige,  i!jn  Jrföfcüd)  berf dringe  unb  unter: 
Ältypen  unb  Ungeheuern  begrabe.  3n  Segie^ung 
auf  „ben  unborfidjtigen  ©teuermann"  ttmrbe  be* 
merft:  „SBie  ber  5ßoet,  ber  fid)  felbji  nidjt  gu  be* 
fjertfdjen  unb  nod)  weniger  3unge  unb  Qfeber  gu 
gfigetn  fcermag".  SBenn  im  SEejt  ber  Untergang 
BeHagt  ttmrbe,  ben  tljm  bie  ßiebe  bereite,  fo  fanb 
bie  Seferin  gu  bemer!en:  „Ungered&t  ift  ber  $oet, 
ber  anberen  guf djreibt,  toaS  gang  unb  gar  feine 
eigene  ©djulb  ift". 

©lei<$  in  ber  erften  3ctlc  erinnert  ber  SDidjter 
an  bie  3*it  ü)rer  früheren  Neigung,  SDie 
©egenbemerfung  Ijiefc:  „3eidjen,  bafc  er  fie 
batnate  oerbiente".  2)a  ber  Sinter  Don  feinem 
bergen  foradj,  ba8  in  flammen  gelobert  $abe,  fo 
ttmrbe  entgegnet:  „SBie  ba3  ©trolj,  toetdjeS  fdjnetf 
brennt  unb  fdjnetf  erlifdjt".  3fn  bem  ©onett  toar 
gejagt,  bafj  bie  ßeferin  biefe  {flamme  genährt  unb 
fid)  berfelben  erfreut  ljabe.  S)ie  ©egenbemerfung 
Ijiefj:  „SBorüber  fie  SReue  genug  entpfmbet". 

2)iefe8  ©onett  ift  erft  neuerbingS  in  ber 
SPrtoatbibliotlje?  be8  £ergog8  Don  5ßarma  auffle- 
funben  unb  bem  iüngften  Herausgeber  ber  SBriefe 


158]  $ie  gfttnatffht  Seonota  b'Gfte.  806 

SSaffoS  mitgeteilt  toorben,  bcr  e3  toeröffentüd&t 
Ijat  uttb  feine  @d)tljeit  ntd&t  bejtoeifett;  er  nennt 
e8  „ein  I)ödjft  merltoürbigeä  ©ocument".  £anb* 
fdjriftlunbige  SDiftnner  fjaben  feftgefteflt,  ba&  ber 
Sfcejt  t>on  ber  £anb  S£affo8,  bie  lleberfdjrift  unb 
bie  @egen6emer!ungen  Don  ber  £anb  ber  5ßrin= 
jeffin  ßeonore  Ijerrüljren. * 

2Bir  erinnern  uns,  ba§  in  ben  Sättigungen 
für  ßeonora  ©ant>itati  Staffo  unb  ©uarini  toett* 
eiferten,  unb  biefer  in  einem  ©egenfonette  jenem 
feine  ©o^t>cIticBc  bortoarf:  „(Sr  rüljmt  fid&  jtoeier 
flammen"  u.  f.  f.  2>afj  bie  eine  biefer  flammen 
bie  junge  ©röfin  ©canbiano  toar,  ift  gettrifc; 
aber  toir  mußten  gegen  ©eraffi  bejtoeifetn,  bafc 
ßuerejia  33enbibio  bie  anbere  toar.  ©iefe 
flamme  brannte  jeljn  Sfaljre  früher,  toäljrenb 
bie  beiben,  toeld&e  ©uarini  meint,  offenbar  gteidj* 
jettig  lobern. 

§at  eS  mit  bem  «dubio  cradele»  feine 
Stidjttgfeit,  fo  finb  bie  beiben  flammen  bie 
Reiben  ßeonoren:  bann  ttritrbe  e8  fidj  mit  bem 
@inn    ber  SBorte    ©uarinis    fo   öerljatten,    toie 


*  Le  lettere.  Vol.  in,  p.  XXX  —  XXXI. 


806  Coetfteft  Torquato  £affo.  [164 

©oetlje  btefclbcn  genommen  unb  feinem  Antonio 
geliehen  ljcit.1 

£fttte  ©erafft,  ber  bie  SBegieljungen  ber  ßiebe 
jtmfdjen  ber  ?ßrtnjef  jtn  unb  bem  2)id)ter  bötttg  in 
Slbrebe  fteHt,  biefeg  ©onett  gelaunt,  fo  toürbe  er 
fdjtoerlidj  öerneint  ljabcn,  bafe  ßeonora  b*@fte  für 
Saffo  eine  getoiffe  «debolezza»  gehabt  Ijabe. 

8.    $aS  <£nbe. 

3m  ßaufe  beS  3al»re8  1576  nmrben  SEaffoS 
franff)afte  Stimmungen  immer  büfterer  unb  un= 
leiblicher.  SBergeMidj  nahmen  iljn  ber  £erjog  mit 
fidj  nad)  33elriguarbo,  bie  ^rinjeffin  mit  fidj  nadj 
(Sonfanbolo,  tt)o  er  im  3(uü  elf  SEage  bei  iljr  toer= 
»eilte.  3loäj  ein  Saljr  Ijielt  er  e§  in  ijerrara 
aus,  bann  begonnen  bie  Srrfaljrten. 

3luf  bie  JBriefe,  bie  er  öon  ©orrent  toegen 
feiner  3lüdfeljr  an  ben£erjog  unbbeffen  ©djtoeftern 


1  6.  oben  VII.  2.  ©.  124.  S)a8  (Bebtet  würbe  unter 
ben  papieren  £affo8  gef unten;  ber  ©equefter  ber  legieren 
bemerft  barüber:  „biefeS  Sonett  f<$rieb  Stoff  o,  toäljrenb  er 
ber  ©anoitali  feine  §ulbigungen  barbradjte".  ®«  flammt 
alfo  aus  bem  3atyre  1576.  (Secdjt  nimmt  e3  aU  ein 
ljiftortf<$e8  3)ocument  für  baS  8iebeöt>erljättni&  jtotfd&en 
Saffo  unb  ber  ^rinjeffin. 


166]  $le  tfrta§effta  Äeonora  b'Gfte.  807 

gerietet  ijatte,  attoortete  nur  bie  ^rtnjefftn,  aber 
j>$ne  alle  Hoffnung,  nodj  ettoaS  für  i^tt  tljun  ju 
fönnen.  Sßa^  feiner  Sfcüdletyr  toon  ©orrent  unt> 
Sftom  mu&te  er  ftdj  überzeugen,  bafe  ber  ttertrautidfee 
SBerfeljr,  ben  er  mit  ben  fürftlidjen  ©(^toeftern  ge- 
habt Ijatte,  ntc^t  meljr  beftanb.  ©eine  ßlagen 
fanben  bei  i^nen  fein  ©et)ör,  iljre  Spüren  blieben 
iljtn  toerfdjlojf en ,  bie  Stfyürljüter  toiefen  iljn  ab, 
feine  gange  ßage  geftaltete  fidj  fo  petnlid),  bafs  bie 
jtoeite  gflud&t  erflärüdjer  toat  als  bie  erfte. l 

■ftadj  feiner  Sftüdfeljr  Don  SEurin  tourbe  er 
nid&t  meljr  empfangen.  2)ie  Sßrinjefjtn  überlief 
ben  unglüdlidjen  2ftann  feinem  ©d&idfale,  fie 
tooffte  ober  fonnte  ntd)t  Ijinbem,  tt>a§  ber  £erjog 
über  ifjn  toerfjängt  ljatte.  Sie  SBibmung  feiner 
©ebid&te  aus  bem  ©efängnifj  enthielt  für  bie 
fürfllidjen  grauen  beS  £aufe§  @fie  eine  £ulbigung, 
bie  ßueregia  banfbar  empfunben  ju  Ijaben  fd&eint; 
ifjre  ©djtoefter  ßeonore  bagegen  toar  bereits  fo 
franf,  bafc  fie  toolji  leine  Äenntnifc  meljr  ba&on 
naljm.    @ie  ftarb  ben  10.  Februar  1581. 

2lt3balb  erfdjien  eine  Sammlung  Don  SErauer= 
gebidjten  über  ben  SJerluft  ber  bieloereljrten  ^ürftin. 

1  Serassi.  Lib.  III,  p.  256,  pg.  263-64. 


806  <3to€$<8  Torquato  Jtaffo.  (166 

Unter  ben  toeljllagenben  Stimmen  fehlte  bie  be§ 
größten  SDidjterä  ber  3*tt.  ÄeineS  jener  ©ebidjte 
flammte  Don  SEaffo.  2Bar  toietteid&t  fein  ©d&merj  fo 
grofc,  ba&  er  Derftummte,  unb  bem  ttngltttfüdjen 
in  ber  3*ffe  be8  Slnnenfjofoitate  lein  ©ott  bediel) 
ju  fagen,  toie  er  litt?  l 

IX.  pie  faflfotegettbe. 

1.    ©ioö.  SBatt.  2Jlanfo. 

S)er  Äem  ber  SEaffolegenbe,  bie  feit  ben  3ßiten 
be3  2)idjter§  fidj  bis  in  unfere  SEage  fortgepflanzt 
nnb  nod)  in  bem  jüngften  SJiograpIjen  *JJ.  ß.  ßecdji 
einen  entfdjiebenen  JBertljeibtger  gefunben  Ijat,  Bc= 
fteljt  in  ber  geheimen  ßiebeSgefdjidjte,  bie  jtoifdjen 
SEaffo  unb  ßeonora  b'ßfie  gefoieli  unb  feine 
tragifd&en  ©djidfale  t>erurfa<$t  Ijaben  fott.  Urfunb= 
üdje  unb  Vollgültige  SBetoeife  bafür  gieBt  es  feine. 
Statt  ifjrer  Mafien  nun  bie  ©ebidjte  SEaffog  als  bie 
3eugniffe  feiner  ßiefceSgeljeimniffe  gelten  foffen, 
unb  toer  ben  ©djlttffet  ju  biefen  ©eljeimniffen 
Ijabe,  lonne  leidet  ©onette,  ßanjonen  unb  9Rabri- 
gale  genug  auffinben,  toetd^e  ber  2Belt  bie  ßie&eS* 


1  GBenbaf.  in,  p.  297-98. 


/ 


167]  $te  Saffofegetibe.  809 

gef<f)td)te  StajfoS  betrafen.  2Äan  $at  fogar  t)on 
unbefannten  SSerfen  laSctoer  9lrt  gefabelt,  bic 
man  aufgefunben  unb  bem  £ergog  augetragen 
Ijabe. 

S)en  ©d&lüffel  gu  StaffoS  ßiebeStiebern  glaubte 
©.  8.  9Kanfo,  ber  3ttari$efe  ^o  gSiffa,  gu  be* 
fitjen,  ber  als  iugenblidjer  SEaffoentljuftaft  ben 
3)td)ter  toftljrenb  fetner  legten  ßebenSjaljre  lennen 
gelernt  unb  in  feiner  Sttlla  gu  Neapel  tote  in 
fetner  ©tabt  Stfaccta  gaftltd)  bei  ftdj  aufgenommen 
^atte.  2llS  er  gum  3ubelialjr  1600  nad)  3tom 
gelommen  toar,  forberte  Ujn  ber  ©arbinal  ?p.  211= 
bobranbint  auf,  bie  ßebenSgefdjidjte  SEaffoS  gu 
fdjreiben.  SKanfo  tljat  eS  unb  fdjrieb  nod)  toäljrenb 
feines  römifdjen  SlufentljalteS  baS  83fldjlem  gu= 
fammen  mit  toenig  SKülje  unb  oljne  alle  Äritif. 
@o  entftanb  o^ne  fünftlerifdjen  unb  Ijiftorifdjen 
SBertlj  bie  erfte  ßebenSbefdjreibung  SEaffoS ,  bie 
ljunberifünfunbadjtgig  3fal)re  lang  bie  eingige  blieb : 
fte  mar  bie  eingige,  bie  ©oetbe  !annte,  als  er  ben 
$tan  gu  feiner  2)idjtung  fafcte  unb  bie  beiben 
erjien  STcte  berfelben  ausführte.  S)iefer  Umftanb 
ift  es  allein,  ber  uns  baS  Heine  SBerf  no$  Ijeute 
lefenStoertl)  unb  intereffant  mad)t. 


810  (Boctftcft  Torquato  Itflffo.  [168 

SBie  toenig  3Ranfo  über  bie  JBergangenfyeit 
feines  greunbeS  unterrichtet  toar,  tum  beten 
©runbgttgen  er  eine  richtige  JBorftetfung  ftdf)  leidet 
genug  fjfttte  berfd&affen  fönnen,  geigt  feine  üoftig 
bertoorrene  S3efd&reibung  ber  3rrfa!)rten  SEaffoS. 
SBegen  beS  3^et!ampfeS  mit  jenem  fatfdjen  ffreunbe 
Ijabe  iljn  ber  £ergog  mit  ©tubenarreft  beftraft, 
aus  biefer  £aft  fei  SCaffo  eniffoljen,  guerft  nad(j 
SEurin,  bann  nad&  [Rom  unb  ©orrent,  Don  too 
ber  SJrief  ber  Sßringeffin  ßeonore  i^n  gurüdge* 
rufen  Ijabe.  3n  SBaljrijeit  Ijat  fid&  alles  umgefeljrt 
gugetragen.  SBegen  beS  £anbels  mit  bem  Der* 
rätf)eri|d)en  ^reunbe  Ijat  ityn  ber  ^ergog  ni$t 
beftraft,  fonbem  belobt;  aud)  ift  SEaffo  nid&t  aus 
irgenb  »eld&er  £aft  entflogen,  aud&  toar  Surin 
nidjt  baS  erfie  3iet  feiner  erften,  fonbem  baS 
lefcte  feiner  jioeiten  SUid&t,  er  ifi  nid&t  toon  9tom 
nad(j  ©orrent,  fonbem  Don  ©orrent  nadft  9tom 
gegangen,  bie  ißringeffin  Ijat  iljm  nad(j  ©orrent 
nidjt  aus  freien  ©tüden  getrieben,  fonbem  iljr 
23rief  toar  eine  Slnttoort,  bie  baS  ©egentljeil  einer 
©inlabung  enthielt.  2Benn  nun  Sölanfo  offene 
^Begebenheiten,  bie  er  fo  leidet  erfahren  lonnte,  in 
f o  berf  eljrter  2Beif e  barftettt :  tote  toirb  er  uns  erft 


159]  $tt  Zaffoleotnbc  811 

biejenigen  ©eljeimniffe  enthüllen,   toeldje  er  niefit 
erfahren  f  onnte  ? * 

3)er  einzige  ©egenftanb  ber  Siebe  Staffod  tmb 
feiner  poetifd&en  33erl)crrlid)ung  toar  nad)  Upn  bie 
Sßrinjeffm  ßeonore.  ®urdj  ba§  ©J>iel  mit  SBorten, 
tote  «aura»  unb  «ora»,  no<6  beuttid)er  bürdj 
©djlufitoorte ,  tote  «strale  onora»  u.a.,  gab  er 
in  feinen  SSerfen  ju  fcerfte!)en,  toen  er  meine,  aber 
ber  ©egenftanb  feiner  leibenfdjaftlidjen  £ulbigungen 
toar  fo  ergaben,  ba^  er  forgfältig  S3ebad)t  nehmen 
mufcte,  iljn  ju  Verbergen,  ©tüdttidjertoeife  gab  es 
bret  ßeonoren  gunt  Stnbtefitett :  bie  ^ßrinjeffin, 
eines  iljrer  Äammermäbd&en  unb  bie  ©räfin  ©an= 
tntali.  2)amit  foflte  ber  ©djtüffet  ju  beut  in 
feinen  ©ebid&ten  Verborgenen  ßiebeSgeljeimnifc  ge= 
funben  fein.  S)rei  ßeonoren  tourben  befungen, 
nur  eine  toar  gemeint,  bie  beiben  anbern  bienten 
ate  SDlaSfen.2  (Sine  biefer  ßeonoren  ift  aus  ber 
ßuft  gegriffen,  bie  ©efd&id&te  toeifj  nichts  toon  einer 
3ofe  biefeS  Samens.  2lber  oljne  bie  ©rfinbung 
einer  foldjen  «damigella»  Ijätte  Ja  ber  ©djtüffel 
nidjts  getaugt.    5Biettei(^t  lag  biefer  Qfietion  eine 

1  Manso.  Part.  I.  §  46—56  (p.  77—91). 
8  Sfcenbaf.  Part.  1.  §  34—41  (p.  52—68). 


812  0oct$cS  Torquato  fcaffo.  [160 

JBertoed&felung  mit  ßucrejia  SBenbtbto  ju  ©runbe, 
bie  aber  toeber  ßeonora  l)iefi  nod)  Äammerjungfer 
toar.  ©o  Diel  ift  getmfc,  bafi  5Eaffo,  toftljrenb  er 
für  ßeonora  b'gfte  fdjtoärmte,  juerft  ßucrejia 
JBettbibio  unb  jeljn  3aljre  fpäter  ßeonora  ©antoi* 
tau  angebietet  fyat,  unb  gtoar  fetneStoegg  um  be$ 
leeren  ©djeineS  tDtffcn.  2)afc  feine  ßteBeSlteber 
nur  ber  Sßrinjeffin  gegolten  unb  er  jtoei  Qnbere 
ßeonoren  babet  als  3Jk§fen  gebraust  Ijabe,  ift 
bemnad)  eine  irrige  ©age  unb  eine  falföe 
©rftnbung. 

9tid)tig  ift,  ba&  SEaffo  in  feinen  Werfen  bie 
SJJringeffin  unb  ifire  feltenen  (Sigenfd&aften  ber* 
Ijerrlidjt  Ijat:  iljre  ©djönljeit  unb  fluge  ©inftd&t, 
iljre  ©eelengröfce  unb  SSeftänbigfeit ,  iljren  in 
SBtffenfdjaften  unb  fünften  fein  gebilbeten  ©eift 
unb  bor  allem  iljre  ^römmigfeit.  ©r  Ijat  in  einer 
berühmten  ßanjone  iljre  ©enefung  Don  jener  langen 
Äranfljeit  gefeiert,  bie  fie  öon  ben  £odjjeit3feften 
am  ©djluffe  be8  3faljre§  1565  fern  ljielt;  er  Ijat  e3 
in  einem  ©onette  beflagt,  ba&  iljr  bie  Sterjte  ben 
©efang  unterlagen  mußten;  ber  ©ebanle  iljrer 
JBermäljlung ,  bie  ber  £erjog  tofinfdjt,  entlodt 
iljm  ein  fdjmerjltdjeS  ©onett;  bann  tröftet  iljn  bie 


161]  $U  araffotcgcnbe.  313 

©ettrifeljeit,  bafe  fte  unbermftljtt  bleiben  tooffe,  unb 
er  giebt  feiner  fjreube  barüber  2tu8bru<f  in  einem 
aftabrigal1. 

SBir  muffen  e3  bem  erfien  33iogra:pIjen  SEaffoS 
3)anf  tmffen,  baft  er  biefe  ßieber  ertoftljnt  unb 
baburdj  unferem  ©oetfje  bie  9ftotit>e  ju  einigen  ber 
fd&önften  ©teilen  in  ber  ßljarafterfdjilberung  ber 
5ßrinjeffin  geliehen  l)at.  6r  läfet  fie  felbft  iljreS 
©tiKlebenS  in  ber  Äranfljeit  gebenfen,  toftljrenb  bie 
2Belt  um  fie  Ijer  3?reubenfefte  feierte: 

3)ie  8f eftc ,  bie  bu  rttfjmft,  bie  ljunbert  3ungen 
9ftir  bamal«  ^riefen  unb  mir  mandjeS  3djr 
üfta<f)l)er  gepriefen  Ijafcen,  falj  id&  ni<$t. 
Um  ftittcn  Ort,  tooljin  !aum  unterbrod&en 
2)er  Ietjte  Söiberljatf  ber  fjfreube  ftd) 
Verlieren  tonnte,  mußt*  i$  man$e  ©djmerjen 
Unb  mannen  traurigen  ©ebanfen  leiben. 
SJHt  Breiten  gflügeln  f^toebte  mir  ba8  33ilb 
3)e8  £obe8  t>or  ben  Hugen,  becfte  mir 
2)ie  Slußfidjt  in  bie  immer  neue  Söelt. 
$ftur  na$  unb  nad)  entfernt'  es  ft$  unb  lieg 
Stttdj,  tote  bur$  einen  fjplor  bie  bunten  Sfarben 
S)e8  ßebeng,  blajj,  bo$  angenehm  erblicfen.* 

@r  lä&t  es  bie  ^ßrinjeffin  felbft  auSforedjen, 


1  Sbenbaf.  I.  §  38  (p.  55—60). 
*  H.  1.  ».  846—858. 
Suno  fjifd&cr,  <Boetl)cs6t$riften.  21 


t!4  0oct$eft  Xotguato  Saffo.  [162 

toaS  fte  entbehrt  Ijat,  als  auf  baä  ©ebot  ber  Slerjie 
audj  ttjr  ©efang  toerftummen  mußte: 

Söenn  Jjfreunbe,  toenn  ©efd&toifler 
Sei  Sfefi  unb  €>piel  gef  eilig  ft<$  erfreuten, 
$ielt  Äranfljeit  mid&  auf  meinem  3ünntet  feft, 
Unb  in  ©efeflfd&aft  monier  ßetben  mu6t' 
3$  frfifj  entbehren  lernen.    (SineS  mar, 
Söag  in  ber  (üinfamleit  mid&  f$ön  ergebe, 
S)te  gfreube  beö  ©efangg;  idj  unterhielt 
3Jti$  mit  mir  f elbft,  i$  siegte  ©$mer£  unb  (Sefjnfudjt 
tlnb  jeben  Söunfd)  mit  leifen  £önen  ein. 
2)a  tourbe  Seiben  oft  ©enufc  unb  felbft 
3)a8  traurige  @efür)I  jur  Harmonie, 
9lid)t  lang  toar  mir  Med  @lüd£  gegönnt,  aud)  biefeä 
9taf)m  mir  ber  Slr^t  Ijintoeg:  fein  ftreng  ©ebot 
#iefc  mid)  berftummen;  leben  fottt'  id&,  leiben, 
3)en  einigen  Keinen  £roft  fottt'  id&  entbehren. l 

2)a§  ©onett,  toeldjeS  btc  JBertnäljlung  ber 
^rinjeffin  fürchtete,  unb  btc  troftret^e  33erul)tgung, 
ttorauS  baä  3JlabrtgaI  tyerborging,  enthalten  einen 
2fa§taufd)  ber  @efttf)le,  ben  ©oetfje  in  ba§  erjte 
3tetegeft>räd)  6eibcr  öerftoeftten  Ijat.  @r  täfct  £affo 
f  agen : 

Oft  f^ört*  id&  fdjon,  unb  biefe  Sage  nrieber 

§ab'  idyg  gehört,  ja  $&tt'  ty%  ni$t  bernommen, 

©o  müfet*  idya  benfen:  eble  Surften  ftreben 


*  III,  2.  ».1802-1816. 


163]  fcie  Saffotegenbe.  SU 

Stad)  beiner  §anb!    2öa8  mir  erwarten  muffen, 
3)a3  füllten  mir  unb  motten  fd&ier  oerstoeifeln. 
SBerlaffen  wirft  bu  un8;  c8  ifi  natfirltd): 
2>odj  tote  totr'3  tragen  tooflen,  roeifj  id)  nid)t. 

Unb  bte  Sprinäefjtn  antwortet  troftreidj: 

Sfür  biefen  Slugenblicf  feib  unbeforgt! 
Sfaft  möd&t'  idj  fagen:  unbeforgt  für  immer. 
§ier  bin  idj  gern  unb  gerne  mag  iä)  bleiben; 
üftod)  tDCtfe  id&  fein  Söetrjältnife,  bad  mid)  locfte; 
Unb  toenn  i^r  mid)  benn  ja  behalten  tüoüt , 
60  lagt  e8  mid)  bur$  ©intradjt  feljn  unb  fd)afft 
(Sud)  felbft  ein  glücflid)  Seben ,  mir  burd)  eud). 1 

2)ie  ßiebeSgefd&idjte  £affo§,  tüte  3ttanfo  bie= 
felbe  überliefert,  enthält  jtoei  3üge,  bte  ©oetfje 
ergriffen  unb  benutft  f)at :  SaffoS  Älang=  unb  28ort= 
ftriele  mit  bem  tarnen  „ßeonore",  um  bm 
©egenftanb  feiner  ßieber  gu  begeidjnen,  unb  bie 
Stnbidjtung  berfdjiebener  ßeonoren,  um  ben  toaljren 
unb  einjtgen  ©egenftanb  feiner  Siebe  ju  verbergen. 
SiefeS  ©piel  ber  9Jtyftification  toon  feiten  beä 
2)id)ter§  Ijatte  ettoaä,  ba§  bem  ©inn  unfereS  ©oetlje 
befanntlidjertoeife  jufagte;  getoift  fjat  er  biefeä 
SKotto  fdjon  in  ben  erften  unb  älteften  Anfängen 
feiner    ©idjtung    bertoertyet.      ®ie    überflüffige 


1  IL  1.  SB.  1051-1064. 

21* 


S16  (Boet^cS  Torquato  Xafto.  [IM 

Äammergofe  liefe  er  mit  gutem  SEact  bei  ©eite 
unb  bettelt  für  feinen  3tt>etf  nur  bie  beiben 
ttrirflidjen  ßeonoren  übrig,  hierin  lag  tooljl  ber 
©runbr  toarum  er  bie  jtoeite  ßeonore  felbjt  in 
feine  3)tdjtung  aufnahm  unb  als  bie  Vertraute 
^reunbin  ber  ^ringeffin  in  biefelbe  einführte, 
tooju  toeber  3Jtanfo  nodj  ©eraffi  irgenb  toeldje 
£anbljabe  boten.  2)a§  JBerljftltnifj  ber  beiben 
ßeonoren  ift  ©oetljeS  ©rfinbung.  2)arau§ 
ergab  fi<$  Don  felbft,  bafe  ßeonorenS  ©c^toefter 
ßuerejia,  bie  in  ber  ©efdjidjte  beS  toirfltdjen  Slaffo 
eine  fo  bebeutenbe  unb  langjährige  0totte  gefpielt 
Ijat,  Don  ber  ©oetljefd&en  2)i<$tung  auSgefdjloffen 
blieb  unb  l)ier  nur  gelegentlich .  in  britter  5ßerfon 
fcorfommt.  6inige  iljrer  @igenfd&aften ,  bie  mit 
benen  iljrer  ©djtoefter  in  tooljltljättger  ©rgängung 
contraftiren  unb  barum  audj  in  unferer  3)id)tung 
unentbeljrlidj  finb,  tote 

S)en  froren  ©eift,  bie  ©ruft  öott  ÜJtutlj  unb  Beben, 
$en  teilen  SBife  ber  Itebengtofirb'gen  gfrau, 

bat  ©oetlje  auf  ßeonore  ©amritale  übertragen. 

3)a§  3toiegefpräc%  ber  beiben  ßeonoren  eröffnet 
unfere  2)id)tung,  unb  man  barf  überzeugt  fein, 
ba&  es  fidj  Don  Anfang  an  fo  behielt,   ßaum  ift 


165]  $te  SafTotegenbe.  81? 

btc  Siebe  auf  SCaffo  unb  „feiner  klagen  SBoIjflaut" 
gelommen,  fo  geben!!  bie  5ßrin  jeffin  fogleid)  ber 
JBejeidjnung: 

Unb  ttenn  et  feinen  ©cgenftanb  benennt, 
©o  giebt  er  i§m  ben  SJiamen.  ßeonore. 

SDte  ^reunbin  toeifj,  tote  fie  ben  Sto^elfinn 
feiner  ßieber  ju  nehmen  Ijat: 

@8  ift  bein  SRame,  tote  e8  meiner  ift. 
3<$  nä^tn*  e8  übel,  toenn'8  ein  anbrer  toäre. 
ÜJtid&  freut  es,  ba&  er  fein  ©efüljl  für  bidj 
3n  biefem  3)oppeIjtnn  Derberßen  fann. 
3$  bin  auf  rieben,  bnj$  er  meiner  aud& 
Sei  btefcö  üftamenä  Ijolbera  Älang  gebenft. 

9Jton  fieljt,  ttrie  tief  unfere  ©idjtung  ifjrem 
erften  ttrforunge  nad&  in  ber  <£rjftf)tung  9Jtanfo8 
tomrjett.  —  ©oetljeö  SBatcr  toar  bekanntlich  ein  eif* 
riger  ßiebljaber  ber  italtcnifd&en  ßiteratur  unb 
inSbefonbere  ber  SBerfe  SEaffoS.  Qfünf  3aljre  bor 
ber  ©eburt  unfereS  ©idjterä  Ijatte  3o!j.  griebr, 
Äoppen  bei  SBernlj.  Sljrifto:pIj  SBreitfotf  in  ßetyjig 
eine  beutfdje  Ueberfe^ung  be§  befreiten  3erufatem8 
in  SHejanbrinern  erföeinen  laffen  unb  iljr  aU 
Einleitung  einen  Slbrifc  ber  ßeben§gefd)id)te  £affo8 
nadj.  SDianfo  borauSgefd&idt.  3)iefe§  $8uc§  ift 
tooljt  baS  erfte  getoefen,  toorauä  ©oetfje  fdjon  in 


318  <Boe$eS  Torquato  SEaffo.  [166 

{Jfranffurt  ober  in  Sci^jig  bie  ©age  bon  ber  ßiebe 
2affo$  unb  iljrer  Söerljeimlidjung  burdj  bie  2ln= 
bidjtung  ber  brei  ßeonoren  lernten  gelernt  fjat. 

2.    ©.  »rufont. 

3)ie  (Srfinbung  ber  brei  ßeonoren,  toon  benen 
nur  eine  bie  redjte  toar,  mad&te  ©lud,  unb  ber 
ffienegianer  ©irolamo  SBrufoni  fanb  SEaffoS  }>oetifd)e 
SRaSferabe  ganj  geeignet,  um  beffen  ßiebeSgefd&idjte, 
natfirttd)  im  öoKen  ©lauben  an  Ujre  SBaljrljeit, 
in  feine  bergnüglidjen  6arnebal8gefd)id)ten  auf ju= 
nehmen.  3n  feiner  ©onbel,  beren  föuber  33enu8, 
Amor  unb  SDlerlur  führen,  lonnte  lein  intereffan* 
tereS  ßiebeSpaar  fahren  als  Torquato  SEaffo  unb 
ßeonora  b'@fte,  „iljrer  3*it  bie  fdjönfte,  anmutljigfle 
unb  tugenbljaftefte  ?Prinjeffin  @uroj)a8". 

83ruf  om  f  elbft  null  Sfreunbe  SEaff  öS,  bie  gleidfoeittg 
in  ben  ©ienften  beS  ^erjogg  t>on  fterrara  fianben, 
nod)  genau  gefannt  unb  bie  ßiebeägefdjidjte  öon 
Ujnen  gehört  Ijaben.  ©eine  Ouette  ift  2Jtanfo* 
5Dafj  bie  SPrinjeffin  jur  Söeratoeiflung  SEaffoS  mit 
bem  römifdjen  Äaifer,  als  bem  bomeljmfien  Sttamte 
ber  SBelt,  Ijabe  bermäljft  »erben  foKen,  aber  ju 
feinem  SErofte  unbermäljtt  geblieben  fei,  ift  33ru* 


167]  $fe  gaffolegenbe.  319 

fönte  leere  ßrfiubung.  3fm  ttebrigen  toieberljolt 
er  SftattfoS  ©efd^t^ten  oljne  bie  tragifd&en  ©d&id* 
fale  SEaffoS,  bie  nidfjt  jutn  <£arnet>at  paffen. 
liefet  formte  jtoar  nid&t  ber  ©emaljl  ber  5Prin= 
jeffin  toerben,  aber  er  tourbe  burd(j  fie  ein  fo  bott= 
fommener  SiebeSbiddter,  bafc  er  felbft  ben  $etrard)a 
übertroffen  Ijabe.1 

3.    8.  iL  flflutatoru 

S)er  ßiebeSrotnan  tnufete  tragifd&  enben,  tote 
in  2Birflid)leit  SEaffo8  ©d&idfale  in  tJerrara.  3)ie 
©age  Ijatte  nodj  ben  2Beg  ju  ftnben,  ber  ben  uns 
filüdßidjen  ©id&ter  bon  ßeonora  b'ßfte  in  baS 
£oft)itaI  ber  ^eiligen  SInna  geführt  Ijatte.  ©erttd&te 
barüber  toaren  jeitig  entftanben  unb  in  toedfjfelnben 
©eftalten  burdft  &6renfagen  berbrettet  toorben,  bis 
jte  enbüdf)  eine  ttterarifdje  Au&prägung  erhielte« 
unb  in  bie  SEaffolegenbe  eingingen.  2)ie§  gefd&al) 
burdfc  eine  ber  erften  Autoritäten  3talien8  unb  ber 
gelehrten  SBelt:  ßobobico  Antonio  Sfturatori,  ben 
berühmten  33ibltotI)efar  be§  &ergog$  bon  SÄobena, 
einen  ber  grfinblid&ften  Äenner  unb  ©d(jriftftetter 

1  Gir.  Brasoni:  La  gondola  a  tre  remi,  passatempo 
carnevallesco.  In  Venetia  1657.  (See.  soorza.  pg.  9S 
—118.) 


820  Ooctye*  Torquato  £affo.  [168 

auf  beut  ©ebiete  ber  italienifdjen  ©efdjicfcte  unb 
!Pocfic,  jugleid)  einen  begeifierten  SBeretyrer  StaffoS. 
SDiefeS  ©efüljl  bereinigte  er  mit  betn  ber  ©ienft* 
treue  unb  (Sljrfurdjt  für  ba8  £au8  6fte,  in8be= 
fonbere  mit  einer  feljr  ljof)en  SDteinung  Don  211= 
fonfo  II.  SRiemanb  fonnte  ben  ©erüdjten  über 
S£affo8  ©d&idtfate  ein  ©epräge  geben,  baS  größeren 
(Srebit  öerbiente.  Unter  bem  tarnen  SJhtratorte 
erfdjien  bie  ©age  als  bie  @efd)id)te  fetbft. 

3)ie  aSiMiotljef  t>on  2Jtobena  beerte  einen 
reidjen  ©djafc  Ijanbfdjriftfidjer  SBerfe  5£affo3, 
barunter  186  nod)  unveröffentlichte  33riefe,  bie 
SDluratori  in  ber  tjenejianifdjen  ©efammtauSgabe 
ber  äßerle  SEaffoS  mit  einer  SQ8ibmung§juf^rift  an 
ben  laiferlid&en  §ifioriograj)ljen  Slpoftolo  3^no 
erfd&einen  liefe.1 

£ier  fam  er  auf  bie  ©djieffate  SEaffoS,  inS= 
Befonbere  auf  bie  llrfa^en  feiner  ©efangenfdjaft 
gu  fored&en:  er  Ijabe  biefelbeu  oergeblidj  ju  er* 
forden  gefudjt,  ba  bie  befannten  Stfyatfad&en  ein 
foldjeS  ©djidfal  unerflärt  liefen.  Sie  unjicmlidjen 
Sßorte,  toomit  fi<$  SEaffo  an  feinem  dürften  toer= 


1  Opere  di  Torquato Tasso.  Vol.X.  In  Venezia.  1739. 
(pg.  235—246.) 


169]  2>ie  Jtaffotegenbt.  821 

gangen  Ijabe,  reidjten  nid)t  aus,  um  feine  fdjred= 
Kdje  SSeftrafung  ju  redjtf ertigen ;  er  muffe  ©djlim* 
mereS  getrau  unb  bie  ffcmtüeneljre  be£  £aufe§ 
burd)  eine  untoerjeiljtidje  £ljat  beleibigt  Ijaben. 

9tun  ergftljlte  3Jturatori,  toa§  er  in  feiner 
3ugenb  Don  bem  Ijod&beialjrten  Slbate  ©arretta 
gehört  unb  biefer  felbft  Don  feinem  ßeljrer  Sllef- 
fanbro  SEaffoni,  einem  3eitgenoffen  SlaffoS,  bem 
©idjter  ber  «Secchia  rapita»,  erfahren  Ijatte. 
6ine8  SEageS  Dor  Derfammeltem  £ofe  Ijabe  3Ka= 
bama  Seonora  eine  3frage  an  SEaffo  gertdjtet, 
toorauf  biefer  in  ber  Slntoanblung  einer  meljr  als 
^oetifdjen  ©fftafe  iljr  um  ben  £als  gefallen  fei  unb 
fie  gefilmt  Ijabe.  3)er  £erjog  Ijabe  fidj  bei  biefem 
2tnbtt<f  ju  feinen  ©aDalieren  getoenbet  unb  gefagt: 
„@eljt,  toeldj  ein  fdjredfüdjeS  3Jti&gefdji(f  biefen 
grofjen  SDtann  betroffen  Ijat,  er  ift  Derrütft  ge= 
toorben!"  3fn  ^olge  baDon  fei  SEaffo  in  bä§ 
Slnneuljofintal  gefommen.1 

3)aS  ©erlitt  War  alt  unb  längft  Derbreitet,  ©djou 
im  Sfaljr  1625  tourbe  in  ÜÄeffina  eine  ßomöbie 
aufgeführt,  tootin  SEaffo  auf  bem  5ßarnaf$  ber 
ÄaHiope,  ber  9Äufe  beS  ®J>o3,  DorgefteÜt  toerben 

1  (gbenbaf.  Vol.  X.  pg.  241-243. 


822  ©oe$cS  Torquato  fcaffo.  [170 

fottte.  „Sleibe  nur  ^flbfd^  toett  entfernt",  rief  man 
tytn  §u,  „bamit  bu  nidjt  Jrföfclid)  auf  fie  julftufjt 
unb  iljr  einen  ßufc  giebft.  SJlan  lennt  beine  Slrt1!" 
SDiuratori  felbft  toar  bod)  gu  Ijiftorifd)  gefinnt, 
um  biefe  ©age  oljne  weiteres  gu  glauben.  2ttefc 
meljr  bejtoeifelt  er  bie  Slljatfad&e,  ba  ein  fold^er 
SSorgang  bor  berfammeltem  £ofe  ben  ßeuten  in 
fferrara,  toie  au<$  bem  9Äard)efe  2Äanfo  un* 
möglid)  fo  Verborgen  ljätte  bleiben  fönnen,  tüte  e$ 
ber  fjall  toar.  3nbeffen  finbet  fid&  in  einem 
SBriefe,  ben  Staffo  in  ben  erften  Sftonaten  feiner 
©efangenfcfcafi  an  ©ctyione  ©onjaga  gefdjrietien 
unb  SÄuratori  juerft  Veröffentlicht  Ijat,  folgenbe 
©teile:  „SBenn  fie,  bie  meinen  liefcreid&en  ©e= 
ftnnungen  fo  toentg  entforodjen  Ijat,  midj  f)ier  in 
biefem  3uftanbe  meines  tiefften  (SlenbS  f&Ije,  fo 
toürbe  fie  bodj  einiges  SERitletb  mit  mir  Ijaben". 
Unb  aus  ben  legten  Sagen  feiner  ©efangenfdjaft 
giebt  eS  ein  ©djreiben  an  ben  £ergog  von  ttrbino, 
toorin  SCaffo  fleljt,  bafe  man  iljm  Dergei^en  möge, 
toaS  er  in  toaljnfinniger  SJerblenbung  «in  materia 
d'amore»  gefagt  unb  getrau  Ijabe.2 

1  Serassi.  Lib.  III.  pg.  260—261.  Not.  4. 

2  Le  Lettere.    Vol.  IL    Nr.    124   (maggio    1579), 
pag.  61.  Nr.  556  (Ferrara  1586),  p.  581. 


171]  Sie  gaffofegettbe.  328 

Sie  SBibmungSfdjrift  3Jhiratori3  tft  bcn  28. 
3Äärg  1735  untergeid&net:  IjunbertDiergig  3fal)re 
nadj  bcm  S£obe  SEaffo§#  fünfgig  Saljre,  beDor  bcffen 
SebenSgefdjidjte  Don  ©eraffi  erfdjien,  bcr  bic  @r= 
gäljlung  3Jturatori8  Dertoarf  unb  bie  ©laubtoürbig* 
fett  bcr  gangen  Staffolegenbe  erfdjütterte,  oljne  fie 
Dernidjten  gu  lönnen. 

©ie  @efd)idjte  Dom  Auf*  begleitet  SDiuratort 
mit  feinen  3weifeln:  ,,td)  Demeine  fie  nidjt,  idj 
beglaubige  fie  nic^t,  td)  laffe  fie  baljingeftellt". 
SDagegen  ift  er  Dollig  übergeugt,  ba&  SEaffoS  Siebe 
für  bie  Sßringeffin  Seonore  bie  Duelle  feines  gangen 
Unglüdfe  getoefen  fei;  er  faßt  ba8  S3erljftltni& 
Beiber  toie  ein  Problem,  baS  er  gu  Iöfen  fud)t. 
3)ie  5JJringef|tn  liebte  nidjt  bie  ?ßerfon  ÜaffoS,  er 
toax  unfd&ön,  fränflid)  unb  grillenhaft,  fonbern 
feinen  ©eift  unb  feine  tiefen  ©ebanfen,  toie  alle,  bie 
bagu  fäljig  waren,  ifjn  betounberten*  ©amate 
galt  niemanb  für  einen  $oeten,  ber  ntd)t  Don 
Siebe  entbrannt  toar.  JBon  ber  Sftobe  jener 
Seiten  fagt  SWuratori:  «l'essere  poeta  ed  in- 
namorato  era  una  stessa  cosa».  SCaffo  toar  Don 
Jrfatonifdjen  Slnfd&auungen  erfüllt  unb  toollte  iljnen 
gemftfc  bie  3bee   ber  Siebe   in    feinem  ©emütl) 


884  ®oe$t8  Sotquato  Xaffo.  [172 

toertoirllidjen  unb  erleben.  3)ie  2)id)ter  finb  bcr 
©efaljr  ausgefegt,  bafj  fte  ben  erhabenen  ©djtoung 
ifyrer  Spijantafie  unb  ©prad&e  jugleid)  für  einen 
erhabenen  focialen  3uftanb  anfeljen  unb  fid)  beS» 
Ijalb  für  borneljmer  galten,  als  fie  finb.  ©aburd) 
geraten  fie  in  eine  gefeHfdjaftüdje  Ueberljebnng, 
fie  bcrrüden  iljren  Ort  in  ber  focialen  Orbnung 
ber  Singe  unb  toerfteigen  fidj  mit  iljren  SBünfd&en 
unb  Steigungen  ju  ben  ©ipfeln  ber  ©efellfd)aft. 
@iner  folgen  ©elbfttäufcfcung  tonnte  nur  burd) 
grofce  ßebenSflugljeit  Vorgebeugt  »erben,  aber  biefe 
ifl  feiten  bie  ßieblingStugenb  ber  ißoeten  unb 
fehlte  bei  Stajfo  gänjltd).  3lud)  anbere  grofje 
SDtd^ter  Ijaben  tootyl  Ijie  unb  ba  iljren  SRaptuS, 
aber  SEaffoS  $l)antafie  geriet^  jeittoetfe  in  beli* 
rirenbe  3uftänbe.  3n  feiner  platonifdjen  ©djtoär* 
tnerei  entbrannte  er  Don  Siebe  jur  ^rinjeffin 
ßeonore  unb  ftürjte  in  fein  SBerberben. 

iftadj  biefer  Sluffajfung  3tturatori3  mar  ßeonore 
für  SCaffo  bon  platonifd&er  ßiebe  befeeit:  fie  liebte 
in  iljm  ben  2)id&ter  unb  Senfer,  toäljrenb  SEaffo  öon 
feiner  Jrfatonifdjen  ©djtoärmerei  in  bie  3rre  geführt 
ttmrbe  unb  in  ßeonore  nidjt  blo3  bie  SCugenben 
liebte,  bie  fie  fdjmütften,  fonbcrn  bie  erhabene  ftrau. 


178]  $ic  Xaffotegenbt.  885 

3m  ©runbe  tt>ar  alfo  bie  platontf^e  $I)Uo= 
f  o^^tc,  bie  bamals  in  Sferrara  bcn  @tnflu§  einer 
9Jh)be  ausübte,  bie  SBurjel  beS  Unheils  auf  beiben 
©eiten.  2)arum  läfet  2Jluratori  feine  ^Betrachtungen 
über  bie  SEragöbte  SEaffoS  mit  ber  2Koral  enben: 
,,©o  gel)t  es  mit  ber  toielgerüljmten  platonifdjen 
Siebe!"  l 

SDicfe  Erörterungen  SöiuratoriS  Ijat  ©oetlje 
gelaunt,  unb  idj  Ijabe  fie  näljer  ausgeführt,  toeil 
idj  iljre  Sinttrirjfung  auf  unfern  Sidjter  nidjt  genug 
beamtet  finbe.  3)iefer  Ijat  in  ber  ßiebe  jtmfdjen 
ber  ^rinjeffin  unb  £affo  ben  fclatonifdjen 
6!jarafter,  ben  jener  fo  nadjbrütfltd)  Ijeröorljebt, 
in  feiner  gangen  SEiefe  gettmrbigt  unb  feelenfunbiger 
aufgefaßt,  als  ber  Berühmte  &of gelehrte  bon 
SJtobena,  ber  ein  toarnenbeS  SBeifjriel  barauS 
gemadjt  Ijat. 

3fn  unferer  ©idjtung  erfdjeint  Don  beiben 
©eiten  bie  ibeal  gefinnte  ßiebe,  bie  edjt  pla  = 
tontfdje,  als  ber  SEtypuS,  worin  baS  SSerfjaltnijj 
gtoifdjen  SEaffo  unb  ber  ^ringeffin  b.efteljt,  als  baS 
©runbmotis,    toorauS    ftd&    baS   gange    ©eelen= 


1  Opere  di  Tasso.     Vol.  X,  p.  241—43. 


826  <3oet$t8  ^Torquato  fcaffo.  [174 

gemälbe  enttiridfett.  @te  ift  bcr  Ijödjften  (Sntjüiung, 
ber  ^öd^ften  (Sntfagung  unb  bcS  Ijödjften  ßcibcnS 
fällig.  2)a8  3toiegefprädj  bcr  Beiben  ßeonoren,  * 
toomit  unfer  35rama  beginnt,  Ijat  lein  anbereS 
Söjema  unb  $id,  als  bas  toaljre  ©eljetmmfj  ber 
ßieBe  atoifd^cn  Slaffo  unb  ber  ^ßrinjeffin  gu  ent= 
Ijüffen. 

ßeonore  ©autritale  foridjt  es  au3: 

§ier  ift  bie  3frage  nidjt  öon  einer  Siebe, 
3)ie  jid)  beS  ©egenftanbg  bemeiftern  tottf, 
2lu8fdjlief$enb  üjn  befi^en,  eiferfüd&tig 
5)en  5lnblitf  jebem  anbern  teerten  möd&te. 
SBenn  er  in  feiiger  Setrad&tung  ftd^ 
flftit  beinern  äöertlj  befdjäftigt,  mag  er  audj 
%n  meinem  leidjtern  SDÖcfcn  pdf)  erfreun. 
Un8  liebt  er  niä)t,  —  üeraei^,  ba&  td&  es  f age !  — 
3lu3  allen  ^pljären  trägt  er  Was  er  liebt 
2luf  einen  Sftamen  nieber,  ben  wir  führen, 
Unb  fein  ©effiljl  tljeitt  er  uns  mit;  wir  f feinen 
S)en  2ttann  ju  lieben,  unb  wir  lieben  nur 
9ttit  iljm  baä  §ö$fte,  wag  wir  lieben  fönnen. 

®ie  Sßrtnjeffin  mödjte  bas  @eljeimmf$  lieber 
bergen  aU  entljttffen: 

2)u  Ijaft  bid)  fetjr  in  biefe  Sötffenfäaft 
33er tieft,  Eleonore,  fagft  mir  S)inge, 
3)ie  mir  beinahe  nur  baS  £>&r  berühren 
Unb  in  bie  ©eele  !aum  twd)  übergeljn. 


175]  £ie  Saffotegenbe.  827 

216er  bic  Qteunbin  toeifi,  tote  gebanfenbott  fic 
entpfinbet,  unb  in  toelcfecr  „Ijolben  ©d^ulc"  fie  bie 
ßiebe  f ernten  gelernt  Ijat: 

S)u?  ©djülerin  be8  Sßlato!  nid&t  begreifen, 
2Ba8  bir  ein  üfteuling  ooraufdjtoafcen  toagt? 
(£8  müßte  fein,  baß  i<$  Sit  fefjr  midj  irrte; 
3)o$  irr9  id)  auä)  nidjt  gang,  idj  toeiß  e8  tooljl. 
S)ie  ßiebe  geigt  in  btefer  Ijolben  ©d&ule 
©id&  ntd^t  tüie  fonft,  al8  ein  oertoöl)nte8  Ittnb; 
63  ift  ber  Süngltng,  ber  mit  'Pftjdjen  ftdj 
»ermatte,  ber  im  föattj  ber  ©ötter  6ifc 
Unb  Stimme  tyat.    6r  tobt  nidjt  frebeUjaft 
SBon  einer  S3rufl  jur  anbern  ljin  unb  Ijer; 
@r  ljeftet  ft$  an  ©djönfjeit  unb  ©eftalt 
9Ud)t  gleidj  mit  füßem  Qrrtljum  feft,  unb  büßet 
SRidjt  fd&netfen  9taufdj  mit  (Sffel  unb  SSerbruß.1 

6§  ift  ber  Slntor  au§  ber  ©efdjid)te  ber  5ßfo<i)e 
na<$  ber  Qfabel  beS  ^tatontferS  SfyuleiuS,  beren 
©eftalten  Sftafael  in  feinen  ftzzühn  in  ber  Sarne* 
ftna  gu  SRom  toerljerrlidjt  Ijat.  9Äit  biefen  Silbern 
toar  ©oetlje  toertraut,  fie  gehörten  ju  feinen 
£au8genoffen.  2)en  18.  Sftobember  1786  fdjrteB 
er  ber  Qtounbin  aus  0tont:  „§eute  IjaBen  toirin 
ber  Qfarnefina  bie  ©efdjidjte  ber  5ßftydje  gefeljen, 
bie  bu  aus  meinem  3immer  lennji".2 

»  I.  1.  SB.  205-234. 

*  Sagebüdjer  u.  »riefe  @oetf)e8  au8  gtalien.  ©.  221. 


328  ©oetyef  Torquato  fcaffo,  [176 

4.    SB.  fcetnfe. 

@3  tft  für  bie  2faSbilbung  ber  Xaffolegenbe 
bebeutungSloS,  ba&  SBifljelm  £einfe,  ber  ©d&üler 
SßielanbS,  fpäter  ber  SBerfaffer  beg  Slrbingljeflo, 
ben  ßeferinnen  ber  „3ri8"  in  ben  erften  ©tttcfen 
biefer  8eüfd)rift,  bie  er  mit  @.  3acobi  gememfam 
Verausgab,  ba§  „ßeben  beS  Torquato  SEaffo"  er« 
jä^It  $at. 

$on  ©eraffi  lonnte  £einfe  nidjts  toiffen,  bon 
2Äuratori  ttmfcte  er  nidjtS.  2Ba8  er  borbradjte, 
toar  aus  Sffianfo,  mittelbar  ober  unmittelbar.  SBon 
ber  3*it,  bem  ßanbe  unb  ber  ©efdjidjte  SEaffoS 
fjatte  er  SSorfteffungen ,  bie  nidjt  untoiffenber  fein 
lonnten.  ©ein  3*italter  fei  „eines  ber  fdjönften 
Italiens  getoefen,  ba  bie  böfen  ©eifter  nad)  unb 
nadj  aus  iljm  getoidjen  toaren".  3m  ©egentljeil 
festen  biefe  böfen  ©eifter  gerabe  bamals  jurütf. 
Unb  toaS  fein  ßanb  betrifft,  fo  toünfdjt  £einfe,  „bafc 
£affo  in  feiner  Äinbljeit  unb  $ugenb  mit  biefem 
©enie  fein  Stauen  toon  ben  SEiefen  ber  ©cgfla  an 
bis  auf  ben  fieffel  beS  3letna  hinauf  Ijätte  feljen, 
fjören  unb  empftnben  foflen".  (Sine  fonberbare 
Sfteife,  toobei  er  toaljrfdjeinHd)  umgefommen  toftre! 


177J  Sie  Zaffotfflenbe.  829 

3m  Uebrtgen  toirb  „ben  Samen"  ber  3frt§ 
Torquato  SEaffo  nadj  bem  SSorbilbe  ber  beutfdjen 
ßraftgenieä  jener  SEage  gefdjilbert.  „@r  toar  ein 
©eift  mit  Slblcifftttigen. "  ßurj  borljer  Ijatte  &etnfe 
mit  bemfelben  Stusbrudte  ©oetljen  Betrieben. 
„3ebe  ßebenSfraft  in  Slaffo  toar  fiebenbe  Siebe, 
fein  §erj  burdjauä  brennenbe  Sßunbe."  9tad) 
feiner  Befreiung  läßt  tf)n  &eiufe  nod)  einige 
SJionate  gemütljtid)  in  Sfsnara  jubringen  unb 
feine  alten  3itnmer  im  ©djtoffe  SllfonfoS  be* 
tooljnen.  „SBetd)  ein  föVxd,  tocld^c  €>erjen,  als  er 
unb  feine  ßeonore  ft$  toieber  erblidten!  68  ging 
iljr  eisfalt  burd)'§  ^erj"  u.  f.  to.  SDafc  fie  fatt 
mar,  ift  ridjtig,  benn  fie  toar  fdjon  über  fünf 
Saljre  tobt.1 

■ftur  toeit  man  biefe  ©djrift,  roofyt  bie  elenbefte 
in  ber  gefammten  ßiteratur  über  Staffo,  unter  ben 
fiofftid&en  ßueüen  ber  ©oetljefd&en  3)id)tung  mit= 
aufjufüfjren  pflegt,  fjabe  idj  fie  nidjt  unertoäljnt 
laffen  tuotten.  SBegen  be§  SEf)ema8  unb  be§ 
ÜBerfafferg,  ben  er  furj  Dörfer  auf  feiner  9tf)ein= 


1  3ri3,  ©b.I  (£)ct.  u.  ftoö.  1774).  I.  6t,  ©.33-78. 
IL  @t.,  6.  3-52. 

ftuno  gflfcfcer,  <Boet$cs@d&riftetu  22 


830  ®oe$eS  Torquato  £affo.  [178 

* 

reife  int  ©ommer  1774  gu  ^ßempelfort  fennen 
gelernt  Ijatte,  mag  fte  ©oetlje  gelefen  Ijaben. 
ÜRufcen  getoäljrte  fie  iljm  feinen. 

1.    2>ie  Sfabcl.      , 

Sie  Cueöen,  toorauS  ©oetlje  bie  erfte  2ln= 
tegung  gu  bem  5ßlan  einer  SEaffobidjtung  nnb  bie 
©runbgfige  gu  ifjrer  tfabel  gefd&öpft  fjat,  waren 
Sflanfo  unb  bie  toenegianifdje  Ausgabe  ber  SBerfe 
StaffoS,  in  beren  geintem  Sanbe  er  jene  ©d)rift 
9JturatortS  fanb,  toorin  SEaffoS  ßiebe  gu  ber 
Sßringeffin  als  ber  ttrgrunb  feiner  tragifd&en 
@d)i<ffale  begeidjnet  ttmrbe,  als  eine  Söerblenbung, 
toorin  fidj  bidjterifdje  Ueberljebung  unb  fclaionifd&e 
©djtoärmerei  bereinigten,  unb  bie  am  @nbe  jenen 
ungegügelten  SluSbrudj  gur  fjolge  ^atte  f  ben  ber 
§ergog  burdj  bie  lange  ©efangenfdjaft  im  3frren= 
Ijaufe  geragt  unb  nie  bergieljen  l)at. 

SEBie  öerfdjieben  aud)  bie  alte  unb  neue  5£affo= 
bidjtung  toaren,  fo  gab  eS  bod^  in  2tnfeljung 
fotooljl  beS  SßlaneS  als  ber  3tobel  gettriffe  ©runb- 
gfige,  bie  feit  bem  ^Beginn  beS  SßerfS  untoeränbert 
geblieben  finb.     Um  biefelben  gu   erlernten   unb 


179]  Sa8  (Soetyefö*  ©*auftleL  881 

feft aufteilen ,  braudjt  man  nur  ben  ©ang  ber 
^Begebenheiten  in  unferem  SEaffo  mit  ÜÄanfoS  unb 
SJluratoriä  @rjftl)lungen  ju  Dergleichen,  bie  ©oetlje 
in  ber  Raffung  feiner  3?abet  Derfdjmoläen  Ijai. 
S)a§  ©runbmotib  ber  £anblungen  toie  ber  ßetben, 
meldjeä  in  ber  Siebe  StaffoS  befielt,  Ijaben  bie 
beiben  ßrjaljluttgen  mit  einanber  gemein;  ba§ 
2Jtotib,  tt>orau$  in  unferer  ©id&tung  bie  beiben 
ßeonoren  hervorgegangen  finb,  lieferte  2Jtanfo, 
ba§  jur  ©d&lu&Iataftroplje  3Jturatori.  ©elbft  ba§ 
lefcte  SBori  be£  £erjogS  in  ber  SEaffotegenbe  nad) 
3Kuratori  ift  in  unfere  ©idjtung  übergegangen; 
mir  Vernehmen  nod)  feinen  SBiebetfjaö  in  btn 
legten  SBorien  be§  ©oetljefdjen  2ttpI)on8:  „6r  lommt 
Don  ©innen,  Jjalf  iljn  feft". 

©er  ©ang  ber  Stoiföenbegebenfjeiten  mar  in 
feinen  £au:ptmomenten  burtf)  3Jlanfo  Dorgejeidjnet: 
biefe  finb  jener  Ijeftige,  bis  ju  Sll)ätUdjfeiten  ent» 
brannte  ©treit,  in  Solge  beffen  SEaffo  mit  3itnmer* 
$aft  beftraft  toirb,  unb  bie  Qfludjt  nad)  ©orrent, 
bie  SDtanfo  an  baS  @nbe  ber  erften  Sfrrfa^rt 
fefct,  mäljrenb  fie  in  JffiirHidjIeit  ben  Anfang 
berfelben  ausmalt.  >2)a  nun  bie  ©djlufjfatafiroplje 
einen  ftetigen,  nidjt  burd)   fjftudjt  unb  0tücfteljr 

22* 


832  ©oet$e»  Torquato  Xaffo.  [180 

unterbrochenen  ©ang  ber  §anblung  toorauSfefct, 
unb  aud)  bie  fflnftlerifcfie  Aufgabe  bet  3)rama= 
tifirung  einen  folgen  forbert,  fo  läfct  unfer  Steter 
bie  giudjt  nad)  ©orrent  in  ber  ^antafte  SEaffoS 
bidjt  toor  ber  6d)luftfataflrol)Ije  gefdjeljen1.  2)ie 
£aft  toar  nur  ein  letzter  ©tubenarrefi,  ber  fo* 
gleid)  toieber  aufgehoben  ttmrbe;  ba^er  fann  über= 
Ijaujrt  t)on  leiner  3flud)t,  fonbern  nur  Don  einer 
freiwilligen  SSerbannung  ober  Trennung  bie  Siebe 
fein,  toogu  ber  (Sntfdjtufe  aus  SEaffoS  eigenfien 
©etntttljSguftänben ,  feiner  toerbüfterten  Ginbilbung 
unb  ber  falfdjen  Sluffaffung  feiner  ßage  I)ert>orgeIjt. 

3(n  jirenger  Abfolge  Verläuft  bie  Steige  ber 
£anbtungen  in  örtlid&er  unb  geitlid&er  ©in^eit: 
ber  ©d)auj>lafc  ift  Selriguarbo ,  ber  3eityunft  bie 
SBoffenbung  beS  befreiten  3erufatetn§  im  fJxü^j[Q^r 
1575,  bie  Sauer  ein  SEag.  @8  ifi  ber  SBeg  Dorn 
©tyfel  gum  Stögrunb,  ben  ©oetljeS  SEaffo  bor 
unferen  Augen  burdjläuft! 

3$  Ijabe  in  ber  ßürge  ben  ©ang  ber  33e* 
gebenljeiten  innerhalb  beS  SftaljmenS  unb  ber 
Umriffe  gegeidjnet,  bie  unfere  2)id)tung  Don  An- 
beginn gehabt  unb  feftgeljatten  Ijat,   fo  ba&  bie 

i  6.  oben  VI.  7.  6.  99  flßb. 


181]  $a8  <3oe$ef4e  @<$aufotdC  333 

fpätere  ttmgejlaltung  unb  2lu3füljrung  fidj  in 
biefe  SInorbnung  einfügte*  2)en  Slntonio  Ijatte 
toeber  Sötanfo  nodj  SÄuratori  genannt.  3)iefe 
©efialt  trat  erft  burdj  ©eraffi  in  ben  §origont 
beS  ©oetfyefdjen  iEaffo ;  gugteid)  fd&öpfte  unfer 
SDidjter  aus  jener  ßebenSbefd&reibung  eine  Iftct^c 
frudjtbarer  ®etails,  bie  tljm  gur  tieferen  61jaraf= 
teriftif  ber  Sßerfonen  unb  §anblungen  gebient 
Ijaben.  3tö  nenne  nur  aus  bem  erften  Slct  bie 
rüljrenbe  ©teile,  toorin  Staffo  ber  eigenen  traurigen 
Äinbljeit  unb  3ugenb  gebeult,  bie  entfjufiaftifdje, 
toorin  er  bie  Sintoirfung  beS  &ergog§  auf  bie 
3)arfteIIung  ber  ßriegStljaten  in  feinem  @po§ 
angreift.;  id&  nenne  aus  beut  gleiten  bie  ©teilen, 
toorin  Staffo  bie  ^crrlid&cn  fjefie  in  fjerrara 
f Gilbert,  bann  ben  9Jfr>ment,  toie  er  gum  erften= 
mal  bie  5JJringeffin  fieljt,  bann  ba§  freie  ßeben  im 
golbenen  Seitalter,  worauf  bie  Sßringeffin  mit 
iljrer  ©egenfdjilberung  antwortet.1  2)a&  £affo, 
um  fein  2Berf  bor  baS  gorum  berufener  9Jlänner 
gu  [teilen,  nad)  9tom  geljen  null,  baß  itjit  bie 
üflebici  au  iljrem  &ofe  in  3?Ioreng  gu  Ijaben 
toünfd&en,  lonnte  ©oetlje  nur  aus  ©erajfi  toiffen 

i  6.  oben  VII.  2.  6.  125. 


884  (SoetyeS  Torquato  ICaffo.  \1& 

unb  biefe  Sttottoe  baljer  erfi  in  feine  frätere 
©tdjtung  aufnehmen,  too  fie  eine  fo  eingreifenbe 
SBirfung  ausüben.  §ier  läfct  er  bie  SodEung 
uad)  Sfloreng  Don  ber  ©rftfin  ßeonore  ©anöitde, 
bie  in  SBirfttdjIeit  nid)t§  mit  ben  SKebtci  unb  iljrer 
§au:ptftabt  gu  tljun  Ijatte,  ausgeben  unb  Don  Xaffo 
fo  falfd&  gebeutet  toerben,  als  oB  man  in  gferrara 
iljn  tos  fein  tooffe.  iftun  toiff  er  fettji  fort,  ba 
er  toäljnt,  bafc  man  feiner  üBerbrfifftg  fei  unb  iljn 
vertreibe.  916er  er  ftrcBt  tttd^t  nad)  3?lorerij, 
fonbem  nadj  3tom  unb  bann  toeiter  nadj  Neapel 
unb  ©orrent. 

2)ieS  ftnb  bie  SDTotibe,  burd)  toetdje  bie  #anb* 
Iung  ftd)  fortbewegt,  bie  nad)  bem  ©djtuffe  be« 
jtoeiten  SlctS  toeber  ju  ftagniren  Beginnt,  ttrie  einige 
gemeint,  nod)  ft<$  iljrer  urforünglidjen  Anlage  m 
entfrembet,  toie  anbere  getoottt  IjaBen.  SBietmeljr 
Befteljt  Don  bem  3tugen6K<f  an,  too  iljm  ber  Surft 
bie  £aft  anfünbigt,  ber  ^ortfd&ritt  ber  £anblung 
in  ben  ßeiben  SEaffoS. 

2.    S)ie  <£omj>ofttum. 

S)ie  Ärönung  be§  2)idjter8  nadj  ber  35offen= 
bung  feines  3BerfeS  ift  baS  SHjema  unb  ber  ©ipfel 


183]  $a8  @oet$eföe  @d&(mfj>iet.  335 

beS  erftcn  2lctS.  ©ie  gebrftdfte  Stimmung  SEaffoS 

nad)  bcm  Stuftritt  SlntonioS,  toomit  ber  crftc  3lct 

fdjlie&t,  unb  bie  erl)öf)te  nad)  betn  ©eforftd)  mit 

ber  $ringef fin ,  toomit  ber  gtoeite  Beginnt,  ftnb  bte 

betoegten  ©eelenjuftänbe,  bte  ben  ©ang  ber  §anb* 

lung  fortleiten.     3n   bent  2Jtonolog,   ber  fetner 

Unterrebung  mit  ber  SPrtngefftn  folgt,  fteigert  ftdj 

baS  £odjgefü!jl  SEaffoS  ju  einer  eljiatiföen  Sreubtg* 

feit,  in  toeldjer  Sluftoaffung  er  bent  Antonio  <nt= 

gegentritt.    ©ie  Stimmungen  Betber  fönnen  tttdjt 

unäljnlidjer   fein :    Don   SEaffoS   Seite   IjingeBtnb, 

offen  unb  entijuftaftifdj  erregt,  t>on  Seite  Antonios 

jurfldljaltenb ,  ableljnenb  unb  bitter,    ©er  SBort* 

ftreit  entbrennt.    3e  Ijöljer  bte  Stimmung  unb 

baS  ©eftt^l  beS  eigenen  SBertljeS  ift,  bie  SEaffo  aus 

bem  @eforä<%  mit  ber  5ßrinjeffin  batoongetragen, 

um  fo  fdjtoerer  fafjlt  er  jtdj  jefct  burdj  bie  SBorte 

Antonios  Beleibigt.     <£r  forbert  tljn  jum  3xd& 

f  ampf  IjerauS  unb  jieljt  fdjon  ben  ©egen.    3n 

biefem  SlugenBlide  üBerrafdjt  Beibe  ber   §erjog. 

3KeI)r  genötigt  als  freitoiHig  firaft  Slipons  ben 

Sfretoel,  toeld)en  SEaffo  an  ber  Unberlefcltdjfeit  beS 

ffirfilid&en  &aufe8  berübt  l)at,   mit  ber  milbefteu 

£aft.   2Iuf  bem  ©ipfel  beS  ©lüdte,   als  ob  baS 


886  ©oc$e»  Torquato  fcaffo.  [184 

tragifd&e  ©djidfal  Ujn  ergriffen  Ijfttte,  fffl&lt  fid) 
SEaffo  plötflid)  überwältigt  toom  jäljen,  unberfdjulbeten 
(fall.    2>ieS  ber  3n^alt  be3  gleiten  2lct§. 

8hm  fofl  ßeonore  ©antntale  ben  ©efangenen 
toieber  aufritzten  unb  jur  JBerföljnung  mit  Antonio 
günftig  ftimmen,  ber  al86alb  Ujm  freunblidj  nabelt 
unb  feine  greiljeit  anfünbigen  fofl.  ©o  toifl  e3 
ber  &erjog.  216er  bie  ©räfin  Ijat  es  anberS  be= 
fdjloffen :  fie  tottnfdjt  ben  geliebten  ©tdjter  mit  ftd) 
nadj  5(orenj  gu  führen  unb  in  iljrer  9l&ty  ju 
feffeln,  um  in  feinen  ßiebern  beretoigt  ju  toerben, 
toie  ßaura  in  ben  ßiebern  Sßetrardjaä.  ©ie  toeifc 
ber  5ßrinjeffin  bie  Sintoißigung  in  bie  Entfernung 
SEaffoö  abjugetoinnen  unb  biefe  aud)  bem  Slntonio 
nadj  bem  einmal  ftattgefunbenen  3tt)ift  unb  bem 
SBiberftreit  ber  Stimmungen  als  ben  jtoed mäfcigfien 
SluStoeg  erf^einen  ju  laffen.  2)iefer  Sßlan  ber 
©räfin  ßeonore  unb  ber  6rfolg,  toomit  fie  ben= 
felben  in  33etoegung  fefct,  bitben  ba3  SEIjcma  beä 
brüten  2lct3,  in  toeldjem  £affo  titelt  auftritt. 

Sfmmer  tiefer  fcerfinft  biefer  in  bie  quälerifdje 
©elbfttäufdjung ,  bie  if)n  fcerbüfiert  unb  feine  äJor* 
ftettung  Don  ber  SBelt  um  iljn  Ijcr  oerfätfdjt.  ßr 
bietet  fidj  ein  3lt%  be§  SJerberbenS,  ba§  iljn  Don 


185]  2>a8  ®oet$cfd&e  @c&aufpler.  337 

allen  ©etten  umlagert.  33on  Slutonio  tütfifä  unb 
ungeredjt  berf  olgt,  bonSltyljonS  grunbloä  berurtfjeilt, 
gejüdjtigt  unb  eingelerf ert !  3lffe  ftnb  gegen  iljn 
fcerfdjtooren,  nur  eine  nidjt,  bie  als  ein  guter 
©djutjgeift  iljm  jur  ©eite  fteljt:  bie  ^rinjeffin! 
Sarin  liegt  feine  firaft  unb  fein  Stroft.  2Bie 
nun  ßeonore  ©antoitafe  xijm  ben  9tatl)  ertljeilt, 
fterrara  für  einige  3*it  ju  berlaffen,  unb  audj 
bie  (Simoiffigung  ber  5ßrinjefftn  ju  feiner  <£nt* 
fernung  !unb  tljut,  toirb  er  feines  testen  unb  ein= 
jigen  SCrofteS  beraubt.  @r  fieljt  nidjt,  bafc  ßeonore 
feine  ©efettfd)aft  für  fid) .  begehrt  unb  il)tn  ben 
©ntfdjlufj  mit  iljr  ju  reifen  abjufd)meid)eln  fud)t; 
er  fielet  in  ityr  nur  bie  ©enbbotin  ber  anberen, 
bie  baju  Reifen  fott,  bafc  fie  iljn  los  toerben.  Sitte 
tootten  iljn  Io8  werben:  „audj  fie,  audj  fie!" 
3fet|t  erft  füljlt  er  fidj  ganj  berlaffen  unb  attein. 
SttidjtS  bleibt  tym  als  fein  SBerf  unb  beffen  Sßol= 
lenbung  in  ber  33eratljung  mit  ben  berufenen  flunft= 
ridjtern  in  9tom.  ®aS  ©efüljt  ber  93ertaffenl)eit 
unb  ber  Eingebung  an  fein  SQBer!  giebt  iljm  ben 
©djein  ber  ßölte  unb  einer  getoiffen  garten  ®nt= 
fdjloffenljeit,  bie  fein  auftreten  in  ben  nädjften 
©cenen  beljerrfdjt.    ©o  empfängt  er  ben  Antonio, 


888  <Boe$eft  Xmquato  Zafio.  [188 

ber  in  ber  verföljntid&ften  2ftftd)t  erfdjeint  unb 
mit  bem  SBunfdje,  ftdj  il>m  nüfctidj  ju  ertoeifen. 
@r  fteljt  in  iljm  nnr  ben  Ijeimtüdftfdjen  unb  Ijeudp 
lertfd^en  fteinb,  bct  iljn  vertreiben,  aber  nidjt 
fdjeinen  toitt,  bafc  er  iljn  Vertreibe,  ©er  einjige 
3)ienft,  ben  er  Don  iljm  begehrt,  ift  bie  (Srlaubnifc 
jur  Steife  nad)  9tom,  bie  er  vom  §ergog  iljm  er« 
toirlen  möge,  unb  jtoar  unvergüglid).  ©egen  bie 
flugen  unb  rebüdjen  ©egengrünbe  Antonios  bleibt 
er  taub  unb  unempfinblid)  fttr  beren  ©etoidjt.  3Äit 
ber  eigenftnnigften  ©ringlidjfeit  jtoingt  er  biefen, 
bafe  er  if)ttt  nad&giebt.  @o  verläuft  unb  enbet 
ber  vierte  2(ct. 

Slipons  ijat  bie  @rfaubni&  Verweigert  unb  ben 
Sfntonio  nodj  einmal  ju  Üaffo  gefenbet,  um  iljn 
auf  anbere  ©ebanfen  ju  bringen.  Unverridjteter 
@ad)e  feljrt  er  gurüd:  bamit  beginnt  ber  fünfte 
Stet.  Sftun  toittigi  aud)  ber  §erjog,  fo  toenig  er 
baju  geneigt  ift,  in  bie  üteife  £affo8.  Ungern 
unb  gütig  entlägt  er  iljri,  mit  toeifen  unb  Väter* 
lidjen  JHat^f d)tägen,  er  verforidjt  iljm  bie  2tbfdjrift 
be§  ©ebid)t8  unb  toünfdjt,  ba&  er  in  9tom  fid)  gu 
ben  ©einigen  galten  unb  in  fürjefter  Seit  ju  iljm 
felbft  jurücffeljren  möge,     ©elbft  biefe  Von  ben 


187]  S5a8  ©oetfjefäe  ©d&aufpieL  839 

fdjönften  ©efinnungen  für  iljn  erfüllten  Sßorte, 
aufrichtig  unb  unöcrftettt  tote  fie  finb,  mifcfennt 
Slaffo  unb  Ijält  fie  für  SCftufdjung  unb  ßomöbie. 
<Sr  Ijört  überall  nur  Antonios  ©timme.  S)a  naljt 
fid)  „bie  Ijolbe  gürfitn".  Sfljr  gegenüber  öermag 
er  bte  IRottc  fünfilidjer  ©emütljgrulje  unb  Äälte, 
bie  er  jtdj  müljfam  auferlegt  l)at,  ntc^t  fortjufoielett. 
2)aS  @efüf}t  feines  tiefen  Unglttdfe  Bricht  but$, 
toie  er  fie  erblidt.  Stud)  bie  ßimft  wtt>  Slont 
toerben  il)n  nid)t  Beliebigen.  €3  treibt  iljn  toeiter 
nad)  Neapel  unb  ©orrettt,  er  muß  als  ein  toer* 
tnummter  3?lüdjtting  forteilen,  benn  feit  ber  ßinb= 
$ett  tft  er  aus  feiner  §eimatlj  berbannt;  bie 
?Prinjefjtn  felbft  Ijat  i^n  baran  erinnert,  fie  fürdjtet 
für  iljn.  Sfljr  fanfteS  tljeilneljmenbeS  Sßort  ber= 
änbert  toie  mit  einem  3auberfdjlage  feine  ©tim* 
mung.  3etjt  toitt  er  bleiben,  toenn  aud)  toerbannt, 
auf  bem  entfernteften  ©d)loffe  beS  £erjog§,  in 
bem  nieberen  SDienft  be3  ©ärtnerS  ober  ÄafteÜanS, 
nur  in  iljrer  9iäl)e,  toenn  audj  fern!  Unb  toie  er 
t)on  iljrer  Sippe  Ijört,  bafc  iljr  £er§  iljn  nidjt  Der* 
laffen  !önne,  fo  jerreifct  bie  jurüdgebrängte  ©eioalt 
feiner  ßeibenfdjaft  bie  legten  S)ämme,  unb  mit 
ber  Untoiberfteljlidjfeit  be3  Clements  ergießt  fid> 


840  (SoetfteS  Torquato  Saffo.  [188 

bie  UeberflutI)  feiner  ©efüljte,  fo  bafc  er  juleijt 
tote  befinnungSloS  tljr  in  bie  kirnte  .fällt  unb  fte 
feft  an  fid>  brttdft.  ®ie  «ßrtnseffin  ftöfet  U»n  bon 
fid)  unb  eilt  Ijintoeg.  S)er  £erjog,  ber  injttrifdjen 
mit  Slntonio  fid)  genäljert  §at,  ruft  biefetn  ju:  „@r 
fommt  Don  ©innen;  Ijatt  üjn  feft". 1  £ier  ift  bie 
ßatafiroplje,  Don  too,  nrie  3tturatori  berietet,  ber 
2Beg  be8  tturllidjen  £affo  in  baS  2lnnenl)oft)itat 
ging.    38a8  gefd^ie^t  mit  bem  ©oetljefdjen  SEaffo? 

3.  Sie  ©runbibee. 

©letdfj  beim  erften  Slnbücf  mufften  bie  ©d)itf= 
fale  SEaffoä  auf  unferen  ©oetlje  ben  SinbrudE  einer 
Seiben3gefd)id)te  mad)en,  bie  ein  junger,  ge= 
niater  unb  ruIjmtooHer  2)idjler  erlebt  Ijat.  9touffeau 
füllte  feine  SScrtüattbtfc^aft  mit  bem  unglüdflid&en 
S£affo,  ©oetljeS  SBertljer  bie  feinige  mit  bem  ffreunbe 
ber  neuen  &elt>ife.  @3  liefce  fidj  ein  2Beg  ftnben, 
ber  öon  bem  Sinter  be§  Slminta  unb  SEancreb 


1  ©oetlje  lagt  biefe  ©cene  tote  fein  ganzes  ©tüd  in 
SBelrtguarbo  fielen,  too  e8  leinen  3eu&en  ßa&'  &**  fa 
oertatljen  tonnte.  SRuxatori  Ijatte  bie  Gegebenheit  nur 
begljalb  beatoeifelt,  toeil  fxc  am  §ofe  in  Oferrara  gefdjeljen 
fein  füllte,  tt>o  fle  unmöglich  ljdtte  öerborgen  Bleiben 
fönnen.  6.  oben  IX.  3.  6.  169  flgb. 


189]  $a&  (Boetyefdfc  @d&aufotel.  841 

ju  SRouffeau  unb  bett  „ßeiben  be8  jungen  2Bertljer§" 
unb  Don  biefen  $u  bem  bramatifdjen  ©eetengemälbe 
bcr  ßeiben  be8  jungen  2)id)ter§  geführt  Ijat,  toeldjeS 
©oetlje  „SEorquato  SEaffo"  nannte. 

S)ie  ßeiben  2Bertl)er$  toaten  eine  £ragöbie,  bie 
in  ber  SBelt  eine  §odjf(utl)  be8  3flitleib3  l)erbor* 
rief.  S)aS  bratnatifd^c  ©eelengemälbe  ber  ßeiben 
£affo3  ift  ein  „@dj  auffiel",  tote  ©oetljeS  Sfolji* 
gerne.  Ser  tmrftidie  £affo  erlebt  eine  fd)redflid)& 
SEragöbie,  ber  ©oet^efd^e  feine.  3d)  glaube,  bafc 
biefc  ©ifferenj  unb  Umtoanblung  mit  bem  ©runb= 
motib  juf  ammenfäüt ,  ba§  ben  erften  Sntjmfä  ju 
unferer  SEaffobid&tung  gab,  ben  fööpferifd&en 
©ebanfen,  toorauS  baS  ganje  2Berf  Ijerborging. 
2tn  biefer  Uribee  Ijat  auä)  ber  römifdje  Slufent^alt 
nid)t§  geänbert,  toielmetyr  Ijat  er  biefelbe  erft  red)t 
bejaljt  unb  bekräftigt.  3$  batire  fie  Dom  30. 
3Jtarj  1780,  too  ©oetlje  auf  bem  2Bege  nadj  £ie= 
fürt  „ben  erfinbenben  Sag"  Ijatte. 

SBenn  einer  ber  begabten  unb  intereffanten 
©djriftfteller  auf  bem  {jfelbe  ber  bramatifd&en  ßite= 
ratur  unferer  SEage,  idj  meine  £enrif  Sbfen, 
einen  Torquato  SLaffo  getrieben  Ijfttte,  fo  ttriirbe 
er  bemüht  geroefen  fein,  ba§  ©tenb  unb  bie  ßeiben 


842  Gtoetyeft  Torquato  fcaffo.  [190 

beS  italienifdjen  ©idjtfcrS  nad)  ber  Statut  aBju* 
fdjilbern :  toir  toürben  feinen  Staffo  als  Bettelljaften 
Qflfid&tling  in  aBgeriffenen  Äletbern,  als  2Man* 
d&olifuS  in  ben  Slntoanblungen  beS  SßaljnjtnnS 
unb  juletjt  unter  äBefyt  lagen  in  ber  3eQe  beS  Sinnen- 
IjofoitalS  erBlidf  en.  3d&  ttmnbere  midj,  bafc  fic^  3fbfen 
Bis  jeijt  biefen  lodfenben  ©egenflanb  berfagt  Ijat. 
SBäre  ber  junge  SBert^er  ein  großer  3)id)ter 
getoefen  (ober  ein  größerer  Äünftler  als  er  toar), 
fo  toürbe  er  feinen  Seiben  nidjt  erlegen  fein,  fonbem 
fte  bidjtertfd)  übertoftltigt  unb  bargeftellt  IjaBen. 
©ann  toar  er  nid&t  SBertljer,  fonbem  ©oetlje! 
3Äan  Befreit  fidj  bon  feinen  ßeibenfdjaften,  toenn 
man  fie  beutlid)  unb  Aar  borftellt:  bann  toerroanbelt 
man  feine  3uftänbe  in  feine  ©egenftftnbe  unb  toirb 
eben  baburd)  öon  iljnen  frei.  @o  f)at  ber  5pijilos 
folpl)  ©pinoja  gelehrt  unb  geljanbelt.  SaffelBe  tljut 
©oetlje  als  35en!er  unb  ©idjter.  £ier  ift  ber 
Sßunft  feines  tiefften  ©inberftänbniffeS  mit  ©pinoja, 
beffen  ßeljre  ©oetlje  in  ber  3*ü  jtoifdjen  ber  alten 
unb  neuen  £affobid)tung  (1784 — 86)  eifrig  unb 
ju  feiner  tiefen  Sefriebigung  ftubirt  Ijat.1 

1  23.  ©upfyan:  Sfeftgefdjidjte  jux  II.  ©äcularfetet  bc§ 
gfriebr.-2öerber*@$mnaf.  (fdtrl  1881). 


191]  ftttS  gftfetfcföe  ©d&cmfolcL  843 

<£r  ^atte  tn  Saffo  einen  iljm  ebenbürtigen 
©egenftanb  ergriffen:  einen  großen  Sinter,  ber 
äljnlidfj  tote  2Bertf)er  leibet  unb  toie  biefer  e3 
reijenb  ftttbet,  fid^  in  ben  Stbgrunb  beS  eigenen 
£ergen$  Ijinabftürjen.  @r  barf  unb  foll  e8  nidjt. 
3n  ben  ßeiben  eines  folgen  ©id&terS  liegt  bie 
Äraft  ber  (Srljebung,  bie  fd^öpferifd^c  «Kraft,  bie 
jttr  Teilung  gereift,  ©oetljes  Staffo  öerfttmmert 
nid&t  in  ber  3eHe  beS  2tnnenl)oft)ital3 ,  fonbern 
erbebt  jtd&  über  fein  ©djidtfal: 

«lies  ijt  baljht!  —  9hir  @ine8  Bleibt: 

S)ie  Sutane  Ijat  und  bie  Statut  toerlieljen, 

2>en  ©$ret  be3  @$meraen8,  toenn  ber  Wann  aulefet 

@3  nidjt  mefjr  tragt.  —  Unb  mir  no<$  über  alles  — 

Sie  lieg  im  @djmer$  mir  Gelobte  unb  Siebe, 

$te  tieffie  gfütte  meiner  Sftotfj  &u  f  lagen: 

Unb   toenn  ber  2ftenf$   in   feiner   Oual   t>er= 

ftummt, 
©ab  mir  ein  ©Ott  $u  fagen,  tote  t$  leibe.1 

@rft  biefeS  ift  ber  foaljre  ©djlufc  be§  @oetlje= 
fd&en  SLaffo  unb  jugletdj  ber  ©runbgebanfe ,  aus 
beut  bie  3)idjtung  entftanb.  <£r  tt>ar  in  ber  ©eele 
unfereS  2)id)ter8  gegenwärtig,  als  er  ben  30.  9Jtärj 
1780  jene  ©teile  in  fein  Stagebudj  fdjrieb:  „@ute 

»  V.  5,  S5.  3426-3433. 


944  Ooetftt«  Zotqitato  Saffo.  [192 

ßrfinbung  £affo". l  Unmögtidf)  l)ätte  er  btefeS 
SBerf  unboffenbet  lajfen  fönttett.  GS  mufjte  fein, 
tote  ber  2Bettf)er! 

®er  gtoeite  9Ict  mar  fd&on  im  3uge,  als  ftdj 
@oetl)e  in  bem  gafttidjen  £aufe  beS  ©rafen  2ßerttyern 
ju  Uteunljeilingen  einige  Sage  jum  33efu<f)  auffielt. 
9Kit  bem  größten  ^ntereffe  beobadjtete  er  bie  bor» 
nehmen  @igentljümüd)feiten  feiner  ©aftfreunbe,  um 
fie  bidjterifdf)  ju  bertoerfl&en.  2Bir  6egegnen  bem 
grftflidjen  5ßaar  im  2Bifl&elm  9Reifter.  3n  einem 
33riefe  bom  11.  2Jiärj  1781  fdjilbert  er  ber  greunbin 
in  SBeimar  bie  ©reifin  nadj  bem  CeBen  unb  bei 
bem  *ßorträt  beS  ©rafen  bridjt  er  mit  ben  2Borten 
ab:  „©o  Diel  lann  id)  fagen,  er  mad&t  mir  meine 
bramatifAe  unb  epijdje  JBorratljSfammer  um  ein 
gutes  reid&er.  3<f)  fann  nid)t  berberben,  ba 
idj  aus  Steinen  unb  6rbe  Srob  madjen 
fann/'2  Sie  ©runbibee  feines  Saffo !  SBie  *)ätte 
er  biefen  ©id&ter,  ber  bod)  mit  einer  äljnlidjen 
§eilfraft  auSgerüftet  fein  mußte,  berberben  laffen 
fotten? 


1  ©.  ofcen  IL  2.  ©.  19. 

*  ©oetfaa  »riefe  an  3frau  t>.  ©teilt,  I.  S3r.  602. 


193]  $>a3  ®ot#efd&e  @c$aufoleL  84» 

@d&on  in  ber  jioeitctt  2tu§gaBe  be8  Sßertljer 
Ijatte  ©oetlje  einige  SBerfe  an  bie  ßefer  gerietet, 
toorin  er  ben  ©Ratten  be§  abgeriebenen  felBft 
t)or  feinem  SBorBilbe  roarnen  lagt: 

S)u  betoeinft,  bu  Iiebfi  iljn,  liebe  ©eele, 
fRetteft  fein  ©ebädjtnifj  Don  ber  &$ma$; 
©telj,  bir  toinft  fein  ©eift  aus  feiner  §öljlc: 
Sei  ein  SJtann  unb  folge  mir  ntdjt  na& 

Site  fünfätg  Sfaljre  foäter  bie  SuBelauSgaBe 
SBertljerS  erlernen  follte,  Begleitete  fie  ©oet^e 
mit  einem  ©ebid&t  „9ln  SBertfjer",  toeld&eä  er  t>ann 
ben  Beiben  früheren  ©ebbten,  ber  9RarienBaber 
„Slegie"  unb  ber  „SluSföljnung",  borauäfdjiifte, 
um  alle  brei  unter  bem  SWamen  „Strilogie  ber 
ßeibenfd&aft"  in  eine  ©rujtye  gu  bereinigen.  £atte 
bodj  ber  greife  2)idjter  felBft  nodj  einmal  toertljer* 
artige  ßeiben  erlebt,  bie  er  in  ber  „Plegie"  fdjifc 
bert.  2fnbem  er  je|t  baS  ©ebftd&tnife  feines  SBertljerS 
Begebt,  nimmt  er  fid)  feinen  Staffo  jum  SSorBilb: 

©djeiben  tft  ber  2ob! 
Söie  Hingt  es  rfiljrenb,  toenn  ber  S)i<$ter  fingt, 
S)en  £ob  gu  Bleiben,  ben  ba8  ©Reiben  bringt! 
SSerftricft  in  fold&e  Oualen,  Ijaloberfd&ulbet, 
<Beb'  iljm  ein  ©ott  au  fagen,  toaS  er  bulbet 

Äuno  8ftfd&et,  ©oet$es@d&rlfieiu  23 


846  ©oetyeS  Torquato  Zafio.  [IM 

SDann  folgt  bie  „ßtegie",  bic  in  SDlarienbab  er* 
lebt  fear.  3fn  bem  erfien  ©ebtdjte  ber  SErtlogie 
Ijatte  ©oetlje  felbfi  feinen  äßertljer  mit  feinem 
SEajfo  öerglid&en,  unb  jtoar  fo,  bafc  biefer  in  8BaIjr= 
Ijeit  QtS  ber  Ijöfyere  Sßertljer  erfdjeint.  @r  Ijatte 
baS  ©ebidjt  ben  25.  3Jiftrj  1824  gefdjrieben,  eS 
erfd^ten  im  folgenben  3faljre.  @in  3faljr  fyäter  las 
er  im  „©lobe"  Don  ber  £anb  STmpfereS  bie  33eur= 
Teilung  feiner  bramatiföen  2Berfe.  SBie  mufete 
eS  iljn  überrafdjen,  aus  bem  ÜDiunbe  beS  frangö= 
fifdjen  ÄritiferS  ju  I)ören,  bafc  fein  SEajfo  ber  ge= 
fteigerte  Sßertljer  fei!1 

XI.  pie  pett  bes  goetQeftjett  gaffo. 

1.  2)te  ttatiemjdje  8ienaiffcmce. 

3ene  SBorte,  toomit  SEaffo  aus  bem  Slbgrunbe 
ber  SBerjtoetflung  fidj  ergebt  unb  toieber  aufridjtet, 
finb  ntd^t  für  einen  glüdtlid&en  6infaK  ju  galten, 
ber  unferem  ©idjter  eines  frönen  StageS  gelommen 
fei  unb  gu  bem  ©djlufj  feines  SBerleS  berljolfen 
Ijabe,  welker  lefctere  iljm  nad)  mand&erlei  toergeb= 
lid&en   SMi^en   ben   5.  3uli   1789  in  Setoebere 


1  6.  ofcen  I.  1.  ©.  10  flgb. 


195]  Sie  2Mt  bc8  ©oet$efd&en  gaffo.  347 , 

gelang.  SSielmeljr  ifi  biefer  ©djlufj  in  bem  Ur= 
plan  feines  S£affo  angelegt  unb  toaltct  burd(j  ben 
©Ijarafter  beS  gangen  2Berfe3. 

SBarum  Ijat  ber  ttrirfttdje  S£affo  trot}  feiner 
©idfjtergröfce  Jene  &eilfraft  be§  fd&affenben  SEalenteS 
entbehrt  unb  htm  ©d&idfal  erliegen  muffen?  2lnt= 
»orten  ttrir  mit  ber  ©egenfrage:  SBarum  fonnte 
bie  gtoeite  &älfte  be§  fed)§3el)nten  3fal)rljunbert3 
nid&t  bie  be§  ad&tjel)nten,  $art  V.  nid&t  griebrid) 
ber  ©rofee,  $IjiUp|>  II.  nid&t  3ofeJ)l)  n.  unb  ber 
&erjog  Stlfonfo  bon  ^errara  nid^t  ber  &erjog  $arl 
2luguft  toon  ©adf)fen=3Beimar  fein?  SBarum  toax  ba8 
3eitalter  ber  erneuten  Sfnquifition,  bie  am  ©d&luffe 
be§  ^a^r^unberts  ben  ©iorbano  SBruno  berbrannt 
Ijat,  uid&t  btö  ber  frangöfifd&en  9tebolution,  bie  am 
©dfjluffe  be§  3faf)rf)unbert§  if)re  9teife  um  bie 
SBelt  antrat? 

2>ie  3eit  foHte  in  bie  alten  {fugen,  au§  benen. 
bie  Deformation  fie  Ijerauägeriffen  Ijatte,  toieber 
gurütfgefdfjraubt  toerben:  gtoifd&en  biefe  Strauben 
geriet!)  ber  arme  SEaffo  unb  tourbe  jerquetfd&t! 
Sie  ftmnifd(je  Sl^rannei  Ijatte  in  feiner  #eimatlj 
bie  3nquifition  eingeführt  unb  iljn  bon  ÄinbeS* 
Beinen  an  verfolgt,  feinen  SSater  berbannt,  feine 

23* 


848  ®otti)ti  Torquato  Xaflo.  [196 

ßltem  getrennt,  feine  Slrtnutl)  fcerurfadjt  unb  iljm 
jebe  äßieberljerftettung  toerfagt;  bie  fjurd^t  bor  ber 
Snquifttion  Ijatte  iljn  bergejtalt  toerftört,  ba§  er 
bie  fjfreube  an  feiner  poetiföen  ©ro&tljat  berloren 
unb  am  ßnbe  ba§  eigene  SBerf  öcrioftnfc^t  Ijat. 
SDiefer  SEaffo  berftummte  toirfliä)  in  fetner  Oual. 
2Benn  toir  bie  Iranfljaften  3ujlänbe  feiner  9Man= 
djotie  Bis  in  bie  legten  uns  erfennbaren  3?actoren 
Verfolgen,  fo  tourjetn  audj  biefe  in  ben  S)rang- 
falen  unb  liebeln  ber  3eit,  bie  iljn  belagerten, 
unb  im  &inbti<f  auf  toeld&e  Staffo  mit  Hamlet 
^ätte  fageu  fönnen:  „®a3  l)at  mid)  toll  gemadjt!" 

SltCc  biefe  unljetmlidjen  3eitgetoalten  Ijat  ©oetlje 
unbead&tet  gelaffen  unb  Don  feinem  SEaffo  fern  ge= 
galten.  SBoIjl  Ijören  toir  audj  biefen  ber  -ftotl) 
ber  Sltern  unb  ber  eigenen  traurigen  3ugenb  ge= 
beulen,  aber  bon  ben  ftnfteren  3Jläd)ten,  bie  jene 
Seiben  berurfad&t  unb  in  feinem  ßeben  fortgetoirft 
Ijaben,  ift  nie  bie  Siebe.  Sie  eingige  ©teile,  bie 
man  ettoa  eintoenben  lönnte,  jeugt  nidjt  batoiber, 
idj  meine  in  bem  legten  ©cfprftd^  gttrifdjen  ber 
^rinjefftn  unb  SEaffo  bie  beforgten  SBorte,  toomit 
jene  iljn  Don  ber  3teife  nad^  Weapd  gurüdfljaiten 
mödjte : 


197]  «Die  «Bett  beS  ®oc$tfötn  Saffo.  849 

3)atfft  bu  ed  toagen? 
ÜRo<$  tft  ber  ftrenge  Sann  nid&t  aufgehoben, 
2)er  bi$  suaJCei$  mit  beinern  Sater  traf.1 

©oet^e  Ijat  bie  Seit  unb  bie  Umgebungen  bem 
bidjterifd&en  ©Ijarafter  angepaßt,  ben  er  in  ber 
ungehemmten  Entfaltung  feines  ©djaffenS  unb 
fieibenS,  feiner  ©ntjüdtungen  unb  Dualen  barfteÜen 
»oKte.    ©ein  SCaffo  fagt: 

Sfrei  toitt  i<$  fein  im  SJenfen  unb  im  35id)ten; 
3m  #anbeln  föränft  bie  SBelt  genug  und  ein. 

SIBcr  jum  ©id&ten  gehört  eine  JJttlle  ber  *ßl)antafie, 
mit  toeldjer  bie  ßeiben  ber  5JJ^antafie  —  auf 
einer  gettriffen  §öl)enftufe  beS  ©eifteS  toiefleidjt  bie 
größten,  bie  es  giefct  — ,  fo  notljtoenbig  toerfnityft 
ftnb,  als  baS  3ÄärfyrertI)um  mit  ber  gttlle  beS 
©laubenS.  3u  ber  ungehemmten  Entfaltung  ber 
5ßljantafieleiben  brauet  man  biefelbe  Qfreiljeit  toie 
jum  2)enfen  unb  Sitten. 

Semgemäfj  Ijat  ©oetlje  bie  2Mt  feines  SEajfo 
geftaltet:  fte  atljmet  in  einer  Sülle  äftljetifdjer 
©efittung  unb  fjfreiljeit,  toie  jie  bolllommener  in 
feiner  anberen  2)idjtung  je  gefd&ilbert  unb  in  ber 


*  V.  4,  8.  3137—39. 


'  860  @oe$e0  Torquato  Xafio.  [198 

2Birllid)feit  fcieHeiäjt  nur  einmal  erlebt  toorben  ift: 
an  bem.  fd&önjlen  SEage  ber  itattenif(^cn  9le- 
naiffance!  Siefe  in  einem  feiner  bidjterifd&en  SBerfe 
barfteffen  ju  lönnen,  gereidjte  ©oetljen  ju  innerjier 
JBefriebigung,  unb  er  naljm  es  tote  eine  Fügung, 
ba§  gerabe  biefeS  Sßerf  fidj  an  baS  @nbe  feiner 
eigenen  italienifd&en  ßaufbaljn  anfdjlofc.1 

2.  S)a8  3bgtf  in  »elrtguarbo. 

©leidj  mit  bem  Seginn  beS  ©tüdfeS  fohlen  mir 
uns  in  bie  Ijeimlid&e  unb  untoergleidjlidje  SBelt 
öerfefct,  in  toeldjer  bie  ^anblung  herlauft.  @in 
fjerrlidjer  grüfylingSmorgen  in  Selriguarbo!  ®ie 
beiben  ßeonoren  fd&einen  fdjon  in  iljrer  äußeren 
Straft  bem  2)id)ter  beS  2lminta  gu  ljulbigen:  fie  finb 
arfabifd)  gefleibet,  als  ©djäferinnen,  unb  toinben 
Äranje.  S)ie  finnige  Sßringeffin  frönt  mit  bem 
ßorbeer,  ben  fie  in  ©ebanfen  flocht,  bie  £erme 
SSirgitS :  es  ift  ber  Sinter  beS  2leneaS  unb  ber 
£irten,  baS  SSorbilb  SEaffoS!  S)ie  lebensfrohe 
ßeonore  brftdt  if)ren  bollen  froren  ßrang  bem 
SDleifter  ßubttrig  auf  bie  ^olje  ©tirne : 


i  6.  oben  X.  2.  6.  63. 


199]  Sie  2Mt  beS  ®oet$ef<$en  Zatfo.  851 

@r,  beffen  €><$er3e  nie  öerbluljen,  Ijabe 
©leidj  t>on  bem  neuen  8früf)Iing  feinen  SlfjeiU 

©ie  Sprinjef fin  träumt  fid&  in  bie  eigene  S3er= 
gangenljeit  unb  in  bie  SSorjeit,  ber  ibtyHifdje  SDtorgen 
toedft  if)r  ba§  SBtlb  be§  golbenen  3eitalter§,  trielleidjt 
ben!t  fie  ber  2)id)tuugen  be§  £affo  unb  be§ 
©uarini: 

2öir  !5nnen  unfer  fein  unb  ftunbenlang 
Uns  in  bie  golbne  3e^  ber  $>tdjter  träumen. 
34  liebe  SBelrtguarbo ;  benn  t<$  f)abe 
§ier  mannen  £ag  ber  3ugenb  froij  burdjtebt, 
Unb  biefeS  neue  ©rün  unb  biefe  (Sonne 
^Bringt  btö  ©efülji  mir  jener  3eit  aurücf. 

ßeonore  lebt  ganj  in  ber  ©egentoart,  fie  fd)il= 
bert  uns  bie  entgfidenbe  Sanbfdjaft,  iljr  Solid  ruljt 
auf  ben  ^errlid^en  ©arten  rings  untrer  unb  er= 
toeitert  fid)  in  bie  buftige,  toon  fd&immernben  Sergen 
Begrenzte  fjfeme: 

3a,  e8  umgiebt  uns  eine  neue  Söelt! 
S)er  Statten  biefer  immer  grünen  Säume 
SOÖirb  fdgon  erfreulidj.    @djon  erquieft  uns  toieber 
2)a8  [ftaufdjen  biefer  SBrunnen;  fdjtoanfenb  tmegen 
3m  3Jiorgenuunbe  ft$  bie  jungen  3toeige; 
3)ie  JBIumen  öon  ben  SBeeten  flauen  und 
9JHt  ityren  ftinberaugen  freunbftd)  an.. 
2)er  ©ärtner  beeft  getroft  baS  2Binterf)auS 


»2  <9oe$eft  Torquato  Eaffo.  [90» 

€>$on  ber  Zitronen  unb  Orangen  ab; 
$et  blaue  $unmel  ruljet  über  und, 
Unb  an  beut  ^ortgonte  I&ft  ber  ©djnee 
$er  fernen  ©erge  fiä)  in  leifen  SJuft. 

3.  3)er  (SultuS  be8  @eniu8. 

UtidjtS  erinnert  un3  baran,  bafc  in  ben  ®e* 
toaltljerrfd&ern  ber  italienifd&en  Sftenaiffance  aud) 
finftere  unb  abfdjretfenbe  3üge  gemattet  unb  in 
bem  Qffirjienljaufe  ber  6fte  feineSroegS  gefehlt  Ijaben. 
Unfere  ©idjtung  läßt  bie  Soften  ber  3eit  im 
ßidjte  ber  fdjönften  3Jienfd)ti<$feit  erfdjeinen  afe 
bie  fjörberer  ber  ebelften  Humanität  unb  ©efittung, 
bie  aus  toirflidjer,  einfidjts&offer  ^reube  an  ben 
2Ber!en  ber  ßunfl  unb  SBtffenfdjaft  bie  Satente 
um  fidö  ju  fatnmeln  beftrebt  finb.  Sei  affer  ©orge 
für  ben  eigenen  SRufjm  eifert  ber  ©oetljeftj&e  SHfonfo 
bodfj  im  toürbigften  SBettftreit  um  ben  58efi£ 
geiftiger  ©rö&en  mit  ben  2Jiebict  unb  ben  Zapften: 

2)a8  Ijat  Italien  ]o  grofe  gemadjt, 

2>af$  jeber  SRadjbar  mit  bem  anbern  ftreitet, 

$ie  ©effern  au  befifcen,  $u  benufcen. 

©in  8pdbr)err  oljne  §eer  fd^eint  mir  ein  3furß, 

©er  bie  Talente  nidjt  um  fld&  öerfammelt: 

Unb  toer  ber  S)tä^tfun(x  ©timme  niä^t  öernimmt, 

3ft  ein  ©arbar,  er  fei  auä),  loer  er  fei. l 

»  V.  1.  ».  2843-2849. 


201]  $te  SBelt  beS  ®ottf)tfötn  gaffo.  363 

2Bie  bic  ©räfin  ßeonore  Sfloreng  unb  fterrara, 
bie  ©tabt  beS  SSolfe  unb  bic  ber  3fürflen,  mit 
einanber  t>ergleid&t  unb  es  rüljmt,  bafc  gerrara 
burdf)  feine  dürften  grofc  getoorben  fei,  ermtbert 
bie  ^ringeffin  gang  im  ©inne  unferer  ©idjtung: 

3Jtetjr  burd)  bic  guten  3Äenfd)en,  bte  ftd)  Ijier 
S)urd)  3ufafl  trafen  unb  jum  @Iücf  oerbanben. 

ßeonore  läfct  bie  guten  SDtenfdjen  gelten,  nur 
fott  eS  ni<$t  ber  3ufatt  fein,  ber  fte  bereinigt, 
fonbern  ber  perfönlidje  ©eifteSabel,  ber 
gttrifdjen  ben  dürften  unb  ©intern  ber  3eit  baS 
33anb  ber  toedfjfelfeitigen  Slnjieljung  fnityft  unb 
befeftigt : 

©eljr  leidet  jerftreut  ber  3ufafl,  toaS  er  fammelt. 
@in  ebler  Sttenfd)  aiefct  eble  ÜJlenfdjen  an 
Unb  toeifc  pe  feftjuljalten,  tote  iljr  tljut. 
Um  beuten  ©ruber  unb  um  btd)  berbinben 
©emüttjer  fi<$,  bte  euer  toürbtg  finb, 
Unb  iljr  feib  eurer  gro&en  SSäter  toerü). 

©ie  fdjilbert  ben  Slufgang  ber  SRenaiffance, 
toobei  toir  freiließ  t>ielmef)r  an  3torenj  benfen 
muffen,  als  an  fjerrara: 

§iet  günbete  ftdj  fro!)  ba8  fdjöne  8i$t 
$er  SDßifJenfd&aft,  beS  freien  S)enfen8  an, 
5118  nod)  bie  ^Barbarei  mit  fdjtoerer  2)ämm'rung 
2>ie  SOßelt  uintjer  verbarg. 


354  @oe$e8  Torquato  Zafio.  [202 

Qferrara  toirb  jum  9ttufen!jof,  grofce  Siebter 
erfd&einen  in  ber  9Ritie  ber  Sfftrfien,  unb  ber 
<£ultu3  be3  ©eniuä,  ben  ba3  3citalter  ber 
Sftenaiffance  erft  getoeift,  ben  e8  mit  einer  Slrt 
religiöfem  @ifer  unb  einem  neuen  Sfteliquienbtenft 
gepflegt  Ijat,  ftnbet  Ijier  feine  ©tätte: 

aJlir  Hang  als  Äinb 
S)er  jftame  #erfuleö  t>on  Gfte  f$on, 
®$on  #tppotyt  t)on  Gfte  öott  in'8  Oljr, 
Sfcrrara  toarb  mit  9lom  unb  mit  gflorenj 
S3on  meinem  SBater  biet  geprtefen!    Oft 
§ab'  id)  mic$  tyingefefjnt;  nun  Bin  i<§  ba. 
§ter  toarb  ?Petrar<$  betoirttjet,  ljter  gepflegt, 
Unb  Strioft  fanb  feine  SRufter  ljter. 
Statten  nennt  feinen  großen  tarnen, 
3)en  biefeS  §au8  nidjt  feinen  ©oft  genannt. 
Unb  e8  ift  Dortljeilf)aft,  ben  ©eniuS 
SBetmrtfjen;  giebft  bu  üjm  ein  ©afigefd)enf, 
©o  lagt  er  bir  ein  f$önereS  gurücf. 
$)ie  ©tätte,  bie  ein  guter  3Jtenf<$  betrat, 
3ft  eingetpeiljt;  na$  ljunbert  3aljren  Hingt 
Sein  Sßort  unb  feine  Zfyat  bem  6nfe(  toieber. 


i 


2)te  guten  SÄenfäen  finb  Ijter,  wie  e3  bie 
35enfart  ber  Stenatffancc  mit  fid)  bringt,  bie 
großen  unb  bebeutungSbotten ,  bie  bon  ber  9Äit* 


i  I.  1.  ».  56-57,  ».  58-63,  S5.  64-66,  2*.  66-82. 


»  ••        •  • 


203]  <Me  SBelt  beS  ©oe$eföen  Saffo.  866 

toett  betounbert,  Don  ber  9tod)toelt  t)er^errttd&t 
»erben.  @old)e  @rfd&einungen  tote  bie  ©terne  am 
£immel  beS  3eita(tcrS  gu  Betrauten  unb  ftdj  in 
iljrem  ßtd^te  gu  fonnen:  bafür  Ijat  ßeonore 
©antritate  ben  toetbltd)  empfängtidjften,  fiegeifte* 
rungSfäljigen  ©inn.  2)en  ©ultuS  beS  ©eniuS  gu 
pflegen,  ift  U)r  ein  SBebürfntfc.  2)ie  SBereljrung, 
bie  fte  für  bie  5Pringefjin  Ijegt,  gipfelt  in  ben 
SBorten : 

Unb  bid)  mit  betner  6d)toefter  eljrt  bie  2Mt 
Soor  allen  großen  Stauen  eurer  3*it« 

©er  ©eniuS  ift  ntd&t  blo§  unfterbltdj,  er  mad&t 
audj  biejenigen  unfterblid),  bie  er  leudjten  täfct. 
SBenn  bie  -ftadjtoelt  ber  £immel  ift,  in  ben  bie 
guten,  b.  Ij.  bie  großen  9Jtenfd)en  fommen,  fo  Ijat 
ber  ©eift  ber  Stenaiffance  bie  ©djlüffelgetoatt  über 
biefen  £immel  ben  2)td)tern  anvertraut:  fie  Mafien 
bie  9Kad&t  gu  toerbammen,  bie  ber  größte  Don 
iljnen  ausgeübt  ijat;  fie  Ijaben  aud)  bie  3Jtad)t 
gu  Vergöttern;  fie  erreidjen  bie  -ftadjtoelt  fidler 
unb  bringen  batyn,  toen  fie  mit  ftdj  nehmen, 
©iefe  9teifegefeHföaft  mit  Saffo  ift  e8,  bie 
ßeonore  fid)  toünfdjt;  (Jloreng  ift  nur  bie  erfte 
Station,  bau  3itf  ift  bie  Sftad&toelt: 


866  toctftci  Torquato  Saffo.  [20* 

2Bie  teigenb  ift'4,  ttt  feinem  fd&bnen  (Seifte 
6i<$  f eiber  au  besiegeln!    2Birb  ein  ©lütf 
SRid&t  boppelt  grofc  unb  f>errli$,  toenn  fein  Sieb 
Uns  toie  auf  $immeUtt>oHen  trögt  unb  Ijebt? 
2>ann  bift  bu  erfl  beneiben8toertf)1    2>u  bifk, 
2)u  Ijafl  ba6  ntd&t  allein,  toad  Diele  ftünfgen; 
68  toeifj,  e*  tennt  au$  jebcr,  toaS  bu  Ijafi! 
3)id)  nennt  bein  JBaterlanb  unb  ftefjt  auf  bidj: 
$aS  ift  bet  Ijödjfte  ©ipfel  jebeä  ©lüdfe. 

2>u  bift  no$  fd&ön,  nod&  gtücflic^,  toemt  fdjon  lange 
$er  Äreiä  ber  Sttnge  bu$  mit  fortgerijfen. * 

Unb  SEaffo  felbft,  ben  ßorbeerfranj  auf  bem 
ftaupt,  erblidt  tote  in  einer  entjüdten  Sttfton  ba£ 
Slbbtfb  @It)fium8,  er  fieljt  bie  §eroen,  bte  Sßoeten 
ber  alten  3*it  mit  einanber  bereinigt  unb  fc^nt  fid) 
in  i^te  3Jiitte: 

§omer  *>erga&  fidg  felbft,  fein  ganjeS  ßeben 

SGßar  ber  S9etra$tung  atoeier  ÜUtänner  heilig, 

Unb  Sllejanber  in  ©fyjtum 

Gilt,  ben  Stritt  unb  ben  §omer  ju  fudfjen. 

O  bafj  idf)  gegenwärtig  toöre,  fte, 

$ie  größten  Seelen,  nun  öereint  au  fefjen!2 

Unfere  SDid^tung  fcerfeljt  un8,  tote  leine  anbere, 
in  bie  Stbeentoett,  bie  ba8  3eitalter  ber  Sftenaiffance 


»  III.  3.  JB.  1927—1936.  JB.  1951-1952. 
1  I.  3.  SB.  552-557. 


•*     4*  •        * 


206]  Sie  SBeli  bc8  ©oct^cf^cn  fcaffo.  867 

t>on  neuem  belebt  Ijat.  2)ie  großen  SJlenfdjen  unb 
iljre  SC^aten,  bie  abgefdjiebenen  tote  bie  gegen* 
toftrtigen,  gelten  l)ier  unter  allen  intereffanten 
Cbjecten  für  bie  Ijod&ften,  in  beren  SBetrad&tung 
man  jtd&  immer  toieber  erquidt  unb  erfjebt.  Unb  fo 
ift  Ijier  ber  SultuS  beS  ©eniuS,  baS  2Bort  in  feinem 
ganjen  Umfange  genommen,  baS  Ijerrfdjenbe  geiftige 
ßebenStljema.  ©elbft  ber  ^Japft,  ben  uns  Antonio 
fdjilbert,  ift  ein  ibealer  SBeltljerrfd&er,  unb  toenn 
fein  Äunftfinn  gerühmt  ttrirb,  fo  fönnte  man  in 
biefem  5ßunft  nod)  eljer  an  ßeo  X.,  ben  5paj)ft 
ber  9tenaiffance,  als  an  einen  *PaJ)jt  ber  @egen= 
reformation,  toie  ©regor  XUL,  benfen.  Antonio 
fdjilbert  i$n,  als  ob  bie  Sfbee  eines  geregten  SBelt* 
IjerrfdjerS  oljne  Trübung  in  iljm  berförpert  toäre: 
„©er  ©reis,  ber  toürbigfte,  bem  eine  ßrone  baS 
§aupt  belaftet!"  @r  rü^mt  ben  Jjoljen  ©inn  beS 
geäfft»: 

@r  fteljt  baS  JMeine  flein,  baS  ©rofee  groß. 
9tur  ber  erfahrne  ÜJlann  Beftfct  fein  Oljr, 
$er  t^&tige  fein  Sutrau'n,  feine  ©unft. 
©8  liegt  bie  Söelt  fo  flar  box  feinem  ©lief, 
2U$  toie  ber  Siortfjeil  feines  eignen  ©taats. 
Söenn  man  iljn  Ijanbetn  fteljt,  fo  lobt  man  iljn, 
Unb  freut  ftd),  toenn  bie  3eit  entbeeft,  toaä  er 


s 


358  (SoetyeS  XotQUöto  fcaffo.  [20d 

3m  ©tiUcn  lang  Bereitet  unb  öoflfcradjt. 
©8  ift  fein  fäönret  SlnBlid  in  bet  SBBelt, 
8118  einen  Surften  feljn,  ber  fing  regiert, 
$a8  Dfleicg  gu  feljn,  wo  jeber  ftolg  ge^ordfjt, 
2öo  jeber  fidj  nur  felbft  311  bienen  glaubt, 
SQßeil  iljm  baS  9teä}te  nur  befohlen  wirb. 

(5m  Sßafcft,  ber  bie  SBiffenfdjaften  unb  ßünfte 
nur  fc^ä^t,  f of cm  fie  bem  regnum  hominis  bienen ! 

@r  eljrt  bie  ^öiffcnfd^aft,  fofern  fte  nufct, 

3)en  6taat  regieren,  SJölfer  fennen  leljrt; 

@r  fdjäfct  bie  ßunft,  fofern  fie  giert,  fein  9tom 

SBerljerTlidjt  unb  $alaft  unb  Ztmptl 

3u  SOßunbertoerfen  biefer  <£rbe  madjt. 

3n  feiner  Sftälje  barf  nidjt8  müßig  fein! 

2Ba8  gelten  fott,  muß  fcrirfen  unb  muß  bienen. 

2)iefer  5ßat>ft  Ijerrfdjt  toie  ein  ©eniuS,  tote  ein 
£a!6gott!  ©arum  torirb  öon  StntontoS  ©djilberung 
audj  ßemtore  gtctdö  Betocgt: 

2öie  feljnlidj  toünfd&t'  id§  jene  SQßelt  einmal 
9ted)t  nalj  gu  feint!1 

unb  £affo  tief  baömt  ergriffen: 

2öa8  ba8  §erg  im  tiefften  mir  bewegte, 
2öa8  mir  no$  Jefct  bie  gange  Seele  füllt, 
<g8  waren  bie  ©eftalten  jener  Söelt, 


*  I.  4.  ».  604-605,  615—16,  628—29,  634—643, 
665—672,  644—45. 


207]  Sie  SBett  be3  ©oet^ef^en  Saffo.  359 

2>ie  fid)  lebenbig,  raftfoä,  ungeheuer 
Um  einen  großen,  einzig  flugen  ÜJlann 
©etneffen  bre^t  unb  tljren  Sauf  bottenbet, 
S)en  tljr  ber  Halbgott  öoraufdjreiben  toagt. 

9UdjtS  erinnert  uns  an  baS  3eitalter  ber  ©egen= 
reformation,  Don  beffen  9Jtäd)ten  ber  Sinter  beS 
Befreiten  SferufatemS  Beljerrfdjt  toar.  ©er  ©oetljefdje 
SEaffo  läßt  fidj  bie  Snquifttion  nidjt  anfechten,  er 
feljnt  fidj  nad)  ben  gelben  unb  ©intern  beS  2llter= 
tfjumS,  er  ruft  fogar  bie  ©ötter  an,  bafc  fie  ben 
SorBeerfrang  öon  feinem  Raupte  Ijittpegneljmen 
unb  in  unerreidjBarer  &6lje  über  iljm  fdjtoeBen 
laffen  mögen,  bamit  fein  SeBen  nad)  biefem  3id 
ein  etoig  Sßanbetn  fei!  Unb  toenn  ber  5Paj>fl,  ben 
SIntonto  uns  fdjilbert,  nid)t  Bios  bie  dürfen,  fonbern 
aud)  bie  ßetjer  gu  Vertilgen  finnt,  fo  erfdjeint 
biefer  SBunfdj  ats  ein  gu  bem  Söttbc  feiner  potitifdjen 
£errfdjergröf$e  gehöriger  3ug,  ber  uns  meljr  an  bie 
Seiten  beS  Sfnnoceng  III.,  als  an  bie  ©regorS  XIH 
benfen  Iftfjt.  ^ur  in  einer  einzigen  ©teile,  bie 
aBer  nidjts  mit  bem  ©ange  ber  £anb(ung  gu 
tljun  Ijat,  finben  lotr  uns  an  bie  ftörenben  <£in= 
ftttffe  ber  ©egenreformation  gemannt.  Sie  &er= 
gogtn  Renata  fjatte  fidj  gum  catöinifttfdjen  ©tauben 


860  Gtoeifca  Torquato  Xafio. 

belehrt;  baburd)  ift  in  bem  §erjen  ber  Sßrinjeffin 
ba3  Slnbenfen  bcr  3Äutter  getrübt: 

2öa8  Ijalf  benn  unfret  3ftutter  iftre  Älugljeit? 
2)ie  Äenntnifc  jeber  Hit,  iljr  großer  ©um? 
Äonnt'  er  fte  bor  bem  fremben  Srrtfjum  föüfcen? 
üttan  naf)tn  und  oon  iljr.  toeg:  nun  ift  fie  tobt; 
©ie  lieg  uns  Ätnbern  nid)t  ben  Sroft,  bafc  flc 
ÜJHt  intern  ©ott  oerföljnt  geftorben  fei. * 

SMefe  SBorte  djarafteriftren  bie  ©emütljgart 
ber  5pringeffin,  iljre  ßebenSanfdjauung  toie  tfjte 
Srrömmigfeit,  unb  finb  in  btejer  &infid&t  fc^r  6e= 
merfenStoertl),  aber  fie  betoölfen  nidjt  ben  Reitern 
£immet,  unter  toeld)em  ©oetljeä  SCaffo  feine 
©djidfale  in  SBelriguarbo  erlebt. 

4.    £)te  öftljetifd&e  ©efittung  unb  gfreifjett. 

Sftan  f)at  bie .  ßeiben  SBertljerS  unb  bie  ßeiben 
SEaffoS  mit  einanber  t>erglid)en.  SfebeS  ber  beiben 
©eelengemätbe  ruljt  auf  einer  geiftigen  unb  gefeH« 
fd)aftlid)en  SBeltlage,  mit  ber  e§  DöHig  überein= 
ftimmt,  aber  biefe  SQSeltjuftanbe  fetbft  finb  Don 
einanber  grunbt>erfd)ieben.  3fn  einer  fo  bttbungS* 
reiben  unb=freubigen,  Don  bid^terifd&en  SSorfteUungen 
fo  burdjbrungenen  unb  befeetten  2Mt,  ttrie  tirir  fie 

1  6.  oben  VIII.  1.  6.  137.  IH,  2.  8.  1792— 1797, 


209]  Sie  SBelt  beS  ©oefl&eföett  Xafio.  3äl 

in  unfcrcm  £affo  toor  uns  feljen,  fänn  unmöglich 
etn  2Bertf)er  erfdjetnen  unb  aerfümmern.  3u  btefeth 
gehören  jene  gefcüfd^aftltdö  gebunbenen  unb  geiftig 
etenben  3uftanbe,  bie  ftdö  mit  bem  SBort  eine§ 
gleidjjeitigen  ©oet^cfd&en  ©ebidjts  lennjeidjnen 
laffen:  „Unb  ba  fud&t  ba§  2lug'  fo  oft  Vergebens 
ring§  um^er  unb  finbet  alles  ju!"  Unter  ben 
3urüdffto§ungeu ,  bic  SBertljer  erfährt,  toar  ein 
brüdenbeS  unb  in  bem  ©eetengemätbe  feiner  ßeiben^ 
unentbeljrlidjeS  3Jlottt>  r  toeldjeS  3lapoUon  mit  Un* 
redjt  getabelt  Ijat,  „ber  gefränfte  Sljrgeij"  unb  bie 
Stti&Ijanblung  bon  feiten  ber  fogenannten  Ijöljeren 
©efettfdjaft.  Sie  3ltmofoI)äre ,  toorin  SBert^er 
attjmet,  ift  mit  ©tidfioff  überlaben;  bie  SBelt, 
toorin  er  lebt,  ift  toon  allen  ©eiten  ju. 

3)ie  SQSelt  beS  ©oetljefd&en  SEaffo  bagegen  ift 
nadj  allen  ©eiten  frei  unb  offen;  i^r  gefeiliger 
ßreis  Ijat  bie  Sonn  ber  öoffenbeten  Striftofratie, 
toorin  ber  perfönlidje  ©eifteSabel  unb  bie  ange= 
borene  @efeüfdjaft§lj6f)e  &anb  in  £anb  geljn:  „ein 
ebler  SJienfdj  gieljt  eble  3flenfdjen  an  unb  toeifc  jte 
feftsuljalten".  SDicfe  SBelt  ift  fflr  alle  btc^terifd&en 
SBorfteUungen  aufgefd&toffen  unb  empfängüd),  fie  ift 
in  btefelben  fo  eingelebt  unb  batoon  erfüllt,  bafc 

fluno  fjtfd&cr,  (Stocke«  ©Triften.  24 


892  «ottfc*  «Torquato  Xoffo.  [210 

Ijiet  bie  5toefte  nidjt  bfos  rebet,  fottbem  gcrcbet 
totrb.  93on  unfcrer  bramatifdjen  3)id&tung  läftt 
ftd)  tote  toon  ieiner  anbern  fagen:  baft  iljre 
?ßerfonen  fämmtlid)  Sßoefie  fpredjen,  ntd^t 
na$  bcr  ©d&ule  unb  «ßunfi,  fonbern  nad)  bcm 
ßeben ;  ba&  bie  ©pradje  ber  eblen ,  erljöljten  unb 
freien  üBorjieffungen  bte  iljreS  £erjen8,  iljrer 
natflrftdjen  S)en!art  unb  Srfaljrung  ift,  bte  leidjt 
unb  anmutig  toon  ben  Sippen  ftrömt,  audj  unter 
bem  ©turnt  ber  Slffccte. 

Sßeldje  SBeite  in  biefem  gefettigen  SSerfeljr  ber 
geiftige  #orijont  getoinnt,  meldte  fjfütte  $o!)er  unb 
mert^DoÜer  ©egenftänbe  berfelbe  beljerrfd)t,  möge 
uns  bie  5J)rin3effin  au§  iljrer  eigensten  @r- 
faljrung  bezeugen.  6rft  btö  3eitalter  ber 
ttalientfdjen  Jftenaiffance  fonnte  mit  bem  neu  er* 
toorbenen  3teidjttjum  ber  Sbeen  einen  folgen  ©toff 
ber  ©eforädje,  ein  foldjeS  Vergnügen  an  ber 
Unterrebung  über  bebeutenbe  Stljemata,  einen 
folgen  toetblidjen  unb  tiefen  Slntljeil  an  iljrer 
Slnregung  unb  Qfüljrung  hervorrufen: 

3$  freue  rai<$,  toenn  Huge  3Jtänner  foredjen, 
S)a&  idj  öerfieffen  fann,  toie  pe  e8  meinen. 
GS  fei  ein  Urtljeil  über  einen  9Jlann 


211]  $ie  SBelt  beS  ®oet$cf$en  fcaffo.  S63 

3)et  alten  3*ü  unb  feinet  Saaten  Söettl), 

@8  fei  Don  einet  SQßtffenfd&aft  bie  tftcbe , 

2>ie,  butd)  ^tfa^tung  toeitet  ausgebreitet, 

S)em  9Jtenfdjen  nufct,  inbem  fte  iljn  etljeot: 

SÖÖoijin  fidf)  bai  ©efotad)  bet  Gblen  lenft , 

3<$  folge  getn,  benn  mit  roitb  leidet  &u  folgen. 

3dj  Ijfcc  gern  bem  ©tteit  bet  ftlugen  au, 

SSBenn  um  bie  fttöfte ,  bie  be8  üttenfdjen  ©tuft 

©o  fteunblid)  unb  fo  fütd)tetft#  betoegen, 

3JHt  ©ta^ie  bie  ftebnetltype  \pitlt; 

©etn,  roenn  bie  fütftlidfje  IBegiet  be8  9htljm$, 

2)ed  auSgebteiteten  83ejtfce8  ©toff 

3)em  Genfer  roitb,  unb  roenn  bie  feine  Älugljeit 

2ßon  einem  flugen  SJtanne  jatt  entroiefett, 

©tatt  und  &u  hintergehen,  und  belehrt. 

5.    2)ie  ©egenfäfce  bet  <£§ata!tete. 

SDie  (Sljaraftere  unfreS  @d)auft)iete  tragen  fetöft 
ienc  Äräfte  in  fid),  „bie  beS  Sftenf  d)en  33rufi  fo 
freunblid)  unb  fo  fttrdjterlid)  betoegen".  ©o 
lange  biefe  Äräfte  nur  ber  ©egenftanb  fdjöner 
^Betrauungen  finb  unb  bie  Siebnerlippe  anmutljig 
mit  i^nen  ftrielt,  bleibt  bas  ^ot)e  Sbtytt  in  S3el= 
riguarbo  ungeftört;  aber  fobalb  bie  ©egenfätje 
getoedft  unb  bie  ©pannlrftfte  (pl^fifalifdj  ju 
xeben)  in  lebenbige  Energie »  öertoanbelt  »erben, 
entfielt  bie  §anblung,  toeldje  ber  ©idjter  toor  un§ 

24* 


W4  <Soct$c»  fcotquato  Xafto.  [212 

gefd&eljen  Iftfct.  ©otdfie  ©egenffttje  fd&tummern  in 
ben  Betben  ßeonoren,  tote  in  SEaffo  unb  Antonio: 
ber  SBtberftreit  biefer  tt>edt  ben  ©egenfatj  jener. 
Oljne  ben  3lu86rud&  ber  Seinbfdjaft  Jtotfdjen  SEaffo 
unb  Slntonto  tottrbe  ber  SBunfdj,  ben  bie  ©räftn 
ßeonore  in  ber  ©titte  be8  &erjen§  Ijegt,  nie  laut 
toerben:  fte  toürbe  nie  ernftltdj  bm  @ntfd)tu§ 
faffen ,  ber  fjreunbin  ben  geliebten  3)id)ter  ju 
rauben,  tuomit  fie  allen  3ntereffen,  mit  2ht§na!jme 
be§  irrigen,  jitroiberljanbelt.  Dljne  ben  Streit  ber 
Betben  Sftftnner  würben  bie  beiben  grauen  nid&t 
in  jenen  ©onfftet  über  SEaffo  geraden,  »oBei  bie 
Sßrinjeffin  nadjgieBt.  D§ne  biefe  -JtadjgieBigfeit 
fönnte  £affo  mdjt  in  bie  SBeljflage  au3Bred&en: 
„aud&  fie,  audj  fie!"  Unb  Ijätte  bie  Sßrtnaeffin 
bie  Harmonie  jttrifdjen  SEaffo  unb  Slntonio  nadj 
iljrem  Streit  nodj  eBenfo  eifrig  nid)t  BloS  ge* 
toünfdji,  fonbern  Betrieben,  toie  bor  bemfelben,  fo 
tt)ürbe  fidj  nadj  einer  Keinen  Störung  baS  3btytt 
in  Selriguarbo  Batb  auf  btö  fdjönfte  toieber* 
Ijergeftettt  IjaBen. 

2Bir  Berühren  Ijier  nidjt  ettoa  bie  Sufättig* 
fetten  be£  ©efdjeljenä,  bie  fo  unb  audj  anber§ 
Ratten  ftattfinben  fömten,   fonbern  bie  Sugen 


213]  3(tfonft  bct  3toette.  36fr 

ber  §anblung  felbft,  bte  in  ben  ©runbrtd&tungeu 
ber  ©Ijaraftere  gegeben  unb  aus  bem  2Befen  ber* 
felben  Ijerjuteiten  finb.  SBtr  feljen  fragen  bor  uns; 
bte  fid&  nur  aus  ber  nötigen  (Srfenntnifc  be? 
ßljataltere  beantworten  laffen. 

Unb  toorin  befielt  baS  erfte  9Hoth),  toeldje? 
ben  Antonio  ttnber  SEaffo  erbittert  unb  nun  alle 
bie  übrigen  ©onflicte  jur  golge  fjat?  6s  ift  ber 
Slnblicf  beS  SorbeerfranjeS  auf  bem  Raupte  be? 
©td&terS!  @S  ift  ber  ßofjn,  ben  biefer  für  fein 
DottenbeieS  2Berf  foeben  Don  ber  §anb  ber 
Jßrinjeffin  empfangen  Ijat  auf  btn  2Binf  beS 
&erjog8.  Unb  fo  erfd)eint  2lIp^on§  als  ber 
SluSgangSpunit  ber  ganjen  £anblung  unb  aller 
ber  ©egenfälje,  bte  fie  betoegen  unb  treiben,  oljne 
ba§  er  felbft  in  biefe  Gonflicte  gerate  33ei  iljtn 
ift  bie  Snitiatitoe.  @r  ift  in  ber  SBelt  beS 
©oetljefdjen  Staffo  in  ber  toollen  SBebeutung  beS 
SBorteS  ber  fürfilidje  ßljarafter. 

XII.    Jlfptyotts  ber  gmite. 

1.    2)te  Rumäne  ©inneäart. 

3n  ber  SBruft  btefeS  3JtanneS  regt  fid)  feine 
©pur  jener  ÜBerfteffungsfunft,  jener  tttcfifdjen  unb 


®oet$e»  Torquato  Zafio.  [214 

graufamen  Stljrannenart ,  bie  gu  ben  ©fjarafter* 
gügen  be3  toirflidjen  SIXfonfo  gehörten,  ber  burd) 
feilte  ©rofjmutter  ein  Stöfömmling  ber  SBorgiaS 
toar.  2Ber  Diele  3Äenfd)en  ridjtig  braudjen  fall, 
tote  es  beut  §errfd)er  befdjieben  ifi  unb  gegiemt, 
ber  mufj  jeben  in  feiner  2lrt  gu  nu|en  bergen. 
SDie  3Jlcnfd&ctt  unb  bor  allen  bie  SEalente  Mo8 
als  SBerfgeuge  beS  nädjflen,  augenblidü^en  33or* 
tljeifö  ju  brausen  unb  gu  ber&raudjen ,  ifi  bie 
untoeife  Strt  ber  SDjrannen,  für  toeldje  ber 
©oetljefdje  Sltyljonä  bon  Statur  gu  ebel  gefinnt  ifl 
unb  burd)  bie  ©djule  beS  £errfdjer8,  bie  er  fidj 
gu  nutje  gemad&t  fjat,  aud&  gu  erfahren  unb 
gu  Itug. 

2Bie  Slntonio  iljm  rätf),  ben  SEaffo  reifen  gu 
laffen,  ba  er  fidj  Don  beffen  launigem  @igenjtnn 
bodj  leine  Sreube  toerfpredjen  fönne,  fo  giebt  iljm 
ber  (Jürft  eine  Slnttoort,  bie  feine  tbm  gefdjüberte 
©enfart  auf  ba§  flarfte  erleuchtet : 

3)u  Ijätteft  8led§t,  Antonio,  wenn  in  tljm 
3$  meinen  nadjften  SBortljetI  fu$en  tooflte! 
3tt)at  tft  eS  f$on  mein  SSortfjetl,  bafj  ia)  nt^t 
$en  Sfcufcen  grab  unb  unbebingt  ertoarte. 
9lid)t  atte3  btenet  uns  auf  gleite  SDßctfc; 
2Ber  öieleä  brausen  toitt,  gebraud&e  jebeS 


215]  mp%ox&  btx  Stottte.  9C7 

3n  feinet  3lrt:  fo  ift  et  tootjl  bebtent. 
S)aS  Ijaben  uns  bie  üJtebtciS  geteert, 
2)a8  *>d>en  un3  bie  ^atfte  feibft  getrriefen. 
2JUt  toeldjet  ftad)ji<$t,  toeld&et  ffttftli^en 
©ebutb  unb  ßangmutl)  trugen  biefe  Scannet 
3Jlana)  grofj  Talent,  baS  iljter  teilen  ©nabe 
Sftidjt  au  bebütfen  fd&ien  unb  bodfj  beburfte!1 

2.    3)aS  SJetijalten  au  £affo. 

2)iefen  SBorten  gemafc  Ijanbett  er  mit  SEaffo, 
ben  er  IteBt  unb  in  feiner  unmittelbaren  Stälje 
afä  ein  ©lieb  beS  engften  fürftttdjen  ßreifeS  leben 
Cafet,  er  freut  fidj  feines  2lnbli<fe  unb  fudjt  in 
guter  ©tunbe  bxt  Unterhaltung  mit  iljm.  ©leid) 
fein  erfteS  SBort,  tt>ie  er  ju  btn  beiben  ßeonoren 
tritt,  giebt  babon  3eugnifc: 

3ä)  fu$e  £affo,  ben  idjj  nirgenbs  ftnbe, 
Unb  tteff'  tljn  l)iet  fogar  bei  euä)  m$t  an. 
Äönnt  iljt  öon  i§m  mit  feine  SRad&tid&t  geben?2 

3Jiit  einer  getoiffen  fürftlidjen  Ungebulb  et» 
toartet  Sllpljonä  bie  SBottenbung  be§  großen  @poS 
unb  brängt  bm  Sinter  jur  (Site,  bodj  \o,  bafc  er 
bie  eigenen  SBünfdje  gern  burdj  bie  ©djtoeftex 
mftfeigen  lä&t.    35enn  eg  ift  iljm  nidjt  bloS  um 


1  V.  1.  JB.  2935-2947. 

2  I.  2.    SB.  239—241. 


M8  ®oet$e«  Torquato  Xafio,  [216 

ben  eigenen  2RäcenatenruI)m  gu  tljun,  obtooljt  er 
benfelben  feineätoegS  toerfdjmal)t.  9JUt  einer  er= 
gieljenben  SBeiSljeit  unb  ©orgfatt  Ijat  er  ba$ 
2Bo!)l  SEaffoS  felbft  bor  2lugen,  ber  fein  fd)öne3 
SCatent  in  freiefter  SBetfe  entfalten  unb  in  ber 
bottenbeten  ßetftung  bie  ftrudjt  beffelben  genießen 
unb  bie  eigene  ßraft  erfi  red^t  erlernten  fott. 
SMefe  SSottenbung  fott  nadj  ber  Slbjtdjt  beS 
Surften  im  ßeben  SEaffoS  ber  SBenbepunft  fein, 
toomit  er  aus  ber  ©titte  ber  bid)terifdjen  6infam= 
feit  in  bie  offene  SBelt  hinaustritt,  in  welker 
burd)  ben  SBerfeljr  mit  Sfreunb  unb  ^einb  bie 
©ettung  erfämpft  unb  ber  2Bitte  geftäf)ft  toirb. 
3n  ber  beftäubigen  2Bed&feln>ir!ung  mit  ber  SBelt 
unb  ifjrem  großen  ©etrtebe  fott  ber  jüngpe 
Sinter  StaUenS,  ben  ftznaxa  fenbet,  bie  ©d)ule 
be8  ßebenS  bottenben  unb  mit  bem  9tul)m  beS 
5ßoeten  bie  £fld&tigfeit  beS  3Äanne§  Dereinigen. 
SDa§  ift  e3,  toaä  SKp^onS  Ijofft  unb  bejtoetft: 

$ann  fott  bog  Sfcterlanb,  e§  foü  bie  SBelt 
(Srjiaunen,  toctd^'  ein  SDßerf  öoflenbet  toorben. 
,    3$  neunte  meinen  Ztyit  beg  8ftuf)m8  babon, 
Unb  er  toirb  in  ba$  ßeben  eingeführt. 
(£in  ebler  9DZcttfd&  fann  einem  engen  Äreife 
SRtifjt  feine  SBilbunß  banfen;  SJaterlanb 


217J  2ttpf)on8  bet  Stoeitc.  369 

Unb  Söett  mu&  auf  il)n  tonrfen.    föuljm  unb  Sabcl 
ÜDiufj  et  ertragen  lernen.    Siä)  unb  anbre 
Söirb  er  geatoungen  redjt  ju  fennen.    3f>n 
Stiegt  nidjt  bie  ©infamfeit  meljr  fdjmeiifjelnb  ein. 
©8  toill  ber fjeinb  —  es  barf  ber  Sfteunb nidjt  fä)onen; 
2)ann  übt  ber  3&ngling  ftreitenb  feine  Ätäfte, 
güljlt ,  toaS  er  ift,  unb  fa^It  ji<5  balb  ein  2Jiann ! l 

2ttte  bte  unfreien  ©emüt^juftanbe  S£affo§, 
feine  3Äenfd)enfdjeu ,  bie  jebe  raulje  Serüljrung 
meibet  unb  ein  argtoöfjnifdjeS  3tti&trauen  erzeugt, 
ba§  i^m  bie  SBelt  toerbüftert  unb  Keine  gefettige 
Uefiel,  bie  jebem  juftofjen,  für  ba%  toeitgetyonnene 
SBerf  tücfifdjer  tfcwbe  I)ält,  ftnb  bie  {folge  babon, 
bafc  er  am  liebften  allein  mit  fid)  unb  feiner 
Sßljantafie  lebt.  ©6en  baburd)  tütrb  feine  <£m= 
pfinbung§toeife  überjart  unb  t>ertoeid)lidjt.  ®a§ 
einjige  Heilmittel  liegt  in  ber  9lb!järtung,  meldte 
ber  ©treit  ber  Gräfte  unb  ba3  öeben  in  ber 
offenen  SBelt  mit  fid)  Bringt,  ©o  fteljt  2tfyIjon§ 
bie  @emütlj3lage  SEaffo§. 

2Jton  füljlt  ben  abfxc&tSfcotten  <£ontraft,  in 
toeldjen  ©oetlje  feinen  3l(^^onS  gu  bem  SDjrannen 
bon  Sferrara  geftettt  fyxt,  ber  ben  2)id)ter  balb 
burd)  Suren,  balb  burdj  Vergnügungen ,   bie  er 

1  I.  3.  SB.  289—301. 


870  (Bottyti  Zotquato  Xafio.  L218 

iljm  angebettelt  liefe,  feilen  toollte  unb  iljm  gu= 
lefct  als  bie  befte  aller  ©uren  bie  bieljäljrtge 
©infoerrung  im  Srrenljaufe  Dcrfd&rieb.  2lud) 
©oct^eö  Sllp^oniS  rätlj  feinem  Xajfo,  ba&  er  fidj 
ßrljolung  bon  ber  Slrbeit  unb  genufereidje  3*r= 
ftreuungen  gönnen,  bafe  er  fein  meland&olifd)e8 
©eblüt  burdj  eine  6ur  Derbeffern  möge,  aber  er 
Äberlä&t  affeä  feiner  freien  (Sntfdjttefeung: 

3$  Billige  ben  Zxitft,  ber  bi$  befeelt! 
2)o$,  guter  £affo,  toenn  e8  möglidj  toftre, 
©o  fottteß  bu  crft  eine  furje  3^tt 
®er  freien  Sößelt  genie&en,  bid)  aerftreuen, 
2)etn  ÜBIut  burä)  eine  <&ut  toerbeffern. 

5Bor  biefem  Surften  ift  5£affo8  ftreiljeit 
fidler;  baljer  aud&  bie  £anblung  in  unferem  ©tütf 
nie  ju  bem  fdjredlid&en  6nbe  führen  fann,  toeldjeS 
Sllfonfo  IL  über  ben  2)id)ter  Derljftngt  Ijatte. 
3m  gefliffentlidjen  ©egenfafc  gu  biefem  fagt  unfer 
3ifyI}on3  in  feiner  Unterrebung  mit  bzn  beiben 
ßeonoren : 

2)oä)  ^off'  i$,  meine  Sieben,  baß  idj  nie 
2>ie  ©djulb  beS  raupen  Wt^M  auf  mt$  labe. 

■ftod)  toäljrenb  beS  ©eforäd&g,  beffen  ^aupt* 
gegenftanb  Staffo  toar,  erfdjeint  biefer  felbft  unb 
überreizt  bem    dürften   fein    toottenbeteä    SBerf. 


219]  2TCtf  onS  ber  3t»ette.  371 

3)er  Stugenblid  ift  ba,  ber  in  feinem  ßeben  eine 

entfdjeibenbe  33ebeutung  Ijaben  fott.    @o  ttriÜ  e§ 

ber  bäterlid)  geftnnte  Stttft,   baljer  ift  er  gtetd) 

Bereit,   ben  SJloment  ju  feiern  als  ein  3*ft  für 

fid),  als  eine  Spodje  für  SEajfo.    ©tefer  fttljle  fid) 

fdjon  als  ben  SSirgil  ber  ©egentoart!    (Sin  fidjt* 

bares  Seichen  beftätige  ifjm  ba§  erfte  glütftidj  er» 

rungene  3tcl:  ber  ßorbeerfrang,  ben  SItpIjonS  auf 

bem    £aul>te    be§    römifdjen    3)idjter3     erblidt, 

fdjtnüde  ba§  feinige!    S)ie  Sage   be§   btd&tertfd^cn 

©tittlebenS    finb    abgelaufen,    nun    beginnt    bie 

33aljn  beS  ruljmgelrönten  2)t$ter3.   3fn  ber  gfeme 

toinft  ba$  ijötjere  3iel: 

6&  tft  ein  SSot&tlb  nur  öon  jener  ßrone, 
S)ie  auf  bem  <£a£itot  btc^  gieren  fofl.1 

3)ie  SBorte,  toomit  2ltyl)on3  ben  jungen  3)id)ter 
in  feine  neue  ßaufbaljn  gleid)fatn  einführt,  ent» 
galten  eine  getoidjtige  SDlaljnuug.  ©er  ßorbeer= 
franj,  bm  er  foeBen  fcon  ber  §anb  ßeonorenS 
empfangen  Ijat,  Begeugt  feinen  frülj  ertoorbenen 
Stuljm,  ber  iljm  gunt  Unfegen  tt)ie  jum  ©egen 
gereidjen  lann.  2Ber  auf  jeitig  gewonnenen 
ßorbeeren  ausruft ,  ttrirb  ©efaljr  laufen ,   fie  ju 

*  I.  2.  ».  333-34. 


»72  ®oet$c£  Torquato  fcaffo.  [220 

Verlieren;  toer  pe  bepfcen  unb  erhalten  toiff,  mufc 
fortfahren  pe  31t  Derbienen,  unb  bagu  gehört  bie 
immer  ringenbe  unb  gerflftete  ßraft:  eben  bieS  ift 
ber  ©egen  frül)  erworbenen  StuljmS,  bafe  ber 
Strftger  beffelben  pdj  ftets  bereit  füllen  foff,  für 
iljn  3U  ttmdjen.  ©oetlje  Ijatte  fein  eigenes  @d)i<ffal 
bor  Slugen  unb  fyrad)  ju  pd&  fetbft,  als  er  feinen 
Stt^onS  ju  SEaffo  fagen  liefe: 

30er  früfj  ertoirbt,  lernt  frülj  ben  fjol)en  SOßertl) 
3)er  ^olbcn  ©ütcr  biefeä  SebenS  fd)afcen; 
2Ber  frtt!)  geniegtr  entbehrt  in  feinem  Beben 
Sdlit  Söiflen  nidjt,  toaS  er  einmal  befa&; 
Unb  teer  beftfct,  ber  mufe  geruftet  fein. 

SDodj    foffen    burd)    bie    Stnftrengungen    unb 

Sttüljen  ber  Strbeit  bem  2)idjter  nid)t  ber  uatttr- 

Kd&e  3?roljpnn,  feinem  SBerfe  nidjt  bie  natürliche 

ßeid&tigfeit  ber  ©eftaltung,  toie  pe  baS  SEatent  mit 

p<§  bringt,  toerfümtnert  toerben;  er  foll  rttd^t  auf 

äffe  Ijören,  nid&t  jebem  Stabler  es   redjt   madjen 

unb  im  2Bege  beS  beftänbigen  geitenS,    baS  nie 

enbet,  bie  Ijödjfte  ÜBoflf ommenljett  erfiinfteln  tooffen : 

$>ütc  bidj 
3)ur<$  ftrengen  Sfletfe  bie  Itebtidje  Dtatur 
3u  fränfen,  bie  in  beinen  [Reimen  lebt, 
Unb  Ijöre  ni$t  auf  fRat^  t>on  allen  ©eiten!1 


1  I.  3.  SB.  503-507.    V.  2.  ».  3031-3034. 


221]  Sttpfjon»  bet  3todU-  373 

©er  menfdjenfunbige  Surft  erfennt  bie  Oefaljr, 
in  toeldjer  SEajfo  fdjtoebt,  eingefdjüdjtert  Don  ber 
SBelt,  beirrt  burdj  iljre  Urteile,  angelodft  um  fo 
mädjtiger  Don  bem  ©cfü^tö=  unb  ^fjautajteleben 
in  fid)  felbft,  Don  biefer  bidjterifdjen  ^ci^cit,  bie 
leinen  SBiberftanb  ju  beffird)ten  Ijat  unb  bie  eigene 
Äraft  genie&t,  oljne  fie  ju  ftäljlen.  @3  ift  beffer, 
bafc  ettoaS  an  ber  SluSbilbung  beS  ©idjterS  Der* 
loren  gelje,  als  an  ber  be§  SJtenfdjen: 

S)id)  führet  afleg,  toaS  bu  finnft  unb  tretbft  f 

2ief  in  bid)  felBft.    <£&  Hegt  um  uns  ljerum 

©ar  mannet  2lbgrunb,  ben  ba§  «Sdjtcffal  grub; 

S)od&  l)ier  in  unfretn  bergen  ift  ber  tieffte, 

Unb  reijenb  tfl  e8,  ftd)  fjinabauftürjen. 

3$  bitte  bi<$,  entreiße  bidj  bix  felbft! 

2)er  SDfcenfd)  getoinnt,  toa§  ber  ?oct  öerliert. 

SBäljrenb  anbere  fid)  an  feinem  Talente  er* 
freuen  unb  iljm  erljöljten  SebenSgenufc  banlen, 
Derfennt  er  felbji  ben  SBertlj  beS  ßebenS  unb  barbt 
in  ber  güffe  ber  3fugenb  unb  firaft.  Safc 
fein  Stalent  anbern  jur  {Jteube,  iljm  felbft  jum 
ßeiben  gereidjen  fott,  biefeS  3Äärtljrertljum  be8 
2)idjterS  lotll  bem  lebensfrohen  3Tfyljong  nidjt  ein* 
teudjten;  er  toünfd&t  mit  Däterlidjem  SBoljltooflen 
feinen    Staffo    fo    glüdlid)  gu  feljen,   toie   er  e3 


874  <Boc$c8  Torquato  Xafio.  [222 

im    S3efifc    fo    Ijolber    ßebenSgüter    fein    föttnte 

unb  fottte:  «tee  «i«! 

2)u  giebfk  fo  Dielen  boppelten  ©enufi 
2>e«  ßcbcn§;  lern',  i$  bitte  bi<$, 
2>en  2öertf>  beS  ßeben«  fennen,  ba«  bu  no<$ 
Unb  aeljnfadj  teidj  befi^eft, 

3.    3>er  fürftlid&e  ^umor. 

ßinige  ber  StuSf^rüdöc  StfyljonfenS  ftnb  unter 
bie  geflügelten  SBorte  gefommen,  bie  man  Ijäuftg 
citirt ;  fte  Ijaben  baburdj  im  3Äunbe  ber  ßeute  ein 
©ettndji  erlangt,  bas  fte  in  ber  Sftebe  be§  Surften 
nid&t  l)aben.  3)iefer  fagt  nidjt  mit  befonberer 
§ertoorf)ebung,  afe  ob  er  fidj  fdjon  be3  fünftigen 
SitatS  betoufct  toäre:  „bie  2Jienfdjen  fürd&tet  nur, 
toer  fte  nidjt  fennt,  unb  toer  fte  metbet,  toirb  fte 
balb  toerfennen",  ober  „ber  9Jtenfdj  getotnnt,  tt>a§ 
ber  5JJoet  vertiert"  unb  äljnlidje  bebeutungSDotte 
SBorte.  SBenn  ein  ©djauftueler  foldje  ©teilen  mit 
einem  getoiffen  -Wad&brud  fjeröorljebt,  als  ob  er  fie 
citirt,  fo  fpridtf  er  ben  ßeuten  nad&  bem  SJiunbe, 
ni<$t  bem  Slipons,  bem  fie  leidjt  bon  ber  ßtyfce 
fliegen,  als  bie  natürltd)en  Srgebniffe  einer  großen 
unb  bebeutenben  ßebenSerfaljrung,  wie  biefelbe  aus 
feiner  fürfttic^cn  Stellung  unb  ßlugljeit  !jert>orgel)t. 


HItf  onS  bet  3tt>eltc  375 

9lidjt8  ijl,  loaS  tiefen  gfürften  bebrüdt  ober 
einengt,  ©ein  ©elbftgeffltjl  ift  bon  einer  natür* 
Kd&en  unb  böKig  ungegttmugenen ,  einer  leidet* 
lebigen  unb  tooljftI)u.enben  (Srfjaben^eit,  bie  iljm 
bie  £ergen  gutoenbet  unb  in  feiner  2lrt,  2Jtenfdjen 
unb  35inge  gu  beurteilen,  ftdj  Reiter  unb 
ljumorifttfdj  aufragt  3Jtan  mufc  ü)n  beut 
Antonio  gegenüber  Ijören,  ber  eben  Don  Sfcom 
gurüäfeljrt,  unb,  nodj  gang  Bc^crrfd)t  bon  ben 
GStnbrfltfen,  bie  tyopft  unb  JBatifan  auf  iljn  ge= 
mad&t  Ijaben,  beren  £errlidjfeit  in  gewaltigen 
3ügen  f Gilbert,  bie  nur  beut  SFilrfictt  wenig  im= 
poniren.  Simons  lennt  bie  ©djtmerigfeiten ,  bie 
fein  ©efanbter  gu  bejtegen  gehabt,  unb  giebt  mit 
ein  paar  SBorten  ein  treffenbeä  unb  ergöt}ltd)e§ 
SBilb  Don  ben  eigentlidjen  Striebfebern  be§  SBatifanS : 

SEßcx  feines  Herten  SBortljeil  rein  bebenft, 
35er  fjat  in  Sfcom  gar  einen  fdjtoeren  ©tanb: 
&enn  föom  null  alles  Ijaben,  geben  nid)t8; 
Unb  fommt  man  Ijin,  um  ettoag  gu  erfjalten, 
(£rlj&It  man  nidjts,  man  bringe  benn  ftaä  tjin, 
Hub  glücfli$,  toenn  man  ba  no<$  toaS  erhalt. 

Sludj  bie  ^reunbf^aft  beä  $Paj)fte8  toürbigt  er 
mit  untoerblenbeter  <ßlugljett: 


37«  Ooctfet  Sirqurto  Soffo.  [284 

34  freue  feiner  guten  Söleinung  rata), 
©ofern  fie  rebtid)  ift. 

Uefcerljören  totr  nid&t  baS  Keine  fdjergljafte 
3toiföenft>iel  mit  ber  ©räfin  ßeonore,  bie  fo  gern 
bie  grofce  2Belt,  bie  Antonio  f djilbert,  in  ber  9lSfyt 
feljen  möchte: 

3>oä)  tooljl  um  mitgutoirfen? 
S)enn  Mo«  befä)aun  toirb  ßeonore  nie. 
<£*  mare  boä)  reä)t  artig,  meine  Sfreunbüt, 
SQÖenn  in  ba*  grofee  Spiel  totr  auä)  Steilen 
3)ic  garten  §&nbe  mtfdjen  tonnten.  —  9Hä)t? 

2»an  füfjlt  ftct)  tooljl  in  ber  SRäfje  biefeä 
Simons,  ber  fürftlidj  benft  unb  Ijanbelt,  oljne 
alles  pebantifdje  ©djehuoefen  unb  ©etljue;  er 
brauet  ben  Qfürficn  nidjt  nodj  ju  fielen,  ba  er  einer 
ifl  burdj  ©eburt  unb  9fait,  toie  burdj  angeborene 
unb  ertoorbene  £ölje  beö  ©IjarafterS  unb  ber 
©ejtttung.  3u  bem  fürftlid&ett  ^umor ,  ber  iljn 
fenngeidjnet,  redjnen  toir  nidjt  gum  toenigften  aud) 
bie  ßeidjtlebigfeit,  bie  es  toerfteljt,  au  rechter  Seit  ju 
genießen  unb  genießen  ju  lajfen.  SBenn  bie  Staate* 
gefc^äftc  mit  Antonio  abgetan  unb  tooljl  bef orgt  pnb : 

6o  mag  ber  ©djtoarm  bann  fommeh,  bafc  e3  luftig 
3n  unfern  ©arten  toerbe,  ba&  auä)  mir, 
SBie  billig,  eine  ©djönljeit  in  bem  Äugten, 
SGßenn  id)  fte  fuäje,  too^l  begegnen  mag. 


226]  ßconoie  bon  &ftu  377 

XIII.    £eonoxe  von  $te. 

1.    ßlarljeit  unb  Sauterfeit. 

3tt)ifd&en  SlfyljonS  unb  fetner  ©djttefter  ^crrfcftt 
tue  fdjönfte  ©cfd^totftcxltcbe  unb  jugleidj  eine  getotffe 
intettectuette  Sleljnlidjfeit  tooljt  t)on  mütterlidjer 
£erfunjt  SQBaS  ßeonore  ©anbitale  Don  iljrer 
3?reunbin  rüljmt,  ift  feine  ©djmeidjetei,  toie  biefe 
-es  nimmt,  unb  bürfte  aud)  bon  beten  99ruber 
gelten : 

gfeft  tft  bein  ©inn  unb  tidjtig  bein  ©efd&maif , 
2)ein  Urteil  grab,  fiets  ift  bein  2lntljeil  grojj 
2tm  ©rofjen,  baö  bu  lote  btdj  fcIBft  etfennft. 

(Sbenfo  ridjtig  unterfdjeibet  fie  bie  ©emütljäart 
fcer  ^ringeffin  bon  ber  irrigen: 

SDrängt  mi$  bodj  ba§  bofle  $etg 
Sogteidj  ju  fagen,  toa8  i$  lebhaft  fü^Ie; 
S)u  fflljlft  es  beffer,  ffi^lff  e8  tief  unb  —  fdjtoeigjt 
2)er  2öifc  beftidjt  bidj  nidjt,  bie  ©d&meid)elei 
@<$miegt  jtdj  bergeben 8  fünfilid)  an  bein  Oljr. 

3)iefe  SBorte  geben  bog  ©fjarafterbitb-  ber 
iprinjefjtn  in  feinem  ©runbrifc  unb  laffen  un§  in 
ien  3ügßn,  bie  fie  fjetborljeben ,  beren  geiftige 
€igenart  erfennen.  3n  iljrem  ©efüljt  Bejiijt  bie 
IJJrinjeffin  eine   foldje  ©abe   ber   S)urdjbringung 

Äuno  %{\d)tx,  ®ott$e*  ©Triften.  .25 


878  $oct$eft  Torquato  fcaffo.  [226 

unb  Aneignung ,  bafc  bie  ©egenftänbe ,  bie  iljr 
3nterejfe  erregen,  ntdjt  fCüd&ttg  berührt  unb  ge= 
noffen,  fonbern  in  ber  Sliefe  bes  ©emfitfjä  in* 
teflectuett  erlebt  Kerben  unb  forttoirfen.  Stauer  tft 
baS  nadj  innen  genutete,  gebanfenbotte  unb  reiche 
©tittteben  bie  iljrem  ©afein  gemäße  3?ornu  „S)u 
füfllft  «  beffer,  fü^ft  es  tief  unb  —  fd&tt>eig|i". 
©b  ifi  ßeonore  bon  (Sfte  im  Äern  ifjrer  $er= 
fönlidjfeit  nadj  Stbjug  aller  SBorflftge,  tneld^e  i^r 
bie  ©rjieijer  angebilbet  ober  -Jtatur  unb  ©lud 
öerlieljen  Ijaben.  ©ie  fettft  erfdjehtt  in  tljrer 
eigenften  Strt  fid)  gering.  3^re  SJtutter,  ber  fie 
bie  Äenntniß  ber  alten  ©pradjen  unb  ber  ©djätje 
beS  Slltertljumä  banft,  mar  Diel  geifteSmädjtiger, 
iljre  ©djtoefier  ßucrejia  ift  ber  SJtutter  an  ©eijt 
toeit  äfjnlidjer  als  fie.  3)aljer  tritt  fie  audj  nidjt 
unter  ober  gar  bor  atten  großen  grauen  tljrer  3*tt 
fidj  öon  ber  fjfreunbin  gepriefen  Ijören: 

9Jlidj  fann  ba8,  ßeonore,  toenig  rühren, 

äöenn  tä)  bebenle,  tote  man  toentg  ifi; 

Unb  toa«  man  ift,  baS  blieb  man  anbern  fgulbig1. 

S)ie  ©röfce  unb  ber  Sßertlj  be§  2Jtenfdjen,  ber 
attein  toaljre  unb  edjte,  befielt  nadj  iljrem  ©efüljl 

*  I.  1.  ».  104-106.    6.  oben  XL  3.  6.  203. 


227]  ßconorc  fron  ©fte.  379 

nidjt  in  bcn  ftu&ern  ©tttern>  tooju  ©taub  unb 
©e&urt,  Slang  unb  SJefü}  gehören,  fonbern  in 
bem,  toaS  er  innerlidj  ift  unb  erftrebt,  in  ber 
£ölje  unb  bem  Steidjtljum  feines  geiftigen  ßeben8. 
SDiefeS  ßeben,  tofe  e8  fidj  in  ber  toeiten  unb 
fdjönen  SBett  offenbart,  in  ben  3been  unb  @e* 
ft>rä<$en  geijtootter  2Jtftnner  in  nädjfter  Stnfdjau« 
tidjleit  äufcert,  ju  toerfteljen  unb  in  fid)  nadjguleben: 
ba3  ift  ber  5ßrinjefftn  eigenfte  %&fy§Uit,  iljre 
iJreube,  iljr  Bis  jur  genialen  SEiefe  unb  ßeidjttg» 
feit  auSgebilbeteä  Talent.  ©ie  t>erftef)t  ju  Ijören, 
loa«  Scanner  §u  toürbigen  toijfen,  bie  gu  reben 
berfteljen.  ©ie  toitt  nidjt  fcorleud&ten ,  fonbern 
nadjfolgen.  @o  fdjilbert  fte  ber  Sfreunbin  fid) 
fetbft: 

Stutfj  tarnt  i$  bir  oerfld&ern,  ijab'  i<$  nie 
SU«  ftang  unb  als  SBejifc  fcetrad&tet,  tuag 
ÜJlir  bie  ftatur,  toa«  mir  baS  ©lue!  Derlielj. 
3$  freue  mid),  toenn  fluge  Mannet  faredjen, 
2)a6  id&  öerfte^en  fann,  tote  flc  es  meinen. 

Sööoljin  fidft  baS  @eforä<$  ber  ßblen  ienft, 

3$  folge  gern,  benn  mir  toirb  leicht  au  folgen1. 


*  »gl.  ooen  XL  4.  ©.210-11. 

26* 


960  ®oet$e»  Torquato  Xaflo.  [228 

Unb  toag  tfcr  biefeS  folgen,  biefc  fdjnette  unb 
ridjtige  Sluffaffung  bcr  2)inge  unb  ^erfonen  fo 
erleidjtert,  ift  nidjt  bloS  bie  toeiblidj*  geniale  2lrt 
iljreö  3nteffect8,  fonbem  3ugleid&  bie  toöflige 
ßauterfeit  iljreS  £erjen§:  ftc  allein  benft  unb 
urtljeilt  oljne  alle  -yiebenjtoede,  oljne  jebe  IRüdEftd&t 
auf  ben  eigenen  JBortljeil  ober  Stad&tljeil,  oljne 
trttbenbe  ober  Ijemmenbe  Slffecte,  toaä  t>on  feinem 
ber  anberen  <£f(araftere  gefagt  toerben  !ann.  Um 
ganj  bon  Staffo  ju  fdjtoeigen:  tt)te  feljr  öerfennt 
ßeonore  in  jenem  Monolog  be8  britten  3lct3,  too 
fie  nur  an  fidj  unb  if)ren  Sortljeil  benlt,  bie 
©efüljte  ber  Sßringeffin!  2Bie  falfft  urteilt  Slntonio, 
fo  lange  iljn  ber  Sfteib  erbittert,  über  S£affo !  Unb 
felbft  ber  3?ürft  in  ber  Stafdfteit  feinet  SBollenS, 
bie  iljm  fo  tooljl  anfielt,  Ijat  nidjt  immer  bie 
ruljige  unb  ridjtige  Slnfidjt.  dagegen  beachte 
man,  toie  toaljr  bie  5ßrinjeffin  in  ben  beiben  @e= 
foräd&en  mit  ßeonore  fidj  felbft  fdjtlberi,  toie 
treffenb  fie  in  ber  Unterrebung  mit  SltyljonS  über 
S£affo,  in  ber  mit  £affo  über  btefen  felbft,  über 
Antonio  unb  ßeonore  urteilt. 

©er  33li<f,  toomit  fie  bie  Snbibibualität 
eines  SljaralterS  ju  toürbigen  toeifc,  ift  ber  ^ettfte. 


229]  ßconorc  toon  ®ftc.  381 

SDtc  ftreunbe,  bie  ictnanb  Ijat,  bic  2Jlenfd&en, 
benen  er  vertraut,  gehören  gleid^fatn  gu  feiner 
Snbioibuatität  unb  madjen  biefelfce  erfennfcar. 
Site  SIntonio  ben  $aj)fi  f Gilbert,  Ijat  jeher  eine 
{frage  an  iljn  §u  ridjten,  bie  uns  red^t  beuttidj 
#igt,  toas  iljn  an  jener  erhabenen  Sßerfönlidjfett 
am  nxeiften  tntereffirt:  £affo  mö$te  toiffen,  ob 
SBiffenfdjaft  unb  Äunft  fidfj  feines  ©dju&eS  er= 
freuen;  ßeonore  tottnfdjt  ju  erfahren,  ob  er  für 
bie  -Keimten  Diel  getrau  Ijat;  bie  ^rinjeffin  fragt: 

SBeife  man  bie  Sütänner,  bic  er  tnef)r  als  anbre 
Jöegfinftigt,  bie  ftdj  ttjm  bertraulidj  naljn?1 

©ie  toeifc  fo  gut,  ba§  man  bie  3nbit)ibuaütat 
eines  Bebeutenben  SJtenfdjen  nehmen  mufc,  tote  fie 
ift,  unb  nidjt  mobein  fann,  toie  man  toiß.  S)a 
SltyljonS  mandjerlei  Unarten,  toie  SKenfdjenfdjeu 
unb  ÜJHfetrauen,  an  Staffo  )u  tabeln  Ijat,  fo  er* 
toibert  fie  iljm: 

Safe  uns,  geliebter  ©ruber,  ni<$t  oergeffen, 
2)afc  bon  ftd&  felbft  ber  3Jlenf4j  ni<$t  Reiben  fann, 
Unb  toenn  ein  fjfreunb,  ber  mit  un8  toanbeln  fottte, 
©id)  einen  3fu&  &ef<$äbigte,  nur  würben 
S)o$  lieber  langfam  geljn  unb  unfre  §anb 
3*jm  gern  unb  ttriflig  leiten.1 


*  I.  4.  SB.  626-627. 


882  4te$cft  gtiqttato  fcaffo.  [290 

©olbene  SBorte,  bie  bem  raffen  Simons  nidjt 
ganj  einleud&ten!  ©etoifc  Ijaben  jte  fd&on  in  bcr 
alten  ©idjtung  geftanben  unb  motten  eine 
SHaljnung  @oetlje§  an  bie  eigene  3?reunbin  ent* 
polten,  bie  fte  beljergigen  unb  bie  Sßrinjeffin  ftdj 
jum  SBorbilbc  neunten  fottte ;  benn  jte  Derzeit  ftd^  ju 
iljm  unb  feiner  2trt  bigtoeilen  ettoaS  gu  unbulbfam 
unb  mobelnb.  33telletdf>t  Ijat  ©oetlje  gleidjjeitig, 
als  er  ber  Sßrinjefftn  jene  golbene  SWaljnung  in 
ben  2Jlunb  legte,  folgenbe  SBorte  an  Qrau  t>on 
©tein  gerietet:  „9lun  bitte  id&  @ie,  fidj  täglidj 
gu  fagen,  bafc  aÜeS,  toa§  Sljnen  an  mir  unange* 
neljm  fein  fonnte,  aus  einer  Ouette  fommt,  über 
bie  idf)  nidjt  Sötetfter  bin,  baburd)  erleichtern  ©ie 
mir  Diel"  *. 

2.    Seiben  unb  ©ntfagung.     2)a8  ftttte  Beben. 

3>r  SBefife  äußerer  ©ttter,  toie  iljre  fürftlidje 
©eburt  unb  SBSürbc,  f>at  bie  ©effiljte  ber  ^ringefftn 
nie  beftodjen;  bagegen  Ijaben  einen  tiefen  unb 
Wuternben    ©inftufe    auf    bie    2lu8bilbung    iljrer 


1 1.  2.  SB.  323—328.  »gt.  »riefe  an  3frau  öon  ©tein. 
S3b.  I.    »rief  510  (24,  floDember  1780). 


231]  Seonore  t>on  (Sfte, 

©emütljgart  bie  ßetbcn  unb  ©ntbeljrungen  au8= 
geübt,  bie  if)r  öon  3fugenb  an  tief  Rieben  toarettr 
fie  Ijat  frü§  gelernt  ju  bulben  unb  auf  bte  greuben 
ber  SQBett  ju  Derjid&ten,  bte  für  bte  meiften  ben 
Sertlj  be§  ßeBenä  auSmad&en ;  fie  Ijat  fidj  an  biefe 
(Sntfagungen  getoöfjnt  unb  ift  bamit  fertig  ge= 
toorbem  Slidjt  oljne  ßämfcfe.  SBenn  fie  fagt:  „nun 
Ijab'  idj  übertounben",  fo  gilt  biefeS  SQBort  toon 
meljr  als  einer  ©ntfagung.  Um  alle  partiellen 
SRefignattonen  loSjutoerben ,  fjat  fie  einmal  für 
immer  im  ©anjen  entfagt.  2)iefen  ©oettjefdjen 
SluSfprudj,  ber  einen  Inbegriff  feiner  Seben§- 
toeistjett  bübet,  finbe  idj  in  feinem  ber  ßljaraltere, 
bie  uns  ber  ©idjter  gef Raffen  Ijat,  fo  toerfötpert, 
toie  in  ber  ^rtnjeffin  ßeonore  Don  6fte. 

Sie  ßeiben  unb  Sntbeljrungen,  bie  iljr  aufer* 
legt  ftnb,  Ijat  fie  ntdjt  tote  Ijäfclidje  5ßlagen  erlitten 
unb  toibertoiHig  getragen,  fonbern  nadj  ber  Slrt 
ifjrer  intettectuetten  3?atur  innerlich  burdjlebt  unb 
burdjbadjt;  fie  Ijqt  in  ben  liebeln  ber  SBett  ein 
©efdjttf  erfannt,  Don  bem  jeber  fein  Streit  trägt, 
audf)  bie  fdjeinbar  ©lüdlidjften.  ©ie  fagt  e§  ber 
greunbtn,  bie  ettoag  öon  blinbem  groljftnn  Ijat 
unb  für  bie  jdjmerjlidjfte  gntbeljruug,  bie  fie  felbft 


964  Ofoetteft  gotquoto  Jtttffo.  P3fc 

ber  Sprinjeffm  gufügt,  biefe  mit  her  StuSjtdjt  auf 
lünfttgcS  ©Ifld  tröften  möd&te: 

Eleonore!    ©lücflid&t 
Sßer  ift  benn  ötüdflid^? 

Unb  Ijingettriefen  auf  ba8  ©lad,  ba3  fte  be- 
fifct,  unb  ba8  iljr  bleibt,  ertotbert  fic  bcr  Qfreunbin, 
bie  im  ©ttDen  »oljl  an  ben  ©lang  benft,  teetdjen 
bic  ffirfilidje  unb  geiftüollc  grau  um  ftd>  Der* 
breitet : 

2öa§  mir  bleibt? 
©ebulb,  ßteonore!  Heben  tonnt'  id)  bie 
fßon  3ußenb  auf.    SQßenn  Öfreunbe,  roenn  ©efd&nrifter 
Sei  Öfeft  unb  Spxtl  gef ellig  ftd)  erfreuten, 
#ielt  Äranfljeit  miä)  auf  meinem  3"Jimer  feft, 
Xtnb  in  ©efettfäjaft  mand)er  ßeiben  mufft* 
3$  frül)  entbehren  lernen. 

Obtoofyf  itjre  Sftefignation  ben  ©fjarafter  ber 
UeBertrjinbung  in  fidj  trägt  unb  in  ber  SCtefc  ber 
©eele  einen  fdjtoermfitl)igen  3üg  Ijinterlaffen  ljat, 
toie  er  in  ben  eben  angeführten  SBorten  Ijeröortritt, 
fo  ift  bod&  iljre  SebenSanfidjt  oljne  alle  peffimi* 
ftifäe  Sßerbüfterung.  SHelmeljr  Ijaben  bie  ßeiben 
iljre  @rtragung§fäl>iglett  geftärft,  iljren  SBitten 
gefeftigt,  iljr  geiftigeS  ßeben  gefammelt  unb  ba- 
burdj    nodj    geläutert   unb    erljöljt.     ©egen  bie 


288]  ßeonote  bon  <Bffte.  385 

SBtenge  jerftreuter  unb  armfeliger  SBeltgenüffe  l)at 
fic  einen  ©d&atj  fdfjöner  unb  frudjtbarer  @eifte8= 
jreuben  eingetaufdjt,  ber  iljr  für  alle  @ntbel)rungen 
ben  reidjften  ßrfatj  bietet.  Sftie  ift  fie  weniger 
einfam,  ate  toenn  fie  in  leibenSüotten  3eiten  mit 
ftd)  allein  ift  unb  in  ber  SDlufil  lebt: 

i$  unterhielt 
3ftid&  mit  mir  felbjl,  i<$  toiegte  ©äjmera  unb  @eljnfu<$t 
Unb  jeben  äöunfdj  mit  (eifen  Sßnen  ein. 
S)a  tourbe  Seiben  oft  ©enuß  unb  fclbji 
S)aö  traurige  ©effiljl  gur  Harmonie l. 

3n  biefer  ©eele  ift  es  ijell.  ®ie  2Beltent= 
fogung  getoinnt  in  bem  ©fjarafter  ber  ^ringeffin 
einen  ^eiteren  3lu§brudE  unb  flöfct  iljrem  gefeüigen 
SBefen  eine  erhabene  SDienfd&enfreunblidjfeit  unb 
9JUtbe  ein,  bie  fie  toie  eiuen  guten  ©eniuä  er* 
fdjeinen  laßt.  2lud)  an  &umor  feljlt  e3  itjr  nidfjt. 
©leid)  im  S3eginn  ber  Sidjtung  feljen  tt)ir  bie 
beiben  Ijoljen  3*auen  in  einer  länbltd&en  9Jia§ferabe 
bor  uns,  bie  fie  titelt  gum  erftenmal  aufführen, 
benn  fie  fyat  fd)on  ben  ©pott  be§  Surften  er* 
fahren:  fie  fielen  „red)t  fcegtfidtte  ©d&äferinnen", 
bie  ernft   gefinnte  Seonore  unb    iljre  teid&tlebige 


*  III.  2.  8.  1800—1812.  6.  oben  IX.  1.  6.  161  ff. 


886  @oett)ei  Zovpuato  fcaffo.  [234 

gfreunbht,  bie  junge  ©räftn  r  her  bie  SSerßeibung, 
biefer  Gontraft  gttrifdjen  bem,  toa8  fte  ftnb,  unb 
bem,  toaS  fie  fdjeineu,  ein  ergötjüdjeS  JBebenfen 
toerurfaddt: 

S)u  fieljft  midj  Iää)elnb  an,  (Eleonore, 
Unb  fiefjfi  bid)  fclbcr  an  unb  Iädjelft  »Über. 
SDÖaS  Ijaft  bu?  Sag  e8  eine  gfreunbtn  totffen! 
S)u  fd)einji  bebenfltd),  bod)  bu  f$etn|t  vergnügt. 

3n  ber  Iänblidjen  @infam!eit,  in  ber  jurüi= 
gejogenen  ©tiüe,  in  ber  SÄitte  ber  bertrauteßen 
Umgebungen  füljlt  ftd)  bie  5pringeffin  tooljt  unb 
in  i^rem  ©Ientent;  ba$  böffig  ruhige  unb  ftitte, 
gleid&förmig  baJjinfüe&enbe,  tum  bem  SBedjfel  ber 
3)inge  faum  berührte,  nie  unterbrod&ene  ßeben  ift 
iljr  ba3  liebfte  unb  für  iljre  contemplatitoe 
©etfteäart,  iljre  intettectueffen  unb  fünftlerifdjen 
SBefriebigungen  bie  allein  gemft§e  Sorot  beS 
SafeinS1.  63  ift  eine  natürliche  3?otge  baoon, 
bafc  fie  bie  überlieferten  unb  vererbten  8eben3* 
formen  feftlj&lt  unb  aßen  Störungen  ober  gar 
gctoaltfamen  @rfd)ütterungen  berfelben  aus  innerfter 
Abneigung  toiberftrebt  3)tefe  ßebenSformen  ftnb 
bie  ©Uten,    toorauf    bie    ©itte   beruht,    bereu 


1  6.  oben  ©.  226. 


286]  ßeonote  bon  ($flc  88? 

(Spaltung  unb  ^JfCcge  ben  Sfrauen  gufommt  unb 
gebührt.  „-Wadf)  Sfret^ett  ftrebt  ber  SDtann,  ba3 
SBeib  nad&  ©itte/" 

Nun  giebt  e$  leine  tiefer  gegrünbeten  ©Uten, 
feine,  beren  Srfdjfitterungen  getoaltfamer  bor  fidj 
geljen,  aU  bie  religiöfen,  bie  eingetourjelten, 
einl)eimifd)en ,  burdj  3Mjrljunberte  geheiligten 
formen  be?  ©(aubenS.  2)al)er  fann  bie  $Prin= 
jeffin  nidjt  faffen,  tüte  iljre  ftuge  unb  grofegefinnte 
3Jtutter  biefem  ©lauben  untreu  toerben  unb  „bem 
fremben  Sfrrtljum"  Verfallen  fonnte;  fie  beflagt 
beren  Slfctrünnigfeit  jugleid^  als  eine  SEljor^cit  unb 
als  ein  Unglüd,  fie  füljtt  e§  als  einen  SDti&flang, 
ba§  fie  mit  iljrem  ©otte  unberföfjnt  geftorben: 

SDßaS  Jjalf  benn  unfrer  ÜJtutter  i^rc  Älugljeit? 
3)ie  Äenntnifc  jeber  &rt,  ttjr  großer  ©inn? 
Äonnt'  er  fie  öor  bem  fremben  Srrtfjum  fdjüfcen? 
ÜJlan  na&m  un3  öon  iljr  toeg:  nun  ift  fie  tobt; 
(Sie  lieg  un8  Äinbern  md&t  ben  £roft,  bafe  fte 
ÜJlit  ttjreut  ©ott  öerföfjnt  geftorben  fei1. 

SBir  motten  über  biefe  SUleinung  mit  ber 
^ßrinjeffin  nid)t  regten  unb  etwa  itjre  ©laubcnS* 
treue  mit  if)rem  SBafjrljeitSfinn  in  ßonflict  Bringen. 


*  6.  oben  6.  VIH.  1.  6. 137.  XL  3.  6.  207  flgb. 


888  @oe$e9  ^Torquato  fcaffo.  [286 

31jte  tjfrömmififett  Beruht  auf  ber  ©iite,  md)t  auf 
bcr  ©lauBenSprüfung.  ©efefct,  bafj  fte  einen  2fr>r* 
ttmrf  barüBer  fid)  gefallen  liefce,  fo  ttritrbe  fie 
antworten : 

3<$  laff  es  ßefct, 
Unb  mufc  benn  eben  biefen  SJorttmrf  fraßen. 

@3  toftre  nidjt  ber  einzige  SSortrmrf,  ber  fie 
trifft.  @ie  Ijat  iljr  ©tiffleben  bergeftalt  lieb  ge= 
toonnen,  bafj  fie  Bis  gut  tljatlofen  ©etöftoergeffen* 
fyit  barin  toerfenft  ift,  unb  e§  iljr  unmöglid)  fällt, 
nadj  außen  Ijanbelnb  auf jutreten,  nidjt  einmal  für 
iljre  greunbe ;  fie  toill  f elBft  für  biefe  ben  Seifianb 
anberer  lieber  entbehren,  ate  in  2lnforudj  nehmen, 
fogar  ben  ifireS  Stoibers,  ©ie  l)at  fid)  felBft  biefen 
JBortourf  gemalt,  unb  eine  fyreuubin  Ijat  fie  oft 
barunt  gefdjolten: 

S)u  bift  uneigennützig ,  faßte  fie, 
2>aS  ift  red&t  fdjön,  allein  fo  feljr  bift  bu'3, 
2)af$  bu  aud)  ba8  SBebürfnifc  beiner  Sfreunbe 
9Hd)t  redjt  einpfinben  fannft.    3$  laff  e8  geljn 
Unb  ntufc  benn  eben  biefen  Sßorttmrf  tragen.1' 

2)iefer  quietiftifdje  3ug  in  beut  SBefen  ber 
^rinjef  fin ,  ber  fie  t>erl)inbert ,  t)on  fidj  aus  @nt- 


1  »gl.  oben  VIII.  5.  @.  150  flgb. 


237]  Seonoxe  öon  «ftc.  889 

fdjeibungen  ju  treffen  unb  anbeten  Smjmlfe  ju 
geben,  totrft  im  ©ange  nnferer  §anbtung  Der» 
berbtid)  nnb  trägt  eine  ©djulb  an  ber  3erfiörung 
iljreS  ©IttdS.  ©obalb  fie  t>on  bem  ©treite  jtoifdjen 
SCaffo  nnb  Slntonio  gehört  Ijat,  fffl&ft  fie  fidj  toie 
aus  bem  ©leife  gerücft,  fie  ift  befiürjt,  unent* 
fdjtoffen,  ratljtoS.  ©tatt  fetbft  einjugreifen  unb 
burdj  iljre  fd&nette  Stagtoifdjenfunft  bie  SSerföljnung 
Ijerguftetten,  toaS  fo  leidjt  toäre,  fragt  fte  ftngftüdj: 
„SBo  bleibt  Eleonore?"  „2Ba3  bringft  bu,  ßeonore?" 
„D,  gieb  mir  einen  fftat^!  2Ba§  ift  ju  tljun?" 
@ie  täfjt  fidj  tote  betäubt  unb  btinb  tum  bet 
fjreunbin  leiten  unb  SEaffo  in  ben  SBaljn  geraten, 
bafj  fie  iljn  Io8  fein  tooffe  unb  feine  (Sntfernung 
toünfdje. 

3.    S)ie  Siebe  au  Saffo. 

Unfere  2)idjtung  fagt  nidjts  über  bie  ©djßnljeit 
unb  bie  Saljre  ber  ^rin-jeffin.  3)iefe  felbft  fprid^t 
öon  iljrer  Sugenb  toie  bon  Vergangenen  Seiten,  fie 
nennt  SEaffo  iljren  „jungen  ftreunb",  fie  äußert 
im  ©eforädje  mit  ifjm  fdfjon  ein  93orgefüljt  be8 
Jjerannaljenben  SWterS:  bieS  alles  unb  nid)t  jum 
toenigjien  iljre  ©eifteSreife  tafet  uns  ben  ©inbrutf 
getoinnen,  baß  fte,  toie  es  ja  audj  in  ber  SBirf- 


Gtoetycft  Torquato  Stffa.  [288 

lic^feit  ber  3<xtt  »ar,  bie  jugenblic^en  3afjre  über- 
dritten  Ijat. 

2)od)  Ijat  unfer  2)td)ter  —  unb  eö  iji  iljm  toor= 
aüglid)  gelungen  —  in  ba3  SBefen  ber  SPrinjeffin 
einen  $u$  un&erlebter ,  gleid)fam  jurüdfgebrangter 
3ugenb  gelegt,  eine  nod)  unerfüllte  ©eljnfudfjt, 
einen  Surft  nadj  ©eelen&ertoanbtfdjaft,  ber  in  ber 
©tiffe  auf  bie  fdjönfie  aller  93efriebigungen  Ijofft. 
(Eine  fold&e  SBerttmnbtfdjaft  grünbet  fidj  auf  SBaljl 
unb  Prüfung,  auf  bie  ßrfenntnifj  einer  gleid)ge= 
ftimmten,  geifte3ebenbürtigen  JWatur  unb  toirb  nidjt 
tüte  ein  ßoo§  im  ©lüdsfpiete  ber  SBelt  gewonnen: 

üttit  jugenblid&er  €>eljnfu<$t  griff  i$  nie 
^Begierig  in  ben  ßoo8toj>f  frember  SBelt, 
3für  mein  bebürfenb  unerfahren  #era 
SufäHig  einen  ©egenftanb  au  Ijafäen. 

@ie  Üatte  Diel  t)on  beut  jungen  ©tdfjter  gehört, 
ber  tüie  ein  neues  ©eftirn  an  bem  toaterlänbifdjeu 
Fimmel  eniporgefiiegen  toar  unb  fdjon  eine  3eit- 
lang  in  Serrara  glftnjte,  bebor  fie  iljn  falj.  2Rit 
SSegeifterung  Ijatte  iljr  Sucrejia,  bie  geliebte 
©djtoejier,  beren  Urteil  fie  Ijöljer  alö  baS  irrige 
fdfjftfct,  oft  t)on  SEorquato  SCaffo  erjagt:  fie  toar 
e8,  bie  Ujr  ben  Süngling  sufttljrte,  al$  fie  felbft 


289]  ßconorc  t>on  ©fte.  391 

nadj    langer   ÄranHjeit    jum    erftenmat    ttrieber 

hinaustrat  in  bie  SQBcIt.    ®ie$  toar  feine  gufätXige 

^Begegnung,  fein  ©riff  „in  ben  SooSto^f  frcmbcr 

SBelt",   fonbern  ein  längft  erwarteter  Ijoffnunggs 

reifer  SDtoment. 

3^n  3aljre,  bie  unfere  2)id)tung  nidjt  ertoäljnt, 

tooljl  ober  fennt,  finb  feit  biefem  Stugenblitf  ber= 

ftoffen.   SBie  tebenbig  Ijat  bie  5Prinjeffin  ba§  9ln- 

benlen  beffetben  in  i^rer  ©eele  betoaljrt!  3fm  ©e* 

forädj  mit  SEaffo  fdjilbert  fie  iljn,  afe  ob  er  eben 

erlebt  toäre: 

Sunt  erftenmal  trat  id),  nod)  unterfiüfct 

3)on  meinen  3f tauen,  aus  beut  Äranfensimmer, 

2)a  fam  Sucregia  öofl  froren  Bebens 

gerbet  unb  führte  bid)  an  ü)ter  §anb: 

$u  toatft  ber  etfte,  ber  im  neuen  Seben 

3Jltr  neu  unb  unbefannt  entgegentrat. 

$a  ^offt*  id)  Diel  für  bid)  unb  und);  aud)  Ijat 

Uns  bid  Ijterljer  bie  Hoffnung  nid)t  betrogen. 

Setter  SDioment  toar  toeit  bebeutungStooffer,  ate 
bie  eben  angeführten  SBorte  befagen:  er  toar  eine 
©podje  in  iljrem  Seelenleben,  toie  fie  eS  in  einem 
(Srgufj  öoflfter  unb  fcertraulidjfter  StuSforadje  gegen= 
Aber  ber  fjfreunbin  befennt: 

S)er  2lugenbttdC,  ba  id)  auerft  tyn  faf), 
SCÖar  bielbebeutenb.    Äaum  erholt'  id)  mid) 


398  (BoetyeS  Torquato  fcaffo.  [240 

99ou  man^ett  Seiben;  ©cfcmera  unb  Jtrantyett  toaren 

Äaum  erji  getonten:  ftitt  betreiben  blidtt'  i$ 

3n'8  Beben  lieber,  freute  midj  beg  2agg 

Unb  bei  ©efdjttnfter  toieber,  fog  be^crjt 

3>er  fü&en  Hoffnung  reinften  Sklfam  ein. 

3$  toagt'  e8,   bortoärt«  in  baS  Beben  toeiter 

§ineinaufef)n,  unb  freunbü<$e  ©eftalten 

^Begegneten  mit  au8  ber  {Jferne.    S)a, 

Eleonore,  fteflte  mir  ben  Jüngling 

3)ie  ©djtoefter  bot;  er  fam  an  iljrer  #anb, 

Unb  bafe  iä)  bir'3  gejtelje,  ba  ergriff 

3!jn  mein  ©emütlj  unb  toirb  tljn  ettrig  galten1. 

®q§  ©efüljl  ber  SBtebergenefung,  tote  ba§ 
SKorgengefütjt  nad)  erqutdenbetn  ©d&Iaf,  erljöljt  bie 
poetifdje  Sntyfänglidjfett  für  bie  (Stnbrüde  berSBelt 
unb  erneut  ben  ©lauben  an  bie  3u!unft.  ßetn 
©trister  l)at  e3  fo,  tote  ©oetlje,  berftanben,  btefe 
magifdje  (Smpfinbung,  bie  uns  baS  ßeben  im  ßidjte 
be3  SlufgangS  erfdjeinen  löfet,  ju  betreiben  unb 
ju  öertoertljen2. 


i  »gl.  IL  1.  SS.  860—867  u.  IH.  2.  8.  1822—1836. 

J  Oljne  jebe  SBergleid&ung  erinnere  i$  an  bie  tounber» 
bar  frönen  ©teilen  im  äöilljelm  SJteifter,  in  benen 
Sotfjario  erjatjlt,  wie  er  na$  überftanbener  Äranfljeit,  i>on 
ber  ber  jungten  (Erinnerung  an  feine  3fugenbliefa  gelocfi, 
HJtargareten  auffuä)t  unb  urieberfinbet.  (Se^rja^re,  S5ud& 
VII.  Aap.  VII.) 


241]  ßcottorc  bon  ®fte. 

S)af$  bie  ^rtnjeffin  benfelben  Sütoment  in 
Jebcnbtgfter  SBergegentoftrttgung  3ug  für  3ug 
jtoeimo-l  f Gilbert,  jeigt  uns,  tote  Diel  beut  ©idjter 
au  ber  botteu  ßrleudjtung  biefeS  @retgniffe$  lag: 
e§  toar  ber  Urforung  iljreS  ©eelenbunbeS  mit 
SEaffo;  Ijier  begann  btc  Siebe,  bie  fid)  tu  ber  Gr- 
fenntnifc  ferner  bidjterifd&en  £öl)e  unb  ©eijieS* 
fdjönljeit  bottenbet  f)at. 

S)iefe  ßiebe  ift  ber  ©djat},  ben  fte  in  ber 
©titte  beS  ^erjeuS  betoaljrt  unb  oerbirgt.  @em 
„fdjön  toerflärteS"  33ilb  lebt  in  iljrer  ©eele  unb 
umfd&toebt  fie  nodj  int  SEraum.  (£3  tljut  if)r  tooI)l, 
feinen  5ßrei3  aus  beut  SDhtnbe  ber  {Jreunbin  ju 
tjören,  mit  ber  allein  fie  oft  unb  gern  bon  S£ajfo 
foridjt;  nur  fott  es  2ltyf)on3  nid)t  merfeu: 

2)a  fommt  mein  JBruber!   8a&  und  ni<fjt  öertatfjen, 
SQßofjin  ftd)  urieber  bog  ©efprädj  gelenft; 
SDßtr  toürben  feinen  ©djera  gu  tragen  fjaben, 
SÖBie  unfie  Äleibung  feinen  ©pott  erfuhr! ! 

3fn  biefem  Sufammenleben  mit  SEaffo,  baS  fid) 
täglid)  in  gleicher  3lnmut^  erneuert  Ijat,  finb  bie 
3fal)re  toie  Sage  berfloffen.  ©ie  Ijat  feine  bidjterifdje 
©djöfefung  entfielen,  toadjfen  unb  reifen,  in  beut 


*  I.  1.  Jö.  235-38. 

Suno  ftifd&et,  ®otti)t*®$x\ftCTL  26 


884  Gtoetycft  Torquato  Saffo.  [242 

beglaubigen  ©trcben  nad)  fttnftlerifdjer  Drbnung  unb 
6inJ>eit  fid)  tootfenben  feiert.  3fn  ©ebanfen  an  iljn 
J>at  fie  bie  3toetge  geffodjten,  tootnit  fie  je%t  fein 
§aupt  befränjen  barf.  Set  Sorbeer  bon  unb  aus 
iJ>rer  £anb  ift  ein  Sefenntnifi,  ein  toortlofer  3lu8= 
brui  Ujrer  ©efinnung,  ben  iljr  bie  Qfeier  eines 
feltenen  Shijjenblicf  8  geftatiet.  ©ie  gilt  ber  ätotfenbung 
feines  SBerfeS: 

2)u  gönnet  mir  bie  feltene  Sfreube,  Saffo, 
2)ir  oljne  SQßort  gu  fagen,  loic  id)  benfe. 

SBottte  fie  eä  in  SBorten  fagen,  fo  tt)tttbe  fie 
ben  ShtSforudj  ttrieberljolen ,  tootnit  fie  eben  crft 
bie  kernte  23irgil§  gefdjmüdt  Ijat: 

2)ie  Steige,  bte  i$  in  ©ebanfen  ftodjt, 
®ie  fjaben  gleid)  ein  tofirbig  §auj>t  gefunben. 

©ie  fogt  eS  aud),  um  bie  3&>eifet  be§  lorbeer= 
gefrönten  2)id)ter3  an  beut  eigenen  SBerttj  unb 
SBerbienft  gu  bannen: 

SDQemt  bu  befä)eiben  ruljtg  ba8  latent, 
$a8  bir  bie  ©ötter  gaben,  tragen  fannft, 
©o  lern*  aud)  bicfc  3toeige  tragen,  bie 
2)a8  6d)önfh  ftnb,  toaS  toir  bir  geben  fönnen. 
2öem  einmal  mürbig  fie  ba§  §auj)t  berührt, 
Sem  fdjtoeben  fie  auf  ewig  um  bie  Stinte.1 


i  I.  3.  ».  478-79,  521-26. 


848]  ßcottorc  bon  @ftc  395 

SDiefe  SBorte  fügen  gu  beut  ßorbeerfrang  btn 
SBei^eff)ruc$ :  „©et,  toaS  bu  btft,  ein  Sinter  t>on 
ber  ©ötter  ©nabe!  ©ei  unb  bleibe  eS  für  alle 
3etten!"  ©iefer  erhabene,  getoeiljte  2)id)ter  ift  iljr 
®id)ter,  iljr  SEaffo. 

ÜDttt  Ujtn  gugleidj  unb  burd)  iljn  erreidjt  audj 
bie  Sßringeffin  ben  ^ö^epunft  iljreS  SebenS:  jenes 
längfi  unb  ftitf  erfeljnte  3ielf  Jene  föönfie  oller 
SBefriebigungen.  3febe  melandjottfdje  SCrübung 
toeidjt  jefct  aus  iljrer  ©eele,  es  ift  gang  ljett  in 
iljretn  ©entütlj,  unb  eine  innere  ©titnnte  jubelt: 
Aa>  e$  9^c*t  e™  ©lud!"  Sie  golbene  3*it  ift 
nidfjt  entf dfottmnben ,  fie  ift  gegenwärtig ,  tote  ber 
heutige  S£ag.  SKöge  fie  ber  S)id)ter  nid)t  in  ber 
ÜBergangenljeit  fud&en,  fonbern  in  ber  ©egentoart 
erleben  unb  gu  toürbigen  toiffen!  S)ie  5ßringeffin  felbft 
ift  eS,  bie  fie  iljm  getoä^rt  unb  bietet: 

SUlcin  fjfreunb,  bie  golbne  3ett  ift  woljt  Dorbet: 
Slttcin  bie  (Buten  bringen  fte  aurficf. 


Unb  toar  fte  je,  fo  toar  fie  nur  ßetoifi, 
äöie  fte  und  immer  fcrieber  toerben  fann. 
9to$  treffen  fid)  öertoanbte  ^ergen  an 
Unb  tfjeiten  ben  @enu&  ber  fd&önen  äöelt. 

9htr  eines  bleibt  gu  toünfd&en:  ba&  ein  foldjer 

26* 


896  @oe$e8  Torquato  fcaffo.  [244 

©eelenbunb  beffönbig  toäre  unb  bem  SBe^fel  ber 
Steige ,  Don  benen  bie  SDtftnner  be^errfd^t  »erben, 
Strofc  bieten  fönnte;  bag  jener  f)otbe  ©d)at},  ber 
in  ber  @titfe  eines  toetblidjen  £erjen3  Verborgen 
unb  ftdjer  ruljt,  aud)  erfannt  unb  gefdjäfct  toürbe: 

2öenn'8  ÜDt&nner  gäbe,  bie  ein  toeiblt$  fcerj 
3u  fcfcdfcen  toü&ten,  bie  erlernten  mödjten, 
2öeM§  einen  Ijolben  Sdjafc  Don  Xreu'  unb  Siebe 
$er  JBufen  einer  Jjfrau  betoaljren  lann; 
2Benn  ba8  ©ebädjtnife  einjig  frönet  ©tunben 
3n  euren  Seelen  lebhaft  bleiben  toottte; 
SOÖenn  euer  ©lief,  ber  fonfl  burd&bringenb  ift, 
2lud)  bur$  ben  ©Fleier  bringen  fönnte,  ben 
Uns  2tfter  ober  Äranfljeit  übertoirft; 
SOÖenn  ber  Sefifc,  ber  ruljig  tnadjen  fott, 
Sfcaä)  fremben  ©ütern  eudj  ntd&t  Iüftern  inadjte: 
2)ann  toäY  und  tooljt  ein  fd&öner  £ag  erfdjienen, 
SBir  feierten  bann  unfre  golbne  3eit. 

SEaffo  berfteljt  ridjtig,  bafc  bie  Springeffin  t>on 
fid)  rebet,  aber  er  glaubt  irrigertoetfe ,  bafc  fie 
bei  ber  ©djitberung  ber  SDtänner  an  iljre  35er- 
ntäljlung  gebaut  Ijabe.  3)arüber  toeifj  fie  itjn 
fdjnell  ju  beruhigen,  fie  tt>ünfd)t  feinen  SBed&fel  unb 
füljlt  ftd)  tooljl,  toenn  bie  ^reunbe  glüdKid)  finb, 
bie  fie  umgeben: 

§ier  bin  id)  gern  unb  gerne  mag  i#  bleiben; 
ftodj)  toeife  td)  fein  2Bert)äani&,  bas  mtd)  Iocfte; 


246]  Seuttore  bott  <5ftc  897 

Unb  toenn  tyt  mid)  benn  ja  behalten  tooflt, 
€>o  laßt  es  miä)  burä)  <8iintraä)t  feljn  unb  f gafft 
(Sud)  felbft  ein  gtücfttd)  Beben,  mit  burä)  euä)! 

£affo  Wirft  ju  tf>r  empor,  toie  ju  einem 
ljöljeren  Sßefen,  baS  gletdj  einem  ©eniuS  fidj  gu 
iljm  Ijerablftfct,  feine  ©eufjer  unb  fllagen  anhört, 
immer  tröftenb,  befftnftigenb,  tooljttljuenb  mit  iljm 
berf  eljrt : 

2)u  ^afl  miä)  oft,  o  ©ötttidje,  gebulbet, 
Unb  tote  bie  Sonne  troefnete  bein  Stfidf 
S)en  £ljau  Don  meinen  Hugenlibern  ab. 

6r  a^nt  ntdjt,  toie  tief  unb  toeibüdj  jart  bie 
Sßrinjefftn  fflr  iljn  entyfinbet,  ttrie  jte  in  betoufjter 
©eelentoertoanbtfdjaft  mit  iljm  lebt,  toie  berftdubnifc 
Doli  unb  freubtg  fte  feinem  ©cijleSfCuge  gefolgt 
ift:  „3$  folge  gern,  benn  mir  toirb  leidet  311 
folgen".  3)iefe3  latent  Ijat  fidj  iljr  nie  fdjöner 
betoäljrt  als  an  ben  ©idjtungen  StaffoS. 

@ie  lennt  baö  ©eljeimnifc  feiner  Siebe,  baS  er 
feinem  Siebe  befdfjeiben  anvertraut  Ijat;  jte  Ijat  e8 
Iängft  burdfjfdfjaut,  toer  ba3  Urbilb  feiner  ©ofronien 
unb  (Srminien  ifi.  3fet}t,  ba  er  e3  felbft  befennt, 
ift  ber  Slugenblitf  gefommen,  too  audj  fie  ba8 
©eljeimnifj  iljrer  Siebe  if)tn  offenbart: 


0oc$c9  ^Torquato  Saffo.  [846 

Unb  fofl  t$  btt  nod)  «inen  SJorjug  fagen, 
$en  unöermertt  fi<$  biefeft  Sieb  erfölet$t? 
(£*  Iocft  und  nadj  unb  na<$,  toir  ljören  au; 
SQötr  Hören  unb  toir  glauben  gu  berfteljtt; 
SQÖa«  toir  öerfteljn,  bafi  fönncn  toir  ntdjt  tabeln; 
Unb  fo  gewinnt  uns  tiefe«  Sieb  gutejt. * 

£ier  erreicht  bic  ßiebe  jttrifdjen  ber  Sßringeffm 
unb  2af[o  t^re  Erfüllung:  fte  f fliegt  eine  6nt= 
fagung  in  jtdj,  bie  iljren  2Bertl)  nidjt  berntinbert 
unb  it)rc  ffiauer  toerbürgt.  ßeonore  tum  @fie  fagt 
es  bem  ©idjter,  ben  bie  ©etoifeljeit  iljrer  ©egenliebe 
entgütft  unb  in  ben  £itmnel  ergebt: 

9h$t  heiter,  Saffo!    »tele  S)inge  fuib'*, 
2)ie  toir  mit  §efttgfeit  ergreifen  fotten; 
3)od)  anbre  tonnen  nur  burd)  9ttä&igung 
Unb  burd)  (£ntbef)rung  unfer  eigen  toerben. 
©o,  fagt  man,  fei  bie  Xugenb,  fei  bie  Siebe, 
S)ie  tljr  bertoanbt  ift.    2)a8  bebenfe  toofyU* 

@tn  feljr  bebeutung3t)otfe8  SBort  btef es :  „nidjt 
foetter"!  Sie  ßiebe  beiber  barf  nidjt  nteljr  nodj 
toeniger  fein,  als  fie  in  iljrer  gegenwärtigen 
@rfüCung  ift.  3ebe8  tneljr  toäre  Weniger.  Um 
eS  furj  unb  beutüdj  ju  fagen:  jebe  2trt  ber  ßiebelet 


*  IL  1.  35.  995-1004,  1035-1047,  1060—64, 
1082-84,  1109-1114. 

2  IL  1.  ».  1119-1124. 


247]  ßeonorc  öon  (fcfte.  899 

unb  Siebfd&aft  märe  bcr  S£ob  biefer  Siebe,  benn  fie 
mürbe  —  ganj  abgefeiert  t>on  allen  äußeren  S5er= 
Ijältniffen,  bie  ftd&  mit  einer  Biebfdjaft  fdjledjt  öer= 
tragen  mürben,  —  bie  geiftige  Slütlje,  ben  fdjönen 
^latonifd^eu  ßfjarafter  jerftören,  morin  bie  Siebe 
beiber  befielt  unb  fortjubauern  bermag. 

2)a  mirb  J)löt}lidj  bie  gleichförmige  unb  ruhige 
tJortbauer  ifjreä  3ufammenleben§  burdj  ben  ©treit 
jmifdjen  SEaffo  unb  STntonio  geftört.  2lljnung§lo8 
ljat  bie  SPringeffin,  bie  gerabe  baS  ©egentfjett  ge= 
moflt,  baju  beigetragen,  biefen  ©treit  ju  entjünben. 
O&ne  il)r  3ureben  mürbe  SCaffo  weniger  bringenb 
unb  jutraulid),  oljne  ba§  überglücflid&e  unb  f)odj= 
gefttnjmte  @efül)l  ifjrer  ©egenliebe  mürbe  er  meniger 
fiegeggemiß  bem  Antonio  begegnet  fein.  9Äit  einem* 
male  finb  bie  3nftänbe  in  aSermirrung.  3>ie 
SPrinjefftn,  allem  tätigen  Eingreifen  abgeneigt, 
^)ört  nur  ben  33eridf)t  SeonorenS  unb  überläßt  ftd), 
oljne  iebe  eigene  «Rennt  niß  unb  Prüfung  ber  ge= 
fd&e^enen  2)inge,  mit  öollem  unb  blinbem  23er= 
trauen  ber  Seitung  biefer  greunbin,  bie  gerabe  in 
biefem  SfaHe  bie  fftüdEftd^ten  ber  fjreunbfdfjaft  Döttig 
bei  ©eite  fetjt.  SBir  fennen  iljre  Sftat^fdjläge 
unb  beren  SSemeggrünbe.   Sie  ^rinjeffin  läßt  fidj 


400  0ot$cf  Zorquoto  Xaffo.  [248 

irreleiten  unb  trägt  bie  ©d&ulb,  bafj  nun  audj 
Staffo  irregeleitet  unb  in  ber  iljm  berberbltdjjten 
fjform  getftufdjt  torirb. 

©ie  2Crt  unb  Steife,  tote  fte  Seonoren  gögernb 
nadjgtebt,  iljre  (gimoilligung  in  bie  Entfernung 
SEaffoS  erft  toertoeigert,  bann  gurüdfljftlt  unb  gulefct 
nidjt  erteilt,  fonbern  e8  nur  gefdjeljen  läßt,  bafj 
er  geljt,  erleuchtet  und  redjt  jenen  quietiftifdjen 
3ug  im  2Befen  ber  ^Jrin^effin,  ber  fie  ratfc  unb 
tljatloS  madjt.  3)ie  greunbin  fennt  biefen  3ug 
f eljr  tooljl  unb  toeifc  mit  iljm  gu  rennen :  fie  toarnt 
toor  ben  3?olgen,  toenn  bie  SPringeffin  nidjt  nadj= 
gebe  unb  SEaffo  bleibe;  fie  ftngftetUjr  ©emfitlj  mit 
©djredbilbern  ber  nädjften  3un!unft: 

©o  toarte  nod&  ein  gröfeereg  Hebel  ab, 
Söir  toerben  balb  entbeefen,  toer  ft$  irrt. 

ßingef  djttdjtert ,  ertoibert  bie  $Pringeffin: 

Unb  fott  e3  fein,  fo  frage  mt$  nic^t  länger. 

©ie  leitet  bie  ©inge  ntdjt,  fonbern  läfct  fie  ge* 
fdjeljen;  fie  entfdjliefjt  fid)  wd&  fonbern  fügt  fid): 

Sntf d)Ioffen  bin  id)  m$t ,  allein  es  fei. ' 

■Kur  möge  feine  ©ntfernung  nidjt  gu  lange  toäljren 
unb  ifjr  ben  SEroft  laffen,  ffir  iljn  forgen  gu  bürfen. 


>  S3aL  III.  2.  <B.  1736-39,  8.  1741. 


249]  JBeonore  toon  Qffie.  401 

Safe  fie  in  ben  Sagen,  bte  nun  fommen,  iljn 
nidjjt  mefjr  feljen,  fetner  ©egentoart  unb  feines 
2tnMi<f3  ftd&  titelt  meljr  freuen  unb  biefe  fdjjmerjs 
tiefte  aller  Entbehrungen  nodjj  baju  als  Ijeilfam 
greifen  foK,  toeeft  Don  neuem  Jene  ©runbfttmmung 
ber  SErauer,  bie  tfjre  SBeltenifagung  betoötft: 

üütufc  i<$  benn  uneber  biefen  ©d&utera  als  gut 
Unb  ljeüfam  greifen?    2>a8  toar  mein  @ef<$icf 
33on  Sugenb  auf;  i<$  bin  nun  bran  gefröljnt. 
«Rur  $alb  ift  ber  »etluft  be8  fünften  ©IüifS, 
SBenn  totr  auf  ben  ©efifc  ntdjt  ftdjer  jäljlten. 

©ie  Ijat  fid)  getoöfjnt,  im  ©anjen  ju  reftgniren 
unb  bte  Entbehrungen  als  Ujr  ©djtdfal  ju  be= 
trauten,  ba§  fie  ruljig  unb  ftitf  tragen  muffe. 
Sie  Trennung  Don  SEaffo  gehört  ju  iljrem  @d)i<f= 
fal  unb  ift  t)on  allen  Entbehrungen,  bie  iljr  be= 
fdjjieben  ftnb,-bei  toeitem  bie  f^merjlic^fte.  ©o 
ttrirb  fie  Don  ber  5Prinjefftn  empfunben  unb  fdfjon 
im  borauS  innerlidj  burd&lebt.  Uhtn  erfi  getotnnt 
üjr  SRad&geben  eine  getoiffe  Sfefttgfeit,  ba  ber  Ent= 
fdjtufe  mit  bier  Entfagung  jufammenfättt.  ßeonore 
meint: 

SÖBer  fid)  entfdjliefjen  fann,  beftegt  ben  Sdjmera. 

®ani  anberS  behält  fid(j  bie  ©emütljSart  ber 
5Prinjeffin.   SRtd^t  ber  Entfd&lufc  erleichtert  iljr  ben 


402  Gtoetyeft  Torquato  fcaffo.  [250 

©djmerj,  fottbcrn  bte  ©röfce  iljreg  ©d&merjeg  ftär!t 
ben  6ntfdjtu&  i!jn  gu  tragen: 

W.6),  meine  Sfreunbin!   3to>at  i$  bin  entf  ä)lof|en : 

@r  f treibe  nur!    allein  idj  fü^Ie  fdjon 

3)en  langen,  auSgebeljnten  ©d&merg  ber  Sage,  toenn 

3$  nun  entbehren  fofl,  toaS  mid)  erfreute. 

$te  @onne  Ijebt  Don  meinen  Stugenlibera 

9ttd)t  metjr  fein  fdjön  öerllärteS  £raumbi(b  auf; 

$)ie  §offnung  i$n  3U  feigen  füllt  nid)t  mefjr 

3)en  !aum  ertoadjten  ©eift  mit  froher  @eljnjud)t; 

3Jlein  erfter  SBlicf  fjinab  in  unfre  ©arten 

Sudjt  iljn  hergebend  in  bem  £ljau  ber  Statten. 

Sößie  fdjön  bef riebigt  füllte  f«$  ber  Söunfdj, 

SfJlit  iljm  gu  fein  an  jebem  Reitern  Slbenb! 

2öie  mehrte  ftdj  im  Umgang  bas  Verlangen, 

Sid)  mef)r  gu  lernten,  metyr  fi$  gu  öerftefjn! 

Unb  tögliä)  ftimmte  bad  ©emütlj  jtd)  fdjöner 

3u  immer  reinem  Harmonien  auf. 

2öeld)  eine  Sämmrung  fällt  nun  öor  mir  ein! 

$er  Sonne  $rad)t,  ba8  fröf)Iid)e  ©efüljl 

3)eä  fjofjen  £ag8 ,  ber  taufenbfad^en  2öelt 

©langreidje  ©egentoart  ift  ob  unb  tief 

3n  Giebel  eingebüßt,  bte  mid)  umgiebt 

©onft  mar  mir  jeber  £ag  ein  gange*  ßeben; 

2)ie  «Sorge  fdjtoieg,  bie  Stljnung  felbft  öerftummte, 

Unb,  glütflid)  eingefdjifft,  trug  uns  ber  ©trom 

Stuf  leidsten  Söetten  oljne  Sauber  Ijin: 

!ftun  überfällt  in  trüber  ©egentoart 

3)er  3ufunft  Sd)retfen  Ijeimlid)  meine  SBruft!1 


»  III.  2.  93.  1775-80,  95.  1853-1897. 


251]  Scono«  öon  @fte.  403 

SBaS  in  biefem  nmnberbaren  ©eetengemälbe 
3ug  für  3ug  ausgeführt  ift,  Bcfaffcn  bic  folgern 
ben  SBorte  in  aller  Äfirje: 

3$  mufft'  tfjn  lieben,  ttjett  mit  il)m  mein  Beben 
3um  Seben  toarb,  tote  iä)  c8  nie  gefannt. 

Untoiberfteljtidj  toar  bic  9ln jiefyungSfraf t ,  bie 
Slaffo  auf  bie  ^rtngefftn  ausgeübt,  fte  ift  Don 
biefer  ©etoalt  ntd)t  blinb  ergriffen  unb  fortgeriffen 
toorben,  benn  fie  toetft  mit  voller  Älarljeit,  toaS  fte 
betoegt  unb  ju  iljm  fjingejogen  ftat: 

Sftn  mufft'  id)  ebten,  batum  liebt*  i$  i§n. 

Slud)  Ijat  fie  anfänglich  jener  ©etoaft  aus 
Qfurdjt  bor  xtjtn  §errfd)aft  fid) .  3U  ent jieljen  ge= 
fudjt ;  es  toar  umf  onft,  benn  ber  Stet j,  einen  Qreunb 
ju  Ijaben,  beffen  Ijof)em  ©eifteSfluge  fie  folgen 
fonnte,  toar,  tote  fie  felbft  eS  bejeidjnet,  gu  liebüdj 
unb  lotfenb.  als  ba§  fie  auf  bie  3)auer  iljm  t)ätte 
toiberfte^en  fönnen  unb  toollen.  S£age  unb  3faljre 
fjaben  iljr  baS  3ufammenleben  mit  SEaffo  jur 
fünften  ©eiooljrtljeit  toerben  laffen.  Sfetjt  fofl  fie 
Jrfötjlid)  mit  unfägüdjem  ©djmerje  aufopfern,  toaS 
tljr  Sage  unb  3ialjre  fjinburdj  ju  unfäglidjer  SBonne 
gereift  Ijat: 


404  Soctfef  Zotqnaio  fcaffo.  [352 

(Erfi  faßt'  ig  mit:  (Entferne  bi$  ton  iljm! 
34  toi$  unb  toi$  unb  tarn  nur  immer  nftfcr, 
6o  lieblich  angelodft,  fo  Ijart  beftraf 1 1 
(Sin  reines,  toaljreg  ©ut  Derfd&toinbet  mir, 
Unb  meiner  ©e$nfu<$t  fdjiebt  ein  böfer  ©eifl 
6tatt  3frcub'  unb  ©lud  öertoanbte  Sd&mergen  unter.1 

2>ie  Sefenntniffe  ber  Sßrtngeffin,  toomit  ba& 
jtoeite  unb  letfte  ©efpräc^  gtoifd&en  iljr  unb  ßeonote 
enbet,  ftnb  bie  öertraulidjften  unb  tiefften,  bie  fie  ju 
machen  ^at;  fte  enthalten  innere  Erfahrungen,  bie 
fidj  jefct  erfl  in  iljrem  33ettm&tfem  erleuchten.  68  ift 
feljr  »tätig,  ifyre  SSefenntniffe  aus  biefem  ©efidjte* 
Jmnft  3u  tottrbigen  unb  ntdjt  mit  ben  tneiften 
Kommentatoren  unb  ßefem  gu  meinen,  ba£  bie 
?Prin jeffin  $ier  nur  längft  GrlebteS  unb  6m* 
tfunbeneS  auSfpredje. 

SBaS  tt)t  2ajfo  ift,  toeife  fie  genau  unb  feit 
3aljren ;  aber  toaS  fie  in  ber  ©tunbe  ber  Trennung, 
entyfinben  ttrirb,  nodj  bagu  ber  unfreinnttigften, 
too  ein  bofeS  ©djidfal  gu  forbern  fdjeint,  ba£  fie 
felbft  ben  greunb  gef)en  fjeifct:  baS  toeifc  bie 
Sßrinjeffin  nid)t,  benn  fie  Ijat  nie  an  eine  foldje 
SJtögltdjfeit  gebaut.  2Bie  Ijätte  fie  e§  audj  gefonnt? 


i  III.  2.  <B.  1888-1896. 


268]  ßeonorc  bott  (Sftc  405 

S)ie  Sorge  fötoteg,  bie  Slljnung  fclbfi  öctftutnmtc, 
Unb,  ölücflid^  eingefötfft,  trug  und  bet  Strom 
&uf  leisten  SQßeflen  oljne  9htber  Ijin. 

3tefct  füljtt  fie  fidj  im  Sänne  jenes  3auber8, 
ben  fie  erft  gefürdjtet,  bann  in  glfidtidjer  ©org= 
tofigfeit  genoffen  Ijat,  tt)ie  man  bie  ßebenSluft 
atljmet.  <£r  ift  mäßiger,  als  fie  geahnt;  er  ift  es 
getoorben,  ba  fie  il)n  unbetoadjt  toalten  liefe.  -Wun 
ift  ber.@djmerj  ber  ßoSreifcung  fo  leibenfd&aftltd) 
grofe ,  bafc  fie  iljm  f aft  erliegt  unb  in  bem  SBorte 
ßeonorens : 

35a8  (£ble  au  erlernten  ifi  ©eimnnft, 
25er  nimmer  un8  entriffen  toerben  fann, 

feinen  SEroft  finbet.  @ie  möge  ben  greunb  geljen 
laffen,  nad)bem  fie  baS  SBefte  Don  if)m  gehabt  Ijat! 
@o  IjeräloS  unb  eigennützig  ift  bie  Jrfatonifdje  ßiebe 
nid)t,  tote  bie  5Pringeffin  fie  emjjfunben  unb  erlebt 
fjat.  2tudj  biefe  ßiebe  ift  ein  feuriges  (Slement  unb 
fann  bergefjren.  9?un  erleuchten  fidj  bie  bietoer= 
fannten  SBorte,  bie  fie  ber  leidjtfjerjigen  ßeonore 
ertoibert: 

3u  furd&ten  ift  bas  6<$öne,  ba8  »ortrefftid&e, 
Söie  eine  Stamme,  bie  fo  Ijerrlia)  nüfct, 
So  lange  fie  auf  beinern  §erbe  brennt, 
So  lang  fie  bir  öon  einer  gfarfel  leitetet, 


406  9oct$e9  Sotqaoto  Zaffft,  p*4 

Sßie  fjolb!  2Bet  mag,  »et  fonn  fte  ba  entbehren? 

ttnb  frifet  fte  ungeljfttet  um  fid&  ljer, 

SBie  clenb  fonn  fie  madjen!   ßafe  mi$  nun! 

34  bin  gefa)tt>ft|tQ  unb  Derbärge  beffer 

8u$  fdbft  box  bir,  tote  fdjtoadj  i$  bin  unb  Iran!. 

Set  bem  ©ange  ber  §anblung  aufmerffam 
genug  gefolgt  ift,  mu&  l)ier  fragen:  toarum  bte 
5Pttnje||tn  biefen  SSerluft,  ber  fie  fo  elenb  tnadjt, 
ba&  fte  iljn  laum  ertragt,  nid&t  bloS  gefdfjeljen 
Iftfct,  fottbern  burdj  tljre  ginnrittigung  felbft  ljerbei= 
füljrt  ?  SBarum  läfjt  fte  ba§  reine,  toaljre  ©ut  ftdj 
berfdjtoinben  unb  ben  böfen  ©etfl  fd)alten,  ber  iljrer 
©eljnfudfjt  ftatt  fjreube  unb  ©lud  bertoanbte 
©d&merjen  unterf triebt? 

@3  ift,  bie  SBaljrljeit  8U  fcs^,  iljre  eigene 
©djjulb:  fte  felbft  läfjt  jenes  reine,  toaljre  ©ut  log, 
baS  fie  einft  begierig  unb  mit  begltttfter  £anb  er= 
griffen  Ijat;  fie  t^ut  nidjjtä,  e8  ju  erhalten,  unb  fie 
Brauste  bodj  nur  bie  §anb  nidjt  gu  öffnen ,  bie  e8 
Ijingiebt  unb  untoieberbringlid)  Verliert. 

Sie  5ßrinjeffin  ift  eine  Diel  ju  erfennenbe  unb 
toaljrl)aftige  Sßatur,  um  fidj  biefe  SBaljrljett  gu  toer= 
Ijeljlen.  SRid^t  bie  SBelt  tragt  bie  ©djulb,  bafj  toir 
bte  fdjjönften  ©üter  entbehren  muffen;  in  iljrer 
reiben,  Ijerrlid&en  Sülle  enthalt  fie  biefelben  unb 


966]  ßeonote  bon  <5ftc  407 

bietet  fie  uns  bar,  nidf)t  um  uns  mit  bem  bloßen 
Steine  ju  lodEen  unb  ju  täufd&en,  fo  ba§  toir  am 
@nbe  nidfjts  Ijaben  unb  behalten  als  bie  unerfüllte, 
bange  ©eljnfudjjt.  fjreilidjj  befielt  in  ber  bergeblidjen 
Sfagb  nadj  bem  ©lud,  in  bem  §afdjen  unb  !JHdf)i= 
erreichen  ber  getoöljnlidfje  Sauf  beS  ßebenS.  ©odf) 
giebt  eS  ein  reines,  toaljreS  ©lud,  tote  feiten  es 
immer  ifl.  @S  toirb  uns  audfj  ju  SHjeil,  aber  im 
tüglidjen  ©enuffe  fo  getooljnt,  bafc  tt)ir  biefeS  ©lud* 
erft  erfennen,  toenn  toir  es  verlieren,  tote  bie 
©efunbljeit,  toenn  toir  erfranfen.  Unb  toir  verlieren 
eS,  toeil  toir,  feiner  Seltenheit  uneingebenf  ober 
toergeffen,  im  getooljnten  S3efifc  eS  nidfjt  tooljl  be= 
toad&t  unb  behütet,  b.  Ij.  im  ©runbe  nidfjt  toaljrljaft 
gu  fd&äijen  getoufet  Ijaben. 

@o  ftnb  bie  rätselhaften  unb,  fo  toeit  mir 
(SrflärungSöerfudfje  erinnerlich  finb,  unberftanbenen 
SBorte  ber  ^rinjeffin  ju  nehmen,  bie  fie  ßeonoren 
entgegnet,  als  biefe  fie  guletjt  mit  ber  füllen  Äraft 
ber  frönen  Sßelt,  ber  guten  3eit,  bie  alle  SBunben 
Ijetlt,  ju  tröften  fudjt: 

SBöo^I  tft  fie  fäön,  bie  2öelt!  5>n  ifjrer  SQBette 
SJetoeßt  ftd)  fo  Diel  @ute8  Ijin  unb  ijer. 
91$,  bog  e8  immer  nur  um  (Einen  ©djritt 


408  (Boc&B  Torquato  Xafio.  [256 

2Jon  und  ftd)  }U  entfernen  föeint, 

Unb  unfte  bange  6eljnfud)t  burd)  ba«  Beben 

3u$  6$ritt  bor  6d)ritt  bi*  nad)  bem  (Brate  toctt! 

60  feiten  ift  e«,  ba&  bie  üDlenfdften  ftnben, 

9Döa8  ifcnen  bod)  bcftimmt  getoefen  fd}ien, 

€0  feiten ,  bafj  fie  baS  erhalten,  toa8 

Äud)  einmal  bie  beglüdfte  §anb  ergriff! 

<£&  reifet  fid&  Io$,  toaS  erft  ftä)  und  ergab; 

SDßir  laffen  lo«,  toa8  toir  begierig  faxten. 

@3  giebt  ein  ©Iüdf,  allein  toir  rennen'«  nid)t: 

2öir  fennen'8  tooijl  unb  totf[en'$  md)t  *u  fd&ftfcen.1 


1  »ergl.  III.  2.  ».  1840  -  1848.  ».  1900  — 1913, 
2)tc  eben  erläuterten  Stellen  Ijaite  tdj  in  unferer  $iä)tung 
für  bie  fdjtoierigften,  unb  id)  glaube,  bafj  Don  Hörern  rid)» 
tigen  JBerfianbnift  bie  ©tnftdjt  in  ben  Parafter  ber 
$rinsef jm  abfängt,  alfo  eine  fefjr  tocfentlicr>c  SSebtngung 
junt  SBerftänbnifj  be«  ©oeüjefdjen  Saffo  überhaupt.  5)a 
id)  ber  ©rflärungg&erfudje  gebadet  Ijabe,  fo  toifl  i<$  einige 
SBeifpiele  öerfer)lter  unb  falfdjer  Deutung  anführen,  nidjt 
aus  polemifdjer  Slbjidjt,  fonbern  gur  <£rleu<$tung  be« 
SftiÄtigen  nad)  beut  äöorte  SpinojaS :  «verum  index  sai 
et  falsi». 

Sie  SÜßorte  ber  ^ringeffln:  „3u  fürd&ten  ift  baS 
©djöne,  baS  JBortrefflidje1'  u.  f.  to.,  finb  ein  SBefenntnifc 
iljrer  eigenften  ©eelenerfaljrung  unb  feineStoegS  auf  Saffo 
SU  begießen,  htm  fte  in  einem  überfdjtoenglidjen  Momente 
(älmljalt  tijun  unb  $urufen  mufjte:  „tfttd&t  toeiter,  Xaffo!" 
Sflein,  bie  (gntftücfungen  i^reS  3)id)ter8  Ijaben  iljr  bisher 
nod)  nidjt  bange  gemalt  unb  leinerlei  <§ltnb  oerurfadjt; 
bietmefjt  Ijat  fte  öon  iljrem  jfingjten  ©efyrad)  mit  £affo 


257]  ßeonote  bon  <5ftc  409 

4.    S)er  5tbfd^icb  unb  bte  SBerfto&ung. 

SBebor  bte  ^ßtinjeffin  2l6fc%tcb  bon  Staffo 
nimmt,  Ijat  fic  erfahren,  bafc  er  nadj  3tom  geljen 
toitt  unb  auf  bem  (Sntfd&lujj  gu  btefer  Steife  be= 
Ijarrt,  bafc  if)t  SSruber  unb  Slntomo  umfonft  ber* 
fudjt  Ijaben,  ifjn  gu  begütigen  unb  jurüdfjuljalten. 


einen  fefjr  tDO^uenben  unb  gtüdlt<$en  (äfinbruef  behalten, 
ben  fic  audj  ber  Sfreunbin  mitteilt: 

er  gab  fi$  gang; 
2Bie  f<$ön,  tote  toarm  ergab  er  gang  ftd)  mir! 

35a8  33erljältnit$  gtoifdjen  ber  Sßringeffin  unb  Saffo 
toirb  öon  ©runb  aus  falfä  aufgefaßt,  toenn  man 
tf)re  ©mpfinbungen ,  toie  fte  biefelben  in  ber  SRfid« 
erinnerung  an  ba8  fdjöne  3ufammenleben  mit  bem 
2)i*ter  f Gilbert,  „bräuttiä)"  nennt.  9Hä)t  alle  (£mj>fin- 
bungen,  bte  au<$  eine  SSraut  Ijaben  fann,  ftnb  barum 
bräutlidje  ©mfcfinbunaen.  3)iefe  gehören,  tote  gart  ftc 
immer  fein  mögen,  gur  erotifdjen  Siebe  unb  fallen  in  bte 
Bttdjtung  einer  ßiebfdjaft,  bie  auf  glücflid&e  ober  unglücfftdje 
Slrt  ber  €!je  guftrebt.  SBte  aber  ©oeilje  bie  Siebe  gtoifdjen 
ber  ^ringeffin  unb  $affo  gefaßt  unb  bargefteflt  Ijat,  ftnb 
gtoar  ßeibenfd&aft  unb  betoegtefte  Effecte  feineätoegS  öon 
iljr  auggefdjtoffen ,  tooljt  aber  jeber  3uö  erotifd&er  £*» 
gedrungen  unb  bie  ßiebfdjaft  in  jeber  fjorm.  (Sfrang  Äern, 
@oetf)e8  Torquato  Saffo,  SBeitr.  gur  ©rflärung  be3  2)rama8, 
SBerlin  1884,  6.  61  ff.) 

2>ie  springeffto  fagt:  „(Ein  reines  toaljreg  ©ut  üer» 
fd&toinbet  mir"  unb  gleidft  nadfter:  „@8  giebt  ein  ©lud" 
u.  f.  to.    2öie  fdjtoiertg,  ja  rätljfelljaft  biefe  Sd&tußtoorte 

Äuno  fttfd&er,  ®oetljc*©d&jlften.  27 


410  ©octfte»  Torquato  £affo.  [268 

@ie  aljnt  nidjt,  bafc  her  SBaljn,  toon  iljr  berlaffen 
ju  fein,  bcr  SBetoeggrunb  ferner  (Sntfdjliefcungen 
ift;  fic  ffiljtt  nur,  ba&  bcr  ©ebanfe  an  fie  iljn 
ntdjt  gu  galten  fcertnodjt  Ijat,  bafc  Erbitterung  unb 
gigenjtnn  in  feinem  ©emfltl)  tnädjtiger  finb  als 
bie  Siebe. 

3efct  Ijört  fie  bon  iljm  felbft,  toie  er  in 
quälerifdjem  ©elbftgenufc  ber  ©inbilbung  feines 
ßlenbs  nadjfyängt,  toie  er  als  Verbannter  glüdjt* 
Kng  in  vermummter  Stradjt  nadj  ©orrent  eilen 


ifjreS  Iefcten©efprä<fj3  mit  ßeonore  feinen  mögen,  fo  tft  bo$ 
fooiel  gleit  au  erfennen,  bafj  unter  jenem  Out  unb  biefem 
©tücf  baffelbc  gemeint  ift,  nämltdj  eine  ©eelengemeinfdjaft, 
ein  geiftigeg  unb  perf  online«  3uf  ammenleben,  toie  ba3  irrige 
mit  £affo.  2öa8  fott  e8  nun  feigen,  toenn  man  uns  er« 
flärt:  unter  benSGßorten  „@8  gtebt  ein  ©lud"  u.  f.  f.  fei 
„bie  ftitte  SJuIbung"  gu  oerfieljen?  3)iefe  toäre  baS  ©fürt, 
uon  bem  bie  ^ringefftn  fagt:  „3ötr  fennen'8  ni^t*?  JBon 
bem  fie  fagt:  „Söir  fennen'S  toof)l  unb  toiffen'8  nidjt  gu 
fd&äfcen"?  $)iefe  wäre  baS  ©ut,  tum  bem  fie  fagt,  bafc 
eg  iljr  t>erfd)toinbe?  ©oldje  ©rflärungen  giebt  man,  toenn 
man  feine  gu  geben  toei&!  dagegen  ift  e8  boä)  toenigftenS 
nur  gefdjmatflos ,  toenn  bie  SQBorte  ber  ^ringefftn:  „9hm 
überfällt  in  trüber  ©egentoart  ber  3ufunft  Sdjreclen 
ijeimltdj  meine  SJruft",  aus  ber  ©pradje  beS  SttdjterS  in 
bie  beffelben  ©rftärerS  fo  überfefct  toerben:  „2)ie  3uftmft 
brücft  fte,  toie  ein  Slip".  (S)ünfeer,  Erläuterungen  XVII. 
€.  124—126.) 


259]  ßeonore  bon  ©ftc.  411 

tiritt,  um  bei  ber  ©djtoefter  nod)  3uftudjt  unb 
SLrofi  ju  fudjen.  3u  iljrer  eigenen  fdjmeraüdjen 
Sftefignation  gefeilt  fidj  ein  SBtlb  toon  SEaffo,  ba3 
iljr  toelje  tljut  unb  nidjt  gefällt: 

Sfi'g  ebel,  fo  su  reben,  toie  bu  foridjft? 
3ft'8  ebel,  nur  adein  an  ftdj  gu  benfen, 
2118  Iränfteft  bu  ber  Sfteunbe  bergen  ntdjt? 

3n  ifjrer  ©egentoart,  unter  bem  (Sinbrud  ifjrer 
Stimme,  iljreS  milben  unb  liebreichen  Stabete  ent= 
füeljt  ber  Strflbftnn  beS  2)id)t'er§.  S)ie  Hoffnung, 
bafc  fie  il)tt  „nid)i  gang  unb  gar  toerftofcen"  tooKe, 
erhellt  feine  ©eele  unb  toerfdjeudjt  bie  ©ebanlen  an 
9tom  unb  ©orrent,  toeld^e  bie  ©eburten  feiner  S5er= 
gtoeiflung  toaren.  3fet}t  tottt  er  bleiben  unb  in 
iljrer  -Jiälje  toeilen,  fei  e§  audj  als  Verbannter 
unb  in  nieberem  ©ienft.  Unb  toie  er  nun  Don 
iljr  felbfi  toernimmt: 

3$  tnu6  bter)  laffen,  unb  berlaffen  !ann 
50lcin  §era  bid)  ntd&t, 

fo  ift  feine  Hoffnung  meljr  als  erfüllt  unb  btö 
33ilb  ber  $ringeffin  ftraljlt  il)m  tnieber  aU  fein 
guter  ©eniuS  entgegen: 

S)u  Bift  es  feflbfi,  toie  bu  aum  erftentnal, 
@in  Ijeirger  (Sngel,  mir  entgegen  fantfi! 

27* 


412  ©octyeS  Torquato  £affo.  [260 

9iodf)  fönnten  beibe  in  baS  ruhige  ©lei§  eines 
frönen  unb  Bcfriebtgtcn  3ufammenteben8  jurücfc 
festen,  toenn  SCaffo  ttur  im  ©tanbe  toäre,  bic  SBorte 
gu  betjerjigen,  bie  fein  guter  @nget  §u  U)m  foridjt: 

2öit  tootten  ntd^tö  Don  bir,  toaS  bu  ntd&t  btft, 
Söcnn  bu  nur  erft  bir  mit  bir  feloft  gefättft. 

@r  bermag  in  biefem  Slugenblid  ntdjts,  tooju  eine 
ruhige  unb  Kare  @elbftbetrad)tung  gehört,  ©er 
2Bed)fel  ber  Slffecie  in  iljm  ift  ju  J)löt}Udj,  ber 
Uebergang  ju  jälj  t)on  bem  SBafjn,  ber  iljm  ba§ 
33ilb  ßeonorenS  getrübt  §at,  ju  biefer  Sntjüdung, 
bie  es  Vergöttert,  toon  ben  ferner alidjften  ©efüljlen 
ber  ßoSreifcung  ju  biefer  SBonne  ber  Bereinigung, 
bie  gleich  bem  ungefiümen  @Iement  alle  ©djranfen 
burdjbridjt.  SBergebenS  maljut  bie  5Prinjeffin  unb 
ruft  iljm  nod)  einmal  ju:  „nidjt  weiter!" 

Söenn  i<$  bid)  £affo  länger  Ijören  fott, 
So  mäßige  bie  ©futlj,  bie  mtd)  erfdjrecft. 

3m  Stnblid  feiner  toergel)renben  ßetbenfdjaft  gebenft 
fie  tooljl  iljreS  eigenen  SBorteS:  „Unb  frifct  fie 
uugeljütet  um  fid)  Ijer,  tote  elenb  fann  fie  madjen!" 
<£r  aber  füljlt  nur  fi<$,  er  Ijört  nidjt,  toaS  fie 
fagt,  er  fieljt  nidjt  in  iljren  Sügen  ben  3lu§brud 


261]  ßeonote  bon  @ftc.  418 

be§  @d&rcden§,  fonbern  toäljnt,   ba§  fie  t^m  ju* 
ftitnmt  unb  feine  ©lutl)  erroibert: 

3Jtit  iebcm  2öort  erW^cft  bu  mein  ©lücf, 
2JHt  jebem  SBorte  glänzt  bein  5luge  Ijefler. 
3$  fftljte  mid&  im  3nnerften  öercinbert, 
3$  fiiljfe  mid)  üon  aller  Sftotl)  entloben, 
Sfrct  tote  ein  ©Ott,  unb  alles  banf  td)  bir! 

£ier  ift  bie  ©renge,  in  metefter  bie  ©fftafc  in 
ben  SBaljnfinn  auSgubred&en  broljt  unb  it)n  aufcer 
fidj  geraden  läfct.  „@r  faßt  i!jr  in  bie  2lrme  unb 
brüdft  fie  feft  an  fi&"  ©ie  ftö&t  if)n  Don  fid&  unb  eilt 
fort  mit  betn  2lu8ruf:   „^intoeg!"1 

©iefe  ©djlufcfcene  gnnfdjen  ber  5ßrinjeffin  unb 
Staffo,  beren  n>ed)felfeitige  ßiebe  baS  £auj)ttt)ema 
unferer  ®idjtung  bilbet,  Ijat  Dielen  baS  SSerftänbnifc 
ber  lederen  gleid&fam  berfoerrt  unb  eine  grunbfatfdje 
JBorftellung  t)on  iljretn  ©Ijarafter  gurütfgetaffen. 
S)a§  eine  $J}ringeffin  t>on  bem  SUtanne,  bem  fie 
innerhalb  eines  rein  geiftigen  ÜBerfefjrS  iljre  ßiebe 
gefdjenft  Ijat,  umarmt  unb  ans  £erg  gebrüdt  totrb, 
fei  freilief)  ein  arger  ÜBerftoft  gegen  bte  Stifette, 
aber  bodj   nidjt   ©runb  genug   gu  einer  foldjen 


»  V.  4.  ».  3166-68,  3220—21,  3237-38,  3246-47, 
3265-66,  3269-73.  »gl.  oben  X.  2.  ©.  187  ff. 


414  Otoetyc»  Torquato  Scffo*  [262 

förmltdjen  SBerjiofjung ,  tote  fic  Ijier  beut  armen 
ÜÄann  gu  Söjeil  toerbe.  @r  fjaBe  bodj  leine  f o  fdjredfe 
tidje  Untyat  Verübt,  ba&  barüber  bie  ftttltd&e  Seit 
gletd)  in  iljren  Stufen  ju  fradjen  Ijfttte.  Solan 
mfifcte  benn  mit  bem  &ofmarfdjafl  ÄalB  bie 
ßtifette  für  baS  jermalmenbe  ©dtfdfal  galten. 

SBirb  SEaffo  bon  ber  5ßrinjcffin  berfiofjen,  toetl 
er  fidj  an  biefem  ©djiiffal  berfünbigt  Ijat,  fo  er« 
fdjeint  ©oetfjeS  ©idjtung  toie  eine  SBergötterung 
ber  §ofetifette,  als  toeldje  ftc  ber  Unöerftanb- Dieler 
genommen  unb  getabett,  oft  fogar  in  SluSbrfiden 
ro^en  unb  gemeinen  £affeS  gefd&mäljt  Ijat. 

Solange  IjaBen  unfunbigertoeife  gemeint,  bafc 
©oetlje  baS  33eifpiel  feines  SfugenbfreunbeS ,  beS 
©idjterS  ßenj,  bor  9lugen  gehabt  IjaBe,  ben  ber 
§erjog  fiarl  Sluguft  nidjt  aus  ©rünben  berfefcter 
(Stilette,  fonbem  toegen  einer  „Sfetei",  toie  ©oetljeS 
SEageBud)  fagt  (26.9lotoemBer  1776),  bon  §of  unb 
ßanb  bertoiefen.  @S  gefdjalj  bier  Sfaljre  bor  ben 
Anfängen  unferer  2)tdjtung  unb  Ijat  mit  biefer 
nichts  ju  fdjaffen.  2Bäljrenb  feines  Aufenthaltes 
Bei  ©oetlje  unb  an  bem  gaftüdjen  &ofe  ju  SBeimar 
herging,  toie  SBielanb  getegentlidj  Berietet,  fein 
Stag,  oljne  bafc  ßenj  feinen  bummen  ©treidj  madjte. 


263]  Seonote  t>ott  (Site.  415 

2)iefer  2Äann  Ijatte  feine  2tbcr  Don  ©oetljeS  SEaffo 
unb  lielj  lein  Sttotit)  ju  biefem  2Berfe.  . 

3)tc  ©cene,  t>on  ber  toir  reben,  ift  nidjt  ©oetljeS 
Grfinbung,  fonbern  gehört  in  bie  Staffolegenbe, 
bic  unfer  5Dtd^ter  in  3Jturatori3  UeBerlieferung 
toorfanb  unb  in  bie  (JaBcI  feines  S)rama8  aufs 
nehmen  mufcte.  -ftidjt  für  ben  borljanbenen 
SDtytljuS  unb  beffen  Strabition  ift  er  toeranttoortlidj, 
fonbern  für  bie  Slrt  unb  SBetfe,  toie  er  iljn  ber* 
toertljet  unb  feiner  eigenen  SDidjtung  angefaßt  f)at. 
@8  ift  i^m  fdjtoer  genug  getoorben.  D^ne3toeifel 
gehörte  btefe  ©djlufcfcene  ju  jenen  brei,  bie  er  am 
6.  2tyrtt  1789  no$  ju  fdjreifien  Ijatte  unb  gleidj 
.„lofen  9h)m\ti)tn"  nidjt  ju  faffen  toufjte. 1 

sJiadj  ber  Uebertieferung  gefdjieljt  bie  äkrftofjung 
SEaffoS  burdj  ben  £erjog,  ber  iljn  für  öerrüdt  er= 
Hört  unb  gur  (Sinfoerrung  im  Srrenljaufe  t>er= 
urteilt.  3n  unferer  ©tdjtung  gefdjteljt  fte  burdj 
bie  Sßringeffin,  burdj  biefe  allein,  bie  iljn  t)on  fidj 
ftöfet  unb  entf  eijt  Ijuttoegeüt ;  fie  rettet  iljre  greiljeit 
bor  bem  Slnbrange  einer  Setbenfdjaft,  bie  fdjon  bem 
2lu§6rud)e  be§  SBaljnfinnS  äljnlidj   fieljt.    Seine 


1  6.  oben  IV.  2.  ©.  46. 


410  @oet$eft  JTotqitcto  Eoffo.  [264 

Qteiljeit  bleibt  unangeiaftet.  2Ber  für  bie  festere 
©orge  trögt,  toirb  burdj  bie  ©dtfufcfcene  beruhigt. 
3n  einer  ernften  unb  erhabenen  ©elbftbetradjtung 
Ijat  Z affo  fidj  als  SDidjter  toiebergefunben,  unb  tt)ir 
bürfen  Ijoffen,  bafj  er  nidjt  Don  neuem  bie  Seute 
toerblenbeter  ßeibenf  d&aften  »erben  totrb ;  er  Ijat  fidj 
mit  Antonio  fcerfoljnt,  unb  bie  Qreunbfdjaft  btefed 
3JlanneS  Verbürgt,  ba&  it>m  lein  ßeibeS  gefd)iel)t. 
Sßenn  eine  foldje  SBürgfdjaft  nötfjig  toäre!  3n  ber 
SBelt  be3  @oetl>efdjen  SEajfo  giebt  es  lein  un* 
menfdjlidjeS  ©djidfal. 

Sie  5ßrinjeffin  toirb  iljm  bergeUjen  fönnen,  ober 
jene  Ijehnlid)  toofyttljuenbe  ßiebe,  toorin  fie  ftd) 
gtfldlidj  gefüllt  fiat,  feljrt  -nie  toieber,  benn  fie  ift 
bor  ifjm  toie  bor  einem  ®d)redbitbe  geflogen!  — 

XIV.    Jieonote  ganvitate. 

1.    S)ie  Sfteunbfd&aft  mit  ber  ^ringeffin. 

S)ie  fjreunbfd&aft  ber  beiben  ßeonoren  ift  in 
bie  %abd  unfereS  @tüd§  erft  burd)  ®oetf)e§  @r= 
finbung  gelommen1  unb  aus  ben  <£f)ara!teren 
felbfi  nid)t  redjt  begrünbet  unb  einteudjtenb.  2)a& 


>  »gl.  oben,  IX.  1.    ©.  164  ff. 


265]  ßeonore  ©anbttote.  417 

bie  ^rinjeffin  tljr  Vertrauen  „rein  uttb  gang" 
einer  greunbin  fd)enft,  fcon  ber  fie  getäufdjt  ttrirb, 
ift  tt)oI)l  in  bem  ©ange  ber  £aubtung  na$  ber 
©ompüfition  beS  £>id)ter3  toorgefeljen,  aber  ni$t  in 
bem  einfidjtätooffen  SBefen  ßeonorenS  toon  ©fte. 
Unb  tt)ie  aufrichtig  immer  bie  SBetounberung  ift, 
toeldje  ßeonore  ©anbitale  toor  bem  ©eift  unb  ber 
erhabenen  ©inneSart  ber  ^rinjeffin  Ijegt,  fo  Ijat 
fie  bo$  für  beren  innerfte  ©emüt^intereffen  fein 
toa^re§  SSerftänbnifc.  ©elbft  nadj  jenen  bertrauen§= 
twllften  33ef enntniff en ,  bie  un§  bie  ©efüljte  ber 
5ßrinaeffin  für  £affo  gang  entljüCt  unb  einen  33li<f 
in  ben  ©runb  iljrer  tiefften  ©ntyfinbungen  eröffnet 
Ijaben,  fann  biefe  ^retfnbin,  als  ob  fie  nid&is 
toernommen  Ijätte,  in  bem  nädjften  ©elbftgefpxäd) 
fagen : 

£)u  mufjt  tljn  Ijaben,  unb  tljr  nimmft  bu  ntdjtS: 
2)enn  if)te  Neigung  au  bem  toertfjen  3Kanne 
3ft  iljren  anbern  Setbenfdjaften  gteidj. 
©te  leudjten,  nrie  ber  ftiüe  ©<$ein  beS  aflonbs 
3)em  aßanbrer  fpättid)  auf  bem  $fab  gu  üftadjt; 
©tc  toärmen  ntdjt  unb  gie&en  feine  Suft 
5Roc§  Sebenöfreub'  um^et.1 


1  HL  3.  Jö.  1953-1959. 


418  (Bottytl  Zoxquato  Xafio.  [266 

SDafc  ßeonorc  mit  biefen  SBorten  tljr  ©d^ulb= 
gefüljl  fid)  erleichtert  unb  über  iljre  SBerfÜnbigung 
an  bem  JBertrauen.  ber  Qfreunbin  fxd)  Ijintoegtftufdjt, 
paßt  tooljl  ju  iljrem  ßljarafter,  tote  ©oetfye  ben= 
felben  gefaßt  Ijat,  unb  toertrdgt  fidj  audj  mit  ber 
2trt  iljrer  fjreunbfdjaft  für  bie  ?Prinjeffin,  aber 
feineStoegS  mit  ber  fjreunbfdjaft  ber  5ßrinjeffin  gu 
iljr.  SBie  biefeS  Serljältnifc  in  ber  2BtrlUd)feit 
nid&t  beftanben  unb  in  ber  gefdjidjtlidjen  lieber« 
üeferung  gar  leinen  £altpunft  Ijat,  fo  fe^lt  bem» 
felben  aud)  bei  ©oetlje  jebe  2lrt  ber  Segrünbung 
unb  Sorgefdjidjte,  bie,  too  fie  in  ber  ©djilberung 
älmlidjer  SSerlj&ltniffe  fidj  barbietet,  ftetS  oon  iljm 
toortrefftid^  benufct  toirb.  S)ie  {Jreunbfdjaft  ber  beiben 
ßeonoren  muffen  toir  auf  bie  bloße  SBerfidjerung 
l)innel)men ;  fie  ift  in  unf erer  3) idjtung  rourgelloä. 

■Jlad&bem  ßeonore  eine  lange  3eit,  tooljl  ein 
Saljr,  am  §ofe  ju  fjerrara  öertoeilt  Ijat,  fott  fie 
jetjt  mit  bem  beginnenben  ^rttljling  f Reiben;  fie 
ttrirb  nad)  Sloreng  jurücßeljren  unb  iljren  ©oljn, 
„ber  biefeS  3Sat)r  fo  fd&neU  getoadjfen,  fdönett  ftd) 
auSgebilbet",  bem  ©emaljt  gu  gemeinfamer  @ltern= 
freube   jurüdf bringen. x     Sfljre   naf)    beborfteljenbe 

1  6erafft  erjäljlt,   baß  bie  junge  ©räfin  €canbiono 


S67]  Statute  ©onbitale.  419 

Greife  Btlbet  einen  toefentlidjen  3ug  in  *>er 
Situation,  tooraus  bie  §anblung  Ijertoorgeljt,  benn 
btefer  Umftanb  allein  bringt  e3  mit  fid),  bafc  fte 
trie  gtetdjjeitige  ©ntfernnng  SCaffoS  toünfdjt  unb 
fcetreibt. * 

2.   Söett  unb  SMt&übung.   9la$  bem  »eben. 

SBir  fennen  fdjon  ben  SBertI)  unb  bie  33e* 
beutung,  bie  in  ber  SBelt  beS  ©oetljefdjen  !£ajfo 
bem  (S&arafter  ber  jtoeiten  ßeonore  jufommt,  bie 
■©teile,  bie  fie  in  btefer  bilbungS«  unb  genufcreidjen 
SBelt  einjune^men,  bie  Stolle,  bie  fie  im  ©ange 
nnfereS  ©ramaS  jn  fielen  Ijat.  * 

Um  ein  fotdjeS  3^italter  ftftljetifd&er  ©efittung, 
ttrie  ba8  ber  italienifdjen  SRenaiffance,  Ijeraufgufüljren 
unb  ju  einer  SReife  ju  bringen,  bafe  feine  3*üd()te  ein 
einem  Ijeiteren  g?rfil)ling3tage  in  einem  fürftlidjen 
£uftfd)to&  t>on  einem  Keinen  ßreife  borjüglidjer 
tßerfonen  fo  genoffen  toerben  fömten,  toie  e3  in 
unferem   3b^ll   ju    Selrigttarbo    gefdjieljt:    baju 


toaljrenb  üjte8  Aufenthaltes  in  Sfcrrata  i^r  erfted  Äinb 
geboten  Ijabe.  Ueber  ibre  Stnfunft  unb  (Shrfdjetnung,  in 
gertara  tog.1.  oben  VII.  2.  ©.  122,  über  ifre  SRücIfebr 
na<$  gflorena  X.  1.  ©.  182. 

1  »gl.  oben  X.  2.  6.  184  —  XI.  3.  ©.  198—204. 


480  OSoetyeft  fcotquato  Tafto.  [268 

Ijat  eine  ftüUt  genialer  Äräfte  burd)  eine  fRet^e 
Don  ©enerationen  tljätig  fein  muffen.  ©aljer  ge» 
ljört  aud)  ber  ©ultus  be§  ©entuä  in  ber  $erfon 
berbienfttooller  unb  berühmter  Scanner  in  biefe  2Bett 
Ijerrlidjer  5Ulcnf d&enf d^ö^fimgcn ,  bie  burd)  tljn  ge= 
betf)t,  toie  er  burd)  fie.  3)ie  grofjen  3flftnner  finb 
bie  ©ötter  ber  3*it,  i^re  gefteigerte  fociate  35er= 
eljrung  mit  bem  9lnfluge  ber  ©djtoärmeret  Bilbet 
eine  feljr  d)arafterifiifd)e  ©itte  be§  3eitalter8,  bie 
in  ber  anmutljigften  unb  einbrudfeDoflften  SBeife 
Don  ben  grauen  ber  großen  2Belt  ausgeübt  toirb. 
©ie  beiben  ©djftfce ,  bie  bem  3fculjme  ju  SEIjeil 
»erben  unb  ben  9teib  am  meiften  erregen,  jtnb 
„ber  ßorBeer  unb  bie  ©unft  ber  fjfrauen".  Unb 
ber  jtoeite  biefer  ©d)ät}e  ift  nod)  beneibenStoertljer 
als  ber  erfte.  3d)  fage  auSbrüdftid)  bie  grauen 
ber  großen  SBelt,  toeldbe  letftere  burdj  iljre 
SBilbung  bie  SlÜertoeltSfdjtoftrmerei  unb  burdj  bie 
SBeite  if>re3  gefettfdjafttidjen  ^orijonteS  bie  35er= 
tiefung  Don  fidj  auSfdtfiefct;  ifjre  ©Jriegelflädje  l)at 
SRaum  genug  für  Diele  ©ötterbitber,  unb  ifjr  ©uttuS 
getoinnt  mit  ber  3eit  ben  potytljeiftifdjen  ©fyarafter 
in  gebü^renber  SIbftufung. 

Sin   Doffenbeter   {JtauentypuS   biefer   9lrt   in 


269]  ßeonore  ©anbitale.  421 

glüdlid&fter  bid&terifdjer  ©arftettung  ift  ßeonorc 
©antoitale.  3n  ber  SEaffogefd&id&te  tote  innerhalb 
feiner  eigenften  §ergen§erfaf)rung  fanb  ©oetlje 
3üge  uttb  SDiotitoe  genug,  toorauS  er  ba§  SBilb  ber 
5ßrinjeffin  erfdjaffen  fonnte;  toogegen  jur  ©eftaltung 
ber  gleiten  ßeonore  d^nlic^e  SSebingungen  in  feinem 
jener  beiben  ©ebiete  fidj  barboten.  3ttanfo  Ijatte 
t>on  ber  ©räjtn  ©antritale  faum  meljr  als  ben  -Kamen, 
9tturatori  nid)t3,  ©eraffi  nur  toentge  3üge  otyne 
d&arafteriftifd&en  2tu3brutf.  2lud&  lebte  bie  ©eftalt 
in  ©oetfjeä  3)id)tung  fd&on  lange,  betoor  er  bie 
SEaffogefdjid&te  be8  italienifdjen  2l6ate  fennen  lernte. 
3n  bem  ©ebiete  feiner  eigenften  £ergcn3erfal)rung 
gab  e8  rüljrenbe  ßrfd&einungen  nad)  9lrt  ber 
©retten  unb  ßlärdjen,  bie  aber  baä  ©egeutljeil 
einer  grau  t)on  2BeIt  toaren.  (Sine  fotdje  toar 
audf)  fixem  t>on  ©teiu  nidjt,  unb  toie  e§  fdjeint 
fanb  fidj  in  ber  nädjften  ©efeflfd&aft  be§  toeimar* 
fdjen  £ofe§  feine  ©ante,  bie  iljm  für  bie  gtoette 
ßeonore  eine  Strt  SJtobell  bieten  fonnte.  Unb  bodj 
mufcte  ©oetlje  einen  folgen  Sfrauendjarafter  erleben, 
um  iljn  gu  fd&affen;  er  mufcte  unferem  ©td&ter  in 
unmittelbarer  ©egentoart  einleuchten.  S)ie8  gefdfjalj 
in  bem  gafilid&en  ©d&lofc  gu  IJieuntjeilingen.    3)ie 


422  Gtoctyel  Xotquato  Xatfo.  [Z10 

©rftfttt  SBertljetn  liebte  ben  &erjog  unb  toar  für 
©oetlje  fein  ©egenflanb  ber  ßeibenfdjaft,  fonbern 
ber  ftftljettfdjen  Seobad&tung ,  benn  in  tljr  falj  er 
gum  erftenmal  in  feinem  ßeBen  eine  (Jftau  t>on 
SBelt. 

„Sie  toijfen",  fd&rieb  er  ben  11.  Sölftrj  1781 
an  ftrau  *w  ©tein,  „baß  idj  nie  ettoaS  als  burdj 
Srrabiation  lerne,  baß  nur  bie  SWatur  unb  bie 
großen  2Äeifter  mir  ettoa8  begreiflidj  matten  lönnen, 
unb  baß  im  falben  ober  einzelnen  mir  ettoaS  }u 
f äffen  ganj  unmöglid)  ift!  SBie  oft  Ijabe  id)  bie 
SBorte  SBelt,  große  SBelt,  3Beltl)aben  u.f.to, 
Ijören  muffen  unb  Ijabe  mir  nie  ettoas  babei  ben!en 
f önnen ;  bie  meiften  3Jlenfdjen>  bie  fid)  biefe  6igen= 
fdfjaften  anmaßten,  toerftnfterten  mir  ben  SSegriff, 
fie  fd&ienen  mir  toie  fdjledjte  SKufifanten  auf  iljren 
Siebein  ©tyntpljonien  abgefd&iebener  ÜÄetfter  ju 
freujigen,  idj  lonnte  eine  Stynung  batoon  au§  biefem 
unb  jenem  einjelnen  ßiebe  Ijaben,  Vergebens  fudjte 
idj  mir  ba8  ju  beulen,  toa§  mir  nidjt  mit  bollern 
Ordjefter  toar  fcrobucirt  toorben.  ®iefeS  Keine 
SBefen  Ijat  midj  erleuchtet.  S)iefe  Ijat  SBelt  ober 
oielmeljr  fie  Ijat  bie  SBelt,  fie  toeiß  bie  SBelt  ju 
beljanbeln,   fie  ift  toie  Quedplber,  baä  fid&  in 


271]  ßconotc  ©anbltole.  428 

einem  3lugenblicJ  taufenbfaeg  tgetlt  unb  triebet  in 
eine  Äuget  gufammenläuft.    ©idget  igteS  2Bettg§, 
igteS  9tang3,  ganbelt  fie  gugleidj  mit  einet  3)eli= 
fateffe  unb  Slifance,  bie  man  fegen  mufc,  um  fie 
gu  benfen.  ©ie  fegeint  iebem  ba§  ©einige  gu  geben, 
toenn  fie  audg  nidjts  giebt,  fie  f^enbet  nidjt,  toie 
icg  anbete  gefegen  gäbe,  na<g  ©tanbeSgebügt  unb 
SBütben  jebem  ba§  eingeftegelte  gugebadjte  ?PadCet= 
<gen  aus,   fie  lebt  nut  untet  ben  9Jlenfdjen  gin, 
unb  batauä  entftegt  bie  fdfjöne  3Mobie,   bie  fie 
ftrielt,  ba&  fie  mdjt  jeben  £on,  fonbetn  nut  bie 
auäettoftglten   betfigtt.     ©ie  ttactittä  mit  einet 
ßeidjtigfeit  unb  anfd&einenben  ©otgtofigfeit ,   bafc 
man  fie  fttt  ein  Äinb  galten  follte,  ba§  nut  auf 
bem  Älabiet,  ogne  auf  bie  Sftoten  gu  fegen,  getum= 
gufdgelt,  unb  bodj  toeifj  fie  immet,  tt>a§  unb  toem 
fie  aufftnelt.    2Ba8  in  jebet  Äunft  ba8  ©enie  ift, 
gat  fie  in  bet  Äunft  be§  ßebenS."     „@ie  lennt 
ben  gtöfcten  SEgeil  toom  öotnegmen,  teidgen,  fdgonen, 
fcetftftnbigen  @utopa  tgeils  butdg  fidg,  tgeite  butdg 
anbete;  baS  ßeben,  Steißen,  SSetgältnifc  fo  Dielet 
9Jtenf<gen   ift  igt   gegentoftttig  im  gödjften  ©inn 
be8  SBotteS,  es  f leibet  fie  alles,  toa§  fie  fidg  unb 
jebem  gueignet,  unb  tt)a§  fie  jebem  giebt,  tgut  igm 


424  (Soetfteft  Ztaquato  Xaffo.  [272 

toofyL"  »3$  §ö&*  nodj  bw  %a9e  unb  nidjts  gu 
tljun,  als  fie  anjufeljen,  in  ber  3*tt  toifl  id)  no<$ 
mannen  3ug  erobern.'1  x 

3)ie  Äunftftubien,  bie  ©oetlje  in  SReunljettingen 
nadj  bem  ßeben  gemalt  Ijat,  fottten  feine  „bra= 
matifdje  unb  epifc^e  SBorratljSfammer"  bereitem. 
2BaS  er  in  bie  lefctere  eingefammett  Ijat,  barauS 
ift  baS  grftflidje  5ßaar  im  SBilljefat  ÜDteifler  Ijerbor* 
gegangen.  Unb  aus  bem  erfteren?  SJlan  tefe  bie 
eben  angeführte  briefliche  ©djilberung  oljne  alle 
örtlidje  unb  perfönlidje  33ejiel)ungen  als  einen 
(Kommentar,  ben  ©oet^e  ju  einem  feiner  bra* 
matifdjen  Qrauendjaraftere  fetbft  gefdjrieben  Ijabe, 
unb  frage  fid),  gu  toeld&em?  SBer  biefe  (Sfjaraftere 
fennt,  toirb  fagen:  es  ift  ßeonore  ©anbitale! 

2Iud)  bie  ßenngetdjen  ber  ©eftalt  unb  ^orot 
bis  auf  ben  ©inbrui  beS  SöeneljmenS  fdjeinen  t>on 
ber  ©rftfin  2Bertf)ern  auf  bie  ©rafm  ©antoitale 
übertragen  ju  fein:  bie  Keine  ©eftalt,  bie  ^einfjeit 
unb  3ierlidjfett  ber  ganjen  ©rfdjeinung!  35on  ber 
©rafm  im  SBtQelm  3Keifter  Reifet  eS:  m3fixt 
©<f)önf)eit,  Sugenb,  2lnmutf),  3ierlid&Ieit  unb 


1  Briefe  an  fjrau  d.  ©tein,  f8b.  I.  f8x.  602.  ©.  332  ff. 
»gl.  oben  X.  3.  @.  192. 


273]  Beonore  ©anbltatc  42B 

feines  ^Betragen  matten  ben  angeneljmften  (Sin« 

brutf  auf  ifyt".    2Äit  gleiten  3fa3brtt<fen  f Gilbert 

bie  ^Prinjeffin  im  ©eforädj  mit  SEaffo  bie  ©rftfto 

€>atU)iiaIe: 

60  Ijafcen  toir  ßeonoren  lang'  fcefef[en, 

2>ie  fein  unb  gitrlid)  ift,  mit  her  e8  leidet 

©t($  lefcen  lagt.1 

ßeonore  Ijat  bie  SBett,  toeldje  ber  SPrinjeffitt 
feljlt  unb  Bei  ber  SEicfc  unb  SnnerUdjfeit  tljttS 
ßebenS  fehlen  mufe.  ©erabe  barin  beftelji  bie 
(Srgänjung  beiber,  tooburd)  iljr  3ufammenleben 
für  eine  Seitfang  fo  erfreulich  unb  Ijarmonifdj 
geftimmt  ttrirb,  ba&  uns  ber  Sinter  baffelbe  im 
ßtd&te  ber  Staunbfd&aft  erfreuten  laffen  lann. 

3flan  beadjte  nur  bie  leidjte,  öefd^meibige  unb 
t)oÜfommen  natürltd&e  2lrt,  toomtt  ßeonore  bie 
jebeSmattge  ßage  fid)  anpaßt  unb  aneignet,  toie  fie 
barin  ft$  tootyt  fü$lt,  biefeS  SBoIjtgefüf)!  auSfyrid&t 
unb  tljren  Umgebungen  mitteilt,  fo  ba§  fie  ßuft 
unb  ßebenSfreube  um  fidj  Verbreitet  3ft  bief*3 
nid)t  ba§  ©enie  in  ber  ßunft  beS  ßebenS?  SB« 
fie   bie  jebegmalige  ©egentoart   unb    Umgebung 


1  Sößl.  äöüfjelm  3MfterS  SeWa^re,  £ud&  HI.  flaj).  L 
Saffo  II.  1.  »♦  959-961. 

fluno  3ftf$er,  ©oetye* ©d&rlften.  28 


4M  Otetyc»  Zorqnoto  Xoffo.  [274 

gefällig,  reijenb,  intereffant  finbet,  fo  erföetnt  fie 
felbft  bem  Äreife,  iDorin  fte  lebt,  gef&Qig,  reijenb, 
intereffatti,  unb  fo  befielt  gtüifdjen  ifjr  unb  ber 
SBelt,  mit  ber  fte  berieft,  bie  anmutljigfie  unb 
jtoanglofefte  2Bedjfeltt>irfung.  3ft  biefed  nidjt  ba$ 
SEalent  unb  gugletd)  bie  Äunfi,  toeldje  ©oetlje  in 
jenem  ©riefe  an  Sfrau  Don  ©tein  mit  bem  SBorte 
„SBeltljaben"  unb  „bie  SBelt  Ijaben"  begeidjnet, 
tnbem  er  fic  uad)  ber  Statur  fdjitbert? 

©iefeS  Talent  mit  allem,  nmS  bagu  gehört 
unb  barauS  folgt,  Ijat  ©oetlje  in  bem  SBefen 
feiner  jtoeiten  ßeonore  auf  unübertreffliche  Sfrt 
bidjterifdj  ausgeführt  unb  entttridfelt.  ©ie  ftraljlt 
oon  SBofjlgefüljl  unb  SQBofjtgefaüen ,  baS  tfyr  bie 
nädjfte  ©egentoart  einfloßt  unb  fie  unttrittfitrlidi 
um  fid)  Verbreitet.  ©leidj  bie  erften  SBorte  ber 
2>idjtung  ftimmen  uns  für  ben  (SSinbrud,  ben  fte 
Ijertoorrufi : 

2)u  fte^ft  tntä)  läajelnb  an,  Eleonore, 

Unb  ftefjft  btd)  jelber  an  unb  Iääjelft  toieber. 

2lu3  i^ren  3ügen  teuftet  bie  gmibe  an  ber 
arfabifdjen  £radjt,  bie  getoiB  bie  fleine  unb 
jietlid&e  ©räftn  feljr  I)übf$  f  leibet: 


876]  Seonote  Gtaitbitafe.  487 

3a,  meine  Sffirftin,  mit  Vergnügen  W  iä) 
ttn«  beibe  Ijier  fo  länbliä)  au8gefä)raficf  t.  * 

2Bir  $aben  fdjon  gehört,  tote  fie  bcn  3)idjter 
be§  SBaterlanbeS  unb  ber  jfingften  SSergangenljeit, 
t^n,  „beffen  ©djerje  nie  fcerblüljen",  befränjt  unb 
bem  be8  3lltertl)um8  fcorjieljt;  mit  toeld&em  6nt- 
jüdfen  fie  bie  ßanbfd&aft  in  ber  Kälje  unb  Qferne 
betrautet  unb  fd)tlbert,  toeldje  33etounberung  fie 
bor  bem  Ijoljen  ©eift  ber  5ßrinjeffin  Ijegt,  unb  rote 
tljr  fjferrara  toeit  beffer  gefällt  als  Qflorenj.  @o 
oft  Ijat  fie  fidj  ftingcfcftnt,  nun  ift  fie  ba!  SDte 
©egentoart  ift  Ujr  ftetS  bie  mäd^ttgftc  ©öttin. 
®ie  gürftenftabt  ift  i^r  lieber  als  bie  SSolfSftabt; 
finb  bodj  bie  Soften  toeit  berühmter  als  baS  2Jolf , 
fie  fjaben  Kamen,  baS  JBolf  Ijat  leine: 

3Jlir  Hang  als  Ätnb 
2>er  üRame  §etcule8  bon  gfte  fdjon, 
6d)on  §iW>otyt  bon  ©fte  oott  in'8  £fjr. 

3lber  bie  Ijödjften  Kamen,  bie  toaljrljaft  großen 
unb  untoergftnglidjen  finb  biejenigen,  toeldje  audj 
toom  JBolle  genannt  unb  gepriefen,  öon  ben  dürften 
bejdjirmt  unb  geehrt  toerben:  baS  finb  bie  großen 
3Jten|djen,  in  benen  ber  ©eniuS  fidj  perfonificirt 


i  I.  1.  ».  1—2,  5—6.    Sögt,  oben  XIII.  2.  ©.  234. 

28* 


42*  fedtcft  Xdtflwrtü  £aff ft.  [27« 

unb  ine  in  iljren  SBerfen  fortleben,  bie  unfterb? 
liefen  2Renfd>en.  $ux  SSerljerrKdjung  unb  fjfort* 
bauet  be3  eigenen  Samens  giebt  e3  feinen  beffern 
SBeg,  als  an  bem  ßeben  biefer  tlnfterblid)en  fo  triet 
9ntljeil  gu  gewinnen ,  bafc  man  mit  iljnen  fort- 
lebt. Sarum  finbet  e3  ßeonore  bortljeiQaft,  ben 
©entuS  ju  betoirtyen: 

Stalten  nennt  leinen  arofcen  Tanten, 
3)en  biefeS  §aui  nid)t  feinen  ©aft  genannt. 
Unb  e*  ift  Dort&eiltjaft  ben  ©entn* 
Setoirtljen. « 

Senn  eines  ber  SBorte  ßeonorenS  tyr  2Baljl= 
fprud&  fein  fottte,  fo  tofirbe  id&  biefeS  nennen! 

®er  Ijödjfte  baterlänbifdje  3)idjter  ber  @egen- 
toart  ift  SCaffo,  beffen  J>erfönlid)e  9läfy  bie  junge 
©räftn  beglfidft.  £ier  Ijat  fie  einen  foldjen  ©eniuS 
t)or  2lugen,  an  bem  fie  SCfjeil  ljaben,  ben  fie  audj 
iljrerfeitä  fo  gern  bettrirtljen  modjte.  @ie  betrautet 
ben  ttmnberbaren  SDtann  tote  bie  ©rfdjeinung  be§ 
©eniuä  ber  *Poejie  felbft:  fein  ©inn  ift  offen  für 
bie  Harmonie  ber  2Belt,  er  Ijat  bie  3Äadjt  gu  Der- 
einigen unb  gu  beleben,  bie  ©etoalt  gu  erljöljen 
unb  gu  erniebrigen: 


1  »gl.  oben  XL  2.  6.  198—202. 


277]  ßeonore  ffonüttale,  429 

3$  ef)te  jeben  üötann  unb  fein  löerbienft 
Unb  id)  (in  gegen  £affo  nur  geregt, 
©ein  Buge  weilt  auf  biefet  (Erbe  faum; 
Sein  Oljr  öernimmt  ben  Gtnflang  ber  SRatur; 
2Ba8  bie  @efd)id)te  Tetdjt,  bag  ßeben  giebt, 
©ein  JBufen  nimmt  e3  gleiä)  unb  toiflig  auf: 
$a8  toett  3crftreutc  fammelt  fein  ©emütlj, 
Unb  fein  ©efütji  belebt  bad  Unbelebte. 
Oft  abelt  et,  toa$  und  gemein  etfä)ien, 
Unb  bog  @efd)äfcte  wirb  bor  Hjm  gu  ni$t8. 
3n  biefem  eignen  3<*uberfreife  wanbelt 
S)er  rounberbare  üötann  unb  jieljt  und  an, 
3JUt  t$m  gu  toanbeln,  %ty\l  an  iljm  gu  nehmen. 

©eljnltd)  toünfdjt  ßeonore,  ba&  ber  toett-  unb 
tnenfdjenfdjeue  Steter  in  bem  iljr  eigenen  unb 
Vertrauten  Elemente  ber  großen  SBett  Ijeimifdj 
toerben  möge.  S)aljer  fttmmt  jie  bem  &erjog 
freubig  bei,  bafc  Stoterlanb  unb  SBelt  auf  £affo 
toirfen  muffe: 

©o  toirft  bu,  #err,  für  t§n  nod)  alles  tljun, 
SGÖie  bu  bisher  für  ifjn  fd)on  t-iel  getljan. 
@8  bübet  ein  Talent  fl$  in  ber  Stille, 
©iä)  ein  ßljarafter  in  bem  ©trom  ber  SBelt. 

3ttan  möge  btefeS  SBort  nid&t  als  eine  allge- 
meine ©entenj  nehmen,  es  fommt  aus  bem  SJtunbe 
einer  Qxavi,  toeldje    „bie  SBelt  l>at"  unb  f)ter  in 


480  ®oc$et  Xoi<faatü  Xoffo.  [878 

iljrer  eigenften  ©adfje  rebet.  2Bie  gang  anberS 
bcnft  bie  ?ßrtn  jeffin,  fte  fogt  au  SEaffo: 

SBegnüge  bidj,  au«  einem  fteinen  Staate, 
3>er  bi$  beft&fifct,  beut  toilben  Sauf  bei  2öelt, 
SBie  öon  bem  Ufer,  ruljtg  guaufefjen. 

» 

©te  rebct  aud)  in  iljrer  eigenflen  ©ad&e. 

Seadtfen  toir  tooljl,  tote  toerfd&ieben  unb  djaraf* 
teriflifd)  bie  ©lütftDünfd&e  finb,  bic  ber  lorbeet* 
befrftnjte  2)id)ter  empfängt.  ®ie  5ßrinjeffin  Ijat 
nur  feine  SCljat,  fein  JBerbienft  bor  Slugen,  ba§ 
öoöenbete  SBerf: 

©eniefje  nun  beS  2öerf8,  baS  und  erfreut! 

Slfyfjonä  ben  Seifall,  aber  nur  ben  toertIjt>oflen, 
ben  £affo  errungen  Ijat  unb  ftdj  erhalten  möge: 

Erfreue  bid)  be8  Söeifatfg  jebeS  Guten! 

ßeonore  fieljt  in  bem  Ärange  ba8  erfte  3^i^en 
feines  2Beltrul)m§: 

£)eS  allgemeinen  SftuljmS  erfreue  bidj! 

S)iefer  Stuljm  ifi  bie  ©onne,  in  beren  2Jlittag8= 
l)öf)e  SEaffo  toanbeln  fott,  nur  öon  feinem  ßor&eer 
befd&attet : 

@3  fdjfifcet  biefcr  3toeig  bielraeljr  ba$  §QUpt 

$e8  9ttann8,  ber  in  ben  Ijei&en  Legionen 

3)e8  ShiljmS  au  ttanbeln  l)at,  unb  fü^It  bie  ©tirne. 


879]  ßeonore  ©anbliale.  481 

SBie  Staffo  in  bte  SBtjton  ©tyftumä  berfinft, 
too  bie  ^crocn,  bie  Poeten  ber  alten  3«t  feinem 
©eifte  borfd&toeben,  freut  ftd&  bte  ?Prinjeffin  tiefer 
gntjürfung,  bte  iljn  berflärt,  toäljrenb  ßeonore  iljm 
guruft: 

(Srtoaäy.  <£rtt>a<$e!  Sag  und  ntdjt  empftnben, 
3)a&  bu  bog  ©egenmärt'ge  gang  berfennft. 

©ie  fettft  ift  ftet3,  tote  e3  fid)  für  eine  grau 
ber  großen  SBelt  fd)idft,  Don  bem  SReije  ber  ©egen= 
toort  erfüllt,  fie  überläßt  ftd&  gern  bem  SBed&fet 
angenehmer  unb  intereffanter  (Sinbrütfe;  in  ber 
ßefcenbigf  eit ,  toomit  fie  biefelben  ergreift  unb  er= 
toibert,  offenbart  fid)  in  ber  anmutljigften  3orm 
i^r  DielgeftaltigeS  SBefen.  ßaum  ift  Slntonio 
erf d&ienen,  fo  ift  ßeonore  ganj  £%  für  feine 
(Srjä^lungen  öon  9tom,  für  bie  große  Sßelt,  bie 
er  f Gilbert: 

SBte  fcljnliä)  tt>finfä)t'  ia)  jene  äöelt  einmal 
9te$t  nalj  gu  feljn! 

©auj  anberS  empfinbet  bie  5ßrinjeffin  in  i^rer 
ftiöen  ßebenSart: 

2öa8  i$  befifce,  mag  i<&  gern  befragten, 
2)er  2öea)fel  unterhält,  bod)  nüfet  er  faum. 

SBenn  es  bie  grau  ber  großen  SBelt  fenn= 
jeidjnet,  baß  fie  bie  SBelt  Ijat,  b.  f).  ju  beljanbctn 


433  Otociftcf  Xotqüato  Zafio.  [280- 

toerfieljt,  unb  ba&  fte  jeben  in  feiner  Art  ju  neunten 
nnb  ftd&  anzueignen  toeijj,  fo  iß  ßeonore  ©antoitale, 
tote  fte  ©oetlje  und  bargefiettt,  unter  ben  bidjterifdjen 
©eflalten  toiefleid&t  ber  bofffommenfte  Qfrauentöaraf- 
ter  biefer  2trt.  SBie  ber  SHrtuofe  auf  feinem  3n- 
ftrutnent,  ftrielt  fie  gleid&fam  auf  ben  anbern 
©fjarafteren  unb  enttodft  iljnen  ben  SEon,  ben  fie 
toünfät.  3fljre  Sßirfungen  pnb  ntd&t  ofjne  33eredj= 
nung,  aber  baS  meifte  t^ut  bie  eingeljenbe  @e* 
fftffigleit  unb  ßlugfjeit  iljreS  SBefenS,  bie  3fdl>igs 
feit  aud&  tiefer  ©efüljle  unb  leidjtefier  iftad&em- 
ppnbung.  ©ie  Bringt  jeben  batyin,  too  fie  iljn 
fjaben  toiff;  fie  getoinnt  trot}  ber  größten  33er- 
fdjiebenartigfeit  iljrer  Naturen  baS  t>oHftc  S5er= 
trauen  ber  Sßringeffin,  unb  es  ift  bodj  fdjliefclid)  iljr 
alleiniges  SBerf,  bafj  S£affo  reifen  fofl,  baß  alle 
eS  gefäeljen  laffen  unb  baju  mitnrirfen,  toäljrenb 
alle,  ausgenommen  fie  felbft,  baS  ©egentljeil 
toflnfdjen  ober  begtoedfen,  toenn  audfj  aus  feljr  öer= 
fc^iebenen  Setoeggrünben.  Unb  loenn  ifjr  $lan 
am  @nbe  nid&t  gelingt,  fo  liegt  bon  iljrer  ©eite  bie 
©d&ulb  ober  ber  3?el)ler  barin,  ba&  fie  bie  Siebe 
gtoifdjen  Staffo  unb  ber  Sßringeffin  mitgufüf)len 
ober  nad&jucmpfinben  nid&t  fein,  nid&t  gefd&idft  unb 


281]  Statute  ©«mottete.  ^        488 

flug  genug  toar.  9ftd)t3  aber  ift  erflärlid)er,  bcnn 
biefe  Siebe  freujt  bie  irrige. 

2)iefen  Satt  ausgenommen,  ift  fie  bie  bcquemfte 
Sfreunbin,  bie  feinem  anberu  bie  Äreife  ftört  unb 
ba8  ©piel  berbirbt.  ©o  berieft  fie  auf  bem  beften 
fjfufce  mit  bem  ^ergog,  ber  gern  mit  iljr  fd&erjt, 
ttrie  fie  mit  iljm.  SBenn  nun  ber  ©d&ioarm  ge* 
fommen,  unb  in  bem  ©djatten  ber  Slbenbfüljle  bie 
Sßaare  lujitoanbetn  unb  fidj  gerfireuen,  barunter 
Sttp^onS  mit  feiner  unbe!annten  @<§önen ,  fo  tptrb 
unfere  ©räfin  „freunblid)  burdE)  bie  Ringer  feljen". 
©ie  toirb  fetyen  unb  tljun,  als  ob  fie  nidjt  fiefjt. 

ßeidEjt  unb  foielenb  gleitet  fie  in  ben  ©eforädjen 
öon  einem  SEljema  auf  ba3  anbere.  2Ba3  Ijaben 
toir  nidfot  atteS  in  toenigen  Minuten  t)on  iljr  ge* 
Ijört  unb  jtoar  mit  bem  toiBigften  Dljr :  ein  SBort 
ber  ©Jjmpatfjie  für  SIrioft,  bie  Beitreibung  ber 
ßanbfd&aft,  baS  ßob  ^erraraS  unb  feiner  dürften, 
bie  Sinpreifung  be§  ©eniuä,  bie  ©djilberung  SEaffoS 
unb  ber  jrfatomfdfjen  ßiebe,  bortrefflid&e  2Borte  über 
ben  SBertf)  ber  SBeltbitbung  u.  f.  to.  3tf)  meine 
immer,  bafj  *©oetf)e  an  biefe  italienifdfje  ©räftn 
gebaut  Ijat,  afä  er  bon  jener  tljüringifdfoen 
©räfin  fdjrieb:    „barauS  entfielt  eben  bie  fdfoöne 


484  ®oc$cS  Torquato  Xoffo.  [282 

2Mobte,  bte  fte  fotelt,  ba&  fte  nidjt  jeben  £on, 
fonbern  nur  bte  auSerioftljlten  berührt". 

3.  $ie  Siebe  gti  fcaffo. 

6«  ftnb  3Jtottoe  auSneljmenber  2lrt,  bte  ßeonoren 
gum  ©törenfrteb  toerben  laffen.  2ftanfo3  2affo 
Ijulbigt  in  feinen  ©ebid&ten  brei  ßeonoren,  um 
feine  ©efüf)le  für  bie  5ßrinjeffin  auSguforedjen  unb 
gu  verbergen,  ©uarinis  $affo  foielt  mit  einer 
®oM)elliebe,  beren  ©egenftanb  offenbar  bie  beiben 
ßeonoren  toaren.  2HIem  Slnfd&eine  nadj  tljat  ber 
toirllid&e  SEaffo  baffelbe.  2)er  ©oet^efd&e  tt?trb  öon 
beiben  ßeonoren  geliebt  unb  liebt  felbft  nur  bie 
^ringeffin.  ßeonorenS  ßiebe  gu  Xaffo  ift,  toie 
iljre  fjreunbföaft  mit  ber  *Pringeffin,  bie  <£rftnbung 
unfereS  2)i<§ter3. 

©djon  feit  lange  Ijat  ^errora  mit  feinen  ©röfjen 
einen  3<*uber  auf  unfere  ßeonore  ausgeübt;  getorifc 
Ijatte  fie  habet  nidfot  bloS  bie  Vergangenheit, 
bie  tarnen  £ercule3  unb  ^tppotyt  tum  @fte 
im  ©inn,  fonbern  borgüglidj  bie  ©egentoart  unb 
btö  leudjtenbe  ©eftirn  be8  jugenblidjen  2)id)terg, 
ba§  glängenb  emporgeftiegen  toar  unb  ftraljlte. 
®ie  fam  tooljl  fdjon  mit  bem  füllen  SBunfdj,  öon 
ifjm  geliebt  unb  Der^errlid&t  gu  »erben. 


288]  Stottere  ßatttritafe.  49* 

9hm  ift  biefer  SBunfd),  tote  e8  fdjeint  unb  tote 
fte  glaubt,  gut  §älfte  erfüllt,  toenn  audj  erft  gut 
Heineren.  3fn  StaffoS  ßtebern  toirb  ber  SRonte 
ßeonore  gefeiert,  er  begeidjnet  ben  ©egenftanb  feiner 
SBereljrung,  bie  Balb  als  Ijimmlifdje  Qfrau  in  lidjter 
©lorie  über  ben  SBolfen  fdjtoebt,  balb  als  irbifdje, 
bon  iljm  gefolgt,  burd)  SBatb  unb  S^ur  toanbelt. 
S)ie  Keine  gierlidje  ©räjxn  ift  Diel  gu  feljr  SBeltbame, 
als  baf$  iljr  bie  &immeföglorie  gu  ©efidjt  fielen 
foflte.  Unb  ba  „er  mit  mannigfaltigem  ©eift  ein 
eingig  JBilb  in  allen  feinen  Steinten  toerljerrlidjt", 
fo  ift  biefe  ßeonore  offenbar  nidjt  ber  ©egenftanb 
feiner  ßiebe. 

©ie  toeif$  ftdj  gu  tröften.  3)ie  ^Pringeffin  ift 
eS  audj  ntd&t.  2)iefer  ©egenftanb  ift  ein  $beal,  baS 
überhaupt  nidjt  in  ber  2Bir!lidjteit  lebt,  fonbern  nur 
in  ben  SLräumen  beS  Sinters.  Unb  feiner  ßiebe 
gu  ben  beiben  ßeonoren  fott  audj  bie  irrige  gu 
Staffo  gleiten: 

Un8  liebt  er  nidjt  —  Derzeit),  bafc  idj  es  jage! 
2lu8  allen  Sphären  trögt  er  toa§  er  liebt 
Huf  einen  Flamen  nieber,  ben  urir  führen, 
Unb  fein  ©efüljl  tbeilt  er  un$  mit;  nur  f djeinen 
$en  QJtann  gu  lieben,  unb  nur  lieben  nur 
ÜJltt  i(jm  baS  §ö<f|fte,  toaS  tuir  lieben  fönnen. 


498  QottM  Torquato  £affo.  [284 

@8  tp  ber  Bcflctflcrtc  Sluffdjjtimng  ber  ©eele 

ju   bcn   Ijöd&ften    ©egenfiftnben ,    ber  @ro$    aus 

«ßtatoS  ^olbcr  @d)ule",  bcr  ftcft  ttid&t,  tote  fonft, 

als  ein  bertoöljnteS  Äinb  geigt: 

@d  ift  ber  JJüngUng,  bcr  mit  $fo#en  ft<$ 
»ermatte,  ber  im  Slatij  ber  ©ötter  ©ifc 
Unb  Stimme  ijat. 

3)o  ber  jrtatonifd&e  @roS  in  ber  SQBcIt  beS 
©oetljcfdfjen  SLaffo  9Jiobe  ift,  fo  öertounbern  torir 
un§  nid&t,  bafc  bie  ©räfin  ßeonore  fo  geiftreidfj 
über  ifjn  ju  reben  toeife ;  fie  öerfteljt  es  toeit  beff  er, 
ityn  ju  f Silbern  als  ju  erleben,  baS  letztere  über* 
läfct  fie  ber  *Prinjefftn,  beren  gangeS  SBefen  in 
jener  Siebe  befielt,  bie  mit  Sßftydjen  fid&  Dermalste. 
6ie  Ijält  eS  für  bie  glüdflid&fie  ®aht  ber  fjreunbtn, 
bafj  biefe  bie  ©efdjenfe  beS  ©eniuS  fo  lebhaft  gu 
füllen  unb  gu  greifen  toermag:  ,,©ar  oft  beneib' 
i$  bi<$  um  biefeS  ©lud". 

Unfere  ©räfin  behält  ben  irbifdfoen  Slaffo  gern 
im  Sluge;  fte  l)at  iljn  fd&on  öon  fern  beobachtet 
unb  tDetfc  bem  §ergog,  ber  nadfo  itym  fragt,  beffere 
3luSfunfi  als  bie  5j}rinjeffin  gu  geben: 

3<$  fafj  ifnt  Ijeut  bon  fern,  er  §ielt  ein  S3ud) 
Unb  eine  Safcl,  fcfjrieb  unb  ging  unb  fd^rieb. 

S)iefen  SBorten  gemäfc  pflegen  toir  uns  ben  ©oetlje= 


285]  Seonore  ©ottbitatc  437 

fd&eu   SEaffo   unter  ben  immer   grünen  Säumen 
t)on  Setriguarbo  toanbelnb  t)orjuftetten. 

•Jlad)  bem  Streit  jimfd&en  Antonio  unb  SEaffo, 
ber  ju  einer  Seftrafung  be3  lederen  geführt  Ijat, 
erfdfoeinen  ßeonoren  bie  gcfcHtgen  3ufiänbe  in  33et= 
riguarbo  fo  erföüttert,  bafj  nadj  ben  Siegeln  ber 
SBelt  eine  jeittoeilige  (Entfernung  SCaffoS  notf)* 
toenbig  fei.  Sefct  !ann  fie  iljre  Slbreife  mit  ber 
feinigen  fcerbinben,  ifjn  mit  fidj  nehmen  unb  nun 
in  iljrem  £aufe  bem  ©eninS  bie  ©aftgefd&enfe 
bieten,  für  toeld^e  fie  bie  fd&öneren  unb  ertoünfdj* 
teften  jurüdempfängt.  3la§  bem  ©eft>rä<§e  mit 
ber  5prinäefftn,  bie  nur  mit  ber  fdjmerjtid&ften  @nt= 
fagung  in  bie  Trennung  toon  bem  tJreunbe  ge= 
toilligt  Ijat,  füljlt  ßeonore,  bafj  bie  Entfernung 
SEaffoS  nidjt  unt)ermeiblu§ ,  iljre  Slbfid&t,  ifjn  mit 
fidj  gu  nehmen,  nidjt  fo  ganj  reblidj,  unb  iljre 
ßiebe  gu  itjm  bodj  anberer  Slrt  ift,  afe  bie  un= 
eigennüijige  Segeifterung  für  bie  Sfbeale  be8  3)idj= 
terS.  @ie  Ijat  bie  Sefenntniffe  ber  5ßrinjeffin 
nidjt  gu  burdjbringen  bermodjt  unb  nimmt  nadj 
ifjrer  toeltlidjen  ©enfart  beren  9tefignation  aU 
eineg  ber  fdjmerjtidjen  Dpfer,  bie  fie  iljrer  fürft= 
liefen  Stellung  fdjulbe: 


488  0oct$cft  Xoxqnato  JEaffo.  [286 

2öie  jammert  mig  baS  eble,  fgöne  ^erj! 
8öelg  traurig  ßoo«,  ba*  tyrer  #o$eit  faßt! 
«4,  fle  uertiert!  —  unb  benffi  bu  gu  gewinnen? 
3ft'«  benn  fo  nötljig,  bafe  er  ftcr)  entfernt? 
Slagfi  bu  es  ndtyig,  um  atiein  für  big 
2>aS  §erg  unb  bie  Talente  au  befifcen, 
S)ie  bu  bisher  mit  einer  anbern  tfceüft, 
Unb  ungteig  tfjeüft?    3ft'ö  reblig  fo  *u  ljanbeln? 

ßiebfi  bu  Ujn? 

2BaS  iß  es  fonfi,  warum  bu  iljn  nigt  meljr 
(Entbehren  raagft?  2)u  barfft  eft  bir  gejieljn.  — 

3ft  ßaura  benn  allein  ber  9tame,  ber 
SBon  allen  garten  Sippen  Hingen  fott? 
Unb  Ijatte  nur  Sßetrarg  allein  baS  Siegt, 
Sie  uubefannte  ©göne  gu  bergöttern? 
2öo  ift  ein  3Jtann,  ber  meinem  gfreunbe  fid) 
SBergleigen  barf?    Söie  ifjn  bie  Söelt  bereit, 
©o  toirb  bie  Sftagtoelt  iljn  bereljrenb  nennen. 
2öte  Ijerrlig  ifl'S,  im  ©lange  biefeS  ßebeng 
3l)n  an  ber  ©eite  Ijaben!  fo  mit  iljm 
2)er  3ufunft  fid)  mit  leigtem  ©abritte  naljn! 
Sllgbann  oerraag  bie  3«*,  baS  Filter  nigt& 
2luf  big,  unb  nigts  ber  frege  9luf, 
$er  l)in  unb  Ijer  beg  Seif  all«  2Boge  treibt: 
S)aS,  mag  bergänglig  ift,  bewahrt  fein  Sieb.1 


>  in.  3.  8.  1914-21,  1925-27,  1937—1950.  »gl. 
oben  XL  3.  ©.  204.    XIV.  1.  ©. 


287]  ßeonore  ©antrttale.  409 

3n  biefen  SBorten  iljreS  ©etbftgef:präd&3  malt  ftdj 
ßeonore  ©antoitale!  ©eljt  alles  nad)  äßunfdf).  fo 
toirb  SEajfo  fie  Begleiten,  nadjbem  burd)  iljren  (Sin* 
flufc  bie  gcflörtcn  JBerljältniffe  geebnet  finb  unb 
bie  gefellige  Harmonie  ttrieber  auf  ba3  6efle  f)er= 
geftellt.  6r  fott  nid&t  berftimmt  unb  erbittert 
(Jferrara  berlaffen  unb  mit  itjr  flehen;  fie  ttrirb 
alles  aufbieten,  um  jenes  §irngeft>innft  be«  Slrg« 
tooljnS  unb  be8  fallen  23erbad&t3,  in  baS  er  ju 
eigener  Qual  ftdj  berfiridt  t  fjat,  iljm  ju  Benehmen : 

£tteS  totfl  id&  tfrtn, 
Um  es  entfttoei  au  teilen,  ba&  bu  frei 
2)en  frönen  3öeg  beS  ßefcens  toanbcln  tndgeft! 

2)o$  finb  alle  Sßerfudje,  iljn  ju  äberjeugen,  tote 
Berebt  unb  ridfjttg  aud&  iljre  3uft>rad&e  ift,  um= 
fonft  unb  muffen  e8  fein,  ba  fie  felbft  ben  ^aupt= 
grunb,  ber  feine  Jßorftellungen  berfälfd&t,  in  feine 
©eele  gelegt  Ijat.  3)afc  er  jum  SBeften  aller  gferrara 
gleid&  öerlaffen  möge,  ift  itjr  SRatf).  Saft  bie  *prin= 
gefjtn  in  feine  ßntfernung  toiCigt,  ift  iljr  SBer!. 
2)a&  er  in  bie  filage:  „aud&  fie!  aud&  fie!"  ausbricht, 
ift  iljre  ©d&ulb.    SBenn  fie  tljm  ietjt  borljält: 

Seiber  bid&tefl  bu 
3n  btefetn  JJfatt  ein  felteneS  ©etoefce, 
2)td&  felbft  au  frönten, 


440  goctlpft  Zonuato  Soff©.  [288 

fo  bergifct  fxe  ganj,  bafc  bei  Sinfdjlag  baju  toon 
iljrem  2Be6fhit)le  fommt.  2Bie  uritt  fic  ttod)  im 
©tanbe  fein,  biefeS  ©etoebe  gu  gerjtören? 

@ie  Ijat  ba3  SBertrauen  £affo5  nie  Bcfcffcn 
unb  ffifytt  aud&  tooljl,  ba§  eS  iljr  mangelt; 
fonfi  toürbe  fte  iljm  baffelbe  ntefet  abjufd>meid)eln 
fu$en  burd)  übertriebenes  unb  fatfdjeS  ßob.  2Kan 
fjöre  nur,  toie  fie,  if)n  gu  umgarnen,  ba«  3»ie* 
geforftd)  beginnt: 

2öa«  ift  begegnet?  ßieber  fcaffo,  ijat 

3)etn  (Eifer  bi<$,  bein  Ärgtooljn  fo  getrieben? 

Söie  ift'3  geffleljn?    Söir  alle  fiefyt  beftfirgt, 

Unb  beine  Sanftmut^  bein  gefällig  SDÖefcn, 

2)ein  fd)nefter  ©lief,  bein  richtiger  SDerftanb, 

ÜJUt  bem  bu  jebent  giebfi,  toad  iljm  gehört, 

S)ein  ©leid&mutl),  ber  erträgt,  toad  gu  ertragen 

®er  üble  batb,  ber  ©itle  feiten  lernt, 

2)ie  lluge  §errf#aft  über  3ung*  unb  Sippe  — 

3Jtein  teurer  Sfreunb,  fajt  gang  öerfenn'  i<$  bta). 

Unb  Iura  borljer  ^atte  im  3tt>iegcft)rädö  über 
2affo  iljr  STntonio  bie  3?rage  borgelegt: 

ftannft  bu  c§  leugnen,  bafc  im  Slugenbticf 
$er  ßeibenfdjaft,  bie  iljn  beljenb  ergreift, 
@r  auf  ben  Surften,  auf  bie  gffirftin  felbft, 
Auf  toen  eä  fei,  gu  fd&mäfjn,  gu  läftern  toagt? 
3»)ar  augenblidflt$  nur;  allein  genug, 


289]  ßeottote  ©anöttrlc  441 

S)er  ^lugenMicf  fomtnt  toiebet:  er  be§errfd)t 
©o  toenig.  feinen  3Runb  als  feine  Stuft. l 

ßeonore  mufcte  biefe  ffrage  fd&toeigenb  Bejahen,  unb 
jeijt  lobt  fie  SEaffo  ins  ©ejidfot  toegen  feines  ©Ictd^= 
mutljS,  feinet  ftugen  §errfdjaft  über  3ung'  unb  ßiw>e! 
@S  toar  eine  ettoaS  eigenliebige  ©elbfttäufdljung, 
toenn  Seonore  je  glauben  fonnte,  ba&  SEaffo  fie 
liebe.  3)iefe  fjrau  t>on  SBelt  ift  leine  x^xan  nad& 
feinem  bergen.  @r  Ijat  fe^r  ridjtig  burdjempfunben, 
bafj  fie  gefällig  fei,  um  gu  gefallen,  unb  ba&  ber 
liebenStoürbige  @inbrud£  iljreS  SBefenS  nidfot  oljne 
33ered&nung  ftattfinbe.  SBaS  S£affo  ber  Sßrin= 
gefftn  ertoibert,  als  fie  iljn  auf  ben  SSerfeljr  mit 
ßeonoren  Jjintoeift,  l)ätte  fie  lieber  beljergigen  als 
tabeln  foHen,  benn  er  Ijat  red)t: 

©o  liebenätofirbig  fte  erfdjeinen  fann, 
3d)  toeife  nidjt,  tote  es  ift,  fonnt'  id)  nur  feiten 
9Jlit  iljr  gang  offen  fein,  unb  toenn  fie  au$ 
$ie  2lbft$t  Ijat,  ben  Sfreunben  tooljläutljun, 
©o  ffiljlt  man  Slbfüljt,  unb  man  ift  oerftimmt.2 

@r  Ijat  fie  nie  geliebt  unb  nur  auf  ben  SBunfdj 
ber  ^ringeffin  nidfot  gemieben.    3fetjt  ift  fie  in  ber 


i  IV.  2.  SB.  2464-66. 

8  IV.  2.  ».  2241-50.    III.   4.   ».  2142-47.    »tf. 
oben  VIII.  7.  ©.  152. 

ßuno  giftet,  @ocÜjc*<3d&rlften.  29 


442  (BoetI)c3  fctaqnato  $affo.  [290 

8D6ftd)t  iljm  tooljljutljun  bte  Urljeberin  feiner  Quak 
Doflften  Suftärtbc  QCtootben :  btö  ©egentljetl  Don 
beut,  toas  fte  iljm  fein  tobflte-  ©te  töünfdjte  feine 
befte  3?reunbin  jü  toerben ,  jeijt  erfcfjeint  fie  i|m 
als  bie  fdjlimmfte  fteinbht.  9tn  bte  Stelle  beS 
bloßen  50Hfjtrauen£  tritt  ber  §a§.  3toar  Der= 
fennt  SEaffo  iljre  Setoeggrünbe  gftnjlid)  nnb  fdjtebt 
tfjr  bie  falfdjejten  unb  Derfeljrteften  unter,  inbem 
er  ioäljnt,  fie  toenbe  iljm  ben  Sftütfen,  ba  er  in 
ber  ©unft  beS  dürften  gefallen  fei,  fte  lomtne  ate 
ein  SBerfjeug  Antonios,  fie  lootte  iljn  bem 
neuen  £aufe  ber  SJiebiceer  jufüljren  unb  für  immer 
mit  bem  ber  @fie  entgtoeten.  ®ie3  alles  ift  SEäufdjung, 
aber  tljre  §anbtung§toeife  em^finbet  unb  Beurteilt 
er  richtig. 

S)iefe  Heine,  jiertidje,  toeltgetoanbte  ©räfin  Ijat 
Diet  Don  ber  @djtangenflugt)eit  unb  nichts  Don  ber 
Saubeneinfalt.  2Bir  tonnen  nidjt  nriberforedjen, 
toenn  S£affo  aus  eigener  ©rfaljrung  fagt: 

©tc  toär  ni$t  reblidj,  wenn  fie  nodj  fo  fetyr 
ÜJtir  iljre  ©unft,  mir  i^rc  3ättltd&fett 
3Jtit  fußen  Söorten  seigte!    Sftein,  fte  mar 
Unb  Bleibt  ein  liftig  ^erj. 

6ie  fdjlei<f)t  Ijeran  unb  atfdjt  mit  glatter  3unge, 


291]  Antonio  äRontecattno.  443 

3)ic  flehte  ©djlange,  sauBerif^e  %bm, 
2öic  liefclid)  festen  fiel    ßieblit^er  ati  je! 
.  SBie  tooljl  tljat  t>on  ber  Sippe  jebeg  SBort! 
$o$  fonnte  mit  bie  @$mei$elei  ntdjt  lange 
$en  falfdjen  ©inn  öerbexgen. l 

2Ba8  iljr  SJerfaljren  gegenüber  ber  ^ßrinjeffin 
unb  SEaffo  betrifft,  fo  ift  e3  toal)r,  bafc  fid)  biefe  fjrau 
ber  grofcen  2Belt  in  eine  Keine  ©Stange  bertoanbelt 
Ijat.  Sludj  mit  betn  liftigen  &erjen,  ber  ©<§meid)elei 
unb  $dfd)ljeit  fjat  e8  feine  öotte  3ti$tig!eit,  nur 
bie  ©eutung  iljrer  2tbftd)ten  mit  Sajfo,  toie  biefer 
fetbft  fie  auslegt,  ift  ganj  falfdfc.  3?ür  iljre  @<§ulb 
ift  fie  beftraft  genug,  benn  fie  erntet  ba§  ©egen= 
tljeil  Don  bem,  toag  fie  auf  iljrem  ©djlangettoege 
erreid&en  »ottte. 

XY.  Jttttottto  ^lottfecatino. 

1.  S)ie  »elanntföaft  mit  Saffo. 

2H3  torir  bie  ®efd)idjte  ber  ©oetljefd&en  SEaffo= 
bidjtung,  inSbefonbere  bie  Unterfdfoiebe  be§  alten 
unb  neuen  2Berf8  ju  unterfudjen  Ijatten,  blieb  eine 
ijfrage  unerörteri  unb  bem  gegenwärtigen  Slbfdjnitte 
auäbrüdlidj  vorbehalten:   fie  betraf  ba§  3ettöer= 


i  IL  1.  8.  965-69.  IV.  3.  ».  2493-96,  2510-14. 

29* 


444'  <Boetfje8  Sotquato  fcaffo.  [292 

Ijältnifc  bcr  33e!anntfd&aft  jtoifdjen  Slaffo  unb  2ln= 
tonio.  ©inb  Beibe  na<$  bcr  Strt,  tote  unfere  ©icfc 
tung  fie  jufammenfüljrt  unb  cinanber  Begegnen  läfct, 
alte  Sefannte  ober  neue?  SQStr  Ratten  batnafe 
einige  StuSforfld&e  angeführt,  bie  unbegrünbet  er= 
föeinen,  toenn  bie  Beiben  ÜDtänner  als  langjährige 
Selannte  unb  3?einbe  gelten.  Unmöglid)  lann  bie 
Sßrtngefftn  bann  bU  Hoffnung  Ijegen,  bafc  in 
Antonio,  biefetn  alten  Sreunbe  beS  fttrftlid&en  £aufe8, 
jetjt  aud)  bemSEaffo  ein  neuer  greunb  getoifc  fei.1 
5iun  aber  gieBt  e8 '  eine  Steige  t>on  (Stellen,  bie 
gerabeju  bie  entgegengefetjte  SSorauäfefcung  IjaBen 
unb  au3fored&en.  SBären  SEaffo  unb  Slntonio  nidfot 
fdijon  feit  lange  ©egner,  toie  fönnte  ßeonore  ju  ber 
Ißrin jeffin  fagen:  ■» 

3toci  3Jtänner  fmb'$,  \$  fjaV  eS  long  oeM 
2)ie  barum  fjcinbe  finb,  toeil  bie  SJlahtr 
9tt$t  <£inen  Sttamt  aus  tljnen  beiben  formte.1 

<$btn  fo  toenig  loürbe  Slntonio  ju  ßeonore  fagen: 
,,3Sd)  lenn'  iljn  lang,  er  ift  fo  leid)t  ju  lennen" 
u.  f.  tt).  Sludj  toürbe  SEaffo  fidj  felBft  toegen  feines 
offenen  Söene^menS  gegen  Slntonio  ni<§t  mit  fol= 
tjenben  SBorten  tabeln: 


1  SBßl.  oben  V.  1.  6.  48-52. 


293]  Antonio  SWotttecattno.  US 

€),  Ijatt'  i<$  bo<$  fo  ftug  mir  ausgebaut, 
SOÖie  id)  ben  Ottamt  empfangen  wollte,  ber 
SBon  alten  QtiUn  mir  berbä<$tig  war. 

@r  löttntc  in  bcm  n&djftfotgenben  3totegeft>rädj  mit 
ßeottore  nidjt  t>on  Antonio  fagctt : 

Serbrie&liä}  fiel  mir  ftetS  bie  fteife  Älugljeit, 
Unb  ba&  er  immer  nur  ben  ütteifter  fpielt. 

Unb  ßeottore  föttttte,  ben  Antonio  in  ©djul}  neljmenb, 
unmögüd)  ertoibern: 

(Er  fpri$t  mit  &<$tung  oft  genug  bon  bir, 

üttöd&teft  bu,  mein  fjreunb, 

Vernommen  Ijaben,  wie  er  fonft  t>on  bir 
Unb  bem  latente  fprad),  ba3  bir  bor  Dielen 
2)ie  gütige  ÜRatur  öexlic^. 

@agt  bodj  Staffo  fetbfi  gu  Stntonio,  ber  iljm  t>om 
§ergog  bie  ©xlaitbrnfj  gut  Steife  nadj  9tom  ertoirfen 
fott: 

S)od)  r>cöft  bu  einen  alten  ©rott  im  ©ufen, 
SBiUft  bu  Don  biefem  §ofe  mi$  verbannen, 
SOßtUft  bu  auf  ewig  mein  ©efd&idt  berfeljren, 
3Jlicr)  IjfilfloS  in  bie  weite  SDßcIt  vertreiben: 
©o  bleib'  auf  beinern  ©inn  unb  toiberftet)'! 

S)ieS  ift  ber  Antonio,  toie  ber  toirftidje  2affo  Ujn 
bor  Slugen  gehabt  unb  in  feinen  ^Briefen  gcfdjilbert 
fjat!  ßaffen  toir  aud)  nidjt  unbeachtet,  bafe  Antonio 
in  feiner  legten  Unterrebung  mit  bem  &ergog  ben 


446  (SoetfK»  Zoxqaato  Saffo.  [294 

SEaffo  als  ^Patienten  nad)  beut  ßeben  fdjilbert  unb 
bie  Senterlung  toorauSf djieft : 

2öie  bitter  utib  tote  tf)ört*t  $ab'  i<$  t$n 
9li$t  oft  mit  feinem  Strjte  testen  fe^n! 

toorauf  Sltpljong  tädjelnb  erttribert:  „3$  ^ab'  e8 
oft  gehört  unb  oft  entfd&ulbigt".  * 

SBaS  betnnad?  bie  x$xa$t  nad)  bem  3eitt>erljältni§ 
ber  JBelanntfdjaft  jtoifdjen  Staffo  unb  Antonio  be* 
trifft,  fo  finben  toir  in  unferer  Sttdjtung  einen 
tnerftottrbigen  äßiberftreit  ber  Slngaben.  iftad) 
einigen  ©teilen  erföeint  biefe  33ef  anntfdjaft  als  eine 
neue,  bte  totr  entfielen  unb  afäbalb  burd)  bie  ©<$utb 
Antonios  in  f  einbfettge  Spannung  geraden  f  eljen ; 
nadj  einer  Steige  anberer  ©teilen  gilt  fte  als  eine 
feit  Starren  befteljenbe  (Jeinbf^aft. 

2)ie  ©adje  fielet  äljnlid),  loenn  bie  ©auer  ber 
33elanntfd)aft  jtoifdjen  Antonio  unb  ßeonoren  in 
tJfrage  fotnmt.  SRadö  ber  Situation  ju  urteilen, 
tooraus  ©oetlje  feine  £anblung  Verborgenen  Iftfct, 
ift  bie  33elanntfdjaft  neu  unb  entfielt  bor  unferen 
Slugen.    Antonio  ift  lange  entfernt  getoefen  unb 


*  2>ßl.  m.  2.  ».  1720-22,  HI.  4.  ».  2117—39, 
IV.  1.  ».  2209-11,  IV.  2.  SB.  2306,  2313—16,  IV.  4. 
».  2723-27,  V.  1.  ».  2884—2917. 


296]  Antonio  äDtontecattno.  447 

f  eljrt  jurütf ,  als  ßeonore,  bic  fidj  gutn  crftcntnalc 
in  Sferrara  aufgehalten,  fd)eiben  fotf: 

Sluä)  id)  begrübe  biä),  toenri  iä)  fdjon  jürne, 
S)u  fommft  nur  eben,  ba  i$  reifen  mufe. 

€tyäter  folgen  eine  Sfteilje  toon  ©teilen,  aus  benen 
unjtoetbeutig  erhellt,  bafc  beibe  fett  längerer  3*tt 
6elannt  unb  befreunbet  ftnb. 

S)te  toiberfireitenben  Slngaben  laufen  nidjt  burd) 
einanber,  fonbern  bertljetlen  ftdj  in  bem  ©ange 
ber  ©idjtung  fo,  bafc  SEaffo  unb  Antonio  in  ben 
beiben  erften  Slcten  als  neue  S3e!annte  erfreuten, 
bagegen  in  ben  brei  letjten  gfeinbe  fcon  alten  3*iteu 
finb.  Unfere  öefer  mögen  fi<$  erinnern,  bafc  bie 
alte  S£affobidjtung  nur  in  bzn  beiben  erften  Slcten 
beftanb,  beren  SCejt  uns  nidjt  erhalten  ifi,  unb  bereu 
Umbilbung  in  bie  neue  SCaffobidjtung  bie  @in= 
fütjrung  beS  Antonio  jur  toef  entließen  Sluf  gäbe  Ijatte. l 


1  Um  meine  ©äfee  untoiberft>red)lt<$  au  faflen,  fo  be* 
§auj>te  iä):  1.  bafc  in  ben  beiben  erfien  bieten  leine  auf 
ba&  SöertyaltniS  atoifdjen  Saffo  unb  Antonio  beafigliä)e 
©teile  fid)  ftnbe,  aus  ioeld&er  einlenkten  fönnte,  bafc  fie 
Söefannte  unb  ©eaner  bon  alten  3eiten  finb;  2.  bafc  ba» 
gegen  in  ben  brei  festen  Slcten  feine  auf  btefcö  #erl)ältm& 
beaügüd&e  ©teile  ft<$  finbe,  au£  tocl^er  ifjre  alte  Gegner« 
fdjaft  nid)t  fogleiä)  einleitete. 


448  ®oet$t8  Torquato  fcaffo.  [296 

Slud)  tft  jener  SBiberftreit  ber  Stngaben  feine§= 
toeg8  jufättig,  fonbern  in  ber  ©idjtung  felbji  be= 
grünbet  unb  ber  STuSbrud  toiberftreitenber  ©itua* 
tionen,  bie  mit  bem  ©ange  ber  £anblung  notf)* 
toenbig  toerfnilpft  finb.  Antonio  fott  nadj  einer 
langen  2lbtoefenl)eit  in  ©taatägef djäften  bei  feiner 
Sftüdtteljr  bon  9tom  ben  3)idjter4>e3  befreiten  3feru= 
fclemä  in  ber  Stütze  fürfilid&er  ©unft  al§  einen 
Steultng  toorfinben,  ben  er  nidjt  ober  !aum  gefannt 
fjat :  baf)er  bie  SBorauSfetjung  ober  ber  Stnfdjein 
ber  neuen  SBcfanntfdjaft.  3ugteid)  tooflte  unfcre 
®id)tung,  als  e§  fid)  um  ifjre  Umgeftaltung  unb 
Stottenbung  Ijanbelte,  ben  ©egenfai}  jtmfdjen  SCaffo 
unb  Antonio  tyjnfdj  ausprägen ,  toa3  unmögüd) 
gefdjeljen  fonnte,  tt)enn  bie  S3e!anntftfiaft  beiber  nur 
nadj  ©tunben  jäljlte:  baljer  bte  SBorauSfe^ung  einer 
alten  unb  eingettmrjelten  ©egncrfd&aft,  ttrie  jte  aud) 
in  2Btrftid)feit  beftanbeu  Ijat. 

6inen  folgen  ju  ben  ©runblagen  einer  &anblung 
gehörigen  SBiberftreit  fonnte  man  treffenb  eine  bra* 
matifdje  Slntinomie  nennen.  2)er  gegebene  Satt 
ift  nidjt  ber  einzige  fetner  9lrt.  ^reili^  ift  e3  unbenl* 
bar,  bafy  ein  bramatifdjer  3)idjter  ben  Sßlan  feines 
SBerfeS  bon  frornljerein  fo  anlegt,  bafc  Situationen, 


297]  Antonio  SWontecatino.  449 

burdj  toeldje  <£!jara!tere  unb  &anbtungen  Bebingt  ftnb, 
einattbcr  »iberfireiten  unb  fid&  tocd&felfcttig  gu  nickte 
madjen.  SBenn  baljer  foldje  Antinomien,  tote  bte  ge= 
nannte, in  bie  ©ompofttion  eines  bramatifdjen  SBerfS 
einbringen,  fo  barf  man  fidjer  fein,  ba§  ftd)  ber  $pian 
beffelben  im  ßaufe  ber  gu  langfam  unb  gu  unter* 
Broten  fortfdjreitenben  2)idjtung  beränbert  Ijat. 
SSJlit  bem  3)id)ter  änberte  fidj  fein  393er!.  @o  toer= 
ljielt  e§  fi<%  mit  ©djifferS  3)on  ßarloS  unb  mit 
©oetl)eS  Sföuft;  eBenfo  berljält  es  ftd&  au<§  mit 
feinem  SCaffo. * 


1  @$ifler8  Aartod  bietet  ein  feljr  merftoürbiges  93ci» 
foiel  einer  bramattf$en  Antinomie.  Söenn  Kariös  einen 
SBrief  ber  Königin  Ijat  unb  iljre  #anbfdjrift  fennt,  fo  ift 
bie  -erfte  Scene  att>ifdjen  iljm  unb  ber  (Sboli  umnöglidj, 
aus  ttefdger  eine  Steige  oon  ©cenen  Verborgenen,  bte  gu  ber 
ttnterrebung  stotföen  bem  Könige  unb  $ofa  führen,  äöemt 
KarloS  einen  folgen  ©rief  nict)  t  Ijat,  fo  brauet  er  nichts 
für  bte  Königin  &u  fürdfjten,  toenn  er  aud)  fein  $ortefeuitte 
in  ber  #anb  beS  Könige  toeiß,  fo  fällt  ber  SBetoeggrunb 
toeg,  aus  toeldjem  bie  jtoeite  6cenc  3tr>tfcr)en  it)m  unb  ber 
(Sboli  folgt  unb  $ofad  (üntfdjluß  ft$  gu  opfern. 

3n  ©oetljeS  Sfauft  befielt  atoifd&en  ber  alten  unb 
neuen  SKdjtung  ebenfalls  eine  bramatifdje  Antinomie  in 
Slnfeljung  fotooljt  beS  üflepljiftopljeleS  als  beS  Sauft,  bie 
fogtetd)  gu  Sage  tritt,  toenn  ber  attepbiftopljeles,  toie  er 
in  ber  Scene  „trüber  Sag,  Qfelb"  auftritt  ober  no$  im 
ÜUtonoIog  „äöalb  unb  #öf)le*  erfd&eint,  mit  bem  beS  Prologs 


460  ®oei$e8  Torquato  fcaffo.  [298 

SBtr  toiffcn  aus  ber  @efd)tdjte  biefeS  SBerfö,  bafc 
fett  bcn  Stnfftngen  bejfelben  jefjn  3faljre  Vergingen, 
betoor  es  tooüenbei  trmrbe,  unb  bafc  ein  SStertctja^r 
bor  feiner  SBoHenbung  bie  crftc  ©cene,  toorin  3tn* 
ionio  erf feinen  foßte,  nodj  nid^t  getrieben  toar. 

2.    S)er  ©egenfafc  au  £affo. 

S)ie  ©egner,  bie  in  ^errara  »iber  Staffo  auf= 
getreten  ftnb,    Ijat  ©oetlje  in  bie  Sßerfon  feines 


öergliä)en  toirb,  unb  ber  Sfauft  ber  @retä)entragöbie  mit 
beut  ber  SQöette. 

SDÖer  ©oetfjeS  Xaffo  aufmerffam  unb  prüfenb  lieft, 
toirb  tu  beut  Söerf  e  felbft,  ganj  abgefeljen  öon  fetner  ©nt* 
ftel)ung8gefä)iä)te,  bie  3*i$en  eines  beränberten  $IanS 
finben  unb  namentlich  aus  ber  ben  Antonio  betreffenben 
Antinomie  erf  ernten,  baß  biefer  <£!jarafter  nod)  niä)t  in 
bent  $lan  unb  ber  Ausführung  ber  ätteften  Xaffobtdjtung 
enthalten  fein  fonnte. 

3ä)  nritt  einem  ©intourf  begegnen ,  ber  auf  ©runb 
einer  Sleufjerung  @oetf)e8,  bie  Leiermann  Berietet 
(18. Styrit  1827),  gemaä)t  toerben  tonnte.  ®er  2)iä)ter  bürfe 
getroft  äöiberft>ruä)e  brausen,  bie  feinen  Äbftdjten  bienen. 
©o  laffe  ©Ijafefpeare  im  3Jtacbetlj  ben  Uttacbuff  fagen: 
„@r  fjat  feine  Äinber",  toäljrenb  bo$  ßabi)  TOacbct^ 
iljrer  Äinber  gebenfe.  #ier  ift  fein  unentrinnbarer  SBiber« 
fprua).  Söenn  bie  Äinber  nid&t  meljr  am  ßeben  ftnb, 
Ijaben  beibe  reä)t.  3ttit  ben  bramatif$en  Söirfungen  bura) 
uriberftreitenbe  Situationen  fteljt  es  mifjliä).  Sobalb  ber 
äöiberfireit  erfanut  ift,  Ijört  bie  ©adje  auf,  fcorftettbar  &u 
fein,  unb  bas  Untoorfteflbare  ma$t  feinen  Effect. 


299]  Antonio  Stomtecattao.  461 

Slntonio  gleidjfam  jufammengejogen  unb  in  iljr 
bereinigt,  fo  bafj  biefelfie  nad&  ben  3ügen,  toorauS 
fie  Befielt,  als  ein  bidjterifdjeS  ©ammetprobuct 
erfdjeint.  3)iefer  Slntonio  ift  nidjt  bloS  er  felbft, 
fonbern  $at  3üge  übertragener  Slrt,  bie  t)on  $igna, 
©uarini  unb  jenem  falfdjen  Sfreunbe  entlehnt  finb, 
an  bem  SEaffo  SBerratlj  unb  Söeteibigung  ju  rädjen 
Ijatte;  audj  ber  3)iener,  gegen  ben  er  im  *Palaft 
ben  3)old)  jüdEte,  Ijat  einen  ttridjtigen  33eitrag 
liefern  muffen,  ba  in  biefer  SluSfdjreitung  baS 
SSergeljen  beftanb,  toofür  Staffo  mit  3tmmcr^aft 
beftraft  trmrbe.1 

Unter  ben  übertragenen  3ügen  finben  ttrir 
foldje,  bie  ©oetlje  mit  bem  SQBefen  feines  Slntonio 
nidjt  ju  toerfdjmeljen  gettmfet  l)at.  Stdj  nenne  als 
JÖeifoiel  bie  ©teile,  toorin  SEaffo  ßeonoren  gegenüber 
barauf  bringt,  ba$  Slntonio  t(jm  aud)  fein  ©td&ter* 
talent  mißgönne: 

@r  gönnt  es  mir?    @r,  ber  mit  fteifem  ©mite 
2)ie  @unft  ber  SJlufen  gu  ertrofcen  glaubt? 
$er,  toenn  er  bie  ©ebanfen  mattier  SJidjter 
3ufammenreüjt,  ft$  felbft  ein  S)i$ter  fd&cint? 


1  »gl.  oben  VII.  6.  120-123. 


462  ttoctftci  Toxqnato  Xafio.  [300 

SBeber  bei  Ijiftorif  dje  nod)  ber  ©oetijefdje  Antonio 
red^tfertigen  im  minbefien  biefen  3ug,  ber  iljn  afe 
Dilettanten  in  bet  ®id)tfunfi  erföeinen  lagt.  2BoIjl 
aber  tft  Saffod  SBortimrf  treffenb,  fobalb  er  auf 
$igna  bejogen  toirb.  3lud)  bie  2Borte  „6r  rütymt 
fid)  jtoeter  flammen"  u.  f.  f.  maren  in  bem 
©onnette  ©uarinis  toiber  Staffo  toeit  beffer  an 
ityrem  Ort  als  in  bem  üDtunbe  unfereä  Antonio, 
ba  fid&  bodj  bem  ©oetljefdjen  £affo  toeber  nadj= 
fagen  110$  jumutljen  läßt,  baß  er  fief)  ber  beiben 
flammen  rfiljme. 

Strofc  biefen  gufammengelefenen  unb  übertragenen, 
tljetltoeife  ntd&t  red)t  angepaßten  3ügen  ift  e§  bem 
SDidjter  nmnberbar  gelungen,  in  feinem  Stotonio 
einen  (Sljarafter  ju  f Raffen,  ber  im  ©anjen  ben 
(Sinbrucf  madjt,  als  ob  er  aus  einem  ©tüd  märe, 
©oetlje  tooflte  in  biefem  ©egner  2affo3  jugleid) 
ben  Sttjpuö  ber  bem  bidjterifdien  ©enietoefen  afc 
Ijolben  unb  nriberftreitenben  ©emütt)§art  barfteffen, 
gleid)fam  in  plafttfdjer  fjorm,  b.  Ij.  in  aller  5Be= 
ftimmt^eit  unb  ©djärfc.  3)a!jer  mußte  fein  Slntonio 
für  baß  bitf)terifdje  ©enie  in  feinen  9Irten  unb 
Unarten  einen  fe^r  fetten,  feineötoegS  aber  böfen 
Sßltcf  Ijaben,   er   burfte  gegen   ben   Sinter   als 


301J  Antonio  SRontoattao.  453 

folgen  leine  fcerberblidjen  ©efinnungen  Ijegen,  bie 
audj  mit  bem  XtymS  beS  ©egenfatjeS  in  feinet 
menfdtfidjen  Segrünbijng  unb  Seredjtigung  um 
t)ertxägltd&  fein  toürben. 

3fn  ber  SBelt  beS  ©oeHjefdjen  SEaffo,  in  ber 
©efettfd&aft  t>on  SSetriguarbo  giebt  e§  niemanb,  ber 
ben  ©idjter  um  feiner  «Sunft  toitten  anfeinben  ober 
audj  nur  bem  @inf(uffe  ber  legieren  fiel)  toerfdjliefcen 
lönnte.  SBie  foHte  e3  Stntonio  tljun,  ju  bem  ber 
&erjog  fagt: 

Unb  toer  ber  2)i<$tfunft  ©timme  nid&t  bernimmt, 
3fi  cm  Sarfcar,  er  fei  au$,  toer  er  fei. 

(Sin  foldjer  83arbar  ift  unfer  Slntonio  !eine3= 
tt>eg§;  er  ift  toielmeljr  barauf  angelegt,  bafc  er  ftdj 
guletft  einer  tooljltljuenben  Bereinigung  mit  £affo 
juneigt  3)er  SBeg,  ben  biefer  ©Ijarafter  burdj* 
läuft,  t)on  bem  abftofcenben  SBiberlotttcn  gegen 
ba3,  tote  itjm  fdjeint,  Dom  ©d&icffal  t>ertt>oljnte, 
ungeberbige,  feinen  ßaunen  Eingegebene  ©enie  Bis 
ju  ber  21u§följnung  mit  bem  t>om  ©djitffal  nieber= 
gefdjmetterten,  feiner  ©djulb  betoufcten,  ftdj  juletjt 
ermannenben  unb  Probeflügen  Siebter:  btefeS 
©eelengemälbe  ift  e§,  bag  uns  ©oetlje  in  feinem 
STntonto  entmidelt.    @r  beginnt  aU  SaffoS  fjeinb 


464  •oetyeft  fcoiquato  Xafio.  [902 

unb  enbei  afe  fein  2Äentor,  nadjbem  Jener  feine 
Saljn  burd&laufeu  Ijat  Don  bem  9Äomente,  n>o  bie 
?Prinjeffin  iljm  ben  ßorbeer  reid&t,  big  ju  bem,  too 
fie  ifjti  Don  fid)  ftö&t:  Don  ber  £ölje  unb  ßrafi= 
fülle  be8  ©enteö  bis  ju  ber  SlntoanMung  be8 
SBaljnfinnS. 

3Jlan  fotfte  bie  ©egenfdfce  ©oetljefdjer  ©fjaraf- 
tere  nidjt  immer  unter  ben  ©eneralnenner  beS 
„SbealtSmuS  unb  3teali3mu8"  bringen  unb  nun 
gontrafte,  toie  Sauft  unb  2tte:p$iftotf) ele$ ,  SEaffo 
unb  Antonio  einanber  coorbiniren,  als  ob  in 
Slntonio  eine  Slber  Dom  3Ke})!)ifto  toäre.  3<$  er- 
innere mid},  einen  berühmten  ©djauftueter  gefeljen 
31t  Ijaben,  ber  Don  feinem  SRep^ifto  ettoaS  in  feinen 
Slntonio  mitbradjte  unb  ben  Saffo  anblicfte,  afe 
ob  er  bie  ®abt  be3  Sftalocdjio  befä&e.  3Jtan  barf 
nidjt  einmal  mit  ©oetye  felbft  fagen,  bafc  er  „bem 
SEaffo  als  profaifd&cn  ©ontraft  ben  Antonio  ent= 
gegengeftetft  ljabe".  SBöre  biefer  gleidjfam  bie 
Derförperte  5ßrofa,  fo  toürbe  er  Don  Slrioft  nidjt 
„tote  ein  SBerjüdter"  reben,  fo  bafy  bie  5ßrinjeffin, 
baoon  ergriffen,  ju  ifym  fagt: 

SDßex  ein  Serbtenft  fo  tooljl  au  fääfcen  toeife, 
$er  toirb  baä  anbre  nidjt  b  erlernten.    2)u 


803]  Antonio  SRottttcatliio.  455 

©ottft  uns  bereinfl  aus  £affo8  Siebern  seigen, 
2öaS  nur  gefüllt  unb  toa8  nur  bu  erfennfi.1 

Unter  hen  toenigen  SBorteri,  toeldje  ßeonore 
t>on  Sfte  an  ben  SIntonio  ridjtet,  ift  biefeä  ba§ 
toärmfte.  @S  fei  her  ßljarafterijlif  ber  ^rinjef fin 
Ijinjugefügt,  bamit  bicfcr  3ug  ja  nidjt  unBeadjtet 
Bleibe :  bafc  e8  2tntonio3  SBegcificrung  für  einen 
©idjter  ift ,  bie  ifpc  £erj  erfreut  unb  Jenes  SBort 
Ijerbortuft. 

Antonios  ©ontraft  totber  SEaffo  gilt  titelt  bem 
ibeal  gefinnten  Äünftter,  fonbern  bem  gudjttofen, 
fcom  SeBen  felBft  nodj  ungefd&ulten  unb  un= 
erprobten  ©enie,  bem  nodj  im  ©türm  unb  3)rang 
Begriffenen  SDid&ier,  ber  bie  *ßoefie  in  Sßirflidjfeit 
bertoanbeln  motzte.  Sßenn.Ooetljeg  £affo  in  ettoaS 
ben  iugenbtid&en  ©tolBergS  DergletdjBar  toäre,  bann 
bürfte  uns  Slntonio  in  ettoas  an  3Kertf  erinnern, 
ber  fo  treffenb  bie  Beiben  Strien  beS  ©tdjtertljumS 
unterfd&ieb,  baS  unedle  unb  edjte:  jenes  toofle  bie 
Jßoefie  in  2Birfttd?feit  bertoanbetn,  biefeS  bertoanble 
bie  SBirflidjfeit  in  5ßoefie. 


*  I.  4.  SB.  742-45.    »gl.  oben  I.  1.  ©.  11. 


466  0oct$et  Zorqnato  Xaffo.  [SM 

3.    2)a*  Spiel  bei  ßetbenföaften. 

3nbeffen  mürbe  Antonio  ben  Staffo  ruljig  feinet 
SBegeö  geljen  laffen ,  Kenn  biefer  ittdjt  i^m  felbft 
auf  eine  2lrt  im  2Bege  fiänbe,  bie  feine  ßeiben= 
fd&aften  erregt.  §ier  beginnt  ba3  ©piel  ber  Effecte, 
ba§  ftd&  in  bem  Gfyarafter  Antonios  mit  ber 
lebengtoollfien  ßigentljümlidtfeit  ausprägt. 

€s  giebt  gut  geartete  Sftenfdjen,  bie  Ujr  2Bol)l= 
motten  anberen  im  UnglüdE  lieber  angebeiljen  laffen 
als  im  ©lad,  bie  eines  energifdjen  unb  f)ül[= 
reid&en  SJHtleibS  fäljig  unb  ber  ©djabenfreube 
ttenig  jugänglid)  finb,  aber  ben  Slnblid  eines 
auSneljmenben  ©lücfs  ntdjt  unbeneibet  ertragen. 
6ie  toerben  bemfelben  9Hann,  ber  iljren  Sftetb  er= 
regt  Ijat,  als  fein  ©djiff  ftolj  baljin  fegelte,  mit* 
leibig  unb  rettenb  jur  ©eite  fielen,  menn  er 
©d&iffbrudj  leibet.  6in  Setfpiel  biefer  3Jtenfdjenart 
ift  unfer  Slntonio. 

Vermöge  feiner  glfitflidjen  (gefdjid&tlidj  grunb* 
lofen)  ©rfxnbung  laßt  ©oetfje  ben  Slntonio  nad) 
einem  gelungenen  SÄeifterftüdfe  fetner  biplomatifdjen 
Äunft,  na<$  einem  langen  miiljetoollen  Slitfentljalte 
in  3tom  jurüdEfe^ren  unb  in  93elrtguarbo  t)or  bem 
&erjog  in  bem  9lugenblid  erfdjemen,   too  Saffo 


305]  Antonio  3Rontecattno.  457 

eben  ben  ßorbeer  empfangen  Ijat,     @r  burftc  er* 

»arten,  als  ber  £elb  be§  Sage?  ju  fommen,  unb 

finbet  ben  ?pia%  Bef c%t ,  et  fieljt  fidj  im  ©djatten 

be§  Jungen  im  ©lanje  fürfttidjer  #ulb  unb'S3e= 

ttmnberung  ftratylenben  5ßoeten,    Antonio  brauet 

nod)  fein  ÜReibfiarb  ju  fein,  um  Bei  biefem  %nUxä 

t>on  einem  Ijcimtid&en  Umritten  befdjttdjen  ju  toerben, 

ber  iljm  ba§  ©efüljl  *be§   eigenen   SBertfjeS   unb 

feiner  SSerbienfte  fteigert.     S)ie   £eiter!eit  toeid^t 

Don  feiner  ©ttrne,   bie  getooljnte  3urüdljaftung 

unb   SBeftimmtljeit    feinet   SBefenS  erfd&eint   no<% 

ausgeprägter   unb  f djärfer.    5)ie  Sßrinjeffin,   toie 

toir  fpäter  Don  iljr  l)ören,  'Ijat  eS  fogleid)  bemerft: 

Stntonto  erfdjien  mir  ijente  frülj 

SHel  fd&röffet  no$  als  je,  in  fid)  gesogener. 

2)en  ©rufe  £affo£  ertoibert  er  nidjt  unb  nimmt 
iljn  mit  einer  ßälte  entgegen,  bie  fdjon  ben  SEon 
ber  3urüdEtt)eifung  Ijat;  er  toerfteljt  bie  «ßunft  ju 
tabeln,  inbem  er  Verfemen  unb  3uftänbe  öon  ent= 
gegengefetjter  3trt  lobt.  3)ie  Ijoljen  ßobfprüd&e, 
Womit  er  bm  römifdjen  £errf$er  preifi,  Ijaben 
audj  ityren  geheimen  Ste^t.  @in  toerbienftootter 
Staatsmann,  toie  er,  tofirbe  im  SJatifan  teudjten; 
in  Söelriguarbo  fte^t  er  im  ©djatten!  2ftit  toaljrer 

äuno  3fifc$et,  ©oetye* ©Stiften.  80 


468  Ooetfteft  Torquato  Xafio.  [806 

©enugüjuung  rfiljmt  er  ben  Sßatft  afe  „ben  9Rann, 
ber  *0i&nner  unterfd&eibet\  „nur  ber  erfahrene 
9flann  bejtfct  fein  Ofjr,  ber  tätige  fein  3utrauen, 
feine  ©unft".  „3n  feiner  SR&lje  barf  nichts  müfcig 
fein!  2Ba8  gelten  fott,  mufe  tmrlen  unb  mu& 
bienen/  Ob  er  bamit  nidjt  3BaI)rf)etten  gefagt 
Ijaben  toitt,  bie  2Kp^on§  unb  SEaffo,  jeber  an 
feinem  Ort,  merten  fotten? 

6§  tft  bodj  ein  etttaS  bebenftid&er  ßobforud), 
ben  er  bem  §erjog  jur  £erabfttmmung  SEaffoS 
toibmet : 

ÜJltr  toar  ed  lang  befannt,  baf$  im  SMoljnen 
SltyljonS  unmä&ig,  ift,  unb  bu  erf&ljrfi, 
2BaS  jeber  Don  ben  Seinen  fdjon  erfuhr. 

SBägt  man  bie  SBorte,  toie  e8  Slntonio  Der* 
langen  barf,  fo  fd&eint  2K^on§  nidjt  ber  SJiamt 
gu  fein,  ber  SDiänner  unterfdjeibet. 

SBie  nun  bie  ^rinjeffin  für  SEaffog  SJerbienfte 
eintritt,  labt  fi<$  Antonio  förmltdj  an  bem  2ln= 
btid  beS  SJtumenfranjeS,  toomit  SeonorenS  £anb 
SlrioftenS  ©tirne  gefömüdft  Ijat: 

Unb  fic  Ijat  tooljt  getljan!  @r  jtert  tljn  f$ön, 
%U  üjn  bei  ßorbeer  felbft  nidjt  gieren  toürbe! 


S07]  Antonio  Sttonteccrttno.  459 

3n  btefer  Söergteidjung,  bie  nidjt  ungefud&ter 
unb  gtücfttdf»er  fommen  fonnte,  jttrifdjen  ber  ®tc^tung 
be§  SIrtoft  unb  ber  blumenreidjen  Jiatur  offenbart 
tin$  Antonio,  inbem  er  fie  ausführt, '  ben  @eniu8 
beS  gro  fjen  romantif  djen  SidjterS  : 

SBie  bie  Sftatur  bie  innig  rei$e  ©ruft 
SDlit  einem  grünen  Bunten  Äleibe  betft, 
©o  ljüflt  er  alles,  tta£  ben  3Jlcnf$en  nur 
ßljrtoürbig,  lie&enStoürbig  matten  fann, 
3n'S  Müljenbe  ©etoanb  ber  Sfabet  ein. 

9HS  ob  alle  ©eljeimniffe  biefeS  ©enirtS  bor 
tljm  aufgetljan  toären,  fd^tuelgt  Antonio  in  bm 
£errüdj!eiten  STriofte,  gegen  toeldjen  SEaffo  fcer= 
fdjtoinbet.  @r  mürbe  iljn  gar  nidjt  jubemerfen 
fdjeinen,  toenn  er  nidjt  neben  ber  belränjten  £erme 
beS  Slrtoft  baftänbe,  audj  mit  einem  firang.  ©ie 
SBorte,  womit  Slntonio  feinen  £l)mnu3  auf  Strioft 
befd&Uefct,  bergen  ober  enthalten  totelmeljr  einen 
fdijarfen  ©pott: 

2Ber  neben  biefen  Sttann  fidj  toagen  barf, 
SBerbtent  für  feine  Äüljnljeit  fdjon  ben  Urans! 

©iefen  2tu8ft>rud)  fott,  tote  einer  ber  ©om* 
mentatoren  gemeint  $at,  nid)t  auf  SEaffo  beuten? 
3luf  roen  fonjt?  Ober  geljt'er  in' 8  ßeere?  Oft  ber 
ßontraji    gttnfdjen   Strioft  unb   SEaffo   nidjt  baS 

30* 


460  (Boctyc*  Torquato  Zaffo.  pÄÄ 

ÜDiotta  unb  SB&eina  ber  gangen  9tei>e?  2)ie  5ßrm* 
jeffm  Ijat  bcn  Sinn  ber  Stehe  fefjr  ioofjii  toerjlanben 
unb  fud^t  in  bem  folgenben  3n)iegefpräc^  iEaffo 
bamit  }U  trögen,  ba&  Antonio  feine  3lnftd)t 
änbern  toerbe: 

JBHrb  er  bann 
9lu$  naijer  fennen,  toaS  bu  biefe  $t\t 
©eleifiet  $afi,  fo  ftettt  er  biä)  Qetpife 
Sem  $i$ter  an  bie  ©eite,  ben  er  jefct 
9(18  einen  [Riefen  bir  entgegenftettt. 

Antonio  felbft  föeint  au  füllen,  bafc  er  bie 
©renken  ber  £offt>radje  gu  freit  Übertritten  Ijabe 
unb  einer  (Sntfd&uibiflung  bebfirfe,  SreiltdJ  ent- 
hält btefe  einen  neuen  feinen  ©pott  auf  bie  gange 
©ituation,  bfe  iljn  berftimmt  fjat.  ©r  Ijabe  ttrie 
ein  ÜBerjütfter  gerebet,  ba  unter  ben  ©inbrfiden 
biefer  fretnbartigen  SBett  tljm  bie  S3efonnen^eit 
abljanben  gefomtnen  fei; 

Vergebt,  toenn  id)  mi$  felbft  begeifiert  ffiljle, 
SQÖie  ein  Jöerjfitfter  rebe,  toeber  3^tt  nodj  Ort, 
9toä)  toag  id)  fage,  toof)I  bebcnfen  !ann: 
2)cnn  ade  biefe  Sttäjter,  biefe  Ärftnje, 
2)o§  feltne  feftfuje  ©etoanb  beS  6d)onen 
SSexfe^t  mid)  au«  mir  felbft  in  frembeS  ßanb. 

®iefe  beiben  Auftritte,  bie  erfte  Staffofcene  unb 
bi?  erfte  Slntoniofcene  (bie  brüte  unb  toierte  be£ 


909  Antonio  Stomtccaiino.  461 

erften  Slcts),  bie  intern  geitlid&en  Itrforunge  nadfj  fo 
toeit  auSeinanbexliegen ,  Ijat  ©öet^e  f o  gut  gu 
toerfnfipfen  gettmfct,  bafc  fie  fid)  gleidjfam  ttiie 
©tntylje  unb  ©egenfiro^e.gü  eirianber  Debatten. 
3)ie  erfte  enbet  mit  £affoS  entgüdf  ten  SBorten  gut 
Serljerrlidjurig  ber  £eroen  unb  SPceten  ber  alten 
3^t;  bie  gtoeiie  enbet  mit  SlntonioS  entgüdten 
SBorten,  bie  ben  Sinter  ber  romantifd&en  3eit 
unb  iljrer  gelben  greifen.  SBeibe  ©cenen ,  inS= 
befonbere  bie  gtoeite,  finb  mit  einer  ^ein^eit  unb 
S)eiiflid)feit  ber  ßljarafteriftif  gefd&rieben,  bie  bis 
in  bie  eingeben  Sßenbungen  unb  SBorte  Ijirt  ein 
t>erneljmlid(j  bleibt  unb  als  ein  SBeiftriel  jener 
J>laftif$en  ßunft  gelten  barf,  bi*  in  ber  <£nt* 
tmeßung  unfereS  Sinters  eine  ^rudfjt  feiner 
römtfdfjen  (Styodje  toar. 

4.    £)er  ©treit  unb  feine  gfolgen.    Antonios  ©<§utt>. 

S)en  SEaffo  gu  bemüif)tgen,  ttmr  3lntonioS  Stbfidjt 
unb  SBirfung.  2)iefer  SBtrfung  gettnfc  unb  feiner 
Ueberlegenljeit  fidjer,  beljanbelt  er  SEaffo  bei  ber 
Häuften  Begegnung  ton  oben  Ijerab,  als  biefer  nad) 
bem  ©efyrädf)  mit  ber  5Ptingeffitt  auf  i$n  gueilt  unb 
aus  fcotfem  bergen  um  feine  3?reunbfd&aft  ttrirbt» 


4«2  Otocfycf  Sorquato  Xaflo.  [310 

ätarnelpn  uhb  Cü^l  nimmt  Antonio  bie  Sitte 
auf,  iljre  S)rtngli$feit  abtoe^renb.  Um  nidjt  #i* 
bxinglid^  gu  f  d&eltten ,  beruft  ftd> .  Stoff  o  auf  bett 
SBunfdj  ber  SJrittjeffin.  2>iefe  SBenbuug  ift  e8, 
bie  Antonios  Unmiöen  Don  neuem  Ijertoorruft  unb 
reigt.  2)en  33ortt>urf  ber  ftftlte  ertpibert  er  mit 
bent  beö  ©egentljetls  im  abfefcäfcigeti  Sinn: 

$er  fDlft&iae  totrb  öfters  falt  genannt 

3}on  2ftenfa)en,  bie  fl$  tparm  öor  anbern  bfinfen, 

2Gßcü  fic  bie  fcifce  ffiegenb  überfällt. 

Unb  tote  nun  SEäffo  nod)  einmal  auf  feine 
Sitte  jurfidfommt,  inftänbig  unb  beweiben,  tote 
er  tyre  gemeinfame  JBereljrung  ber  5ßrinjeffin  an« 
ruft,  bamit  ftc  bie  ©runblage  iljrer  3?remtbfd&aft 
»erbe,  bie  bem  2>ienfte  biefer  „©öttin"  gen>etf)t 
fei,  fo  bettoanbett  fidj  Antonios  geregte  (Stimmung 
in  bitterfhn  ©roll.  2>ie  SBolle  auf  feiner  ©tirne 
entlabet  fid)  in  einem  ©etoitter,  ba3  toiber  Saffo 
to8brid)t.  3m  fänetten  2Borttoed)fel,  n>o  ein  SBort 
baS  anbere  giebt,  folgt  93tig  auf  Jöltt}.  ®r  fei  ein 
©ünfiltng  bc§  blinben  ©lüdeS,  ein  übermütiger 
unb  unüerbienter,  eg  gebe  teilte  Äränge,  bie  ftd) 
oft  im  Spajterengeljen  bequem  erreichen  (äffen ,  er 
möge  nid&t  gnäbigeS  ©efd&enf  für  ßot)n,  jufftßigen 


311]  Antonio  SWontecatlno.  463 

Üßufc  für  »ofytoerbiettten  ®djmu<f  galten,  ©egen 
iljn  betrage  er  ftdj  tote  ein  übereilter  Änabe,  ber 
gtücflid&ertoeife  ttodfj  jung  genug  fei,  um  burd) 
gute  3ud&t  gebeffert  gu  »erben. 

©eitbem  SEaffo  ben  tarnen  ber  $ringeffin  als 
feine  ©öltin  gepriefen  Ijat,  tft  e§  mit  Antonios 
@elbftbel)errfd)ung  borbei,  bie  feinbfeligen  Effecte 
getoittnen  bie  Oberljanb  unb  toerben  Dom  -Weibe 
beljerrfd)t.  3febe3  feiner  SBorte  ift  eine  SBeleibigung 
oJjne  einleudjtenben  ©runb,  eine  f>d)tnäljung,  bie 
SEaff o  aufcer  fidj  bringen  mufc,  audj  foenn  er  fein 
©beimann  unb  nidjt  ber  3)idjter  wäre,  ben  ber 
Surft  beS  ßorbeerä  unb  bie  $ringejftn  iljrer  Siebe 
gettmrbtgt  Ijat.  S)a  Slntoniö  feine  £erau§forberung 
Ijöljnenb  gurüdtoetft,  fo  gieljt  £affo  ben  3)egen,  um 
iljn  jum  flampfe  gu  gtoingeft.  S)er  £ergog  t>er= 
Ijinbert  ben  2lu3brudj  burdf)  feine  35agtt>iföenfunft 
unb  forbert  9ledjenfdf)aft  toegen  be§  Streitet. 
Slntonio  antwortet  mit  einer  förmlichen  3Tnffage 
SCaffoS  auf  3J2aieftat§t>erIe%ung  unb  nötigt  bm 
§ergog,  iljn  gu  ftrafen.  @8  gefdjteljt,  toenn  aud)  nur 
um  be§  ©feines  ttriflen  unb  in  ber  milbeften  ffarm. 

3m  3ttriegeforftd()  tnit  bem£ergog  muß  Antonio, 
nunmehr   beruhigt,   felbft  befennen,   bafc  £affo£ 


464  GtoctM  Torquato  fcaffo.  [312 

Sippen  im  größten  Born  teilt  fittenlofeS  SBort 
entflogen  fei.  Unb  bodj  Ijatte  er  iljn  nodj  eben 
„miftttttd)11  gefd&olten!  SBenn  er  ober  t>on  fetner 
eigenen  ?Perfon  fagt: 

5118  SNenföen  t>aV  idj  tfcn  biefletd&t  gefränlt, 
91U  (Bbelmann  ljab'  tdj  ibn  ntd&t  beleibigt, 

fo  mfifcte  biefe  ©abalieräeljre  mit  @rj  umgürtet 
fein,  toenn  eine  fotdje  fjflutlj  Don  Seteibigungen 
fie  unberührt  gelaffen.  2)iefefi>e  (Srltärung  giebt 
er  fpäter  bem  SEoffo  felbft,  inbem  er  iljm  abbitte 
Ictftet : 

Mein  fein  fdtfmpfltd) 
äöort  ift  meinen  Sippen  unbebaut  entflogen. 
3u  rädfjen  baft  bu  nichts  als  ©beimann, 
Unb  totrft  al8  9Jtenfd)  Vergebung  nufct  berfagen. 

SQBtrHtdö  fdjeint  Slntonio  nidjt  meljr  ju  toiffen, 
toa§  er  iljm  alles  ins  @efid)t  gefd&leubert  Ijat. 
2luf  bie  3frage  beS  &erjog§,  tote  er  SEaffoS  3om 
geretjt  I)abe,  lautet  feine  Stnttoort: 

3dj  tpüfetc  laum  gu  fagen,  toie'a  gefd&ab- 

Steljnltd)  entfd&ulbigt  er  fid)  gegen  £affo  felbft: 

3*  babe  bid& 
Sttit  SBorten,  fdjeint  e8,  tief  unb  mel)r  gefränlt, 
HU  \ä),  üon  mannet  Seibenföaft  betoegt, 
<£*  felbft  empfanb. 


81S]  Stntonto  aWontecatinö.  465 

.  SBir  führen  Betbe  ©teilen  an,  um  mit  SlntomoS 
eigenen  SBorten  ju  jeig*n,  haß  im  ©treue  mit 
Sajfo  tljn  bie  ßeibenfdjaft  forigeriffen,  bie  ©elbft= 
Belptrfdmng  uub  SJefonnenljeit  toöttig  Derlaff ett 
platte.  D^ne  alle  33efd)önigung  geffe^t  er  eö 
Öeoneren: 

3a,  midj  öerbtte&t  —  unb  i$  bcfcnn*  e8  gern  — 
S)a&  i<$  midj  Ijeut'  fo  oljne  Sfflag  berlor.1 

<Sr  Ijätte  toeit  f flimmere  Stortottrfe  berbient 

al3  ben  mitten  £abe{  be§  $tx%o$,  bafc,  foenn 

Scanner  fid)  entgtDeien,  ber  ßlügfte  für  ben  ©d&ul= 

bigen  ju  galten  fei,  unb  bafe  e8  iljm  bejfer  jieme, 

ben  SEaffo  ju  leiten,  ftatt  mit  tljm  3U  $ttrnen.  <£rft 

biefeS  SBort  be3  ©ebieterS  följrt  ben  Antonio  ju 

ffft  felbft  gurüÄ: 

3$  bin  befd&ämt  unb  W  in  beinen  Söorten 
Söte  in  htm  flarften  Spiegel  meine  Sdjulb! 

S)ie  SBaljtljeit  ift,  bafe  er,  Don  geljäffigen  unb 
neibifd&en  Effecten  beftürmt,  ben  SEaffo  fd)toer  6e= 
leibigt,  ja  befdjtm:pft  I)at,  toenn  nidjt  etwa  bie 
SBefd&imtfungen  nur  in  pöbelhaften  2lu§brüden  be= 
fteljen  follen.   Antonio  ift  befd&ämt  unb  fjat  baju 


1  $gl.  IL  5.  SB.  1611—1616,  1645—1646.  IV.  4. 
».  2557—63.  III.  4.  ö.  1996-97. 


ggcfrc*  Znqm*  Soff«.  [SM 

aße  Urf  ad>e;  Xaflo  bagegen,  ber  feine  Urjadje  Ijat, 
fid)  jtt  fötalen,  ift  beftraft.  SRan  bürf  fragen 
ob  mit  »edjt? 

Antonio  Ijatte  in  Xaffo  audj  ben  $csgog  nnb 
bie  ^ringef fin  beleibtgt ,  er  Ijatte  mit  Starten,  bie 
nid>t  ju  mifibeuten  toaren,  ben  ßrang  toerfyotiet, 
ben  Eltons  burd&  bie  £anb  ber  @dpoefier  bem 
Sinter  mit  ber  äKaljnung  erteilt  Ijatte,  ba§  er 
ifjn  betoatpen  unb  ju  betoa$en  ftetd  gerftftet  fein 
möge.  Unb  2affo  ^atte  bie  ©tidjelreben  turnt  3U=j 
f dlligen  ?Pu|,  t)on  drängen,  bie  ber  9Äüf$iggftnger 
im  ©dtfenbern  erretten  fönne,  andren  muffen"! 
2Ber  ift  nun  ber  ©traf toürbige?  Antonio,  berbiefen 
Äranj  öerfoottet,  ober  SCaffor  ber  biefen  ©J>ott  gu 
rftd&en,  feinen  Äranj  ju  toertljeibigen,  bie  SWaljnung 
beö  £erjog8  gu  befolgen,  im  $alafte  be§  lederen 
ben  S)egen  gum  Kampfe  gegürft  $at?  2Äit  bollern 
föedfct  barf  er  ben  Antonio  bor  bem  £ergog  be= 
föulbigen  unb  fagen: 

Cr  toarf  mir  meine  ©aben  t>or  bie  Orüfec; 
Unb  f)&tte  meine  Seele  nidfct  geglüht, 
60  toar  fle  beiner  ©nabe,  beine*  fcienfhs 
Auf  etoig  untoertt). 1 

1  II.  4.  ».  1477-80. 


ai6]  Antonio  SWontecattno.  467 

■ftodj  ridjtiger  unb  treffenber  toftre  e$  geroefen, 
toenn  er  gefagt  Ijätte:  „6r  toarf  tnir  beine  ©aben 
bor  bie  galfee!" 

SEaffo  Ijat  einen  ungered)ten  Singriff  'tapfer  -a6« 
getoe&rt  nnb  toerbiente  ba8  806  beS  £erjog8,  tote 
e3  bem  toirfltdjen  SEoffo  toegen  feines  ÄampfeS  mit 
jenem  toerrätljerifdjen  3?reunbeju  Süjeit  tourbe;  aber 
ber  ©oetljefdje  SEaffo  toirb  beftraft,  tote  ber  toirf(id)e, 
als  mitten  im  Ijerjogüdjen  Sßataji  ein  ungeredjter 
Angriff  bon  if)tn  ausgegangen  toar.  Offenbar  be* 
fteljt  in  unferer  ©id&tung'  jtoifdjen  ber  2t  rt  beS 
©treiteS  unb  feinen  folgen  ein  9Äifjtoer1)&ltni&, 
beffen  ©runb  barin  liegt,  baft  ©oeitye  in  ber  ^abet 
feines  ©tüdfö  jtoei  ^Begebenheiten,  bie  in  ber  @e* 
fdjid)te  SEaffoS  ganj  fcerfdjtebener  Slrt  finb  unb 
nid&ts  mit  einanber  gemein  Ijaben,  bereinigen  toottte, 
3n  ber  $trt  be8  Streite«  $atte  ber  2)td(jter  feine 
@rfirtbung  frei  unb  lonnte  ben  ©egenfafc  ber  beiben 
GJjaraftere  ausführen,  toie  er  fie  angelegt  Ijatte; 
in  ben  Qfolgen  be3  ©treiteS  toar  er  gebunben,  benn 
er  brauste  bie  #aft  1£affo3  att  "ein  TrotymenbigeS 
SJloment  in  ber  (Snttoidttung  feiner  ©d&itffate. 
@r  töfct  ben  ©treit  fo  gefdjefjen,  bafc  bem  9ln= 
tonio    bie    ©djulb    jufftttt,    unb    bie    Solgen 


468  (BoetyeS  Torquato  fcüffo.  [816 

beffelben  fo  ausgeben,  bafc  SEaffo  bie  ©träfe 
ba&ontrftgt. 

9ll8balb  foQ  Antonio  ben  SEaffo  bon  feiner 
£aft  befreien,  begütigen  unb  berföljnen.  @o  toitf 
e3  ber  ©ebieter,  bem  ber  gefügige  2)iener,  Don  ber 
eigenen  6d&ulb  überjeugt,  gern  unb  toittig  folgt, 
tote  böS  ©dtfufctoort  be8  jtoeiten  SlcteS  befagt: 

©ar  leidet  geljord&t  man  einem  eblen  §errn, 
®er  fibetjeugt,  inbcm  er  und  gebietet. 

5.  Sie  fluftfötyumg. 

3>er  ©roß  ifi  enttaben,  um  nidjt  ju  fagen  aus- 
getobt, bie  ©äjulb  erfannt,  baä  innere  ©leidjgetoid&t 
toicbcr^crgcftcCft.  5hm  erft,  ba  fte  Don  feiner  ßeibem 
fdjaft  meljr  entfteflt  toirb,  fann  fidj  SlntonioS  natür* 
ltdfje  8lrt  bon  i^rer  toofytöjuenben  ©ehe  jeigen,  too= 
mit  aud)  ber  ©ontraft  jtotfd&en  iljm  unb  SEaffo  etft 
feinen  toaljren  d&arafteriftifdjen  SluSbrud  gettrinnt, 
um  ben  es  bem  2)id)ter  ju  tljun  mar. 

9Jlan  toirb  bemerfen,  bafe  biefer  ßontraft  in  ben 
beiben  erften  Steten  in  einem  anberen  8id)te  er* 
fd&eint  als  in  ben  brei  testen,  toas  mit  ber  @nt* 
fteljungSart  be£  2Berf  8  genau  jufammenljftngt.  ®ört 
erjdjeint  er  gu  ©unften  StaffoS,  gu  Ungunffen  2fa= 


817]  Antonio  2Rontecatlno.  46» 

toniog,  Ijier  in  ber  entgegengefefcten  S3eleudjtung. 
9ßir  getoinnen  ben  ©inbrud,  bafc  ber  ©id&ter  fcffift 
in  bcn  Beibcn  crften  3lcten  innerlich  mit  Staffo,  in 
ben  brei  legten  mit  Antonio  gufammenge^t. 

S)ie  beibcn  9Jiänner  d&arafterifireu  fid&  gegen« 
feitig,  jeher  ben  anbern,  toofür  namentlich  tljre 
3toiegeforädje  mit  ßeonoren  feljr  totd&ttg  finb.  ©3 
ift  lein  3tt>eifel,  »er  oon  beiben  ben  anberen  nö- 
tiger fennt  unb  beurtljeilt.  £ören  toir  ben  SEaffo 
über  Antonio  reben,  fo  muffen  totr  ßeonoren  bei« 
ftimmen,  bie  iljm  ertoibert:  „2)u  irrft  bid)  über 
iljn;  fo  ift  er  nid&t",  ®aS  toar  audj  bie  9Äeinung 
be8  2)id()ter$.  §ören  mir  Slntomo  ben  Staffo  fd&it 
bern,  toie  e8  in  feinen  3toiegef präd&en  mit  ßeonoren 
unb  mit  bem  #erjog*  gefd&iet)t,  fo  erhalten  toir 
Silber  nad&  bem  ßeben,  jum  ©pred&en  gejeid&net, 
benen  toir  untoitfüirtid)  ©lauben  fdfjenlen.  ®ieS 
toar  audj  bie  Slbfidjt  be§  ®idt)ter§,  ber  uns  burd) 
biefe  ©dfjilberungen  Antonios  baS  33ilb  SlaffoS  in 
3ügen  barfteüen  toollte,  bie  er  uns  nid&t  alle  an 
i^m  felbft  erleben  läfet.  2Bie  gut  toerfteljt  e8  Antonio, 
ben  SEaffo  ju  malen  in  bem  jäfeen  2Bed(jfel  feiner 
Stimmungen  giotfc^en  tiefem  3nftdjt>erlorenfein  unb 
plotflidfj  auSbred&enbem,  Saftigem  SKIjatenungeftüm, 


470  ®oct$cf  Zotquoto  Zafio.  [318 

in  ben  jttgettofen  9fu8brttd)en  momentanen  Un= 
toittenS,  bie  fetbft  ben  ftürften  unb  bte  3fürfKn 
ntd&t  fronen,  in  ben  ©cenen,  bie  er  bem  SSrjte 
liefert,  tote  in  allen  ben  $irngeftnnnfjten,  bie  fein 
SBerfolgungStoaljn  ausbrütet.  Antonio  mufj  feinen 
©egenfianb  mit  trielem  3fntereffe  beobachtet  Ijaben, 
um  il>n  fo  treffenb  bis  in  bie  einzelnen  3üge 
hinein  fdjübern  ju  fönnen.  -Jtiemanb  !ann  fagen: 
„3)u  irrjt  bidfc  über  iljn,  fo  ift  er  nid&t!" 

®ie  Säuberungen  SEaff öS,  toetdje  Antonio  giebt, 
finb  oljne  Soweit,  nid&t  oljne  £umor,  tooburd)  fie 
ergöfclid)  toerben  unb  ins  Äomifdje  fallen,  gfreüidj 
mifd&t  ftd)  in  feinen  £umor  ein  getoiffer  Sferger 
barüber,  bafe  man  btefeS  unartige  ©enie  am  &ofe 
gu  Qferrara  toerjielje  unb  toertoöljne,  toorin  nament* 
Kdj  bie  beiben  ßeonoren  wetteifern,  unb  bafc  SEaffo 
feinen  JBortljeit  fenne  unb  auSjttnüfcen  ttriffe.  „@r 
ift  flüger,  als  tote  man  benft;  er  rttljmt  fidj  jtoeier 
Stammen !"  u.  f.  to.  ©iefe  2tnftd&t  tum  SEaffo  ift 
Antonios  SSerbadtf,  ntd^t  feine  Beobachtung,  toie 
fi<$  benn  au<$  in  jene  ljumoriftifdjen  Silber,  bie 
nad)  feinen  SBa^rnefjmungen  gemalt  finb,  mit 
bem  Sterger  ettoaS  t>on  ber  ©aricatur  einmifdjt. 

©aß  im  Stugenbltd  Jrföfclidjer  ßetbenfdjaft  SEaffo 


819]  Antonio  SRontecattno.  471 

audj  benfjrttrften,  fogar  bic  gfürftin  fetbft  gu  fdjmftljen, 
gu  t&ftcrn  toagt,  ergäbt  Antonio  im  ©eforddj  mit 
ßeonoren  nid&t  als  einen  neuen  unb  unerhörten, 
fonbern  afe  einen  iljr  fdjon  belannten  Sjcefc,  ber, 
.twe  e8  fd&eint,  fd&on  öfter  fcorgefommen  unb  unbe* 
ftraft  geblieben  ift.    Obtooljl  nun  eine  fold&e  9trt 

m 

ber  9tu8fd&reitung  mit  bem  Sßefen  unb  ben  ©etoofcm 
tjeiten  unfereS  SEaffo  gar  nidjt  gufammenftimmt, 
fo  ift  es  bodj  Don  bem  ©idjter  fein  unb  ftug  au8* 
gebaut,  uns  burd)  Antonios  Sporte  auf  ben  3Iu3» 
brudj,  &**  lommen  fott,  öorgubereiten.  9H8  bann 
in  ber  ©dtfu&fcene  ber  3Jtoment  fotd&er  ©d&mätjungen 
unb  ßftfterungen  eintritt,  ttrie  fie  in  SBirftidtfett 
ftattgefunben  unb  StaffoS  6inft>errung  jur  ^otge 
gehabt  Ijaben,  ift  Antonio  ber  etngige  3*uge,  ber 
fte  toernimmt.  @ie  jtnb  für  iljn  nidjtS  Unerhörtes. 
916er  auf  einen  fotdjen  Vorgang,  tute  ben  eben 
erlebten ,  gtoif d&en  ber  Sßringeffin  unb  Saff o  »ar 
aud)  er  nid)t  Vorbereitet;  biefe  ©cene  erfdjjeint 
fetbft  i^m  fo  ungeljeuerlid)  unb  unt>ergteid)bar,  bafc 
er  eine  SBeile  aufeer  Raffung  fteljt.  9ttd)t  bafy  SEaffo 
bie  §ofettfettc  Aber  alle  Sflafjen  fcerleijt  l)ai,  ijt  fo 
ungeljeuertid),  fonbern  bafj  er  alle  menfd&lidjje  unb 
rittertidje  SPftidjt,  alle  (Stjrfurd&t  t>or  ber  (jfrau  unb 


478  QoetfcS  Zorauato  Zafio.  [320 

3fürftin,  bie  er  lote  eine  ©öttih  üereljten  ioottte, 
fo  gang  Oergeffen  fonnte,  ba§  er  fie  augutajlen 
getoagt  §at: 

SQßenn  ganj  wai  Unerwartetes  befteanet, 
Söenn  unfer  SItcf  roaS  Ungeheures  ftefu\ 
SteJ^t  unfer  Oeift  auf  eine  SDßeite  ftitt. 
SEßir  fjqben  nid&ts,  toomit  toir  baS  Dergleichen. 

2Bäre  er  fein  geinb,  jc^t  ioäre  ber  SlugenMicf 
ba,  gu  frofyfotfen  unb  iljn  gu  Herberten.  3)afc  feine 
©pur  ber  ©d&abenfreube  ifjn  Befdjleid&t,  ift  bie  ?ßro6e 
feiner  ebehnütljigen  ©efinnung.  Sie  ßäfterungen, 
bie  £affo  in  toitbem  ©djmerg  audf)  totber  iljn  au8= 
fiöfet,  madjen  iljn  nid)t  irre.  2luf  biefe  ift  er  ja 
gefafct.  ©inb  bodj  in  bem  3uftanbe  unauSfpred)* 
lidjer  Sfteue  unb  £htat,  bie  £affo§  ©eele  erfüllen, 
bie  ßäfterungen  felbft  nur  ©d&mergenSlaute  ber 
SBergtoeif  lung : 

3$  füljle  mir  baS  innerjie  ©ebein 
3erfömettert,  unb  iä)  leb',  um  e8  gu  füllen, 
SBeratoeiflung,  fa&t  mit  aller  Söutlj  mi<$  an, 
Unb  in  ber  §ötfenquat,  bie  mi$  bernid&tet, 
3fl  ßäfierung  nur  ein  leifer  ©<$mersen8laut 

33ei  biefem  SInMid  toirb  Antonio  Don  SWit= 
gefügt  ergriffen.  Sitte  Unarten  $affo3  finb  Oer« 
geffen,  QÜer  SBerbadfjt,  bafc  er  ftttger  fei,  als  man 


331]  Antonio  SWontecatlno.  473 

benfe,  unb  Äomöbie  foiele.  @r  ifi  in  ftd)  fetbfi 
loeit  unglfitfKd)er,  als  Slntonio  je  geahnt,  bafj  Xaffo 
»erben  fönne.  8r  ift  es  burdj  eigene  ©djutb  ge* 
loorben  unb  gefielt  es  ein:  „tdj  Ijabe  midj  felbft 
berbannt!" 

©tefeS  SBort  toedt  Antonios  ganje  S^eilnaljntt 
unb  Sfdjtung.  @r  ftef)t  in  SEaffo  bas  ^ottgefüljf 
feinet  ©d)ulb  ben  33erfolgungStoaf)n  burd)bred(jen ; 
nun  toirb  audf)  baS  SSottgcfü^I  feiner  «Kraft  bie  2Jer= 
§tDeiftung  fibertoinben  unb  iljn  aufridjten  fönnen. 
SJoju  will  er  ifjrn  Reifen:  „3)u  bift  }o.  elenb  nid^t, 
als  nrie  bu  gtaubft.  6r manne  bidfj!  Srfenne,  tt>aS 
bu  bift!" 

S)iefe  SKaljnung  2lntonioS  lommt  ju  rechter 
3eit  unb  ftt^rt  SEaffo  ju  fid&  felbft  jurüdt ;  fie  bringt 
ifjn  baju,  bafe  er  feine  ©td&tergro&e  füljlt  unb  jteft 
als  ßünjtler  toieberfinbet : 

Unb  toenn  ber  üftenfd)  in  feiner  Dual  öerftiunrnt, 
©ab  mit  ein  ©Ott,  au  fagen,  tote  id)  leibe. 

§ier  erfdjeint  SEaffo  auf  ber  &olje  feines  ©eifteS, 
feines  SBerufS.  „Slntonio  tritt  gu  iljm  unb  nimmt 
it)n  bei  ber  £anb."  63  ift  uns  gu  2Jlutf),  als  ob 
SCaffo  in  ben  ©d&lufefcenen  eine  Steige  fd(jre<fli<$er 
©efafyren  gtüdfüdf)  bejlanben  Ijabe:  bie  Slntoanbluug 

ftuno  griffet,  ®oet$e*  ©Triften.  31 


474  (Soefyeft  Torquato  Saffo.  [322 

be8  SBafyiftnnS,  ben  SluSbrud)  »fitljenber  ßftfie- 
rungen,  bie  jtd)  in  toüttjenbe  ©ctotffenöbiffe  bertoan* 
betten!  9iun  Ijat  bie  ©egentoart  Antonios,  feine 
toöKtg  ruhige  unb  »oljlgefinnte  (gintmrlung  bie 
Qfurien  toerfd&eudjt.  3n  biefem  8id)te  erfd&eint  bie 
tefcte  ©cene  unferer  SHd&tung  als  eine  (Streuung 
unb  Teilung  £affo8,  bie  und  an  eine  im  Uebrigen 
unbergleid&bare  ©cene  in  ©oetljeS  3foljigenie  erinnern 
fönnte. 

®te  Ofeinbe  ftnb  auSgefoljnt.  Antonios  ©d&ulb 
ift  gefönt.  ,  2JUt  bem  ©efttljle  ber  Rettung  Ijat 
SEaffo  feine  £anb  ergriffen  unb  Ijäft  fte  feft: 

©o  Hämmert  ftdj  ber  ®<6iffer  enblicfc  nod& 
&m  Seifen  feft,  an  bem  er  föettern  fottte.  J 

XYI.  ^otqnafo  ^aßo. 

1.  2>ie  ©efa^r  beö  Söatjnftnn*.  S)er  2Be$fel  ber  ©emfitl)*» 

ftimmungen. 

Sa  aud)  t)on  bem  @oetl)efd)en  SEaffo  baä  @e= 
rüdjt  be8  SBa^nftnnS  umgelji,  fo  fdjeint  eine  3fefiftel= 
lung  barttber  nidtf  unnötig  gu  fein.  <£mt  tfjn  bod) 
©dfjopenljauer  in  feinen  (Srörterungen  über  ben  3u= 


i  V.  5.  ».  3452-53. 


823]  Torquato  Xafio.  476 

fammenfyutg  jttnfdjen  ©ettie  unb  SBaljnfinn  gerabeju 
als  SBeiftnel  gebraust.  £)btt>ol)t  nun  in  unfcrcr  2)idj= 
tung  nirgenbs,  ausgenommen  ettoa  baS  lefcte  SBort 
beS  &etjogS,«  batoon  bie  Siebe  ift,  bafe  S£affo  toalju* 
finnig  fei  ober  werben  fönue,  fo  giebt  es  bod)  in 
feiner  ©emfitljsart  getoiffe  3üge,  toeldje  bie  3?rage 
rechtfertigen. 

§ter  ift  bor  allem  fein  SJerfolgungSroaljn  gu 
nennen,  ben  toir  in  unferer  2)id)tung  tljeüs  felbft 
an  i^m  erleben,  tljeils  burdj  Antonios  ©Witterungen 
fennen  lernen,  -ftadj  ben  lederen  erfdjeint  jener 
Sßatjn  gtoar  gänjlid)  unbegrfinbet,  aier  ieineStoegS 
als  ßranlljett,  fonbern  nur  als  Unart.  9tad&  unferer 
eigenen  SBaljrneljmung  befielt  berfelbe  jtoar  in  lauter 
falfdjen  SBorftellungen,  ift  aber  feineStoegS  unbe* 
grünbet,  fonbern  näljrt  fid)  Don  bem  ©efü^l  einer 
erlittenen  Ungered&tigfeit  unb  bem  einer  toöBigen 
SSerlaffenljeit.  3u  bem  erften  giebt  Ujm  bie  fdjulb* 
lofe  Seftrafung  burdj  ben  £erjog,  ju  bem  jtoei- 
ten  bie  liftige  Irreleitung  burdj  ßeonore  ©runb 
genug. 

■Kur  bie  beiben  legten  ©cenen  laffen  [Raum  p 
33effird)tungen.  3)ie  ungeheure  (Sjattation  gegen= 
über  ber  Sßringeffin,  bann  ber  rafenbe  2CuSbrudj  Don 

31 


476  Otoetyeft  Torquato  fcaffo.  [824 

fiftfterungen  in  .©egentoart  Antonios  erfd&einen  tote 
eine  2)t£)>ofttion  jur  Soüfjeit.  Set  XuBtuf  beS 
£er jogS,  bafc  er  bon  ©innen  f  omme,  tft  nid&t  un= 
begrttnbet.  SBenn  es  fo  toeiter  ginge,  führte  ber 
2Beg  ins  8mten$oft>itat.  216er  e8  geljt  fo  nidfjt 
toeiter,  unb  nur  fdfjetben  sulefct  t)on  Slaffo,  oljne  alle 
tfljdjtatrifd&en  ©orgen. 

2)iefe  Sjaltationen  unb  ©eprefftonen,  biefe  ljocfc 
gesteigerten  unb  tiefgebrfidften  Stimmungen,  bie  in 
feiner  ©eele  toedjfel«,  entftmngen  alle  aus  feiner 
bid&terifdjen  ©emftil)3art,  bie  feiner  Äunft  bienen, 
nidfjt  aber  fein  jßeben  beljerrfd&en  foff.  SEaffo  ber 
ßfinftler  toi*b  fte  bemeiftern,  läutern  unb  öor 
ben  ©efaljren  fdjüljen,  bie  fte  bebroljen.  @o  ttriö  e§ 
nidfjt  bloS  ber  ©djlufe,  fonbern  ba%  ganje  £ljema 
unferer  2)idjtung. 

©ie  fdjilbert  uns  ben  Sßedjfel  ber  SCaffoftim= 
mungen  in  einer  faft  rljijtljmifdjen  3folge  £fodjifd(jer 
Hebungen  unb  ©enfungen.  2)ie  SBoffenbung  unb 
lleberreicfiung  beS  SBerfS,  bie  Ärönung,  bie  6nt* 
jüdfung  unb  unmittelbar  barauf  bie  Slnfunft  9Tn= 
tontoS,  bie  i$n  nidjt  fanft  aus  feinem  fd&önen  Straume 
auftoedfi.  <£s  folgt  baS  ©efprädj  mit  ber  $prin* 
jeffin,  bie  fe|ne  ©timmung  ttrieber  Ijebt  unb  burd) 


325]  Torquato  £affo.  477 

bie  ©enrifcljeit  iljrer  Siebe  befeligt.  2)a§  nädjfte 
©elbftgefpräd)  ift  tote  ein  3ubelgefang.  Unmittelbar 
barauf  folgt  ber  ©treit  mit  Antonio,  ber  erlittene 
£o!jn,  bie  ungered)te  Seftrafung,  bie  freitoiffige 
SRieberlegung  beSßorbeerS.  ©o  toedjfeln  bie  Hebungen 
unb  ©enfungen  in  ben  beiben  erften  Slcten.  ©inen 
äljnlidjen  äßedjfel  in  erfjöljter  5potenj  geigen  bie 
beiben  legten.  üBor  bem  ©eforädj  mit  ßeonoren  nodj 
bas  erljebenbe  ©efüljl,  bafc  bie  5prinjejfin  mit  iljm 
ift;  nadj  jenem  ©etyrftdj  ber  troftlofe  ©djmerj,  ba% 
aud)  fie  iljn  Derlaffen  ^abe.  (Snblid)  in  ben  ©d^Iußs 
feenen  bie  mafclofe  ©jaltation,  bie  bobenlofe  SScr= 
jtoeiflung,  jute^t  bie  Sammlung'  unb  Slufrid&tung 
in  bem  erhabenen  ©elbftgefüljle  be8  Äünftler* 
berufs. 

Um  ein  fo  reid&eS  ©eelengemälbe  auäjufüljren, 
brauste  ber  ©idjter  eine  t$üUt  Don  ©cenen.  @o 
biele  innerliche  JBorgänge,  toie  fie  in  ba8  ©eelen= 
leben  SEaffoS  geboren,  tooßten  in  ©elbftgetyrftdjen 
bargeftettt  fein.  SJon  ben  oierunbjnjanjig  Stuftritten, 
toorauS  unfer  ©djaufoiet  befielt,  finb  ber  £affo= 
feenen  nid)t  toeniger  als  fünfjeljn,  batunter  fünf 
2Äonologe.  SBon  ber  ©efammtja^l  ber  SBerfe  lommt 
mefjr  als  ber  britte  Üljcil  auf  Staffo. 


478  <Soct$€i  Xotonato  IflfTo.  [326 

2.  2>a*  fömetilige  SBeUgeffifcl.    $ie  <5mfamteit  unb 

bie  Sfreunbe. 

3)er  innere  ©runb  biefeS  ftetö  erneuten  SBiber* 
fireitö  feinet  Gefügte,  biefer  befidnbigen  @6(e  unb 
tfrtutlj  feines  Seelenlebens  liegt  in  ber  9lnjteljung 
unb  Sbfbfeung,  toeldje  bie  SBelt  auf  i$n  ausübt, 
unb  jtoar  fo,  bafc  fie  Ujn  ni$t  blöd  toedjfelStoeife 
iefct  burdj  iljre  ©töfce  unb  ©d^ön^eit  entjüdt,  jefct 
burdj  il>re  Gemeinheit  annribert,  fonbern  fein  perfön= 
Itc^eS  ©elbfigefüljl  jugleidj  ergebt  unb  erniebrigt. 
3n  bemfelben  Äugenblicfe,  too  bie  §errlid&fetten 
ber  SRenfdjentoelt  fein  #erj  bejaubern,  burd&bringt 
iljn  aud)  ba8  ©efü^I  beS  eigenen  SRangelS  unb 
UntoertljS.   SBon  biefetn  ßontraft  nrirb  er  beljerrfdjt. 

3118  ein  untätiger  Slugenjeuge  Ijat  er  einft 
jene  ritterlichen  3?efte  gefeiten,  bie  in  Qferrara  ge= 
feiert  würben,  als  er  fam.  ©eitbem  ftnb  Starre 
Vergangen.  3n  lebenbigfter  Slnfc^aultcfefeit  fdjilbert 
er  fie  ber  Sßrinjeffm  unb  fd)liefci  mit  bem  9tu8ruf : 

£>,  Ia&  mi($  einen  Jöor^ang  ö'ox  ba8  Qanje, 
ÜDHr  attau  ^efle  @<$auft>iel  sieben,  bafi 
3n  btefem  frönen  SlugenMidfe  mir 
ÜDlein  Untoertlj  ni$t  au  Ijefttg  fühlbar  toerbe! 

€r  iß  offen  unb  empf&nglidj  für  leben  bebeu* 
tenben  Sinbrucf .   dinen  folgen  l)at  Antonios  $er* 


327]  Torquato  fcaffo.  479 

jönlid&feit  in  iljter  fixeren  unb  beftünmten  2ht, 
beten  £affo  ermangelt,  auf  biefen  gemalt;  er  t)at 
begierig  ben  Säuberungen  jener  großen  tljm  un- 
betannten  2Belt  gelaufdjt;  SlrioftenS  ßob  Ijat  iljn 
nidjt  beunruhigt,  er  !>at  e8  mit  bem  ©ettm&tfein 
gehört:  audj  id)  bin  ein  SMAtet! 

GS  toaren  bie  ©ehalten  jener  SBelt, 
$ie  fldj  lebenbig,  raftloS,  ungeheuer 
Um  einen  gro&en,  einsig  f lugen  Sttann 
©emeffen  brefyt  unb  tf)ren  Sauf  oottenbet, 
$en  iljr  ber  Halbgott  üorjuf^reiben  toagt. 
^Begierig  ljor$t'  idj  auf,  bernaljm  mit  Suft 
2)ie  fid)ern  äöorte  be*  erfahrnen  ÜJtanne«; 
S)o$  a$!  je  meljr  id)  ijord&te,  mefyr  unb  meljr 
JBerfanf  id&  t>or  mit  felbft,  id&  fftrdjtete 
2Bie  (Sd)o  an  ben  pfeifen  &u  oerf^toinben, 
(Sin  aötebertyafl,  ein  9ti$td  mid)  au  oerlteren. 

S)en  Slntonio  fdjmerjt  ber  SReib  gegen  £affo, 
biefen  bie  Setounberung  t)ot  Antonio: 

©ein  SBefen,  feine  äOßotte  tyaben  mid& 
<Bo  ftmnbetbat  getroffen,  ba&  tdj  meljt 
2liS  je  mi$  bereit  fü^Ic,  mit  mir  felbft 
2luf'8  neu'  in  ftreitenber  3hrtt>irrung  bin. 

2>tefen  Sefenntniffen  gemäfj  ift  SaffoS  €mt>fm= 
bungötpeife  unb  bie  ßabenj  feinet  ©efü^le  ju  be- 
urteilen.   ®ie  SEßelt  tljut  if>m  nW&t  bloS  ©ei), 


480  @oetye§  Soiquoto  fcaffo.  [328 

toenn  fie  il>n  abft5§t,  fxe  tyut  iljm  audj  toelj,  toenn 
er  fie  betounbert,  toenn  fie  tljm  tooljltljut.  2)enn 
e£  tfiut  iljm  tool#  3U  betounbern.  ©ein  ganje3 
SBefen  ift  fo  feinfühlig  unb  jart,  feine  @inbitbung§= 
traft  fo  erregbar  unb  lebhaft,  ba§  alle  ©inbrücfe 
unb  SJorftettungen,  bie  iljn  ergreifen,  in  bottfter 
©tftrfe  unb  barutn  leicht  fibertoältigenb  unb  fdjmerg* 
^aft  toirfen.  @bcn  barin  befielt  bie  @igentljüm= 
lidjfeit  feiner  bidjterifdjen  ©emüt^Sart. 

©elbft  fein  ßorbeerfrang  tljut  iljm  toelj.  Äaum 
§at  er  iljn  empfangen,  fo  ift  bas  ©efüljl,  beffelben 
nidfjt  toürbig  gu  fein,  tnädjtiger  als  ba§  ber  2tn= 
erfennung  unb  be§  IftuIjmS: 

O,  neljmt  ityn  toeg  oon  meinem  Raupte  toieber, 
üftefjmt  iljn  ljintoeg!    @r  fengt  mir  meine  Sorten! 

3$  bin  nidjt  loertij,  bie  ßufyfonfl  ju  empfiitben, 
$ie  nur  um  §clbenfiitncn  toefien  fott. 

©ogar  in'  ben  Sfubel  ber  ©etoifjljeit,  bafc  bie 
SPringeffin  iljn  liebe,  tnifdjt  fidj  bag  nieberfdjlagenbe 

2öa§  tljat  i<$  je,  bafc  fie  mu$  toasten  tonnte? 
2öa$  fott  id)  tljun,  um  ityrer  teert!)  au  fein? 

©ebenfen  toir  audj  ber  traurigen  3ugeub,  toeld^e 
Staffo  erlebt  §atte: 


329]  fcoiquoto  tatfo.  481 

Eröffnete  bie  Sippe  ft<$  $u  fingen, 

©o  flog  ein  traurig  Sieb  bon  ifjr  fjerab, 

Unb  iä)  begleitete  mit  leifen  £önen 

3)e8  SBatetS  @ä)meraen  unb  ber  Butter  Dual.1 

2)er  ©runbdjarafter  fetner  ©efuljle  toar  unb 
ift  ber  ©d&merj! 

SfteleS,  baS  Slntonio  gu  ben  Unarten  SEaffoS 
redjnet,  gehört  §u  feiner  Strt;  bieleS,  baS  er  richtig 
beobachtet  Ijat,  legt  er  unrichtig  aus,  tüte  man 
©ijmfctome  tooljt  richtig  feigen  fann,  aber  fatfef) 
beutet.  @r  nimmt  ben  ßorbeerlranj  als  eine  3tobe, 
bie  SlaffoS  (Sitelleit  fdjmeidjelt  unb  berfjöljnt  iljn, 
afe  biefer  feine  bemütljige  ßmpfmbung  aufrichtig 
belennt;  er  glaubt  andj  ßeonoren  nid)t,  als  biefe 
Ujm  fagt: 

S)cr  ßorbeerfrang  ift,  too  er  bir  erfd&eint, 
Sin  Seiten  mc^r  be*  ßcibcnS  al8  be8  ©lücfS. 

2Bir  toürben  bon  SEaffo  ein  ganj  falfd&eS  33ilb 
befommen,  toenn  toir  nur  ben  Antonio  hörten. 

6S  ift  fe§r  natürlich  ba§  Zaffo  ber  SQSelt;  bie 
iljn  fdjmerjt,  n>o  fie  iljn  berührt,  gern  aus  bem 
SBege  geljt  unb  lieber  allein  mit  jtd)  bleibt,  2)ie 
Seit  mad)t  iljn  franf,  bie  ©infamfeit  ljeilt  iljn: 


1  ©.  oben  VI.  2  ©.  16. 


492  (Soetfrft  Xotqpato  Saffo.  [380 

2afct  iniä)  mein  ©lud  im  tiefen  $ain  verbergen, 
Söie  ig  fonjt  ineine  6d)merjen  bort  Derbarg! 

2fn  bet  (Knfamfeit  ffi^lt  er  fidj  ungebrüdft  unb 
frei;  ljier  fdjafft  er  ftd)  bie  SBelt,  toorin  er  lebt, 
fie  ift  fein  SBerf,  feine  £ehnatl),  öon  ber  er  fd)merj= 
(idj  2lbfd&ieb  nimmt,  fd&on  mit  bem  SJorgefü^Ic 
bes  £eimtoelj8.  S)icfcS  SBerf  ift  er  felbft.  @§ 
fallt  U)tn  fdfotoer,  ftd)  tum  feinem  SBerfe  ju  trennen 
unb  e§  in  bie  &anb  be8  dürften  ju  legen,  bem 
er  bod)  aus  innerftem  &erjen  ljulbigt.  Sie  erften 
SBorte  SlaffoS  finb  ein  2lu$brucf  feines  SBefenS 
unb  feiner  ©runbftimmung,  ber  nidjt  foredjenber 
fein  fann: 

3ä)  fomine  langfant,  bir  ein  SBerf  au  bringen, 
Unb  saubre  noä),  eS  bir  ju  überreifen. 

Unb  tote  ber  SRenfä)  nur  fagen  fann:  #ie  bin  id)! 
3>af$  gfreunbe  feiner  fä)onenb  ftä)  erfreuen, 
©o  lann  iä)  audj  nur  fagen:  9limm  es  ijin! 

68  giebt  audj  eine  SBelt  aufjer  iijm,  bie  311 
iljm  felbft  unb  ju  feinem  SBerfe  gehört:  fie  befielt 
in  ben  geifteSbermanbten  SDlenfdjen,  in  feinen 
t^reunben,  bie  iljn  begeiftem,  toeil  fte  toon  iljm 
begeifiert  werben.  2)a8  ift  bie  SBelt,  bie  iljm  tt>oI)l= 
tljut,  ba  fie  iljn  jdjöpferifdj  ftimmt: 


331]  Torquato  fcaffo.  483 

2tn  euä)  nur  ba$V  i<$,  wenn  i$  fann  unb  fc^rieb; 
€u$  gu  gefallen,  toar  mein  $ö$fier  SQßunfd), 
6u$  gü  ergöfcen,  toar  mein  legtet  3to*d* 
äßet  ni<$t  bie  SÖßelt  in  feinen  fjreunben  ftefjt, 
SBerbient  nidjt,  bafe  bie  SCöelt  Don  ifjm  erfahre. 
#ier  ift  mein  löaterlanb,  fn'er  ift  bei  ÄreiS, 
3n  bem  fi$  meine  Seele  gern  oertoeilt. 

5)ie  SRenge  ma$t  ben  Äünftler  irr*  unb  f$eu: 
9lur  toer  eu<$  äfjnlt$  ift,  oerjtefjt  unb  fü^tt, 
SRur  ber  allein  fott  rieten  unb  belohnen! 

3n  btefen  SBorten  rebet  unfer  ©oetf)e=S£affo 
quo  eigenfter  ©eelenerfa^rung,  n>ar  bodj  unter  bem 
©influffc  ber  geliebten  3*au  unb  ber  greunbe 
biefe  feine  Sichtung  felbft  entftanben.  £ier  lagt 
er  ben  Saffo  fagen,  bafc  ßie6e  unb  3freunbfd&aft 
feine  9Q3e(t  unb  feine  SJlufen  finb;  foäter  im 
„äJorfoiel"  ju  feinem  fjauft  fogt  er  e3  felbft: 

£),  ft>rt<$  mir  nidjt  Don  jener  bunten  ÜDlenge, 
S3ei  beren  Hnfclitf  un*  ber  ©eift  entfliegt! 
SBcr^ütXe  mir  ba*  toogenbe  ©ebr&nge, 
$a8  toiber  SBitten  un$  gum  ©trubei  gie^t. 
üRein,  fü&re  mi<$  gur  füllen  $immel8enge, 
2öo  nur  bem  2>i<$ter  reine  Sfreube  Mfl$t, 
SOBo  Sieb'  unb  gteunbfdjaft  unfreS  bergend  ©egen 
SWit  ©ötterfjanb  erraffen  unb  erpflegen. 


484  titoctycft  Torquato  Xafio.  [332 

3.  3)ie  Siebe  gut  $rinjeffin. 

Snbeffen  füljlt  Saffo  audj  in  btefer  iljm  fo 
tooljlgeftnnten  unb  geifh8t>ertoanbten  SBett  ntd&t 
überall  unb  ntdjt  mit  jebem  ftc^  auf  gleidje  9lrt 
^cimifcfi.  2ll^on§  ift  fein  ©ebieter,  ber  für  iljn 
ettoag  Unnahbares  be^äft,  unb  beut  fd&toeigenber  ©e= 
Ijorfam  gebührt.  ©btooljl  nun  unfer  Slfyljonä  feines* 
toegS  als  unnahbare  ©röfce,  fonbern  jobia!  unb 
Reiter  mit  Stoff o  berfeljrt,  fo  liebt  e3  btefer,  fid) 
ben  dürften  fo  fcorjufteKen  unb  in  feiner  ©egen= 
toart  ben  2)ru<f  ju  empftnben,  toeldjen  bie  ©fjr* 
furd&t  mit  fidj  Bringt: 

Unb  fo  ift  er  mein  $err,  unb  tdj  empfinbe 
S)en  gangen  Umfang  biefe*  gro&en  2ÖortS. 

Antonio  t>er^&It  fid)  abteljnenb  unb  fatt,  fein 
Umgang  unb  9tatl)  ift  Mfjrretd),  aber  er  felbfi  nid&t 
anmutig : 

3)ie  ©rajien  ftnb  leiber  ausgeblieben, 
Unb  toeut  bie  ©oben  biefet  $olben  festen, 
2)cr  fann  3toar  Diel  befifeen,  Diele«  geben, 
3)oä)  lägt  ftä)  nie  an  feinem  SBufen  tubn. 

Unb  bie  Heine  ©räfin  berftimmt  iljn,  toeil  fte  iljm 
fdjmeidjelt  unb  bie  Slbfidjt  merfen  l&fct,  tljm  tooljfc 
guttun. 


333]  Torquato  Jtaffo.  485 

©ang  frei  fttljlt  ftdj  Üaffo  nur  mit  ber  s#rin= 
jefftn,  fte  ift  iljm  gemutet) erlaubt  unb  burdfj  tljre 
ßeiben  unb  Entbehrungen  Don  3ugenb  an  aud) 
fdjidffatebertoanbt;  fte  fcerfleljt  iljn  ganj,  er  $egt 
ju  iljr,  tote  ju  feinem  fonft  in  ber  2Bett,  ba§  toottfte 
Vertrauen : 

2Bo  ift  ber  3Rann, 
S)ic  Sfrau,  mit  bei  id)  tote  mit  bir 
2lu8  freiem  SJufen  toagen  barf  au  reben? 

3före  ©egentoart  toirft  auf  iljn,  tote  bie  btd^tertfd^e 
(Sinfamfeit,  Ijeilenb,  erlöfenb,  toeltbefreienb : 

äöie  ben  Söegauberten  oon  SRaufd)  unb  Söaljn 
2)er  @ottf>eit  «Rftfje  leicht  unb  toidig.  ^eilt, 
©o  toarb  aud)  i$  oon  alter  $b,antafie, 
S3on  jeber  ©udjt,  Don  jebem  falfdjen  triebe 
2ftit  einem  S3Iicf  in  beuten  ©lief  geseilt. 

©ie  toirft  toofyttljättger  ate  bie  ©infamfeit,  bie 
iljn  nic^t  DoDcr  Slljeilnaljme  anblitft  unb  fein  Slnt= 
üfc  Ijat,  in  baS  er  flauen  fann.  3)ie  erften  SBorte 
feines  Stoiegeforäd&S  mit  ber  ^ßrinjeffin  erleudjten 
bie  ©eelengemeinfdjaft  beiber,  toie  biefclbe  tum 
SlaffoS  ©eite  befielt.  S)ie  eben  erlebte  ©cene  mit 
Antonio  Ijat  iljn  Don  neuem  unfidjer  unb  irre  an 
ftdj  felbft  gemadjt,  fte  Ijat  3^cifel  unb  einen  Stuf* 
ruljr  ber  ©efü^le  in  iljm  erregt,  bie  nur  bie  <£in= 


486  0oe$cf  Torquato  «ftffo.  [3S4 

famfeit  ober  bie  ^Ttnjefftn  ju  beruhigen  betmag. 
%fyt  ftoblirf,  tfjre  SBorte  ljaben  für  tljn  bte  un- 
fehlbare £eißraft.  »ebrütften  ©emfitlje«  fudjt  er 
fte  auf: 

Unfi$er  folgen  meine  €>ä)rüte  birr 
O  gffirftin,  unb  ©ebanten  oljne  2Ra& 
Unb  Orbnung  regen  fiä)  in  meiner  Seele. 
ÜJlir  fdjeint  bie  Ginfamfeit  ju  nrinfen,  mid) 
@efällig  anjuliSpeln:  lomm',  ü$  löfe 
3)ie  neu  erregten  Steife!  beiner  lörufi. 
2)o$  werf*  i($  einen  SBlicf  auf  bid),  öemimmt 
9ftein  l>ord)enb  O&r  ein  SBort  üon  beiner  Sippe, 
©o  wirb  ein  neuer  Sag  um  mtd)  tyerum, 
Unb  afle  SBanbe  fallen  öon  mir  loa. 

4.  3)er  S)iä)ter  unb  feine  SBerlaffenljeit. 

■Wadj  einer  leibenStoollen  3ugenb  Ijatte  SEaffo 
in  Qferrara  eine  geifttge  £ettnatl)  unb  bie  fdjöne 
3freü>eit  gefunben,  in  toeldfoer  feine  Seele  fidj  ju 
mutigem  ©ef ang  entfalten  lonnte.  2)a§  grofce 
SBerf  biefeS  ©efangeS  ift  toollenbet,  bettmnbert  unb 
belohnt.  3)ie  ßiebe  ber  $rinje|itn  l)at  feine  Ijödtfien 
SBünf  d)e  in  einer  äBeife  erfüllt,  bie  er  nie  ju  tr&umen 
getoagt  „SiefeS  ©lütf  ift  über  alle  träume  !" 
3n  biefetn  Slugenblicf  ift  il)tn  ju  3Jtutlj,  als  ob  er 
nie  gelitten  Ijatte,  alles  in  feiner  ©eele  ift  lid)t, 


335]  Torquato  fcaffo.  487 

in  jugenbüd#er  Hoffnung  blidt  er  hinaus  in  bic 
toette  Ijette  3ufunft.  ©eine  SBorte  erinnern  un& 
an  bie  3ugenbfd)tfberung  be3  Dreft: 

(£3  ift  fo  gtofc,  fo  toett,  toaS  üot  btr  Hegt, 
Unb  fjoffnungsöotte  Sugenb  locft  bidj  toieber 
3n  unbefannte,  lid&te  3ulunft  Ijin!1 

SBenn  nur  ber  §immet  ba§  ftolje  3Bad)8tljum 
feines  ©lüdfs  nidjt  beneibet!  @r  fCe^t  um  feine 
©unft:  „ß  aOStttcrung  be§  ©lüdfe,  begünft'ge  biefe 
SPffonje  bodj  einmal!" 

5ßlöfcKdj  trübt  fidj  ber  £immet.  Antonios  3or- 
neätöolfen  gießen  herauf  unb  öerbunfeln  bie  ©onne, 
bie  iljm  nodj  eben  geftraf)it  Ijatte:  er  toirb  boii 
Antonio  beleibigt,  Dom  &ergog  beftraft.  (Sin  &agel* 
wetter  Ijat  bie  junge  5ßflange  feines  ©lüdfö  ju 
33öben  gefdjlagen.  2fl>er  bie  IjoffnungSreid&fte  Stütze 
ift  nodj  ungebrochen.  3)a  naljt  bie  Uebreidje  ©räfin 
unb  lächelt  mit  ber  9ta<%ridjt,  bafc  bie  Sßringeffin 
feine  Entfernung  bittige,  audfj  biefe  SSlütlje  gu 
©dfoanben. 

305er  StaffoS  ©emütljSart  toerfieljt,  »irb  e3  nafy 
entyfinben,  ttrie   jetjt  ba§   ©efü^l  ööttiger    35er* 


1  »gl-  JJMiflenie  II.  1.  &  673—76.  £affo  II.  2.  JB. 
1186-88. 


488  «oetfri  gotqnato  fcaffo.  [336 

laffenljeit  unb  Debc  iijn  überwältigt.  6t  Ijat  feine 
SBeft  berloren.  „SBer  nid&t  bie  SQBelt  in  feinen 
gfteunbcn  fteljtr  ®iefe  feine  „3Rit*  unb  Stadfc 
toelt"  l>at  ftd)  ton  iljm  abgemenbet.  SRan  munbere 
fid)  nur  nidjt  über  baS  9Äifjt>er(jftltnif$  Jtt)tfd&cn 
ber  ©etoalt  feines  ©d&merjeö  unb  beni  SBertfj  her 
SBegebenljeiten,  bie  iljn  toerurf  adjen !  6in  Ruberer 
l)ättc  bie  ©inge  leid&t  genommen  unb  nüdjtern  bor= 
geftettt.  SffiaS  ift  benn  SlrgeS  gefd&e^en  unb  in 
3lu8fidjt?  6in  SBorttoedjfel,  ein  fanget  @tuben= 
arreft,  eine  jeitroeilige  (Entfernung,  mefleidjt  eine 
3?rül)ling8reife  nadj  Sfotenj  ober  Stom  in  Seglei= 
tung  einer  liebenStoürbigen  3rau,  bie  alles  tljun 
toirb,  um  iljrem  ^Begleiter  ben  SBeg  bes  Qtbmä 
ju  Derfdjönern ! 

SEaffo  ift  nun  tbm  nidjt  biefer  beliebige  2lns 
bere,  leid&tfüfcig  unb  nüdjtern  genug,  um  nadj  feiner 
SequemUdjfeit  gu  beulen  unb  ju  Ijanbeln.  3)er 
ttrirflid)e  Slaffo  toar  ein  großer  Sinter,  ber 
©oetljeföe  ift  ein  nodj  größerer.  2Ba§  er  erlebt, 
toiegt  genau  fo  fd&toer,  tote  er  e§  ffiljlt,  ift  für  i§n 
genau  baS,  toa8  e8  iljm  bebeutet.  Unb  toenn  er 
felbfi  rec^t  gut  tofifcte,  baß  bie  Singe  bei  »eitern 
bie  33ebeutung  nidjt  Ijaben,  bie  er  iljnen  beilegt, 


837J  Torquato  Kaffo.  489 

fo  ttfirbe  baburdj  fein  ©d&merj  nid)t  erleichtert, 
fonbern  öertnefjrt.  Um  fo  fdjmerjlidfjer  wtyfinbet 
er  nun,  ba&  er  fo  tief  barunter  leibet.  @r  toetfc 
unb  fagt  e3: 

®a8,  tt>a8  Qefdjeljn  ift,  fränft  mxdj  nid)t  fo  tief; 
Gittern  ba8  tr&nft  mid),  tt>a3  c8  mir  bebeutet. l 

€8  finb  bie  Seiben  beä  2)td(jter8!  2Ba3  fann 
er  bafür,  bafc  feine  SSorftetfungen  fo  biet  größer, 
getüa ttt ger ,  teudjtenber,  barum  aud)  fo  toiel  er- 
greifenber  unb  rfiljrenber  finb,  ate  bie  ber  3111= 
tagSleute!  @r  tyat  ein  llnred&t  erlebt,  baS  feine 
5ßf)antafie  in  eine  SEragöbie  öertoanbelt,  fie  läfet 
iljm  fein  ©djidjal  erfdfjeinen,  teie  baS  beS  Stan* 
taluS : 

Of)mnä<$t,g,er  l  bu  üergafceft,  too  bu  ftanbft; 
3)er  ©ötter  ©aal  faxten  bir  auf  gleicher  (Erbe, 
9hm  überwältigt  bi$  ber  jälje  Sau! 

S)er  ödterlid&e  33ertt>ei3  be§  ^ergogS  toirb  jur 
äfcrbammung,  bie  3immer^aft  gur  ©efangenfdjaft, 
gum  Äerfer,  jur  bemütljigenben  3üd)tigung.  ®eS 
3)egen8  unb  be3  ßorbeerfrangeS  beraubt  er  fid&  felbft, 
nidjt  trofcig,  fonbern  bon  einer  Saide  mfidjtiger 
unb  rfiljrenber  SBorfteflungen  betoegt.    @8  ift  ein 


»  IV.  2.  JB.  2279-80. 

fluno  Qrlf^ct,  ®oet$c*  ©Triften.  32 


490  ©octfceft  Xoxquato  £affo.  [338 

SluSbrud  tiefsinniger  unb  fdjmerjerfüßter  8eben§= 
anfd&auung,  toomit  er  ben  ßorbeer  nieberlegt  unb 
Don  tt)m  Slbfdjteb  nimmt: 

2>u  nimmffc  bir  felbft,  toaS  leinet  nehmen  tonnte, 
Unb  toaS  fein  ©Ott  jum  jtoeitenmale  gtebt. 
Sott  2ttenfd)en  metben  munberbar  geprüft; 
SBir  fönnten'8  nitfct  ertragen,  r^ätt'  uns  nidjt 
2)en  Ijolben  Seidjtftnn  bie  Statur  öerliefjn. 

SBie  er  ben  ßorbeer  mit  bem  3)egen  Dereinigt, 
ergreift  i^n  biefeS  ©innbilb,  baS  bie  ©tätte  ge- 
fallener gelben  bejeidjnet.  @o  begräbt  er  fein 
©lud  unb  feine  Hoffnung ;; 

©efette  bt<$  gu  biefetn  $egen,  ber 
2)idj  leibet  nid&t  ertoarb;  um  tljn  gef Ölungen, 
SRulje,  toie  auf  bem  ©arg  ber  2aj>fern,  auf 
3)em  ©rabe  meines  ©lütlS  unb  meiner  Hoffnung! 

SBetoor  er  ben  ßorbeer  Don  ftd)  tljut,  fügt  er 
iljn.  SDaä  ift  feine  tljeatralifÄe  Stljräne,  fonbern  eine 
edjte,  bie  tooljl  bem  ©idjter  felbft  ins  9tuge  fam, 
ate  er  ben  ©djmerj  StaffoS  in  biefen  tiefgebadjten 
unb  betoegenben  SBorten  auSfprad): 

ÜJlit  biefem  Auf?  vereint  fiä)  eine  grölte 
Unb  toetfjt  bi<$  ber  SBergänglidjtett !  ©ä  ift 
©rlaubt,  baS  Ijolbe  3eidjen  unfrer  ©djtoääje. 
Söer  toeinte  nidjt,  toenn  baS  Unfterblidje 
33or  ber  3erftörung  felbft  nidjt  fidjer  ift? 


839]  Torquato  £affo.  491 

305er  in  ben  Sieben  StaffoS  nur  ben  5ßarabe= 
fd^rttt  ber  Jamben  öernimmt,  tote  ©oetfjeS  engltfdjer 
JBiograt)^  ßetoeS,  ber  unfere .  2)idjtung  „eine  fRet^e 
glatter  Serfe"  genannt  Ijat,  ber  Ijat  leine  Slljnung 
toon  bem,  toaS  Ijier  gefd)ieljt,  bon  ben  pfod&ifdjen 
©rlebniffen  unb  Srfdjütterungen  £affo§,  nadj 
beren  Ijerjbetoegenbem  8lu§bru<f  fein  ©eelenjuftanb 
ein  anberer  ift  als  toorfjer.  3e  bidjtertfdjer  unb  je 
ergreifenber  £affo  baS  @rlebte  öorftettt,  um  fo 
fdjmerjtidjer  toirb  e8  Don  iljm  em})funbenf  um  fo 
büfterer  erfd&eint  Ujm  fein  ©d)i<ffal,  um  fo  bös* 
artiger  Stntonio,  um  fo  ungerechter  bar  £erjog. 
€in  einziger  Sötoment  Ijai  aüe§  toeränbert: 

3Bo  flnb  bie  Stunben  Ijin, 
3)ie  um  bein  §aiu>t  mit  SHumenfränjen  fpicltcn? 

©eioaltfam  l)at  fidj  „bie  fd&toarje  Pforte  langer 
Strauerjeit"  geöffnet.  Sie  Sonne  feines  ©lüdfe  ift 
untergegangen,  jetft  ift  Antonio  baS  SEageägeftirn, 
ba3  iljn  überffraljft.  SBeljmütljig  unb  bidjterifdj 
toergleidjt  fid)  SEaffo  mit  bem  ©eftirne  ber  9?adjt; 
biefe  toenigen  SBorte  ftnb  ein  ÜJtonblieb,  einjig 
in  feiner  Slrt: 

2>er  Sttonb,  ber  bi$  Ui  *Ra$t  erfreut, 
Sein  Buge,  bein  ©emütlj  mit  feinem  @$ein 

32* 


498  <3oet4cft  gorquato  fcaffo.  [840 

Untoiberftel)li<&  lodt,  et  f^toebt  am  Sage 
Gin  uubebeutenb  blaffe*  2ööH$en  bin. 

9hm  toirb  er  ßeonoreng  Statlj  befolgen  unb  in 
bie  frembe,  toeite,  t^eilna^mlofe  SBelt  toanbern,  too 
ftd)  niemanb  um  tftn  flimmert: 

2>a«  ioerben  toir  erfahren!  Äenn'  i$  bo$ 
2>ie  SBelt  Don  3ugenb  auf,  tote  fte  fo  leicht 
Uns  bfllflo«,  einfant  tagt  unb  ttjren  SGßeg 
2öic  ©onn'  unb  ÜDlonb  unb  anbte  Götter  gebt. 

Unb  Antonio  ift  es,  ber  üjn  in  ba§  61enb  ftöfct, 
er  ift  fein  SBerberber,  beffen  ©efinnungen  Staffo 
fid)  nid)t  geljäffig  genug  öorftetfen,  nidjt  erbittert 
genug  ertoibern  fann.  2)a§  ©efttljl  beä  fcitterften 
©egenljaffeS  getoäljrt  iljm  augen&ftdKtdj  bie  er- 
tofinfd)tefte  ©enugtljuung.  3e  eifriger  ßeonore  be= 
ftrebt  ift,  iljm  feine  falfd&c  SSorjtettüng  Don  Antonio 
auSgureben,  um  fo  begieriger  Ijfttt  er  fie  feft: 

Unb  irr'  i$  mi<$  an  ifpn,  fo  irr'  t$  gern! 
3$  benf  tljn  mir  alg  meinen  äxgfien  gfeinb, 
Unb  toftr'  untröftlid),  toenn  id&  mir  iljn  nun 

©elinber  beuten  mfi&te. 

—    —    —    —    —    ÜRein,  i<$  mufe 
$on  nun  an  biefen  ÜJlann  als  ©egenftanb 
9$on  meinem  tieffien  §aft  behalten;  nidjts 
üann  mir  bie  Suft  entreißen,  fd&limm  unb  fdjlimmer 
Ston  i^m  ju  benfen, 


841]  Torquato  £affo.  493 

3)a§  ©effiljt,  Derlaffen  unb  berftofcen  ju  fein, 
toeldjeS  SEaffo  jetjt  mit  einer  förmltd&en  fetbft= 
quftlerifd&en  Sufl  Ijegt  unb  näljrt,  toirb  eben  ba* 
burdj  bie  QueKe  unb  ba§  Stljema  aller  ber  fallen 
Storfteftungen,  bie  er,  toie  e8  beiiljm  ntd^t  anberS 
fein  fann,  bidjter ifd)  verarbeitet  unb  ju  jenem 
„feltenen  ©etoebe  fidj  felbft  ju  fränfen"  auSfoinnt. 

SDie  Qfolge  ift,  bafc  er  fid)  böüig  ifolirt  unb 
juletjt  bie  anbern  nid)t  meljr  fieljt,  toie  fie  finb, 
fonbern  ttrie  er  fie  feinem  gefranften  §erjen  gu 
Siebe  öorftettt.  (Sr  ift  in  einer  ©emütljslage,  worin 
er  mit  SBertljer  fagen  lönnte:  „Slud)  Ijalte  id) 
mein  §erjdjen  ttrie  ein  franfeS  Äinb;  jeber  SBiÜe 
ttjirb  ifjtn  geftattet".  ßeonore  erfennt  unb  be= 
jeidjnet  btefe  feine  ©emütljsfttmmung  ganj  ridjtig, 
tt>enn  fie  ju  iljm  fagt: 

©c  lange  fjegft  bu  fd&on  Jöerbrufc  unb  Sorge, 
SBic  ein  geliebtes  Äinb  an  beinet  SBrufi. 

@o  eingefoonnen  ift  er  in  feine  irrige  SBor= 
ftettungätoeft,  fo  toerloren  in  bie  Slbgrünbe  feines 
gefranften  ©emtttljeS,  bafe  er  toiber  SBillen  in 
einen  Suftanb  gerate  ber  iljm,  bem  ßntljufiaften, 
am  toenigften  begegnen  foflte:  bafc  er  nur  fid)  unb 
an    ftd6   benft.    9iur  if)m  begegne   immer  baS 


494  (Boctycft  Torquato  Xafio.  [342 

2Bibem>ärtigfte,  nur  üjm  gegenüber  öeränbern  fidf) 
alle  unb  mit  einemmolel 

3eber  bon  ben  anbern  erfennt  Vtefe  SSertrrung 
unb  jeigt  iljm  ben  Spiegel,  bamit  er  firf)  be3 
Unrechts  unb  ber  ©efafjr  berfelben  benutzt  toerbe. 
Antonio  tabelt  tljn,  bafe  er  gegen  ben  2Bunf<§  be3 
&erjog8  auf  ber  Steife  nadj  9fr>m  befielt: 

2)u  benfft  nur  bidj  unb  benfft  ben  Surften  nidjt. 

2lfyl)on8  felbft  erteilt  iljm  in  feinen  3lbjd)ieb§= 
toorten  biefe  ernjie  unb  Dätertid^e  SBarnung: 

©8  liegt  um  und  fjerunt 
©ar  mannet  9lbgrunb,  ben  baö  ©tfcicffal  grub; 
2)o$  Ijter  in  unferm  #erjen  ift  ber  tieffU, 
Unb  reijenb  ift  e8,  ft$  ^tnabjuftürjen. 

63  ift  reijenb  unb  jugleidj  gefäljrlid).  2)iefe 
©efafyr  erlennt  ber  ftare  unb  tljeilneljtnenbe  ©inn 
ber  5ßrin jeffin: 

f&üd  auf,  o  Xaffo,  toenn  e8  mögliä)  ift! 
©rfenne  bie  ©efaljr,  in  ber  bu  fdjtoebft! 
3$  fdfcone  bi$;  benn  fonft  toürb*  i$  bir  fagen: 
311*8  ebel,  fo  ju  reben,  toie  bu  fprtdtft? 
3ft'8  ebel,  nur  allein  an  ftdj  gu  benlen, 
3(18  fränftejt  bu  ber  gfreunbe  #erjen  m$t?  * 

1  »gl.  oben  xni.  4.  6.  259.  -  Saffo  IV.  1. 
8.  2194-95,  2229-80,  2239-53,  2257-60,  2408-11, 
2379-80.  IV.  4.  SB.  2662.  V.  2.  SB.  3073-86.  V.  4. 
fÖ.  3163-68. 


343]  Torquato  £affo.  495 

„2Benn  es  möglitf)  ift!"  *Ro<$  ift  biefex  (eile 
3tuf6lidE  ntc^t  möglich.  @r  [türmt  feinen  3rrtt>eg 
fort  in  ben  Slbgrunb  bis  an  bie  ©renjen  beS 
SQßaljnfinnS,  too  er  in  ber  äufcerfien  SSerblenbung 
baS  (gntfetjen  in  ben  SJlienen  ber  SPrtnjefftn  für 
ßiebeSglutl)  Ijält  unb  nädj  ber  ©nttäufd)ung  alle 
für  ©d&urfen.  Stntonio  erfdjeint  iljm  als  5oIter= 
fned&t,  SllpljonS  als  graufamer  S^rann,  bie  <ßrin= 
jefftn  als  toerlotfenbe  ©irene,  als  SBuIjlbirne  mit 
bem  Slntli^  ber  Reuigen,  ©ofronia  ift  öer= 
fftmnbeit: 

Slrmiben  fei)'  iä)  nun 
!  entblößt  bon  allen  ftei^en.  —  3a,  bu  bift'ä! 

|  SBon  btr  (jat  aljnungSbott  mein  Sieb  gelungen! 

|  31jn  felbft  Ijabe  man  als  Dpfertljier  beirängt,  feines 

©ebidjteS  beraubt,  um  i^n  ber  9tott)  preiszugeben 
unb  ju  öerljinbern,  bafc  er  fein  SBerf  öerboll* 
fommne  unb  Siuljm  ertoerbe;  beS^alb  Ijabe  man 
i(jm  geraten,  ju  feiern,  fid)  ju  fronen,  beS 
Müßigganges  ju  pflegen.  <£s  fear  bie  auSge= 
bad&tefte  3&erfd)toörung  unb  Slntonio  xf)x  §aupt! 
2)ie  3freunbe,  bie  er  als  feine  SBelt  gepriefen, 
Ija&en  fid)  entlartot,  jefct  erft  fieljt  er,  toaS  fie 
finb:  fie  finb  lauter  23öfetotd)te  unb  ©djelme! 


4M  «0d*et  XowuAo  Saffo.  [SM 

3)ie  9Renf$en  tennen  fi$  einattber  ni$t; 

9lut  bie  ©aleerenfclatoen  tennen  fi$, 

JDie,  eng  an  eine  San!  gefömiebet,  teuren; 

9Bo  leinet  toa*  ftu  fotbem  ^at,  nnb  feinet 

99a*  SU  Dettieten  ljat,  ffe  tennen  fid&; 

2Bo  jebet  ft($  für  einen  Geeinten  gibt, 

Unb  feine*  ©leiten  au<$  fnt  @$elmen  nimmt. 

$>odj  toit  berfennen  nut  bie  anbetn  ^öfttt^, 

$amit  fle  triebet  uns  »etfennen  fotten. 

SEBte  her  ©oetl>efd)e  5Eaf|o  Ijiet  bie  SJerfdjttörung 
toiber  ftd)  unb  fein  SBerf  borfiettt,  äljnKdj  ljat  fte 
her  tonrflid&e  gebadet  unb  erlebt  gu  Ijaben  geglaubt; 
bie  legten  3Iu§brüd)c  feines  JBerfolgungStoaljneS, 
bie  jtdj  in  ßöfterungen  toiber  baS  §au3  @jte  er= 
gingen,  !önnen  in  ber  $auptfad)e  !ein  anbereS 
Slljema  gehabt  Ijaben,  als  ©oetlje  feinem  Staffo  in 
ben  SJtunb  legt.  Offenbar  Ijatte  er  ljier  ba§  ge= 
fdjidjtlidje  SBorbilb  toor  Slugen. 

©ie  SDtenfdjenfdjeu  ljat  fidj  in  einen  9Jtenfdjen= 
Ijafj  t>ertoanbelt ,  beffen  SluSlaffungen  ntc^t  pefft= 
miftifdjer  gebaut  toerben  fönnen,  als  fie  in  ben 
angeführten  Sorten  ausgeprägt  finb. 

5.    $>er  ÄünfUer  unb  fein  Söetf. 

SaffoS  3frrti>eg  enbet  in  einem  SJlomente  be8 
SrrjinnS,  toorauS  Antonios  fanfter  8uft>rudj  unb 


&5]  Torquato  £affo.  497 

beffen  üttaljnung  ju  rechter  3*it  iljn  toieber  ju  fidj 
bringt,  ©ein  faffungSlofer  3om,  ber  fid)  in 
irrfinnigen  ©djmftfyungen  entlub,  todr  in  bem 
Uebermafce  be§  ßeibeng  „ber  ©d&rei  be3  ©djmerjenä, 
toenn  julefct  ber  9Jlann  e§  nidjt  meljr  trägt". 
SBir  Ijaben  c§  ja  miterlebt,  tote  unter  bem  er= 
giebigen  8uflu&  mädjttger  unb  betoältigenber  33or= 
Rettungen  biefeS  Uebermafc  fidj  gufammengebicijtet, 
gehäuft  unb  getürmt  Ijat.  3fn  bem  erften  3lugen= 
Mttf  gurüdfteljrenber  33efinnung  erlennt  SEaffo  felbft, 
bafe  jene  ©djmäfjungen  nur  ber  otjnmädjtige  3lug= 
brutf  übermäßigen,  unauSfpredjlidjen  Seibens  toaren: 

Unb  in  ber  §öttenqual,  bie  midj  üernidjtet, 
SBirb  ßäft'rung  nur  ein  leifer  ©d&meraen&aut. 

S5er  Umfdjttmng,  ben  Antonio  in  ber  Stimmung 
SEaffoS  herbeiführt,  ift  in  beffen  eigner  ©emttttjs* 
ort  vorbereitet  unb  begrünbet.  SBaS  ityn  jjerquält 
unb  feine  SBorftettungen  jugleidj  infririrt  unb  ber= 
fälfdjt  l)at,  toax  ntd^t  ttmtljenber  £afi,  fonbern 
gefränfte  ßiebe. 

3lber  bie  «Kraft,  bie  iljn  aufritztet  unb  über 
fein  ßeiben  ergebt,  tourjelt  tiefer  unb  erfdjeint  un§ 
nidjt  erft  in  ben  legten  Sßorten  SCaffoS,  fonbern 
gteid&  in  feinen  erften.    SBir  erinnern  uns  fooljl, 


498  @oe$eft  Torquato  Stafto.  [346 

ttrie  er  fein  fertiget  SBerf  mit  betn  SSorgcfü^Ic  beS 
#eimtt>ef)8  fortgegeben  Ijat.  2)iefe8  SBerf  ift  feine 
toaljre  £eimatl),  bie  i$m  bleibt,  audj  ruenn  bie 
3?reunbe .  in  benen  er  feine  SBelt  f  alj ,  öon  iljm 
abfallen.  SBie  baS  ©efaljt,  öon  feinen  gfreunben 
öerlaffen  §u  fein,  fidj  feiner  ©eele  bemächtigt, 
ertoadjt  fogleid)  ba8  #eiimoel)  nad&  feinem  SBerf. 
Sc&on  in  ben  SBorten,  toomit  er  ba§  ©ebi<§t  bem 
Surften  überretdjt,  Ijat  er  e§  auSgefprodjen ,  bafc 
nodjj  nid)t  alles  geüjan  fei,  unb  eine  Aufgabe  iljm 
notfj  ju  löfen  bleibe: 

3<S  toeifc  ^  tool)(,  nodj  bleibt  es  unöoflenbet, 
SBenn  ed  audj  gleich  geenbtgt  flehten  möchte. 

3u  biefer  Aufgabe  feljri  er  jefct  jurütf.  @£ 
gilt  bie  SSoHenbung  be8  ©ebid)t3  als  eines  $unft= 
toerfeS,  bie  Herstellung  ber  fünftlerifdjen  2Soll= 
fommenljeit  feines  SBerfeS ,  toorüber  nidfjt  bie 
üttänner  am  £ofe  in  i$trtaxa,  toie  flug  fie  immer 
fein  mögen,  urteilen  fönnen  unb  follen,  fonbern 
nur  bie  berufenen  $unftrid&ter  in  [Rom.  @8  ift 
ni<t)t  meljr  ber  t>atf)ologifd)  gefiimmte  Sinter, 
fonbern  ber  ßttnftler,  ber  ju  ber  Slrbeit  an 
feinem  2Berfe  gurücKeljrt  unb  jetjt  ben  SJeifaÜ 
nidjt  ber  fjreunbe  fudjt,  fonbern  ber  fienner.    @S 


847]  Torquato  Saffo.  499* 


tljut  iljm  ao$l,  bie  tarnen  biefer  Berufenen  ßunft= 
rietet  bem  Slntonto  gegenüber,  ber  tfjm  bie  Steife 
nad)  SRom  auöreben  möd)te,  leudjten  ju  laffen: 

3)o$  biefe  muß  id)  fefm.    ©onjaga  fjat 
3JUr  ein  ©eridjt  toerfammelt,  bem  id&  erft 
9ttid)  fteücn  muß.    3$  fann  es  faum  ertoarien. 
fjflaminto  bc  Sftobtft,  Slngclio 
3)a  Satga,  Slntoniano  unb  ©perwt  €>peroni! 
S)u  wirft  ftc  fennen  -  m\fy  ftamen  finb'3 ! 

9tom  gegen  gerrara!  9tuu  Reifet  cS  nid&t  tne^r: 
„Sin  e*u$  m**  bad&t'  id),  menn  i<$  fann  unb 
fdjrieb"!  3Ba8  iljn  jeijt  leiten  unb  befeelen  fott, 
ftnb  bie  Ijoljen  unb  etoigen  SDluftcr  ber  Äunft, 
„bie  großen  SDieifter  ber  SSortoett,"  bie  er  nur  in 
9tom  ftnbet.  ©aljer  ift  Sftom,  ttrie  er  es  ber 
^ßringeffin  f djilbert,  baS  nddjfte  3id  feines  SBegeä: 

Unb  fprtd^t  in  jener  erften  ©tabt  ber  SDßett 
9lid)t  jcber  $tafc,  niäjt  jebet  ©tein  gu  und? 
2öie  triele  taufenb  ftumme  Sekret  totnfen 
3n  ernfter  9Jlajeftät  uns  freunbliä}  an! 
SBottenb'  iä)  ba  nidjt  mein  ©ebt$t,  fo  fann 

1  jjjfl'a  nie  öoflenben. l 

i 

®a§  ift  au3  bem  £ergen  unb  ber  ©rfaljrung 
©oetljeS  gerebet,  ber  nid)t  ffirjer  bie  ©pocfye  fdjilbem 


»  IV.  4.  ».  2654-59.  V.  4.  SB.  3125-30. 


100  Cocittt  Torquato  Saffo.  $48 

fomtte,  bie  er  t)on  feinem  ^lufent^ali  in  Stom  er* 
Ijofft  unb  in  betnfelben  erlebt  Ijatte. 

9tom  gegen  Sferrara!  SReue,  grofteunb  erhabene 
StorfieUungen  gegen  bie  ausgelebten,  Keinen  unb 
toiberlidjen,  bie  nad)  bem  Streit  mit  Antonio  unb 
ben  folgen  biefeS  Streite  2aflo8  §erj  mit  Unsitten 
unb  6lel  erfüllen,  ©ein  ©elbfigefrräd)  in  ein= 
famer  3immerfjaft  enbet  mit  bem  teibenfdjafttidjen 
Ausruf: 

SBobin,  toofjin  betoeg'  i$  meinen  ©d&ritt, 
$em  Siel  311  entflieg,  ber  mi$  umfauft, 
2)em  &bgrunb  ju  entgeljn,  ber  bot  mir  liegt?1 


1  IV.  1.  ».  2237—40.  -  «m^re  batte  rid&ttg  be« 
merft,  faßte  Goethe  gu  Gcf ermann,  bafe  ibn  bie  S&ergtoeiffang 
na<$  Italien  getrieben  Ijabe.  <5r  felbft  fd&rieb  Don  9tom 
an  ftarl  Sluguft,  bafc  er  fl<b  t)ier  öon  ben  pbtyfifdj8 
moralifd&en  liebeln  babe  befreien  tooflen,  bie  xfjn  in 
$eutf<$lanb  quälten  unb  gulefct  unbraudjbar  matten. 
(©.  oben  ©.  11  u.  6.  56.) 

3n  ber  „italtenifcrjen  Steife"  fagt  Goethe  oon  feinem 
$affo:  „3)er  fd&merglidje  3ug  einer  leibenfdjaftlidjen  Seele, 
bie  untoiberfteblt^  gu  einer  untoiberruflidjen  Verbannung 
bingegogen  toirb,  gebt  bur$  bag  gange  ©tücf\  —  9flan 
toirb  ÜJtübe  ^aben,  biefen  3ug  in  ber  $)i$tung  felbft 
nadjgutoeifen.  SBon  bem  «gangen  6tücf*  fann  f$on  ba« 
rum  feine  SRebe  fein,  ioeil  in  ben  beiben  erften  31cten 
bie  Entfernung  fcaffoä  gar  niä)t   in  fjfrage  fommt.    (£8 


349]  Torquato  fcaffo.  $01 

3fn  her  StrBeit  an  feinem  SBerfe,  im  SDid&ten 
unb  ©Raffen  toirb  er  aufatmen  unb  ein  neues 
ßeBen  beginnen.  @r  §at  ba8  fidjere  SBorgefüfjt 
biefer  ©enefung.  SBeber  bie  gerftufätoofle  SBelt 
nodj  bie  mttfcige  (Sinfamleit  fönnen  iljm  Reifen, 
beibe  madjen  tljm  Sßein.    S)a8  Clement,  toorin  er 


bleiben  atfo  nur  bie  beiben  legten  übrig,  ba  in  bem 
britten  Xaffo  niäjt  auftritt. 

#ier  aber  fu#en  nur  jenen  ftfcmeralidjen  3ug,  mit 
bem  unfer  2)idjter  bätte  ftympatbiftren  fönnen,  öergebeng. 
2öa8  ©oetbe  elegifd)  empfanb,  toar  feine  unfrettoiUtge 
Verbannung  Don  9fc  o m ,  b.  tj.  bie  ftücfteljr  in  bie  norbif$e 
#eimatb.  Saffo  bagegen  oerbannt  ft<$  frettorittig  nad) 
91  om,  unb  atoar  toäijlt  er  biefe  Verbannung  aud  äbnlid&en 
Vetoeggrünben,  als  aus  toetdjen  ©oetfjes  ©eljnfudjt  unb 
Steife  nad)  Stalten  unb  nadj  &om  ljerüorging.  SBenn 
biefer  ft<$  baljer  in  ber  „italienifdfcen  Steife1'  mit  Xaffo 
alä  bem  IRetfegefd^rten  feiner  9lücftef)r  öergleidjt,  fo  liegt 
baS  äfjnlitfje  ©djicffal  beiber  nur  in  einer  fdjmerjlidjen 
Entfernung  überhaupt,  nidjt  in  ber  2lrt  unb  bem  3'id  ber 
w  Verbannung". 

2118  ©oet^e  ben  ©d)Iu&  feiner  ,italienif$en  fRcifc" 
fdjrieb,  blitfte  er  auf  ben  Xaffo  aud  einer  fo  toeiten  Sferne 
aurücf,  ba&  er  ftd)  über  bie  5ler)ntid&feit  mit  feinem  ba» 
maligen  SReifegefäbrten  tauften  fonnte.  Ober  täufdjte  er 
nidjt  ftd),  fonbern  nur  uns,  inbem  er  jenem  ©efäljrten 
einen  elegifdjen  3ug  anbietete,  ber  toeit  beffer  in  ben 
©ifclufc  feiner  „italienifd&en  Steife"  al8  in  ben  feine»  £affo 
felbft  jmfete,  too  man  iljn  au<$  öergebti<$  fud)t?  (Vgl.  oben 
III.  5.  6.  35-37.) 


502  Gtoet&e»  Zotquato  fcaflo.  [360 

fid)  tooljl  unb  frei  füfytt,  »eil  l)ter  fein  ctgcnftcS 
SBefen  fid)  entfaltet,  ift  einjig  unb  allein  bie 
bidjterifdje  SCljättgfeit  felbft.  Saturn  ftnb  aud)  bie 
tooljlgemeinten  SRatljfdjläge  be8  dürften,  bafc  er  fid) 
3erftreuung  unb  9hif)e  gönnen  möge,  nidjt  nadj 
feinem  ©um  unb  iljm  nidjts  nfltje: 

3Jltr  ift  nufct  tooM 
3n  freier  Uewigteit.    Stttr  läßt  bie  ftufj' 
Am  mtnb'ften  &uf)e.    3)ie3  ©emütf)  ift  nid&t 
SBon  ber  Statur  beftimmt,  i<$  fü^l1  es  leiber! 
Auf  toeidjem  (Element  ber  Sage  frolj 
3n'*  roeite  SKeet  ber  Seiten  Jjinaufc&toimmen. 

3fl)m  gebietet  ein  mädjtigerer  £err,  als  ber 
§ergog  öon  3ferrara.  @8  ift  f«n  ©eniuS ,  ber  iljn 
untt>iber|lel)lidj  brftngt  unb  nidjt  ruljen  unb  raften 
läfet,  Bis  er  fein  2Berf  im  2)ienfte  be§  ©eniuS 
tooftbradjt  ljat: 

3$  fyalte  biefen  2)rang  öergeben8  auf, 

2>er  Sag  unb  9ta$t  in  meinem  Stofen  toedjfett. 

Söenn  i<$  nid&t  flnnen  ober  bieten  foü, 

So  ift  boö  ßeben  mir  fein  ßeben  meijr. 

©erbiete  bu  bem  ©eibenttmrm  ju  fpinnen, 

SOßenn  er  ft$  f<$on  bem  Sobe  näljer  fpinnt: 

$a3  föftii^e  ©emeb'  entmicfclt  er 

5lu8  feinem  3nnerften,  unb  läßt  nidjt  ab, 

2M8  er  in  feinen  ©arg  ftd&  eingefd&Ioffen. 


351]  Torquato  £af[o.  603 

£),  gcb'  ein  guter  ©oti  uns  audj  bereinft 
2>a$  Sfötcffat  beg  beneibenStoertljen  SQÖurmä, 
3m  neuen  ©onnentftal  bie  fjlügel  rafdj 
Unb  freubig  gu  entfalten!1 

@o  regt  fid)  in  Staffo  tjan  feinen  erften  Sßorten 
bis  ju  ben  legten  baö  ©efüljl  unb  ber  ©rang 
feines  ÄünftlerberufS.  9?ad&  bent  ©treit  mit 
SIntonio  unb  bem  ©prudje  beS  &erjog§  emtjfmbet 
er  peinüdjer  als  je  ben  3toieft>alt  jtüifd&en  bem, 
tt>aS  er  fott,  unb  bem,  tt»aS  er  ift.  3n  SBaljrljeit 
ift  er  ein  großer  3)id)ter  unb  ßünftler,  in  2Birf= 
Ud)feit  ein  gefangener  &6fling!  „2Bo!jin,  tooljtn 
betoeg'  idj  meinen  ©djrttt,  bem  6fel  ju  entflie^n, 
ber  midj  umfauft?"  —  „$ret  xoitL  id)  fein  im  S)enfen 
unb  im  S)id&ten!" 

Sie  legten  leibenfd&aftüd&en  3luSbrüd&e  Ratten 
ben  6ntfd)fofj,  feinem  SBerfe  unb  SBerufe  gu  leben, 
gteidjfam  überflutet  unb  für  ben  SlugenblidC  toöHig 
tierbunfelt.  SlntonioS  SBort  bringt  iljn  juredjt: 
„@rfenne,  toaS  bu  bift!"  SDiefeS  SBort,  baS  totr 
eine  SÄaljnung  genannt  ljaben,  ift  für  £affo  nur 
eine  ©rinnerung:   eS  toergegentoärttgt  iljm  ben 


1  V.  2.  *ö.  3066-71,  3079-91. 


504  <8oet$c»  Torquato  taffo.  [352 

fdjon  gefaxten,   in  feinem  3nnerfien  lebenbtgen 
€ntf<f)lu§.    3)aljer  antwortet  er  betfi  Antonio: 

3a,  bu  ctinnerp  ini<$  gut  regten  3cit! 
6.    Antonio  unb  Xaffo. 

©o  feljen  toir  jum  ©djlufc  nod)  einmal  bie 
beiben  SÄänner  bor  uns,  bie  ©egner  toaren  unb 
feine  meljr  pnb.  ©8  gab  im  ßeben  ©oetljeS  eine 
Seit,  too  er  felbft  ein  beneibeter  SEaffo  toar  unb 
unter  feinen  ©egnem  am  &ofe  gu  SBeimar  meljr 
als  ein  fdjelblitfenber  unb  faltgefinnter  Antonio. 
£ier  ift  ber  S£ltf>uS#  beS  uuberföljnlicijen  ©egen* 
fafceS  beiber ,  toie  iljn  bie  erften  Stete  unferer 
2)i<$tung  fd&ilbern: 

©ie^  ba3  Steifere  nur 
33on  Reiben  an,  baS  5lngeft(§t,  ben  £on, 
$en  SBIicf,  ben  Sritt!    @3  toiberftrebt  fid)  ade§; 
©ie  !5nnen  eitrig  feine  ßiebe  toed&feln. 

Stber  ber  ©ntaridtungSgang  unfereS  ©idjterS 
braute  es  mit  fidj,  ba§  er  felbft  ein  toiel=  uni> 
ernftbefdjftftigter  Staatsmann  ttmrbe,  ber  erfte  in 
bem  Keinen  £erjogtljum,  unb  es  famen  3faljre, 
in  benen  ©oetlje,  nadj  bem  ©Kielraum  feiner 
£f)ätigfeit  ju  urteilen,  toeit  meljr  Slntonio  toar 
als  £affo,  bis  jule^t  fein  mädjtiger  ©eniuS  fidj 


353]  Torquato  fcaflo.  505 

batoiber  auflehnte  unb  feilte  Urtexte  in  2tnf:prudj 
nafjm.  Um  bem  UeBerbrufc  gu .  entfliegen ,  feinem 
©eniuS  gu  leben,  feine  SBerfe  fünftterifd)  um- 
gugeftalten  unb  311  tooflenben,  ging  er  nad)  Stoßen, 
nadj  9tom.  3lu§  bem  größten  2)idjter  ber  beutfd)en 
©turms  unb  ©rangehe  trmrbe  unfer  größter 
cfaffifd&er  ©td)ter  unb  Aünfiter.  2Tuf  bem  Sßege 
ju  biefem  Skh  Ijatte  er  ben  (Sljarafter  unb  bie 
Aufgaben  eines  Antonio,  im  ebelften  ©inne  beS 
SBortä,  in  fi<$  aufgenommen  unb  burdtfebt. 

Saffo  unb  Antonio  finb  in  iljm  bereinigt 
unb  berföljnt,  ber  ©runb  iljrer  fjeinbfd&aft  ift 
getilgt : 

3toei  2ttftnnet  finb'«,  id)  fjab'  e3  lang  gefügt, 
£)ie  barum  fjfctnbc  finb,  toeit  bic  SRatur 
*Ri$t  einen  üRann  aus  iijnen  bciben  formte. 

S)ie  Statur  Ijat  biefen  einen  Sftann  geformt: 
e8  toar  ber  2)id)ter  be§  £affo. 


«•00<£>+»*«<3>00.- 


ftutto  g-ifc^cr,  (Soetfjc- ©Triften.  33