Skip to main content

Full text of "Der Cicerone : eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens"

See other formats


r^'^^^^f^fw^^m^  mw  ^ys^^*^^7%*yrr*^^.'??c^ 


DER  CICERONE 


VON 


JACOB  BURCKHARDT 

NEUDRUCK  DER  ERSTEN  AUFLAGE 
ZWEITER  TEIL 

SCULPTUR 


'L*,.:r,.'jii"*ji,; 


SCULPTUR. 


Nur  schwer  und  allmälig  öffnet  sich  dem  Laien  das  Verständniss 
für  die  Sculptur.  Die  Gesetze  und  Bedingungen,  unter  welchen  sie 
das  Schöne  hervorbringt,  sind  so  vielfältig  und  liegen  zum  Theil  so 
versteckt,  dass  sehr  viel  Zeit,  Übung  und  Verkehr  mit  Bildhauern 
dazu  gehört,  um  sich  auch  nur  in  den  Vorhallen  dieser  Kunst  zurecht- 
zufinden. Viele  unter  den  antiken  Werken  sprechen  freilich  so  laut 
und  von  selbst,  dass  auch  der  gleichgültigste  Beschauer  auf  irgend 
eine  Art  davon  angeregt  wird;  daneben  bleibt  aber  vielleicht  das 
Allertrefflichste  unbemerkt,  wenn  Auge  und  Sinn  nicht  eine  gewisse 
Vorschule  durchgemacht  und  nach  bestimmten  Vorsätzen  suchen  und 
forschen  gelernt  haben. 

Es  giebt  einen  Weg  zum  Genuss  an  der  Hand  der  antiken  Kunst- 
geschichte. Sie  lehrt  epochenweise,  wie  das  Schöne  geworden,  welchen 
Zeiten,  Schulen  und  Künstlern  die  Schöpfung  und  Ausbildung  der 
wichtigsten  Elemente  desselben  angehört;  sie  weist  in  den  wenigen 
vorhandenen  Urbildern  und  in  den  zahlreichern  Wiederholungen  diese 
ihre  Resultate  oft  mit  völliger  Sicherheit  nach.  Allein  diese  setzt  be- 
trächtliche Studien  und  einen  bereits  sehr  geschärften  Blick  voraus. 
Wer  unvorbereitet  aus  dem  Norden  in  die  Galerien  Italiens  tritt,  wird 
sich  die  Schätze  derselben  auf  eine  andere  Art  aneignen  müssen. 


Die  Griechen  verlangten  von  ihren  Künstlern  nicht  Originalität 
im  heutigen  Sinne,  d.  h.  nicht  ewig  abwechselnde  Aufgaben  und  Dar-, 
stellungsweisen;  wenn  für  irgend  einen  Gegenstand  der  höchste  Aus- 

Urcicerone.  27 


t^-oiw:^^^-  ^j--' JiiiaMi.^«aaiiiSfe^^ 


410 


Antike  Scalptar.    Die  Masse  and  ihr  Inhalt. 


druck  einmal  gefunden  war,  so  genügte  es  Jahrhunderte  hindurch, 
diesen  frei  zu  reproduciren  oder  auch  ohne  Weiteres  zu  wiederholen. 
Es  bildeten  sich  stehende  Typen  oder  Darstellungsweisen,  und  (was 
momentane  Stellung  oder  Bev/egung  anbetrifft)  stehende  Motive. 
An  diese  halte  sich  der  Laie,  ihnen  suche  er  zunächst  das  Mögliche 
abzugewinnen.  Das  geschichtliche  Interesse  wird  sich  mit  der  Zeit 
von  selbst  hinzufinden,  wenn  man  unter  den  verschiedenen  Exemplaren 
derselben  Darstellung  das  Bessere  und  das  Geringere,  das  Frühere 
und  das  Spätere  mit  einander  vergleichen  gelernt  hat. 

Eine  Anzahl  glänzender  Ausnahmen  abgerechnet,  besteht  der  un- 
geheure Vorrath  der  Museen  Italiens  nicht  aus  Originalwerken  alt- 
griechischer Künstler,  sondern  aus  Werken  der  römischen  Zeit  vom 
letzten  Jahrhundert  der  Republik  abwärts.  Zum  Theil  sind  es  Ori- 
ginalarbeiten der  betreffenden  Zeit,  wie  z.  B.  die  Bildnissstatuen  und 
Brustbilder  von  Römern,  die  Bildwerke  der  Triumphbogen  und  Ehren- 
säulen u.  s.  w.;  in  weit  überwiegender  Masse  aber  finden  sich  die 
Wiederholungen  älterer  idealer  Typen  und  Motive,  meist  von  griechi- 
scher Erfindung.  Die  ausführenden  Künstler  selbst  sind  fast  sämmt- 
lich  unbekannt,  doch  giebt  man  sich  gerne  der  Vermuthung  hin,  dass 
bis  tief  in  die  Kaiserzeit  hinein  eine  treffliche  Colonie  griechischer 
Sculptoren  in  Rom  und  Italien  geblüht  habe.  Immerhin  müssen  wir 
uns  darein  fügen,  aus  der  Blüthezeit  der  griechischen  Cultur  eine 
Menge  blosser  Künstlernamen  fast  ohne  Denkmäler,  aus  den  letzten 
Zeiten  des  Alterthums  dagegen  eine  gewaltige  Menge  von  Denkmälern 
fast  ohne  Künstlernamen  zu  kennen.  —  Der  Unterschied  zwischen 
griechischer  und  römischer  Kunst  wird,  wie  aus  dem  Gesagten  er- 
hellt, zwar  im  Ganzen  sehr  bemerklich,  an  dem  einzelnen  Denkmal 
aber  nicht  immer  leicht  nachzuweisen  sein. 


Die  ehemalige  Bestimmung  und  Aufstellung  dieser  Bildwerke  war 
eine  sehr  verschiedene  und  entsprach  wohl  im  Ganzen  ihrem  Werthe 
oder  ihrer  äussern  Beschaffenheit.  Die  Colossalstatue  gehörte  ins 
Freie,  wo  sie  sich  herrschend  selbst  zwischen  mächtigen  Bauten  gel- 
tend machen  konnte.  Selten  kommen  eigentliche  Cultusbilder  vor, 
während  der  übrige   Schmuck  der  Tempel,  die  Reliefs  ihrer  Friese, 


Herkunft  aud  Bestimmong. 


4" 


die  Statuen  ihrer  Giebel  und  Portiken  in  Menge  übrig  geblieben  sind. 
Die  Bildnisse  stammen  wohl  aus  den  Vorhallen  der  Reichen  und  Vor- 
nehmen, zum  Theil  auch  von  öffentlichen  Plätzen,  während  das  ganze 
Privathaus  und  die  Villa  des  Wohlhabenden  noch  ausserdem  reiche 
Fundorte  von  Göttern,  Heroen,  Brunnenfiguren  und  andern  idealen 
Gestalten  geworden  sind.  Bei  Altären  und  Sarcophagen  ergiebt  sich 
die  Herkunft  schon  aus  der  Bestimmung;  marmorne  Candelaber  und 
Vasen  mochten  ebensowohl  zu  heiligem  Gebrauch  in  Tempeln  als  zur 
Zierde  in  Palästen  dienen;  Hermen  standen  wohl  meist  im  Freien, 
namentlich  in  Gärten.  Endlich  lieferten  die  römischen  Thermen  das 
Köstlichste,  selbst  Prachtarbeiten  griechischer  Kunst,  wie  z.  B.  den 
Laocoon;  nur  mit  Mühe  kann  sich  die  Phantasie  ein  Bild  entwerfen 
von  der  Fülle  plastischen  Schmuckes,  welche  diese  Stätten  des  öffent- 
lichen Vergnügens,  welche  auch  Theater,  Cirken  und  öffentliche  Hallen 
verherrlichte.  —  Für  so  verschiedene  Zwecke  wurden  begreiflicher 
Weise  auch  sehr  verschiedene  Kräfte  in  Anspruch  genommen,  und  es 
ist  ein  grosser  Unterschied  der  Behandlung  zwischen  dem  Hauptwerk 
eines  wichtigen  Saales  in  kaiserlichen  Thermen  oder  Palästen,  und 
der  Statue,  welche  für  das  hohe  Dach  eines  Porticus  oder  die  ent- 
fernten Laubgänge  eines  bescheidenen  Gartens  geschaffen  wurde.  Zu 
gleicher  Zeit  meisselten  vielleicht  der  Künstler  und  der  Steinmetz  nach 
demselben  Vorbilde,  und  der  Eine  brachte  ein  Werk  voll  des  edelsten 
Lebensgefühles,  der  Andere  eine  auf  die  Ferne  berechnete  Decora- 
tionsfigur zum  Vorschein.  Und  dennoch  wird  auch  die  letztere,  so 
roh  und  so  spät  sie  sei,  den  göttlichen  Funken  des  griechischen  Ge- 
nius, der  in  der  Erfindung  waltet,  nie  ganz  verläugnen  können. 


Noch  auf  eine  weitere  Verkettung  von  Umständen,  welche  den 
Genuss  antiker  Bildwerke  oft  sehr  beeinträchtigen,  muss  hier  vor- 
läufig aufmerksam  gemacht  werden.  Nur  äusserst  wenige  Statuen 
nämlich  sind  ganz  unverletzt  gefunden  worden;  die  meisten  haben 
sehr  bedeutende  Restaurationen  aus  den  letzten  Jahrhunderten.  Das 
ungeübte  Auge  unterscheidet  gar  nicht  so  leicht,  als  man  denken  sollte, 
das  Neue  von  dem  Alten.  Nun  gehören  gerade  die  sprechenden  Theile, 
Kopf,  Hände,  Attribute,  oft  nur  dem  Hersteller  an,  und  dieser  hat 

27* 


L^^g^^-j^^^^^g^^g 


äi^llMiiäMilBii 


412 


Antike  Scnlptur.  —  Restaurationen. 


lange  nicht  immer  das  Richtige  getroffen;  er  giebt  z.  B.  einer  ehe- 
mahgen  Flora  Kornähren  und  einer  ehemaligen  Ceres  Blumen  in  die 
Hand;  er  restaurirt  einen  Mars  als  Mercur  und  umgekehrt.  Der  Laie 
darf  daher  die  bessern  literarischen  Hülfsmittel,  welche  dergleichen 
Täuschungen  aufdecken,  nicht  verschmähen,  wenn  er  zu  einiger  Kennt- 
niss  dieses  Gebietes  gelangen  will.  Bisweilen  musste  nach  einem  ver- 
hältnissmässig  geringen,  aber  an  Kunstwerth  ausgezeichneten  Rest  das 
Ganze  einer  Statue  neu  gedacht  und  danach  das  viele  Fehlende  er- 
gänzt werden.  Dieser  Art  sind  z.  B.  Thorwaldsens  unübertreffliche 
Restaurationen  an  mehreren  von  den  äginetischen  Figuren  so  wie  am 
barberinischen  Faun  in  der  Münchner  Glyptothek;  auch  der  rechte 
Arm  des  Laocoon  (von  wem  er  auch  sein  möge)  gehörte  zu  den  grössten 
Aufgaben  in  diesem  Fache. 

Wie  aber,  wenn  man  an  vielen  Statuen  zwar  antike,  aber  nicht 
ursprünglich  dazu  gehörige,  sondern  anderswo  gefundene  Köpfe  an- 
träfe? Diese  Ergänzungsweise  ist  z,  B.  gerade  in  den  römischen  Mu- 
seen sehr  häufig  und  lässt  sich  insgemein  schwer,  ja  in  einzelnen 
Fällen  ohne  besondere  Nachrichten  ganz  unmöglich  entdecken.  Vor 
dem  opfernden  Römer  z.  B.,  der  die  Toga  über  das  Haupt  gezogen 
a  hat  (Vatican,  Sala  della  Biga),  wird  Niemand  von  selbst  auf  einen 
solchen  Gedanken  gerathen. 

So  weit  die  modernen  Galerieverwaltungen  und  Restauratoren; 
man  kann  ihre  Thätigkeit  und  ihr  Glück  nur  bewundern,  wenn  sie 
so  das  Rechte  treffen,  wie  in  dem  letztgenannten  Fall.  Allein  schon 
im  Alterthum  kamen  Dinge  analoger  Art  vor.  Nicht  nur  wurden  bei 
politischen  Umschwüngen  und  Regierungswechseln  die  Köpfe  von 
Bildnissstatuen  abgeschlagen  und  neue  aufgesetzt,  sondern  die  Bild- 
hauer müssen  wenigstens  in  der  römischen  Zeit  viele  kopflose  Statuen 
im  Vorrath  gearbeitet  haben,  welchen  erst  nach  geschehener  Bestellung 
ein  Porträtkopf  aufgesetzt  wurde.  Diess  stimmte  trefflich  zu  der  seit 
Alexander  aufgekommenen  Sitte  vieler  Grossen,  sich  in  Gestalt  einer 
Gottheit  abbilden  zu  lassen,  und  vollends  zu  der  spätrömischen  Ge- 
wohnheit, die  Statuen  aus  mehreren  Steinarten  zusammenzusetzen.  Es 
war  am  Ende  ganz  gleichgültig,  welcher  Marmorkopf  in  die  alabasterne 
oder  porphyrne  Draperie  hineingesenkt  wurde. 


Werth  derselben. 


413 


Diess  Alles  darf  den  Beschauer  zu  einiger  Vorsicht  stimmen.  Es 
ist  Echtes  und  Wohlerhaltenes  genug  vorhanden,  um  bei  fortgesetzter 
Beobachtung  zu  einem  ausgebildeten  Urtheil  zu  gelangen.  Wer  an 
irgend  einer  Restauration  Anstoss  nimmt,  bemühe  sich,  eine  bessere 
auszudenken;  gewiss  eine  der  edelsten  Tätigkeiten,  zu  welchen  der 
Anblick  antiker  Werke  den  sinnenden  Geist  anregen  kann. 


Den  Restauratoren  wird  begreiflicher  Weise  ihr  Geschäft  häufig 
sehr  erleichtert  durch  das  Vorhandensein  besser  erhaltener  Exemplare 
desselben  Werkes.  Über  die  Herstellung  z.  B.  des  Satyrs  mit  dem 
Beinamen  des  ,, Berühmten"  (periboetos),  der  sich  in  allen  Sammlungen, 
oft  mehrfach,  vorfindet,  kann  gar  kein  Zweifel  obwalten.  Für  Manches 
aber  sind  die  Künstler  auf  Analogien,  namentlich  auf  die  ReUefs 
beschränkt,  wo  sich  wenigstens  der  Typus  derjenigen  Gestalt,  die  sie 
unter  den  Händen  haben,  vollständig  vorfindet.  Für  Einzelbildung 
und  Bewegung  namentlich  der  Arme  und  Beine  ist  natürlich  Jeder 
auf  sein  Gefühl  und  sein  Studium  der  Alten  angewiesen. 

Marmorne  und  andere  steinerne  Zierrathen,  wie  Candelaber  und 
Vasen,  sind,  wie  oben  bemerkt,  oft  zu  zwei  Drittheilen  nach  irgend 
einem  Fragment  restaurirt;  von  den  Vasen  ist  namentlich  der  Fuss 
nur  selten  alt,  die  Henkel  und  der  obere  Rand  meist  nach  Massgabe 
der  Ansätze  ergänzt.  Reliefs  sind  bisweilen  nach  geringen  Ansätzen 
von  Füssen,  Geräthen,  Gewandsäumen  u.  dgl.  um  mehrere  Figuren 
vermehrt  worden. 

Je  neuer  die  Auffindung  und  Restauration  eines  Werkes  ist,  desto 
gewissenhafter  (im  Allgemeinen  gesprochen)  wird  man  dasselbe  be- 
handelt finden.  Die  grossen  Fortschritte  der  Alterthumswissenschaft 
und  des  vergleichenden  Studiums  seit  hundert  Jahren  haben  hier  den 
heilsamsten  Einfluss  ausgeübt.  Die  Restaurationen  früherer  Künstler, 
z.  B.  in  der  alten  farnesischen  und  mediceischen  Sammlung,  waren  oft 
nicht  bloss  an  sich  stylwidrig  und  selbst  sinnlos,  sondern  leider  auch 
mit  einer  Überarbeitung  und  Glättung  des  ganzen  Werkes  verbunden, 
welches  man  mit  den  neuen  Zuthaten  in  Harmonie  bringen  wollte. 
Da  die  Antiken  damals  nicht  zur  Belehrung  in  öffentlichen  Museen, 
sondern  als  Zierrath  in  den  Palästen  der  Grossen  aufgestellt  wurden. 


4T4 


Antike  Scalptur.    Typen.    Tempelstyl. 


so  verlangte  man  durchaus  den  Eindruck  eines  unversehrten  Ganzen. 
Eine  Menge  Torsi,  die  man  jetzt  als  Fragmente  aufstellen  würde,  sind 
in  jener  Zeit  zu  vollständigen  Statuen  restaurirt  worden.  Die  medi- 
ceische  Sammlung  enthält  deren  besonders  viele. 


Die  Typen  oder  Darstellungsweisen  der  Gestalten  der  alten  Kunst, 
namentlich  der  Götter  und  Heroen,  erhielten  ihre  bleibende  Ausbildung 
in  der  höchsten  Blüthezeit  des  Griechenthums,  im  V.  und  IV.  Jahr- 
hundert V.  Chr.,  von  Phidias  bis  Lysippus.  Auch  später  zwar  kam 
noch  manche  einzelne  neue  Gestalt,  manche  mehr  auf  das  Zierliche 
gerichtete  Auffassungsweise  hinzu,  und  selbst  die  Zeit  Hadrians  schuf 
noch  aus  dem  Bilde  eines  Menschen  das  Antinous-Ideal;  doch  über- 
wiegen bei  weitem  die  aus  jener  frühern  grossen  Epoche  überkomme- 
nen, mehr  oder  weniger  frei  wiederholten  Typen. 

Daneben  erhielt  sich  aus  den  Zeiten  vor  Phidias,  ja  zum  Theil 
aus  hohem  Alterthum  ein  früherer,  feierlich-befangener  Styl,  der  sog. 
hieratische  oder  Tempelstyl.  Werke  aus  der  alten  Zeit  der 
wirklichen  Herrschaft  desselben  sind  in  Italien  äusserst  selten;  ausser 
den  Metopen  des  Tempels  von  Selinunt  u.  a.  sicilischen  Bruchstücken 

a  wird  man  etwa  noch  das  Relief  eines  verwundeten  Kriegers  im  Mu- 
seum von  Neapel  (Nebenraum  des  dritten  Ganges)  und  dasjenige  der 

b  Leucothea  in  der  Villa  Albani  zu  Rom  (Zimmer  der  Reliefs)  namhaft 
machen  können.  Sehr  häufig  sind  dagegen  die  später  und  absichtlich 
in  diesem  Styl  gearbeiteten  Sculpturen,  namentlich  die  Reliefs  an  Al- 
tären; auch  Statuen  dieser  Art  kommen  nicht  selten  vor,  und  für  ge- 
wisse Typen,  wie  z.  B.  für  den  bärtigen  Bacchus,  blieb  die  hieratische 
Darstellungsart  sogar  die  allein  herrschende.  s> 

Was  konnte  die  Griechen  und  später  die  Römer  bewegen,  neben 
ihrer  freien  und  grossen  Kunst  diese  befangenere  Gattung  mit  Willen 
festzuhalten?  Zuerst  war  es  gewiss  die  Ehrfurcht  voi  den  Cerernonien, 
welche  sich  seit  unvordenklichen  Zeiten  an  Götter,  Weihgeschenke 
und  Altäre  dieses  Styles  geknüpft  hatten.  Später  erhielt  derselbe  den 
Reiz  des  Alterthümlichen  und  Einfachen  und  die  Kunst  bemühte  sich. 


Tempelstyl. 


415 


hier  innerhalb  absichtHcher  Schranken  eine  eigenthümliche  Aufgabe 
in  Umriss  und  ModelUrung  zu  lösen.  Zuletzt  wurde  daraus  eine  Sache 
ästhetischer  Feinschmeckerei,  ja  vielleicht  einer  bewussten  Reaction 
gegenüber  dem  überladenen  unruhigen  römischen  Relief,  Vielleicht 
sind  die  meisten  erhaltenen  Werke  im  Tempelstyl  nicht  älter  als  das 
Kaiserreich,  und  man  hat  namentlich  die  Zeit  Hadrians  dafür  im  Ver- 
dacht, schon  weil  sie  sich  ausserdem  der  Nachahmung  des  ägypti- 
schen Styles  mit  so  vielem  Eifer  hingab. 

Die  Kennzeichen  des  Tempelstyles  prägen  sich  leicht  ein.  Das 
Gesetz  des  Contrastes  der  Gliedmassen,  welches  erst  der  Stellung  des 
Leibes  Freiheit  und  Anmuth  giebt,  wird  hier  geflissentlich  bei  Seite 
gesetzt  und  statt  dessen  die  möglichste  Symmetrie  der  beiden  Schul- 
tern, Arme,  Lenden  etc.  erstrebt.  Die  Bewegungen  sind  steif  und 
entweder  gewaltsam  oder  überzierlich,  so  dass  die  Götter  auf  den 
Fussspitzen  gehen,  Fackeln  und  Stäbe  nur  mit  zwei  Fingern  anfassen 
u.  dgl.  Das  Haar  ist  in  unzählige  symmetrische  Löckchen  geordnet; 
die  Gewandung  besteht  in  vielen  höchst  regelmässigen  Fältchen,  welche 
an  jedem  Saum  oder  Aufschlag  als  Zickzack  von  genau  eben  so  vie- 
len Ecken  auslaufen.  Der  Ausdruck  der  Köpfe,  wo  sie  gross  genug 
gebildet  sind,  besteht  in  einem  kalten,  maskenhaften  Lächeln;  die 
Stirn  ist  flach,  die  Nase  spitz,  die  Ohren  hoch  oben,  die  Mundwinkel 
aufwärts  gezogen,  das  Kinn  auffallend  stark.  (Man  vergleiche  die 
Abgüsse  der  echten  altgriechischen  Giebelgruppen  des  Tempels  von 
Ägina  in  der  lateranischen  Sammlung  mit  den  spätem  Nachahmungen  a 
dieses  Styles:  die  schreitende  Pallas i)  in  Villa  Albani  (Zimmer  derb 
Reliefs,  wo  noch  mehreres  der  Art) ;  mehrere  Köpfe  in  der  Galeria  c 
geografica  des  Vaticans;  —  der  schreitende  Apoll  mit  dem  Reh 
auf  der  Hand  im  Museo  Chiaramonti  ebenda;  —  die  schreitende  her-  d 
culanensische  Pallas  im  Museum  von  Neapel  (zweiter  Gang)  mit  moder- 
nem Kopf;  —  eine  Bronzestatuette  ebenda  (kleine  Bronzen,  drittes 
Zimmer) ;  —  die  halb-ägyptische,  halb-hieratische  Isisstatuette  ebenda 
(ägyptische  Halle);  —  die  schreitende  Artemis  mit  rothbesäumtem 
Kleide  ebenda  (in  einem  verschlossenen  Zimmer  hinter  der  Halle  des 
Tiberius) . 


*)  Wenn  diese  nicht  doch  uralt  ist. 


'■it»>>.^^A  t--* 


■i^^lFi 


i'''''^5:^=iii^^**;r'r'»s»"v* **'■''  - 


■m 


W-re\*i:ä^^I'iL-ä'^^^ 


!•. 


4x6 


Antike  Sculptor.    Tempelstyl. 


Im  Relief  verlangte  der  Tempelstyl  die  möglichste  Symmetrie 
selbst  in  der  Bewegung  und  eine  gleiche  Entfernung  gleichbedeuten- 
der Figuren  von  einander.  —  Unter  den  schönern  Arbeiten  dieser  Art 

a  sind  zu  nennen:  ein  Altar  mit  bacchischen  Figuren  und  ein  (vielleicht 
doch  uraltes?)  Relief  der  drei  Grazien  im  Museo  Chiaramonti  (Vati- 

b  can) ;  —  ein  viereckiger  Zwölfgötteraltar  im  sog.  Kaffeehaus  der  Villa 
Albani;  —  eine  Platte  mit  vier  Göttern  im  Zimmer  der  Reliefs  ebenda; 
Apolls  Erscheinung  beim  Tempel  zu  Delphi,  über  der  Thür  des  Haupt- 

c  Saales  ebenda;  —  ein  runder  Zwölf götteraltar  in  der  obern  Galerie 
des  capitolinischen  Museums;  u,  A.  m. 

Wie  will  man  aber  beweisen,  dass  diese  Arbeiten  nicht  wirklich 
uralt,  sondern  blosse  Nachbildungen  in  einem  veralteten  Style  sind? 
Es  dauerte  in  der  That  lange,  bis  die  Archäologie  in  dieser  Sache 
klar  sah.  Jetzt  kann  sich  jedes  fähige  Auge  überzeugen,  dass  die 
betreffenden  Bildhauer  eben  doch  nicht  allen  Reizmitteln  der  Kunst 
ihrer  Zeit  entsagen  mochten,  dass  sie  die  Härte  der  alten  Musculatur, 
den  sonderbaren  Ausdruck  der  Köpfe  wesentlich  milderten  und  dass 
auf  diese  Weise  ein  sehr  merklicher  Widerspruch  zwischen  der  alter- 
thümlichen  Auffassung  und  der  weichen  Ausführung  in  das  Werk 
hineinkam.    Bisweilen  wird  es  dem  Beschauer  noch  leichter  gemacht, 

d  wenn  z.  B.  eines  der  erwähnten  Reliefs  (im  Hauptsaal  der  Villa  Albani 
und  anderswo),  welches  Apolls  Trankopfer  nach  dem  Siege  im  Kithar- 
spiel  darstellt,  einen  korinthischen  Tempel  zum  Hintergrunde  hat. 
Hier  springt  der  Anachronismus  in  die  Augen,  weil  Jedermann  weiss, 
dass  diese  Säulenordnung  ungleich  spätem  Ursprunges  ist,  als  dieser 
Sculpturstyl  zu  sein  vorgiebt. 

In  den  Typen  der  Götter  herrscht  nun  hier,  wie  sich  von  selber 
versteht,  eine  ältere  Art.  Die  männlichen  Gestalten  erscheinen  in  der 
Regel  bejahrt,  selbst  Hermes  und  Dionysos  bärtig,  die  Bekleidung  ist 
im  Ganzen  vollständiger  und  anders  anschliessend;  mancher  einzelne 
Schmuck  macht  sich  geltend,  dessen  die  vollendete  Kunst  entbehren 
konnte.     Das  Nähere  muss  hier  übergangen  werden. 


Lange  Zeit  nannte  man  diesen  Styl  mit  Unrecht  den  e  t  r  u  s  k  i  - 
sehen.     Allerdings  kam  er  in  den  Fundorten  Etruriens,  das  über- 


Etraskische  Kunst. 


417 


haupt  eine  früh  überlieferte  griechische  Kunstübung  merkwürdig  fest- 
hielt, ebenfalls  und  zwar  nicht  selten  zum  Vorschein;  allein  diess 
beweist  nicht  gegen  seinen  allgemeinen  griechischen  Ursprung.  Wir 
werden  bei  Anlass  der  Vasen  auf  eine  ähnliche  Erscheinung  stossen. 


'  Die  etruskische  Kunst  selber  übergehen  wir,  da  sie  mehr 
nur  lehrreiche  Seitenbilder  zur  Geschichte  des  Schönen  als  einen  un- 
mittelbaren Genuss  desselben  gewährt.  Nur  mittelst  einer  langen, 
zweifelreichen  Forschung  könnten  wir  uns  und  dem  Leser  klar  machen, 
was  und  wie  vieles  hier  der  alten  religiösen  Gebundenheit,  dem  eigen- 
thümlichen  Volksgenius,  den  uralten  griechischen  Cultureinflüssen,  der 
spätem  Einfuhr  griechischer  Kunstwerke  und  Einwanderung  griechi- 
scher Künstler,  endlich  der  Mitleidenschaft  unter  den  Schicksalen  und 
dem  Zerfall  der  römischen  Kunst  angehört.  Die  meist  kleinen  und 
sehr  zahlreichen  Gegenstände,  um  welche  es  sich  handelt,  sind  z.  B. 
im  Vatican  zu  einem  besondern  Museo  etrusco  vereinigt;  Mehreres 
vom  Wichtigsten  findet  sich  in  den  Uffizien  zu  Florenz  (verschlossener  a 
Gang  gegen  Ponte  vecchio  hin;  und  zweites  Zimmer  der  Bronzen); 
auch  im  Collegio  Romano  zu  Rom,  in  den  Sammlungen  von  Volterra  b 
und  Cortona,  sowie  im  Museum  von  Neapel  (letztes  Zimmer  der  c 
kleinen  Bronzen)  steht  viel  Etruskisches  beisammen. 

Wer  die  Hauptfundorte,  jene  alten  Nekropolen  von  Toscanella, 
Cervetri,  Vulci,  Chiusi  etc.  bereist,  wird  wohl  noch  Manches  an  Ort 
und  Stelle  in  Privatbesitz  antreffen  und  sich  ausserdem  einen  Begriff 
von  dem  prachtvollen  Begräbnisswesen  jenes  räthselhaften  Volkes 
machen  können i).  —  Was  diese  u.  a.  Sammelpunkte  dem  Forscher 
des  Schönen  immer  sehr  werth  macht,  sind  die  vielen  einzelnen  Reste 
und  Elemente  griechischer  Kunst,  welche  er  zwischen  und  an  den 
etruskischen  Reliquien  wahrnehmen  wird.  Mit  dem  Museo  etrusco 
des  Vaticans  ist  z.  B.  eine  herrliche  Sammlung  von  gemalten  Vasen 
verbunden,  welche  vielleicht  kaum  zur  Hälfte  etruskischen  Fundorten 


')  Wenn  Jemand  im  Museo  etrusco  beim  Anblick  der  Terracottenköpfe  mit  der  langen 
Oberlippe  und  dem  eigenthümlich  starren  Kinn  an  die  Nationalphysiognomie  vieler  Eng- 
länder erinnert  wird,  so  wollen  wir  bekennen,  dass  es  uns  und  Andern  auch  so  ge- 
gangen ist. 


4i8 


Antike  Scülptur.    AnordniiDg  nach  Typen. 


und  nur  geringsten  Theiles  eigentlich  etruskischer  Kunst,  vielmehr 

a  fast  durchgängig  griechischen  Thonmalern  angehören;  der  grosse  Saal 

des  Museo  aber  enthält  u.  a.   Schätzen  eine  ovale  eherne  Lade  mit 

Amazonenkämpfen  in  Relief  i)  und  eine  Auswahl  von   Spiegeln  mit 

eingegrabenen  Linearzeichnungen  schönen  griechischen  Styles.  Vollends 

b  möchte  die  runde  Lade   (oder  Cista)   des  Collegio   romano,  mit  der 

Landung  der   Argonauten,   alle   Linearzeichnungen   des   griechischen 

c  Alterthums  übertreffen.    In  Florenz  enthält  der  genannte  Seitengang 

der  Uffizien  unter  der  grössten  vorhandenen  Sammlung  etruskischer 

Aschenkisten  einige  (z.  B.  die  erste  links)  mit  Reliefs  von  griechischer 

Schönheit. 


Die  Anordnung  der  antiken  Sculpturen  nach  Typen,  welche  nun- 
mehr folgt,  soll  keineswegs  als  die  einzig  mögliche  oder  als  besonders 
methodisch  gelten,  sondern  nur  als  derjenige  Leitfaden,  welcher  am 
leichtesten  in  die  Sache  hineinführt.  Der  Werth  der  plastischen  Aus- 
führung, welchen  der  Nichtkünstler  doch  erst  nach  längern  Studien 
richtig  beurtheilen  lernt,  ist  nicht  unser  Hauptmassstab  bei  der  folgen- 
den Aufzählung;  der  Gedanke,  das  Motiv  müssen  hier  wichtigere 
Rücksichten  bleiben.  Wir  werden  uns  nicht  scheuen,  selbst  sehr 
geringe  und  späte  Arbeiten  zu  nennen,  sobald  sie  zufällig  die  einzigen 
bekannten  oder  zugänglichen  Exemplare  vorzüglicher  alter  Kunst- 
gedanken sind.  Mit  diesen,  selbst  in  ihrer  dürftigsten  Aeusserung,  wo 
keine  bessere  vorhanden  ist,  suche  man  um  jeden  Preis  das  Gedächt- 
niss  zu  bereichern,  ohne  desshalb  den  Blick  auf  die  Ausführung 
hintanzusetzen. 


Wir  beginnen  unsere  Andeutungen  billig  mit  dem  Vater  der  Götter 
und  der  Menschen,  in  dessen  Gestalt  ja  der  Hellene  gewiss  das  Höchste 


1)  Bei  diesem  wunderschönen  Toilettengeräth,  welches  einer  vornehmen  Etruskerin  in  das 
Grab  mitgegeben  wurde,  erinnert  man  sich  gerne  an  die  berühmte  Lade  des  Kypselos, 
deren  vermuthliche  Gestalt  (nach  der  Beschreibung  bei  Pausanias)  so  viel  zu  denken 
giebt. 


Zens. 


419 


an  Macht  und  Herrlichkeit  ausgedrückt  haben  wird.  Von  demjenigen 
Gesammtbilde  allerdings,  dessen  Anblick  die  Griechen  zur  Bedingung 
jedes  glücklichen  Lebens  machten,  von  dem  olympischen  Zeus  des 
Phidias,  sind  uns  nur  kümmerliche  Reminiscenzen  erhalten.  Eine  solche 
erkennt  man  z.  B.  in  dem  colossalen  Jupiter  aus  dem  Hause  Verospi 
(Vatican,  am  Ende  der  Büstenzimmer),  welcher  mit  nacktem  Ober-  a 
leib,  den  Donnerkeil  in  der  Rechten  (statt  der  Siegesgöttin  bei  Phi- 
dias) und  den  Scepter  in  der  linken  thront.  Von  dem  Haupte  des 
Zeus  aber,  wie  es  der  Meister  gebildet,  ist  glücklicher  Weise  ein 
ziemlich  nahes  Abbild  auf  unsere  Zeit  gerettet  in  der  berühmten 
Büste  von  Otricoli  (Vatican,  Sala  rotonda).  Hier  erkennt  man  b 
jenen  Ausdruck  wieder:  ,, friedlich  und  ganz  mild",  das  erhabene  Haupt 
in  Gnade  und  Erhörung  geneigt  mit  leisem  Lächeln.  Von  den  Locken 
war  genug  vorhanden,  um  das  Fehlende  (auch  das  ganze  Hinter- 
haupt) trefflich  zu  restauriren.  Die  Züge  sind  in  der  That  keines 
Menschen  Züge;  vielmehr  erscheinen  diejenigen  Elemente  des  Ant- 
litzes, welche  zu  bestimmten  Zwecken  des  Ausdruckes  dienen,  nach 
höhern  Gesetzen  verändert  und  hervorgehoben.  So  dient  die  Ver- 
dichtung in  der  Mitte  des  Stirnknochens  (oder  der  Stirnhaut)  dazu, 
das  gewaltigste  Wollen  und  die  zugleich  höchste  Weisheit  anzudeuten. 
Die  Augen,  von  ganz  wunderbarem  Bau,  liegen  tief  und  treten  doch 
hervor;  die  Nase  (etwas  restaurirt)  bildet  mit  der  Stirn  nicht  einen 
einwärts,  sondern  einen  leise  auswärts  tretenden  Winkel,  worin  die 
Leidenschaftslosigkeit  ausgedrückt  liegt.  (Dieses  anscheinende  Para- 
doxon kann  hier  nicht  entwickelt  werden;  ich  verweise  nur  auf  den 
griechischen  Kunstgebrauch  des  Gegentheils,  der  Stülpnase,  z.  B.  bei 
den  Barbaren  und  den  Satyrn,  wozu  beim  Silen  noch  die  aufwärts  her- 
vortretende Stirn  kömmt.)  Die  Lippen  endlich  (leider  auch  nicht  ganz 
alt)  vereinigen  Süssigkeit  und  Majestät  in  einem  Grade,  wie  kein  ir- 
discher Mund.  —  An  diesem  Haupt  sind  nun  Locken  und  Bart  von 
höherer  Bedeutung  als  an  irgend  einem  andern.  In  ihnen  wallt  und 
strömt  gleichsam  eine  überschüssige  göttliche  Kraft  aufwärts  und  ab- 
wärts. Die  Stirnlocken  namentlich  sind  bei  mehrern  göttlichen  Ge- 
stalten wie  ein  Sinnbild  geistiger  Flammen.  Dieser  Zeus  wäre  mit 
glatten  oder  kurzen  Haaren  nicht  mehr  Zeus,  wie  Apoll  ohne  seinen 
Krobylos  (Lockenbund  über  der  Stirn)  nicht  mehr  Apoll  wäre. 


llfaliiiiiMrilli 


420 


Antike  Scalptar.    Zeus.    Serapis. 


Was  sonst  von  Zeusköpfen   vorkömmt,   steht  tief  unter  diesem 

a  Werke.     So  z.  B.  selbst  der  schöne  im  Museum  von  Neapel  (Halle 

des  Tiberius),   wo  sich  auch  (Halle  des  Jupiter)  die  colossale,  etwas 

decorationsmässig  behandelte  Halbfigur  des  Zeus  aus  dem  Tempel  von 

Cumä  befindet.     (Die  Nase  schlecht  restaurirt;   Haar  und  Bart  ge- 

b  waltig  und  meist  alt.)     Noch  ein  schöner  Kopf  in  der  Villa  Albani 

c  (Vorhalle  des  Kaffeehauses) ;  ein  anderer,  sehr  colossaler,  in  den  Uffi- 

d  zien  zu  Florenz  (Halle  der  Niobe) ;   ein  tüchtiger  römischer  in  der 

Galerie  von  Parma. 


Von  den  Brüdern  des  Zeus  gleicht  ihm  am  meisten  Hades  oder 
Pluto,  der  Herr  der  Unterwelt,  in  seiner  spätem  (doch  immer  noch 
griechischen)  Personification  als  S  e  r  a  p  i  s,  mit  dem  Scheffel  (modius) 

e  auf  dem  Haupt  i).  Eine  schöne  Büste  (in  der  Sala  rotonda  des  Vaticans) 
lässt  uns  das  Zeusideal,  aber  mit  einem  düstern  Zuge  der  Trauer  er- 
kennen. Unter  den  dichten  Locken  treten  die  sanft  blickenden  Augen 
tief  einwärts.  Kein  Entsetzen,  nur  ein  leiser  Schatten  der  ewigen 
Nacht  sollte  über  den  Beschauer  kommen.  Überdiess  war  ja  Serapis 
in  seiner  spätem  Bedeutung  auch  ein  Genesungsgott  und  vertrat  sogar 
die  Stelle  des  Asklepios.     (Eine  geringere  Büste,  von  Basalt,  im  Zim- 

f  mer  der  Büsten;  ungleich  besser  diejenige  der  Villa  Albani  im  sog. 

g  Kaffeehause.)    (Eine  fleissige,  kleine  Bronze  in  den  Uffizien,  H.  Zim- 

h  mer  d.  Br.,  Eckschrank  rechts.)  Noch  ein  schöner,  sanfttrauriger  Kopf 
in  der  Galerie  zu  Parma. 


Mit  Serapis  wurde  in  späterer  Zeit,  wie  gesagt,  der  Heilgott  As- 
klepios identificirt,  der  auf  diese  Weise  zu  ganz  Zeus-ähnlicher 
Bildung  gelangte  —  abgesehen  natürlich  von  seinem  besondern  Attri- 
but, dem  Schlangenstab,  auf  den  er  sich  mit  der  einen  Schulter  stützt. 

!  -  Die  Statuen  sind  meist  von  geringer  Arbeit;  so  die  schwarz-mar- 
morne im  grossen  Saal  des  capitolinischen  Museums.     Vielleicht  die 

k  beste  von  allen  im  Museum  von  Neapel,  zweiter  Gang.     Der  schöne 


1)  Als  eigentlicher  Pluto:  z.  B.  in  einer  rohen  Statue  der  Villa  Borghese  (Fauns zimmer). 


Asklepios.    Poseidon.    Wassergötter. 


421 


Asklepios  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans  trägt  die  sehr  feinen,  be-  a 
sonnenen  Bildnisszüge  irgend  eines  berühmten  Arztes,  vielleicht  eines 
Leibarztes  des  Augustus.   —  Von  den  beiden  im  zweiten  Gang  der  b 
Uffizien  zu  Florenz  gleicht  der  eine  dem  neapolitanischen;  der  andere 
ist  offenbar  eine  Porträtstatue,  wie  schon  die  hohen  Schultern  andeuten 
und  wie  die  individuelle   Stellung  es  noch  wahrscheinlicher  macht. 
Das  Übrige  hat  der  Restaurator  gethan.   —  Auch  in  dem  Asklepios 
im  Palast  Pitti  (inneres  Vestibül  oberhalb  der  Haupttreppe)  könnte  c 
man   eher   einen   griechischen   Philosophen   erkennen;    mit   nacktem 
Oberleib,  den  linken  Ellbogen  auf  eine  Keule  gelehnt,  mit  der  linken 
Hand,  die  eine  Rolle  hält,  den  Bart  berührend,  die  Rechte  auf  die 
ausgeladene  Hüfte  gestützt,  schaut  er  mit  dem  Ausdruck  des  Sinnens 
vorwärts.     Die  Arbeit  ist  einfach  und  noch  sehr  tüchtig. 


Wer  sich  weiter  überzeugen  will,  wie  die  griechische  Kunst  ideale 
Verwandtschaften  auszudrücken  und  mit  typischen  Unterschieden 
zu  verschmelzen  wusste,  vergleiche  den  Kopf  des  Poseidon 
(Vatican,  Museo  Chiaramonti)  mit  dem  otricolanischen  Zeus.  Die  an-  d 
gebornen  Züge  sind  bei  beiden  Brüdern  dieselben,  aber  der  Ausdruck 
des  Meergottes  ist  unruhig,  düster  bis  zu  einem  Anflug  von  Zorn, 
das  Haar  wirr  und  feucht.  (Eine  vollständige,  aber  in  der  Arbeit  sehr 
unbedeutende  Statue  im  Vatican,  Galeria  delle  statue;  eine  andere  im  e 
Museum  des  Laterans.) 

Auch  die  übrigen  Götter  der  grössern  Wasser,  also 
mit  Ausnahme  der  Tritonen  und  der  Quellgottheiten,  sind  grossentheils 
von  Zeus  Geschlecht  und  gleichen  ihm,  nur  ins  Befangene  und  dann 
bald  in  das  wohlig  Geniessende,  bald  ins  Schreckliche  oder  ins  Be- 
kümmerte hinein.  Sie  haben  sein  gewaltiges  Haar,  aber  nicht  wallend, 
sondern  feucht  darniederhängend;  seine  in  der  Mitte  erhobene  Stirn, 
aber  niedriger;  seinen  Bart,  aber  nicht  lockig,  sondern  nass  und  oft 
mit  Schuppen,  ja  mit  kleinen  Fischen  durchzogen;  seine  grossartigen 
Lippen,  aber  mit  bornirtem  Ausdruck.  Ihr  Bau  (wo  es  nicht  blosse 
Köpfe  oder  Masken  sind)  ist  überaus  mächtig  und  breit  und  entwickelt 
sich  in  ihrer  liegenden,  etwas  aufgelehnten  Stellung  ganz  besonders 
majestätisch. 


Tsr».^ 


422 


Antike  Scnlptnr.    Wassergötter. 


a  Die  schönste  dieser  Gestalten  ist  der  N  i  1  (im  Braccii  nuovo  des 
Vaticans),  wahrscheinlich  aus  der  Zeit  des  Augustus,  velcher  be- 
kanntlich erst  Ägypten  unterwarf.  Beneidenswerthe  S;mbolik  der 
Alten,  welche  die  i6  Ellen,  um  die  der  Nil  alljährlich  ;u  wachsen 
pflegt,  durch  i6  der  niedlichsten  Genien  personificiren  dufte!  Heiter 
klettern  sie  an  dem  Gott  herum  und  spielen  mit  seinem  Krokodil  und 
Ichneumon;  eine  guckt  sogar  oben  aus  seinem  Füllhorn  leraus;  ihre 
Schalkhaftigkeit  ist  gleichsam  nur  ein  anderer  Ausdruck  ür  die  stille 
Seligkeit  des  gewaltigen  Stromgottes. 

b  Die  treffliche  vaticanische  Statue  des  Tigris  (Sala  a  roce  greca) 
erhält  durch  den  von  Michel  Angelo  oder  einem  seiner  Schüler  re- 
staurirten  Kopf  ein  besonderes  Interesse  des  Contrastes 

Im  Hof  des   capitolinischen  Museums  liegt  als  Brumengott  der 

c  colossale  Marforio  (wahrscheinlich  ein  Rhenus  aus  der  ZeitDomitians.) 
Er  trägt  die  Züge  des  Zeus,  aber  in  das  Bornirte  umgetaltet;  Leib 
und  Beine  sind  (absichtlich)  viel  zu  kurz  für  den  gewatigen  Ober- 

d  körper.  —  Die  beiden  VVassergötter  an  der  Treppe  de:  Senatoren- 
palastes auf  dem  Capitol  und  die  beiden  in  der  untern  Vorhalle  des 

e  Museums  von  Neapel  sind  theils  gute,  theils  leidliche  Decorations- 
arbeiten. 

Der  düstere  Ausdruck  erscheint  bedenklich  geschärf  und  deutet 

f  auf  Sturm  in  dem  florentinischen  Kopfe  des  Oceanus  (Ufizien,  Halle 
der  Niobe) ;  er  geht  über  in  das  Erschrockene,  ich  möchte  agen  Ausge- 

g  scholtene,  in  der  höchst  colossalen  Maske  eines  Wassergotes  im  Museo 

h  Chiaramonti  im  Vatican;  eine  ähnliche  in  Villa  Albani  iNebenräume 

i  rechts).  Auch  dem  Oceanus  (Büste  in  der  Sala  rotonda  les  Vaticans, 
mit  Trauben  im  Haar,  Delphinen  im  Bart,  Schuppen  ar  Brauen  und 
Wangen)    ist   sichtbar   nicht  ganz  wohl   zu   Muthe.      Sihon   ruhiger 

k  ist  der  Ausdruck  der  zwei  colossalen  Masken  in  Villa  xlbani  hinter 
dem  Kaffeehaus. 


Ein  merkwürdiges  Gegenbild  zu  Zeus  bildet  die  frühtre,  aber  von 
der  Kunst  fortwährend  und  zwai  dniiähernd  oder  ganz  im  Tempel- 
styl festgehaltene  Darstellung  des  bärtigenDionysos.  Neben 
Zeus,  dem  Gott  der  sittlichen  Weltordnung,  stellt  sich  her  ein  König 
und  Gott  der  Naturfreude  mit  einem  Ausdruck  seligen  Genusses,  dem 


Bärtiger  Dionysos.  Herakles. 


423 


wir  freilich  im  Leben  bei  Männern  reifern  Alters  kaum  je  begegnen, 
der  aber  doch  seine  volle  innere  Wahrheit  hat.     Die  breiten,  wohl- 
gerundeten (doch  keineswegs  plumpen)  Formen  und  der  stilljoviale 
Ausdruck  des  Kopfes,  der  heitre  Blick,  die  charakteristischen  gleich- 
massigen  Hauptlocken   m.it   der  Binde,   sowie   der  ebenfalls  gelockte 
Bart  —  diess  Alles  ist  schon  in  den  Hermen  oder  Büsten  zu  erkennen, 
deren  viele  Tausende  in  den  Gärten  und  Häusern  der  Alten  gestanden 
haben  müssen.     (Eine  ganze  Anzahl  im  Garten  etc.  der  Villa  Albani;  a 
— vier  im  Palast  Giustiniani  zu  Rom,  unten;    —  mehrere,  darunter  b 
auch  wohl   Büsten  des   bärtigen   Hermes,   in   der  Galeria  geografica  c 
des  Vaticans.     (Vieles  davon  ist  sehr  rohe  Arbeit.)     Ein  Priester  dieses 
Bacchus,  wie  üblich  mit  den  Zügen  und  dem  Costüm  des  Gottes  selber 
dargestellt,  findet  sich  in  Villa  Albani  (rechts  vom  Palast  am  Ende  d 
der  Nebengalerie). 

Auf  eine  geheimnissvolle  Höhe  gehoben,  treffen  wir  diesen  Typus 
wieder  in  einer  berühmten  vaticanischen  Statue  (Sala  della  biga)  mit  e 
dem  Namen  des  (wahrscheinlich  Künstlers):  Sardanapallos.  In 
ein  herrliches  weites  Gewand  gehüllt,  mit  der  rechten  auf  ein  Scepter 
gestützt  (diess  unvollständig  restaurirt),  schaut  der  bejahrte  Dionysos 
voll  hoher,  innerer  Wonne  in  die  von  ihm  beherrschte  Welt.  (Nahe 
mit  diesem  V/erk  verwandt,  aber  ungleich  geringer:  Kopf  und  Brust  t 
eines  bärtigen  Bacchus  im  Museum  von  Neapel,  Halle  des  Tiberius.) 


Von  den  Söhnen  des  Zeus,  abgerechnet  die  eigentlichen  Götter, 
ist  der  mächtigste  Herakles.  In  seinem  Antlitz  ist  auch  noch  etwas 
übrig  geblieben  von  den  Zügen  seines  Vaters,  namentlich  in  der  Stirn 
(sehr  auffallend  in  einem  Kopfe  des  verklärten  Herakles;  Vatican,  g 
Büstenzimmer);  sonst  herrscht  darin  eine  jeder  Mühe  gewachsene 
Kraft  und  Leidenschaft  vor.  (Letztere  in  der  Adlernase  bisweilen  ange- 
deutet.) Seine  höchste  und  bleibende  Kunstform  erhielt  Herakles 
durch  den  grossen  Lysippos,  zu  Alexanders  Zeit.  Wir  lernen  sie 
kennen  vor  Allem  in  dem  weltberühmten  Torso  des  Atheners  Apol-  h 
lonios  (am  Eingang  des  Belvedere  im  Vatican).  Nach  dem  Hymnus 
Winckelmanns  und  den  bekannten  Streitfragen  über  die  vermuthliche 


424 


Antike  Scalptar.    Herakles. 


Urgestalt  des  Werkes  i)  wage  ich  nur,  den  Beschauer  auf  die  unge- 
meine Leichtigkeit  und  Elasticität  dieser  Bildung,  auf  den  Ausdruck 
der  höchsten  Kraft  ohne  Schwere  aufmerksam  zu  machen. 

Liegt  hierin  eine  Andeutung,  dass  Herakles  verklärt,  etwa  in  seiner 
Verbindung  mit  Hebe,  der  ewigen  Jugend,  abgebildet  sei,  so  spricht 

a  der  farnesische  Herakles  (Colossalstatue  des  Atheners 
Glykon  im  Museum  von  Neapel,  Halle  des  farnesischen  Stieres)  einen 
ganz  andern  Sinn  aus.  Hier  ist  es  der  noch  in  Kämpfen  und  Wan- 
derungen begriffene,  nur  für  einen  Augenblick  ausruhende  Held,  mit 
den  erbeuteten  Äpfeln  der  Hesperiden  (diese  sammt  der  rechten  Hand 
restaurirt,  wohl  richtig).  In  der  wahrhaft  gewaltigen  Musculatur,  in 
dem  Ungeheuern,  namentlich  der  Arm-  und  Schulterbildung  wirkt 
noch  die  letzte  Anstrengung  nach;  um  so  stärker  erscheint  der  Aus- 
druck der  Ruhe  durch  das  Aufstützen  auf  die  Keule  links  und  die 
Ausschwingung  des  Leibes  rechts,  sowie  durch  die  Senkung  des  Hauptes 
und  die  reine  Horizontale  der  Schultern  charakterisirt,  während 
Stellung  und  Gestalt  der  Beine  dem  Ganzen  doch  die  Leichtigkeit 
eines  Hirsches  geben.  Die  Arbeit  ist  mit  derjenigen  des  Torso  aller- 
dings nicht  zu  vergleichen.  Am  Kopfe  sehr  starke  Restaurationen. 
Unzählige,    meist    spätere   Arbeiten    stellen  den   Heros  und   seine 

b  Mythen  dar;  auch  z.  B.  als  kleine  Bronzefigur  kommt  er  sehr  häufig 
vor.     (Uffizien,  H.  Zimmer  d.  Br.,  3.   Schrank.)     In  der  Sala  degli 

c  Animali  des  Vaticans  allein  sind  vier  Thaten  des  Heros  in  nicht  ganz 

d  lebensgrossen  Gruppen  dargestellt.  In  der  Villa  Borghese  ist  ein 
ganzes  Zimmer  solchen  Überresten  geweiht;  man  trifft  Herakles  als 
Herme,  als  Kind,  auch  als  Knecht  der  Omphale,  in  ihren  weiblichen 

e  Gewändern.  Im  Museum  von  Neapel  (zweiter  Gang)  findet  sich  das 
von  irgend  einer  guten  Gruppe  des  Mars  und  der  Venus  entlehnte 
Motiv  auf  Herakles  und  die  heroische  Siegerin  übertragen;  ein  sehr 
artiges  römisches  Werk. 

f  Herakles,  der  als  Stellvertreter  des  Atlas  den  Weltglobus  trägt 
im  Museum  von  Neapel  (Halle  der  berühmten  Männer),  ist  eine  gute, 
aber  stark  ergänzte  Arbeit.  Die  unten  zu  besprechende  Gruppe  des 
Herakles  mit  Antäus  giebt  den  Helden  mehr  fleischig  als  musculös 


1)  Man  denkt  sich  Herakles  emporschauend  gegen  eine  zu  seiner  Linken  stehende  Hebe. 


Die  Dioskaren. 


425 


und  entfernt  sich  wieder  um  eine  Stufe  v/eiter  von  dem  verklärten 
Herakles  als  die  meisten  übrigen  Bildungen.     (Hof  des  Pal.  Pitti.)        a 

Endlich  blieb  ein  wesentlich  genrehafter  Moment,  der  den  Zeus- 
sohn in  rein  physischer  Gewaltigkeit  darstellt,  der  kleinern  Bildung 
in  Erz  vorbehalten.  Ich  meine  die  köstliche  Bronze  des  ,,trunkenenb 
H  e  r  a  k  1  e  s"  im  Museo  zu  Parma.  An  dieser  rückwärts  taumelnden 
von  allen  Seiten  glücklich  gedachten  Figur  erkennt  man  das  ganze 
Muskelwesen  des  farnesischen  Herakles,  nur  im  Dienste  einer  ganz 
andern  Macht,  als  bei  den  zwölf  Arbeiten.  Gefunden  in  Veleja,  und 
doch  vielleicht  griechischen  Ursprunges. 


Es  war  nicht  mehr  als  billig,  dass  auch  die  vorzugsweise  so  ge- 
nannten ,, Zeussöhne"  (Dioskuren)  Kastor  und  Polydeukes  in  ihrem 
Typus  an  den  Vater  erinnerten.  Diess  ist  in  der  That  der  Fall  mit 
den  beiden  weltberühmten  C  o  1  o  s  s  e  n  auf  dem  Platze  des  Q  u  i  -  ' 
r  i  n  a  1  s  in  Rom;  die  Bildung  von  Stirn,  Lockenansatz,  Nase  und  Lip- 
pen ist  deutlich  dem  Zeusideal  entnommen,  wovon  man  bei  Betrach- 
tung der  Abgüsse  sich  am  Besten  überzeugen  kann;  nur  erscheint  Alles 
in  den  jugendlichen  und  heroischen  Charakter  übertragen.  ^  Bekannt- 
lich galten  diese  Rossebändiger  einst  als  Arbeiten  des  Phidias  und 
Praxiteles;  gegenwärtig  betrachtet  man  sie  aus  überzeugenden  Grün- 
den als  römische  Nachahmung  nach  einer  Gruppe  vielleicht  aus  der 
Schule  des  Lysippos,  und  giebt  starke  Willkürlichkeiten  in  der  Ein- 
zelbehandlung zu,  z.  B.  im  Ansatz  der  Hälse.  —  Ihre  Bildung  im  Ganzen 
vereinigt  mit  unbeschreiblicher  Wirkung  das  Schlanke  und  das  Ge- 
waltige; ihre  momentane  Bewegung  spricht  wunderbar  schön  aus, 
wie  es  für  sie  eine  leichte  Mühe  sei,  die  bäumenden  Pferde  zu  lenken; 
Stallknechte  mögen  das  Thier  zerren  und  sich  aufstemmen,  Dios- 
kuren bedürfen  dessen  nicht.  Die  Pferde  sind  auch  verhältnissmässig 
kleiner  gebildet,  wie  sich  überhaupt  in  der  alten  Kunst  der  Massstab 
mehr  nach  der  relativen  Bedeutung  der  Figuren  als  nach  ihrem  phy- 
sischen Grössenverhältniss  richtet.  —  Ehemals  standen  sie  parallel,  ohne 
Zweifel  mit  Recht;  ihre  jetzige  Gruppirung  mit  der  Brunnenschale 
und  dem  Obelisken  passt  vielleicht  besser  zum  Platze. 


Urcicerone. 


28 


426 


Antike  Scnlptnr.    Hera. 


Die  beiden  Dioskuren  der  Capitolstreppe,  sonderbar  bedingte 
Werke  i)  aus  noch  ziemlich  guter  Zeit,  scheinen  ganz  geschaffen,  um 
den  Werth  der  quirinalischen  ins  hellste  Licht  zu  stellen. 


Hera,   die   Schwester   und  Gemahlin   des  Zeus,   bedurfte  einer 
entsprechend  grossartigen  Persönlichkeit,  in  welcher  die  Königin  der 
Götter  zu  erkennen  sein  sollte.    Die  reife  Schönheit  eines  mächtigen 
Weibes  ist  denn  auch  nie  bedeutender  dargestellt  worden,  als  in  die- 
sem Typus,  der  doch  zugleich  eine  unbegreifliche  Jugendlichkeit  aus- 
spricht.    Die  Statuen  sind  meist  spät,  verrathen  aber  ein  herrliches 
b  Vorbild,  wie  z.  B.  die  colossale  in  der  Sala  rotonda  des  Vaticans. 
c  (Kleineres  Ex.  in  der  Villa  Borghese,  Zimmer  der  Juno;  ein  anderes 
d  in  der  Galeria  delle  Statue  des  Vaticans;  noch  ein  anderes,  mit  mo- 
e  dernem  Kopf,  im  Museum  von  Neapel,  Halle  der  Flora.)     Das  nasse 
Anliegen  des  feinen  Untergewandes  ist  bisweilen  allzu  absichtlich  dazu 
benützt,  die  bedeutenden  Formen  des  Oberleibes  hervortreten  zu  lassen; 
sonst  aber  wird  die  milde  Majestät  des  bediademten  Hauptes  und  die 
imposante  Stellung,  womit  der  Körper  sich  nach  der  Rechten  ausladet, 
immer  die  Herrscherin  auf  das  Deutlichste  erkennen  lassen. 

Eine  eigene  Aufgabe  gewährte  dem  römischen  Bildhauer  die  Juno 
i  Lanuvina.  (Colossalstatue  ebenfalle  in  der  Sala  rotonda  des  Vaticans.) 
Als  Schützerin  der  Heerden  hat  sie  Haupt  und  Leib  mit  einem  Thier- 
fell  bedeckt;  mit  dem  (restaurirten)  Speer  in  der  Hand  schreitet  sie 
zu  gewaltiger  Abwehr  aus.  Ohne  Zweifel  hat  der  Bildner  ein  uraltes 
Tempelbild  von  Lanuvium  in  dem  Styl  griechisch-römischer  Zeit  re- 
produciren  müssen;  die  Züge  aber  sind  junonisch. 

Diese  göttlichen  Züge  lernt  man  nun  weit  besser  als  aus  irgend 

einer  Statue  aus  zwei  berühmten  Colossalköpfen  kennen.     Der  eine 

g  die  Juno  im  Hauptsaal  der  Villa  Ludovisi  in  Rom,  erschien  einst 

Goethe  ,,wie  ein  Gesang  Homers",  und  in  der  That  wird  die  Seele 

griechisches  Mass  und  griechische  Schönheit  selten  so  vernehmlich  zu 


^)  Wahrscheinlich  für  einen  ganz  bestimmten  Standort  berechnet.  —  Es  wäre  sehr  wünschens- 

werth,     über    das    perspectivische    Gesetz,  welches     solchen     Anomalbildungen    zu    Grunde 

liegt,    eine    zusammenhängende    Belehrung  zu    erhalten,    und   zwar    von    einem   Bildhauer. 
Vgl.    S.  422,  c. 


Hera. 


427 


sich  reden  hören.  Der  andere,  im  Museum  von  Neapel  (Halle  des  a 
Tiberius),  giebt  in  schöner  frühgriechischer  Arbeit  einen  altern,  stren- 
gern Typus  wieder,  dem  zur  vollen  Majestät  noch  die  Anmuth  fehlt, 
aus  einer  Zeit,  da  die  griechische  Kunst  noch  nicht  ihre  volle  har- 
monische Grösse  erreicht  hatte;  es  ist  noch  die  homerische,  er- 
barmungslose Herai),  während  aus  der  Ludovisischen  eine  königliche 
Milde  hervorblickt.  Verweilen  wir  noch  bei  diesem  Haupte,  so  oft 
und  so  lange  die  Strenge  des  Besitzers  die  Thür  offen  lässt!  Die 
göttliche  Anmuth  liegt  wesentlich  in  der  Linie  des  Mundes  und  in 
den  nächstliegenden  Theilen  der  Wangen,  auch  in  den  nur  massig 
grossen,  mild  umrandeten  Augen  (wie  hart  und  scharf  sind  die  Augen- 
Uder  der  neapolitanischen!).  Das  einzige  Leiden  ist  die  Restauration 
der  Nasenspitze,  welche  man  sich  auf  irgend  eine  Art  verdecken 
möge. 

Von  diesem  hohen  Typus  führen  verschiedene  Pfade  abwärts  in 
das  Kluge  und  Schlaue,  in  das  bloss  Liebliche,  selbst  in  das  Buhle- 
rische. Eine  beträchtliche  Anzahl  von  Büsten  geben  die  Belege  hiezu. 
Wir  nennen  bloss  diejenigen,  welche  sich  zugleich  noch  merklich  an 
die  hohe  Grundgestalt  anschliessen. 

In  demselben  Hauptsaal  der  Villa  Ludovisi:  eine  tüchtige  römische  b 
Juno  mit  Schleier,  Diadem  und  gewirktem  Unterkleid.     Im  Vorsaal: 
eine  geringere  aus  römischer  Zeit,   und  ein  uralter,   sehr  colossaler 
Kopf.   —  Ein  schöner  und  milder  römischer  Kopf  im  Braccio  nuovo  c 
des  Vaticans.    —  Ein  anderer  in  der  obern  Galerie  des  Museo  capi-  d 
tolino.  —  Eine  freundlich-galante  Juno  im  Museum  von  Neapel  (Halle  e 
des  Tiberius,   in   der  Nähe   der  berühmtem).  —  Eine  der  strengern, 
aus  römischer  Zeit,  in  den  Uffizien  zu  Florenz  (Halle  d.  Hermaphr.).  f 
—  Eine  sehr  schöne,  vielleicht  griechische  Büste,  flüchtig  gearbeitet, 
sehr  abgerieben  und  durch  eine  moderne  Nase  abscheulich  entstellt, 
findet  sich  im  Dogenpalast  zu  Venedig  (Sala  de'  Busti).    Am  Diadem  g 
Palmetten  und  zwei  Greifen. 


')  Wovon  ein  gemilderter  Nachklang  auch  in  der  oben  erwähnten  borghesischen  Statue  zu  er- 
kennen ist. 


a8* 


'.*¥*<■"**  :"--r*-^;; 


;  '-•t,«^■^^--^£l*^'^^;4^,*t■«^^»i,^l^ti*r.^^;,H^^ 


■  v*VW» .  <</-' 


ÜÄM 


428 


Antike  Scolptnr.    Demeter. 


Die  eigentliche  Matrone  unter  den  Göttinnen,  die  mütterliche  in 
vorzugsweisem  Sinne  war  einst  Demeter.  Die  frühere  Kunst  gab 
ihr  daher,  neben  dem  Jugendlichen,  was  allen  Göttinnen  eigen  ist, 
zwar  nicht  die  königliche  Würde  der  Hera,  aber  doch  eine  hohe  Gra- 
vität, einen  gewaltigen  Gliederbau  und  eine  völlige  Bekleidung  (selbst 
bisweilen  einen   Schleier).     So  finden  wir  sie  in  der  grandiosen  (in 

a  den  Attributen  ergänzten)  Colossalstatue  des  Vaticans  (Sala  rotonda) 
dargestellt;  ihre  Stellung  ist  die  so  mancher  Statuen  des  altern  Typus: 
mächtiges  Vortreten  des  einen  Fusses  (auf  welchem  der  Körper  ruht), 
Nachziehen  des  andern,  also  beinahe  ein  Vorschreiten,  wie  sie  ins- 
besondere der  wandernden  Göttin  geziemt,  die  ihre  verlorene  Tochter 
sucht. 

Ein  späterer  Typus  zeigt  die  Göttin  ohne  das  Matronenhafte, 
vielmehr  mit  dem  süssesten  Reiz  eines  schlank  zu  nennenden  jungen 
Weibes  angethan.     Nur  die  Ähren  in  der  Hand  deuten  an,  um  wen 

b  es  sich  handelt.  Dieser  Art  ist  die  Statue  der  Villa  Borghese 
(Zimmer  der  Juno).  Ganz  ungesucht  und  mühelos  scheint  hier  der 
Bildhauer  das  herrlichste  denkbare  Gewandmotiv  als  Ausdruck  des 
edelsten  Leibes,  und  die  stille,  sinnende  Schönheit  eines  Kopfes 
erreicht  zu  haben  ,  der  zwischen  Aphrodite  und  den  Musen  die 
Mitte  hält. 

c  An  diese  Statue  erinnert  eine  schöne,  als  Flora  restaurirte  Ge- 
wandfigur im  Vatican  (Galeria  delle  Statue),  die  ihr  jedoch  nicht 
gleich  kömmt.    Dagegen  könnte  die  als  Hygiea  restaurirte  Statue  im 

d  Dogenpalast  zu  Venedig  (Sala  de'  Busti)  eher  eine  Demeter  jenes  altern 
Typus  gewesen  sein. 


Zu  den  reichen,  vollen,  mütterlichen  Bildungen  gehört  auch  Isis, 
die  schon  zur  griechischen  Zeit  aus  dem  ägyptischen  Götterkreis  in 
die  classische  Kunst  hereinkam.    Fast  junonisch  herrlich  erscheint  sie 

e  uns  in  dem  prächtigen  Colossalkopf  der  Villa  Borghese  (Hauptsaal); 

i  mehr  jungfräulich  in  einem  reizenden  Köpfchen  des  Vaticans  (Büsten- 
zimmer; statt  des  Lotos  ein  Lockenbund  über  der  Stirn).  Die  voll- 
ständigen Statuen  werden  bald  für  die  Göttin  selbst,  bald  für  eine 
blosse  Priesterin  ausgegeben;  ein  Zweifel,  welcher  desshalb  unlösbar 


Isis.    Ares. 


bleibt,  weil  überhaupt  Priester  und  Priesterin  beim  feierlichen  Opfer 
das  Costüm  ihrer  Gottheit  trugen.  Isis  ist  in  dieser  Beziehung  sehr 
leicht  zu  erkennen  an  dem  Sistrum  (wo  es  nicht  restaurirt  ist),  einem 
birnförmig  gebogenen,  mit  einigen  Drähten  oder  Stäbchen  durch- 
zogenen Lärminstrument  von  Erz,  und  an  dem  vor  der  Brust  zusam- 
mengeknüpften Fransengewand.  Eine  späte,  aber  noch  sehr  schöne 
Statue  im  Museo  Capitolino  (Zimmer  des  sterbenden  Fechters) ;  zwei  a 
geringere  im  Museum  von  Neapel  (Halle  der  farbigen  Marmore).         b 


Von  dem  Gott  des  Kampfes,  den  die  römische  Kunst  überdiess 
als  Vater  des  Romulus  zu  verherrlichen  hatte,  besitzt  man  auffallender 
Weise  keine  völlig  sichere  Statue  von  guter  Arbeit.  Im  untern  Gang  c 
des  capitolinischen  Museums  steht  ein  prächtig  geharnischtes  und  be- 
helmtes Colossalbild,  dessen  Züge  wohl  den  Sohn  des  Zeus  zu  ver- 
rathen  scheinen,  das  aber  eben  seiner  pomphaften  Bekleidung  wegen 
doch  wohl  eher  ein  Porträt  heissen  mag.  (Es  galt  früher  für  Pyrrhus.) 
Die  gute  nackte  Statue  eines  reifen,  fast  stämmigen  Mannes  mit  Helm  d 
und  kurzem  Mantel,  im  grossen  Saale  desselben  Museums,  ist  wohl 
unstreitig  ein  Mars,  aber  mit  dem  Angesicht  Hadrians.  Die  mehrfach 
(z.  B.  gerade  hier)  vorkommende  Gruppe  von  Mars  und  Venus  ist 
durchgängig  von  später  Arbeit  und  stark  restaurirt.  Selbst  die  herr- 
liche Statue  der  Villa  Ludovisi  wird  von  Manchen  als  Achill  e 
in  Anspruch  genommen,  mag  aber  einstweilen  als  ein  ruhender,  zur 
Milde  gestimmter  Kriegsgott  gelten;  mit  dem  Schwert  in  der  Hand, 
den  Schild  zur  Rechten,  sitzt  er  auf  einem  Fels,  den  linken  Fuss  auf 
einen  Helm  gestützt;  vor  ihm  ein  Amorin;  sein  Typus  ist  im  Ganzen 
dem  des  Hermes  ähnlich,  nur  mit  männlich  strengern,  härtern  Zügen, 
zumal  im  untern  Theile  des  Gesichtes.  Die  Stellung  wunderbar  leicht, 
von  allen  Seiten  die  schönsten  Linien  darbietend.  Man  glaubt  auf  ein 
Original  des  Skopas  schliessen  zu  dürfen.  —  In  der  Nähe  die  Statue  i 
eines  ebenfalls  nackten,  auf  dem  Boden  sitzenden  Helden,  welche  eine 
belehrende  Vergleichung  des  bloss  Heroischen  mit  dem  Göttlichen  des 
Ares  gewährt. 

In  vollständiger  Rüstung,  ausschreitend  und  mit  einer  Waffe  aus- 
holend, ist  Mars  hauptsächlich  in  den  etruskischen  Erzfiguren  dar- 


430 


Antike  Scnlptar.    Hermes. 


a  gestellt.     (Museo  etrusco  des  Vaticans:  der  bekannte  Mars  von  Todi; 

b  Uffizien  in  Florenz,  zweites  Zimmer  der  Bronzen,  zweiter  Schrank: 
mehrere  kleine  Figuren  dieser  Art;  doch  auch  ein  ganz  kleiner  ver- 
stümmelter Mars  des  schönen  Typus.) 


Die  antike  Mythologie  gewährte  der  Kunst  oft  an  einer  und  der- 
selben Gottheit  viele  Seiten  und  Charakterzüge,  die  sich  darstellen 
Hessen,  je  nachdem  die  verschiedenen  Entwicklungsperioden  des  Grie- 
chenthums,  auch  wohl  die  localen  Mythen,  eine  göttliche  Gestalt  ver- 
schieden hatten  bilden  helfen.  Endlich  aber  pflegt  sich  die  Kunst 
einer  jener  Seiten  entschieden  zu  bemächtigen  und  die  andern  zu 
vergessen  oder  nur  als  Anklänge  leise  anzudeuten. 

Reichlichen  Beleg  hiefür  liefert  Hermes.  Ursprünglich  ein 
unterirdischer  Gott  des  Gedeihens  und  des  Segens  ward  er  später  der 
Herr  der  Gewinns  und  Verkehrs,  ein  Bote  der  Götter,  wandelnd  vom 
Olymp  bis  zur  Unterwelt,  nach  welcher  er  auch  die  Menschenseelen 
geleitet.  Kaum  eine  Gottheit  wurde  häufiger  gebildet;  an  allen 
Strassen  begegnete  man  einem  Pfeiler  mit  seinem  bärtigen  Haupt,  so- 
dass der  gleichen  Pfeiler  mit  Köpfen  überhaupt  den  Namen  ,, Hermen" 
erhielten,  gleich  viel  wen  sie  darstellten. 

Da  er  aber  als  Gott  des  Gedeihens  auch  der  Schützer  der  Gym- 
nasien war,  so  wurde  später  aus  dem  raschen,  rüstigen  Götterboten 
das  Ideal  eines  nur  mit  dem  kurzen  Mantel  (Chlamys)  bekleideten 
Jünglings  der  Ringschule,  und  bei  diesem  Typus  hielt  die  Kunst  stille. 
Von  seiner  Botenschaft  her  blieb  ihm  bisweilen  ein  Ansatz  von  Flügeln 
an  den  Fussknöcheln,  auch  wohl  am  Haupt,  so  wie  der  Reisehut; 
von  seinem  Heroldsamte  bisweilen  der  Schlangenstab;  von  seiner 
Eigenschaft  als  Kaufmann  der  Geldbeutel  in  der  Linken;  —  allein  auch 
ohne  diess  Alles  ist  und  bleibt  er  Hermes  und  zwar  gerade  in  den 
besten  Beispielen. 

Weit  die  erste  Stelle  nimmt  unter  diesen  der  vaticanische 
Hermes  (ßelvedere)  ein;  derselbe,  welcher  früher  unbegreiflicher 
Weise  als  ,,vaticanischer  Antinous"  bezeichnet  wurde.  Es  ist  ein 
ewig  junges  Urbild  der  durch  Gymnastik  veredelten  Leiblichkeit,  wie 
die  breite,  herrliche  Brust,  die  kräftigen  und  doch  feinknochigen  Glie- 


Hermes. 


431 


der,  die  leichte,  ruhige  Stellung  diess  vernehmlich  ausdrücken.  Allein 
in  der  ganzen  Gestalt  waltet  ein  wahrhaft  göttlicher  Sinn,  der  sie 
über  jene  Einzelbedeutung  weit  emporhebt.  Sie  hat,  ich  möchte 
sagen,  ein  höheres,  zeitloseres  Dasein  als  alle  menschlichen  Athleten, 
in  welchen  die  Wirkung  der  letztvorhergegangenen,  die  Erwartung 
der  nächsten  Anstrengung  mit  angedeutet  scheint.  Und  welch  ein 
wunderbares  Haupt!  es  ist  nicht  bloss  der  freundlich  sanfte,  feine 
Hermes,  sondern  wahrhaftig  der,  welcher  ,,den  obern  und  den  untern 
Göttern  werth"  ist,  der  Mittler  der  beiden  Welten.  Darum  liegt  auf 
diesem  Jünglingsantlitz  ein  Schatten  von  Trauer,  wie  es  dem  unsterb- 
lichen Todtenführer  zukömmt,  der  so  viel  Leben  untergehen  sieht. 
Die  süsse,  jugendliche  Melancholie,  welche  im  Antinous  zweideutig 
gemischt  waltet,  ist  hier  mit  vollkommener  Reinheit  ausgedrückt. 

Die  Statue   ist  stark   verstümmelt,    geglättet  und   zweifelhaft   re- 
staurirt.     Möge  sie  wenigstens  fortan  bleiben  wie  sie  ist.     (Eine  viel  a 
geringere  Wiederholung  im  grossen  Saal  des  Pal.  Farnese.) 

Noch  mancher  treffliche  Hermes  steht  in  den  römischen  Galerien, 
allein  keiner,  der  diesem  irgend  nahe  käme.    Zur  Vergleichung  diene 
z.  B.  der  Hermes  mit  der  Inschrift  INGENVI  (Vatican,  Galeria  delle  b 
statue),   und  derjenige  des  Braccio  nuovo,   gute  römische   Arbeiten,  c 
Im  letztgenannten  Theile  des  Vaticans  stehen  (hinten)  auch  zwei  be- 
mäntelte Hermen,   deren   Köpfe  wirklich  Hermes  vorstellen.    —  Im 
grossen  Saal  des  capitolinischen  Museums  glaubt  man  in  der  Statue  d 
eines  vorgebeugten  Jünglings,  welcher  (in  der  jetzigen  Restauration) 
den  Zeigefinger  der  Rechten  wie  horchend  erhebt,  und  den  linken 
Fuss  auf  ein  Felsstück  setzt,  einen  Hermes  zu  erkennen.    Es  ist  ein 
stattliches,   lebensvolles  Werk,  etwa  aus  hadrianischer  Zeit.   —  Ein 
römischer  Hermes,  wenigstens  mit  einem  Nachklang  jener  schönen  e 
Trauer,  im  Hauptsaal  der  Villa  Ludovisi. 

Im  Museum  von  Neapel,  Abtheilung  der  grossen  Bronzen,  bieten  £ 
zunächst  zwei  Köpfe  eine  interessante  Parallele  dar.  Der  eine,  alter- 
thümlich  streng,  mit  einer  Reihe  von  Löckchen  wie  Korkzieher,  zeigt 
uns  den  kalten  conventioneilen  Ausdruck  des  frühern  griechischen 
Typus,  während  der  andere  sich  der  seelenvollen  Schönheit  des  vati- 
canischen  Gottes  nähert.  Dann  findet  sich  hier  die  unvergleichliche  g 
Statue  des  angelnden   Hermes.    Er  hat  schon  lange  gesessen 


432 


Antike  Scalptar.    Hermes. 


und  ist  darob  etwas  eingesunken;  allein  sein  Blick  sagt,  dass  er  noch 
lauert,  und  seine  ganze  leichte  Stellung  und  der  Bau  seiner  Glieder 
lässt  ahnen,  mit  welcher  Elasticität  er  aufspringen  wird.  Die  Kunst 
wird  keine  sitzende  nackte  Jünglingsfigur  mehr  schaffen,  ohne  dieses 
Erzbild  wenigstens  mit  einem  Blick  zu  Rathe  zu  ziehen.  Ist  es  aber 
wirklich  Hermes?  Was  er  an  den  Füssen  angeschnallt  hat,  sind  keine 
Sandalen,  sondern  Flügel,  die  ihm  also  nicht  von  Hause  aus  angehören; 
sodann  hat  sein  Kopf  wohl  den  Hermestypus,  aber  auf  einer  niedrigem 
Stufe,  und  vollends  geben  ihm  die  abstehenden  Ohren  etwas  Genre- 
haftes. Vielleicht  haben  wir  irgend  einen  unbekannten  M5rthus  oder 
auch  nur  einen  unergründlichen  Scherz  vor  uns. 

a  In  den  Uffizien  zu  Florenz  kann  eine  ausgezeichnet  wohlerhaltene 
römische  Statue  (im  ersten  Gang)  gerade  zum  Beleg  des  Gesagten 
dienen,  insofern  hier  die  Flügel  unmittelbar  über  dem  Knöchel  aus 
dem  Fuss  herauswachsen.    Von  viel  grösserer  Bedeutung  ist  der  leider 

b  sehr  stark  und  zwar  als  Apoll  restaurirte  sitzende  Hermes  im  zweiten 
Gange.  Der  Gott  ist  sehr  jugendlich,  etwa  fünfzehnjährig  gedacht, 
aber  in  grösserm  Verhältniss  ausgeführt,  sodass  man  ihn  in  seinem 
verstümmelten  Zustande  leicht  verkennen  konnte,  indem  seine  spätere 
gymnastische  Bildung  hier  nur  leise  angedeutet  ist.  Ein  Blick  auf  den 
ebenso  jugendlichen  Apoll,  etwa  den  Sauroktonos,  zeigt  freilich  den 
gründlichen  Unterschied;  hier  wollen  alle  Formen  nur  das  leichteste 
Dasein  ausdrücken,  während  im  Hermes  die  Rüstigkeit  und  Elasticität 
ein  wesentlicher  Zug  ist,  selbst  wo  er  ruht  wie  hier.  (Schöne  römische 
Arbeit;  in  der  Nähe  eine  ähnliche,  viel  geringere  Statue  mit  dem  echten 
Hermeskopfe;  die  Lyra,  deren  Erfinder  Hermes  war,  ist  hier  antik.) 

c  —  Noch  knabenhafter  und  fast  genreartig  ist  Hermes  dargestellt  in 
einer  Statue  der  Inschriftenhalle  ebenda,  einem  guten  römischen  Werke. 
Er  steht  auf  einen  Stamm  gelehnt;  im  ursprünglichen  Zustande  hielt 
er  etwas  mit  der  rechten  Hand,  auf  die  seine  Blicke  gerichtet  sind. 

d  —  Ob  der  gute  römische  Torso  von  Basalt  (in  der  Halle  des  Her- 
maphr.  ebenda)  einen  Hermes  oder  einen  Satyr  vorstellte,  ist  schwer 
zu  entscheiden. 


Vom  Geschlecht  des  Hermes  als  Schützers  der  Ringschulen  sind  alle 
Athleten  griechischer  Erfindung.    Man  erwarte  hier  nicht  den  zum 


Athleten.    Discobolen. 


433 


Gladiator  abgerichteten  römischen  Sklaven,  Der  griechische  JüngUng 
übte  sich  in  allen  Gattungen  der  Gymnastik  freiwillig,  weil  ihm  die 
gleichmässige  Ausbildung  des  ganzen  Menschen  Lebenszweck  war. 
Und  so  stellte  ihn  die  Kunst  dar,  edel  bewegt  oder  edel  stehend,  ela- 
stisch ohne  alles  Tänzerliche,  mit  irgend  einer  äussern  Andeutung  des 
eigentlich  Gymnastischen;  der  ganze  Leib  aber  ist  in  allen  Theilen 
durchgearbeitet  und  der  Weichlichkeit  abgerungen,  ohne  doch  in  der 
reichen  Musculatur  irgendwie  absichtlich  zu  erscheinen.  Eine  innere 
Schwungkraft  scheint  ihn  zu  beleben.  Der  in  der  Regel  kleine  Kopf 
mit  kurzem  Haar  sitzt  frei  und  schön  auf  dem  Nacken;  der  Ausdruck 
ist  ernst  und  sanft  und  klingt  sehr  deutlich  an  den  des  Hermes  an. 

Im  Braccio  nuovo  des  Vaticans  bereiten  die  Athleten  der  Halb-  a 
rotunde,  mittelgute  Arbeiten,  auf  den  vor  drei  Jahren  gefundenen 
,,Apoxyomenos"  am  Ende  des  Saales  vor.  Wenn  die  Kenner  in 
demselben  auch  nicht  das  berühmte  Original  des  Lysipp  finden  und 
im  Einzelnen  Manches  tadeln  wollen,  so  bleibt  die  Statue  doch  eine 
der  besten  dieser  Art.  Die  so  schwer  auf  schöne  Weise  zu  gebende 
Bewegung  der  Arme  und  die  dadurch  begründete  Linie  des  Körpers 
sind  hier  Wunder  der  Kunst. 

Sehr  reizende  Motive  gewähren  sodann  die  Discobolen  oder 
Scheibenwerfer;  sei  es  dass  sie  gebückt  im  Augenblick  des  Werfens, 
oder  stehend  und  sich  zum  Wurf  vorbereitend  gebildet  wurden;  immer 
geschah  es  mit  dem  höchsten,  durch  die  ganze  Gestalt  verbreiteten 
Ausdruck  des  Momentes.    Der  Vatican  enthält  (in  der  Sala  della  biga)  b 
sehr  ausgezeichnete  Beispiele,  einen  stehenden,  mit  Auge  und  Geberde 
sein  Ziel  messenden,  nach  Naukydes,  und  einen  gebückten,  nach  My- 
ron;   von  letzterm  ein  noch  schöneres  Exemplar  im  Palast  Massimi  c 
zu  Rom.    Ein  sehr  zusammengestückelter  stehender,  von  ursprünglich 
guter  Arbeit,  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans.    Eine  geringere  Wieder-  d 
holung  des  myronischen  in  den  Uffizien,  zweiter  Gang.  e 

Bei  weitem  am  häufigsten  aber  sind  ruhig  stehende  Athletenbil- 
der, ohne  Andeutung  einer  besondern  Thätigkeit,  Bei  ihrer  oft  stark 
restaurirten  Beschaffenheit  und  dem  meist  geringen  Werth  ihrer  Aus- 
führung (als  Decorationsfiguren)  ist  es  nöthig  sich  zu  erinnern,  dass 
man  doch  vielleicht  manches  Nachbild  nach  jenen  hunderten  der  schön- 
sten Athletenstatuen  im  Hain  von  Olympia  vor  sich  hat.  —  Zu  diesen 


:k^'-^SläMik^.:L 


434 


Antike  Scolptnr.    Athleten.    Ringer. 


ruhig  stehenden  Athleten  gehört  vielleicht,  wie  wir  sehen  werden,  der 

a  sog.  capitolinische  Antinous.  Andere  Arbeiten  von  Werth:  der  Athlet 
mit  Salbgefäss  in  der  Galeria  delle  Statue  des  Vaticans;  der  schlanke, 

b  kurzhalsige,  einem  alterthümlich  strengen  Original  nachgebildete,  im 
grossen  Saale  des  capitolinischen  Museums;  der  das  Stirnband  Um- 

c  legende  (Diadumenos)  im  grossen  Saal  des  Palastes  Farnese,  nach 
einem  berühmten  Motiv,  —  Vier  Athleten  im  ersten  Gang  der  Uffi- 

d  zien  zu  Florenz,  zum  Theil  willkürlich  restaurirt  und  von  jeher  nicht 
viel  mehr  als  Decorationsarbeit,  aber  vielleicht  nach  Originalen  der 
grossen  alten  Zeit,  worauf  der  breite,  gev/altigc  Typuc  und  beson- 
ders die  Bildung  des  Kopfes  und  Halses  hinweist.     Ein  ähnlicher  im 

e  Pal.  Pitti  (inneres  Vestibül  oberhalb  der  Haupttreppe) . 

f  Von  den  Bronzen  des  Museums  von  Neapel  (Abtheilung  der 
grossen  Bronzen)  gehören  ausser  mehrern  schönen  Köpfen  hieher  die 
beiden  trefflichen  Statuen  der  gebückt  laufenden  Jünglinge.  Bei  Wer- 
ken von  so  lebensvoller,  wenn  auch  einfacher  Arbeit  hat  der  geringste 
Zug  seine  Bedeutung.  Es  wird  also  eine  sehr  aufmerksame  Betrach- 
tung wohl  dahin  gelangen,  zu  entscheiden,  ob  eigentliche  Wettläufer, 
ob  Discuswerfer,  die  ihrer  entrollenden  Scheibe  nachblicken,  ob  end- 
lich Ringer  gemeint  sind,  welche  sich  den  Punkt  des  Angriffs  er- 
sehen.    Kenner  des  jetzigen  Ringkampfes  versichern  das  Letztere. 

g  Ein  sehr  tüchtiger  bronzener  Athlet,  der  sog.  Idolino,  steht  in 
den  Uffizien  (zweites  Zimmer  der  Bronzen)  auf  einer  prächtigen 
Basis  aus   der   Renaissancezeit,   von  Verocchio   oder   Settignano.    — 

h  Ebendaselbst  (sechster  Schrank)  die  Statuette  eines  Ringers  in  voller 
Bewegung;  am  aufgehobenen  rechten  Ellbogen  ist  noch  die  Hand 
seines  fehlenden  Mitringers  erhalten. 

Diese  v/ahrscheinlich  erst  aus  römischer  Zeit  stammenden  Exem- 
plare lassen  auf  die  Verehrung  schliessen,  welche  jenen  ebenfalls 
ehernen  Athletenbildern  der  griechischen  Kampfstätten  noch  immer 
gewidmet  wurde.  Die  spätere  Sculptur  muss  nach  den  Siegerstatuen 
von  Olympia  wie  nach  einer  Sammlung  von  Urkunden  der  Kraft  und 
Anmuth  emporgeblickt  haben. 

Die  beiden  Ringer  in  der  Tribuna  der  Uffizien  zu  Florenz  werden 
bei  Anlass  der  Gruppen  behandelt  werden. 

Bekanntlich  nahmen,  wenigstens  in  Sparta,  auch  die  Mädchen  an 


Gladiatoren.    Krieger. 


435 


gewissen  Wettkämpfen  Theil,  und  es  ist  zu  glauben,  dass  sich  die 
Sculptur  die  darstellbaren  Motive  nicht  entgehen  Hess,  welche  dabei 
zum  Vorschein  kamen.  Erhalten  ist,  wenigstens  in  guter  alter  Copie, 
eine  zum  Auslauf  bereite  Wettläuferin  (im  obern  Gang  des  Vaticans) ;  a 
eine  graziöse,  nichts  weniger  als  amazonenhafte  Gestalt,  in  welcher 
das  Jungfräuliche  vortrefflich  ausgedrückt  ist.  Die  kurzgeschnittenen 
Stirnhaare  gehörten  zur  Sache;  auch  die  Büste  ist  so  ausgeweitet,  wie 
der  Wettlauf  es  erfordert,  die  Beine  von  einer  fast  scharfen  Aus- 
bildung. 

Überaus   traurig   ist   der   endliche    Ausgang   des    Athletenbildens. 
Das  kaiserliche  Rom  begeisterte  sich  nämlich  so  sehr  für  die  Wagen- 
führer seiner  Cirken  und  die  Gladiatoren  seiner  Amphitheater,  dass 
deren  leibhafte  Abbildungen  mit  Namensbeischrift  Mode  wurden.    Die- 
ser Art   sind  schon  die  Mosaikfiguren   aus  den  Caracallathermen  in  b 
einem  obern  Saale  des  Laterans  und  vollends  die  aus  dem  IV.  Jahr-  c 
hundert  stammenden   im   Hauptsaal   der  Villa  Borghese.      Selbst  an 
Sarcophagen  (z.  B.  einem  im  ersten  Gang  der  Uffizien)  kommen  Wa-  d 
genführer  mit  Namen  vor.     Auch  die  alten  Griechen  waren  von  der 
persönlichen  Darstellung  bestimmter  Athleten  ausgegangen,  allein  sie 
hatten  dieselbe  auf  eine  allgemeine  Höhe  des  Schönen  gehoben  und 
sie  bald  nur  als  vielgestaltige  Äusserungen  des  Schönen  dargestellt. 


Es  kann  nicht  befremden,  dass  die  Statuen  von  hellenischen 
Kriegern  bisweilen  schwer  von  den  Athletengestalten  zu  trennen 
sind.  Über  eine  der  berühmtesten  Statuen  des  Alterthums,  den  bor- 
ghesischen  Fechter  (im  Louvre),  hat  man  sich  lange  Zeit  nicht  ganz 
einigen  können,  ob  darin  ein  Ringkämpfer  oder  ein  Krieger  zu  er- 
kennen sei;  die  Stellung  spricht  für  das  letztere,  die  Formen  des 
Körpers  aber  sind  die  der  vollendetsten  Athletik,  wie  sie  kaum  an 
einer  andern  Statue  vorkommen.  (Von  einem  römischen  Gladiator 
kann  gar  nicht  die  Rede  sein.) 

Eine  Anzahl  von  Statuen  aber  stellen  ohne  Zweifel  wirkliche 
Krieger  dar,   mögen  sie  nun  besonders  gearbeitet  sein  oder  irgend 


U^..^  ,S  *.  .Äi,.  ^  m-^.  äJk . 


436 


Antike  Scalptar.    Krieger.    Heroen. 


einer  Schlacbtgruppe  angehört  haben.  Ersteres  gilt  wohl  von  dem 
a  schönen,  ausruhend  auf  der  Erde  sitzenden  Krieger  der  Villa  L  u  d  o  - 
visi  (Hauptsaal),  von  griechisch  scheinender  Arbeit,  der  wir  schon  bei 
Anlass  des  nahen  Ares  erwähnten.  Vier  Marmorbilder  des  Museums  von 
b  Neapel  (erster  Gang,  leider  wie  so  Manches  aus  der  alten  farnesischen 
Sammlung  stark  überarbeitet)  waren  vielleicht  eher  Theile  einer  Gruppe 
und  zwar  am  ehesten  einer  Giebelgruppe,  wie  ihre  ausschliessliche  Be- 
rechnung auf  die  Vordersicht  andeutet  i).  Einer  dieser  Kämpfer  sinkt 
tödtlich  verwundet  zusammen;  einer,  mit  besonders  schön  entwickeltem 
Körper,  ist  im  Anspringen  begriffen;  ein  dritter  legt  aus;  ein  vierter, 
sehr  jugendlich  und  mit  kurzem  Mantel  bekleidet,  scheint  sich,  bereits 
verwundet,  zu  vertheidigen.  Die  Motive  sind  sämmtlich  von  höherni 
Werthe  als  die  übrigens  noch  immer  gute  Ausführung;  es  sind  schöne 
griechische  Einzelgedanken  aus  einer  jener  Kampfscenen,  die  das  be- 
deutendste Factum  in  einer  geringen  Anzahl  von  Figuren  gleichsam 
verdichtet  und  concentrirt  darstellen  mussten.  Dass  das  Urbild  ein 
sehr  altes  war,  beweist  der  einzig  echt  erhaltene  Kopf  des  zweiten, 
dessen  regelmässige  Haarlöckchen  und  starkes  Kinn  noch  unmittelbar 
an  die  Ägineten  erinnern.  —  In  demselben  Gang  finden  sich  noch 
mehrere  Kriegerstatuen  theils  von  geringerm  Werth,  theils  von  über- 
c  wiegend  modernen  Besttandheilen.  —  In  der  Halle  des  farnesischen 
Stieres  findet  sich  auch  eine  jener  seltenen  Statuen  aus  dem  trojani- 
schen Heldenkreise  (colossal,  schon  in  antiker  Zeit  (?)  restaurirt  und 
mit  einem  Bildnisskopf  versehen);  der  fast  nackte  Krieger  trägt  einen 
todten  Knaben,  den  er  an  dem  einen  Fusse  hält  und  über  die  Schulter 
hängen  lässt,  eilig  aus  dem  Kampf gewühl;  es  ist  wahrscheinlich 
Hektor,  der  dem  Achill  die  Leiche  des  Troilos  entrissen.  Hier  ist  die 
Bildung  allerdings  keine  athletische  mehr,  sondern  eine  im  höhern 
Sinn  heroische,  soweit  die  antike  Beschaffenheit  sich  erkennen  lässt; 
die  Bewegung  und  das  Motiv  der  beiden  Körper  verrathen  ein  vor- 
treffliches Urbild.  —  Noch  viel  berühmter  aber  muss  eine  oft  wieder- 
holte Gruppe:  Aiax  (u.  a.  Menelaos)  mit  dem  Leichnam  des  Patroklus 
gewesen"  sein,  welche  bei  Anlass  der  Gruppen  zu  besprechen  sein  wird. 


•   ')  Einer  Gruppe  gehörte  auch  wohl  d:r  schlecht  restaurirte  knieende  Krieger  in  den  Uffizien  zu 
Florenz  (zweiter  Gang)  an,  ehemals  vielleicht  ein  gutes  Werk. 


Heroen.    Jäger.    Meleager. 


437 


Der  trefflichste  Achill  ist  mit  der  altern  borghesischen  Sammlung 
in  den  Louvre  übergegangen.     Vielleicht  ist  mit  einer  tüchtigen  He-  a 
roenstatue  der  Villa  Albani  (Vorhalle  des  Kaffeehauses)  Achill  gemeint. 
—   Einen  wunderschönen  Kopf  des  Achill,  von  griechischer  Arbeit,  b 
findet  man  im  Camposanto  zu  Pisa  (N.  78). 

Von  Odysseus  haben  wir   nichts  Sicheres,   als   die   kleine  Statue 
des  Museo  Chiaramonti  (Vatican),  welche  ihn  darstellt,  wie   er  dem  c 
Kyklopen  die  Schale  reicht.     Eine  stramme,  kräftige  Figur;   in  den 
Zügen  mehr  der   Energische,   Vielduldende  als  der   Schlaue. 

Als  Bildnissstatue  eines  Kriegers  aus  der  historischen  Zeit  ist 
jedenfalls  der  Alcibiades  in  der  Salla  della  biga  des  Vaticans  zu  d 
betrachten,  auch  wenn  die  Benennung  sehr  zweifelhaft  bleiben  sollte. 
Es  ist  ein  sehr  schöner  Akt  der  Vertheidigung;  der  Beschauer  er- 
wartet, dass  sie  erfolgreich  sein  werde,  weil  in  der  ganzen  Gestalt 
nicht  nur  physische  Macht,  sondern  hohe  geistige  Entschiedenheit 
waltet. 


Auf  die  Krieger  folgen  die  Jäger  und  zwar  zunächst  ihr  mythi- 
sches Urbild,  Meleager.  Die  berühmte  vaticanische  Statue  e 
(Belvedere),  ein  vorzügliches  Werk  der  Kaiserzeit,  wenn  auch  nicht  in 
allen  Theilen  gleichmässig  belebt,  giebt  uns  diesen  Typus  in  seiner 
vollkommenen  Ausbildung,  sehr  dem  Hermes  genähert,  selbst  in  Ge- 
stalt und  Zügen  des  jugendlichen  Kopfes,  und  doch  wieder  wesent- 
lich von  ihm  verschieden.  Die  Jagd  verlangt  und  bildet  einen  Körper 
anders  und  einseitiger  als  die  Athletik;  ihr  genügt  das  Schlanke  und 
Rasche;  eine  für  jede  Probe  durchgearbeitete  Musculatur  wäre  über- 
flüssig. So  schön  und  leicht  nun  diese  Gestalt  dasteht,  so  unbeholfen 
und  zweideutig  ist  die  Stützung  unter  dem  linken  Arm  (Eberkopf  und 
Tronco).  Vielleicht  hatte  der  Künstler  ein  ehernes  Urbild  vor  sich 
und  musste  sich  in  Marmor  helfen,  wie  er  konnte.  Eine  kleine  Wieder- 
holung von  rosso  antico  im  Museum  von  Neapel  (Halle  der  farbigen  f 
Marmore).  Eine  stark  überarbeitete  lebensgrosse  Statue  im  Haupt-  g 
saal  der  Villa  Borghese. 

Weit  von  dieser  Auffassung  entfernt  und  durch  den  Contrast  be- 
lehrend: die  Statue  eines  Jägers  im  grossen  Saal  des  Museo  capitolino.  h 


438 


Antike  Scalptar.    Pallas. 


Hier  handelt  es  sich  nicht  um  einen  mythischen  Heros,  sondern  nur 
um  einen  besonders  geschickten  und  begünstigten  römischen  Jagd- 
sclaven,  der  denn  auch  wie  er  war,  von  der  Hand  eines  guten  Künst- 
lers (vielleicht  der  augusteischen  Zeit),  vor  uns  steht.  Ob  ,,Polyti- 
mus  der  Freigelassene",  wie  an  der  Basis  zu  lesen  ist,  auf  den  Jäger, 
Bildhauer  oder  Eigenthümer  geht,  wollen  wir  nicht  entscheiden. 


Wenn  sich  in  jeder  Gottheit  irgend  eine  Seite  des  griechischen 
Wesens  ideal  ausdrückt,  so  ist  P  a  1 1  a  s  Athene  eine  der  höchsten 
Versinnlichungen  dieser  Art.  Aus  der  Lichtjungfrau,  welche  die  dämo- 
nischen Mächte  bekämpft  und  das  Haupt  der  besiegten  Gorgo  an  der 
Brust  trägt,  war  schon  bei  Homer  und  Hesiod  eine  Schützerin  jeder 
verständigen  und  kräftigen  Thätigkeit,  die  Begleiterin,  der  Genius  des 
,, Griechen  als  solchen"  geworden,  wie  wir  den  vielduldenden  Odysseus 
wohl  nennen  dürfen;  sie  ist  der  Verstand  des  Zeus  und  aus  seinem 
Haupte  geboren.  Weder  der  Peloponnes  noch  Jonien  hätten  sie  herr- 
lich genug  gebildet;  als  Schutzherrin  von  Athen  erhielt  sie  ihren 
Typus  durch  die  grössten  Künstler  dieser  Stadt,  vorzüglich  durch  Phi- 
dias;  aus  ihrer  Gestalt  scheint  Athen  selber  vernehmlich  zu  uns  zu 
sprechen. 

Die  ältere  Kunst  hob  an  ihr  wesentlich  das  Kriegerische  hervor; 
erregt,  selbst  stürmisch  schreitet  die  bewaffnete,  strenge  Jungfrau  mit 
ihren  fast  männlichen  Formen  und  Geberden  einher.     So  die  schon 

a  erwähnte  hieratische  Statue  in  der  Villa  Albani   (Reliefzimmer).   - 
Eine  späte  Nachahmung  eines  ruhigem  Tempelbildes,  im  Hauptsaal 

b  der  Villa  Ludovisi,  interessirt  hauptsächlich  durch  den  Künstlernamen: 
Antiochos  von  Athen. 

Einen  viel  entwickeitern  Typus,  in  welchem  indess  noch  immer 
die  kriegerische  Stadtherrscherin  vorwaltet,  finden  wir  in  einer  Statue 

c  des  Museums  von  Neapel  (Halle  der  Flora)  ausgedrückt.  Das  Haupt,  von 
mächtigen,  fast  junonischen  Formen,  trägt  einen  Helm,  desser  reicher 
Schmuck  sammt  der  umständlich  behandelten  Aegis  der  ganzen  Gestalt 
noch  etwas  Buntes  giebt.  Man  vergleiche  mit  dieser  Statue  die  in  der  In- 

d  tention  übereinstimmende  im  Hauptsaal  der  Villa  Albani,  welche  bei  sehr 
vorzüglicher  griechischer  Arbeit  noch  etwas  Heftiges  und  Befangenes 


Pallas. 


439 


hat;  die  Statur  untersetzt,  der  Helm,  in  Form  eines  Thierfelles,  wie  eine 
Haube  anliegend.  (Eine  schöne  kleine  Bronze  der  Uffizien:  Bronzen,  a 
n. Zimmer,  i.  Schrank,  zeigt  ähnliche  Auffassung.)  Sehr  eigenthümUch 
als  kriegerisches  Mädchen,  erscheint  Pallas  in  einer  schön  gedachten, 
aber  nur  mittelgut  ausgeführten  Statue  der  Uffizien  (Verbindungsgang),  b 
das  vortrefflich  übergeworfene,  mit  der  Linken  an  der  Hüfte  fest- 
gehaltene Gewand  reicht  nur  bis  an  die  Waden.  Der  echte,  wenigstens 
alte  Kopf  schaut,  seit  das  Halsstück  neu  eingesetzt  ist,  etwas  senti- 
mental aufwärts. 

Die  volle  Herrlichkeit  der  Göttin  spricht  sich  jedenfalls  erst  in 
demjenigen  Typus  aus,  welcher  in  zwei  (nicht  sehr  von  einander  ab- 
weichenden) Statuen  erhalten  ist:  der  Pallas  Giustiniani  im  Braccio  c 
nuovo  des  Vaticans,  und  der  Pallas  von  Velletri  i)  in  der  obern  Ga-  d 
lerie  des  capitolinischen  Museums.  In  langem  einfach  gefaltetem  Ge- 
wand und  Mantel  steht  sie  ruhig  da;  von  den  Waffen  hat  die  letzt- 
genannte Statue  sogar  nur  den  schlichten  hohen  Helm  und  den  Speer. 
Ihr  länglich  ovales  Antlitz  mit  dem  strengen  Blick  und  Mund  ist  bei 
hoher  Schönheit  weit  entfernt  von  aller  Bedürftigkeit,  von  aller  Liebe; 
das  unbeschreiblich  Klare  ihrer  Züge  wirkt  indess  doch  nicht  wie 
Kälte,  weil  eine  göttliche  Macht  darin  waltet,  die  Vertrauen  erregt. 
Gerade  die  gänzliche  Einfachheit  der  ganzen  Darstellung  lässt  diesen 
Ausdruck  so  überwältigend  hervortreten.  —  Ob  wir  hier  einen  der 
Typen  des  Phidias  oder  einen  etwas  spätem  vor  uns  haben,  mag  un- 
entschieden bleiben  —  jedenfalls  wird  man  den  Künstler  glücklich 
preisen,  der  das  Wesen  der  Pallas  Athene  zuerst  s  o  empfand.  (Die 
Pallas  von  Velletri  in  der  Arbeit  ungleich;  die  giustinianische  leider 
stark  geglättet.  Eine  ähnliche  Figur,  von  guter  römischer  Arbeit, 
mit  modernem  Kopfe,  im  Pal.  Pitti  zu  Florenz,  inneres  Vestibül  ober-  e 
halb  der  Haupttreppe). 

Eine  Menge  einzelner  Büsten  der  Göttin  halten  im  Ganzen  diesen 
spätem,  ruhigen  Typus  fest.     Man  wird  im  Braccio  nuovo  des  Vati-  f 
cans  eine  sehr  schöne,  in  der  Höhe  stehende  vielleicht  nicht  sogleich 
als  modern  erkennen;   der  Kopf  ist  aber  in  der  That  einem  antiken 


1)  Eine    andere  Pallas   von   Velletii   im   Louvre;    es   ist   die   colossale   mit  erhobenem   rechten 


a._. 


Arm. 


^'■if*':*)  V. ,  >r;  lit, 


'■l^.»-.,  i^f.-tlV-.'ij*-, 


«i-^WJ*  «*;«*^-*-W.«l(;*'t».W'«*Ä  liv^'w.'. 


ET 


440 


Antike  Scnlptar.    Roma.    Tycbe. 


a  Bruchstück  zu  Liebe  hinzugearbeitet.  —  Im  Museo  Chiaramonti  eine 
Colossalbüste  mit  eingesetzten  Augen  und  Drahtwimpern,  etwas  leere 
römische  Prachtarbeit.     Ebendort  ein  kleines  gutes  Köpfchen.     In  den 

b  Büstenzimmern  eine  vortreffliche  grosse  Büste,    Im  Museum  von  Nea- 

c  pel  (Halle  des  Jupiter)  zwei  gute  Büsten. 


Von  der  kriegerisch  gerüsteten  Pallas  geradezu  entlehnt  wäre  der 
Typus  der  Göttin  Roma,  wenn  wir  die  einzige  vorhandene  Statue 

d  über  dem  Brunnen  auf  dem  Capitol  wirklich  als  solche  in  Anspruch 
nehmen  dürfen.  —  Ganz  sicher  ist  dagegen  das  Relief  an  der  Palast- 

e  Treppe  der  Villa  Albani;  die  schlanke,  amazonenhafte  Roma,  in  kur- 
zem Gewand  bis  an  die  Knie,  das  Haupt  behelmt,  thront  hier  auf 
Trophäen.  Bei  nicht  eben  geistvoller  Ausführung  ist  sie  als  die 
stets  rüstige,  sprungfertige  Siegerin  doch  glücklich  charakterisirt.   — 

f  Die  sitzende  Colossalstatue  im  Gatten  der  Villa  Medici  soll  ebenfalls 
eine  Roma  sein. 

Bei  diesem  Anlass  sind  noch  einige  andere  locale  Personificationen 
zu  nennen. 

Auch   die  Provinzen  wurden  bisweilen  an   Siegesdenkmalen 
charakterisirt.    Von  grössern  Bildwerken  dieser  Gattung  sind  uns  nur 

g  eine  Anzahl  Hochrelieffiguren  erhalten  (eine  im  untern  Gang  des  Museo 
Capitolino,  eine  im  Hof  des  Conservatorenpalastes,  mehrere  im  Museum 
von  Neapel,  Halle  des  Jupiter),  leblose  römische  Decorationsarbeiten. 

h  An  einem  berühmten  Altar  aus  Puteoli  (Museum  von  Neapel,  Halle 
des  Tiberius)  sind  vierzehn  asiatische  Städte  als  allegorische  weibliche 
Figuren  dargestellt,  wobei  die  Kunst  sich  begreiflicherweise  sehr  auf 
die  Attribute  stützen  musste;  überdiess  ist  der  Marmor  sehr  verwittert. 
—  Diess  Alles  kommt  kaum  in  Betracht  neben  einer  kleinen,  wunder- 

i  schönen  Figur  des  Vaticans  (oberer  Gang),  welche  die  T  y  c  h  e  oder 
Stadtgöttin  vonAntiochien  vorstellt.  Ganz  bekleidet  sitzt  sie  mit 
aufgestütztem  Arm  und  übereinandergeschlagenen  Füssen  auf  einem 
Fels,  unter  ihr  die  nackte  Halbfigur  des  Flussgottes  Orontes.  (Nach- 
ahmung eines  Werkes  aus  der  Diadochenzeit.)  Hier  endlich  ist  vor 
Allem  ein  schönes  lebendes  Wesen  dargestellt  und  die  geographische 
Symbolik  untergeordnet.    In  Antiochien,  wo  das  Urbild  stand,  wusste 


Amazonen. 


441 


ja  doch  Jedermann,  welche  Göttin  gemeint  war.    (Zwei  kleine  Bronze-  a 
Wiederholungen  in  den  Uffizien,  II.  Zimmer  d.  Br.,  4.  Schrank.) 


In  eigenthümlicher  Seitenverwandtschaft  zu  Pallas  Athene  stehen, 
dem  Typus  nach,  die  Amazonen,  deren  höchste  Ausbildung  ja 
vielleicht  wesentlich  demselben  grossen  Bildner  angehört,  welchem  das 
höchste  Ideal  der  Stadtgöttin  von  Athen  seine  Züge  verdankt,  Phidias. 
Der  herrliche  Gedanke,  männliche  Kraft  in  weiblichem  Leib  darzu- 
stellen, gehört  ganz  der  Zeit  der  hohen  Kunst  an,  sowie  die  zierlich 
und  buhlerisch  gewordene  Kunst  sich  charakterisirt  durch  die  Schö- 
pfung des  Hermaphroditen,  welcher  durch  die  Vermengung  des  sinn- 
lich Reizenden  der  beiden  Geschlechter  ein  vermeintlich  Höheres  re- 
präsentiren  soll.  —  Die  Sage  von  dem  kriegerischen  asiatischen  Frauen- 
volk und  von  seinen  Kämpfen  mit  den  griechischen  Helden  gab  nur 
den  Anlass  zu  dem  hohen  künstlerischen  Problem,  welches  Polyklet, 
Phidias,  Ktesilaos,  Dositheus  u.  A.  jeder  auf  seine  Weise  löste.  Aus- 
geschlossen blieb  v/ie  bei  Pallas  in  dem  strengen  ovalen  Kopf  jeder 
Ausdruck  des  Liebreizes;  bei  aller  Entfaltung  der  Kraft  gehen  aber 
doch  die  Formen  nie  über  das  Weiche  und  Weibliche  hinaus.  Das 
leichte  aufgeschürzte  Gewand  deckt  nur  einen  Theil  der  Brust  und 
die  Hüften  bis  zum  Knie;  es  fliesst  so  um  die  Gestalt,  dass  jede 
Nuance  der  Bewegung  sich  darin  klar  ausdrückt.  Diess  war  sehr 
wesentlich,  denn  das  Heroische  Hess  sich  im  Weibe,  wenn  es  schön 
bleiben  sollte,  überhaupt  nur  als  Rüstigkeit,  Bewegungsfähigkeit  dar- 
stellen. —  Bei  den  einzelnen  auf  uns  gekommenen  Motiven  ist  nie  zu 
vergessen,  dass  die  Künstler  diese  Heroinnen  als  Gattung,  als  Volk 
dachten,  und  dass  wir  lauter  Episoden  eines  grössern  Ganzen  vor 
uns  sehen.  Das  schönste  Motiv,  die  den  Speer  zum  Sprung  auf- 
stützende Amazone  des  Phidias,  kann  man  leider  nirgends  rein  ge- 
niessen,  indem  sie  (Exemplare  im  Braccio  nuovo  und  in  der  Galeria  b 
delle  Statue  des  Vaticans,  sowie  im  Museo  Capitolino,  Zimmer  des  c 
sterbenden  Fechters)  statt  des  Speeres  mit  einem  Bogen  restaurirt  zu 
werden  pflegt,  doch  bleibt  der  Ausdruck  und  die  imposante  Haltung 
des  Kopfes,  und  in  dem  Körper  das  so  kräftige  und  zugleich  so  an- 
muthige  sich  Anschicken  zum  Sprunge.  —  Die  verwundete  Amazone 

Urcicerone.  29 


^*'.'*"*'.^    '*<;*"»•  *  •"  i^Si  •&-<*<-*. .*^^»£*tj»W!bi<*' 


WtJ»'^H>Mw>  ^^  ^  «J(f<«».  w'«»--»-''  w<. 


442 


Antike  Scnlptnr.    Apoll. 


a  des  Ktesilaos,  in  einer  Wiederholung  des  Sosikles,  im  grossen  Saale 
des  Museo  capitolino. 

b  Eine  interessante  kleine  Bronzewiederholung  der  Amazone  des  Phi- 
dias  findet  sich  in  den  Uffizien  (Bronzen,  II.  Zimmer,  2.  Schrank;  mit 
restaurirtem  Arm.) 

c  An  der  bekannten  Statuette  des  Museums  von  Neapel  (grosse 
Bronzen),  welche  eine  behelmte  kämpfende  Amazone  zu  Pferd  dar- 
stellt, ist  der  Typus  nur  wenig  zu  erkennen. 


Die  Gestalt  Apolls,  wie  wir  sie  aus  den  Statuen  der  Blüthezeit 
und  deren  Nachahmungen  kennen  lernen,  ist  das  gemeinsame  Resultat 
sehr  verschiedener  mythischer  Grundanschauungen  und  einer  bestimm- 
ten künstlerischen  Absicht  auf  eine  Darstellung  des  Höchsten.  Apoll 
ist  ein  kämpfender  Gott,  welcher  Ungeheuer  und  trotzige  Menschen 
zernichtet,  er  ist  zugleich  der  Gott  alles  heilvollen,  harmonischen  Da- 
seins, dessen  Sinnbild  und  Beihülfe  Musik  und  Dichtung  sind;  als 
Theilhaber  an  der  höchsten  Weisheit  gehört  ihm  auch  -vorzugsweise 
die  Weissagung  und  deren  Ausdruck,  die  Orakel.  Die  ausgebildete 
Kunst  aber  konnte  diese  Charakterzüge  nicht  alle  einzeln  darstellen; 
sie  gab  als  gemeinsames  Symbol  aller  Ordnung  und  alles  Heiles  ein 
Bild  der  höchsten,  man  könnte  sagen,  centralen  Jugendschönheit,  wie 
diess  dem  Geiste  des  Griechen  gemäss  war.  Kithara,  Lyra,  Bogen  und 
Köcher  bleiben  nur  als  Attribute;  das  wahre  Kennzeichen  des  Apoll 
ist  eine  Idealform,  welche  von  jeder  Spur  einer  Befangenheit,  eines 
Bedürfnisses  vollkommen  rein  ist,  und  nicht  bloss  zwischen  dem  gymna- 
stischen Hermes  und  dem  weichen  Dionysos,  sondern  zwischen  allen 
Göttergestalten  die  höchste  Mitte  hält.  Schlanke  Körperformen,  mit  so 
viel  Andeutung  von  Kraft,  als  die  jedesmalige  Bewegung  verlangt;  ein 
ovales  Haupt,  durch  den  mächtigen  Lockenbund  über  der  Stirn  noch 
verlängert  erscheinend;  Züge  von  erhabener  Schönheit  und  Klarheit. 

Von  den  in  Italien  vorhandenen  Statuen  gewähren  allerdings  nur 
wenige  eine  volle  Anschauung  dieses  Ideals;  die  meisten  sind  römi- 
sche, sogar  nur  decorative  Arbeiten.    Doch  befindet  sich  darunter  der 
dvaticanische  Apoll  (in  einem  besondern  Gemach  des  Belvedere) , 
als  Sieger  über  den  Drachen  Python,  vielleicht  über  die  Niobiden,  ja 


Apoll.    Äpollino. 


443 


als  Vertreiber  der  Erinnyen  gedacht  —  je  nachdem  man  einer  Er- 
klärung beipflichtet  —  wendet  er  sich,  nachdem  sein  Pfeil  getroffen, 
mit  hohem  Stolz,  selbst  mit  einem  Rest  von  Unwillen  hinweg.  (Die 
deklamatorisch  restaurirte  rechte  Hand  möge  man  sich  wegdenken.) 
Wahrscheinlich  Nachahmung  eines  Erzbildes,  wie  der  Mantel  andeutet, 
zeigt  diese  Statue  eine  Behandlung  des  Einzelnen,  die  man  am  ehe- 
sten der  ersten  Kaiserzeit  zutrauen  will  und  die  gegenwärtig  nicht 
mehr  so  mustergültig  erscheint,  wie  zur  Zeit  Winkelmanns.  Einer 
unvergänglichen  Bewunderung  bleibt  aber  der  Gedanke  des  Ganzen 
würdig,  das  Göttlich-Leichte  in  Schritt  und  Haltung,  sowie  in  der 
Wendung  des  Hauptes.  (Welches  übrigens,  der  Wirkung  zu  Liebe, 
weit  nach  der  rechten  Schulter  sitzt.) 

Noch  im  Kampfe  begriffen,  die  Sehne  des  Bogens  anziehend  *),  a 
finden  wir  Apoll  in  einer  Bronzestatue  des  Museums  von  Neapel 
(grosse  Bronzen).  Hier  ist  er  ungleich  jugendlicher,  schlank,  als 
Knabe,  doch  mit  einem  ähnlichen  unwilligen  Ausdrucke  des  Köpf- 
chens gebildet.  Die  schöne  Bewegung  seines  Laufes  wird  durch  das 
über  den  Rücken  und  dann  vorn  über  die  Arme  geschwungene  Stück- 
chen Gewand  gleichsam  noch  beschleunigt. 

Am  häufigsten  repräsentirt  ist  der  Typus  des  angelehnt  ausruhenden 
Apoll,  welcher  den  rechten  Arm  über  das  Haupt  schlägt  und  mit  der 
Linken  meist  die  Kithara  hält.  Dieses  Motiv  mit  seinem  fast  genre- 
haften Reiz  kam,  wie  wir  denken  möchten,  ursprünglich  nur  einem 
sehr  jugendlichen  Apoll  zu,  und  so  stellt  auch  die  berühmte  floren- 
tinische  Statue  (Uffizien,  Tribuna),  welche  mit  Recht  der  ,,Apol-b 
1  i  n  o"  genannt  wird,  den  Gott  auf  der  Grenze  des  Knaben-  und  Jüng- 
lingsalters dar.  Leider  musste  dieses  Werk  in  neuerer  Zeit,  schwerer 
Verletzungen  wegen,  einen  Kittüberzug  annehmen,  welcher  die  echte 
Epidermis  völlig  verhüllt;  allein  die  praxitelische  Schönheit  schimmert 
noch  deutlich  durch.  Der  Ausdruck  des  leichtesten  Wohlseins  ist 
hier  mit  einem  hohen  Ernste  verbunden,  welcher  die  Gestalt  auf  den 
ersten  Blick  von  bloss  halbgöttlichen  Wesen  unterscheidet. 

Die  lebensgrossen,  ja  colossalen  Statuen  desselben  Motives  sind 


')   So  schlie;st  man  aus  der  Haltung  der  Hände,  denn  der  Bogen  ist  nicht  mehr  erhalten. 

29* 


.  y-f.*^  I»-»*-;«*  l^/^^'trK'Wiw.^ 


.i»-;iV«(<n*iAts»u*o'jAiii,n,  j^Nj.».  «^  <j^ 


■***v*«»  ^4»    s 


444 


Antike  Scalptar.    Apoll.    Saaroktonos. 


wohl  nur  spätere  und  an  sich  keinesweges  glückliche  i)  Vergrösse- 
rungen,  welches  auch  ihre  Umbildung  ins  Erwachsene  und  Volle  sein 

a  möge.     So  die  zum  pythischen  Apoll  mit  Schlange  und  Dreifuss  um- 
geschaffene^   colossale  halbbekleidete  Figur  von  dieser   Haltung,   im 

b  grossen   Saal  des  Museo  capitolino,  und  die  ähnliche  grosse  Basalt- 
statue im  Museum  von  Neapel  (Halle  der  farbigen  Marmore);  besser 

c  und  ganz  nackt  die  grosse  Statue  im  Zimmer  des  sterbenden  Fechters 
(Museo  capitolino);    —  ehemals  hatte  dieselbe  Stellung  der  jetzt  mit 

d  ausgestrecktem  Arm  restaurirte  Apoll  am  Ende  des  ersten  Ganges  der 
Uffizien,  vielleicht  eine  Arbeit  hadrianischer  Zeit;  auch  derjenige  im 

e  Dogenpalast  zu  Venedig,  Corridojo,  leidHch  römisch. 

Eine  vom  Apollino  ganz  verschiedene  und  doch  wieder  unendlich 
schöne  Bildung  des  jugendlichen  ApoUon  verdanken  wir  sicher  dein 
grossen  Umbildner  des  Erhabenen  in  das  Lieblich-Reizende,  Praxi- 
teles. Es  ist  derjenige  Apoll,  welcher,  mit  der  Linken  leicht  an  einen 
Baumstamm  gelehnt,  einer  an  diesem  emporkriechenden  Eidechse  auf- 
lauert. (In  der  Rechten,  wo  sie  richtig  restaurirt  ist,  hält  er  den  Pfeil, 
womit  er  das  Thier  zu  tödten  gedenkt,  sobald  es  hoch  genug  gekrochen 
sein  wird;  daher  sein  Nam.e  Sauroktonos,  Eidechsentödter.) 
Die  noch  beinahe  knabenhaften,  überaus  schlanken  Formen,  die  fast 
weiblich  schönen  Züge  des  Kopfes  und  die  leichte  ruhende  Stellung, 
welche  an  den  Satyr  periboetos  desselben  Meisters  erinnert,  geben 
diesem  genrehaften  Motiv  einen  hohen  Reiz.  So  musste  das  Far 
niente  eines  jungen  Gottes  gebildet  werden.     Ein  sehr  schönes,  stark 


1)  Einer  der  vielen  Belege  dafür,  wie  wenig  der  Massstab  Sache  der  Willkür  ist.  Je  feier- 
licher, symmetrischer  ein  Motiv  ist,  desto  eher  wird  es  Vergrösserungen  und  Verkleine- 
rungen ertragen;  je  momentaner  und  genrehafter,  desto  weniger;  sodann  dürfen  Unaus- 
gewachsene, für  welche  die  Kinder  und  Knabengrösse  ein  Theil  des  Charakters  ist,  nicht 
bedeutend  vergrössert  werden  —  anderer  und  gewichtiger  Seitenursachen  nicht  zu  ge- 
*  denken.  Lehrreich  sind  in  dieser  Beziehung  die  vergrösserten  Marmorcopien  berühmter 
Antiken  in  der  Villa  reale  zu  Neapel.  Wenn  vielerlei  Ungleichartiges,  noch  dazu  in 
freiem  Räume,  gleichmässig  wirken  soll,  so  wird  man  allerdings  dem  Massstab  Gewalt 
anthun  müssen;  das  Auge  wird  aber  den  einzelnen  Fall  auch  leicht  errathen,  wo  diess 
geschehen  ist.  Das  riesenhafte  Herakleskind  im  grossen  Saale  des  Museo  capitolino  ge- 
hört   ebenfalls    hieher   —   um   von    den    Weihbeckenengeln   in    S.    Peter   zu   schweigen. 


Apoll.    Sogenannter  Adonis. 


445 


restaurirtes  Exemplar  im  Vatican,  Galeria  delle  statue.     Ungleich  ge-  a 
ringer  das  kleine  bronzene  in  der  Villa  Albani  (Zimmer  des  Aesop).  b 
Eine  ähnliche  Statue,  aber  mit  Lyra,  Dreifuss  u.  s.  w.  aus  Marmor  c 
verschiedener  Farben   ergänzt,   in  den   Uffizien  zu   Florenz   (zweiter 
Gang). 

Diesem   berühmten  Motiv  glauben  wir   den   sog.    Adonis   des  d 
Museums  von  Neapel  (in  der  danach  benannten  Halle)  an  die  Seite 
stellen  zu  dürfen.     Abgesehen  von  den  restaurirten  Armen  und  Beinen 
bleibt  ein  jugendlicher  Torso  übrig,  minder  weich  als  Dionysos,  min- 
der athletisch   als   Hermes,   mit  einem   reichlockigen   Haupt,   dessen 
Züge  am  ehesten  sich  den  apollinischen  nähern.     Eine  Ahnung  sagt 
uns,  dass  auch  dieses  schöne,  geniessende  Wesen  in  die  Reihe  praxi- 
telischer  Bildungen  zu  setzen  sein  möchte;  über  seine  besondere  Be- 
nennung darf  man  im  Zweifel  bleiben.    Die  vorzügliche  Arbeit  könnte 
wohl  griechisch  sein^).  — Vielleicht  der  trefflichste  Apoll  Roms,  nach 
dem  belvederischen  und  dem  Sauroktonos,  ist  derjenige  im  Musen-  e 
zimmer  der  Villa  Borghese.    (Von  parischem  Marmor;  bis  an  die 
Knie  das  Meiste  alt.)     An  demjenigen  im  grossen  Saal  des  Palazzo  f 
Farnese  sind  die  alten  Theile  ebenfalls  sehr  schön. 

Als  Führer  der  Musen  nimmt  der  Gott  eine  Gestalt  und  Haltung 
an,  welche  nur  im  Zusammenhang  mit  den  Musen  selbst  ihren  vollen 
Sinn  offenbart.     (S.  unten.) 

Von  den  einfachen,  stehenden  Apollobildern  ohne  besondere  Be- 
ziehung ist  dasjenige  im  Palast  Chigi  zu  Rom  nennenswerth,  welches  g 
noch  mehr  dem  kräftigen  als  dem  reichschönen  Typus  nahe  steht.  Noch 
alterthümlicher,   vielleicht  nach  einem  frühgriechischen  Werke,   ein  h 
zweiter  Apoll  im  grossen  Saal  des  Museo  capitolino.     Eine  kleine  flo- 
rentinische  Bronze  (Uffizien,  H.  Zimmer  d.  Br.,  i.  Schrank)  stellt  den  i 
Apoll  ebenfalls  in  früherer  Art,  mit  der  Rechten  über  die  Schulter  in 
den  Köcher  greifend,  dar. 

Ein  bis  jetzt  nicht  erklärter  Moment  der  Ruhe  ist  ausgedrückt  in 
dem  nackt  mit  gekreuzten  Beinen  stehenden,  scheinbar  mit  dem  linken 
Oberarm  auf  sein  lang  herabfallendes  Gewand  gelehnten  Apoll;  am 


1)    Eine  sehr  schöne  kleine  Bronze,  welche  mich  in  der  Auffassung  an  diese  Statue  erinnerte,  findet 
sich  im  Museo  zu  Parma.     Ebendort  nqch  ein  guter  ganz  Jtleiner  Apoll.  * 


Ml  '»*«  "e<  Hl  I»,  A  • 


-  ,  %  t»  tiri*t'*tf  -«*- «»»  i*-«V»4" 


••*k.'  »•^*ii»»»..»*j,al-«*.< 


.  a^hJtM^i»  -^^i^-i^-^i.  a 


446 


Antike  Scnlptur.    Artemis. 


untern  Ende  des  Gewandes  der  Schwan.  (Ich  kenne  davon  fünf  Exem- 
plare: Museum  von  Neapel,  zweiter  Gang;  —  Museo  capitolino,  grosser 
Saal;  —  Uffizien  in  Florenz,  erster  —  und  zweiter  Gang,  das  letztere 
vielleicht  am  besten  gearbeitet;  —  grosser  Saal  des  Palazzo  vecchio 
in  Florenz.)  Ob  das  Gewand  irgend  eine  Stütze  verhüllend  gedacht 
ist,  von  der  doch  wenigstens  in  den  vorhandenen  Wiederholungen  gar 
keine  Andeutung  erscheint?  Ob  ein  ehernes  Original  vorlag,  dessen 
Stütze  dem  Copisten  in  Marmor  nicht  genügen  konnte?  Jedenfalls  muss 
das  Urbild  von  hohem  VVerthe  gewesen  sein,  wie  schon  die  öftere 
Wiederholung  und  die  höchst  anmuthige  Stellung  zeigt.  Das  zweite 
florentinische  Exemplar  hat  einen  fast  weiblichen  und  doch  echten 
Kopf. 


Die  Schwester  Apolls  hat  wie  in  den  Grundbedeutungen  (als 
Kämpferin  gegen  Thiere  und  Frevler  und  als  Lichtspenderin)  so  auch 
in  der  Gestalt  Ähnlichkeit  mit  ihm.  Die  Kunst  der  Blüthezeit  bildete 
sie  indess  nicht  zu  einem  so  allseitigen  Ideal  aus  wie  den  Bruder;  der 
Aphrodite  blieb  es  vorbehalten,  die  ,, Wonne  der  Götter  und  der  Men- 
schen" zu  werden,  während  in  Artemis  Bewegung  und  Thätigkeit 
zu  sehr  vorherrschten.  Ihre  sehr  zahlreichen,  aber  fast  durchgängig 
stark  restaurirten  Statuen  lassen  sich  auf  zwei  merkbar  verschiedene 
Typen  zurückführen. 

Der  eine  ist  der  einer  reifen  Jungfrau  von  reicher,  voller  Bildung, 
welche  sich  bisweilen  in  der  Rundung  und  den  Zügen  des  Hauptes 
der  siegreichen  Aphrodite  nähert.  Die  Gestalt  ist  wohl  die  der  Jägerin, 
allein  ohne  alles  Amazonenhafte,  von  milden  Formen.     So  sehen  wir 

b  sie,  ganz  bekleidet,  in  der  liebenswürdigen  Statue  des  Braccio  nuovo 
(Vatican) ;  es  ist  Diana,  die  den  schlafenden  E  n  d  y  m  i  o  n  be- 
schleicht, ängstlich  und  behutsam,  in  denkbar  schönster  Bewegung. 
—  Die  meisten  Statuen  stellen  sie  jedoch  bloss  in  dem  bis  über  die 
Kniee  aufgeschürzten  Untergewand,  hurtig  schreitend,  begleitet  von 
einer  Hirschkuh,  auch  wohl  von  einem  Hunde,  dar.     So  das  mittel- 

c  massige,  aber  des  Kopfes  wegen  charakteristische  Werk  im  Museum 
von  Neapel  (zweiter  Gang),  Bisweilen  sind  ihre  Locken  über  der 
Stirn  zu  einem  Bunde  (Krobylos)  geknüpft,  wie  es  der  Jägerin  und 
auch  dem  streitbaren  Apoll  zukömmt,  (der  schönen  Wirkung  halber 


Artemis. 


447 


indess  auch  bei  den  Aphroditenbildern  von  der  knidischen  abwärts 
zur  Regel  wurde). 

Der  andere  Typus,  der  sich  viel  enger  an  den  des  Apoll  anschliesst, 
musste  da  entstehen,  wo  die  Geschwister  als  zusammengehörig 
dargestellt  oder  gedacht  wurden,  also  bei  ihrem  gemeinsamen  Kampf, 
z.  B.  gegen  die  Niobiden.  So  ist  das  getreue  Gegenstück  zum  Apoll 
von  Belvedere,  die  Diana  von  Versailles  (im  Louvre),  dem  Bruder 
dermassen  entsprechend  gebildet,  dass  man  an  einer  Zusammen- 
gehörigkeit beider  kaum  zweifeln  mag.  Ausser  den  sehr  schlanken 
Verhältnissen  hat  die  Göttin  mit  ihm  hier  auch  den  Ausdruck  des 
Unwillens  gemein,  der  in  dem  schmalen  weiblichen  Kopfe  sich  fast 
zu  scharf  und  höhnisch  ausspricht;  ihre  nicht  menschlich  ungestüme, 
sondern  übermenschlich  unaufhaltsame  Bewegung  zeigt,  dass  sie  erst 
zum  Kampf  oder  zur  Jagd  eilt,  während  Apoll  seinen  siegreichen  Pfeil 
schon  entsandt  hat.  Von  den  italienischen  Sammlungen  enthält  das 
Museum  von  Neapel  (grosse  Bronzen)  den  Oberleib  einer  Diana,  welche  a 
zu  dem  ebendort  aufgestellten  laufenden  Apoll  (S.  443,  a)  gehörte  und 
zugleich  stark  an  die  Statue  des  Louvre  erinnert. 

Als  Lichtbringende  (lucifera),  als  Luna  (Selene)  erscheint  Diana 
in  der  Regel  ganz  bekleidet  i)  mit  (meist  restaurirten)  Fackeln  in  den 
Händen.     (In  der  körperlichen  Bildung  bald  mehr  dem  erstgenannten, 
bald  mehr  dem  letzgenannten  Typus  entsprechend.)  Die  Kunst  bemühte 
sich  hier,  das  Eilige  und  Leichte  des  Schrittes  in  einem  reichen,  rau- 
schend bewegten  Gewände  auszudrücken.     Wir  besitzen  von  zwei  ge- 
wiss sehr  vorzüglichen  Originalen,  einem  stark  ausschreitenden  und 
einem  in  kleinen  Schritten  gleichsam  schwebenden,  nur  Nachbildungen 
von  bedingtem  Werthe.     Statuen  im  Museo  Chiaramonti  und  im  Ga-  b 
binetto  delle  Maschere  des  Vaticans;  die  letztere  mit  einem  ähnlichen  c 
fast  bittern   Ausdruck,   wie   die   Tödterin   der   Niobiden;    die   reichen 
Haare  nicht  aufwärts  gebunden,  sondern  offen  zurückwallend.  —  Eine 
wirklich  schwebende  (auf  einem  zurücktretenden  Tronco  ruhend)  im  d 
Kaffeehaus  der  Villa   Albani;   ihr   Kopf  vom  ernst-lieblichen  Typus. 
Eine  schlecht  restaurirte  Schreitende  im  Pal.  Riccardi  zu  Florenz  (Vor-  e 
zimmer  der  Acad.  della  Crusca). 

1)  So  schon  in  der  ihres  Wertes  halber  zuerst  genannten  Diana  des  Braccio  nuovo,  welche  ja  ah 
Selene  gedacht  ist. 


-a*  'i■■A^^■»^.lm.,v~^^^^i^,■M^>■^>*^^*'■^m■H^'^yH>N^■■^^^^^^  »».1^1»-,».+  ^. ,_ 


BEL 


448 


Antike  Sculptnr.    Aphrodite.    Die  Siegreiche. 


Bei  einem  Vergleich  mit  den  flatternden  Gewändern  der  Bernini- 
schen  Schule  wird  man  selbst  den  manierirtesten  Dianenbildern  dieser 
Art  im  Verhältniss  das  schöne  und  edle  Masshalten  zugestehen,  das 
die  antike  Kunst  nie  ganz  verlässt. 

Schliesslich  ist  eine  schöne  kleine  Bronze  der  Uffizien  (II.  Zimmer 
d.  Br.,  4.  Schrank)  nicht  zu  übersehen. 


So  wie  Apoll  unter  den  Göttern,  so  bezeichnet  Aphrodite 
unter  den  Göttinnen  die  Sonnenhöhe  griechischer  Idealbildung,  nicht 
in  ihrem  altern,  königlich  matronenhaften  Typus,  sondern  in  der- 
jenigen Gestalt,  die  sie  erst  in  der  Zeit  nach  Phidias  empfing.  Und 
zwar  scheint  sich  zunächst  diejenige  Darstellung  ausgebildet  zu  haben, 
welche  wir  aus  der  Venus  von  Melos  (im  Louvre)  kennen  lernen; 
vielleicht  aus  Scheu,  zu  frühe  in  den  gewöhnlichen  Liebreiz  zu  ver- 
fallen, gestaltete  die  Kunst  sie  als  Herrin  selbst  über  göttliches  Ge- 
schick, als  Venus  victrix,  wahrscheinlich  mit  den  Waffen  des 
Ares  in  den  Händen,  vielleicht  auch  eine  Palme  umfassend  i),  und  von 
den  Hüften  an  bekleidet.  Ihr  Bau  ist  nicht  bloss  schön,  sondern  ge- 
waltig, mit  einem  Anklang  an  das  Amazonenhafte;  ihr  Haupt  trägt 
göttlich  freie  und  stolze  Züge,  die  wir  im  Leben  nicht  wohl  ertragen 
würden.  —  Eine  nur  sehr  bedingte  Reproduction  hievon  ist  die  V  e  - 

bnus  von  Capua  im  Museum  von  Neapel  (zweiter  Gang) ,  aus  spä- 
terer, versüssender  Kunstepoche.  Die  widerliche  Restauration  der 
Arme  und  den  ganz  willkürlich  neben  sie  gestellten  Amor  denke  man 
sich  hinweg,  —  denn  von  letzterm  sind  auch  die  Füsse  nicht  alt, 
wie  man  behaupten  will,  sondern  nur  die  untere  Platte  der  Basis, 
welche  indess  ganz  etwas  anderes,  etwa  eine  Trophäe  getragen  haben 
wird,  oder  irgend  einen  Gegenstand,  den  die  Göttin  mit  der  Hand  be- 
rührte. In  der  Behandlung  der  Formen  steht  diese  Aphrodite  mehrern 
der  unten  zu  nennenden  lange  nicht  gleich.    (In  spielender  Umdeutung 

c  braucht  die  spätere  Kunst  den  Gedanken  in  der  guten  römischen  Statue 
einer  nackten  sehr  jugendlichen  Venus,  welche  sich  das  Schwert  des 
Mars  umhängt;   Uffizien    Verbindunpspane^.^ 


1)  Bekanntlich    fehlen   der  Venus   von    Melos    die    Arme,    und   auch    die   Fortsetzung   der    Basis 
bleibt  zweifelhaft. 


fm-m^ 


Aphrodite.    Die  Enidische. 


449 


Es  kann  nicht  befremden,  dass  die  römische  Kunst  sich  dieses 
Motives  geradezu  bediente,  um  die  Victoria,  den  weiblichen  Genius 
des  Sieges  darzustellen.  Dieser  Art  ist  die  herrliche  eherne  Victoriaa 
im  Museo  patrio  zu  B  r  e  s  c  i  a  ;  schon  im  Typus  des  Kopfes  der  Göttin 
genähert,  vergegenwärtigt  sie  uns  vielleicht  ziemlich  genau  die  Haltung 
und  Bewegung  der  siegreichen  Aphroditen,  nur  dass  sie  auf  den 
Schild  schreibt  und  auch  am  Oberleibe  mit  einem  (vorzüglich  schön 
behandelten)  leichten  Gewände  bekleidet  ist.  Sie  steht  mit  dem 
linken  Fuss  auf  -einem  (restaurirten)  Helm  und  stützt  den  (restau- 
rirten)  Schild  auf  die  vom  Überschlag  des  Mantels  bedeckte  linke 
Hüfte.  Auf  Münzen  des  I.  Jahrh.  n.  Chr.  sind  Victorien  dieses  Typus 
nicht  selten. 


Einen  andern  Sinn  zeigt  der  von  Praxiteles  und  seiner  ,,k  n  i  d  i  - 
sehen  Aphrodite"  abgeleitete  Typus.  Das  Göttliche  geht  hier 
rein  in  den  wunderbarsten  weiblichen  Liebreiz  auf,  der  sich  in  gross- 
artigen Formen  unverhüllt,  aber  ohne  alle  Lüsternheit  offenbart.  Die 
Herrin  ist  hier  zuerst  mit  einem  bloss  menschlichen  Motiv,  nämlich 
als  baden  V/ollende  oder  Gebadete  dargestellt;  darauf  deutet  das 
Salbengefäss,  auf  welches  sie  bisweilen  mit  der  einen  Hand  das  Ge- 
wand legt;  mit  der  andern,  auch  wohl  mit  einem  Theile  des  Gewandes 
deckt  sie  den  Schoosr,  nicht  ängstlich,  auch  nicht  buhlerisch,  sondern 
wie  es  der  Göttin  geziemt.  Oft  hat  sie  beide  Hände  frei,  die  eine 
vor  der  Brust,  die  andere  vor  dem  Schooss.  Die  Leichtigkeit  und 
zugleich  die  Ruhe  ihrer  Stellung  ist  nicht  mit  Worten  auszudrücken; 
sie  scheint  herbeigeschwebt  zu  sein.  Das  Schmachtende  ist  in  den 
noch  immer  grandiosen  Zügen  des  hier  schon  etwas  schmälern  Hauptes 
nur  eben  angedeutet. 

Die  verschiedenen  Einzelmotive,  welche  wir  so  eben  bezeichneten, 
sind  meist  in  mehrern  Beispielen  nachweisbar,  von  welchen  sich  manche 
bis  in  die  späteste  Römerzeit  hinein  verlieren.  Wir  nennen  nur  die 
wichtigern  Exemplare: 

Die   vaticanische    (Sala    a    croce    greca)    mit    modernem  b 
blechernem  Gewände;   der  herrliche  Kopf  noch  sehr  an  die  Venus 
victrix  erinnernd. 


t-'^'^lfa 


1  -  i»'v.,*.Ka  ^-w.w.-iij?*xs#,^ >os"«','«w:.»;:*:ai,j:^l;,.i,i^ .^v .*,;». . 


BT 


450 


Antike  Sculptnr.    Aphrodite. 


a  Diejenige  im  Palast  Chigi  zu  Rom,  Copie  von  Menophantos  nach 
einer  berühmten  Statue  in  Troas;  mit  der  Linken  das  Gewand  vor  den 
Schooss  ziehend,  die  Rechte  vor  der  Brust. 

b        Diejenige  im  Herakleszimmer  der  Villa  Borghese. 

c  Die  capitolinische  (in  einem  verschlossenen  Zimmer  des 
Museo  capitolino);  beide  Hände  frei;  ziemHch  stark  vorwärts  gebeugt, 
sodass  die  obern  Theile  des  Hauptes  dem  Licht  zu  Gefallen  etwas 
flach  zurückliegend  gebildet  werden  mussten;  die  Rückseite  von  un- 
vergleichlicher naturalistisch-schöner  Bildung.  Fast  unverletzt  er- 
halten. 

d  Diejenige  im  Kauptsaal  der  Villa  Ludovisi,.  sehr  durch  Politur 
verdorben  und  wohl  nie  von  besonders  guter,  eher  von  schwülstiger 
Arbeit,  verräth  in  der  grossartigen  Auffassung  des  Kopfes  ein  treff- 
liches Urbild.     Die  Haltung  kommt  der  Venus  Chigi  am  nächsten. 

e  Diejenige  im  Palast  Pitti  zu  Florenz  (inneres  Vestibül  oberhalb 
der  Haupttreppe);  der  linke  (richtig  restaurirte)  Arm  nach  dem  Salb- 
gefäss  gewandt,  der  rechte  vor  dem  Schooss.    Gute  römische  Arbeit. 

i  Diejenige  im  Dogenpalast  zu  Venedig  (Corridojo),  der  capitoli- 
nischen  nahe  verwandt,  von  mittlerer  römischer  Arbeit;  der  Kopf 
noch  mehr  alterthümlich. 


Von  diesen  Aphroditenbildern  unterscheidet  sich  eine  dritte  Gattung, 
an  deren  Spitze  die  mediceische  Venus  steht.  Hier  erreicht  der  Lieb- 
reiz seine  höchste  Stufe  durch  das  Mädchenhafte,  welches  sich  in 
den  noch  nicht  vollständig  ausgebildeten  Formen  und  in  dem  feinen 
Köpfchen  ausspricht.  Der  kleinere  Massstab  gehört  wesentlich  dazu, 
um  diesen  Charakter  zu  vervollständigen.  Von  der  Göttin  sind  wir 
hier  allerdings  wieder  um  eine  Stufe  weiter  entfernt,  und  ein  ernster 
Blick  mag  sich  wohl  gerne  zurückwenden  von  dem  Mädchen  zu  jenen 
reifen  göttlichen  Weibern,  zur  siegreichen  und  zur  knidischen  Aphro- 
dite. Allein  auch  hier  hat  die  Kunst  ein  Höchstes  gegeben, 
g  Die  mediceische  Venus,  in  der  Tribuna  der  Uffizien  zu 
Florenz,  ist  ein  Werk  des  Atheners  Kleomenes,  Sohnes  des  ApoUodorus 
(die  jetzige  Inschrift  neu,  aber  Copie  einer  gleichlautenden  echten), 
vielleicht  aus  dem  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr.  —  Hier  ist  kein  Gewand 


Aphrodite.    Die  Mediceische.    Spätere  Motive, 


451 


und  kein  Salbgefäss  mehr  beigegeben;  die  Kunst  wagt  es,  die  Göttin 
nackt  zu  bilden  um  ihrer  blossen  Schönheit  willen,  ohne  Bezug  auf 
das  Bad.  Der  unumgängliche  Tronco  ist  hier  als  Delphin  gebildet, 
weniger  um  auf  die  Geburt  der  Venus  aus  dem  Meere  anzuspielen, 
als  um  den  weichen  Linien  dieses  Körpers  etwas  Analoges  zur  Be- 
gleitung anzufügen.  Ob  nun  die  Statue  selbst  das  höchste  denkbare 
Ideal  weiblicher  Schönheit  darstelle  —  diess  v/ird  je  nach  dem  Ge- 
schmack bejaht  oder  bestritten  werden.  Sehr  verglättet  und  mit 
affektirt  hergestellten  Armen  und  Händen,  gestattet  sie  überhaupt  kein 
unbedingtes  Urtheil  mehr;  selbst  am  Kopf  möchte  das  Kinngrübchen 
von  moderner  Hand  verstärkt  sein;  zudem  fehlt  die  ehemalige  Ver- 
goldung der  Haare  und  das  Ohrgehänge,  nebst  der  farbigen  Füllung 
der  Augen.  Für  all  Das,  was  übrig  bleibt,  wollen  wir  den  Beschauer 
nicht  weiter  in  einem  der  grössten  Genüsse  stören,  die  Italien  bieten 
kann. 

(Die  Attitüde,  bald  in  mehr  mädchenhaften,  bald  in  frauenhaften 
Formen  ausgedrückt,  wurde  eine  der  beliebtesten.  Eine  grosse  Menge 
von  Wiederholungen,  in  der  Regel  nicht  mehr  als  Decorationsfiguren, 
finden  sich  überall.  Zwei  überlebensgrosse  z.  B.,  die  eine  mit  dem  a 
zur  Stütze  dienenden  Gewand  hinten  herum,  stehen  im  ersten  Gang 
der  Uffizien  und  gewähren  mit  ihren  leeren  Formen  einen  interessanten 
Vergleich,  wenn  man  sich  von  der  Vortrefflichkeit  der  mediceischen 
überzeugen  will.) 

Dieser  Typus  erst  eignete  sich  zur  Verarbeitung  in  eine  Anzahl 
herrlicher  Stellungen;  die  Göttin  musste  sich  von  dem  Cultusbild 
möglichst  weit  entfernen  und  ganz  zum  schönen  Mädchen  werden,  da- 
mit die  Kunst  völlig  frei  damit  walten  konnte.  In  den  bessern  Fällen 
aber  bleibt  sie  Aphrodite  und  über  alles  Genrehafte  weit  erhaben. 

Wir  nennen  hier  zuerst  die  kauernde  Venus  (Venus  accrou-  b 
pie),  deren  schönstes  Exemplar  (Vatican,  gabinetto  delle  maschere) 
den  Namen  Bupalos  trägt.  (Nicht  derjenige  des  VI.  Jahrhunderts  v. 
Chr.,  sondern  jedenfalls  ein  weit  späterer  dieses  Namens.)  Es  ist  nicht 
eine  aus  dem  Meer  aufsteigende,  sondern  eine  im  Bad  sich  waschende; 
die  Basis  trägt  noch  in  ihren  alten  Theilen  die  Andeutung  der  Wellen, 
auf  welchen  die  Göttin  ruht  —  denn  nie  hätte  die  griechische  Kunst 
einer  gemein-wirklichen  Illusion  zu  Liebe  irgend  einen  Theil  der  Körper 


■^'•\   ^»y^ 


,^^.,.,  -^  ,..  -in-*w<*t%«>''jv'a?«»'.  (liilt*  jV*kx^  «•■.»ti 


,*'-<li>;^  t»- V,  ,1.-^ 


452 


Antike  Scnlptur.    Aphrodite. 


unter  dem  (marmornen)  Wasser  versteckt.  Bei  sehr  bedeutenden 
Restaurationen  bleibt  doch  die  Art,  wie  die  Glieder  sich  decken  und 
ihre  Linien  sich  schneiden,  unerreichbar  schön.  Der  Körper  ist,  bei 
einer  scheinbar  leichten  Behandlung,  voll  des  edelsten  Lebens.     (Die 

a  Epidermis  leider  stark  verletzt,  der  Kopf  überarbeitet?)  —  Ein  viel 
geringeres,  stark  restaurirtes  Exemplar  in  den  Uffizien  zu  Florenz. 
(Verbindungsgang.) 

b  Es  folgt  Aphrodite  Kallipygos,  im  Museum  von  Neapel  i).  Der 
Kopf  und  mehrere  andere  Theile  sind  modern  und  schlecht,  das  Übrige 
aber  von  merkwürdiger  Vollendung  und  raffinirtem  Reize.  Die  Ab- 
sichtlichkeit der  ganzen  Darstellung  rückt  dieses  Bild  in  das  Gebiet 
des  Buhlerischen,  wenn  man  es  auch  nicht  obscön  nennen  kann. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  zwei  charmanten  ehernen  Figürchen 

c  derselben  Sammlung  (kleine  Bronzen,  drittes  Zimmer,  auch  in  Florenz, 

d  Uffizien,  zweites  Zimmer  der  Bronzen,  zweiter  Schrank) :  einer  die 
Sandalen  ausziehenden  und  einer  im  Abtrocknen  begriffenen  Venus. 
Das  Stehen  auf  einem  Beine,  hier  mit  der  anmuthigsten  Wendung  des 
Körpers  verbunden,  hat  mehr  genrehaft  Wahres  als  Ideales  und  ver- 
mag uns  die  Göttin  nicht  als  solche  näher  zu  bringen. 

e  Reiner  empfunden  ist  eine  andere  Statuette  (bei  den  grossen 
Bronzen),  welche  Aphrodite,  von  den  Hüften  an  bekleidet,  mit  ihrem 
Haarputz,  etwa  mit  dem  Trocknen  der  Haare  nach  dem  Bade  be- 
schäftigt darstellt.    Ein  höchst  zierliches  Figürchen,  von  bester  Arbeit. 

{  Ähnlich  eine  Marmorfigur  (freilich  mit  restaurirten  Armen  und  Locken) 
im  Braccio  nuovo  des  Vaticans;  aus  guter  römischer  Zeit.  Bei  andern 
sehr  zierlichen  kleinen  Bronzen,  welche  die  Göttin  in  ähnlicher  Hand- 
lung,  aber  ganz  nackt  darstellen,   bleibt  es  zweifelhaft,   ob  sie  nicht 

g  erst  die  Haare  auflöst.  (Uffizien,  zweites  Zimmer  der  Bronzen,  zweiter 
Schrank.)  —  Eine  zum  Bade  sich  vorbereitende  Aphrodite  des  jugend- 

h  liehen  Typus  ist  wohl  auch  dargestellt  in  der  florentinischen  sog.  Venus 
Urania  (Uffizien,  Halle  der  Inschriften).  Abgesehen  von  den  Restau- 
rationen möchte  ihre  Geberde  am  ehesten  darin  bestanden  haben,  dass 
sie  das  um  die  Hüften  leicht  geschürzte  Gewand  mit  der  Linken  und 


1)  Gegenwärtig  eingeschlossen  und,  wie  man  hört,  selbst  den  Begünstigten  unsichtbar.     Abgüsse 
Überall,  u.  a.  im  Palazzo  Camuccini  zu  Rom,  auf  der  Treppe. 


Aphrodite.    Venus  genitrix. 


453 


die  Haare  mit  der  Rechten  aufzulösen  im  Begriffe  war.  Die  Aus- 
führung ist  vorzüglich  schön,  doch  schwerlich  mehr  griechisch,  die 
erhaltenen  Theile  des  Köpfchens  von  einem  Reiz,  der  an  die  Psyche 
von  Capua  erinnert.  (Nach  neuerer  Annahme  ein  praxitelisches  Motiv, 
die  sog,  coische  Venus.) 

Die  spätere  Zeit  hat  noch  einige  Motive  mehr  hinzugefügt,   die 
weder  im  Gedanken  noch  in  der  Ausführung  zu  den  glücklichen  ge- 
hören.    Vielleicht  strebte  z.  B.  derjenige  Bildhauer  originell  zu  sein, 
welcher   die  Venus  der  Villa   Borghese   (Zimmer  der   Juno)   bildete,  a 
die  sich  mit  dem  Schwämme  wäscht,  während  ein  Amorin  zusieht; 
oder  der  Erfinder  derjenigen  kauernden  Venus,  welche  den  Delphin  b 
am  Schweif  hält,  im  Vorsaal  der  Villa  Ludovisi.   —  Häufig  ist  das 
Gewand   über  dem  Schoos  zusammengeknüpft,   lässt  vorn  die  Beine 
frei  und  dient  hinten  als  Stütze  (S.  451,  a);  —  oder  die  Göttin  ist  im 
Begriff,  es  mit  beiden  Händen  um  sich  zu  nehmen.    (Beispiele  von  die-  c 
sen  beiden  Motiven  im  Museo  Chiaramonti  des  Vaticans.) 


Das  Mütterliche  tritt  in  den  bisher  genannten  Bildungen  der  Aphro- 
dite nirgends  hervor.  Mit  ihrem  Sohne  Eros  wurde  die  Göttin  kaum 
je  zu  einer  Gruppe  verbunden  (wenigstens  haben  wir  keine  solche). 
Die  geflügelten  Kinder,  welche  ihr  beigegeben  werden,  sind  Eroten, 
Amorine,    nicht   Darstellungen   des   eigentlichen   Eros. 

Ein  ganz  besonderer  Typus  aber  blieb  der  mütterlichen  Seite  der 
Göttin  vorbehalten,  vielleicht  aus  alter  Zeit  stammend,  jedenfalls  aber 
erst  unter  den  Kaisern  häufig  wiederholt.  In  vielen  Sammlungen 
(z.  B.  ganz  gut  im  Junozimmer  der  Villa  Borghese,  auf  der  Treppe  d 
des  Museums  von  Neapel,  als  Statuette  auch  im  zweiten  Gang  des- 
selben, in  der  Inschriftenhalle  der  Uffizien  zu  Florenz  u.  a.  a.  O.)  e 
findet  man  das  Bild  einer  ganz  bekleideten  Frau  von  reifer  Schönheit, 
deren  Formen  durch  das  dünne,  eng  anliegende  Untergewand  deut- 
lich erscheinen;  das  Obergewand  zieht  sie  eben  mit  dem  einen  Arm 
vom  Rücken  herüber,  als  wolle  sie  sich  verhüllen  i).  Es  ist  V  e  n  u  s 
die  Erzeugerin  (genitrix),  die  Schützerin  des  gesetzlichen  Fort- 
lebens der  Familie,   und  zugleich   durch   Anchises  die  Ahnfrau  des 


')   „Aphrodite  den  Mantel  lüftend."     [Br.l 


,.«.*,*  ^.«>    ■-•'^  *''*>.«►■♦*<■  •*IO.-!K-'»9f.«i.<fit^-i»flil-,^,-«,Wai'*.  «.4.'*'«  -W-,}^.. 


454 


Antike  Sculptnr.    Danaide. 


julischen  Geschlechtes;  ihr  gelobte  Cäsar  bei  Pharsalus  jenen  Tempel, 
von  welchem  noch  inTorre  de'  Conti  unterhalb  desEsquilins  die  kümmer- 
lichen Reste  vorhanden  sind.  —  An  den  Statuen  dieser  Gattung  ist 
der  Kopf  natürlich  meist  das  Porträt  irgend  einer  Kaiserin;  wo  die 
Göttin  selber  gemeint  ist,  trägt  sie  matronale,  aber  noch  jugendlich 
schöne  Züge,  wie  z.  B.  die  wohlerhaltene  und  als  Decorationsfigur 
gut  gearbeitete  florentinische  Statue  beweist. 


An  den  spätem  Typus  der  Aphrodite,  wie  er  sich  in  der  medi- 
ceischen,  in  der  Venus  accrcupie  u.  s.  w.  zeigt;  schliessen  sich  eine 
Anzahl  halbgöttlicher  Wesen  verschiedener  mythologischer  Bedeutung 
an.  Sie  sind  sämmtlich  halb  oder  ganz  bekleidet,  denn  die  Nacktheit 
ist  nur  der  Göttin  und  der  Buhlerin  eigen.  Ihre  Züge  haben  bei 
grossem  Reiz  und  vieler  Ähnlichkeit  doch  nicht  das  Göttliche  der  Aphro- 
dite, lassen  vielmehr  eine  Umbildung  derselben  in  das  Niedliche  und 
Graziöse  erkennen.  (Der  Kopf  schmal  und  länglich,  doch  bisweilen 
auch  jugendlich  rund  mit  kurzem  Naschen;  der  untere  Theil  des 
Gesichtes  ins  Enge  gezogen.)  Das  Wesentliche  aber  ist  das  Motiv 
der  Stellung  und  Bewegung. 

a  So  wird  man  z.  B.  zugestehen,  dass  die  vaticanische  Da- 
na i  d  e  (Galeria  delle  Statue),  welche  das  Schöpf gefäss  vor  sich  hält, 
sich  schöner  neigt,  als  die  Kunst  diess  Motiv  sonst  dargestellt  hat. 
Die  sanfte  Bewegung,  welche  Hals,  Rücken,  Leib  und  Hüften  beseelt 
und  sich  in  der  Gewandung  fortsetzt,  hat  nicht  mehr  ihres  Gleichen; 
die  Anne  sind  restaurirt,  allerdings  trefflich.  In  den  halbgeschlossenen 
Augen  ist  der  Schmerz  über  die  vergebliche  Arbeit  leise  angedeutet. 

b  (Ein  ungleich  geringeres  und  stark  restaurirtes  Exemplar  im  Tyrtäus- 
zimmer  der  Villa  Borghese.) 

Diesen  nämlichen  Typus,  welchen  man  etwa  als  den  der  Nym- 
phen  bezeichnen   könnte,   spricht   eine   niedrig   sitzende   bekleidete 

c  Figur  1)  aus,  welche  den  einen  Arm  aufstützt  und  vor  sich  abwärts 
schaut.  (Vatican,  Galeria  delle  statue;  ein  zweites  Exemplar  im  obern 
Stockwerk  des  Palastes  Barberini  zu  Rom.)  Man  glaubt  in  ihr  die 
trauernde  Dido  zu  erkennen,  allein  es  ist  wohl  eher  eine   liebliche. 


')  Der  Kopf  ist  eine  Restauration,  aber  wahrscheinlich  eine  antike. 


Nymphen.    Brnnnenfigaren. 


455 


träumerisch  auf  das  Wasser  schauende  Nymphe,  vielleicht  ein  weib- 
liches Gegenstück  zu  dem  sich  im  Quell  spiegelnden  Narciss.  Das 
zerstreute  Dämmern  nicht  nur  im  Ausdruck  des  Gesichtes,  sondern 
auch  der  ungesucht  nachlässigen  Stellung  wird  dem  Beschauer  recht 
klar  durch  den  Vergleich  mit  einer  gegenübersitzenden,  alterthümlich  a 
gearbeiteten  Penelope;  dieses  ist  die  Sinnende,  Rechnende  und  War- 
tende; als  Matrone  ist  sie  mit  verschleiertem  Haupt  gebildet. 

Hier  glauben  wir  auch  die  sog.  ,,P  s  y  c  h  e"  aus  dem  Amphi-  b 
theater  von  Capua  (jetzt  im  Museum  von  Neapel,  Halle  des  Jupiter) 
unterbringen  zu  dürfen.  Es  ist  nur  ein  Oberleib  mit  der  einen  Hüfte, 
durch  neuere  Politur  verdorben  und  jetzt  in  einer  unrichtigen  Axe 
aufgestellt,  aber  von  einer  Süssigkeit  der  Bildung,  die  alle  Blicke 
fesseln  muss.  Für  Aphrodite  ist  namentlich  der  untere  Theil  des 
Kopfes  zu  mädchenhaft,  auch  liegen  die  Augen  wohl  zu  tief  im  Schatten. 
Wir  wollen  nicht  die  Handlung  und  Stellung  errathen,  dürfen  aber 
eine  Nymphengestalt  ahnen,  welche  der  Danaide  und  der  Dido  in  der 
Erfindung  ebenbürtig  war. 

Einzelne  Köpfe  sind  oft  sehr  schwer  mit  Bestimmtheit  auf  diesen 
Typus  zurückzuführen.  Ich  glaube  z.  B.  in  einem  Kopf  des  Museums  c 
von  Neapel  (grosse  Bronzen)  eine  Gefährtin  der  Jägerin  Artemis  zu 
erkennen,  ohne  doch  dieser  Benennung  sicher  zu  sein.  Es  ist  der 
schöne  strenge  Mädchenkopf  mit  aufwärts  zu  einem  Kranz  gebundenen 
Haaren,  welcher  jetzt  Berenice  heisst. 

Als  Quellgottheiten  eigneten  sich  die  Nymphen  vorzüglich  zu 
Brunnenfiguren.  In  mehrern  Sammlungen  sieht  man  dergleichen, 
meist  von  kleinerm  Massstab,  Muschelbecken  vor  sich  hinhaltend 
oder  auf  Urnen  gelehnt,  immer  halb  bekleidet;  fast  lauter  Decorations- 
arbeiten, mittelmässig  in  der  Ausführung  und  selbst  oft  im  Gedanken. 
Man  wird  indess  wohl  eine  Nymphe  des  Museums  von  Neapel  (Halle  d 
des  Adonis)  ausnehmen  müssen,  welche  wenigstens  hübsch  gedacht 
ist,  als  eine  zum  Baden  sich  Vorbereitende;  sie  lehnt  mit  dem  linken 
Arm  auf  die  Urne  und  greift  mit  der  Rechten  nach  der  Sandale  des 
linken  Fusses,  den  sie  über  das  rechte  Knie  gelegt  hat.  (Diese  Ex- 
tremitäten sind  nebst  dem  Kopf  neu,  aber  ohne  Zweifel  richtig  re- 
staurirt.  Die  Arbeit  an  sich  gering  römisch.)  Ein  besseres  Exemplar  e 
in  den  Uffizien  (Verbindungsgang).  —  Auch  eine  sehr  schlecht  gear- 


K  -■  *j|. 


.V,   «^  >.i  ^«^  V'«^-v .  *»■«*■«,' •*"'«*.>^v  liii:  ♦  -*.'.^eW  -  j; «it  W-  -^  W  J» 


456 


Antike  Scnlptnr.    Nymphen.    Cleopatra. 


a  beitete  schlummernde  Nymphe  im  Vatican  (Belvedere,  zwischen  dem 
Apoli  und  den  Canova's)  weist  auf  ein  reizendes  Original  hin.  —  Noch 
ein  ganz  einfach  schönes  Motiv  ist  die  halbnackte  stehende  Nymphe, 
welche  mit  der  Linken  auf  die  Urne  lehnt  und  die  Rechte  auf  die 
ausgeladene  Hüfte  stützt.  Ich  weiss  mich  keines  andern  einiger- 
massen  erhaltenen  Exemplares  zu  erinnern,  als  desjenigen  im  Pal. 

b  Pitti  (Nebenhof  links,  beim  Ajax),  welches  freilich  eine  geringe  rö- 
mische Arbeit   ist.     An   der   ähnlichen   ehemals   schönen  Statue  der 

c  Galerie  von  Parma  ist  gar  zu  Vieles  modern. 

Ins  Matronale  geht  der  Nymphentypus  über  in  der  Amme  des 
Dionysos,  Leukothea;sie  wird  völlig  bekleidet  und  mit  Binden  um 
das  Haar  dargestellt.  Ich  kenne  von  vollständigen  Darstellungen  nur  die 

d  schöne,  ungemein  noble  Bronzefigur  in  den  Uffizien  (Bronzen, 
zweites  Zimmer,  Eckschrank  rechts).    Eine  treffliche  Marmorstatue  in 

e  der  untern  Halle  des  Pal.  Ceperello  zu  Florenz  (Corso  N.  814)  möchte  ich 
ebenfalls  für  eine  Götteramme  halten,  schon  der  starken  Brüste  wegen. 
Der  Kopf  neu  aufgesetzt,  aber  dazu  gehörend.  Die  sog.  Sapphoköpfe 
zeigen  dieselbe  Art,  das  Haar  zu  binden. 

Den  bekleideten  Nymphengestalten  des  gewaltigem  Typus  müssen 

f  wir  eine  in  ihrer  Art  einzige  Statue  beigesellen:  die  vaticanische 
Cleopatra,  richtiger  die  schlummernde  Ariadne  (Vatican,  Galeria 
delle  Statue).  Schon  das  Alterthum  hat,  wie  die  nebenan  aufgestellten 
kleinen  Wiederholungen  beweisen,  dieses  Motiv  in  beiderlei  Sinn  ge- 
braucht, doch  ist  Ariadne  das  Ursprüngliche,  und  der  erste  Blick  las  st 
eine  Schlafende,  nicht  eine  Sterbende  erkennen.  (Sie  ist  etwas  zu  sehr 
nach  vorn  gesenkt,  was  namentlich  dem  über  das  Haupt  gelegten 
rechten  Arm  ein  zu  schweres  Ansehen  giebt  und  den  ganzen  Anblick 
etwas  verfälscht.) 

Als  Motiv  der  Ruhe  wird  diess  Werk  auf  ewig  die  Sculptur  be- 
herrschen. Es  ist  nicht  möglich,  ein  lieblich-grandioses  Weib  auf 
majestätischere  Weise  schlummernd  hinzustrecken.  Die  Art,  wie  der 
Kopf  durch  die  Lage  der  Arme  die  höchste  Bedeutung  erhält,  die 
ungemeine  Würde  in  der  Kreuzung  der  Beine,  endlich  die  unerreich- 
bare Pracht  und  die  weise  Aufeinanderfolge  der  Gewandmotive  wer- 
den nie  genug  zu  bewundern  sein.  —  Der  noch  streng-schöne  Ge- 
sichtstypus lässt  uns  eine  Ariadne  erkennen,  die  noch  nicht  in  den 


FarnesisGhe  Flora.    Victorien. 


457 


Kreis  ihres  Retters  Dionysos  aufgenommen  ist;  ihre  spätere,  bacchische 
Gestalt  wird  uns  weiter  beschäftigen. 


Hier  müssen  wir  eines  der  ruhmwürdigsten  Werke  des  Alter- 
thums  einschalten,  die  sog.  farnesische  Flora  (Museum  von  a 
Neapel,  in  der  danach  benannten  Halle).  Man  deutet  sie  gegenwärtig 
als  eine  Höre;  da  Kopf,  Arme,  Attribute  und  Füsse  modern  sind,  so 
bleibt  nur  so  viel  mit  Sicherheit  anzunehmen,  dass  ein  halbgöttliches 
Mittelwesen  gemeint  sei.  Colossal  und  für  einen  decorativen  Zweck 
berechnet,  zeigt  diess  herrliche  Bild  doch  durchaus  lebendige  Arbeit, 
sowohl  in  dem  von  zwei  Schulterspangen  und  einem  Gürtel  gehaltenen 
Unterkleid,  als  in  dem  leicht  herumgelegten  Obergewande  und  in 
den  nackten  Theilen.  Bei  einer  sehr  reichen  Körperbildung  giebt  die 
ganze  Gestalt  im  höchsten  Grade  den  Eindruck  des  leichten  Einher- 
wallens,  eine  wahre  Göttin  des  innigsten  Wohlseins. 

Eine  andere  colossale  Statue  derselben  Sammlung  (untere  Vor-  b 
halle)  ist  wohl  wirklich  eine  Flora,  allein  römisch-decorativ  behandelt, 
als  schwere  Gesimsfigur;  doch  ist  hier  der  grandiose  Kopf  alt.  (Ob 
der  als  Gegenstück  aufgestellte  ,, Genius  des  römischen  Volkes",  eben- 
falls seltsam  schwer  gebildet,  von  Alters  her  zu  einer  Reihe  solcher 
Figuren  gehörte,  ist  mir  nicht  bekannt.    Vgl.  S.  426,  a,  und  Anm.) 

Von  Pomonen  wüsste  ich  kein  irgend  ausgezeichnetes  Exemplar 
anzuführen.     Dasjenige  in  den   Uffizien  (erster  Gang),  auf  welches  c 
beispielshalber  verwiesen  werden  mag,  ist  eine  unbedeutende  römische 
Gartenfigur  mit  modernem  Kopf. 

Leider  ist  auch  keine  recht  gute  Victorienstatue  zu  nennen  i),  ob- 
wohl es  deren  einst  vortreffliche  (freilich  von  Erz  oder  edeln  Metallen) 
gegeben  haben  muss,  und  zwar  sowohl  schwebende  (d.  h.  scheinbar 
auf  den  Zehen  stehende  mit  wehendem  Gewände  in  der  Art  der  Diana 
lucifera),  als  stehende.  Eine  geringe  der  letztern  Art,  welche  doch 
auf  ein  gutes  Urbild  schliessen  lässt,  in  den  Uffizien  (erster  Gang);  d 
eine  der   erstem  Art  im  Pal.  Riccardi   (Vorzimmer   der   Acad.  della 


')  Wie  es  sich  mit  der  Victoria  des  Museo  patrio  zu  Brescia  verhält,  wurde  bei  Anlass  der  siegreichen 
Aphrodite  (S.  449,  a)  erörtert. 

Urcicerone.  30 


V-<  ...  1V/ .bJ  O^'Il»? ), ul  *Ä( Ai,  ij, i*( '.i^r^i^, ij»i,y^ '^»^-JVi^i^ ^..'^ 


458 


Antike  Scülptar.    Leda.    Musen. 


Crusca).   —  Um  so  reichlicher  sind  die  Victorien  im  Relief  und  in 
a  der  Malerei  vertreten;  die  schönsten  am  Titusbogen.  —  Einige  kleine 
Bronzefiguren  geben  wohl  am  ehesten  einen  Begriff  von  den  schwe- 
b  benden  Victorien;    eine  treffliche  im  Museum  von  Neapel   (bei   den 
c  grossen  Bronzen) ;  eine  andere  in  den  Uffizien  (zweites  Zimmer  der 
Bronzen,  vierter  Schrank);  diese  letztere  hat  wie  diejenigen  am  Titus- 
bogen nackte   Schenkel,  zur  Andeutung  ihrer  raschen  Botenschaft. 
Geringere  Exemplare  ziemlich  häufig. 

Bei  diesem  Anlass  mag  noch  eines  mythisch  berühmten  Weibes 
gedacht  werden,  das  nur  zu  oft  plastisch  dargestellt  worden  ist,  näm- 
lich der  Leda  mit  dem  Schwan.  Ich  brauche  die  betreffenden  Sta- 
tuen nicht  näher  zu  bezeichnen;  sie  sind  nicht  einmal  recht  gewaltig 
sinnlich,  sondern  meist  so  flau  und  langv/eilig,  dass  ihre  Aufstellung 
in  den  meisten  Sammlungen  gar  kein  Hinderniss  gefunden  hat,  wess- 
halb  man  ihnen  denn  auch  überall  begegnet.  Der  Schwan  sieht  bis- 
weilen eher  einer  Gans  ähnlich  und  man  hat  desshalb  andere  Deu- 
tungen zu  Hülfe  gezogen;  wer  aber  beachtet,  in  welchen  Fällen  das 
Thier  klein  gebildet  ist,  wird  vielleicht  mit  uns  der  Ansicht  sein,  dass 
diess  aus  demselben  ästhetischen  Grund  geschah,  um  dessentwillen 
die  Panther  des  Bacchus  in  kleinerm  Verhältniss  gebildet  wurden, 
d  (Die  gemeinste  aller  Leden,  im  Dogenpalast  zu  Venedig,  Camera  a 
letto,  ist  ein  Werk  des   XVI.   Jahrhunderts.) 


Wenn  die  eben  aufgezählten  weiblichen  Bildungen  ein  mytholo- 
gisch Gegebenes  verherrlichten,  so  zeigt  uns  eine  andere  Reihe,  die 
der  Musen,  wie  die  Griechen  das  Symbolische  lebendig  zu  machen 
wussten,  wie  frei  sie  sich  dabei  bewegten  und  welche  Grenzen  sie  inne- 
hielten. Statt  sich  ängstlich  zu  bemühen,  jede  Muse  einzeln  von  Kopf 
bis  zu  Fusse  ihrem  Fache  gemäss  zu  charakterisiren,  begnügten 
sie  sich  mit  Attributen  und  drückten  in  den  Gestalten  selbst  fast  nur 
das  Allgemeine  einer  schön  vergeistigten  Weiblichkeit  aus.  (Ver- 
stümmelte Musenstatuen  sind  desshalb  kaum  mit  völliger  Sicherheit 
zu  restauriren,  wenn  man  nicht  ein  Vorbild  mit  erhaltenen  antiken 
Attributen  vor  sich  hat.)  Es  ist  das  persönlich  gewordene  Sinnen,  nicht 
das  Phantasiren  oder  das  Grübeln  (wie  in  Albrecht  Dürers  Melan- 


Musen.    Apollo  Masagetes. 


459 


cholia),  sondern  ein  ruhiges  Schweben  in  geistigem  Glück.  Diese  meist 
feierlich  bekleideten  Gestalten  sind  theils  beschäftigt,  theils  ruhend 
und  hinausbUckend  (doch  nicht  in  die  Höhe!)  gebildet;  wir  finden  sie 
sitzend,  aufgelehnt,  frei  stehend,  auch  feierlich  vortretend,  meist  aber 
wird  Stellung  und  Draperie  so  sehr  den  Ausdruck  erhöhen  helfen, 
dass  man  auch  ohne  den  Kopf  die  Statue  für  nichts  anderes  als  für 
eine  Muse  oder  doch  für  ein  ursprüngliches  Musenmotiv  erkennen  würde. 

Einzelne  Sarcophage,  welche  die  Musen  sämmtlich  darstellen  (einer  a 
im  Museo  capitolino,  Zimmer  der  Kaiser),  geben  uns  eine  Idee  von 
den  (unter  sich  verschiedenen)  Statuengruppen,  welche  das  Alterthum 
hervorbrachte  und  dann  wiederholte.  —  Unter  den  erhaltenen  Statuen 
finden  wir  zwar  vielleicht  in  Italien  keine,  welche  der  Polymnia  des 
Berliner  Museums  oder  der  Melpomene  des  Louvre  vöUig  gleichkäme, 
allein  doch  manche  achtungswerthe  Exemplare.  In  der  vollständigsten 
Gruppe,  aus  derVilla  desCassius  (Vatican,  S  a  1  a  d  e  1 1  e  b 
Muse)  wird  man,  was  die  Arbeit  betrifft.  Vieles  vermissen,  allein  die 
schöne  Abstufung  des  Sinnens,  ohne  alle  gewaltsam  auffahrende  Inspi- 
ration, mit  Genuss  verfolgen  können.  Die  in  der  Erfindung  lieblichste 
dieser  Figuren,  die  sitzend  sich  aufstützende  Euterpe,  ist  allerdings 
nebst  der  Urania  erst  später  anderswoher  hinzugekommen.  (Euterpe 
wird  sonst,  z.  B.  in  den  beiden  Exemplaren  zu  Neapel,  stehend  mit 
über  einander  geschlagenen  Füssen  gebildet.) 

Dagegen  gehört  ursprünglich  zu  dieser  Gruppe,  und  zwar  als 
deren  bestgearbeitete  Figur,  der  im  langen  Gewand  und  wehenden 
Mantel  mit  der  Lyra  einherschreitende,  lorbeerbekrönte  Apollo  Mu-c 
s  a  g  e  t  e  s.  (Copie  nach  Skopas.)  Nirgends  tritt  Apoll  so  als  Schützer 
und  Anführer  aller  hohen  Begeisterung  auf  wie  hier;  der  allgemeine 
inusische  Ausdruck  concentrirt  sich  in  dieser  höchst  jugendlichen,  fast 
weiblichen  Gestalt  ganz  wunderbar.  Er  allein  ist  innerlich  und  äusser- 
lich  bewegt;  bald  werden  die  Musen  dem  Festreigen  folgen  müssen,  den 
er  eben  antritt.  —  Ganz  in  der  Nähe  steht  wie  zur  Vergleichung  ein 
anderer  Musagetes,  in  welchem  Schritt  und  Gewandung  affectirt  er- 
scheinen und  der  einen  ihm  nicht  gehörenden  weiblich  bacchischen 
Kopf  trägt. 

In  demselben  Saal  findet  man  noch  eine  Muse  in  kleinerm  Mass-  d 
Stab,  mit  der  Bezeichnung  als  Mnemosyne.     Leider  hat  diese  reizend 

30* 


-'-*^-*  *»--  ci4_«»'  ^^  «ul^  lii»^iJt>— •htf'rt.W^  «r  ^.*-,  ^  ^v 


460 


Antike  Scalptnr.    Müsen. 


gedachte  verhüllte  Figur  einen  restaurirten  Kopf.  —  Von  den  vier  be- 

a  treffenden  Statuen  des  Musenzimmers  in  der  Villa  Borghese  ist  nur 
etwa  die  Melpomene  besser  gearbeitet  als  das  entsprechende  vaticani- 
sche  Exemplar;  gerade  so  viel,  um  das  Verlangen  zu  steigern  nach 
dem  gewiss  wunderbaren  Original  dieser  Jungfrau  mit  dem  Weinlaub 
im    Haar    und    mit   den    auf   dem   Fels   gestützten   linken   Fuss.    — 

b  In    der    Villa    Ludovisi    mehrere    gering    ausgeführte    Musenstatuen 

c  von  gutem  Motiv.  —  An  der  Treppe  des  Conservatorenpalastes  auf 
dem  Capitol  eine  vorgebliche  Urania,  jedenfalls  sehr  schön  als 
Gewandstatue. 

Eine  anregende  Vergleichung  mit  den  Musen  gewähren,  am  Ein- 

d  gang  der  Sala  rotonda  des  Vaticans,  die  zwei  grossen  Büsten,  in  wel- 
chen die  (sonst  als  Musen  personificirten)  Comödie  und  Tragödie  be- 
sonders dargestellt  sind;  Köpfe  von  reifer  Anmuth  und  mildem  Ernst, 
aber  ohne  Liebreiz. 

e  Im  Museum  von  Neapel  empfängt  uns,  und  zwar  gleich  in  der 
untern  Vorhalle,  eine  jener  colossalen  Musen,  wie  sie  wohl 
öfter  zum  Schmuck  von  grossen  Theatern  gearbeitet  worden  sind.  Die 
flüchtige  Arbeit  und  die  Berechnung  au.f  eine  Nische  deuten  klar  auf 
eine  derartige  decorative  Bestimmung  hin.  (Sie  ist  nur  für  die  Vorder- 
ansicht gedacht,  wie  das  Zurücktreten  des  Oberleibes  gegen  Hüften 
und  Schenkel  und  selbst  die  Profilansicht  des  Kopfes  beweist.)  Man 
nennt  sie  Urania,  und  die  linke  Hand  mit  dem  Globus,  welche  diesen 
Namen  veranlasst,  ist  wohl  wirklich  alt;  dem  Typus  nach  ist  sie  eine, 
zwar  nicht  ganz  ebenbürtige,  Schwester  der  Pariser  Melpomene.  Alles 
ist  gross  und  einfach  gegeben,  das  lange  Kleid  mit  der  geraden  vor- 
dem Falte,  der  auf  den  Schultern  mit  Spangen  befestigte  Mantel,  das 
Vortreten  des  linken,  die  Beugung  des  rechten  Fusses.  Der  Kopf  ist 
mehr  den  göttlichen  Bildungen  genähert  und  scheint  zwischen  Hera 
und  Aphrodite  in  der  Mitte  zu  stehen.  —  Diess  war  an  sich  nicht  noth- 
wendig,  denn  dass  auch  das  Mädchenhaft-Liebliche  des  eigentlichen 
Musentypus  sich  in  höchst  colossalem  Massstab  darstellen  lässt,  zeigt 

f  der  schöne  Kopf  der  Villa  Borghese  (Hauptsaal),  welcher  wohl  mit 
Unrecht  als  Juno  gegolten  hat.  —  (Von  ähnlicher  Art,  aber  geringer, 

g  die  colossale  Muse  im  Hof  des  Pal.  Borghese  zu  Rom,  die  auch  wohl 
als  Apollo  Musagetes  bezeichnet  wird.) 


Musen. 


461 


Weiter  enthält  im  Museum  von  Neapel  die  Halle  der  farbigen  a 
Marmore  einen  sitzenden  Apollo  Musagetes  mit  porphyrnem  Gewand 
und  weissmarmornen  Extremitäten,  Die  spätere  römische  Kunst  liebte 
solche  Zusammensetzungen,  schon  weil  die  harten  Stoffe  und  ihre 
Bearbeitung  viel  Geld  kosteten.  Wenn  das  Auge  die  aus  dem  Far- 
bencontrast  und  der  Politur  entstehende  Blendung  überwunden  hat, 
so  entdeckt  es  in  den  meisten  derartigen  Bildwerken,  und  so  auch  in 
diesem,  eine  geistige  Leerheit,  welche  da  ganz  am  Platze  ist,  wo  der 
Stoff  mehr  anerkannt  wird  als  die  Form,  Diese  Buntheit  ist  eine  der 
begleitenden  Ursachen  des  Unterganges  der  antiken  Sculptur  gewesen. 

In  der  darauf  folgenden  ,, Halle  der  Musen"  steht  Mehreres  b 
unter  dieser  Kategorie  beisammen,  was  erst  durch  Restauration  und 
willkürliche  Deutung  den  betreffenden  Sinn  erhalten  hat.  So  vielleicht 
selbst  die  treffliche  Gewandstatue,  welche  hier  und  anderwärts  Poly- 
hymnia  heisst  u.  s.  w.  Die  unzweifelhaften  Musen,  z.  B.  Melpomene 
und  die  eine  Euterpe,  sind  von  ganz  geringer  Arbeit,  mit  Ausnahme 
der  sog.  Terpsichore,  in  welcher  man  mit  leichter  Mühe  eine  verklei- 
nerte Reduction  nach  einer  jener  grandiosen  Colossalstatuen  erkennt, 
dergleichen  die  Urania  in  der  Vorhalle  eine  ist.  Das  hochgegürtete 
Untergewand  und  der  langwallende  Mantel  sind  von  ganz  ähnlicher 
Anordnung  wie  bei  dieser. 

In  den  Uffizien  zu  Florenz:  erster  Gang:  eine  mit  Recht  oder  c 
Unrecht  als  U  r  a  n  i  a  restaurirte  Statue,  mit  dem  majestätischen  Motiv 
des  vorn  über  die  Brust,  dann  über  die  Schulter  geschlagenen,  end- 
lich von  hinten  hervor  unter  den  Ellbogen  geklemmten  Obergewandes 
(wie  die  angebliche  Euterpe  im  Vatican,  Galeria  delle  Statue).  Der 
Kopf  schön  und  echt.   —  Ebenda,  aus  derselben  Reihe,  Kalliope, 

Im  Dogenpalast  zu  Venedig:  Corridojo:  zwei  Musen  vom  Theater  d 
von  Pola,  decorative  römische  Copien  nach  einem  alten  griechischen 
Typus,  als  Karyatiden  mit  fast  geschlossenen  Füssen,  symmetrischer 
Haltung,  strenger  und  gewaltiger  Bildung,    Das  ehemalige  Motiv  der 
Arme  zweifelhaft. 


Bei  Anlass  der  Musen  sind  am  besten  diejenigen  zahlreichen  weib- 
lichen Statuen  zu  besprechen,  welche  unter  dem  sehr  allgemeinen  Na- 


«äw'tt'  ii>  J  0.     ^   r» 


'  t»K  ««,(1-.^».»^  «M  r*,! 


»  !.¥»  J»X,4.»  ;>*.. 


462 


Antike  Scolptnr.    Weibliche  Gewandstataen. 


men  von  Gewandstatuen  zusammengefasst  werden.  Für  eine 
kritische  Aufzählung  (worauf  hier  kein  Anspruch  gemacht  wird)  wäre 
es  unerlässlich,  zu  ermitteln,  welchen  göttlichen  oder  menschlichen 
Gestalten  die  verschiedenen  Gewandungstypen  zukamen.  Die  Schwie- 
rigkeit einer  solchen  Forschung  leuchtet  ein,  wenn  man  erwägt,  dass 
weit  die  meisten  dieser  Statuen  gefunden  wurden  ohne  Hände  und 
Attribute,  auch  kopflos  oder  mit  solchen  Köpfen,  die  ihnen  schon 
im  Alterthum  willkürlich  gegeben  worden  waren;  dass  endlich  schon 
das  Alterthum  häufig  vorhandene  Göttertypen  zu  Porträtbildungen 
benützte.  So  viel  ist  immerhin  gewiss,  dass  eine  Anzahl  von  Motiven 
der  Stellung  und  Gewandung,  hauptsächlich  aus  der  spätem  Zeit  der 
griechischen  Kunst,  ein  canonisches  Ansehen  genossen  und  um  ihrer 
Schönheit  willen  beständig  wiederholt  wurden.  Hauptsächlich  ge- 
währte der  Chor  der  Musen,  in  den  verschiedenen  Auffassungen,  die 
wir  nachweisen  können,  einen  Vorrath  der  schönsten  Vorbilder  für 
die  Drapirung  von  Bildnissfiguren,  sodass  beim  einzelnen  Torso  schwer 
zu  entscheiden  sein  wird,  ob  er  für  eine  Musenstatue  oder  für  ein 
als  Muse  stylisirtes  Bildniss  gearbeitet  worden.  Ausserdem  sind  unter 
der  Masse  der  ,, Gewandstatuen"  Stellungs-  und  Drapirungsmotive 
von  Göttinnen,  symbolischen  Personificationen,  Priesterinnen,  Theil- 
nehmerinnen  an  Festzügen,  selbst  eigentlichen  Genrefiguren  begriffen; 
manche  Motive  gehören  auch  ganz  ursprünglich  der  porträtirenden 
Kunst  an  und  geben  ideal  aufgefasste  griechische  und  römische  Trach- 
ten wieder.  —  Wenn  aus  dem  ganzen  Alterthum  keine  andern  Kunst- 
werke erhalten  wären,  so  würden  schon  diese  Gewandtorsen  (selbst 
die  gering  ausgeführten  nach  guten  Motiven)  uns  den  höchsten  Be- 
griff von  der  alten  Kunst  geben.  Es  ist  keine  ruhig-grossartige  und 
keine  einfach-liebliche  Stellung  des  beseelten  Weibes,  welche  hier  nicht 
in  und  mit  einer  theils  prächtigen,  theils  schlichten  Gewandung  aus- 
gesprochen wäre.  Haltung  und  Gewandung  wären  beide  für  sich 
schön,  aber  es  ist  der  hohe  Vorzug  der  antiken  Kunst,  dass  sie  ganz 
untrennbar  zusammengedacht  sind  und  nur  mit  einander  existiren. 
Zu  den  reichsten  Motiven  gehört  das  schon  bei  den  Musen  vor- 
kommende, auf  verschiedene  Attitüden  angcv/andte:  theilv/eise  Auf- 
hebung des  Gegensatzes  zwischen  Ober-  und  Untergewand,  vermöge 
Durchscheinens  des  letztern  durch  das  erstere.   Weit  entfernt  von  der 


Weibliche  Gewandstatuen. 


463 


Künstelei,  welche  z.  B.  im  vorigen  Jahrhundert  bei  mehreren  Bild- 
hauern zum  peinlichsten  Streben  nach  Illusion  führte,  ist  hier  der 
Contrast  des  Feinern  und  des  Derbern  und  das  Übereinander  der  Fal- 
tung zwar  mit  der  höchsten  Kunst,  aber  ohne  alle  falsche  Bravour 
behandelt;  man  sieht  (wenigstens  bei  den  bessern  Exemplaren)  immer, 
dass  es  dem  Künstler  vor  Allem  um  die  Hauptsache,  um  das  schöne 
und  sprechende  Hervortreten  der  Gestalt  im  Gewände  zu  thun  war 
und  dass  er  jene  Zierlichkeiten  nur  als  Mittel  zum  Zwecke  brauchte. 

Eine  wunderbare  und  räthselhafte  (römische?)  Figur,  die  sog. 
P  u  d  i  c  i  t  i  a ,  mag  hier  zuerst  genannt  werden.  Sie  fasst  mit  der  rech-  a 
ten  Hand  in  der  Nähe  des  Halses  den  Schleier,  dessen  Ende  über  den 
nach  rechts  hinübergelegten  linken  Arm  herabfällt.  Will  sie  sich  ver- 
schleiern oder  hat  sie  sich  eben  entschleiert?  —  Das  Auge  bleibt  in 
einer  angenehmen  Ungewissheit.  Das  Zurücktreten  der  rechten  Schul- 
ter i),  die  Stellung  der  Füsse  tragen  mit  zu  diesem  reizvollen  Eindruck 
bei.  (Das  schönste  Exemplar  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans,  ein 
geringeres  im  Hof  des  Belvedere;  andere  überall.)  b 

Unter  den  übrigen  zahlreichen  Motiven,  wovon  immer  eines  rei- 
zender und  sprechender  ist  als  das  andere,  nennen  wir  beispielshalber 
dasjenige,  wobei  der  Überschlag  des  Obergewandes  erst  über  die  Brust, 
dann  über  die  Schulter  geschwungen  und  von  hinten  hervor  unter  den 
Arm  geklemmt  wird  (Seite  461,  c).  Von  vielen  Beispielen  eines  der 
schönsten:  die  als  Euterpe  restaurirte  Gestalt  in  der  Galeria  delle  c 
statue  des  Vaticans. 

Wieder  eine  besondere  Aufgabe  ist  in  der  verhülltenGefäss- 
t  r  ä  g  e  r  i  n  (Museo  capitolino,  Zimmer  des  sterbenden  Fechters)  gelöst,  d 
die  man  für  Pandora  oder  Psyche  mit  der  Büchse,  für  Tuccia  mit  dem 
Sieb  u.  s.  w.,  mit  dem  meisten  Recht  aber  als  Trägerin  eines  Heilig- 
thums  in  einem  Festzuge  erklärt  hat.  Für  uns  ist  diese  nur  flüchtig 
gearbeitete  Statue  ein  jedenfalls  sehr  schöner  Versuch  mehr,  ein  neues 
Motiv  von  Haltung  und  Geberde  in  feierlicher  Gewandung  auszudrücken. 
Allerdings  zieht  in  demselben  Raum  die  sog.  Flora  am  schnellsten  e 
die  Blicke  auf  sich,  eine  schöne  Römerin,  mit  einem  Kranz  um  das 


1)   Welches   ja   nicht   etwa   als  Nachbildung   eines   zufällig   schmalschultrigen   weiblichen  Indivi- 
duums aufzufassen  ist. 


.t'« 


.^.  «iUMr  Ä-  v^-fipAiiTj*  'iA,-iB.  ,*  -»t^jm:  ■>}  fcMrVv.  ■■.^  -*s**  >*.  IW,  4i  -♦■  . 


464 


Antike  Scalptar.    Weibliche  Gewandstataen. 


Haupt;  über  dem  feinen  Unterkleid  ein  eigenthümliches  Obergewand, 
welches  wahrscheinlich  dem  äussern  Effect  zu  Liebe  so  gebildet  ist: 
mit  sehr  weiter  oberer  Öffnung,  sodass  es  bei  jeder  Bewegung  auf  beide 
Arme  herabfallen  müsste;  von  einem  schweren  Stoffe,  welcher  so  tiefe, 
schattige  ,, Augen"  bildet,  v/ie  sie  sonst  kaum  an  einem  antiken  Ge- 
wände vorkommen;  im  Ganzen  macht  sich  der  Eindruck  wie  von 
einem  schön  drapirten  Modell  geltend. 

Den  männlichen  Togafiguren  stehen  am  meisten  parallel  eine  An- 
zahl mächtiger  Gestalten  von  betenden  oder  opfernden  Frauen  (0  r  a  n  - 
t  i  n  n  e  n) .    Weniger  wegen  der  Ausführung  als  wegen  der  voUstän- 

a  digen  Erhaltung  nennen  wir  hier  die  eherne  sog.  Pietas  des  Museums 
von  Neapel  (grosse  Bronzen).  Das  Untergewand  tritt  sehr  beschei- 
den zurück;  weit  die  Hauptsache  ist  der  gewaltige  Mantel,  welcher 
die  ganze  Figur  sammt  dem  Haupte  umwallt.  Von  den  ausgestreck- 
ten Armen  klemmt  der  linke  mit  dem  Ellbogen  die  beiden  Hauptenden 
zusammen,  welche  hierauf  in  zwei  Zipfeln  unterhalb  des  linken  Knies 
auslaufen;  ein  drittes  Ende,  dessen  innerer  Umschlag  schön  über  die 
Brust  hinläuft,  fliesst  dann  über  den  linken  Arm  hinunter.  —  An  Mar- 
morexemplaren ist  bisweilen  die  Arbeit  besser,  das  Motiv  aber  der 
Verstümmelungen  wegen  unverständlicher,  —  Gut  erhalten,  bis  auf  die 

b  Hände  (deren  jetzigen  Restauration  allerdings  die  Orantin  nicht  mehr 
erkennen  lässt)  und  die  Gewandenden  rechts  vom  Beschauer,  erscheint 
eine  Marmorfigur  dieser  Art  in  derselben  Sammlung  (Halle  desTi- 
berius),  welche  man  unbedingt  den  herrlichsten  römischen  Gewand- 
statuen beizählen  darf.  Die  bronzene  Pietas  würde  daneben  ins  tiefe 
Dunkel  zurücktreten. 

Sehr  häufig  kommt  dasjenige  Motiv  vor,  welches  unter  den  Musen 
vorzüglich  der  Polyhymnia  eigen  ist:  das  Obergewand  ver- 
hüllt bereits  die  linke  Seite  und  den  linken  Arm,  so  dass  von  der 
Hand  nichts  oder  nur  Fingerspitzen  sichtbar  sind;  hinten  herumge- 
schlagen, soll  es  mit  der  erhobenen  Rechten  eben  noch  einmal  über 
die  linke  Schulter  gelegt  werden.    (Schön  an  zwei  Statuen  junder  Rö- 

c  merinnen,   vielleicht  von   der  Familie  des   Baibus,   im  Museum  von 


ü  Neapel,  erster  Gang,  und  an 


Kaiserin,  dritter  Gang.)   —  Auch 


e  an  der  sog.   Iphigenia,  welche  in  der  Kirche  S.  Corona  zu  Vicenza 
neben  dem  5.  Altar  links  sich  befindet.  —  Die  florentinische  Priesterin 


Weibliche  Gewandstataen. 


46s 


(Uffizien,  Halle  der  Inschriften)  ist  wiederum  eigenthümlich  reizend  a 
verhüllt;  aus  dem  weiten  Obergewande,  welches  die  ganze  Gestalt 
umgiebt,  sieht  nur  die  Linke  (mit  der  restaurirten  Schale)  heraus; 
die  Brüste  und  der  untergeschlagene  rechte  Arm  sind  im  Gewände 
vorzüglich  edel  ausgedrückt.  —  Eine  köstliche  Priesterin  findet  sich 
auch  unter  den  halblebensgrossen  Statuen  in  einem  der  hintern  Säle  b 
der  Galerie  des  Pal.  Pitti.  (Mit  den  Wandfresken  des  Pietro  da 
Cortona.) 

Das  Untergewand  wird  als  Hauptausdruck  der  Stellung  behan- 
delt in  drei  sitzenden  Statuen  aus  der  früheren  Kaiserzeit,  welche  man 
für  Bildnissetheils  der  altern,  theils  der  jungem  Agrippina  erklärt. 
(Museo  capitolino,  Zimmer  der  Kaiser;  Villa  Albani,  untere  Halle  des  c 
Palastes;  wozu  als  Ergänzung  die  bejahrte  Sitzende  mit  verschlungenen 
Händen  gehört,  Museum  von  Neapel,  dritter  Gang.)  Wenn  es  nun  d 
misslich  bleibt,  physiognomisch  Partei  zu  nehmen  für  Bilder,  welche 
entweder  eine  der  tugendhaftesten  oder  eine  der  lasterhaftesten  Rö- 
merinnen darstellen  —  und  beide  Taufen  sind  unsicher!  —  so  haben 
wir  doch  jedenfalls  denjenigen  allgemeinen  Typus  vor  uns,  in  welchem 
sich  die  grossen  Damen  des  Tacitus  und  Juvenal  mit  Vorliebe  ab- 
bilden Hessen.  Das  bequeme  Auflehnen  auf  den  Sessel,  die  schöne 
Entwicklung  der  schönen  Glieder,  die  sich  dabei  ergiebt,  mussten 
dieses  Motiv  sehr  in  Gunst  setzen  i).  Freilich  scheinen  diese  Statuen 
nur  gut,  bis  man  die  sitzenden  Frauen  der  parthenonischen  Giebel 
(Abgüsse  im  Lateran  und  anderswo)  damit  vergleicht.  Mit  welch  an- 
derm  Lebensgefühl  fliessen  hier  die  leichten  Gewänder  über  die  gött- 
lichen Gestalten! 

Eine  sehr  eigenthümlich  und  gut  gedachte  sitzende  Spätrömerin 
müssen  wir  indess  hier  noch  erwähnen.  Man  sieht  in  der  obern  Ga-  e 
lerie  des  capitolinischen  Museums  eine  ganz  eingehüllte  Gestalt,  mit 
der  verhüllten  Rechten  das  Gewand  an  das  Kinn  ziehend,  die  offene 
Linke  unterschlagend.  Die  Statue  soll  Julia  Mäsa  vorstellen,  die 
Grossmutter  der  ungleichen  Vettern  Elagabal  und  Alexander  Severus. 


1)  Diesen   Agrippinenstatuen    gleichen  im  Motiv  zwei   unbekannte   Römerinnen  der   Uffizien   zu  • 
Florenz  (Anfang  des  ersten  Ganges),  beide  von  untergeordneter  Arbeit. 


1  K»  t  !.-■«*■  m     »V  ».♦  <Sf "-*  ■•'•l  «hf'>»lj«»»i  .-rt 


-«i-tiij  •  <t.»^<»»-ji,  «»  ».,.^*-  »••  n    —  -  ' 


466 


Antike  Scolpturen.    Weibliche  Gewandstataen. 


Über  dem  Ausdruck  tiefen  Sinnens  in  Haupt  und  Stellung  vergisst 
der  Beschauer  gerne  die  nur  mittelmässige  Ausführung. 

a  Ebenfalls  Kaiserinnen  scheinen  dargestellt  in  den  sog.  Vesta- 
linnen  der  Loggia  de'  Lanzi  in  Florenz.  Vier  derselben  (von 
der  offenen  Seite  des  Gebäudes  an  gerechnet  2,  4,  5  und  6)  zeigen  das 
grandiose  Motiv  eines  Obermantels,  der  von  der  rechten  Schulter 
schief  herab  gegen  das  linke  Knie,  und  mit  seinem  aufgenommenen 
Ende  über  den  linken  Arm  geht;  darunter  das  ärmellose  Brustkleid 
und  das  an  den  Hüften  aufgenommene  Unterkleid,  dessen  Bauschen 
wieder  auf  die  Schenkel  herabfallen.  Die  Stellung  ist  in  jeder  dieser 
colossalen  Figuren  besonders  nuancirt,  die  Behandlung  für  die  wahr- 
scheinlich späte  Zeit  vorzüglich. 

Auch  die  einfache  griechische  Idealgewandung  wurde  um  ihrer 
Schönheit  willen  noch  lange,  und  nicht  bloss  bei  Göttinnen,  reprodu- 
cirt.  Es  ist  ein  schlichtes  langes  Kleid,  über  den  Hüften  meist  so 
gegürtet,  dass  etwas  herabhängende  Bauschen  über  dem  Gürtel  ent- 
stehen; dann  ein  Oberkleid,  auf  den  Schultern  geheftet  und  zu  beiden 
Seiten  offen  oder  nur  wenig  geschlossen,  vorn  herabhängend  bis  in 

b  die  Nähe  des  Gürtels,  auf  den  Seiten  etwas  länger.  Fünf  eherne  Sta- 
tuen im  Museum  von  Neapel  (grosse  Bronzen),  nicht  sehr  alt,  aber 
alterthümlich,  stellen  diesen  Typus  mit  verschiedenen  Attitüden  ver- 
bunden dar;  man  glaubt  sie  als  Schauspielerinnen  erklären  zu  dürfen. 
Die  Arbeit  erhebt  sich  nicht  über  die  rohe  Decoration      (Spuren  von 

c  Bemalung.)  Eine  ähnliche  Marmorfigur  z.  B.  im  Vorsaal  der  Villa 
Ludovisi  zu  Rom. 

Die  gänzliche  Einhüllung  der  Gestalt  in  e  i  n  Gewand  wurde  eben- 

d  falls  nicht  selten  dargestellt;  alterthümlich  streng  z.  B.  in  zwei  Sta- 
tuen mit  Bildnisköpfen,  im  untern  Gang  des  Museo  capitolino. 

e  In  der  Galerie  zu  Parma  sind  von  den  Gewandfiguren  weit  die 
besten  N.  10,  mit  dem  Motiv  der  sog.  Polyhymnia,  sehr  verstümmelt, 
und  N.  7,  sog.  ältere  Agrippina,  mit  der  Linken  das  Gewand  auf- 
nehmend. 

Eine  grosse  Anzahl  schöner  Motive  müssen  wir  übergehen  um 
der  Kürze  willen.     (Von  den  weniger  bekannten  Sammlungen  muss 

f  hier,  wegen  mehrerer  guter  Gewandstatuen,  das  Casino  der  Villa  Pam- 
fili  bei  Rom  genannt  werden;  sonst  verweisen  wir  noch  auf  den  zwei- 


Eanephoren  und  Earyatiden. 


467 


ten  Gang  des  Museums  von  Neapel  und  auf  den  Braccio  nuovo  des  a 
Vaticans.) 


Wer  im  Süden  der  Gestalt  und  den  Bewegungen  des  Volkes 
auch  nur  einen  Blick  gönnt,  wird  z.  B.  an  jedem  Brunnen  überrascht 
werden  durch  die  ungemeine  Anmuth  des  Hebens  und  Tragens  der 
Wassergefässe,  der  Waschkörbe  u.  dgl.  Auch  hat  die  Kunst  von  jeher 
derartige  Motive  von  Schönheit  und  Kraft  sich  zu  eigen  gemacht; 
Raphael  gab  ihnen  die  Unvergänglichkeit  in  einer  tragenden  Figur 
seines  Incendio  del  borgo  (Vatican) ;  Michel  Angelo  in  der  unerreich- 
baren Gruppe  der  Judith  und  ihrer  Magd  (Cap.  Sistina).  —  Die  Alten 
aber  hatten  das  Glück,  diesen  Motiven  in  einer  feierlichen,  erhabenen 
Sphäre  zu  begegnen:  bei  den  Processionen  nämlich,  wenn  die  Jung- 
frauen der  Stadt  und  die  Tempeldienerinnen,  auf  dem  Haupt  die 
Körbe  mit  den  Heiligthümern  oder  Opfergeräthen,  einherwandelten. 
Daraus  entstand  der  Typus  der  Korbträgerinnen  (Kanephoren). 
Die  eine  Hand  leicht  an  den  Korb  erhoben,  die  andere  eingestützt  oder 
im  Gewand  verhüllt,  mit  langsamem,  bloss  angedeutetem  Schritte,  frei 
vorwärtsblickend  kommen  sie  uns  entgegen.  So  die  herrliche  bacchische  b 
Kanephore  der  Athener  Kriton  und  Nikolaos  in  der  untern  Halle  der 
Villa  Albani;  neben  ihr  treten  vier  andere  (ebendort)  als  fluch-  c 
tige  römische  Arbeiten  weit  in  den  Hintergrund. 

Noch  viel  ernster  und  feierlicher  aber  gestaltet  sich  dieser 
Typus  in  der  Karyatide  ;  die  festlichen  Jungfrauen  tragen  über 
ihrem  zum  Capital  gewordenen  Korb  das  Gesimse  eines  Tempels. 
Ausser  den  auf  der  athenischen  Akropolis  (am  Erechtheion)  erhaltenen 
Karyatiden  besitzt  Rom  (Vatican,  Braccio  nuovo)  ein  stark  restaurir-  d 
tes  Exemplar,  welches  der  Sage  nach  einst  im  Pantheon  soll  ange- 
bracht gewesen  sein;  an  Grösse  und  Ernst  offenbar  eher  ein  griechi- 
sches als  ein  römisches  Werk.  Von  nicht  viel  geringerm  Werthe  ist  e 
die  Karyatide  im  Hof  des  Palazzo  Cepperello  in  Florenz.  —  Auf  merk- 
würdige Weise  ist  in  der  Jungfrau  zugleich  die  architektonische  Stütze, 
die  Stellvertreterin  der  Säule  charakterisirt;  man  hätte  sie,  soweit  es 
sich  um  die  Tragkraft  handelte,  viel  leichter  bilden  können;   allein 


■^•'»v  tmttt  'ft■'»V-J*^ 


468 


Antike  Sculptar.    Eros. 


wenn  das  mechanische  Bewusstsein  sich  dabei  beruhigt  hätte,  so  hätten 
Auge  und  innerer  Sinn  sich  nicht  zufrieden  gegeben. 


Unter  den  Knabengestalten  nimmt  Eros  die  erste  Stelle  ein. 
Wir  kennen  ihn  als  Statue  nur  unter  demjenigen  Typus,  welchen  ihm 
die  vollendete  griechische  Kunst  des  IV.  Jahrhunderts  verlieh  und 
welchen  die  Folgezeit  wiederholte. 

Eine  der  anmuthigsten   Darstellungen,   vielleicht  nach   Lysippos, 
welche  den  jugendlichen  Körper  in  leichter  Anstrengung  zeigt,   der 
sog.  bogenspannende  Eros,  ist  leider  nur  in  entweder  sehr  zer- 
stückten oder  bloss  mittelgut  gearbeiteten  Exemplaren  auf  unsere  Zeit 
a  gelangt.     Die  beste  Arbeit  zeigt  in  seinen  alten  Fragmenten  der  va- 
b  ticanische  (Museo  Chiaramonti) ;  dann  folgt  derjenige  im  runden  Saal 
c  der  Villa  Albani  und  derjenige  in  der  obern  Galerie  des  Museo  ca- 
d  pitolino.     Der  besterhaltene  im  Dogenpalast  zu  Venedig,  Camera  a 
letto;  der  Kopf  eine  antike  Restauration.    Trotz  dieser  Mehrzahl  vor- 
handener   Copien   kann   man   über   das   usrprüngliche   Motiv   einige 
Zweifel  hegen.     (Neuerlich  als  ,,bogenprüf ender  Amor"  bezeichnet.) 
Diesem  kindlich  schalkhaften  Schützen  steht  ein  jugendlicher  Gott 
der  Liebe  gegenüber.    Ungleich  ernster  und  in  den  Formen  entwickelter 
erscheint  nämlich  Eros,   offenbar  nach  Praxiteles,  in  dem  vaticani- 
e  sehen  Torso   (Galeria  delle  statue,   früher  als   ,,v  a  t  i  c  a  n  i  s  c  h  e  r 
Genius"  benannt).    Das  schmale  Haupt,  mit  den  zusammengewun- 
denen Locken  über  der   Stirn,  drückt  eine   Sehnsucht  aus,  die  sich 
weder  in  das  Schmachtende  noch  in  die  Trauer  verliert,  sondern  eben 
in  ihrer  ruhigen  Mitte  das  Wesen  dieses  Gottes  ausmacht.    Die  Formen 
des  Körpers  sind  von  einer  jugendüchen  Schönheit,  die  für  die  Sculptur 
massgebend  geworden  ist.     (Am  Rücken  die  Ansätze  für  die  Flügel, 
f  Ein  geringeres,  aber  bis  an  die  Kniee  erhaltenes  Exemplar  im  Museum 

von  Neapel,  Halle  des  Adonis.) 
g  Die  schöne  Statue,  welche  in  den  Uffizien  zu  Florenz  (Halle  des 
Hermaphr.)  ,,d  e  r  T  o  d  e  s  g  e  n  i  u  s"  heisst,  aber  als  Eros  restaurirt 
ist,  vereinigt  die  frühe  Jugend  des  bogenspannenden  Eros  mit  einem 
Ausdruck  des  Ernstes  ohne  Sehnsucht.  Er  blickt  nicht  ,, hinaus",  son- 
dern links  abwärts  und  hält  die  rechte  Hand  auf  die  linke  Schulter 


Amor  und  Psyche.    Paris.    Ganymed. 


469 


(Ungleiche  Arbeit,  von  der  Hälfte  der  Schenkel  abwärts  restaurirt.) 
Ob  Schlaf,  Tod,  oder  der  Sohn  Aphroditens  gemeint  ist,  wollen  wir 
nicht  entscheiden. 

Die  erste  spät  (II.  Jahrhundert  n.  Chr.)  vorkommende  Gruppe 
Amors,  der  die  Psyche  liebkost,  ist  bei  einem  schönen  Ausdruck 
doch  in  den  Linien  der  beiden  Körper  sowohl  als  in  ihrer  Durchbil- 
dung nur  von  mittlerem  Werth.  Selbst  das  vorzügliche  capitolinische  a 
Exemplar  (im  verschlossenen  Zimmer  der  Venus)  macht  hievon 
nur  eine  bedingte  Ausnahme;  das  florentinische  (Uffizien,  Halle  des  b 
Hermaphr.)  ist  ziemlich  gering.  Noch  später,  an  zahllosen  Sarcopha- 
gen,  werden  die  beiden  Kinder  immer  jünger,  endlich  blosse  sog. 
Putten,  und  in  der  Arbeit  immer  roher.  Der  neuern  Kunst  blieb  hier 
ein  Feld  offen,  auf  welchem  Canova  und  Thorwaldsen  neu  sein 
konnten. 


Dem  Eros-Typus  nahe  verwandt,  doch  fast  nur  in  geringen  Exempla- 
ren vorhanden,  erscheinen  zwei  andere  Knabengestalten,  die  schön- 
heitberühmten Söhne  des  Königshauses  von  Ilion,  die  Hirten  vom  Ida. 
Zunächst  der  jugendliche  Paris,  in  einer  späten  römischen  Statue  c 
des  Museums  von  Neapel  (zweiter  Gang);  er  ruht  aufgelehnt,  die 
Füsse  übereinander,  den  Apfel  in  der  Rechten  hinter  sich  haltend; 
zwei  Wurfspiesse  lassen  ihn  zugleich  als  Jäger  erkennen;  neben  ihm 
ein  Hund.  Es  liegt  in  dieser  Figur  etwas  von  dem  schönen  Müssig- 
gang  ruhender  Götter  und  Satyrn,  aber  die  Ausführung  ist  sehr  be- 
fangen. (Über  den  erwachsenen  Paris  in  der  Galeria  delle  statue  des 
Vaticans  s.  unten.)  — Sodann  Ganymed.  Die  alte  Kunst  muss  zunächst 
in  einem  sehr  ausgezeichneten  Werke  (wahrscheinlich  von  Leochares) 
das  Aufwärtsschweben  eines  schlanken  jugendlichen  Körpers  verbun- 
den mit  dem  Ausdruck  der  Hingebung  dargestellt  haben,  als  Gany- 
med, der  vom  Adler  behutsam  emporgetragen  wird  (natürlich  an  einen 
Tronco  angelehnt  und  jedenfalls  für  die  Sculptur  ein  zweifelhafter  Ge- 
genstand). Ein  kleines  römisches  Exemplar  im  obern  Gang  des  Va-  d 
ticans.  (Der  einst  viel  genannte  venezianische  Ganymed,  im  Dogen-  e 
palast,  Camera  a  letto,  ohne  Tronco  und  jetzt  schwebend  aufgehängt, 
ist  eine  mittelmässige  römische  Arbeit.)  —  Neben  dieser  mehr  idealen 


^r*  i*^*-*,-*  »1«.  «^  1 


^^\»V-Vt'JfcV  >f%  rf  )«t.«%^w»^  v»'*u<.*»«^*^Äiwytj»H^,^/^  4ir  >yi^  w»»^,-<*^-^  -^j  ^  , 


470 


Antike  Scnlptnr.    Ganymed. 


a  Darstellung  heben  andere  Statuen  mehr  den  Hirtenknaben  oder  den 
Mundschenken  hervor;  so  diejenige  des  Museums  von  Neapel  (z-veiter 
Gang):  Ganymed  auf  den  Adler  gelehnt  und  mit  ihm  sprechend,  eine 

b  gute  Arbeit  mit  schlecht  restaurirter  Handbewegung.  (In  der  Nähe 
ein  weit  schlechterer  Ganymed.)  Ein  anderes,  ebenfalls  schlecht  restau- 
rirtes  Exemplar  in  den  Uffizien,  erster  Gang.  —  Auch  Gar.ymed 
den  Adler  tränkend  kommt  wenigstens  in  Reliefs  vor.  —  Eine  s:höne 

c  kleine  Brunnenstatue  mit  restaurirten  Armen,  auf  den  (nicht  vcrhan- 
denen)  Adler  herabschauend  gedacht,  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans, 

d  am  Stamm  der  Name  des  Künstlers  Phaidimos;  —  eine  unbedeutende 
im  Gabinetto  delle  Maschere  ebenda;  —  ein  sehr  schöner  Gedanke  in 

e  einer  mittelguten  Statue  des  obern  Ganges  ebenda:  Ganymed  die 
Schale  emporreichend;  er  und  der  Adler,  welcher  hier  nicht  als  Hülle, 
sondern  als  Attribut  des  Zeus  neben  ihm  steht,  schauen  aufwärts  wie 
zu  dem  Gott  empor.  Es  ist  kein  irdisches  Aufwarten,  sondern  ein 
feierliches  Kredenzen  bezeichnet.  (Der  Arm  mit  der  Schale  nei;,  aber 
dem  alten  Ansatz  nach  wohl  richtig  ergänzt.)  Raphael  hat  diess 
ähnlich  empfunden,  im  Hochzeitsmahl  der  Farnesina,  wo  Ganymed 
sich  auf  ein  Knie  niederlässt. 

{  Die  schöne  lebendige  Statue  kleinern  Massstabes  in  den  Uffizien 
(Halle  des  Hermaphr.)  hat  einen  Kopf  und  einen  Adler  von  Benv. 
Cellini,  stellte  aber  wohl  ursprünglich  Ganymed  dar.  Bildung  und 
Stellung  sind  von  gleicher  Anmuth. 

(Kinderstatuen    ziehen    das  Verhältniss    zum  Adler    ins    DroUig- 

g  Kindliche;  so  die  sehr  meisterhaft  gedachte  des  kleinen  Ganymed, 
welcher  den  Adler  nach  hinten  umfasst,  im  obern  Gang  des  Vati- 
cans.) 


Der  Bilderkreis  der  Götter  wird  glorreich  ergänzt  durch  Dio- 
nysos, den  Gott  der  hohen  Naturwonne.  Nachdem  ihn  die  Kunst 
lange  als  bärtigen  Herrscher  gebildet  (S,  422),  erhielt  er  zur  Zeit  des 
Skopas  und  Praxiteles  die  süsseste  Jugend  und  sein  bisher  bloss  bur- 
leskes Gefolge  (man  vgl.  die  Satyrn  auf  den  altern  Vasen)  eine  reiche 
charakteristische  Abstufung  bis  ins  Schöne  hinein.  Ihm,  dem  reinsten 
Grundton  und  Mittelpunkt  dieses  gestaltenreichen  Schwarmes  (Thia- 


Dionysos. 


471 


sos),  wurde  eine  Schönheit  zugedacht,  zu  deren  vollem  Ausdruck 
männliche  und  weibliche  Formen  gemischt  werden  mussten.  So  ent- 
stand der  wunderbare  Typus  unbestimmter,  zielloser  Seligkeit,  dessen 
tiefster  Zug  (wie  bei  der  Aphrodite)  eine  leise  Sehnsucht  ist.  Einem 
solchen  Dasein  kam  vor  Allem  eine  leichtruhende  Stellung  zu,  welche 
die  Entwicklung  eines  reichen  Körpermotives  begünstigte,  so  das  Auf- 
lehnen auf  einen  Rebenstamm,  der  später  zu  einer  jungen  Satyrgestalt 
belebt  wurde;  auch  wohl  eine  leichtgewendete  sitzende  Haltung.  Der 
Thyrsus,  wo  er  vorkömmt,  dient  der  Gestalt  zur  Zier  mehr  als  zur  Stütze. 
Das  Haupt,  meist  etwas  geneigt,  ist  von  einem  Kranz  von  Weinlaub 
oder  Epheu  beschattet  und  von  herrlichen  Locken  umgeben,  die  eine 
Stirnbinde  zusammenhält.  Mit  Ausnahme  eines  Thierfelles  ist  Dionysos 
in  der  Regel  nackt,  doch  auch  nicht  selten  von  den  Lenden  an  mit 
einem  Gewände  bekleidet. 

In  den  italienischen  Sammlungen  wird  wohl  dem  sitzenden  T  o  r  s  o  a 
des  Museums  von  Neapel  (Halle  des  Jupiter)  der  unbestrittene  Vor- 
rang bleiben,  indem  hier  die  milden  und  reichen  Formen  des  Gottes 
schöner  und  einfacher  behandelt  sind  als  sonst  irgendwo.    Ein  anderer  b 
schöner  sitzender  Torso  im  Vatican  (Galeria  delle  Statue).    Der  Torso 
eines  stehenden  Bacchus  von  sehr  guter  römischer  Arbeit,  als  Apoll  c 
restaurirt,  in  der  Innern  Vorhalle  der  Uffizien  zu  Florenz. 

Die  volle  dionysische  Schönheit  aber  konnte  nicht  ergreifender 
hervorgehoben  werden,  als  durch  den  Contrast  mit  einem  bestimmten 
Begleiter  aus  dem  Gefolge  des  Gottes.  Die  Kunst  personificirte  den 
Weinstock  (Ampelos),  auf  welchen  der  Gott  sich  lehnte,  zu  einem 
Satyr,  mit  welchem  er  in  verschieden  charakterisirte  Beziehungen  (des 
Sprechens,  des  Aufstützens)  gesetzt  wird;  bisweilen  mischt  sich  ganz 
deutlich  ein  Zug  des  Humors  ein:  Ampelos  kann  die  Stimmung  seines 
Herrn  nicht  recht  fassen  und  macht  sich  seine  Gedanken  darüber.  Die 
vielleicht  ehemals  beste  Gruppe  dieser  Art,  ein  sehr  schönes  aber  übel  d 
zugerichtetes  Werk  in  der  Villa  Borghese  (Hauptsaal),  zeigt  den  voll- 
ständigem Typus  des  Gottes  in  seiner  edelsten  Gestalt;  Ampelos 
jedoch  ist  grossentheils  zerstört.  Gut  erhalten  oder  restaurirt,  aber 
viel  weniger  hoch  aufgefasst:  Dionysos  mit  dem  ausschreitenden  e 
Ampelos  in  der  Sala  rotonda  des  Vaticans;  —  ähnlich,  aber  kleiner 
und  geringer  im  Dogenpalast  zu  Venedig,  Corridojo;  —  grossartig  und  £ 


iki'-if 


.^  n->  ,>.  «»  ««'>M  *''-•*  H>.^  >i^»,->»,  v^^,.^»,  fe,.  W)»ps.  ,^>W ^'Ai  ■M'A,^^; 


um 


472 


Antike  Sculptar.    Dionysos. 


a  schwülstig  mit  einem  frechen  Ampelos,  im  Hauptsaal  der  Villa  Lu- 

b  dovisi;  —  kleiner  und  von  guter  römischer  Arbeit  in  den  Uffizien 
(Halle  der  Inschriften),  durch  die  Restauration,  welche  auch  die  Basis 
umfasst,  vielleicht  zu  viel  nach  links  (vom  Beschauer)  geneigt;  —  roh 

c  decorativ  und  für  einen  baulich  bedingten  Gesichtspunkt  berechnet, 
in  der  Galerie  zu  Parma i);  —  endlich  als  Seitenstück:  Dionysos  mit 

d  dem  geflügelten  Eros,  im  zv/eiten  Gange  des  Museums  von  Neapel. 

e  —  Bei  den  grossen  Bronzen  derselben  Sammlung:  eine  treffliche  Sta- 
tuette des  Bacchus  mit  dem  Thyrsusstab. 

Die  überwiegende  Menge  der  Bacchusfiguren  sind  unbedeutende 
römische  Arbeiten;  bisweilen  von  gutem  Motiv,  aber  schwerer  Aus- 
führung, indem  die  Kunst  den  Ausdruck  der  reichen  und  weichen 
dionysischen  Natur  im  Breiten  und  Üppigen  suchte.     So  die  Statuen 

f  von  Tor  Marancio  im  obern  Gang  des  Vaticans;  diejenigen  im  zweiten 

g  Gange  des  Museums  von  Neapel  (worunter  eine  stark  ergänzte  bes- 

h  sere).  Mehrere,  auch  von  den  bessern,  in  der  Villa  Borghese.  Als 
Herr  der  Unterwelt  thront  Dionysos,  neben  sich  die  gerettete  Seele 
eines   Mädchens,    in   einer   sehr   späten,   nur  sachlich  merkwürdigen 

i  Gruppe  der  Villa  Borghese  (Faunszimmer).  —  Wo  der  Gott  einen 
seiner  Panther  bei  sich  hat,  wird  man  das  Thier  verhältnissmässig 
immer  sehr  klein  gebildet  finden.  Man  hat  es  desshalb  auch  schon 
als  Luchs  u.  s.  w.  classificiren  wollen.  Die  griechische  Kunst  aber, 
welche  selbst  die  Söhne  Laocoons  in  einem  kleinern  Verhältniss  bildete 
als  den  Vater,  erlaubte  sich  auch  die  Freiheit,  die  bis  über  sechs  Fuss 
langen  Tiger  und  Panther  auf  ein  Mass  zu  reduciren,  woneben  der 
Gott  bestehen  konnte. 

Schliesslich     müssen    wir     die     zwei     köstlichen     florentinischen 

kBronzefiguren  (Uffizien,  zweites  Zimmer  der  Bronzen,  dritter 
Schrank)  erwähnen,  welche  den  Bacchus  als  einen  schlanken  Knaben 
darstellen;  das  einemal  hebt  er  mit  beiden  Händen  Trauben  empor; 
das  andermal  schlägt  er  beide  Arme  über  das  nach  links  abwärts- 


1)  Dieses    sehr    colossale    Exemplar    wurde    nebst    dem    gegenüber    aufgecteüten    KeraHe«:    in 
den  farnesischen  Gärten  auf  dem  Palatin  gefunden.   Herakles  ist  ebenso  für  eine  bestimmte 
Untensicht    gearbeitet.      (Vgl.    S.  427,   Anm.)    —    Bei    diesem    Anlass    ist    ein    ebenda    be- 
*  findUcher  guter  Torso  eines  Jägers  oder  Kriegers  nachzuholen. 


Ariadne. 


473 


blickende    Haupt,    mit   einem    Ausdruck   süssester   Melancholie,    den 
wohl  kein  Marmorbild  des  Gottes  so  wiedergiebt. 


In  den  Reliefs,  auch  an  Sarcophagen,  wo  man  den  Gott  in  den 
verschiedensten  Stellungen  und  Handlungen  kennen  lernt,  erscheint  er 
nicht  selten  mit  der  von  ihm  geretteten  Ariadne,  welche,  einmal  in 
seinen  Kreis  aufgenommen,  nur  ihm  ähnlich  gebildet  werden  konnte. 
Selbständige  Statuen  dieser  dionysischen  Ariadne  kommen  wohl 
nicht  vor,  doch  hat  man  einen  der  schönsten  Köpfe  des  Alterthums 
(im  Museo  capitolino,  Zimmer  des  sterbenden  Fechters)  lange  a 
Zeit  so  benannt,  bis  neuere  Forscher  darin  einen  ganz  jugendlichen 
Dionysos  zu  erkennen  glaubten.  Wie  dem  auch  sei,  Augen,  Wangen 
und  Mund  dieses  Werkes  geben  gerade  das  Schönste  und  Süsseste 
der  bacchischen  Bildung,  die  Verlorenheit  in  sanfter  Wonne,  mit  einer 
unbeschreiblichen  Leichtigkeit  wieder.  Im  anstossenden  Faunszimmer  b 
findet  sich  ein  geringerer,  doch  noch  immer  schöner  Kopf,  bei  welchem 
man  ebenfalls  über  die  Benennung  im  Zweifel  bleiben  kann.  (Die 
Augen  zur  Ausfüllung  mit  irgend  einer  andern  Steinart  bestimmt,  wie 
an  vielen  Köpfen.) 

Die    schöne    Statue,    welche    in    den  Uffizien    zu  Florenz  (erster  c 
Gang)  Ariadne  heisst,  hat  einen  antiken  bacchischen,  ihr  aber  nicht 
angehörenden  Kopf;  der  Leib  möchte  vielleicht  der  einer  Muse  gewesen 
sein.    Ihre  fast  verticale  linke  Seite  zeigt  zwei  Ansätze;  sie  muss  sich 
auf  Etwas  gelehnt  haben.     (Beide  Arme  sind  wegzudenken.) 


Von  derjenigen  Stimmung,  welche  in  Dionysos  rein  und  göttlich 
waltet,  gehen  die  einzelnen  Äusserungen  wie  Radien  in  die  Personen 
seines  Gefolges  aus.  Es  ist  die  Naturfreude  auf  allen  ihren  Stufen, 
je  nach  der  edlern  oder  gemeinern  Art  des  Einzelnen.  Man  muss  sich 
diesen  ,,Thiasos"  immer  als  Ganzes,  als  Zug  oder  Scene  denken,  wie 
er  in  mehrern  ganz  trefflichen  Reliefs  und  sehr  vielen  meist  mittel- 
guten oder  geringen  Sarcophagbildern,  auch  auf  vielen  Vasen  sich 
stückweise  darstellt.  Allein  schon  die  Kunst  der  besten  Zeit,  schon 
Meister  wie  Praxiteles  haben  die  einzelnen  Gestalten  dieses  Ganzen 

Urcicerone.  31 


♦»■  "S*'''''*t--t.l»>«(.^l^i^As»-*»iv*»,4>*-.W  .^„K  .„«*^^-,  k,ii,^^^^^>^«,_. 


474 


Antike  Sculptar.    Satyrn. 


als  Episoden  einzeln  gedacht  und  behandelt,  und  von  den  Nachahmun- 
gen gerade  dieser  Werke  sind  die  Galerien  voll. 

Diese  sämmtlichen  Gestalten  haben  leisere  oder  derbere  Anklänge 
an  das  Thierische,  ja  Bestandtheile  von  Thieren  an  sich.  Nur  so 
wurden  sie  geschickt  zu  dem  vollkommen  wohligen  Genuss  und  zu 
dem  endlosen  Muthwillen,  in  welchem  sie  sich  ergehen. 

Die  Hauptschaar  besteht  aus  Satyrn.  (Der  römische  und  italie- 
nische Name  „Faun"  kann  nur  verwirren  und  wird  am  besten  ganz 
beseitigt.)  Ihre  Abzeichen  sind  die  mehr  oder  weniger  bemerkliche 
Stülpnase,  die  etwas  gespitzten  Ohren,  oft  auch  ein  Schwänzchen  und 
zwei  Halsdrüsen;  als  Kleidung  etwa  ein  Thierfell.  Allein  schon  inner- 
halb dieser  Gattung  ist  die  reichste  Abstufung  zu  bemerken. 

Der  edelste,  dem  Dionysos  am  nächsten   stehende,   ist  der  vom 
Flötenspiel  ausruhende,  an  einen  Baumstamm  gelehnte  (bisweilen  be- 
kränzt);  eines  der  anmuthigsten  und  beliebtesten  Motive  der  alten 
Kunst,  wahrscheinlich  Nachbildung  des  praxitelischen  Satyros  pe- 
ariboetos.   Das  beste  römische  Exemplar  im  Museo  capitolino  (Zim- 
b  mer  des  sterbenden  Fechters);  andere  gute:   im  Braccio  nuovo  des 
c  Vaticans  und  in  der  Villa  Borghese  (Zimmer  des  Fauns).   —  Zwei 
d  geringe  römische  Wiederholungen  im  Pal.  Pitti  zu  Florenz  (inneres 
Vestibül  über  der  Haupttreppe)  geben  dem  Periboetos  einen  kleinen 
Plan  bei,  durch  welche  Zuthat  die  Einsamkeit  verloren  geht,  die  für 
den  geistigen  Ausdruck  der  Figur  so  wesentlich  ist.    —  Das   Über- 
wiegen des  Genusslebens  zeigt  sich  beim  Periboetos  nur  in  dem  vollen 
Rund  der  Züge  und  in  dem  etwas  vortretenden  Bauch,  die  Malice 
nur  in  einem  kaum  bemerklichen  Zuge  des  Gesichtes. 

Sein  jüngerer  Bruder  ist  der  Satyrknabe,  welcher  die  Flöte 

eben  ansetzen  oder  weglegen  will   (was  der   Restaurationen  wegen 

selten  zu  entscheiden  ist),  angelehnt  mit  gekreuzten  Beinen.     Gute 

e  Exemplare  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans,  in  der  obern  Galerie  des 

f  Museo  capitolino  und  anderswo;  ein  geringeres  im  runden  Saal  der 

g  Villa  Albani;   keines  wohl  der  Anmuth  des  Originals  entsprechend. 

h  Ein  Fragment  in  der  Galerie  zu  Parma.    (Auch  der  sog.  Amorstorso 

daselbst  ist  wohl  eher  von  satyresker  Bildung.)    Die  Satyrknaben  und 

Kinder,  von  welchen  einzelne  treffliche  Köpfe  vorkommen,  sind  theils 

von  harmlosem,  theils  auch  schon  von  nichtsnutzigem,  spöttischem 


Satyrn. 


475 


Ausdruck;  ein  noch  fast  unschuldiges,  heiter  lachendes  Köpfchen  in 
der  obern  Galerie  des  Museo  capitoliiio;  eine  ganze  Anzahl,  von  ver-  a 
schiedenem  Ausdruck,  im  Museo  Chiaramonti  (Vatican).  b 

Zu  den  edlern  Satyrn  gehört  insgemein  auch  noch  derjenige, 
welcher  den  jungen  Dionysos  auf  der  Schulter  tragen  darf.  Sein 
leichtes  Ausschreiten  und  Lachen,  und  der  schlank-elastische,  wie  von 
Innern  Federkräften  bewegte  Körperbau  unterscheiden  ihn  indess  we- 
sentlich vom  Periboetos  und  nähern  ihn  schon  den  übrigen  Satyrn. 
Meist  stark  restaurirt,  lässt  er  Zweifel  übrig  in  Betreff  der  Haltung 
seiner  Arme  und  der  Gestalt  des  Bacchuskindes.  Treffliches,  aber  sehr 
überarbeitetes  Exemplar  im  Museum  von  Neapel  (zweiter  Gang) ;  an-  c 
dere  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans  und  in  der  Villa  Albani  (Neben-  d 
galerie  rechts).  Das  Kind  ist  wohl  bisweilen  als  blosser  junger  Bacchant 
gedacht.  —  In  der  Stellung  sehr  ähnlich  der  hie  und  da  vorkommende 
Satyr,  welcher  ein  Zicklein  trägt. 

Wie  das  Flötenspiel  dem  idyllischen,  einsam  ausruhenden  Satyr 
zukömmt,  so  die  Klingplatten  und  das  Tamburin  der  bereits 
in  Bewegung  gerathenen  bacchischen  Schaar.  Aus  den  hier  zu  nennen- 
den Gestalten  spricht  bald  ein  heitrer,  bald  ein  wilder  Taumel,  der  als 
zweites,  dämonisches  Leben  den  oft  meisterhaft  gebildeten  Körper 
durchbebt.  Der  heftigste  denkbare  Eifer  des  Musicirens  spricht  sich 
in  der  berühmten  florentinischen  Statue  aus  (Uffizien,  Tri-  e 
buna) ;  die  Bewegung  zeigt  freilich,  dass  in  dieser  Musik  die  Melodie  dem 
in  wildem  Taktiren  vortrefflich  ausgesprochenen  Rhythmus  untergeord- 
net ist.  Der  Kopf  und  die  Arme  sammt  Klingplatten  von  Michelangelo 
restaurirt;  das  Übrige  trotz  der  verletzten  Oberfläche  einer  der  besten 
Satyrstypen.  Ganz  anders  und  wiederum  in  seiner  Art  unvergleich- 
lich der  Klingplattenspieler  der  Villa  B  o  r  g  h  e  s  e  (in  der  Mitte  des  t 
Faunszimmers);  ein  ältlicher  Virtuose  des  Spieles  und  des  Tanzes 
zugleich,  dreht  er  sich  mit  wirbelnder  Schnelligkeit  auf  beiden  Füssen 
herum;  seine  sehnig  ausgetanzten  Glieder  und  seine  originell  hässlichen 
Gesichtszüge  sind  auf  das  Geistvollste  behandelt. 

Wüster  und  wilder  ist  die  Geberde  des  colossalen  Tänzers  der- 
selben Sammlung  (Hauptsaal),  welchem  der  Hersteller  einen  Hirten-  g 
stab  in  die  Hände  gegeben  hat.    Die  Arbeit,  so  weit  sie  alt  ist,  kann 
noch  immer  für  trefflich  gelten,  doch  wirkt  gewisses  Detail,  wie  z.  B. 

31* 


^T 


'•"**'"   W*»--*    ^rf  m  VV  »«^A,^orf^J^BiJ>^*J^,^.J^,  vj   1^1,  1^  **fti    ^   ,«. 


WÜli 


476 


ÄDtike  Scnlptar.    Satyrn. 


die  schwellenden  Bauchadern  u,  dgl.,  in  dem  grossen  Massstab  schon 
a  nicht  mehr  angenehm.     (Ein  dritter  grosser  Satyr,  im  Faunszimmer, 
b  ist  mehr  als  zur  Hälfte  neu.)  —  Zwei  fast  identische  Statuetten,  sprin- 
gende Satyrn  mit  Klingplatten,  sich  stark  zurückbeugend,  im  obern 
Gang  des  Vaticans;  vielleicht  Nachbildungen  eines  berühmten  Origi- 
c  nals.   Ein  eifriger  Bläser  der  Doppelflöte,  kleine  Bronze  in  den  Uffizien, 
zweites  Zimmer  der  Bronzen,  dritter  Schrank. 

Bisweilen  ist  es  mehr  ein  blosses  fröhliches  Aufspringen  als  ein 
eigentlicher  Tanz,  was  der  Bildner  geben  wollte.  So  vielleicht  in  der 
(1  herrlichen  Statuette  des  Museums  von  Neapel  (grosse  Bronzen); 
aufwärts  blickend,  mit  den  Fingern  der  einen  Hand  in  der  Luft  schnal- 
zend schwebt  der  nicht  mehr  junge  Gesell  mit,  ich  möchte  sagen,  hör- 
barem Jubelruf  dahin, 

Sehr  wesentlich  ist  endlich  das  Verhältniss  der  Satyrn  zum  Wein, 
dessen  Werth,  Bereitung  und  Wirkung  an  und  mit  ihnen  hauptsäch- 
lich dargestellt  wird.  (Weinbereitende  Genien  und  Eroten  sind  in 
der  Regel  eine  spätere,  schwächere  Schöpfung.)  Die  Reliefs  geben 
den  betreffenden  Bilderkreis  vollständig;  wir  müssen  uns  auf  die  Sta- 
tuen beschränken. 

Schon  an  der  Traube  hat  der  Satyr  seine  lüsterne  Wonne;  er 

hält  sie  empor  und  besieht  sie  mit  einem  Gemisch  von  Lachen  und 

Begier,  das  die  Kunst  gerne  raffinirt  behandelte.    Ein  Meisterwerk  der 

e  sog.  Fauno  di  rosso  antico,in  dem  Faunszimmer  des  Museo 

capitolino,  spät  und  zur  Hälfte  neu,  aber  in  den  erhaltenen  Theilen 

classisch  für  die  Behandlung  des  Satyrleibes.     Eine  Wiederholung  in 

f  Marmor,  im  grossen   Saal  desselben  Museums;   ein  gutes  Exemplar 

g  wiederum  in  rosso  antico,  im  Gabinetto  delle  Maschere  des  Vaticans. 

Andere  a.  a.  O. 

Wenn  in  diesem  Typus  die  Frechheit  des  ausgewachsenen  Satyrs 
kenntlich  vorherrscht,  so  verknüpfen  andere  Statuen  dieselbe  Handlung 
mit  einer  jugendlichern  und  edlern  Körperbildung  und  einem  harm- 
losem Ausdruck;  es  sind  schlanke,  ausschreitende  Gestalten  in  der 
Art  des  Satyrs  mit  dem  Bacchuskind;  leider  fast  sämmtlich  stark  re- 
staurirt,  doch  so  beschaffen,  dass  man  ein  ausgezeichnetes  Urbild  ver- 
muthen  darf,  in  welchem  ein  eigenthümliches  Problem  elastisch- 
jugendlicher Form  und  Bewegung  schön  muss  gelöst  gewesen  sein. 


Satyrn. 


477 


Drei  Exemplare  von  ungleichem  Werthe  im  zweiten  Gang  des  Mu-  a 
seums  von  Neapel;  eines  von  parischem  Marmor,  mit  echtem,  edlem 
Kopf,  aber  sonst  von  schwankender  Behandlung,  in  den  Uffizien  zu  b 
Florenz  (erster  Gang.)  —  Hieher  gehören  auch  noch  folgende  Werke. 
Auffallend  ideal,  und  desshalb  vereinzelt  stehend:   der  schöne  Satyr  c 
mit  dem  Füllhorn,  im  Hauptsaal  der  Villa  Ludovisi.  —  An  dem  vor- 
geblichen ,, Bacchus  mit  Faun"  im  zweiten  Gang  der  Uffizien  zu  Flo-  d 
renz  ist  nichts  als  der  Torso  der  erstem  Figur  alt;  von  guter  Arbeit, 
vermuthlich  einer  der  edlern  jungen  Satyrn.     Der  daneben  kauernde 
kleine  ,,Faun"  sammt  allem  Übrigen  ist  neu.  —  Ein  sehr  schöner  Sa- 
tyrstorso  desselben   Ranges,   doch   mehr  ausgewachsen,   nach   rechts  e 
lehnend,  ebenda  (Halle  des  Hermaphr.;  nicht  restaurirt,  aber  geglättet). 
—  Im  Palast  Pitti  (äusseres  Vestibül  über  der  Haupttreppe)  zwei  Sa-  f 
tyrn,    welche    ihre   Panther   mit   emporgehaltenen   Trauben    necken, 
ein  öfter  vorkommendes,  aber  bisweilen  nur  vom  Restaurator  herrüh- 
rendes Motiv. 

Einzelne  Satyrsköpfe,  ganz  in  Weinlaub  eingehüllt,  drücken 
das  lüsterne  Lauern  vortrefflich  aus;  die  Behandlung  der  Augen  und 
das  Zähnefletschen  nähern  sie  der  Maske.     Ein  Beispiel  im  Museo  g 
Chiaramonti  des  Vaticans;  Haar,  Bart  und  Schnurrbart  bestehen  aus 
lauter  Trauben  und  Weinlaub. 

Die  Frechheit,  welche  der  genossene  Wein  erregt,   giebt  sich  in 
zwei  nur  einfach  als  Brunnenfiguren  ausgeführten,  aber  gut  gedachten 
sitzenden  Satyrn  mit  Schläuchen  kund.    (Im  Braccio  nuovo  h 
des  Vaticans.)    Schon  das  Ausstrecken  ihrer  (theils  alten,  theils  richtig 
restaurirten)  Beine  ist  so  sprechend,  dass  diese  Theile  allein  nur  zu  - 
weinfrechen  Satyrn  passen  konnten.  —  Zu  den  frechen  und  boshaften 
Satyrn  gehört,  beiläufig  gesagt,  auch  der  kleine  Torso  im  Museum  von  « 
Neapel  (Halle  des  Jupiter),  welcher  einst  aus  spitzem  Munde  Wasser 
spritzte. 

Eine  andere,  vorzüglich  gut  repräsentirte  Schattirung  ist  die  Wein- 
seligkeit. Nirgends  wird  dieser  Seelenzustand  köstlicher  dargestellt,  als 
in  dem  auf  dem  Schlauch  liegenden  bärtigen  Satyr, k 
welcher  mit  der  aufgehobenen  Rechten  der  ganzen  Welt  ein  Schnipp- 
chen schlägt.  (Museum  von  Neapel,  grosse  Bronzen.)  Das  eigen- 
thümliche  elastische  Leben  des  Satyrleibes  ist  in  der  bewegten  Linie, 


i^,y.i^V,#r  J[  j,   J.^    ^-^M^-fcfcSj 


BT 


*^^ 


478 


Antike  Sculptnr.    Satyrn.    Marsyas. 


die  von  der  aufgestützten  linken  Schulter  nach  dem  rechten  Schenkel 
a  geht,  sehr  energisch  ausgesprochen.  —  Womit  ein  guter,  aber  stark 
überarbeiteter   Satyr  im  Vatican   (Galeria  delle   Statue)    zu  verglei- 
chen ist. 

Arme,  alte,  verstossene  Satyrn  mit  mürrischem  Ausdruck  müssen 

inzwischen  Schläuche  halten  und  schleppen.    (Meist  Brunnenfiguren.) 

b  Ein  solcher  im  runden  Saal  der  Villa  Albani.    Als  Träger  eines  "Vas- 

c  serbeckens  ihrer  drei  dieser  Art,  im  obern  Gang  des  Vaticans.    Auch 

d  ein  jugendlicher,  brutal-fröhlicher  Schlauchträger  kommt  vor. 

Endlich  überwältigt  der  Schlaf  den  trunkenen  Satyr.  Ein  Werk, 
das  dem  berühmten  ,,barberinischen  Faun"  in  der  Münchner  Gl/pto- 
thek  gleich  käme,  besitzt  Italien  in  dieser  Gattung  nicht.  Der  bror.zene 
des  Museums  von  Neapel  (grosse  Bronzen)  ist  bei  seinen  stf.rken 
Restaurationen  und  der  etwas  Conventionellen  Behandlung  des  Ur- 
sprünglichen nur  durch  das  Motiv  interessant.  Er  schläft  sitzend  auf 
einem  Felsstück,  den  rechten  Arm  über  das  Haupt  gelegt,  den  liiken 
hängen  lassend,  als  wäre  ihm  eben  das  Trinkgefäss  entglitten. 

Ein  bestimmter  Satyr,  Marsyas,  hat  durch  sein  bekanntes  Schick- 
sal der  antiken  Kunst  Anlass  gegeben  zu  einem  der  wenigen  Motive 
körperlicher  Qual,  welche  sie  behandelt  hat.  Vielleicht  wäre  auch 
dieses  unterblieben,  wenn  nicht  gerade  der  Satyrsleib  mit  seiner  elasti- 
schen Musculatur  in  der  Stellung  eines  an  den  Armen  Aufgehäigten 
eine  besonders  interessante  Aufgabe  dargeboten  hätte.  Es  gat  eine 
namhafte  Gruppe  im  Alterthum,  welche  Apoll,  einen  oder  zwei  Skla- 
ven und  den  unglücklichen  Satyr  dargestellt  haben  muss;  davor,  sind 
e  die  jetzt  vorhandenen  Marsyasfiguren,  u.  a.  eine  in  der  Villa  Albani 
t  (im  Kaffeehaus),  zwei  in  den  Uffizien  zu  Florenz  (Anfang  des  zv/eiten 
Ganges)  Einzelwiederholungen,  die  freilich  mit  ihrer  geringen  Aus- 
führung keinen  Begriff  geben  von  dem  grossen  Raffinement,  welches 
wir  im  Urbilde  voraussetzen  dürfen.  —  Den  bereits  Geschundenen 
darzustellen  war  erst  die  Sache  der  neuern  Kunst,  die  in  ihrem  S. 
Bartholomäus  durch  das  höchstmögliche  Leiden  Eindruck  machen 
g  wollte.  (Statue  des  Marco  Agrato  im  Chorumgang  des  Domes  von 
Mailand.)  Bei  Michelangelo  (im  jüngsten  Gericht  der  Sistina)  zeigt 
der  Heilige  seine  abgezogene  Haut  zwar  auch  vor,  allein  er  hat  zu- 
gleich eine  andere  am  Leibe. 


,?SJ^tKtes: 


Leidender  Satyr.    Silen. 


479 


Einen  andern  leidenden  Satyr  glauben  wir  in  dem  vorzüglichen 
Colossaltorso  der  U  f  f  i  z  i  e  n  (Halle  des  Hermaphr.)  zu  erken-  a 
nen.  Nach  einem  Ansatz  des  linken  Schenkels  zu  urtheilen,  muss  er  ge- 
sessen oder  gelehnt  haben,  während  doch  die  Formen  des  Leibes  die 
grösste  Erregung  zeigen.  Welcher  Art  sein  Leiden  war,  ob  ihm  ein 
Dorn  ausgezogen  wurde  u.  dgl.,  ist  schwer  zu  errathen.  Als  derber 
und  wilder  Satyr  giebt  er  sich  durch  die  herculische  Bildung  von 
Brust  und  Rücken,  durch  den  auswärts  geschobenen  Bauch  mit  kräf- 
tigen Adern  zu  erkennen. 

Einer  der  alten  Satyrn  (ja  eine  ganze  Gattung  derselben)  führt 
den  Namen  Silen.  Er  könnte  der  wohlmeinende  Vater  der  ganzen 
Schaar  sein,  allein  sein  unverbesserlicher  Weindurst  macht  ihm  zu  oft 
die  stützende  Hülfe  der  Jüngern  nöthig  und  bringt  ihn  um  alle  Ach- 
tung. Der  alte,  fette,  kahle  Buffone  kann  sich  nicht  einmal  immer 
auf  seinem  Eselchen  halten,  sondern  muss  auf  einem  Karren  mit- 
gefahren werden;  dafür  wird  er  geneckt  ohne  Erbarmen.  Diese  seine 
Privatleiden  erfährt  man  jedoch  fast  nur  aus  Vasen  und  Reliefs;  in 
den  Statuen  macht  er  etwas  bessere  Figur.  Die  Haarlöckchen,  die 
über  seinen  ganzen  Leib  verbreitet  sind,  die  Behandlung  der  Extre- 
mitäten, ja  die  fast  angenehme  Hässlichkeit  seines  Kopfes  selbst  geben 
ihm  bisweilen  etwas  sehr  Distinguirtes.  So  wird  man  z.  B.  dem  Silen  b 
der  Villa  Albani  (im  sog.  Kaffeehaus)  schon  seiner  niedlich  gestellten 
Füsse  wegen  zugestehen,  dass  er  eigentlich  zum  Geschlecht  der  feinern 
Schwelger  gehöre.  (Ein  anderes,  sehr  gutes,  aber  weniger  erhaltenes  c 
Exemplar  in  der  Sala  delle  Muse  des  Vaticans.)  —  Im  Ganzen  aber 
sind  Silen  und  sein  Schlauch  gar  zu  unzertrennlich,  als  dass  dem 
Alten  gründlich  zu  helfen  wäre.  Er  reitet  darauf  und  hält  das  weiche 
Gefäss  an  zwei  Zipfeln  (Statuette  im  Museum  von  Neapel,  grosse  d 
Bronzen),  während  dessen  Mündung,  wie  in  der  Regel,  als  Brunnen- 
öffnung dienen  muss;  er  liebkost  den  theuren  Behälter  (Statuette 
ebenda),  gerade  wie  er  es  sonst  mit  dem  kleinen  Panther  des  Bacchus 
macht  (Statuette  ebenda).  Eine  kleine  Marmorfigur  im  obern  Gang  e 
des  Vaticans  stellt  den  komischen  Moment  dar,  in  welchem  er  den 
Schlauch  und  das  Trinkhorn  beim  besten  Willen  nicht  mehr  in  Ver- 
bindung bringen  kann. 


lau.   ,«»v.   -*,  Vor-«*«  ."<'  1%  *j«    ■*  ■*  ' 


-V-'»«»  i^»S'^-'««.J-s'«»' **«>»«*♦»♦••  r«»  «t-j-n;-»  '+»  ■*.  V    ^i«. 


480 


Antike  Scolptar.    Silen.    Fan. 


a  Die  Folgen  zeigen  sich  in  einer  kleinen  Statue  des  Museums  von 
Neapel  (zweiter  Gang);  Silen,  wahrscheinlich  schrecklich  gefoppt, 
bittet  knieend  und  mit  gefalteten  Händen  um  Gnade.  (Dasselbe  Motiv 
nicht  selten  auf  Vasen.)  —  Als  Brunnenfigur  drückt  er  auch  wohl 
i>  sitzend  mit  aller  Kraft  auf  einen  Traubenbüschel,  in  welchem  die 
Mündung  angebracht  ist.     (Uffizien,  Halle  der  Inschriften.) 

Bisweilen  aber  offenbart  Silen  eine  höhere  Natur;  er  ist  der  E  r  - 
zieher  undHüter  desBacchus  während  der  bedrohten  Ju- 
gend desselben  gewesen.     Mit  dem  göttlichen  Kinde  auf  den  Armen, 
freundlich  ihm  zulachend,  erscheint  er  wieder  als  schlanker  bärtiger 
Satyr   in   beginnendem   Greisenalter,    von    gemässigter   herakleischer 
Bildung.   Von  seinen  Zügen  sind  alle  wesentlichen  Elemente,  aber  sehr 
c  veredelt  beibehalten.   Eine  gute  Statue  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans; 
d  Köpfe  im  Museum  von  Neapel  (erster  Gang)  und  in  der  obern  Galerie 
e  des  Museo  capitolino;  —  bei  weitem  die  beste  Statue  dieses  Typus,  in 
der  Detaildurchführung  als  classisch  geltend,  ist  mit  der  alten  borghe- 
sischen  Sammlung  in  den  Louvre  übergegangen. 

Eine  bedeutende   Stufe  tiefer  nach  der  Thierwelt  zu  finden  wir 
die  P  a  n  e.    Das  einsame  halbgöttliche,  halbthierische  Waldwesen  hat 
sich,  den  vorhandenen  Kunstwerken  nach,  längst  in  den  Kreis  der 
dionysischen  Genossen  begeben  und  sich  dort  zu  einem  ganzen  Ge- 
schlecht vervielfacht.      Als  einzelne  Figur  ist  er  fast  nur  in  unter- 
geordneten Werken  decorativer  Art  auf  unsere  Zeit  gekommen,  an 
welchen  man  immerhin  den  meisterhaft  gedachten  Übergang  aus  den 
Ziegenfüssen  in  den  satyrhaften  Menschenleib  vmd  die  geistvolle  Ver- 
mischung menschlicher  und  thierischer  Züge  im  Gesicht  studiren  kann. 
i  (Ein  seitwärts  ins  Affenmässige  gehender  Ausdruck  in  einem  gut  gear- 
beiteten Köpfchen  des  Vaticans,  Büstenzimmer.)  — Zwei  grosse  Pane  als 
g  Gesimsträger,  im  Hof  des  Museo  capitolino;  eine  sehr  chargirte  Pans- 
h  maske  als  Brunnenöffnung  ebenda,  im  Zimmer  des  Fauns.  —  Häufig 
ein  kleiner  Pan  im  Mantel  mit  der  vielröhrigen  Hirtenflöte  in  der  Hand, 
i  von  drolligem   Ausdruck  des  Wartens  und  Zusehens.     (In  dem  ge- 
k  nannten  Hof;  auch  im  Garten  der  Villa  Albani;  derjenige  im  Garten 
i  der  Villa  Ludovisi  ist  ein  Vv'eik  des   XVI.  Jahrhunderts,  aber  nicht 
von  Michel  Angelo,  sondern  von  einem  affectirten  Nachahmer  des- 
selben.) 


Fan.  Gentanren. 


481 


Von   Gruppen  ist  die  des  P  a  n   und   O  1  y  m  p  o  s  in   leidlichen 
Nachahmungen  eines  ausgezeichneten  Werkes  vorhanden.    Der  Con- 
trast  in  Stellung  und  Bildung  zwischen  dem  Waldgott  und  dem  ganz 
jungen  Satyr,  welcher  bei  ihm  die  Musik  lernt,  hatte  für  die  Kunst 
denselben  ungemeinen  Reiz,  welchen  sie  auf  einer  andern  Stufe  in 
der  Zusammenstellung  von  Centauren  als  Lehrern  mit  jungen  Helden 
wiederfand.    (Die  besten  Exemplare  besitzt  Florenz:  eines,  unsichtbar,  a 
in  dem  Magazin  der  Uffizien;  eines  im  ersten  Gang  der  Uffizien,  mit 
dem   echten   Kopf  des   Olympos  von  angenehm   leichtfertigem   Aus- 
druck;   ein  Olympos  ohne  den  Pan,   im   zweiten  Gang  der  Uffizien,  b 
roh,  aber  gut  erhalten;   —  ein  anderes  gutes  Exemplar  im  geheimen  c 
Cabinet  des  Museums  von  Neapel;   —  geringere  in  der  Villa  Ludovisi  d 
zu  Rom,  Vorsaal;   —  und,  zur  Hälfte  neu,  in  der  Villa  Albani,  unter-  e 
halb  des  Kaffehauses,     Andere  a.  a.  O.) 

Von  einem  sehr  artigen  Motiv:  Pan,  der  einem  Satyr  einen  Dorn  f 
aus  dem  Fusse  zieht,  ist  u.  a.  ein  kleines  und  bedeutend  ergänztes 
Exemplar  im  obern  Gange  des  Vaticans  erhalten. 

Pan   in    anderer   Gesellschaft   ist   bisweilen    von   derjenigen    Art, 
welche  in  den  italienischen  Sammlungen  nicht  leicht  aufgestellt  wird. 
Ein  Hermaphrodit,  den  zudringlichen  Pan  abwehrend,  kleine  Gruppe,  g 
in  den  Uffizien  (Halle  des  Hermaphroditen);  hier  ist  der  ganze  Pan 
neu,  angeblich  von  Benv.  Cellini. 

Nicht  dem  Ursprung,  wohl  aber  der  spätem  kunstüblichen  Form 
zu  Liebe  müssen  wir  noch  die  Centauren  hierher  rechnen.  Auch 
sie,  ehemalige  Jäger  und  wilde  Entführer,  gerathen  in  den  dionysi- 
schen Kreis  hinein,  dem  sie  durch  ihre  Weinlust  von  jeher  nahe  ge- 
standen. Bisweilen  ziehen  sie  auf  den  Reliefs  den  Wagen  des  Gottes 
an  der  Stelle  der  Panther;  auf  ihrem  Rücken  etwa  ein  kleiner  bacchi- 
scher  Genius,  der  sie  zügelt  oder  mit  ihnen  spricht.  Dieser  bacchi- 
schen  Natur  gemäss  tragen  auch  die  beiden  (nächst  einem  Werk  des 
Louvre)  ausgezeichnetsten  Centaurenstatuen  (von  Aristeas  und  Papias  h 
aus Aphrodisias,  im  grossen  Saale  des  Museo  capitolino)  auf  ihrem 
Pferdeleib  den  Oberkörper  eines  altern  und  eines  Jüngern  Satyrs^). 

' )   Der   borghesische   Centaur  im   Louvre,   auch   derjenige   im  Thiersaal  des  Vaticans  hat  einen  * 
Amorin  auf   dem   Rücken,   der  ihm  beide   Hände  gefesselt  hat.     Nach   vorhandenen   Spuren 
war  diess  Motiv  auch  an  beiden  capitolinischen  wiederholt.     [Br.] 


M>  if,  «i^-v-L^i  w^^^  ^*j*v.#<t> J-.  ^  ty  M^.», 


.  .»-.j»i^>..  ,i,. 


Hl 


482 


Antike  Scnlptur.    Bacchantinnen  etc. 


Die  Arbeit,  obwohl  erst  aus  hadrianischer  Zeit,  ist  vorzüglich,  und 
die  Übergänge  aus  den  menschlichen  in  die  thierischen  Formen  sind 
mit  einem  Lebensgefühl  gegeben,  welches  an  die  Wirklichkeit  solcher 
Wesen  glauben  macht.  (Die  Ähnlichkeit  des  altern  mit  den  Gesichts- 
zügen des  Laocoon  bleibt  immer  auffallend;  jedenfalls  sollte  ein  Ge- 
gensatz des  Alters  und  der  Jugend,  der  Heiterkeit  und  des  Trübsinns 
dargestellt  werden.) 

Es  versteht  sich  übrigens,  dass  die  Marmorstatue  nicht  die  geeig- 
nete Form  war,  um  den  Centauren  in  voller  bacchantischer  Bewegung 
zu  zeigen.  Eine  Anzahl  wunderbarer  kleiner  pompe janischer  Gemälde 
geben  uns  erst  einen  vollen  Begriff  von  Dem,  was  man  Satyrn  und 
Centauren  zutraute. 


Von  den  weiblichen  Gestalten  des  dionysischen  Kreises  sind  viele 
in  Gemälden  und  Reliefs,  aber  nur  wenige  in  Statuen  nachweisbar. 
Schon  die  Bildung  der  Ariadne  als  Statue  ist,  wie  wir  sahen,  zweifel- 

a  haft;  ob  sie  oder  eine  blosse  bacchische  Tänzerin  in  einer 
wunderschön  bewegten  und  bekleideten  vaticanischen  Figur 
(Gabinetto  delle  Maschere)  dargestellt  sei,  lassen  wir  dahingestellt;  das 
mit  Epheu  bekränzte  Haupt,  von  dionysischer  Süssigkeit,  ist  alt  und 

b  echt.  —  Eine  junge  Satyrin  in  der  Villa  Albani  (Nebengalerie  rechts) 
zeigt  in  ihrem  zwar  aufgesetzten,  aber  doch  wohl  echten  Köpfchen 
die  Merkmale  ihrer  Gattung,  auch  das  Stumpfnäschen,  in  das  Mäd- 
chenhafte übersetzt;  ihr  schwebender  Tanzschritt  veranlasste,  vielleicht 
mit  Recht,  eine  Restauration  der  Hände  mit  Klingplatten.  —  Eine  ruhig 

c  stehende,  mit  einem  Thierfell  über  dem  Gewände,  in  der  untern  Halle 
des  Conservatorenpalastes  auf  dem  Capitol ;  leider  ist  an  dieser  schön  ge- 

d  dachten  Statue  der  Kopf  zweifelhaft.  —  Eine  hochausschreitende 
schlanke  Bacchantin  mit  einem  Luchs,  unter  Lebensgrösse,  an  Kopf 
und  Armen  kläglich  restaurirt,  zeigt  noch  ein  schönes  Motiv  in  geringer 

e  römischer  Ausführung.  (Uffizien,  Verbindungsgang.)  —  Eine  hübsche 
nackte  Bacchantin  mit  Thierfell,  im  Dogenpalast  zu  Venedig  (Corri- 
dojo),  trägt  jetzt  einen  Dianenkopf.  —  Endlich  giebt  es  Sileninnen. 


Ägaöi.ii»,: 


Der  Thiasos.    Meergottheiten. 


483 


Eine  in  ihrer  Art  vortreffliche  auf  der  Erde  sitzende  Alte  (in  der  obern  a 
Galerie  des  Museo  capitolino)  offenbart  ein  Verhältnis  zur  Amphora, 
welches  wenigstens  eben  so  innig  ist,  als  das  des  Silenus  zum  Schlauch; 
ihr  mageres  Haupt  ist  vergnüglich  aufwärts  gerichtet;  ihr  offener 
Mund  und  ihr  Hals  sind  lauter  Schluck  und  Druck.  —  In  der  Villa 
Albani  sogar  eine  Panisca;  Centaur innen  kommen  wenigstens  in  den 
pompejanischen  Gemälden  vor. 


Alle  diese  Gestalten  sind  nun  immer  nur  Bruchstücke  eines  grossen 
Ganzen,  welches  die  Phantasie  aus  ihnen  und  aus  den  Reliefs  und  Ge- 
mälden, auch  wohl  aus  den  Schilderungen  der  Dichter  mühsam  wieder 
zusammensetzen  muss.  Allerdings  so  wie  Skopas  und  Praxiteles  den 
bacchischen  Zug  im  Geiste  an  sich  vorbeigehen  sahen,  so  wird  ihn 
weder  die  Combination  des  Künstlers,  noch  die  des  Forschers  je  wieder 
herstellen. 

Noch  die  spätere  griechische  Kunst  wurde  nicht  müde,  diesen 
Gestaltenkreis  mit  neuen  Scenen  und  Motiven  zu  bereichern.  Als  die 
Griechen  den  Orient  erobert  hatten,  symbolisirten  sie  ihre  eigene  That, 
indem  sie  Dionysos  als  den  Eroberer  von  Indien  und  seinen  Zug  als 
einen  Triumphzug  darstellten,  in  welchem  gefangene  Könige  des 
Ostens,  Wagen  voller  Schätze  und  asiatische  Zugthiere  mit  abgebildet 
wurden.  Unermüdlich  wurden  bacchische  Opfer,  Gastmähler,  Feste, 
Tänze  u.  s.  w.  von  Neuem  variirt,  und  die  ganze  Decoration  von 
Häusern  und  Geräthen  vollkommen  mit  bacchischen  Gegenständen  und 
Sinnbildern  durchdrungen. 


Nun  die  merkwürdige  Parallele  zum  bacchischen  Gestaltenkreis. 

Schon  bei  Anlass  des  Poseidon  wurde  angedeutet,  wie  die  alte 
Kunst  das  Element  der  Fluth  von  seiner  trüben,  zornigen  Seite  aus 
symbolisirte.  Allerdings  bildet  sich  später  der  Zug  der  Meergott- 
heiten nach  dem  Vorbilde  des  Bacchuszuges  zu  einem  rauschenden, 
selbst  theilweise  fröhlichen  Ganzen  um  (v/ahrscheinlich  in  Folge  einer 


l»,i»,J  i^  -,  .<, 


«-»•r-'V»"»;^^»«.**  ^4«> ■»>•»«- •Si,'^  <)>nv.tt>.iw'<> 


■r- 


484 


Antike  Sculptur.    Tritonen. 


berühmten  Arbeit  des  Skopas),  und  die  Tritonen  entlehnen  von  den 
Satyrn  die  Ohren,  von  den  Centauren  die  pferdeartigen  Vorderfüsse, 
welche  ihrem  Oberleib  erst  die  rechte  Basis  im  Verhältniss  zum  Fisch- 
schwanze  geben.  Allein  der  Triton,  selbst  der  ganz  jugendliche,  be- 
hält doch  meist  einen  trüb-leidenschaftlichen  Ausdruck,  der  sich  in 
den  tiefliegenden  Augen,  den  eigenthümlich  geschärften  und  geboge- 
nen Augenbrauen,  dem  schönen  aber  gewaltsam  zuckenden  Mund  und 

a  in  der  gefurchten  Stirn  offenbart.  So  der  grossartige  vaticanische 

bTritonstorso  (Galeria  delle  Statue).  Ganz  in  der  Nähe  (Saal  der 
Thiere)  steht  die  wohlerhaltene  Gruppe  eines  Tritons,  welcher  eine 
Nereide  entführt,  mit  Amorinen  auf  dem  Schweif,  vortrefflich  erfun- 
den, aber  von  sehr  ungleicher  Ausführung,  Hier  ist  das  Profil  des 
Halses  zu  einer  Art  von  Halsflosse  geschärft,  welche  den  Ausdruck 
von  Leidenschaft  und  Anstrengung  sichtbar  steigert.  (Wahrscheinlich 
eine  Brunnengruppe.) 

Die  schön  belebte  Jünglingsgestalt  auf  dem  Delphin  reitend,  im 

c  ägyptischen  Zimmer  der  Villa  Borghese,  zeigt  allerdings  in  Kopf  und 
Geberde  den  Ausdruck  der  Fröhlichkeit  und  Elasticität.  Allein  es  ist 
in  dieser  durchaus  menschlichen  Figur  kein  Triton  dargestellt,  sondern 
wahrscheinlich  P  a  1  ä  m  o  n  ,  und  zudem  ist  der  Kopf  (vom  Satyrs- 
typus) der  Statue  fremd.  Als  eine  der  erfreulichsten  Brunnenstatuen 
—  das  Wasser  kam  aus  dem  Mund  des  Delphins  —  verdient  sie  noch 
eine  besondere  Beachtung. 

Nicht  immer  aber  wird  in  den  Tritonen  das  Jugendliche  mit  dem 
schönen  und  herben  Trübsinn  dargestellt;  es  giebt  auch  alte,  bärtige, 
mit  lachendem  oder  komisch-grämlichem  Ausdruck,  Silene  der  Fluth, 

d  wenn  man  will.  Solche  sind  verewigt  in  dem  Mosaik  der  Sala  ro- 
tonda  des  Vaticans  (aus  den  Thermen  von  Otricoli).  Die  von  allem 
Wetter  gebräunten  Seeleute,  meist  mit  hübschen  jungen  Nereidenweib- 
chen hinter  sich  auf  dem  geschwungenen  Schweif,  haben  es  hier  mit 
allerlei  Meerungeheuern  zu  thun,  als  da  sind  Seepferde,  Seegreifen, 
Seeböcke,  Seestiere,  Seedrachen  u.dgl.;  diese  Meerwunder  werden 
geneckt,  gefüttert  und  gezäumt.  Es  sind  Scenen  aus  dem  Stillleben 
der  persönlich  gewordenen  Seewelt,  hier  von  drolliger  Art. 

An  den  Sarcophagen  haben  dagegen  auch  die  alten  Tritonen  in 
der  Regel  den  ernsten  und  trüben  Ausdruck. 


Nereiden.    Der  Hermaphrodit. 


485 


Bei  den  nackten  oder  beinahe  nackten  Nereiden  versteht  es 
sich  von  selbst,  dass  die  Kunst  sie  nur  heiter  mädchenhaft  bilden 
durfte.  Bedeutende  Statuen  sind  kaum  vorhanden,  wohl  aber  reizend 
gedachte  (meist  gering  ausgeführte)  Statuetten,  welche  diese  zierlichen 
Wesen  auf  Seewiddern  reitend  darstellen  (Beispiele  a.  m.  Orten).  Das 
einzige  bedeutendere  Marmorwerk,  die  florentinische  Nereide  a 
auf  dem  Seepferd  (zweiter  Gang  der  Uffizien)  lässt  trotz  Verstümmlung 
und  Restauration  ein  so  reizendes  Motiv  erkennen,  dass  man  in  dieser 
römischen  Brunnenfigur  die  Nachahmung  einer  Gestalt  des  Skopas  zu 
finden  glaubt. 


Als  die  antike  Kunst,  wahrscheinlich  in  der  praxitelischen  Zeit, 
nach  immer  wirksamem  Ausdrucksweisen  des  Schönen  suchte,  gerieth 
sie  auf  die  Schöpfung  des  Hermaphroditen,  wobei  ihr  ein  schon 
vorhandener  Mythus  entgegen  kam.  Es  war  aber  bei  dieser  Aufgabe 
kein  rechtes  Gedeihen.  Man  konnte  den  Dionysos  der  weichen  Weib- 
lichkeit, die  Amazone  der  männlichen  Heldengestalt  sehr  nähern  und 
dabei  den  strengsten  Gesetzen  der  Schönheit  in  vollstem  Mass  genügen; 
es  fand  dabei  eine  echte  Durchdringung  dessen  statt,  was  am  Manne 
und  was  am  Weibe  schön  dargestellt  werden  kann.  Hier  dagegen  wer- 
den auch  die  äusserlichen  Kennzeichen  der  Geschlechter  in  Einer 
Gestalt  vereinigt,  als  ob  die  Schönheit  in  diesen  läge  und  sich  nun 
doppelt  mächtig  aussprechen  müsste.  Man  vergass  dabei,  dass  alles 
Monströse  schon  a  priori  die  geniessende  Stimmung  zerstört,  indem  es 
wenn  auch  nicht  den  Abscheu,  so  doch  Unruhe  und  Neugier  an  deren 
Stelle  setzt;  dass  ferner  das  Schöne  nur  an  bestimmten  Charakteren 
und  nur  im  Verhältniss  zu  denselben  vorhanden  und  denkbar  ist  und 
bei  willkürlichen  Mischungen  zerfliesst^).  Es  geschah  nun  zwar  das 
Mögliche,  um  über  die  Formen  dieses  Wesens  den  grössten  sinnlichen 


')  Centauren,  Tritonen,  Seepferde  etc.  sind  nicht  monströs,  nicht  nur  weil  der  mythische 
Glaube  die  Evidenz  ersetzt  und  die  Spannung  beseitigt  —  was  sich  auch  beim  Herm- 
aphroditen behaupten  liesse  —  sondern  weil  sie  keinen  Anspruch  darauf  machen,  streng 
organische  Wesen  zu  sein.  Sie  sind  symbolisch  kühn  gemischt,  aber  nicht  aus  wider- 
sprechenden Charakteren  in  Eins  geschmolzen. 


•4.,-,>-».  »v-s*.,. 


.  w '-- .  ii^a»<A»-w>.,.i«-^  ^;W»^.«ti:<«^:^'ti»  >>..'<Mt:.4'W^W--«»->^>" 


■r- 


486 


Antike  Scolptar.    Antinoas. 


Reiz  auszugiessen ;  man  erfand  auch  (z.  B.  auf  Reliefs)  für  den  Her- 
maphroditen besondere  Situationen,  indem  man  ihn  mit  allerlei  Leuten 
aus  dem  Gefolge  des  Dionysos  zusammenbrachte,  allein  er  blieb  ein 
Ding  aus  einer  fremden,   abstracten  Welt.     Da  man  keine  bezeich- 
nende Action  von  ihm  wusste,  so  Hess  die  Kunst  ihn  am  liebsten 
schlafen,  ja  sie  erhob  ihn  zum  Charakterbild  des  unruhigen  Schlafes 
einer  schön  gewendeten  jugendlichen  Gestalt.    So  die  vorzügliche  Sta- 
a  tue  im  Louvre,  von  welcher  die  beiden  in  der  Villa  Borghese  und  in 
b  den  Uffizien  (in  den  danach  benannten  Räumen)  Wiederholungen  sind; 
die  letztgenannte  die  bessere,  aber  schlechter  erhaltene.     (Ein  Torso 
c  im  Museo  Chiaramonti  des  Vaticans  ist  der  eines  laufenden,  wahr- 
scheinlich vor  Pan  oder  einem  Satyr  fliehenden  Hermaphroditen.) 


Der  letzte  Gott,  welcher  eine  höhere  Kunstform  erhielt,  war  der 
vergötterte  Liebling  des  Kaisers  Hadrian,  A  n  t  i  n  o  u  s.  Es  handelte 
sich  darum,  die  Bildnissähnlichkeit  des  für  Hadrian  freiwillig  (im  Jahr 
130  n.  Chr.)  gestorbenen  Jünglings  im  Wesentlichen  festzuhalten  und 
zugleich  sie  in  eine  ideale  Höhe  zu  heben.  Züge  und  Gestalt  eigneten 
sich  mehr  dazu  als  der  geistige  Ausdruck;  es  ist  eine  volle,  reiche 
Bildung,  breitwölbig  in  Stirn  und  Brust,  mit  üppigem  Munde  und 
Nacken.  Der  Ausdruck  aber,  so  schön  er  oft  in  Augen  und  Mund 
zu  jugendlicher  Trauer  verklärt  ist,  behält  auch  bisweilen  etwas  Böses 
und  fast  Grausames. 

Ausser  den  zahlreichen  Büsten,  welche  den  Antinous  insgemein 
d  in  der  Art  eines  jungen  Heros  darstellen  (z.  B.  in  der  Sala  rotonda 
des  Vaticans),  giebt  es  eine  Anzahl  von  Statuen,  in  welchen  er  ent- 
weder schlechthin  als  segenverleihender  Genius,  bisweilen  mit  dem 
Füllhorn,  oder  in  der  Gestalt  einer  bestimmten  Gottheit  personificirt 
e  ist.    Dahin  gehört  der  Antinous  als  Vertumnus  im  Braccio  nuovo,  und 
f  als  grosse  Halbfigur  in  Relief  in  der  Villa  Albani,  der  Antinous  als 
g  Osiris  im  ägyptischen  Museum  des  Vaticans,  vor  allen  der  pracht- 
h  volle  Antinous  als  Bacchus  im  Museum  des  Laterans  (ehemals  im 
Pal.  B  r  a  s  c  h  i),  eine  der  eieganlesten  Colossalstatucn  der  spätem 
i  Zeit;  von  den  attributlosen  heroischen  Statuen  ist  die  des  Museums 
von  Neapel  (Halle  der  Flora)  unstreitig  eine  der  schönsten. 


Fremde  Göttertypen. 


487 


Die  schöne  capitolinische  Statue  (Zimmer  des  sterbenden  * 
Fechters)  führt  wohl  mit  Unrecht  den  Namen  des  Antinous.  Kopf  und 
Körper  sind  am  ehesten  die  des  Hermes  oder  eines  Athleten,  nur  nicht 
von  so  schlanker,  eher  gedrungener  Form  als  gewöhnlich;  von  der 
prachtvollen  Üppigkeit  des  Antinous  ist  dieses  Werk  jedenfalls  weit 
entfernt  1).  Der  sog.  Antinous  des  Vaticans  (Belvedere)  ist,  wie  oben 
bemerkt,  ein  Hermes. 


In  den  spätem  Kaiserzeiten,  als  ein  düsterer  Aberglaube  die  Rö- 
mer auf  den  Cultus  des  Fremden  als  solchen  hintrieb,  büssten  meh- 
rere Gottheiten  ihre  frühere  schöne  Kunstform  ein.  So  zunächst  Isis. 
In  einer  colossalen  Büste  des  Vaticans  (Museo  Chiaramonti)  finden  b 
wir  sie  fast  unkenntlich  wieder,  mit  öden  starren  Zügen  unter  einem 
schweren  Schleier,  der  wieder  an  ihre  altägyptische  Kopftracht  er- 
innert, mit  plumpem  Schmuckbehäng  auf  der  Brust. 

Gespenstisch,  maskenhaft  und  dabei  ganz  roh  ist  auch  der  Kopf 
der  ,, grossen  Mutter"  (Cybele)  im  untern  Gang  des  Museo  ca-  c 
pitolino  gearbeitet.     Der  Cultus  des  III.   Jahrhunderts  bedurfte  der 
schönen  Kunstform  nicht  mehr,  mit  welcher  es  übrigens  auch  an  den 
bessern  Darstellungen  der  Cybele  (eine  auf  dem  Löwen  reitende,  in 
Villa  Pamfili  bei  Rom;  eine  kleine  sitzende  im  Museum  von  Neapel,  d 
zweiter  Gang)  nie  war  genau  genommen  worden.    (An  dem  schönen 
Kopf  gegenüber  ist  die  Mauerkrone  ganz  willkürlich  aufgesetzt;  eine 
Replik  desselben,  ohne  allen  Ansatz,  im  Musenzimmer  der  Villa  Borg-  e 
hese.) 

Nur  um  die  Leidensgeschichte  der  spätem  römischen  Kunst  zu 
bezeichnen,  mögen  hier  noch  ein  paar  Missbildungen  dieser  Art  ge- 
nannt sein,  wie  z.  B.  der  hundsköpfige  Anubis  in  römischem  Ober-  f 
kleid  (Museum  von  Neapel,  ägyptische  Halle) ;  die  Äonen  (vaticanische  g 
Bibliothek) ;   die  vielbrüstige  ephesinische  Diana   (oberer  Gang  h 
des  Vaticans,  und  —  gelb  mit  schwarzem  Kopf  und  Extremitäten  —  im 


')  Eher  hat  es  etwas  von  dem  Ausdruck  der  Trauer,  die  sonst  im  Antinous,  aber  auch  im  Hermes 
vorkömmt     [Br.:   Antinous  als  Adonis.] 


't  ~W-m,  >%•'-<>■  -fc--^..^»  >iy.fty<*.».,  .,.,  V;,U»:'»».i*»-*l».4ä'.- 


488 


Antike  Sculptur.    Barbaren.    Phryger.    Sklaven. 


a  Museum  von  Neapel,  Halle  der  farbigen  Marmore,  sowie  —  weissmar- 
b  morn  mit  schwarzen  Zuthaten  —  im  Kaffehaus  der  Villa  Albani)  etc. 


In  dreierlei  Typen  hat  die  antike  Kunst  den  Fremden,  den  Bar- 
baren personificirt  und  als  stehendes  Element  der  Darstellung  ge- 
braucht. 

Der  edelste  dieser  Typen  ist  der  des  Asiaten,  speciel!  des  P  h  r  y  - 
g  e  r  s.  Er  unterscheidet  sich  in  den  altern  Werken,  wie  z.  B.  den  tro- 
janischen Figuren  der  Äginetengruppen,  nur  durch  die  charakteristische 
Tracht  —  Ärmelkleid,  Hosen  und  phrygische  Mütze  —  von  den  Ge- 
stalten der  classischen  Welt.  Später,  als  man  mit  allem  Asiatischen 
durchgehends  den  Begriff  der  Weichlichkeit  verband,  wurden  die  Är- 
mel und  Hosen  weit  und  faltig  und  ein  reichwallender  Mantel  kam 

c  hinzu.  Dieser  Art  ist  der  sitzende  Paris  des  V  a  t  i  c  a  n  s  (Galeria 
delle  statue),  ein  sehr  glücklich  gedachtes  Werk,  aber  von  unbedeu- 
tender Ausführung.  (Paris  als  Knabe,  s.  oben.)  Auch  für  die  asiati- 
schen Gottheiten,  die  in  den  Kreis  römischer  Verehrung  aufgenommen 
wurden,  nahm  später  die  Kunst  diesen  längst  fertigen  Typus  in  An- 
spruch, wie  die  häufigen  Gruppen  des  Mithras  auf  dem  Stier  knieend 

d  (die  beste  freistehende  im  Vatican,  Saal  der  Thiere,  viele  Reliefs  überall) 

e  und  einzelne  Gestalten  des  Attys  beweisen.  (Diejenige  der  Offizien, 
erster  Gang,  ist  stark  restaurirt  und  überarbeitet.) 

Ganz  anders  verfuhr  die  Kunst  mit  (scythischen?)  Sklaven, 
welche  meist  in  komisch-charakterisirender  Absicht  gebildet  wurden, 
als  alte,  stotternde,  schlotterbeinige,  dummpfiffige  Individuen,  wie  sie 
hie  und  da  dem  griechischen  Hause  zur  Erheiterung  dienen  mochten. 
Eine  solche  Figur  ist  z.  B.  der  sog.  Seneca  im  Louvre,  ebenso  der  Sklave 

i  mit  dem  Badegefäss,  im  obern  Gang  des  Vaticans.  Auch  einzelne  gute 
Köpfe  kommen  vor;  man  glaubt  das  Stammeln  des  fremden  Knechtes 
aus  dem  offenen  Munde  zu  hören.  —  Possierliche  Sklaven  waren  auch 

g  als  kleine  Bronzen  ein  beliebter  Gegenstand;  mehrere  der  Art  z.  B. 
in  den  Uffizien  (II.  Zimmer  d.  Br.,  6.  Schrank), 

Endlich  bildeten  Griechen  und  Römer  ihre  Feinde  ab^  als  Käm- 
pfende und  als  Überwundene.  Der  Typus,  von  welchem  die  griechische 
Kunst  hiebei  ausging,   war  nicht  der  des  Persers,  sondern  der  des 


Barbaren.    Kelten. 


489 


Kelten,  dessen  Heere  im  III.  Jahrhundert  v.  Chr.  Griechenland  und 
Kleinasien  in  Schrecken  setzten.  Die  einzelnen  Siege,  welche  man 
über  sie  erfocht,  scheinen  besonders  von  den  kunstliebenden  Königen 
von  Pergamus  durch  Denkmäler  verewigt  worden  zu  sein.  Von  die- 
sen letztern  stammt  wahrscheinlich  die  Ausbildung  desjenigen  Barbaren- 
typus her,  welchen  dann  auch  die  Römer  adoptirten  und  für  Dacier, 
Germanen  u.  s.  w.  fast  ohne  Unterschied  brauchen. 

Das  Kennzeichen  des  Barbaren  aber  war  nach  antiker  Ansicht 
die  Unfreiheit,  also  in  leiblicher  Beziehung  der  Mangel  an  edlerer 
Gymnastik,  in  geistiger  eine  düstere,  selbst  dumpfe  Befangenheit.  Wie 
weit  hierin  das  Vorurtheil,  wie  weit  die  wirkliche  Wahrnehmung  sich 
geltend  machte,  geht  uns  nichts  an.  Genug,  dass  die  vorhandenen 
Bildwerke  eine  durchgehende,  obwohl  verschieden  abgestufte  Bildung 
des  Kopfes  und  des  nackten  Körpers  zeigen. 

An  der  Spitze  stehen  die  beiden  grossen  tragischen  Meisterwerke:  der 
„sterbende  Fechter"  (im  Museo  capitolino,  in  dem  nach  ihm  a 
benannten  Zimmer,  und  ,,der  Barbar  und  sein  Weib"  im  b 
Hauptsaal  der  Villa  Ludovisi.  (Dass  es  sich  nicht  um  einen  Gladiator 
und  nicht  um  Arria  und  Pätus  handle,  hat  man  längst  eingesehen.) 
Beidemale  sind  es  nackte  Gestalten,  vielleicht  Einzelwiederholungen 
aus  berühmten  Schlachtgruppen.  In  dem  sterbenden  Kelten  ist  die 
vollste  Wahrheit  des  Momentes,  nämlich  des  letzten  Ankämpfens  gegen 
den  Tod,  auf  merkwürdige  Weise  in  den  edelsten  Linien  ausgesprochen, 
und  wenn  es  keine  Niobiden  gäbe,  so  würde  man  sagen,  es  sei  un- 
möglich schöner  zu  sinken.  Um  so  beharrlicher  aber  hat  der  Künst- 
ler die  barbarische  (oder  für  barbarisch  angenommene)  Körperbildung 
durchgeführt,  damit  ja  Niemand  einen  gefallenen  griechischen  Helden 
zu  sehen  glaube.  An  Brust,  Rücken  und  Schultern  wird  man  wahr- 
haft gemeine  Formen  bemerken,  die  diesen  Typus  auf  das  Stärkste 
z.  B.  vom  Athletentypus  unterscheiden.  Das  struppige  Haar,  der 
Knebelbart  und  der  eigenthümliche  Halszierrath  vollenden  diesen  Ein- 
druck —  und  doch  bleibt  noch  eine  ganz  besondere  Racenschönheit 
übrig,  welcher  ihre  volle  künstlerische  Gerechtigkeit  widerfährt.  — 
Die  ludovisische  Gruppe,  ein  glänzendes  Werk  des  hohen  Pathos,  stellt 
einen  Kelten  dar,  welcher  sein  Weib  getödtet  hat  und  nun  auch  sich 
ersticht,  um  der  Gefangenschaft  zu  entgehen.    Die  Restaurationen  und 


Urcicerone. 


33 


'*?'#,''->t.>v<.  iw 


'  Jrth-  .1 J.-,.  »♦,>  ^W. '  (»>,1  ..-fc  ■ 


iüi 


490 


Antike  Scolptur.    Barbären.    Kelten. 


Überarbeitungen  haben  den  keltischen  Charakter  doch  keineswegs  ver- 
wischt. (Den  rechten  Arm  wird  man  leichter  tadeln  als  besser  restau- 
riren  können;  kläglich  vermeisselt  ist  nur  die  Frau,  zumal  an  der 
Vorderseite,  welche  gegen  die  unberührten  Theile,  z.  B.  die  Füsse,  stark 
absticht;  leider  geht  uns  dabei  der  einzige  ganz  sichere  Typus  einer 
Barbarin  theilweise  verloren.)  Von  wunderbar  ergreifender  Art  ist  in 
dieser  Gruppe  das  Momentane,  in  der  verzweifelten  und  gewaltigen 
Geberde  des  Mannes  und  seiner  Verbindung  mit  der  bereits  todt  zu- 
sammengesunkenen Frau;  dem  Geist  der  alten  Kunst  gemäss,  sind 
die  Schrecken  des  Todes  bei  ihr  nur  angedeutet  in  den  gebrochenen 
Augen,  in  einem  leisen  Zuge  des  Mundes  und  in  der  unvergleichlich 
sprechenden  Stellung  der  Füsse. 

Diese  nämlichen  Kelten  sind  dann  auch  in  ihren  Kämpfen  mit 
Griechen  und  Römern  an  einigen  Sarcophagen  abgebildet.  Nicht 
des  eigenen  Kunstwerthes  halber,  sondern  weil  sich  darin  vielleicht 
ein  Nachklang  jener  grossen  Schlachtgruppen  zu  erkennen  giebt,  mögen 

a  hier  die  betreffenden  Sarcophage  in  den  untern  Zimmern  des  capi- 

b  tolinischen  Museums  und  der  Vorhalle  der  Villa  Borghese  (andere 
a.  a.  0.)  vorläufig  genannt  werden. 

Als  unmittelbare  Reste  einer  guten  römischen  Nachahmung  einer 

c  jener  Gruppen  darf  man  vier  halblebensgrosse  Statuen  von  Sinkenden 
und  Liegenden  im  Museum  von  Neapel  (erster  Gang)  in  Anspruch 
nehmen:  ein  todter  Barbar  in  Mütze  und  Hosen,  mit  Schild  und  krum- 
mem Säbel;  ein  todter,  nackter,  griechischer  Kämpfer;  eine  todte  Bar- 
barin als  Amazone  gebildet;  und  ein  sterbend  Sinkender,  fast  in  der  Stel- 
lung des  Fechters,  nur  umgekehrt;  sämmtlich  von  trefflichster  Erfin- 
dung und  befangener  Ausführung.  Wenn  man  noch  die  gegenüber- 
stehenden Reiterstatuen  desselben  Massstabes  (einen  griechischen 
Anführer  und  eine  sterbend  vom  Pferde  sinkende  Barbarin  oder  Ama- 
zone) hinzurechnen  will,  so  ist  auf  die  starken  Restaurationen  dieser 
Beiden  billige  Rücksicht  zu  nehmen.   Eher  noch  gehört  zu  jenen  vieren 

d  ein  halbknieender  Kämpfer  im  obern  Gang  des  Vaticans,  trotz  des 
kleinern  Massstabes. 

Ausserdem  lieferten  die  römischen  Triumphbogen  u.  a.  Siegcs- 
denkmale  eine  Anzahl  von  Reliefs,  Statuen  und  Köpfen  gefangener 
Barbaren.    Wo  sie  bekleidet  gebildet  sind,  tragen  sie  Mützen,  Ärmel, 


Barbaren.    Kelten. 


491 


Hosen  und  Mäntel  wie  die  Asiaten,  wahrscheinlich  weil  die  Kunst 
von  den  griechischen  Zeiten  her  daran  gewöhnt  war.  Am  Triumph- 
bogen des  Septimius  Severus,  wo  es  sich  um  wirkliche  Asiaten,  Par- 
ther etc.  handelt,  ist  auf  das  gelockte  Haar  noch  ein  besonderer  Accent 
gelegt.  Ob  in  den  beiden  trefflichen  Statuen  der  Hofhalle  des  Con-  a 
servatorenpalastes  auf  dem  Capitol  eine  besondere  illyrische  Nuance 
der  Tracht  zu  bemerken  ist,  wie  behauptet  wird,  mag  dahingestellt 
bleiben.  Sonst  lernt  man  den  Typus  des  Gesichtes  am  bequemsten 
kennen  aus  den  drei  colossalen  Dacierköpfen  des  Braccio  nuovo  im  b 
Vatican;  die  düstre,  bedeckte  Stirn,  das  tiefliegende  Auge,  die  lange, 
schräg  herabreichende  Nase  (wo  sie  alt  ist),  der  Schnurrbart,  der 
halboffene  Mund,  endlich  die  Bildung  der  Unterlippe  und  des  Kinns 
sind  hier  höchst  bezeichnend  gebildet.  Anderwärts  ist  das  struppige 
Haar  mehr  hervorgehoben,  auch  nähert  sich  die  Nase  der  Stülpnase, 
der  Bart  einem  schmalen  Knebelbart. 

Als  Besiegte  Hessen  sich  die  Barbaren  trefflich  zu  tragenden 
und  stützenden  Figuren  brauchen,  wie  einst  schon  im  grossen  Tempel 
von  Agrigent  riesige  Africaner  als  Atlanten  das  Gesimse  des  Innen- 
baues trugen.  Eine  kleine  Nachbildung  von  diesen  mag  man  etwa 
in  den  vortrefflich  gedachten  Figuren  erkennen,  welche  im  Tepidarium  c 
der  BädervonPompeji  den  Sims  stützen.  Dagegen  sind  in  zwei 
knieenden  Tragfiguren  von  weiss  und  violettem  Marmor  (Paonazetto)  d 
im  Museum  von  Neapel  (Halle  der  farbigen  Marmore)  trotz  ihrer 
schwarzen  Köpfe  und  Hände  keine  Africaner,  sondern  Barbaren  vom 
kunstüblichen  Keltentypus  dargestellt. 

Eine  ähnliche  knieende  Figur,  mit  einem  (restaurirten)  Gefäss  auf 
der  Schulter,  im  obern  Gang  des  Vaticans,  könnte  vielleicht  als  einer  e 
der  Knechte  gelten,  welche  den  Priamus  mit  Geschenken  in  das  Zelt 
Achills  begleiteten. 

Nur  mit  grossem  Bedenken  wage  ich  der  schon  früher  vorgekom- 
menen Vermuthung  beizutreten,  dass  eine  der  berühmtesten  Barbaren- 
statuen, der  Schleifer  (l'arrotino)  in  der  Tribuna  der  Uffizien  zu  f 
Florenz,  ein  modernes  Werk  sei.  Es  ist  ein  betagter,  niederkauern- 
der Mann,  der  ein  breites  Messer  auf  einem  am  Boden  liegenden 
Steine  schleift  und  dabei  empor  sieht  und  horcht;  man  nimmt  ihn  für 
einen  scythischen  Sklaven  Apolls  und  seine  Aktion  für  eine  Vorbe- 

33* 


■-  i^  m    f^^hy  -a*-lr^' •»,_  J4v  *»"*»,, 


>V.:  »t,K-».j4^  Jni'liif^j -■,.»' «fc ...g..». •-:-<> vjj» ,»•' .»li.. I 


492 


Antike  Scalptur.    Barbarinnen. 


reitung  zum  Schinden  des  Marsyas.  Die  Gründe  für  die  Modernität 
lassen  sich  natürlich  nur  an  Ort  und  Stelle  vollständig  entwickeln; 
ich  glaube  aber  behaupten  zu  dürfen,  dass  eine  solche  Behandlung 
des  Haares,  ein  solcher  Kopfbau,  ein  solches  Auge,  endlich  eine  solche 
Draperie  in  der  alten  Kunst  schwer  mit  Parallelen  zu  belegen  sein 
werden.  Das  Linien-Motiv  und  im  Ganzen  auch  die  Behandlung  ist 
von  einer  Vortrefflichkeit,  die  man  allerdings  am  liebsten  den  Alten 
zutraut,  wenn  auch  ersteres  zur  dargestellten  Thätigkeit  nicht  voll- 
kommen passt.  Jedenfalls  würde,  höchstens  Michelangelo  ausgenom- 
men, sich  wohl  kein  Neuerer  dazu  melden  dürfen  i). 

In  Betreff  der  Barbaren  fr  au  en  wurde  schon  angedeutet,  dass 
ihre  Darstellung  im  Ganzen  dem  Amazonentypus  folgt.  Diess  gilt  in 
»  beschränktem  Sinne  auch  von  der  colossalen  Statue  in  der  Loggia 
de'  Lanzi  zu  Florenz,  in  welcher  man  neuerlich  Thusnelda,  die  Ge^ 
mahlin  des  Arminius,  zu  erkennen  glaubt;  sie  hat  das  Schlank-Gewal- 
tige, auch  die  Bildung  des  Kopfes  mit  den  Amazonen  gemein,  nur  das 
lange  Untergewand  unterscheidet  sie.  Herrlich  ist  der  Ausdruck  des 
tiefen,  aber  gefassten  Schmerzes  in  der  plastisch  unübertrefflichen 
Stellung  und  in  dem  ruhigen  Antlitz  mit  den  aufgelösten  Haaren  und 
den  klagenden  Augen  niedergelegt;  auch  das  vorzüglich  schöne  Ge- 
wand zeigt,  dass  wir  eine  Statue  der  besten  Zeit,  wahrscheinlich  von 
dem  Triumphbogen  eines  Fürsten  des  augusteischen  Hauses  vor  uns 
haben. 


In  allen  italienischen  Sammlungen  wird  man  die  Kinder  statuen 
in  einem  sehr  starken  Verhältniss  vertreten  finden;  es  sind  ihrer  im 
Ganzen  wohl  mehrere  Hunderte.  In  den  antiken  Häusern  und  Gärten 
müssen  sie  eine  der  beliebtesten  Zierden  gewesen  sein  und  man  darf 
sich  Nischen,  Brunnen,  Lauben  oft  vorzugsweise  durch  sie  belebt  und 
motivirt  denken.  Von  den  neuern  Kinderstatuen  unterscheiden  sie 
sich  sämmtlich  durch  die  Abwesenheit  alles  Träumerischen  und  Sen- 


>)  Der  gelehrte  Gori  sah  vor  mehr  als  einem  Jahrhundert  im  Besitz  eines  Bildhauers  zu 
Florenz  ein  kleines  Thonexemplar  des  Arrotino,  von  Michelangelo,  „der  darin  die 
Fehler  des  Originals  glücklich  verbessert  hatte".     Mus.  florent.  III,  p.  95. 


Kinderstatnen. 


493 


timentalen,  was  die  jetzige  Sculptur  so  gerne  in  das  kindliche  Wesen 
hineinträgt;  sie  geben  durchweg  das  DrolHge,  Schalkische,  Lustige, 
auch  wohl  das  Zänkische  und  Diebische,  vor  Allem  aber  diejenige 
derbe  Gesundheit  und  Kraft,  welche  ein  Hauptattribut  des  Kindes 
sein  sollte.  Oft  und  mit  Vorliebe  ist  z.  B.  Herrschaft  und  Sieg  des 
Knäbchens  über  kleinere  Thiere  dargestellt.  —  Die  Arbeit  erhebt  sich 
nur  ausnahmsweise  über  das  Decorative,  den  Gedanken  aber  wird 
man  meistens  frisch  und  trefflich  nennen  dürfen.  Die  grösste  Menge 
von  Kinderfiguren  findet  sich  zu  Rom  beisammen  im  Museo  Chiara- 
monti  und  im  obern  Gange  des  Vaticans;  mehrere  treffliche  im  Mu- 
seo capitolino  und  in  der  Villa  Borghese;  eine  Anzahl  geringer  im 
Palazzo  Spada  u.  a.  a.  O.;  ausserdem  ergiebt  das  Museum  von  Neapel 
einzelnes  Wichtige,  die  Uffizien  in  Florenz  fast  nur  Geringes.  (Einige 
gute  kleine  Bronzen  daselbst,  H.  Zimmer  der  Bronzen,  2.  und  6.  * 
Schrank.)     Zwei  gute  Köpfchen  im  Museo  zu  Parma.  b 

Zunächst  sind  es  einige  göttliche  Wesen,  welche  sich  die 
Phantasie  gerne  in  ihrer  frühen  Jugend  vorstellte.    Die  Kunst  hütete 
sich  wohl,  etwa  durch  absichtliche  Vergeistigung  den  künftigen  Gott 
anzudeuten;  sie  gab  nur  ein  Kind,  mit  äussern  Andeutungen  in  Tracht 
und  Attributen.    So  der  öfter  vorkommende  kleine  Hermes  (Vatican,  c 
Mus.  Chiar.  und  oberer  Gang);  auch  wohl  der  kleine  Bacchus,  wenn 
man  von  den  vielen  Kindern  mit  Trauben  (ebenda)  eins  oder  das  an- 
dere auf  ihn  deuten  darf.      Sehr  häufig  sind  die  Heraklisken,  von 
zweierlei  Art:  entweder  wirkliche  Momente  aus  der  Jugend  des  He- 
rakles, wie  das  Schlangenwürgen  (in  einem  zweifelhaften  Marmorwerk  d 
der  Uffizien,  Halle  des  Hermaphroditen,  nach  welchem  das  eherne 
Exemplar  im  Museum  von  Neapel,  Abtheilung  der  grossen  Bronzen,  e 
jedenfalls  nur  moderne  Copie  ist);  oder  komische  Übertragungen  des 
ausgewachsenen  Heros  mit  Keule  und  Löwenhaut  in  die  kindliche 
Gestalt  —  bisweilen  schwer  zu  unterscheiden  von  blossen  Kindern, 
die  mit  den  genannten  Attributen  ihr  Spiel  treiben.    In  der  Villa  Borg-  i 
hese  (Zimmer  des  Herakles)  zwei  dergleichen,  einer  ruhend,  der  an- 
dere mit  der  Keule  drohend;  ein  dritter  sogar  als  Herme;  mehrere  in 
den  genannten  Räumen  des  Vaticans;  einer,  zwar  als  Kind,  aber  co-  g 
lossal  vergrössert,  im  grossen  Saal  des  Museo  capitolino,  ein  höchst  h 
widerlich-komisches  Werk  von  Basalt.  —  Sodann  werden  mehrere  gött- 


494 


Antike  Scnlptar.    Kinderstatnen. 


liehe  Wesen  überhaupt  nur  in  Knabengestalt  gedacht,  wie  der  kleine 
Genesungsgott  Telesphorus,  der  aus  seinem  Mäntelchen  mit  Ka- 

a  puze  oft  so  schalkhaft  vergnüglich  herausschaut.     (Vatican,  in  den 

b  genannten  Räumen;  Villa  Borghese,  Zimmer  der  Musen);  —  ferner 
Harpocrates,  aus  dem  am  Finger  lullenden  Isiskind  zum  schön 
jugendlichen  Gott  des  Schweigens  umgedeutet  (in  der  vielleicht  nur 

c  sieben  bis  achtjährig  gedachten,  aber  in  grösserm  Massstab  ausge- 
führten Statue  des  Museo  capitolino,  grosser  Saal;  ein  für  die  hadria- 
nische  Kunstepoche  bezeichnendes  Werk,  effectreich,  aber  schon  mit 

d  etwas  leeren  Formen).  —  Sehr  artig  ist  der  kleine  Phrygier  mit  Tam- 
burin und  Hirtenstab,  den  man  als  Atys  oder  als  Paris  im  Kindes- 
alter erklären  kann.  (Mus,  Chiaram.)  —  An  Kunstwerth  übertrifft  wohl 

e  sämmtliche  vorhandene  Kinderstatuen  der  Torso  der  Villa  Borghese 
(Zimmer  des  Hermaphroditen),  welchen  man  des  Gefässes  wegen  als 
wasserholenden  H  y  1  a  s  erklärt,  ein  überaus  schön  und  lebendig  ge- 
arbeitetes Körperchen. 

Unter  dem  grossen  Vorrath  der  Übrigen  geben  sich  manche,  und 
zwar  meist  die  spätem  und  schlechtem,  durch  ihre  Flügel  als  Genien 
und  Eroten  zu  erkennen.  Für  die  Sculptur  macht  dieser  Unterschied 
von  den  blossen  Genrefiguren  nicht  viel  aus;  wohl  aber  für  die  Malerei, 
welche  ihre  Genien  darf  schweben  lassen  und  von  dieser  Befugniss 
in  Pompeji  den  ausgedehntesten  Gebrauch  gemacht  hat.  Zum  Theil 
noch  aus  guter  Zeit  stammen  eine  Anzahl  Reliefs,  welche  die  Be- 
schäftigungen Erwachsener  auf  geflügelte  Kinder  übertragen;  Jagden, 
Circusspiele,  Weinlesen,  Wettrennen  dieser  Art  kommen  häufig  vor; 

f  im  Museo  Chiaramonti  trifft  man  z.  B.  einen  Fries,  welcher  eine  Jagd 
von  Genien  gegen  Panther  und  Böcke  darstellt.    (Eines  schönen  Re- 

g  liefs  im  Chor  von  S.  Vitale  in  Ravenna  kann  ich  mich  nicht  mehr 
genau  erinnern.) 

Die  bessern  Kinder  sind  fast  durchgängig  die  nichtgeflügelten. 
Es  liegt  ein  Schatz  von  harmloser  und  drolliger  Naivität  in  diesen 
zum  Theil  oft  wiederholten  Motiven.  Kinder  mit  Früchten  sind  theils 
im  ruhigen  Bewusstsein  des  bevorstehenden  Genusses,  theils  als  eilige 

h  Diebe  dargestellt  (Mus.  Chiar.  und  oberer  Gang  des  Vaticans) ;  als 
Brunnenstatuen  dienten  vorzugsweise  kleine  Amphorenträger  (oberer 
Gang  ebenda),  Knaben  mit  Delphinen,  auch  Satyrkinder  mit  Schlau- 


Kinderstatnen. 


495 


chen,  Krügen  u.  s.  \v.  (Museum  von  Neapel,  grosse  Bronzen.)    Anderes  a 
ist  Travestie  des  Treibens  der  Erwachsenen,  so  die  kleinen  Ringkämpfer, 
Fackelläufer,    Trophäenträger    (Mus.    Chiar.    und    oberer    Gang    des  b 
Vaticans);  vorzüglich  lustig  ist  das  Spiel  der  Kinder  mit  tragischen 
Masken  dargestellt,  z.  B.  in  dem  kleinen  Jungen,  welcher  den  Arm 
durch  den   Mund  der  Maske  steckt   (Villa   Albani,    Kaffehaus),   und  c 
vollendet  trefflich  in  einem  Knaben  des  Museo  capitolino  (Zim-  d 
mer  des  Fauns),  welcher  das  unbequeme  Ding  anprobiren  will  und  es 
einstweilen  quer  über  den  Kopf  sitzen  hat.     Das  Verhältniss  zu  den 
Thieren  ist  theils  das  des  frohen  Besitzes  (der  Knabe  mit  den  Vögeln  e 
im  Schürzchen,  Mus.  Chiaram.;  die  Knaben  mit  Enten,  Hähnen,  Haus-  f 
schlangen  u.  s.  w.,  oberer  Gang  des  Vaticans,  obere  Galerie  des  Museo  g 
capitoHno;  Villa  Borghese,  Zimmer  der  Musen  und  des  Hermaphro- h 
diten;   Uffizien,  Halle  des  Hermaphroditen),  theils  das  des  Schutzes,  i 
wie  z.  B.  in  dem  zierlichen  Mädchen  des  Museo  capitolino  (Zimmer  k 
des   sterbenden   Fechters),   welches   ihr   Vögelchen   vor   einem   Thier 
schützt  (der  rechte  Arm  und  die  Schlange  restaurirt) ;  theils  aber  das  der 
siegreichen  Bändigung,  wie  z.  B.  in  dem  bewundernswerthen  Knaben! 
mit  der  Gans  (Museo  capitolino,  Zimmer  des  Fauns) ;  auch  wohl 
das  der  muthwilligen  Quälerei,  wie  z.  B.  in  dem  Knaben,  der  einer  m 
Gans  die  Hände  vor  den  Hals  hält  und  ihr  auf  den  Rücken  knieet 
(Museum   von   Neapel,    Halle   des   Adonis,   stark   restaurirt).      Sonst 
wurden  auch  wohl  weinende  und  lachende  Kinder  als  Gegenstücke 
gefertigt;  in  den  genannten  Sammlungen  dergleichen  von  geringer  Ar- 
beit.   Einzig  in  seiner  Art  und  mit  drollig  absichtlicher  Hervorhebung 
eines  bestimmten  Typus:  der  (weissmarmorne)  Mohrenknabe  als  Bade-  n 
diener,   oberer  Gang  des  Vaticans.    —  Es  versteht   sich,   dass  auch 
Kinderporträts  vorkommen,  niedlich  in  kleiner  Toga  drapirt,  oft  mit 
dem  runden  Amulet,  der  Bulla,  auf  der  Brust.     Eine  artige  Basalt-  o 
figur  dieser  Gattung  in  den  Uffizien  (Halle  der  Inschriften). 

Das  vorausgesetzte  Alter  der  Kinderstatuen  ist  in  der  Regel  das 
dritte  bis  fünfte  Jahr  und  überschreitet  nur  selten  das  siebente  oder 
achte  Jahr.  Von  altern  bekleideten  Mädchen  ist  die  graziöse  Knö- 
chelspielerin ein  Beispiel,  von  der  ich  in  den  italienischen  Samm- 
lungen kein  Exemplar  kenne.  Die  Darstellung  des  Nackten  wich  dem 
Zeitraum  zwischen  dem  Kindesalter  und  dem  ausgebildeten  Knabenalter 


i*^-  --^    ^  Jh.  ■»    ■*    -Hl  »       -A  «:V   j>^ . 


496 


Antike  Scalptor.    Rinder.    Statuetten. 


gerne  aus;  sie  scheute  die  harten,  magern,  unreifen  Formen  und  die 
unsichere  Haltung;  den  Wiederbeginn  ihres  Gestaltenkreises  bezeich- 
net sie  glorreich  durch  den  praxitelischen  Eros. 

Vielleicht  gehört  aber  doch  eine  der  berühmtesten  Statuen  in  diese 

a  Zwischenzeit:  der  Dornauszieher.  (Bronzenes  Hauptexemplar 
im  Pal.  de'  Conservatori  auf  dem  Capitol,  Eckzimmer;  Wiederholungen 

b  in  den  Uffizien  zu  Florenz,  Verbindungsgang,  u.  a.  a.  0.)  Hier  stehen 
allerdings  die  knabenhaften  Arme  und  Beine  in  einem  Widerspruch 
mit  dem  ausgebildeten  Rücken,  so  dass  man  versucht  ist  eine  indi- 
viduelle Bildung  anzunehmen,  welche  diese  Contraste  wirklich  ver- 
einigte. Wie  dem  auch  sei,  die  Einfachheit  des  Motives,  das  span- 
nende Interesse,  welche  es  doch  zugleich  erregt,  und  die  Schönheit 
der  Hauptlinien,  von  welcher  Seite  man  das  Werk  betrachte,  geben 
dem  Ganzen  einen  Werth,  der  über  die  Einzelausführung  weit  hinaus- 
geht. 

c  In  demselben  Lebensalter  ist  etwa  auch  der  bronzene  Opfer- 
k  n  a  b  e  dargestellt,  welcher  sich  im  capitolinischen  Museum  (Zimmer 
der  Vase)  befindet;  ein  edler  Typus,  leicht  und  anständig  in  der  Stel- 
lung, die  Arbeit  eher  flüchtig  als  genau. 


Die  Begeisterung  für  die  Sculptur  war  im  Alterthum  so  allge- 
mein verbreitet,  dass  wer  es  irgend  vermochte,  wenigstens  kleine  Sta- 
tuetten von  Erz,  Thon  oder  Marmor  erwarb.  Manches  dieser  Art 
diente  wohl  als  Hausgottheit,  und  in  mehr  als  einem  Gebäude  zu 
Pompeji  sieht  man  noch  die  kleinen  Nischen  von  Mosaik  oder  Stucco, 
welche  zur  Aufnahme  solcher  Figuren  dienten;  das  Meiste  aber  war 
d  gewiss  nur  als  Gegenstand  des  künstlerischen  Genusses  im  Hause  auf- 
gestellt. Wie  harmlos  mögen  sich  in  dem  kleinen  Hof  der  Casa  della 
Ballerina  zu  Pompeji  die  marmornen  Thierchen  und  Statuetten  aus- 
genommen haben,  als  der  Brunnen  noch  floss  und  die  Laube  darüber 
noch   grünte! 

Weit  die  erste  Stelle  nehmen  eine  Anzahl  Bronzefigürchen 

griechischer  Kunst  ein,  die  nur  leidei  gar  zu  selten  ihren  V/eg  in  die 

öffentlichen  Sammlungen  finden,  vielmehr  insgeheim  nach  dem  Aus- 

c  lande  gehen.    Die  einzige  grosse  Sammlung,  im  Museum  von  Neapel 


Stataetten. 


497 


(kleine  Bronzen,  besonders  das  dritte  Zimmer)  enthält  doch  nur  We-  a 
niges  von  erstem  Werthe,  wie  die  Pallas,  den  behelmten  Jüngling, 
mehrere  tanzende  Satyrn,  das  verhüllte  Weibchen  etc.,  zwischen  zahl- 
reichen römischen  Arbeiten.  Auch  bei  den  Terracotten  desselben  b 
Museums  (fünftes  Zimmer  der  Terracotten)  scheint  das  Beste  zu  fehlen. 
(Die  Krugträgerin  und  die  verhüllte  Tänzerin  —  beide  von  erstem 
Range  —  wird  man  in  Italien  nur  in  Abgüssen  vorfinden.)  —  Die  flo- 
rentinische  Sammlung  (Uffizien,  zweites  Zimmer  der  Bronzen)  enthält  c 
manches  Vorzügliche,  zugleich  in  etwas  günstigerer  Aufstellung.  — 
Es  würde  uns  sehr  weit  führen,  wenn  wir  näher  auf  den  Styl  dieser 
kleinen  Meisterwerke  und  seine  Bedingungen  eingehen  wollten;  viel- 
leicht wendet  sich  ihnen  die  Vorliebe  des  Beschauers  sehr  rasch  zu, 
und  in  diesem  Falle  wird  er  erkennen,  wie  die  Kunst  auch  in  diesem 
bisweilen  winzigen  Massstab  kein  einziges  ihrer  hohen,  bleibenden 
Gesetze  aufgab.  Die  kleinsten  Figürchen  sind  plastisch  untadelhaft 
gedacht;  das  Nette  und  Zierliche  der  Erscheinung  diente  nicht  zum 
Deckmantel  für  lahme  Formen  und  Linien.  Man  fühlt  es  durch,  dass 
nicht  ein  Decorator  den  Künstler  spielt,  sondern  dass  eine  Kunst,  die 
des  Grössten  fähig  ist,  sich  zu  ihrem  eigenen  Ergötzen  im  Kleinen 
ergeht.  (Es  ist  natürlich  von  den  bessern  und  altern  die  Rede,  denn 
die  römischen  sind  zum  Theil  allerdings  lahme  Fabrikarbeit.) 

In  den  römischen  Sammlungen  findet  sich  eine  bedeutende  An- 
zahl marmorner  Statuetten,  welche  trotz  der  meist  nur  mittel- 
guten Arbeit  doch  ein  eigenthümliches  Interesse  haben.    Sie  sind  näm- 
lich wohl  fast  durchgängig  (und  selbst  wo  man  es  nicht  direct  beweisen 
kann)  kleine  Wiederholungen  grosser  Statuen  und  dienen  somit  zum 
unfehlbaren  Beleg  für  die  Werthschätzung,  in  welcher  die  grossen  Ori- 
ginale standen.    Ausserdem  beachte  man  die  Einfachheit  der  Arbeit, 
welche  mit  dem  Geleckten  und  Auspolirten  moderner  Alabastercopien 
in  offenem  Gegensatze  steht.  Offenbar  verlangte  man  im  Alterthum  von 
dem  Copisten  nur,  dass  er  das  Motiv  des  Ganzen  mit  massigen  Mit- 
teln wiedergebe;  das  Übrige  ergänzte  die  Phantasie  und  das  Gedächt-  d 
niss.      (Hauptstellen:    das  Museo   Chiaramonti   und  der  obere   Gang  e 
des  Vaticans,  sowie  die  hintern  Räume  der  Villa  Borghese.    Manches  i 
auch  im  Dogenpalast  zu  Venedig,  Camera  a  letto.) 


49« 


Antike  Scnlptor.    Gruppen. 


Für  die  höchste  und  schwierigste  Aufgabe  der  Sculptui,  für  die 
Bildung  freistehender  Gruppen,  hat  das  Alterthum  uns  wenigstens 
eine  Anzahl  von  mehr  oder  weniger  erhaltenen  Beispielen  hin:erlassen, 
in  welchen  die  ewigen  Gesetze  dieser  Gattung  abgeschlosser.  vor  uns 
liegen,  obwohl  es  nur  arme,  einzelne  Reste  von  einem  Gruppenreich- 
thum  sind,  von  welchem  sich  die  jetzige  Welt  keinen  Begriff  macht. 
Unter  jenen  Gesetzen  sind  einige,  die  auf  den  ersten  Blick  einleuch- 
ten: der  schöne  Contrast  der  vereinigten  Gestalten  in  Stellung,  Kör- 
peraxe,  Handlung  u.  s.  w.;  die  wohlthuenden  Schneidur.gen  und 
Deckungen;  die  Deutlichkeit  der  Action  für  die  Ansicht  vor.  mehrern 
oder  allen  Seiten  etc.  etc.  Schwer  aber  (und  nur  dem  Bildhauer  selbst 
möglich)  ist  das  Nachfühlen  und  Nachweisen  des  Gesetzmässigen  in 
allem  Einzelnen,  Wir  begnügen  uns  daher,  nur  flüchtig  auf  dtn  Kunst- 
gehalt der  in  Italien  vorhandenen  antiken  Gruppen  hinzudeuten,  und 
beginnen  mit  dem  Einfachsten  (obwohl  die  Kunst  vielleicht  tmgekehrt 
mit  dem  quantitativ  Reichsten,  den  Giebelgruppen  der  Ternpel,  mag 
begonnen  haben). 

Zum  Einfachschönsten  gehören  einige  Werke,  welche  zwei  Ge- 
stalten in  ganz  ruhiger  geistiger  Gemeinschaft  darstellen.  Das  Ausge- 
zeichnetste in  dieser  Art,  die  sog.  Gruppe  von  San  Ildefonso 
(die  Genien  des  Schlafes  und  des  Todes,  nach  der  üblichsten  Erklä- 
rung, traulich  aneinander  gelehnt),  befindet  sich  jetzt  in  Madrid;  ein 

a  Abguss  u.  a.  in  der  Academie  de  France  zu  Rom. 

b  Ein  ähnlicher  schöner  Sinn  lebt  in  einer  nur  mittelmässig  gear- 
beiteten Gruppe  des  Museums  von  Neapel  (zweiter  Gang),  welche 
Orest  und  Elektra  darstellt;  sie  stützt  den  linken  Arm  in  die  Hüfte 
und  legt  ihm  den  rechten  über  die  Schulter;  er  lässt  den  rechten  Arm 
hängen  und  gesticulirt  mit  dem  linken.  Contrast  und  Verbindung  des 
nackten  und  des  bekleideten  Körpers  sind  hier  von  schönster  Erfin- 
dung, der  Ausdruck  des  trauten  Verkehres  vortrefflich  mit  wenigen 
Mitteln  wiedergegeben. 

Wie   hier  Bruder  und   Schwester,   so  sind  in   einem   berühmten 

c  Werke  der  Villa  Ludovisi  zu  Rom  (Hauptsaal)  Mutter  und  Sohn,  in 
einem  erregtem  Moment,  vielleicht  des  Abschiedes  oder  des  Wieder- 


Gruppen  des  schlichten  Verkehrs;  der  Liehe. 


499 


Sehens,  dargestellt.  Die  gewöhnliche  Bezeichnung,  ebenfalls  auf  Orcst 
und  Elektra  lautend,  ist  der  ungleichen  Grösse  wegen  jedenfalls  un- 
statthaft, während  den  Namen  Penelope  und  Telemach  nichts 
ernstlich  widersprechen  würde  i).  Die  Mutter  ist  die  ungleich  bessere 
Figur,  nicht  bloss  durch  den  reinem  Ausdruck  gemüthlicher  Hin- 
gebung, sondern  auch  in  Beziehung  auf  die  Arbeit;  ihr  Gewand  er- 
scheint in  der  Erfindung  wie  ein  Prachtstück  der  spätem  griechischen 
Kunst.  Der  Name  des  Bildhauers,  am  Unterkleid,  lautet:  Menelaos, 
Schüler  des  Stephanos. 

Ein  höheres  und  ein  untergeordnetes  göttliches  Wesen,  das  eine 
träumerisch  versunken,  das  andere  stützend  und  mit  schalkhaftem 
Ausdruck  zur  Bewegung  auffordernd,  sind  in  den  Gruppen  des  Bac- 
chus und  Ampelos  zusammengestellt  (S.  471,  472).  Nur  weicht 
gerade  das  beste  Exemplar  beträchtlich  von  der  Anordnung  der  übrigen 
ab  und  lässt  doch  zugleich  bei  seinem  trümmerhaften  Zustande  kein  ge- 
naueres Urtheil  zu. 

(M!*t  Lehrer  und  Zögling,  allerdings  von  eigener  Art,  finden  sich  ver- 
bunden in  den  schon  (S.  481)  genannten  Gruppen  des  Fan  und  des 
jungen  Satyrs  0  1  y  m  p  o  s  ,  welcher  Unterricht  im  Spiel  der  Syrinx 
erhält.  —  Die  ebenfalls  erwähnte  kleine  vaticanische  Gruppe  des  Fan, 
welcher  einem  Satyr  einen  Dorn  aus  dem  Fusse  zieht,  lässt  wie  diese 
ein  gutos,  nicht  mehr  vorhandenes  Urbild  bedauern. 

Von  Liebespaaren  sind  fast  nur  Amor  und  Psyche  (S,  469) 
mit  der  Absicht  auf  vollen  Ausdruck  tieferer  Innigkeit  gearbeitet  worden, 
oder  anderes  der  Art  ist  uns  verloren  gegangen.  Gegenstände  dieser 
Art  lagen  der  antiken  Kunst  bei  weitem  nicht  so  nahe  als  der  jetzi- 
gen; auch  sind  ,,Amor  und  Psyche"  eine  ihrer  späteren  Schöpfungen. 

Mit  grosser  Meisterschaft  bildete  sie  dagegen  Vereinigungen  von 
mehr  sinnlicher  Art,  dergleichen  in  italienischen  Sammlungen  nicht 
leicht  ans  Tageslicht  gestellt  werden.  Den  Triton,  welcher  eine  Ne- 
reide entführt,  haben  wir  bereits  an  seiner  Stelle  erwähnt  (S.  484,  b). 

In    der  Gruppe   „M  ars  und  Venus"  wozu  meist  noch  ein 


')  Die  frühere  Deutung  „Papirius  und  seine  Mutter,  die  ihm  das  Senatsgeheimniss  abfragen 
will"  —  ging  wohl  gar  nicht  so  weit  am  rechten  Ziel  vorbei.  Nur  wäre  die  Verewigung 
solch  eines  historischen   römischen  Einzelfactums  ohne  Beispiel  in  der  alten   Kunst. 


•'Stf  v»ai>1fc        -   .t-     ^ 


500 


Antike  Sculptar,    Gruppen.    Die  Grazien. 


kleiner  Amorin  kömmt  (grosses  Exemplar  im  grossen  Saal  des  Musco 
a  capitolino,  S.  429,  d,  kleine  im  Museo  Chiaramonti  des  Vaticans  und  im 
b  Tyrtäuszimmer  der  Villa  Borghese),  ist  das  Verhältniss  der  Liebenden 
ein  ungleiches;  die  Göttin  sucht  den  Schmollenden  oder  zum  Gang  in 
die  Schlacht  Gerüsteten  bei  sich  festzuhalten.  Die  Gruppe  scheint  nicht 
selten  zu  Porträtbildungen  degradirt  worden  zu  sein  und  ist  überhaupt 
nur  in  geringer  Ausführung  vorhanden.  —  Herakles  und  Omphale, 
offenbar  ein  später  Einfall,  sind  in  der  schon  erwähnten  (S.  424,  e) 
Gruppe  des  Museums  von  Neapel  (zweiter  Gang)  diesem  an  sich  guten 
Motiv  nachgebildet, 
c  Hermes  mit  der  Nymphe  H  e  r  s  e  ,  im  grossen  Saal  des  Pal. 
Farnese  zu  Rom,  bis  ins  Unkenntliche  restaurirt.  —  Diess  gilt  noch 
von  einer  Anzahl  durchschnittlich  sehr  gering  gearbeiteter  Liebespaare 
in  verschiedenen  Sammlungen.  Bisweilen  haben  die  Restauratoren 
sogar  Figuren  zu  Gruppen  vereinigt,  welche  gar  nicht  zusammen- 
gehörten. 
d  In  der  Libreria  des  Domes  von  Siena  steht  die  stark  verstüm- 
melte, vielleicht  ziemlich  späte  Gruppe  der  drei  sich  leicht  umarmt 
haltenden  Grazien,  offenbar  nach  einem  herrlichen  Original;  in  den 
Contrasten  und  in  der  Schneidung  der  Linien  ist  noch  das  Nachbild 
von  grossem  Reize  i).  Rafael  wurde  durch  dieses  Werk  zu  einem 
bekannten  Bilde  angeregt,  welches  sich  jetzt  in  England  befindet;  mit 
grossem  Rechte  wandte  er  als  Maler  die  mittlere  Figur,  die  in  der 
Gruppe  vom  Rücken  gesehen  wird,  um  und  zeigte  alle  drei  von  vorn; 
mit  grossem  Unrecht  folgte  ihm  Canova  als  Bildhauer  hierin  nach 
und  brachte  eine  gegensatzlose  Gruppe  hervor,  welche  einz:ig  auf 
die  Vorderansicht  berechnet  ist.     (Galerie  Leuchtenberg.) 

Von  Gruppen  desKampfes  ist  in  den  italienischen  Samm- 
e  lungen  eine  der  bedeutendsten  vorhanden:  die  beiden  Ringkämpfer 
in  der  Tribuna  der  Uffizien  zu  F  1  o  r  e  n  z.  Stark  überarbeitet  und  von 
verschiedenen  Händen  restaurirt,  wie  wir  das  Werk  jetzt  vor  uns 
sehen,  lässt  es  nur  noch  ahnen,  dass  der  Moment  mit  höchster  künst- 
lerischer Berechnung  aus  der  grossen  Zahl  möglicher  Momente  ge- 
wählt war  von  einem  Bildhauer,  dei  alle  Geheimnisse  der  Rin,gschulc 


1)  Der  Gegenstand  kommt  auch  als  Relief  und  als  pompejanisches  Gemälde  vor. 


Gruppen  des  Kampfes.    Ajax  und  Patroclas. 


501 


kennen  musste.  Noch  ist  der  Unterliegende  nicht  hoffnungslos;  der 
Beschauer  wartet  gespannt  auf  den  Ausgang.  Die  beiden  verschlunge- 
nen Körper  sind  für  die  Ansicht  von  allen  Seiten  deutlich  ent- 
wickelt. 

Von  der  Gruppe  „H  erakles  und  der  Centaur  Nessu  s",  a 
im  ersten  Gange  ebenda,  ist  die  ganze  erstere  Figur  neu  und  auch 
von  der  letzteren  einTheil.  —  Von  einer  viel  wichtigern  florentinischen 
Gruppe,  Herakles  und  Antäus  (im  Hofe  des  Palazzo  Pitti)  ist  b 
fast  die  Hälfte  von  Michelangelo  (?)  restaurirt  und  die  alten  Theile 
zeigen  eine  stark  verwitterte  Oberfläche;  in  seinem   Urzustand  war 
das  Werk  vorzüglich,  wenn  die  (immerhin  nur  römische)  Ausführung 
einigermassen  der  Composition  entsprach;  Herakles  hat  seinen  Gegner 
von  der  Erde  aufgehoben  und  erdrückt  ihn  in  der  Luft,  während  An- 
täus vergebens  die  Hände  des  Helden  von  seinem  Leibe  wegzureissen 
strebt;  ein  Gestus,  welcher  vielleicht  in  der  Ringschule  nicht  selten 
vorkam  und  in  verschiedenen  Gestalten  dargestellt  wurde  (z.  B.  in 
zwei  Amorinen,  Uffizien,  Verbindungsgang),  hier  aber  in  ausgezeich-  c 
net  schöner  und  energischer  Weise  durchgeführt  war.    Die  einseitige 
Bewunderung  dieser  Gruppe  hat  im  XVI.  Jahrhundert  auf  Bandinelli, 
Giov.  di  Bologna  und  ihre  Mitstrebenden  einen  grossen  Einfluss  ge- 
habt.    (Eine  kleine  Bronze,   Uffizien,  zweites  Zimmer  der  Bronzen,  d 
dritter  Schrank,  stellt  dieselbe  Gruppe  mit  einer  zuschauenden  Pallas 
vermehrt  dar.)     Vgl.  S.  425,  a. 

Scenen  nachdem  Kampfe,  vielleicht  als  Episoden  grösserer 
Giebelgruppen  zu  betrachten,  sind  die  beiden  berühmten  Werke:  der 
Barbar  und  sein  Weib,  in  der  Villa  Ludovisi  zu  Rom  (wovon  S.  489,  b 
die  Rede  war)  und  die  Gruppe  des  Ajax  mit  dem  Leichnam 
des  Patroclus.  Letztere  muss  ein  hochbewundertes  Werk  aus  der 
Zeit  des  Phidias  zum  Original  gehabt  haben,  welches  vielfach  nach- 
gebildet wurde.  Vier  Exemplare  davon  sind  stückweise  erhalten: 
i)  der  sog.  Pasquino,  an  einer  Ecke  von  Pal.  Braschi  zu  Rom,  bei  e 
aller  Verstümmelung  von  so  einfach  grandioser  Arbeit,  dass  neuere 
Kenner  ihn  in  die  Zeit  des  Phidias  selbst  versetzen,  nachdem  schon 
Bernini  ihn  für  die  bestgearbeitete  Antike  in  Rom  erklärt  hatte. 
2)  Der  gewaltig  leidenschaftliche  Kopf  des  Ajax  und  die  Schulter 
sowie  die  (vorzüglich  gearbeiteten)  nachschleppenden  Beine  des  Pa-  i 


-»•■*     -mf'. 


Ifc.  ^   Ä   ,«  ,1, 


,ik,.'^v^  ^ 


r*W     IhK.^  J  '^t^M^d 


502 


Antike  Scalptnr.    Gruppen.    Laocoon. 


a  troclus,  im  Vatican  (Büstenzimmer).  3)  Die  vollständigste  Gruppe  in 
einem  Hof  des  Pal.  Pitti  in  Florenz  (links  von  dem  grossen  Hofe), 
vielleicht  noch  griechische  Arbeit;  am  Kopf  des  Ajax  nur  der  Helm 
zum  Theil  neu,  am  Patroclus  der  Oberleib  beinahe  mit  den  ganzen 
Armen,  ausserdem  die  sämmtlichen  untern  Thcile  nebst  Basis  und 

b  Tronco.  4)  Das  Exemplar  in  der  Loggia  de'  Lanzi  zu  Florenz,  ge- 
ringer und  eben  so  stark  restaurirt^).  —  Die  Aufgabe  war  eine  der 
erhabensten:  der  vorzugsweis  stürmisch  gedachte  unter  den  Heer- 
führern vor  Ilion,  mitten  im  Kampf,  und  doch  der  Gegenwehr  ent- 
sagend, um  einen  Sterbenden  zu  retten;  ein  Motiv  gewaltiger  leiblicher 
Anstrengung  und  grosser  geistiger  Spannung  zugleich;  —  als  pyra- 
midale Gruppe  eng  beisammen  und  doch  auf  das  Klarste  auseinander- 
gehalten und  durch  die  schönsten  Contraste  belebt. 

Doch  es  sollten  noch  höhere  Aufgaben  gestellt  und  gelöst  werden. 

c  Die  Gruppe  des  Laocoon  im  Belvedere  des  Vaticans  ist 
durch  die  grössten  Geister  unserer  Nation  beschrieben  und  mit  einer 
Tiefe  gedeutet  worden  wie  vielleicht  kein  anderes  Kunstwerk  der 
Welt.  Der  Gegenstand  ist  allbekannt,  ebenso  die  Namen  der  Künst- 
ler, Agesander,  Polydorus  und  Athenodorus  von  Rhodus;  dagegen 
schwankt  die  Zeitbestimmung  noch  immer  zwischen  dem  lll.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  und  der  Zeit  des  Titus,  in  dessen  Thermen  (1506) 
das  Werk  gefunden  wurde.  Restaurirt  ist  der  rechte  Arm  des  Lao- 
coon, die  rechte  Hand  und  das  rechte  Bein  des  altern  Sohnes,  der 
rechte  Arm  des  Jüngern  Sohnes,  das  Meiste  an  der  einen  (obern) 
Schlange,  nebst  mehrern  Enden  der  sonst  erhaltenen  Extremitäten. 
Manche  Stellen  zeugen  von  der  Wirksamkeit  moderner  Schabeisen. 
Wir  haben  das  Werk  nicht  zu  erklären,  sondern  nur  davon  zu 
reden,  wie  der  Einzelne  es  sich  am  ehesten  geistig  zu  eigen  machen 
könne.  Das  Erste,  worüber  man  genau  ins  Klare  kommen  muss,  ist 
der  Moment,  dessen  Wahl  und  Bezeichnung  an  sich  schon  ihres  Gleichen 
nicht  mehr  hat.  Man  wird  finden,  dass  derselbe  aus  einem  unver- 
gleichlichen Zusammenwirken  einer  Anzahl  Momente  verschiedenen 
Grades  besteht.  In  und  mit  diesen  entwickeln  sich  die  Charaktere 
zu  einem  Ausdruck,  welcher  in  dem  Kopfe  des  Vaters  seinen  höchsten 

•   ')   Ajax  allein,  fast  in  derselben  Haltung,  in  einer  Bronze  des  Museo  zu  Parma. 


Laocoon.  Toro  Farnese. 


503 


Gipfelpunkt  erreicht.  Bei  weiterer  Betrachtung  wird  man  inne  wer- 
den, wie  die  dramatischen  Gegensätze  zugleich  die  schönsten  plasti- 
schen Gegensätze  sind,  und  wie  die  Ungleichheit  der  beiden  Söhne 
an  Alter,  Grösse  und  Vertheidigungskraft  ausgeglichen  wird  durch 
jene  furchtbare  Diagonale,  welche  in  der  Gestalt  Laocoons  sich  aus- 
drückt; die  Gruppe  erscheint  schon  als  Gruppe  absolut  vollkommen, 
obschon  sie  nur  für  die  Vorderansicht  bestimmt  ist.  Das  Einzelne 
der  Durchführung  ist  dann  noch  der  Gegenstand  langen  Forschens 
und  stets  neuer  Bewunderung.  Sobald  man  sich  Rechenschaft  zu 
geben  anfängt  über  das  Warum?  aller  einzelnen  Motive,  über  den 
Mischungsgrad  des  leiblichen  und  des  geistigen  Leidens,  so  eröffnen 
sich,  ich  möchte  sagen,  Abgründe  künstlerischer  Weisheit.  Das  Höchste 
aber  ist  das  Ankämpfen  gegen  den  Schmerz,  welches  Winckelmann 
zuerst  erkannt  und  zur  Anerkennung  gebracht  hat.  Die  Mässigung  im 
Jammer  hat  keinen  bloss  ästhetischen,  sondern  einen  sittlichen  Grund. 


Die  figurenreichste  Freigruppe  der  alten  Kunst  ist  endlich  die 
des  farnesischen  Stieres  in  der  danach  benannten  Halle  des 
Museums  von  Neapel;  ein  Werk  des  ApoUonius  und  Tauriscus  von 
Tralles,  welche  vielleicht  der  rhodischen  Schule  des  JH.  oder  H.  Jahr- 
hunderts V.  Chr.  angehörten.  So  wie  sie  jetzt  vor  uns  steht,  ist  sie 
dergestalt  mit  antiken  und  modernen  Restaurationen  versehen,  dass 
man  nicht  einmal  für  die  wesentlichsten  Umrisse  eine  sichere  Bürg- 
schaft hat.  Der  Moment  wäre  nach  dem  jetzigen  Zustande  der,  dass 
das  vom  Haar  der  Dirce  ausgehende  Seil  dem  wilden  Stier  schon  um 
das  rechte  Hörn  geschlungen  ist  und  ihm  erst  um  das  linke  ge- 
schlungen werden  soll,  wesshalb  die  beiden  Jünglinge  (Zethus  und 
Amphion)  das  Thier  an  der  Stirn  und  an  der  Schnauze  festhalten; 
die  von  hinten  zuschauende  Antiope  soll  (wenn  man  aus  dem  Schwei- 
gen des  Plinius  urtheilen  darf)  eine  spätere,  römische  Zuthat  sein,  in 
welchem  Fall  die  ganze  Basis  umgearbeitet  sein  müsste. 

Von  dem  ursprünglichen  Detail  sind  die  erhaltenen  Stücke  der 
beiden  Brüder  von  sehr  tüchtiger  lebensvoller  Arbeit;  die  untere  Hälfte 
der  Dirce  mit  der  herabgesunkenen,  grossartig  geworfenen  Gewandung 
würde  den  besten  griechischen  Resten  ähnlicher  Art  kaum  nachstehen. 
Auch  beim  jetzigen  Zustande  wird  man  die  Sonderung  der  Figuren, 


!'--'>~-'i"*iTV  ■  ■JVit~  im  I 


5Ö4 


Antike  Scalptor.    Gruppen. 


die  Contraste  in  den  Momenten  der  Anstrengung  und  des  Leidens, 
die  Aufthürmung  des  Ganzen  auf  Felsstufen  verschiedener  Hihe  min- 
destens geschickt  und  glücklich  nennen  müssen. 

Allein  das  Ganze  richtet  sich  durchaus  nur  an  den  äussern  Sinn. 

Dass  die  beiden  Brüder  sich  aus  Mutterliebe  an  der  höien  Dirce 
rächen,  erfahren  wir  aus  der  Mythologie,  allein  nicht  aus  den  Kunst- 
werk, welches  an  sich  nichts  als  eine  Brutalität  vorstellt.  Dese  wird 
uns  allerdings  vorgeführt  mit  einer  Energie  und  einem  Reichihum  von 
Mitteln,  welche  die  Kunst  sich  erst  an  ganz  andern  Gegenständen 
hatte  erwerben  müssen,  ehe  sie  dieselben  an  einer  solchen  Bravour- 
arbeit  missbrauchen  konnte. 


Den  Beschluss  würde  die  weltberühmte  Gruppe  der  Niobe 
machen,  wenn  nicht  gerade  die  Zusammenstellung  der  vonandenen 
Figuren  zur  Gruppe  so  überaus  streitig  wäre. 

Es  gab  im  alten  Rom  in  oder  an  dem  Tempel  des  Apo.lo  Sosia- 
nus  eine  aus  Griechenland  gebrachte  Gruppe,  welche  den  Untergang 
der  Niobiden  (bekanntlich  durch  die  Geschosse  des  Apoll  und  der 
Artemis)  darstellte  und  welche  die  Einen  dem  Skopas,  die  Andern 
dem  Praxiteles  zuschrieben.  Im  Jahre  1583  fand  man  in  der  Villa 
Palombara  zwischen  S.  Maria  maggiore  und  dem  Laterar  wirklich 
eine  Anzahl  Statuen  dieses  Inhalts  auf;   es  sind  diejenigen,  welche 

a  später  nach  Florenz  kamen  und  jetzt  nebst  anderweitig  gefundenen 
im  Niobe- Saal  der  Uffizien  aufgestellt  sind.  Allein  die  Arbeit  steht 
nicht  nur  durchgängig  beträchtlich  unter  derjenigen  Höhe,  welche 
man  dem  Styl  eines  Skopas  oder  Praxiteles  zuschreiben  darf,  sondern 
auch  die  einzelnen  Statuen  sind  unter  sich  höchst  verschieden  in  Güte 
und  Styl,  selbst  in  der  Marmorgattung,  und  treten  somit  auf  die  Stufe 
einer  alten  Copie  von  verschiedenen  Händen  zurück.     Es  muss  be- 

b  merkt  werden,  dass  die  beiden  Ringer  in  der  Tribuna  und  das  Pferd 

c  in  der  innern  Vorhalle  derselben  Galerie  mit  diesen  Statuen  gefunden 
wurden.  Inzwischen  entdeckte  man  an  verschiedenen  Orten  Köpfe 
und  Figuren,  welche  theils  Wiederholungen  der  florentinischen,  theils 
mit  vVahischeiiilichkeit  demselben  Cyclus  einzuordnen  sind: 

d  Vatican:  Museo  Chiaramonti:  die  eilende  Tochter,  ohne  Kopf  und 
Arme;    ein  schöner   Kopf   (509),    Ariadne  benannt,   gehört  vielleicht 


Niobe. 


505 


auch  hieher;    —  Galeria  delle   Statue:   eine  niedersinkende  Tochter,  a 
nebst  dem  Knie  eines  Bruders,  auf  das  sie  sich  stützt  (auch  als  Ce- 
phalus  und  Procris  bezeichnet);  —  oberer  Gang:  ein  fliehender  Sohn,  b 

Mu.seo  capitolino:  obere  Galerie:  ein  fallender  und  ein  knieender  c 
Sohn,    auch  zwei  Töchter,  wovon  die  eine  als  Psyche  i)   umgebildet 
ist;   ein  colossaler  Kopf  der  Mutter,   nebst  einem  oder  zwei  andern 
Köpfea  dieses  Typus;  —  grosser  Saal:  die  Statue  eines  alten  Weibes,  d 
welche  man  für  die  Amme  der  Töchter  ausgiebt, 

Museum  von  Neapel:  Halle  des  Tiberius:  vielleicht  ist  eine  stehende,  e 
ganz  bekleidete  Statue  eine  Niobide. 

Ausserhalb  Italiens  ist  der  sog.  Ilioneus  in  der  Münchner  Glypto- 
thek nach  allgemeiner  Ansicht  ein  Niobide  und  zwar  gemäss  der  Vor- 
trefflichkeit der  Arbeit  (die  alle  florentinischen  etc.  Figuren  weit  über- 
trifft) vielleicht  ein  echter  Bestandtheil  der  Originalgruppe. 

Andere  Statuen,  welche  theils  Niobiden  gewesen  sind,  theils  durch 
die  Restauratoren  dazu  gemacht  wurden,  könnten  wir  nicht  ohne 
Weitschweifigkeit  und  Unsicherheit  besprechen. 

Wie  man  sich  nun  diesen  Vorrath  als  Ganzes  zu  denken  habe, 
darüber  gehen  die  Ansichten  dergestalt  auseinander,  dass  nicht  einmal 
durchgängig  die  Giebelgruppe  eines  Tempels  darin  anerkannt  wixd, 
während  Manche  aus  nicht  zu  verachtenden  Gründen  den  Vorrath  in 
zwei  Giebelgruppen  vertheilen.  In  diesem  Fall  bestände  der  Mittel- 
punkt in  der  einen  aus  der  Mutter,  in  der  andern  aus  dem  Pädagogen ; 
jene  würde  die  Töchter,  diese  die  Söhne  enthalten  haben. 

Das  echte  alte  griechische  Meisterwerk  wird  man  sich  nie  mehr 
genau  vergegenwärtigen  können.  Schon  die  alten  römischen  Wieder- 
holer sind  zu  willkürlich  damit  umgegangen  und  haben  daneben  auch 
einzelne  Motive  z.  B.  als  Musen,  als  Psychen  benützt.  Eine  Wieder- 
holung des  Ganzen  war  so  kostspielig,  dass  mehr  als  ein  Besteller  sich 
vielleicht  mit  einer  Art  von  Excerpt  begnügte;  wer  ein  paar  Statuen 
hatte,  Hess  sich  vielleicht  die  fehlenden  hinzuarbeiten,  so  gut  er  sie 
um  billigen  Preis  haben  konnte.  Gewiss  sind  auch  einzelne  Figuren 
und  Köpfe  um  der  Schönheit  des  Motives  willen  besonders  ausgeführt 
worden. 


1)  Eine  gegeisselte  Psyche.     [Br.J 
Urcicerone. 


33 


5o6 


Antike  Scnlptar.    Gnippen. 


Solange  man  genöthigt  ist,  die  florentinischen  Exemplare  zu  Grunde 
zu  legen,  wird  man  das  Ganze  nie  in  e  i  n  e  r  Giebelgruppe  vereinigen 
können.  Das  Dasein  und  der  grosse  Massstab  des  Pädagogen  macht 
diess  unmöglich.  Ich  glaube,  dass  er  für  dieses  oder  ein  ähnliches 
Exemplar  von  einem  römischen  Wiederholer,  der  swei  Gruppen  aus 
dem  Ganzen  machte,  geschaffen  worden  ist,  man  brauchte  eine  grosse 
Figur  als  Mittelpunkt  für  die  Söhne,  und  in  dieser  zweiten  Redaction 
wurde  dann  das  Werk  weiter  wiederholt.  Das  abscheuliche  alte  Weib 
in  der  capitoHnischen  Sammlung,  das  man  als  Amme  mit  den  Niobiden 
in  Verbindung  bringt,  kommt  allerdings  an  den  Sarcophagen,  z,  B. 
a  demjenigen  im  Dogenpalast  zu  Venedig,  wieder  vor,  und  mag  in  der 
That  an  irgend  einem  andern,  wieder  anders  angeordneten  Exemplar 
der  Gruppe  als  Gegenstück  des  Pädagogen  gedient  haben.  In  dem 
florentinischen  Exemplar  fände  sie  schon  des  kleinen  Massstabes  we- 
gen kaum  eine  Stelle.  Ob  die  beiden  fraglichen  Gruppen  als  Giebel- 
gruppen eines  Tempels  dienten,  bleibt  höchst  ungewiss;  sie  konnten 
auf  irgend  eine  Weise  im  Freien  arrangirt  sein,  und  für  diesen  Fall 
erinnere  man  sich  wieder  an  das  dabei  gefundene  Pferd  i)  und  an  die 
beiden  Ringer.  Letztere  (s.  oben)  sind  wohl  sicher  keine  Niobiden 
gewesen,  allein  man  wusste  im  Alterthum,  dass  auch  zwei  Söhne  der 
Niobe  im  Act  des  Ringens  abgebildet  worden  waren,  und  der  Er- 
werber oder  Besitzer  des  (jetzt  florentinischen)  Vorrathes  stellte  zu 
seinen  Niobesöhnen  auch  die  beste  Ringergruppe,  die  er  besass  oder 
bekommen  konnte.  Wer  den  Pädagogen  hinzuthat,  der  war  auch 
weitern  Ergänzungen  gewiss  nicht  abgeneigt. 

Daran  aber  wird  man  kaum  zweifeln  dürfen,  dass  das  alte  Ori- 
ginal die  Giebelgruppe  eines  Tempels  bildete,  und  zwar  eine  einzige. 
Man  beachte  die  ausschliessliche  Berechnung  der  meisten  Statuen  auf 
den  Anblick  von  vorn. 

Unter  den  florentinischen  Figuren  mögen  den  Urbildern  am  näch- 
sten stehen:  die  grösste  Tochter;  die  Mutter  mit  der  jüngsten  Tochter; 
der  jüngste  Sohn;  der  bergan  flüchtende  Sohn  (mit  dem  Fusse  vor 
dem  Felsstück);  der  rettende  Sohn  mit  dem  Gewand  über  dem  Haupt 


1)   An  dem  venezianischen  Sarcophag  sind  drei  Söhne  re.tend  und  einer  vom  Pferde  stürzen<i  gebildet. 
Dem   Pädagogen  entspricht  ein  Mann  im  Hirtenkleid. 


Antike  Scülptnr.    Gruppen. 


507 


(irr  dem  Exemplar,  welchem  das  vaticiansche  Fragment  angehört,  eine 
an  seinem  Knie  niedergesunkene  Schwester  schützend);  —  von  den 
Töchtern  ist  mit  Ausnahme  der  genannten  keine  in  der  Arbeit  mit  der 
verstümmelten  laufenden  Statue  des  Museo  Chiaramonti  (S,  305,  d)  zu 
vergleichen  und  zwei  oder  drei  sind  ganz  gering,  was  auch  von  der 
Ausführung  in  mehrern  Söhnen  gilt.  Der  Pädagog  ist  eine  nicht  zu 
verachtende  römische  Arbeit,  nur  unangenehm  restaurirt.  Der  sog. 
Narciss  ist  mit  Recht  in  neuerer  Zeit  der  Sammlung  als  verwundeter 
Niobide  beigesellt  worden.  Vom  todten  Sohn  ist  in  München  ein  noch 
besseres  Exemplar. 

Wenn  nun  vielleicht  an  keiner  der  florentinischen  Statuen  ein 
griechischer  Meissel  gearbeitet  hat,  so  sind  sie  doch  von  grossem  und 
bleibendem  Werthe.  Das  überaus  grandiose  Motiv  der  Mutter  ver- 
einigt die  höchste  Gewalt  des  Momentanen  mit  der  grössten  Schön- 
heit der  Darstellung;  sie  flieht,  schützt  und  fleht;  das  Heraufziehen 
des  Gewandes  mit  der  Linken,  so  erfolglos  es  gegen  Göttergeschosse 
sein  mag,  ist  gerade  als  unwillkürliche  Bewegung  so  sprechend. 
(Diese  Theile  ergänzt,  aber  richtig.)  Die  ganze  Gewandung,  noch  in 
der  Nachbildung  vorzüglich,  muss  im  Urbild  von  einer  Herrlichkeit 
gewesen  sein,  die  vielleicht  keine  Antike  unter  den  vorhandenen  wie- 
dergiebt;  hier  ist  Alles  Bewegung  und  doch  kein  Flattern;  der  herr- 
lichste Körper  drückt  sich  darin  aus.  Den  Kopf  geniesst  man  besser 
in  Einzelabgüssen.  (Vielleicht  wird  bisweilen  mehr  hineinphantasirt, 
als  in  diesem  Exemplar  wirklich  ist.)  —  Nach  der  Mutter  wird  man 
wohl  dem  Sohne  mit  dem  Gewand  über  dem  Haupt  den  Preis  geben. 

Einer  genauen  Beachtung  ist  der  Typus  werth,  welcher  in  diesen 
Gestalten  durchgeführt  ist.  Mutter  und  Töchter,  soweit  ihre  Köpfe 
echt  sind,  haben  diejenige  grossartige,  reife  Schönheit,  welche  sich 
der  siegreichen,  auch  wohl  der  knidischen  Aphrodite  nähert;  selbst 
die  jugendlichsten  zeigen  einen  matronalen  Anflug,  wovon  man  sich 
durch  Vergleichung  mit  der  mediceischen  Venus  leicht  überzeugen 
kann:  es  ist  das  frühere  Schönheitsideal  der  griechischen  Kunst  über- 
haupt, welches  sich  zu  erkennen  giebt.  —  Die  Söhne  sind  gemässigt 
athletisch  gebildet,  und  ihr  Gesichtstypus  steht  zu  demjenigen  des 
Hermes  in  einem  ähnlichen  Verhältniss  wie  der  mehrerer  jugendlicher 
Athleten,   abgesehen  von  dem  zum  Theil  meisterhaft  mit  wenigen 

33* 


5o8 


Antike  Sctilptar.    Bildnisse. 


Zügen  gegebenen  Ausdruck  des  Momentes.     Zwei  davon  sind  in  dop- 
pelten  Exemplaren  aufgestellt. 

Die  vorgeschlagene  Zusammenstellung  der  Niobiden  mit  dem  Apoll 
vom  Belvedere  und  der  Diana  von  Versailles  kann  nur  beföngenen 
Gemüthern  zusagen.  Beide  sind  ihrem  Typus  nach  viel  spätem  Ur- 
sprunges als  das  Original  der  Niobiden.  Und  der  Grieche  verstand 
das  Schicksal  der  letztern  auch  ohne  eine  solche  erklärende  Zuthat, 
welche  nur  zerstreuen  konnte. 


Eine  an  so  vielen  Idealbildungen  grossgewachsene  Kunst  wie  die 
griechische  war,  konnte  auch  Bildnisse  schaffen  wie  keine  andere. 
Sie  gab  dieselben  im  höchsten  Sinne  historisch,  indem  sie  die  zu- 
fälligen Züge  den  wesentlichen  unterordnete  oder  wegliess,  indem  sie 
den  Charakter  des  ganzen  Menschen  ergründete  und  von  diesem  aus 
den  ganzen  Menschen  wieder  belebte,  nicht  wie  er  wirklich  war,  son- 
dern wie  er  nach  dem  geistigen  Kern  seines  Wesens  hätte  sein  müssen. 
Allerdings  gehörten  hiezu  auch  griechische  Aufgaben:  ausgezeich- 
nete Männer  und  Helden,  welchen  von  Staatswegen  oder  von  bewun- 
dernden Privatleuten  Statuen  gesetzt  wurden.  Aus  solchen  Einzel- 
gestalten konnten  wahre  Typen  für  jede  erhöhte  Menschendarstellung 
werden,  und  in  der  That  hat  die  Kunst  sich  noch  lange  an  diese  Motive 
höchsten  Ranges  gehalten  und  sie  bisweilen  auf  viel  spätere  Menschen 
übergetragen. 

Wir  betrachten  zunächst  die  ganzen  Statuen,  deren  in  Italien 
eine  bedeutende  Anzahl  erhalten  ist.  Der  Streit  über  die  Namen- 
gebung  berührt  uns  nicht,  sobald  v/ir  im  einzelnen  Falle  sicher  sind, 
das  Standbild  eines  berühmten  Griechen  vor  uns  zu  haben.  Einigen 
der  betreffenden  Werke  liegen  überdiess  erweislich  gar  keine  bei  Leb- 
zeiten gemachten  Bildnisse  zu  Grunde,  sodass  die  Kunst  den  ganzen 
Charakter  aus  eigenen  Mitteln  schaffen  musste;  bei  noch  mehrern 
lässt  sich  diess  wenigstens  vermuthen. 


Statacn  berühmter  Griechen. 


509 


Für  die  werthvoUste  Statue  dieser  Art  galt  lange  Zeit  der  sog. 
Aristides,  jetzt  Aeschines  des  Museums  von  N  e  a  p  e  U)  (Halle  der  a 
Flora),  bis  in  Terracina  der  sog.  Sophokles  gefunden  wurde  (im 
Museum  des  Laterans,  wo  ein  Abguss  des  Aeschines,  wie  in  Neapel  b 
einer  des  Sophokles,  zur  Vergleichung  in  der  Nähe  steht).  Von  diesen 
beiden  ruhig  stehenden,  ganz  ähnlich  in  Ein  Gewand  drapirten  Gestal- 
ten wird  der  Sophokles  schon  wegen  der  edlern  Züge  einen  Vorzug 
behalten;  ausserdem  hat  das  Gewand  des  Aristides  einige  gesuchte 
Zierlichkeiten,  namentlich  in  der  Gegend  beider  Hände,  einige  über- 
flüssige Augen  und  Falten,  zumal  über  dem  Bauch,  während  dasjenige 
des  Sophokles  einfach  nur  das  Nöthige,  dieses  aber  schön  und  leicht 
glebt;  endlich  laufen  beim  Aristides  die  Falten  von  der  linken  Hüfte 
auf  das  vortretende  rechte  Knie  zu  und  nehmen  der  Figur  auf  diese 
Weise  das  Gleichgewicht;  beim  Sophokles,  wo  sie  denselben  Gang 
nehmen,  wird  dies  harmonisch  aufgehoben  durch  das  Vortreten  des 
linken  Knies.  Die  Büchse  mit  den  Schriftrollen  steht  bei  jenem 
neben  dem  linken,  bei  Sophokles  neben  dem  rechten  Fusse. 

Beide  sind  unzweifelhaft  von  griechischem  Meissel  geschaffen, 
Diess  gilt  auch  noch  von  einigen  unter  den  Folgenden,  doch  nicht  von 
allen,  indem  auch  die  Römer  aus  geschichtlicher  und  literarischer  Pie- 
tät solche  Statuen  nach  griechischen  Originalen  arbeiten  Hessen,  haupt- 
sächlich zum  Schmuck  ihrer  Bibliotheken. 

Zunächst  mögen  einige  mehr  oder  weniger  zweifelhafte  genannt 
werden;  so  der  Alcibiades  (S.  436,  d)  und  der  P  h  o  c  i  o  n^)  im  Vatican  c 
(Sala  della  Biga),  letzterer  eine  einfach  schöne  bärtige  Heldenfigur  in 
Helm  und  derber  Chlamys,  nach  ihrer  Wiederholung  als  Statuette  (im 
obern  Gang  des  Vaticans)  zu  urtheilen  ein  beliebtes  und  bekanntes 
Motiv;  —  der  nackte,  stehende,  enthusiastische  Tyrtäus  (in  dem  hier  d 
danach  benannten  Eckzimmer  der  Villa  Borghese),  von  flüchtiger  aber 
guter  Arbeit,   mit  zweifelhaften  Restaurationen^) ;   —  der  halbnackte  e 
Lykurg  im  Vatican  (Sala  delle  Muse)  u.  s.  w.   —  Mehrere  sehr  be- 
rühmte, aber  auch  wohl  nicht  ganz  sichere  Philosophen  im  sog,  Kaffe-  f 


')   Eine  Wiederholung  des  Motivs,   aus  römischer  Zeit,   im  Ho{  dei   Dogenpalastes  zu  Venedig,  * 

unterhall)  der  Uhr. 
-)   Aristomenes  der  Mcssenier.     [Br.  J 
»)   Alcaeus.     (Br.) 


-4-' 


510 


Antike  Scnlptur.    Statuen  berühmter  Griechen. 


haus  der  Villa  Albani,  —  Um  so  sicherer  ist  mit  einer  verstümmelten 

a  Statue,  in  einem  obern  Zimmer  des  Palastes  dieser  Villa,  A  e  s  o  p  ge- 
meint; ein  concentrirter  Idealtypus  des  geistvollen  Buckligen,  nackt 
und  in  seiner  Art  meisterhaft  gebildet. 

Sehr  ausgezeichnet  durch  den  Innern  Ausdruck  mühsam  errunge- 

b  ner  rednerischer  Grösse:  der  Demosthenesim  Braccio  nuovo  des 
Vaticans  i) ;  —  von  dem  ebendort  befindlichen  E  u  r  i  p  i  d  e  s  gehört 
der  Kopf  wirklich  diesem  Dichter  und  der  Rumpf  jedenfalls  einem  be- 
rühmten Griechen,  beides  aber  hing  nicht  ursprünglich  zusammen.  — 
Ebendort  noch  ein  namenloser  Philosoph. 

c  Z  e  n  o  der  Stoiker,  im  Museo  capitolino  (Zimmer  des  sterbenden 
Fechters);  kurzer  Hals,  strammer  Schritt,  starke  Brust,  angezogener 
Mantel,  heftige  Züge  —  ein  wahres  Specimen  griechischer  Charakte- 
ristik, die  den  ganzen  Mann  in  lauter  Charakter  zu  verwandeln  wusste 
(die  Benennung  sehr  unsicher).  —  Bei  diesem  und  den  zunächst  vor- 
her Genannten  kann  man  sich,  beiläufig  gesagt,  überzeugen,  dass 
schon  die  Griechen,  und  sie  gerade  am  Bewusstesten,  an  gewissen 
Bildnissstatuen  eine  Idealtracht  darstellten.  Man  würde  sehr  irren, 
wenn  man  glaubte,  Euripides  und  Demosthenes  seien  wirklich  halb- 
nackt in  den  Gassen  von  Athen  herumgegangen.  Allein  diese  Ideal- 
tracht ist  eine  vereinfachte  wirkliche,  es  ist  der  Mantel,  ohne  das 
Unterkleid.  Und  nicht  jede  Tracht  lässt  sich  so  vereinfachen!  Mit  der 
unsrigen  wollen  wir  nicht  einmal  zum  Versuche  rathen. 

Unter  den  sitzenden,  meist  ganz  bekleideten  Statuen  nehmen 

rt  die  beiden  Komödiendichter  im  Vatican  (Galeria  delle  Statue) :  M  e  - 
n  a  n  d  e  r  und  Posidippus  eine  bedeutende  Stelle  ein;  zumal  der 
Erstere,  der  in  Stellung  und  Miene  so  fein  philiströs,  so  ernst  und 
gemüthlich  erscheint;  je  nach  den  Umständen  wird  er  als  Buffone 
oder  als  hohe  geistige  Macht  auftreten. 

e  Im  Palast  Spada  zu  Rom  (erster  unterer  Saal) :  Aristoteles, 
horchend,  nachdenkend,  mit  scharfen,  grämlichen,  ehemals  schönen 
Zügen  (die  Augen  ungleich);  Stellung  und  Gewand  ganz  anspruchlos. 
Die  Benennung  gilt  für  sicher. 


')   Statt  der  Rolle  in  den  Händen  richtiger  mit  verschränkten  Fingern  zu  restauriren.      |Br,  J 


Stataen  and  Köpfe  berühmter  Griechen. 


5" 


Im  Vorsaal   der  Villa  Ludovisi  zu   Rom:    eine  unbekannte,   vor-  a 
trefflich  drapirte  Statue  (mit  römischem  Kopf?),  bezeichnet  als  das 
Werk  des  Zenon,   Sohnes  des  Attinos,  von  Aphrodisias. 

Unter  mehrern  Statuetten  dieser  Art  (Einiges  im  obern  Gang  des  b 
Vaticans,  u.  a.  a.  O.)  müssen  zwei  im  Museum  von  Neapel  (Halle  der 
Musen),  die  eine  mit  der  Inschrift:  M  o  s  c  h  i  o  n  ,  besonders  hervor-  c 
gehoben  werden;    köstliche,   lebensvolle  Figuren,   Geberden  und   Ge- 
wandungen;  nicht  in  feierlichem  Reden,   sondern   etwa  in   ruhigem 
Dociren  gedacht,  bequem  rückwärts  gelehnt,  in  beiden  Händen  Schrift- 
rollen.   Endlich  der  zweifelhafte  Anakreon  im  Musenzimmer  der  Villa  d 
Borghese,  und  ,,Aristides  der  Smyrnäer"  im  Museo  cristiano  des  Va-  e 
ticans,  beide  in  ihrer  Art  bedeutend. 

In   den    Uffizien   zu   Florenz  könnte   der   ,, Jupiter"    (im  zweiten  f 
Gang)  vor  der  Restauration  ein  griechischer  Philosoph  gewesen  sein, 
allerdings  nur  in  römischer  Ausführung.    (Stehend,  mit  nackter  Brust, 
die  in  den  Mantel  gehüllte  Linke  auf  die  Hüfte  stützend.) 


Viel  zahlreicher  als  die  ganzen  Statuen  sind  natürlich  die  er- 
haltenen Köpfe  berühmter  Griechen,  dergleichen  noch  in  römischer 
Zeit  ganze  Reihen  müssen  nachgearbeitet  worden  sein.  Die  echte 
griechische  Form  für  Bildnisse,  welchen  man  keine  ganze  Statue 
widmen  wollte,  war  die  H  e  r  m  e  ,  d,  h.  ein  beinah  oder  völlig  manns- 
hoher Pfeiler  (und  zwar  ein  senkrecht  geschnittener),  dessen  oberes 
Ende  der  Kopf  sammt  einem  sehr  genau  bemessenen  Theil  der  Brust 
und  des  Schulteransatzes  bildete.  Allein  unter  den  ,, berühmten  Grie- 
chen" stehen  in  den  Galerien  blosse  Kopfe  mit  Hals,  Köpfe  mit  rö- 
mischer oder  moderner  Gewandbüste,  eigentliche  Hermen,  Fragmente 
von  Statuen  u.  s.  w.  beisammen,  ein  Gemisch,  das  wir  um  so  weniger 
auseinander  scheiden  können,  da  nur  das  Bedeutendste  hier  mit 
Namen  erwähnt  werden  darf. 

An    der  Spitze  der   griechischen  Porträtbildungen  steht  billig  der 
Typus  Homers.     Von  einem  wirklich  überlieferten  Bildniss  kann 
natürlich  keine  Rede  sein;  die  Kunst  hat  diesen  Kopf  allein  geschaffen. 
(Schönstes    Exemplar   im   Museum    von   Neapel,    Halle   des    Ti-  g 
berius;   ein  gutes  nebst  geringern  im  Philosophenzimmer  des  Museo  h 


512 


Antike  Scnlptur.    Köpfe  berühmter  Griechen. 


a  capitolino;  ein  guter  Bronzekopf  in  übelm  Zustande:  Uffizien  in  Flo- 
renz, Bronzen,  zweites  Zimmer.)  Ich  gestehe,  dass  mir  gar  nichts 
eine  höhere  Idee  von  der  griechischen  Sculptui  giebt,  als  dass  sie 
diese  Züge  errathen  und  dargestellt  hat.  Ein  blinder  Dichter  und 
Sänger,  mehr  war  nicht  gegeben.  Und  die  Kunst  legte  in  Stirn  und 
V/angen  des  Greises  dieses  göttliche  geistige  Ringen,  diese  Anstrengung 
voll  Ahnung  und  dabei  den  vollen  Ausdruck  des  Friedens,  welchen 
die  Blinden  geniessen!  An  der  Büste  von  Neapel  ist  jeder  Meisselschlag 
Geist  und  wunderbares  Leben. 

Auf  Homer  muss  zunächst  folgen  die  berühmte  eherneBüste 
b  des  Museums  von  Neapel  (grosse  Bronzen),  welche  man  für  das 
Bildniss  P  1  a  t  o  's  hält.     Beim  ersten  Blick  wird  der  Beschauer  eher 
an  einen  bärtigen  Bacchus  denken,  allein  Manches  deutet  darauf  hin, 
dass   eine   historische  Person   dargestellt  sei,   und  zwar  am  ehesten 
ein  Weiser   oder   Gesetzgeber,      Nicht  ideal,   sondern   individuell   ist 
z.  B.  schon  die  Linie  des  Profils,  die  Furchung  der  Stirn,  die  Partien 
der  Wangen  zunächst  der  Nase;   menschlich  jedenfalls  die   Bildung 
der  Schlüsselbeine,      Das  Vorhandene  als  Fragment  einer  Statue  ge- 
dacht, wird  man  auf  eine  sitzende  Stellung,  einen  aufgestützten  linken, 
einen  herabhängenden  rechten  Arm.  schliessen  dürfen.     In  den  per- 
sönlichen Formen  aber  lebt  ein  übermenschlicher  Ausdruck  der  Ruhe 
und  Geisteshoheit,  wie  der  eines  milden  Herrschers,     Der  ungeheure 
Nacken,  welcher  göttlichen  Bildungen  entnommen  scheint,  fügt  das 
Gefühl  unv/iderstehlicher  Kraft  hinzu.    Das  sehr  schön  alterthümlich 
gebildete  Haupt-  und  Barthaar  dagegen  zeigt  die  Tracht  einer  be- 
stimmten Zeit  in  möglichster  Veredelung,  sowie  die  Sculpturen  von 
Ninive  eine  Haartracht  in  feierlicher  Erstarrung  erkennen  lassen. 
Die  grosse  Masse  der  übrigen  steht  hauptsächlich  an  folgenden 
c  Orten  beisammen:  Im  Vatican:   Sala  delle  Muse,  Büstenzim.mer  und 
d  Galeria  geografica;   —  Museo  capitolino:  das  schon  genannte  Philo- 
e  sophenzimmer;    —  Villa  Albani:  untere  Halle  des  Palastes,  und  Ne- 
f  bengalerie   rechts;    —  Museum  von  Neapel:    Grosse  Bronzen,    erster 
g  Gang  der  Marmore,  Halle  der  berühmten  Männer,  und  Halle  des  Ti- 
li berius;    —  Uffizien  in  Florenz;   Halle  der  Inschriften;    —  u.  ai,  a.  O. 
Das    Interesse,    welches   der    Beschauer   diesen    Köpfen    widmen 
wird,  hängt  natürlich  meist  von  der  historischen  Theilnahme  für  die 


^^^^iLS.-il---!f:'i.y.^L^i^^^ 


Köpfe  berühmter  Griechen. 


513 


Menschen  ab.  Nun  sind  leider  auch  hier  bei  weitem  die  meisten  Be- 
nennungen (selbst  manche  der  in  griechischen  Buchstaben  eingegra- 
benen) streitig  oder  höchstens  nur  wahrscheinlich;  man  errieth  z.  B. 
bestimmte  Philosophen  aus  dem  physiognomischen  Einklang  ihrer 
Lehre  mit  bestimmten  Köpfen,  eine  Methode,  welche  doch  immer  sehr 
fragliche  Resultate  abwerfen  wird.  Aus  Gemmen  und  aus  Münzen 
der  Heimathstädte  berühmter  Griechen  mit  deren  flüchtigem  Profilkopf 
wurden  die  Namen  für  eine  Anzahl  von  Büsten  ermittelt.  Der  capi- 
tolinische  Äschylus  soll  seinen  Namen  bloss  dem  kahlen  Haupt  ver-  a 
danken,  welches  allerdings  für  den  grossen  Tragiker  schon  seiner 
Todesart  wegen  ein  wahres  Abzeichen  sein  musste.  Wir  wollen  einige 
der  sicher  benannten  und  zugleich  berühmtem  bezeichnen. 

Einige  der  sieben  WeisenG  riechenlands,  ideale  Cha-  b 
rakterhermen,  im  Musensaal  des  Vaticans,  flüchtige  Nachahmungen 
(wie  man  annimmt)  nach  Lysippos.   Ebendaselbst:  Perikles  und  Aspa- 
sia.    Anderswo  auch  Miltiades  und  Themistokles.    Sokrates  in  reicher 
Abstufung,  vom  feinsten  Ausdruck  bis  zur  rohen  Brunnenmaske,  in 
allen  Sammlungen.  Von  den  T  r  a  g  i  k  e  r  n  ist  in  Büsten  nur  Euripides 
(in  vielen  Exemplaren)  ganz  sicher,  von  den  übrigen  Dichtern  vielleicht 
nicht  einmal  der  capitolinische  Pindar;  der  sehr  schöne  Bronzekopf  c 
sammt  Schultern,  welcher  im  Museum  von  Neapel  (grosse  Bronzen)  d 
Sappho  heisst,  kann  auf  diesen  Namen  so  viel  oder  wenig  Anspruch 
machen,  als  die  übrigen  Büsten,  die  man  so  benennt.    Von  den  Typen 
der  Philosophenköpfe  werden   etwa  zwölf  unbedingt  aner- 
kannt, von  den  namhaftem  Rednern  Isokrates,  Lysias  und  Demo- 
sthenes,  sammt  der  zweifelhaften  Statue  des  Äschines.    (Hübsche  und 
sichere  Köpfchen  von  Epikur,  Zeno,  Demosthenes  u.  A.  bei  den  klei-  e 
nen  Bronzen  des  Museums  von  Neapel;  dagegen  die  Büsten  des  He- 
raklit  und  Demokrit  bei  den  grossen  Bronzen  bezweifelt  werden;  der  i 
schöne  sog.  Archytas  ebenda  ist  vollends  willkürlich  so  benannt.)    Zu- 
verlässig und  bedeutend:  die  marmorne  Doppelherme  der  beiden  Ge- 
schichtschreiber H  e  r  o  d  o  t  und  Thucydides  in  demselben  Mu-  g 
seum  (Halle  des  Tiberius). 

In  den  Uffizien  zu  Florenz  enthält  die  Halle  der  Inschriften  u.  a. 
einen  schönen  Hippokrates,  einen  geringem  Demosthenes,  eine  namen-  h 
lose  griechische  Herme,  einen  bezeichneten  Solon,  einen  Aristophanes 


.»«.in,  .^.  ^   ^; 


SI4 


Antike  ScQlptar.    Diadochenköpfe. 


a  (flüchtig  und  sehr  verdorben,  trotz  der  griechischen  Inschrft  eine 
späte  Arbeit),  einen  Alcibiades,  welcher  der  vaticanischen  Statve  (Sala 
della  biga)  gleicht,  einen  jener  Köpfe,  welche  Sappho  zu  heissen 
pflegen,  u.  A.  m. 

Von  den  bessern  Büsten  dieser  Art,  d.  h.  von  denjenigen,  welche 
nicht  späte  Dutzendnachbildungen  sind,  gilt  durchgängig,  was  schon  bei 
Anlass  der  ganzen  Statuen  gesagt  wurde:  sie  stellen  den  Menschen  so 
umgegossen  dar,  wie  er  nach  seinem  tiefsten  Wesen  hätte  sen  müs- 
sen, und  verdienen  desshalb  den  Namen  —  nicht  von  ,,idealsirten", 
sondern  von  Idealbildnissen  im  besten  Sinne.  Es  wird  nicht  etwas 
conventioneil  für  schön  Geltendes  von  aussen  in  den  Kopf  hineinge- 
bracht, sondern  das  persönliche  Ideal,  was  innen  in  Jedem  verborgen 
lag,  wird  entwickelt. 

Vielleicht  hatte  die  griechische  Kunst  schon  einen  bedeutend 
schwerern  Stand,  als  sie  seit  Alexander  die  Fürsten  der  neuen  grie- 
chischen Reiche,  seine  Nachfolger  (D  i  a  d  o  c  h  e  n)  verherrlichen 
musste.  Hier  galt  es  nun  allerdings  lebende  Zeitgenossen,  und  zwar 
zum  Theil  Menschen  von  abscheulichem  oder  verächtlichem  Charakter; 
und  diese  wollten  überdiess  in  einer  ganz  besondern  Weise  :dealisirt 
sein,  indem  sie  sich  oft  als  bestimmte  Götter  abbilden  Hessen.  Die 
griechische  Sculptur  that  nun  das  mehr  als  Mögliche.  Ohne  von  den 
bezeichnenden  Zügen  des  Betreffenden  wesentlich  abzugehen,  gab  sie 
dieselben  mit  einer  eigenthümlichen  Grösse  und  Offenheit  wieder,  wie 
sie  etwa  in  einzelnen  guten  Stunden  konnten  ausgesehen  haben.  Das 
Verschmitzte,  Kleinlich-Bösartige,  das  wir  z.  B.  bei  den  spätem  Ptole- 
mäern  vermuthen,  wird  hier  gar  nicht  dargestellt,  weil  der  Ausdruck 
eines  göttlich  waltenden  Herrschers  das  wesentliche  Ziel  war.  Viel- 
leicht die  nächste  Analogie  in  der  ganzen  Kunstgeschichte  gewähren 
eine  Anzahl  von  Bildnissen  Tizians,  in  welchen  die  Menschen  des 
XVI.  Jahrhunderts  auch  so  gross  und  so  frei  von  allem  Momentanen 
und  kleinlich  Charakteristischen  vor  uns  erscheinen,  wie  sie  vielleicht 
selten  oder  nie  sich  wirklich  ausnahmen. 

Die  höchst  prunkhaften  und  zum  Theil  colossalen  Statuen,  welche 
in  Antiöchien,  Alexandricn,  Pergamus  u.  a.  damaligen  Residenzen  er- 
richtet wurden,  sind  freilich  alle  verloren,  und  unser  obiges  Urtheil 
ist  auf  eine  Anzahl  von  Köpfen  im  Museum  von  Neapel  beschränkt, 


Bildnisse  Alexanders  des  Grossen. 


515 


welche  vielleicht  nur  spätere  Copien  gleichzeitiger  Bildnisse  sind.    (Der 
marmorne  Ptolemäus  Soter  im  ersten  Gang;  die  übrigen  fünf  Ptole-  a 
mäer  nebst  der  zweifelhaften  Berenice  (Seite  455,  c)  bei  den  grossen  b 
Bronzen.)     Es  erscheint  ewig  lehrreich,  wie  hier  die  Unregelmässig- 
keiten der  Gesichtszüge  ganz  unverhohlen  zugestanden  und  doch  mit 
einem  hohen  Ausdruck  durchdrungen  werden  konnten.    (Ob  der  wun- 
derlich gelockte  Frauenkopf  wirklich  den  weibischen  Ptolemäus  Apion 
darstellt,  wollen  wir  nicht  entscheiden;  von  der  berühmten  Kleopatra 
ist  unseres  Wissens  nur  das  sehr  zweifelhafte  Köpfchen  im  Philoso-  c 
phenzimmer  des  Museo  capitolino  vorhanden.) 

Ein  Räthsel  ist  und  bleibt  aber  das  Bild  des  Gründers  aller  Dia- 
clochenherrlichkeit,  Alexandersdes  Grossen  selbst.  Man  weiss, 
wie  sehr  er  dafür  besorgt  war,  dass  seine  Züge  nur  in  hoher  Auf- 
fassung und  meisterlicher  Ausführung  auf  die  Nachwelt  kommen  möch- 
ten und  v/ie  Lysippos  gleichsam  ein  Privilegium  hiefür  besass.  Und 
in  der  That  zeigen  die  beiden  berühmten  Colossalköpfe  des  M  u  s  e  o  d 
capitolino  (Zimmer  des  sterbenden  Fechters)  und  der  Uffizien  in 
Florenz  (Halle  des  Hermaphroditen)  einen  vergöttlichten  Alexander, 
und  zwar,  wie  man  bei  dem  erstem  annimmt,  als  Sonnengott.  (We- 
nigstens war  er  in  einem  der  Lysippischen  Werke,  wovon  dieses  eine 
Nachahmung  sein  möchte,  so  gebildet.)  Es  ist  ein  mächtig  schönes 
Haupt  mit  aufwärts  wallenden  Stirnlocken,  aber  woher  dieser  Zug 
der  Wehmuth?  wir  denken  uns  Alexander  vielleicht  wohl  gerne  so, 
mit  einem  Vorgefühl  des  nahen  Todes  mitten  in  den  Herrlichkeiten 
des  eroberten  Asiens,  allein  für  die  griechische  Kunst  wäre  solch  eine 
sentimentale  Andeutung  etwas  auffallend.  Noch  viel  deutlicher  findet 
sich  dieser  Ausdruck  in  dem  florentinischen  Kopfe  (Uffizien,  Halle  e 
des  Hermaphroditen).  Hier  ist  der  Schmerz  ungemein  stark  in  den 
aufwärtsgezogenen  Augbrauen,  in  der  Stirn,  im  Munde  ausgedrückt; 
der  Sohn  Philipps  wird  zu  einem  jugendlichen  Laocoon.  Die  einfach 
grandiose  Arbeit  übertrifft  bei  weitem  die  des  capitolinischen  Kopfes. 
(Man  benennt  dieses  ausserordentliche  Werk  wohl  mit  Unrecht  als 
,, sterbenden  Alexander";  der  ,, leidende"  möchte  richtiger  sein;  eine 
genügende  Erklärung  giebt  es  nicht.) 

Von   der   Reiterstatue,   welche   in    Alexandrien   dem   Gründer   zu 
Ehren  errichtet  war,  wissen  wir  nichts  mehr;  dagegen  ist  von  einem 


5i6 


Antike  Sculptar.    EaiserstatueQ  im  Harnisch. 


im  Kampfgewühl  zu  Pferde  streitenden  Alexander  —  wahrscheinlich 
einer  sehr  ausgezeichneten  Gruppe  —  wenigstens  eine  kleine  Erinne- 
a  rung  vorhanden  in  der  sehr  lebendig  gedachten  Bronzestatuette 
des  Museums  von  Neapel  (grosse  Bronzen;  ein  lediges  Pferd,  wel- 
ches in  der  Nähe  des  Reiters  aufgestellt  ist,  könnte  der  Arbeit  nach 
wohl  dazu  gehören  und  ebenfalls  aus  jener  Gruppe  v/iederhclt  sein). 
Ausser  diesen  Idealbildungen  hat  sich  aber  auch  noch  ein  lebens- 
treues Porträt  erhalten,  u.  a.  in  einer  (bezeichneten)  Büste  ces  Lou- 
vre.  Der  Gypsabguss  z,  B.  in  der  Academie  de  France  bietet  eine 
anregende  Vergleichung  zunächst  mit  dem  capitolinischen  Kopfe  dar. 
Die  Bronze  in  Neapel  gleicht  ihm  in  den  Zügen  mehr  als  jenen  beiden 
Idealköpfen. 


Unter  allen  römischen  Bildnissen  kommen  natürlich  die 
der  Kaiser  und  ihrer  Angehörigen  vorzüglich  häufig  vor.  Die  Ge- 
legenheiten, Statuen  und  Büsten  der  Herrscher  aufzustellen,  waren  der 
verschiedensten  Art;  die  Foren  und  Basiliken  der  Städte  mussten  von 
Rechtswegen  damit  versehen  sein,  die  Gebäude  jedes  Kaisers  enthiel- 
ten gewiss  die  Bildnisse  seiner  ganzen  Familie,  und  auch  mancher 
Privatmann  mochte  es  gerathen  finden,  seinem  Herrn  ein  Denkmal  zu 
setzen.  Im  III.  Jahrhundert  wurden  bereits  die  Bilder  der  frühern 
guten  Kaiser,  zumal  das  des  Marc-Aurel,  aus  historischer  und  reli 
giöser  Verehrung  vervielfacht. 

Unter  den  ganzen  Statuen  sind  die  geharnischten  die  häufig- 
sten. Der  Brustpanzer  und  die  unten  daran  befestigten  Schuppen  sind, 
oft  überreich,  mit  getriebener  Arbeit,  Victorien,  Löwenköpfen  u.  dgi. 
geschmückt;  von  dem  Kriegermantel  (Paludamentum)  erscheint  ein 
Bausch  auf  der  linken  Schulter;  das  Übrige  zieht  sich  hinten  abwärts 
und  kommt  über  dem  linken,  auch  wohl  über  dem  rechten  Arm  wie- 
der zum  Vorschein;  die  Rechte  wird  meist  gesticulirend,  auch  etwa 
mit  einer  Waffe  restaurirt.  Sehr  oft,  ja  in  der  Regel,  ist  nur  der 
Rumpf   alt   oder   ursprünglich;    dem   Kopfwechsel   war   gerade   diese 

b  Gattung  am  meisten  unterworfen.    (Der  prächtig  geharnischte  L.  Ve- 
ras, im  Vatican,  Galeria  delle  Statue;  eine  Anzahl  von  den  besten  in 

c  der  untern  Halle  des  Palastes  der  Villa  Albani;  andere  im  Museum 


WWi^f^^^^^^^^^ 


Togati.    Reiterstatuen. 


517 


von  Neapel,  dritter  Gang.  Aus  sehr  gesunkener  Zeit:  Constantin  d.  Gr.  a 
in  der  Vorhalle  der  Kirche  des  Laterans,  und,  sammt  seinem  gleich-  b 
namigen  Sohn,  auf  der  Balustrade  der  grossen  Capitolstreppe.)  c 

Mit  der  Toga  Hessen  sich  die  Kaiser  theils  in  gewöhnlicher  Stel- 
lung, theils  als  Opferer  abbilden,  wobei  das  Gewand  über  den  Kopf 
gezogen  v/urde,     (Gute  Beispiele:  der  erstem  Art:  der  Claudius  und  d 
vorzüglich  der  Titus  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans;  auch  noch  der 
Nerva  ebenda;  der  Augustus  in  der  Innern  Vorhalle  der  Uffizien  zu  e 
Florenz,  mit  aufgesetztem  Kopf;  weniger  gut  der  Hadrian  ebenda;  — 
der  letztern  Art:  der  sog.  Genius  des  Augustus,  in  der  Sala  rotonda  f 
des  Vaticans;   der  Caligula  im  Hauptsaal  der  Villa  Borghese.      Ein  g 
junger  Römer,  welcher  die  Toga  auf  gewöhnliche  Weise  und  auf  der 
Brust  eine  Bulla  oder  Amulet  trägt,  ist  im  Museum  von  Neapel,  drit-  h 
ter  Gang,  vielleicht  mit  Unrecht  unter  die  Kaiser  und  ihre  Angehöri- 
gen gerathen,  da  sein  Kopf  aufgesetzt  ist.) 

Zu  den  eigentlich  historischen  Darstellungen  gehört  auch  noch  die 
einzige  vollständig  vorhandene  Reiterstatue')  dieser  Art:  die  des 
M  a  r  c  -  A  u  r  e  1  auf  dem  Platze  zwischen  den  capitolinischen  Palästen,  i 
vortrefflich  gedacht  und  von  sehr  würdiger  Gewandung  und  Geberde, 
nur  durch  das  unförmliche  Pferd  (vielleicht  Abbildung  des  kaiserli- 
chen Streitpferdes)  in  Nachtheil  gesetzt.    (Der  Kopf  zu  vergleichen  mit 
dem  ebenfalls  guten  colossalen   Bronzekopf  im  Hauptsaal  der  Villa  k 
Ludovisi.)  —  Von  der  bei  Statius  besungenen  Reiterstatue  Domitians 
giebt  etwa  der  riesenhafte  Marmorkopf  im  Hof  des  Conservatoren-  1 
palastes  eine  Idee,  der  uns  jetzt  nur  noch  als  Beispiel  für  die  Be- 
rechnung des  Colossalen  auf  die  Ferne  interessiren  kann,    (Ein  anderer 
nicht  minder  riesenhafter  Imperatorenkopf  im  Giardino  della  Pigna  m 
des  Vaticans.) 

Neben  diesen  Porträtbildungen  im  engern  Sinn  versuchte  die 
Kunst,  so  lange  sie  noch  lebendig  war,  auch  ein  erhöhtes  Dasein,  ein 
übermenschliches  Walten  in  den  Kaisern  auszudrücken.  Vielleicht 
schloss  sie  sich  dabei  an  diejenigen  Motive  an,  welche  von  den  Künst- 


')  Nebst  dem  zweifelhaften   Caligula   im   grossen    Saal   des   Pal.  Farnese,    und   dem  gering   ge- 
arbeiteten Fragment  eines  Nero  bei  den  grossen  Bronzen  des  Museums  von  Neapel. 


5i8 


Antike  Scülptur.    Ideale  Kaiserstatuen. 


lern  der  Diadochenhöfe  ausgebildet  worden  waren;  vielleicht  schuf  sie 
das  Ihrige  aus  eigenen  Kräften. 

Es  entstanden  thronende  Gestalten  mit  nacktem,  ideal  gebilde- 
tem Oberleib,  dessen  leise  Einwärtsbeugung  eine  majestätische  und 
vöUig  leichte  Haltung  des  Hauptes  vorbereiten  hilft.  Der  eine  Arm 
wird  durch  ein  hohes  Scepter  gestützt,  das  freilich  selten  richtig  restau- 
rirt  ist.  Das  Gewand  zeigt  sich  nur  als  Bausch  über  der  linken  Schul- 
ter, zieht  sich  dann  hinten  herum  und  bedeckt,  rechts  wieder  hervor- 
kommend, als  mächtige  Draperie  die  Kniee.     Ein  Fragment  im  Mu- 

a  seum  von  Neapel  (Hof  vor  der  Halle  des  farnesischen  Stieres)  zeigt, 
wie  die  Füsoe  dieser  meist  sehr  zertrümmerten  Bilder  i)  für  eine  Auf- 
stellung auf  hoher  Basis  berechnet  wurden;  sie  ruhen  auf  einem  schma- 
len, schräg  vorgeschobenen  Schemel. 

Die  schönsten  Exemplare  dieser  Art  sind  noch  in  ihrem  frag- 
mentirten  Zustande,  die  Fürsten  des  augusteischen  Hauses,  bekannt 

b  unter  dem  Namen  der  ,,K  aiserstatuen  von  Cervetr  i",  im 
Museum  des  Laterans.  Namentlich  zeigt  die  Gestalt  des  Claudius,  dass 
die  römische  Kunst  auf  diesem  Gebiet  grösserer  Dinge  fähig  war,  als 
man  ihr  gewöhnlich  zutraut.  —  Theilweise  ebenfalls  noch  von  hohem 

c  Werthe:   die  erste  und  besonders  die  zweite  sitzende   Statue  des  Ti- 

d  berius  im  Museo  Chiaramonti;  der  Nerva  (?)  in  der  Sala  rotonda 
des  Vaticans;  letzterer  sehr  zusammengeflickt,  aber  von  ganz  beson- 
ders mächtigem  Gewandmotiv;  —  die  beiden  mit  modernen  (ganz  wili- 

c  kürlich  gebildeten)  Köpfen  im  Museum  von  Neapel  (dritter  Gang)  etc. 
Manche  einzelne  Kaiserköpfe  in  den  römischen  u.  a.  Sammlungen 
zeigen  nicht  sowohl  durch  ihre  Grösse  als  durch  das  eigenthümlich 
Hohe  der  Behandlung,  dass  sie  solchen  halbidealen  Bildwerken  an- 
gehörten. 

Endlich  wurden  die  Kaiser  als  Heroen  oder  Götter  fast  oder  ganz 
nackt  und  stehend  abgebildet;  die  Hände  sind  so  selten  alt,  dass 
wir  keine  völlige  Gewissheit  darüber  haben,  ob  die  vorherrschende 
Haltung  wirklich  die  der  jetzigen  Restaurationen  war:   nämlich  die 


1)  Sie  wurden,  wie  so  vieles  Colossalc,  aus  mehrern  Stücken  zusammengesetzt,  die  später 
schon  durch  die  blosse  Vernachlässigung  wieder  auseinander  fielen,  selbst  ohne  absichtliche 
Zerstörung. 


Kaiser  als  Heroen.    Kaiserinnen. 


519 


Rechte  zum  Sprechen  erhoben  oder  einen  Globus  haltend,  die  Linke 
das  Schwert  und  einen  Bausch  des  Gewandes  fassend.     Die  werth- 
vollste  Statue  dieser  Art  ist  der  berühmte  colossale  P  o  m  p  e  j  u  s  (im  a 
Palast   Spadazu  Rom),  wahrscheinlich  dasselbe  Bild,  zu  dessen 
Füssen  der  ermordete  Cäsar  niedersank.    Wir  rechnen  ihn  der  heroi- 
schen Auffassung  nach  hieher,  obschon  er  kein  Kaiser  war^).     Was 
tolgt,  ist  grossentheils  untergeordnet  oder  durch  den  Kopfwechsel  weit 
empfindlicher  entstellt  als  die  Geharnischten.     Zum  Besten  gehören 
ein  paar  Statuen  des  L.  V  e  r  u  s  (im  Braccio  nuovo  des  Vaticans,  im  b 
dritten   Gang  des   Museums  von  Neapel   u.  a.  a.  O.),   abgesehen  von 
den  unangenehmen  Zügen.    Von  den  grossen  Bronzen  dieser  Art  im 
Museum  von  Neapel  erhebt  sich  keine  über  das  Mittelmässige,  auch  c 
der  Germanicus  nicht;  von  den  marmornen  (im  dritten  Gange)  sind  d 
ausser  Verus  noch  mehrere  von  mittelguter  Arbeit;  der  colossale  Ale- 
xander Severus  aber  (in  der  untern  Vorhalle)  schon  äusserst  leblos,  e 
Sehr  ansprechend  die  Statue  eines  jungen  Prinzen  von  ähnlichem  T3rpus,  i 
im  Museo  Chiaramonti  des  Vaticans.  —  Geringere  nackte  Kaiserkin- 
der: die  Bronzestatue  im  hintern  Saal  der  Villa  Borghese;  der  Prinz  g 
im  Verbindungsgang  der  Uffizien  zu  Florenz.  —  Im  Allgemeinen  wer-  h 
den  die  halbnackten  Thronenden  schon  desshalb  den  Vorzug  vor  den 
nackten  Stehenden  haben,  weil  das  Auge  bei  jenen  einen  Porträtkopf 
erwartet  und  erträgt,  da  sie  wirklich  nur  erhöht  aufgefasste  Bildnisse 
sein  wollen,  bei  diesen  dagegen  sich  auf  einen  heroischen  Idealkopf 
gefasst  macht,  statt  dessen  aber  wohlbekannte  Züge  findet. 

Die  Kaiserinnen  sind  durch  keinerlei  besondern  Schmuck  von 
den  Statuen  anderer  römischer  Damen  unterschieden'^).  Das  Preis- 
würdigste wurde  bei  Anlass  der  weiblichen  Gewandstatuen  beiläufig 
erwähnt;  die  Kaiserinnen  als  Göttinnen,  z.  B.  häufig  als  Venus,  zeigen 


' )  Ebenso  ist  hier  der  Colossalstatue  des  M.  A  g  r  i  p  p  a  zu  gedenken,  welche  sich  zu  V  e  n  e  d  i  g 
im   Hof   des   Pal.    Grimani  (unweit   S.    Maria   Formosa)   befindet.      Nur   decorativ   behandelt,  * 
aber    ein    grossartiges    Beispiel    heroisch -idealer    und    doch    getreuer    Bildnissauf  fassung.      Die 
starken    Restaurationen    fallen    in    die    Augen;    doch    scheinen    alt    und    nur    neu   angesetzt: 
Tronco,    Basis,    Cista    und   vielleicht   der    Delphin,    welcher    den    Seehelden    bezeichnet. 

2)   Selbst  das  Diadem  möchte  wohl  auch  andern  Frauen  zugekommen  sein,  ebenso  der  oft  sehr  ab- 
sonderlich scheinende  Haarputz.     Vgl.  S.  521,  Anm.  2. 


a.*^- 


iM 


520 


Antike  Sculptar.    Eaiserköpfe. 


denselben  bedenklichen  Contrast  zwischen  Wirklichem  und  Jdealem, 
wie  die  nackten  Kaiserstatuen. 


Wahrhaft  unzählbar  sind  die  Köpfe  und  Büsten  rcmischer 
Kaiser  und  ihrer  Angehörigen.  Wir  können  uns  hier  um  so  weniger 
auf  Näheres  einlassen,  als  der  Beschauer  gewöhnlich  schon  dirch  ein 
mitgebrachtes  historisches  Interesse  auf  das  Bedeutende  von  se.bst  hin- 
geführt wird.  Einige  Bemerkungen  mögen  indess  am  Platze  sein. 
Eine  eigene  grosse  Sammlung  von  Kaiserbüsten  ist  in  der  Stanza 

a  degli  imperatori  des  capitolinischen  Museums  au:gestellt. 
Aus  den  bessern  Jahrhunderten  finden  sich  dort  meist  geringere  Exem- 
plare, dafür  ist  die  Kaiserreihe  des  III.  Jahrhunderts  dort  repräsentirt 
wie  sonst  nirgends,  allerdings  durch  Beihülfe  sehr  gewagter  Taufen. 

b  Die  besten  Colossalköpfe  in  der  Sala  rotonda  des  Vaticans.    Auch  die 

c  grosse  florentinische  Kaisersammlung  (Uffizien,  erster  und 
zweiter  Gang)  enthält  viele  geringe  und  unsichere  Köpfe  (selbst  mo- 
derne, wie  Otho  und  Nerva).  Man  wird  beständig  die  bessern.  Büsten 
der  übrigen  Galerien  mit  zu  Rathe  ziehen  müssen. 

Vergebens  sucht  man  zunächst  in  den  öffentlichen  Sammlungen 
von  Rom  und  Neapel  ein  vollkommen  würdiges  Bildniss  des  grossen 
Cäsar  ;  keines  wiegt  die  Basaltbüste  und  den  Kopf  der  Togafigur  des 

d  Berliner  Museums  auf.  Die  Statue  in  der  untern  Halle  des  Conserva- 
torenpalastes  auf  dem  Capitol,  auf  welche  man  gewöhnlich  verwiesen 
wird,  ist  eine  v/ahrhaft  geringe  Arbeit.  Ein  Kopf,  der  mich  trotz 
seiner  sehr  flüchtigen  Ausführung  immer  von  neuem  anzog,  steht  im 

e  Museo  Chiaramonti  des  Vaticans;  es  ist  Cäsar  als  Pontifex  maximus, 
die  Toga  über  das  Haupt  gezogen,  mit  den  ernsten,  leidenden  Zügen 
seiner  letzten  Jahre.    Zu  den  bessern  Köpfen  gehört  auch  die  floreti- 

f  tinische  Marmorbüste  (Uffizien,  erster  Gang,  stark  abgerieben  und  re- 
staurirt);  der  in  der  Nähe  befindHche  Bronzekopf  stellt  eine  andere 
Person  vor. 

g  Der  schönste  Kopf  des  Augustusist  wohl  unstreitig  der  bron- 
zene in  der  vaticanischen  Bibliothek.     Büsten  und  Statuen  von  allen 

h  Altersstufen  (von  August  als  frühreifem  Jüngling  im  Museo  Chiara- 
monti an)  und  allen  Auffassungsweisen  finden  sich  überall. 


Kaiserköpfe. 


521 


Das  augusteische  Haus,  lauter  normale  und  charaktervolle 
Köpfe, blutsverwandt  erscheinend  trotz  der  vorherrschenden  Verbindung 
durch  Adoptionen,  ist  überall  stark  bedacht.  Die  Köpfe  des  Tiberius  sind 
fast  alle  gut;  von  Caligula  der  feinste  in  der  obern  Galerie  des  capi-  a 
tolinischen  Museums;  auch  der  basaltene  im  Kaiserzimmer  trefflich;  b 
Claudius  bei  weitem  am  besten  in  der  genannten  Statue  des  Laterans; 
Nero  fast  durchgängig  zweifelhaft:  als  Knabe  in  einem  schönen  Köpf- 
chen von  bösartigem  Ausdruck  (Museum  von  Neapel,  dritter  Gang) ;  c 
als  Sieger  des  Gesanges  in  zwei  halbcolossalen  Köpfen  (Vatican,  Zim-  d 
mer  der  Büsten,  und  —  wenn  ich  richtig  errathe  —  im  Museum  von  e 
Neapel,   Halle  des  Tiber,  mit  dem  Namen  Alexanders  des  Grossen). 
Von  Vitellius  in  Italien  vielleicht  kein  Kopf  von  dem  Werthe  desje- 
nigen in  Berlin;  ein  guter  im  Dogenpalast  zu  Venedig  (Sala  de'  Busti)  ^).  t 
Vespasian  und  T  i  t  u  s  ,  wegen  üblicher  Verwechselung  in  den 
Galerien  hier  nicht  zu  trennen:   meisterlicher  Colossalkopf  im   Mu-  g 
seum  von  Neapel  (dritter  Gang) ;  gute  Büste  im  Hauptsaal  der  Villa  h 
Borghese,  T  r  a  j  a  n  ,  dessen  sonderbare  Kopfbildung  nirgends  verhehlt 
wird:  am  ansprechendsten  in  der  vaticanischen  Büste  (Belvedere,  Raum  i 
des  Meleager).  H  a  d  r  i  a  n  :  am  häufigsten  vorhanden  und  sehr  oft  gut. 
Plotina  und  die  ältere  Faustina,  Colossalköpfe  in  der  Sala  rotonda,  t 
interessant  für  die  Behandlung  des  Lieblichen  in  diesem  Massstab'-). 
AntoninusPius:  trefflich  in  der  Colossalbüste  der  Villa  Borghese  1 
(Hauptsaal),  geringer  in  derjenigen  des  Museums  von  Neapel  (dritter  m 
Gang)  und  in  der  sehr  penibeln  des  Museo  capitolino  (grosser  Saal),  n 
Eine  auffallende  Menge  von  Colossalköpfen  u.  A.  der  bisher  Genannten 
und  Anderer  im  Garten  der  Villa  Albani.    Von  Marc-Aurel  und  o 
LuciusVerus  eine  bedeutende  Anzahl  Köpfe  überall,  wovon  wir 
das  Beste  nicht  anzugeben  im  Stande  sind.    Von  Commodus  ein 
wahrscheinlich  echter,  trefflichir,  obwohl  flüchtig  behandelter  Kopf  im  p 
Museum  von  Neapel  (dritter  Gang).    Pertinax,  gute  Colossalbüste  q 
in  der  Sala  rotonda  des  Vaticans.    Septimius  Severus,  häufig  als 


')  Wo  sonst  manches  Verdächtige  und  selbst  Neue  beisammensteht.  Der  schöne  jugendliche  Kopf 
mit  dem  Eichenkranz  entspricht  unter  den  Kaisern  am  ehesten  dem  Augustus. 

■^)  An  den  Kaiserinnen  stört  oft  der  modemässige  Haarputz,  welcher  sogar  an  einzelnen  Basten 
zum  Abnehmen  und  Wech'ieln  eingerichtet  ist. 


Urcicerone. 


34 


522 


Antike  Scnlptnr.    Kaiserköpfe. 


Statue,  vielleicht  nirgends  von  besonderm  Werthe.     Seine  Gemahlin 
Julia  Domna,die  letzte  Römerin,  von  welcher  uns  die  Kunst  ein 
a  wahrhaft  schönes  und  geistvolles  Bild  hinterlassen  hat:  Büste  in  der 
b  obern  Galerie  des  Museo  capitolino;  auch  eine  gute  Colossalbüste  in 
der  Sala  rotonda  des  Vaticans.    C  a  r  a  c  a  1  1  a  ,  auffallend  häufig  und 
gut,  wahrscheinlich  einem  vorzüglichen  Original  zu  Liebe  wiederholt, 
c  vielleicht  am  feinsten  durchgeführt  in  einem  Kopf  der  Büstenzimmer 
des  Vaticans.    Ein  furchtbares  Haupt,  ein  ,, Feind  Gottes  und  der  Men- 
schen", bei  dessen  Verworfenheit  und  falscher  Genialität  der  Gedanke 
erwachsen  muss:   es  ist  Satan. 

Bei   diesem   Kopfe  steht  die   römische   Kunst  wie  vor  Entsetzen 
still;  sie  hat  von  da  an  kaum  mehr  ein  Bildniss  von  höherm  Lebens- 
gefühl geschaffen.    Die  Auffassung  wird  zusehends  ärmlich  und  ein- 
förmig, die  Formen  ledern  und  flau  oder  peinlich.     Die  Theilnahme 
schwindet  ausserdem  durch  die  Unsicherheit  der  Benennung,  für  welche 
man  auf  die  schwankenden  Gesichtszüge  ungeschickter  Münzen  ange- 
d  wiesen  ist.    Von  der  capitolinischen  Büste  Diocletians  und  von 
e  der  neapolitanischen  des  P  r  o  b  u  s  (Museum,  3.  Gang)  möchte  man 
wenigstens  wünschen,  dass  sie  echt  wären.    Die  Köpfe  des  IV.  Jahr- 
hunderts sind  zum  Theil  schon  ganz  puppenhaft,  die  drei  capitolini- 
f  sehen  des  Julianus  Apostata  nur  durch  ein  mittelalterliches 
Zeugniss  bewährt. 


Neben  diesem  Vorrath  von  Herrscherbildnissen  existirt  noch  ein 
viel  grösserer  von  ,,I  n  c  0  g  n  i  t  i",  Männern  und  Frauen,  welchen  man 
durch  Beilegung  interessanter  Namen,  zumal  aus  der  letzten  Zeit 
der  Republik,  einen  willkürlichen  Werth  beizulegen  pflegt.  Ohne  hier- 
auf weiter  einzugehen,  machen  wir  nur  aufmerksam  auf  das  Denkmal, 
welches  die  Römer  der  Kaiserzeit  hiemit  ihren  eigenen  Personen  und 
ihrem  Nationaltypus  gesetzt  haben.  Die  Büste,  und  vollends  die  Sta- 
tue, hat  für  einen  auf  das  Dauernde  gerichteten  Sinn  den  stärksten 
Vorzug  vor  dem  gemalten  (oder  daguerreotypirten!)  Bilde,  in  welchem 
die  jetzige  vielbeschäftigte  Menschheit  vor  der  Nachwelt  aufzutreten 
gedenkt.  Freilich  gehört  Schädelbau  und  schwammloses  Fleisch  und 
ein  lebendiger  Ausdruck  dazu,  der  nur  durch  beständigen  Verkehr  mit 


mm^^^sMSi. 


Römische  Porträtkanst. 


523 


Menschen,  nicht  mit  Büchern  und  Geschäften  allein  sich  dem  Antlitz 
allmälig  aufprägt. 

Wie  in  allen  guten  Zeiten  der  Kunst,  so  wusste  auch  bei  den 
Römern  der  Bildhauer  nichts  von  künstlichem  Versüssen  und  Interes- 
santmachen derer,  welche  sich  abbilden  Hessen.  Es  giebt  eine  grosse 
Menge  von  Grabdenkmälern  meist  untergeordneten  Werthes, 
welche  Mann,  Weib  und  Kind  in  erhabenen  Halbfiguren  innerhalb  einer 
Nische  darstellen.  (Eine  Auswahl  im  Vatican:  Gal.  lapidaria:  ein  sehr  a 
schönes  im  Zimmer  der  Büsten;  eine  ganze  Anzahl  im  Hof  des  Palazzo  b 
Mattei ;  in  der  Villa  Borghese,  Zimmer  des  Tyrtäus,  drei  ganze  Figu-  c 
ren  in  Relief,  eine  Mutter  mit  zwei  Söhnen  darstellend;  ebendort  zeiget 
die  liegende  Statue  einer  Jungfrau,  dass  auch  die  späte  Kunst  wahrer 
Schönheit  ihr  Recht  anzuthun  suchte;  —  eine  Anzahl  gerngerer 
Grabmonumente  im  Museum  von  Neapel,  Halle  des  farnesischen  Stie-  d 
res.)  In  diesen  bescheidenen  Denkmälern  hat  die  Naivetät,  womit 
auch  die  hässlichen  und  unbedeutenden  Züge,  ja  die  weitabstehenden 
Ohren  wiedergegeben  sind,  etwas  wahrhaft  Rührendes  und  Gemüth- 
liches.  —  Aber  auch  in  den  Büsten  und  Standbildern  der  besten 
römischen  Arbeit  ist  so  wenig  Geschmeicheltes,  dass  man  der  römi- 
schen Kunst  schon  eine  allzu  herbe  und  nüchterne  Darstellung  des 
Wirklichen  vorgeworfen  hat.  Der  Vergleich  mit  jenen  halbidealen 
griechischen  Köpfen  und  Statuen  von  Fürsten,  Dichtern  und  Philo- 
sophen ist  indess  ein  unbilliger,  weil  der  römische  Künstler  nicht  längst- 
verstorbene grosse  Männer,  sondern  den  Ersten  Besten  porträtiren 
musste;  an  seinen  vergötterten  Kaisern  hat  er  bisweilen  das  irgend 
Mögliche  von  höherer  monumentaler  Auffassung  geleistet,  und  wenn 
wir  die  Statuen  eines  Virgil,  eines  Horaz  aus  der  Kaiserzeit  besässen, 
so  würden  wir  darin  vielleicht  etwas  ebenso  Hohes  ausgedrückt  fin- 
den als  in  den  Aristides,  Euripides,  Demosthenes  u.  s.  w.,  welche  als 
Muster  von  Idealbildnissen  mit  Recht  gefeiert  werden  i).  Ihre  theil- 
weise  Nacktheit  und  sehr  frei  gewählte  Gewandung  hätte  sich  der 
römische  Künstler  zu  analogen  Zwecken  auch  aneignen  können. 


')   Die  halbideale  Statue  einer  römischen  Dichterin  (wenn  wir  eine  unlängst  gefundene  Figur  unter 
Lebensgrösse  im  Braccio  nuovo  des  Vaticans  richtig  so  deuten)  würde  zu  einer  solchen  Annahme  * 
einigermassen  berechtigen. 

34* 


524 


Antike  Scnlptür.    Togafignren. 


Überdiess  besass  er  bei  ganzen  Statuen,  wenigstens  angesehener 
Personen,  auch  einen  Vortheil.  Die  würdigste  Tracht,  die  je  eines 
ernsten  Mannes  Leib  bedeckte,  ist  immer  die  weite  herrUche  römi- 
sche Toga  mit  ihrem  doppelten  Überschlag  über  die  linke  Schulter. 
Der  linke  Arm  kann  frei  darunter  hervorsehen  oder  sich  darin  ver- 
hüllen; der  rechte  bleibt  nebst  der  rechten  Schulter  entweder  ganz 
frei  zur  edelsten  Geberde,  oder  die  Toga  zieht  sich  noch  oben  längs 
der  Schulter  hin,  oder  sie  wird  beim  Opfer  über  das  Haupt  gezogen 
und  lässt  dieses  dann  mit  unbeschreiblicher  Würde  aus  dem  tiefen 
Schatten  heraustreten.  Das  linke  Bein  ist  in  der  Regel  das  tragende, 
das  rechte  das  gebogene. 

Als  diese  Gewandung  in  den  Bereich  der  Kunst  gezogen  war, 
Hess  man  sie  nicht  mehr  los.  Tausende  von  Statuen  wurden  nach 
diesem  Motiv  bis  in  die  spätesten  Zeiten  geschaffen.  An  denjenigen 
aus  den  bessern  Jahrhunderten  wird  der  Beschauer  mit  stets  wachsen- 
der Bewunderung  die  freie  Art  und  Weise  innewerden,  mit  welcher 
die  einzelnen  Künstler  das  Gegebene  behandelten.  Er  wird  vielleicht 
dabei  mancher  unserer  jetzigen  Porträtstatuen  und  ihrer  Cavallerie- 
mäntel  gedenken,  welche  letztern  nebst  dem  blossen  Kopf  die  Ver- 
muthung  erregen,  dass  der  Betreffende  sich  während  einer  Standrede 
im  Winter  habe  abbilden  lassen. 

Von  dem  sehr  bedeutenden  Vorrath  dieser  selbst  im  schlechtesten 
Fall  betrachtenswerthen  Gestalten  brauchen  wir  bloss  eine  zu  er- 
a  wähnen:  den  sitzenden  sog.  Marcellusim  Philosophenzimmer  des 
capitolinischen  Museums;  jedenfalls  das  Bild  eines  aus- 
gezeichneten Staatsmanns  und  Redners.  Hier  wirkt  nicht  bloss  das 
schöne  und  wunderbar  behandelte  Kleidungsstück,  sondern  der  Cha- 
rakter der  Stellung,  welche  sich  in  jeder  Falte  ausspricht.  So  sass  nur 
Dieser  und  kein  Anderer!  möchte  man  sagen. 

Andere  Togafiguren  werden  noch  bei   Gelegenheit  erwähnt  wer- 
den.     (Diejenigen  von  Kaisern  s.   S.  516.)      Für  den  ersten   Anlauf 
b  empfehlen  wir  den  Togatus  (aus  dem  Grabe  der  Servilier)  am  Anfang 
c  des  Museo  Chiaramonti  und  den  schönen  greisen  Opferer  in  der 
Sala  della  Biga  des  Vaticans.     (Vgl.   S.  412,  a.) 


Römische  Fortratköpfe. 


525 


Welches  nun  immer  die  Ausstattung  und  Gewandung  sei,  es 
bleibt  eine  Thatsache,  dass  die  bessern  römischen  Bildnisse  ganz  rück- 
sichtslos den  Charakter  und  die  Züge  der  Betreffenden,  aber  mit  einem 
hohen  Lebensgefühl  aussprechen. 

Allerdings  ist  der  Genuss  dieser  Werke  nicht  für  Jedermann  leicht 
zugänglich.  In  den  grossen  italienischen  Sammlungen  stehen  die  Büsten 
meist  entweder  so  dicht  und  bunt  durcheinander  oder  so  unscheinbar 
zwischen  Statuen  zerstreut,  dass  nur  selten  ein  Beschauer  ihnen  die 
gebührende  Aufmerksamkeit  zu  schenken  wagt.  Köpfe  von  Göttern 
und  Göttinnen,  von  griechischen  Philosophen  und  Dichtern,  von  römi- 
schen Kaisern  und  Privatleuten,  zusammen  wohl  viele  Tausende  an 
Zahl  —  welches  Auge  vermöchte  diese  ganze  Heerschaar  zu  mustern 
und  durch  Vergleichung  das  Beste  und  das  Gute  von  dem  Geringern 
zu  scheiden?  welches  Gedächtniss  könnte  sich  diess  Alles  einprägen? 
—  Vom  Streit  über  die  Namengebung,  welcher  diess  Gebiet  (wie  be- 
merkt) unaufhörlich  bedroht,  muss  vollends  der  Nicht-Archäologe  auch 
hier  ganz  absehen,  wenn  er  nicht  Zeit  und  Lust  verlieren  will. 

Es  bleibt  ihm  nichts  übrig,  als  bei  guter  Stimmung  und  Müsse 
diese  Köpfe  einzeln,  wie  sie  ihm  gefallen,  nach  ihrem  geistigen  Ausdruck 
und  nach  der  Kunst  des  Bildhauers  zu  durchforschen.    Isolirt  gesehen, 
gewinnen  wenigstens  die  bessern  davon  ausserordentlich.    Im  Thron- 
saal des  Palazzo  Corsini  zu  Rom  steht  auf  einem  Pfeiler  der  Kopf  a 
eines  Römers,  den  mitten  im  Vatican  nur  Wenige  beachten  würden, 
der  aber  hier  mit  seiner  edeln  Individualität,  seinem  Ausdruck  des 
Kummers  alle  Blicke  auf  sich  zieht.     An  solch  einem  Beispiel  kann 
man  inne  werden,    wie    viel  Treffliches    anderswo    dem   Auge  ent- 
geht, z.  B.  in  dem  langen  Museo  Chiaramonti,  in  den  Büstenzimmern  b 
und  in  der  Galeria  geografica  des  Vaticans,  im  Zimmer  der  Vase  des  c 
Museo    capitolino,    wo    die    ,,Incogmti"    beisammen    stehen,    in    den  d 
meisten  Räumen  der  büstenreichen  Villa  Albani,  in  den  verschiedenen  e 
Abtheilungen  des  Museums  von  Neapel,  in  der  Inschriftenhalle  und  f 
Hermaphroditenhalle  der  Uffizien  zu  Florenz,  im  Hof  des  Pal.  Riccardi  g 
ebenda,  u.  a.  a.  0. 

Es  ist  nun  unsere  Sache,  den  Leser  auf  eine  Auswahl  des  Merk- 
würdigsten unter  den  meist  anonymen  oder  Pseudonymen  Römerköpfen 
aufmerksam  zu  machen.   Wir  nehmen  dabei  nicht  sowohl  den  Kunst- 


526 


Antike  Scalptnr.    Römische  Porträtköpfe. 


werth  als  das  physiognomische  Interesse  zum  Massstab,  ungewiss  ob 
der  Leser  uns  gerne  auf  diesen  Pfaden  folgen  wird. 

a        Im  V  a  t  i  c  a  n  :  Braccio  nuovo:  der  sog.  Kopf  des  Sulla;  —  Mus. 

b  Chiaramonti:  der  sog.  Marius,  treffendes  Bild  eines  etwas  galligen  Al- 
ten; —  der  (wahrscheinlich  richtig  benannte)  Cicero,  N.  422,  nicht  N. 
697;   -^  und  der  sog.  Ahenobarbus  mit  dem  feinen  und  klugen  Aus- 

c  druck  des  fetten  Angesichtes;    —  Büstenzimmer:   einige  interessante 

d  Frauenköpfe.  —  Im  Museocapitolino:  erstes  unteres  Zimmer: 
ein  Mann  von  Jahren  (jetzt  für  Hadrian  ausgegeben,  aufgestellt  auf 
einem  Hercules- Altar),  wundervoll  wahr  in  dem  zweideutig  Verbis- 

c  senen  des  Ausdruckes;  —  Zimmer  des  sterbenden  Fechters:  der  beste 
Kopf  des  Marcus  Brutus,  Mörders  des  Cäsar,  von  widerlichem,  ob- 

{  wohl  nicht  geistlosem  Ausdruck;  —  Zimmer  des  Fauns:  der  sog.  Ce- 
thegus,  ein  noch  junger,  vornehm  abgelebter  Spätrömer;    —  Philo- 

g  sophenzimmer:  hier  muss  man  wohl  von  den  meisten  Taufen  mit 
Römernamen  absehen  und  sich  einzig  mit  dem  geistigen  Inhalt  be- 
gnügen; Virgil  als  idealer,  wahrscheinlicher  göttlicher  Kopf  gehört  gar 
nicht  hieher;  ein  kahler,  delicater  sauertöpfischer  Alter  heisst  Cato; 
ein  (auch  sonst  öfter  vorkommender)  trauernder,  entbehrungsvoller 
Kopf  (squalidum),  die  Haare  in  der  Stirn,  wird  überall  Seneca  ge- 
tauft; der  sog.  Cicero  ist  ein  ansehnlicher  grosser  Beamter  mit  klaren, 
wohlwollenden  Zügen;  der  sog.  Pompejus  ein  leidenschaftlicher,  sehr 
vornehmer  junger  Herr,  dessen  Gleichen  der  Leser  wohl  schon  öfter 
begegnet  sein  wird,  u.  s.  w.  i).  Mitten  unter  diese  sehr  bunte  Schaar 
hat  sich  ein  ganz  schöner  jugendlicher  Heldenkopf  (N.  59)  verirrt, 
mit  einem  leisen  Anflug  des  Barbarentypus;  wenn  Jemand  in  ihm 
den  Germanen  Arminius  erkennen  will,  so  wird  ein  alterthumskundi- 
ger  Freund,  den  ich  hier  nicht  nennen  darf,  nichts  dagegen  einzu- 

h  wenden  haben.  —  Im  Palast  der  Conservatoren  (Eckzim- 
mer) die  vorgebliche  Bronzebüste  des  alten  L.  Junius  Brutus,  ein  höchst 
charakteristischer  Römerkopf. 

i  ImMuseumvonNeapel:  Grosse  Bronzen:  schönes  Exemplar 
des  schon  bezeichneten  Seneca;  Lepidus  (wenig  sicher,  allein  voll  in- 

1)  [Braun  S.  170  £f.  erkennt  u.  a.  den  Aeschylus  (N.  82),  den  Marcus  Agrippa  (N.  16),  den  Terenz 
(N.  76),  den  Corbulo  (N.  48)  als  richtig  benannt  an,  hält  aber  (nach  Visconti)  den  Cicero  (N.  75) 
eher  für  einen  Asinius  Pollio.] 


Römische  Porträtköpfe  und  Statuen. 


527 


dividuellen  Lebens);  Scipio  Africanus  d.  ä.  (in  allen  Sammlungen,  oft 
mehrfach  vorhanden;  weit  das  beste  Exemplar,  von  den  übrigen  be- 
trächtlich abweichend,  im  Besitz  des  JesuitencoUegiums  zu  Neapel),  a 
das  wahre  Urbild  eines  alten  Römers;  —  Marmorwerke  erster  Gang:  b 
der  vorgebliche  Sulla,  von  vorn  gesehen  auffallend  durch  seine  Ähn- 
lichkeit mit  Napoleon,  dessen  Stirn  jedoch  weder  eine  so  edle  Form 
noch  eine  so  bedeutend  durchgebildete  Modellirung  hatte;  ebenda  die 
Statuen  der  Familie  Baibus  aus  Herculanum,  in  der  Gewandung  ge- 
ring, in  den  Köpfen  sehr  ausgezeichnet,  besonders  die  Mutter,  deren 
kluge,  ruhige,  hochbedeutende  Züge  eine  ehemalige  Sinnlichkeit  nicht 
verläugnen;  —  zweiter  Gang:  die  Reiterstatuen  der  Baibus  Vater  und  c 
Sohn,  in  den  Köpfen  wiederum  sehr  bedeutend,  ausserdem  als  einzig 
erhaltene  Consularstatuen  zu  Pferde  merkwürdig  durch  die  ungemeine 
typische  Einfachheit  der  Composition,  wobei  auch  einige  Nüchternheit 
mit  unterläuft;   —  Halle  der  berühmten  Männer:  mehrere  gute  Ano-  d 
nyme  und  Falschbenannte;  —  Halle  des  Tiberius:  ebenso;  das  Beste  e 
der  sog.  Aratus,  geistreich  seitwärts  emporblickend;  ein  liebenswür- 
diges Frauenköpfchen  mit  verhülltem  Kinn,  fälschlich  als  Vestalin 
bezeichnet. 

In  den  Uffizien  zu  Florenz:  innere  Vorhalle:  ein  gutes  f 
Exemplar  des  sog.  Seneca;   —  erster  Gang:  Marcus  Agrippa,  classi-  g 
sehe  Züge  mit  dem  Ausdruck  tiefer  Verschlossenheit;    —  Halle  der  ii 
Inschriften:   ein  feiner  durchgebildetes  Exemplar  desjenigen  Kopfes, 
welcher  in  der  capitolinischen  Sammlung  Cicero  heisst;  der  ,,Triumvir 
Antonius"  eine  flüchtige  Arbeit,  die  aber  etwas  von  derjenigen  Art  von 
Grösse  hat,  welche  wir  jenem  Manne  zutrauen;  ein  anonymer  Römer, 
welcher  mit  Ausnahme  des  noch  etwas  behaarten  Kopfes  an  jenen 
grandiosen  Scipiokopf  der  PP.  Jesuiten  in  Neapel  erinnert;   —  Halle 
des  Hermaphroditen:  zwei  tüchtige  Köpfe  von  so  zu  sagen  philiströ-  i 
sem  Ausdruck;  eine  schöne  Frau  von  demjenigen  matronalen  Typus, 
welchen  man  insgemein  der  Livia  zuschreibt,  mit  zahlreichen  gerollten 
Löckchen;   — •  zweites  Zimmer  der  Bronzen,  sechster  Schrank:  einige  k 
sehr  gute  kleine  Bronzeköpfchen  und  Statuetten,  worunter  die  winzige, 
aber  vortreffliche  eines  sitzenden  Mannes  in  der  Toga. 

In  der  untern  Halle  des  Palazzo  Riccardi:   ausser  einer  i 
Anzahl  von   Idealköpfen  (worunter  ein  schöner  und  ein  geringerer 


*     Mr     '^  .T-  «.»I*-  ■«•  ^ 


^PjJJ^ffljy 


528 


Antike  Scalptnr.    Masken. 


Apoll,  zwei  Athleten,  eine  sog.  Sappho)  ein  guter  römischer  Porträt- 
kopf, verschrumpft  und  sauer  blickend,  in  einem  Nebengang  rechts. 
Im  Camposanto  zu  Pisa:  (bei  XL)  Marcus  Agrippa,  weni- 
ger erhalten,  aber  ebenso  echt  als  der  florentinische  Kopf.  (Ebenda 
mehrere  gute  Götterköpfe..  Der  angebliche  Brutus,  bei  IV,  ist  offen- 
bar modern.) 


Vergebens  sucht  man  Auskunft  über  den  Ursprung  und  ersten 
Gebrauch  der  so  häufigen  und  zum  Theil  so  trefflichen  marmornen 
Masken.  Wenn  die  Archäologie  nichts  dagegen  hat,  so  wollen  wir 
einige  harmlose  Vermuthungen  aufstellen,  die  neben  jedem  erwiesenen 
Thatbestand  in  ihr  Nichts  zurückzutreten  bereit  sind. 

In  den  heitern  Tagen  des  alten  Athens  muss  mit  der  beginnenden 
Blüthe  der  Tragödie  und  der  Komödie  auch  die  Kunst,  tragische  und 
komische  Masken  für  die  Bühne  zu  machen,  eine  beträchtliche  Höhe 
erreicht  haben.  Der  Grieche  ertrug  bekanntlich  auf  dem  Theater 
lieber  ein  künstliches  Gesicht  und  eine  künstliche  Leibeslänge  (mit- 
telst der  Kothurne)  als  die  persönliche  Physiognomie  irgend  eines 
Schauspielers:  diese  hätte  ihm  selbst  bei  der  grössten  Schönheit  nie 
die  typisch-idealen  Züge  geboten,  welche  einmal  von  den  tragischen 
und  komischen  Charakteren  unzertrennlich  schienen.  Welches  Schau- 
spielers Antlitz  hätte  für  den  gefesselten  Prometheus  und  für  seine 
Peiniger  Kratos  und  Bia  ausgereicht?  —  Die  Masken  aber,  wo  man 
sie  auch  aufbewahrte,  müssen,  selbst  nur  einfach  an  der  Wand  auf- 
gehängt, ein  bedeutendes,  monumentales  Aussehen  gehabt  haben,  das 
man  bleibend  festzuhalten  versucht  sein  musste;  Keinem  jedoch  kann 
dieser  Gedanke  früher  und  eher  gekommen  sein,  als  dem  Masken- 
macher selbst,  der  ja  ein  bedeutender  und  gewiss  in  hohen  Ehren 
gehaltener  Künstler  war,  —  vielleicht  zugleich  Bildhauer  in  einer  Zeit, 
die  noch  so  wenig  die  Kunstgattungen  trennte.  Ausser  dem  Theater 
wurden  eine  Menge  Masken  gebraucht  bei  Aufzügen,  Processionen  und 
Festlichkeiten  aller  Art;  v/ie  konnte  man  dergleichen  besser  ansagen 
als  durch  das  Aushängen  von  Masken  an  Schnüren  oder  Laubgewin- 
den? —  An  irgend  einem  Gebäude,  das  mit  solchen  Bestimmungen 


Masken. 


529 


zusammenhing,  am  ehesten  wohl  an  einem  Theater  möchte  denn  auch 
die  erste  aus  Stein  gemeisselte  Maske,  zur  Verewigung  des  festlichen 
Eindruckes  angebracht  worden  sein  —  wo  und  wie?  können  wir 
schwer  errathen;  vielleicht  als  Akroterion  (Eckzierde),  bald  vielleicht 
auch  in  vielfacher  Wiederholung  innerhalb  eines  Frieses,  als  Metope 
einer  dorischen  Halle.  —  Doch  die  Personen  der  Tragödie,  Götter 
und  Menschen  der  heroischen  Zeit,  hatten  schon  eine  so  bedeutende, 
rein  ideale  Stellung  als  Hauptgegenstände  der  Kunst,  dass  ihnen  un- 
ter dieser  neuen  Form  nicht  viel  abzugewinnen  war,  und  daher  darf 
man  sich  wohl  das  Vorherrschen  der  komischen  Masken  erklären. 
Diese  eigneten  sich  vollständig  zur  Dienstbarkeit  unter  der  Architektur 
und  mussten  sich  denn  auch  im  Verlauf  der  Zeit  jeglichen  Dienst  ge- 
fallen lassen. 

Zu  Wasserspeiern  an  Gebäuden  und  zu  Brunnenmündungen 
schickte  sich  zwar  auch  die  barockste  Bildung  ihres  Mundes  nur 
wenig;  das  erstere  Amt  blieb  in  der  guten  Zeit  wenigstens  den  Lö- 
wenköpfen vorbehalten;  für  das  letztere  schuf  die  Kunst  eine  beson- 
dere Welt  von  Brunnenfiguren.  Dagegen  waren  sie  mit  ihrer  dä- 
monischen Drolligkeit  wie  geschaffen  zu  Gluth-  und  Dampfspeiern  in 
warmen  Bädern;  in  grossem  Flachrelief  ausgedehnt  konnten  sie  auch 
mit  Augen,  Nasenlöchern  und  Mund  das  ablaufende  Wasser  in  Bädern 
wie  in  Höfen  unter  freiem  Himmel  aufnehmen  (als  Impluvien).  Viel- 
leicht die  meisten  aber  waren  blosse  freie  Decoration  an  Gebäuden 
verschiedener  Art. 

Man  wird  ihren  Styl  im  Ganzen  hochschätzen  müssen.  Sie  sind 
die  einzigen  Caricaturen,  die  der  hohen  Kunst  angehören,  die  Gränz- 
marken  des  Hässlichen  im  Gebiet  des  Schönen.  Desshalb  ist  hier 
selbst  bei  der  stärksten  Grimasse  doch  nichts  Krankhaftes,  Verküm- 
mertes, Peinliches  oder  Verworfen-Bösartiges  zu  bemerken.  Was  dem 
Ausdruck  zu  Grunde  zu  liegen  scheint,  ist  die  vielfach  variirte  An- 
strengung des  Schreiens,  auf  eine  Reihe  komischer  Typen  übertragen. 
Meist  auf  die  Ferne  berechnet,  ist  ihre  Arbeit  flüchtig,  derb,  energisch; 
in  den  neuern  Sammlungen  demgemäß  hoch  und  fern,  an  Gesimsen 
und  Giebeln  aufgestellt,  entgehen  sie  dem  Auge  nur  zu  leicht. 

Vielleicht  die  grösste  Anzahl  findet  sich  beisammen  in  der  V  i  1 1  a  a 
A  1  b  a  n  i  (untere  Halle  des  Palastes,  Vorhalle  des  Kaffehauses  etc.) ; 


530 


Antike  Sctilptar.    Masken.    Medusa. 


in  Massstab  und  Arbeit  meist  so  gleichartig,  dass  sie  von  einmi  und 
a  demselben  Gebäude  stammen  könnten.  —  Andere  im  V  a  t  i  c  c  n  (be- 
b  sonders  im  Hof  des  Belvedere,  auch  im  Appartamento  Borgii). 

Diese   möchten   alle   als   blosse   Decoration   gedient   haben       Als 
Dampfspeier  sind  zunächst  vier  fast  vollständige  Köpfe  im  Nuseum 
c  von  Neapel  (Marmorwerke,  zweiter  Gang)  zu  nennen,  idea,  nicht 
carikirt,  und  noch  von  sehr  guter  Arbeit.     Andere  Dampfsptier  da- 
gegen zeigen  den  komischen  Ausdruck  des  Herauspressens  dir  Luft 
(i  aus  dem  Munde;  so  die  rothmarmornen  an  der  Treppe  der  V.lla  Al- 
e  bani    und    in    der  Villa  Ludovisi  (Vorraum),    beide   in  Profil,  Flach- 
relief. 

Als  Impluvium  oder  Wasserablauf  diente  die  grandiose,  ater  sehr 
(  verstümmelte  Boccadellaveritä  in  der  Vorhalle  von  S.  Maria 
in  Cosmedin  zu  Rom;  wahrscheinlich  ein  Oceanus.    Ebenso  eire  treff- 
g  liehe  Pansmaske  der  Villa  Albani  (Nebenräume  rechts).  —  Ein  gutes 
h  Hochrelief,  drei  tragische  Masken  zusammengruppirt,  in  den  Iffizien, 
zweiter  Gang.     (Auf  der  Rückseite  eine  Satyrmaske  in  Flacirelief.) 
Endlich   giebt   es  eine   Gestalt   des   griechischen   Mythus,  welche 
nur  als  Maske  vorkömmt:    das  Tod  und  Entsetzen  bringenle,  ver- 
steinernde Gorgonenhaupt,  die  M  e  d  u  s  a.     Die  ältere  Kunst  bildete 
sie  als  eine  Grimasse,  die  höchstens  denjenigen  Widerwillen  hervor- 
bringen kann,  welchen  etwa  die  Kriegsdrachen  der  Chinesen  erregen 
mögen.     Später  aber  (durch  Praxiteles?)  kam  derjenige  Typus  auf, 
i  den  wir  z.  B.  in  den  colossalen  vaticanischen  Meduser.masken 
(aus  hadrianischer  Zeit,  im  Braccio  nuovo)  bewundern.     Unter  den 
schlangenähnlichen  Locken  treten  gewaltige,  breitgebildete  Kopfe  her- 
vor,  schön  und  erbarmungslos,   zugleich  aber  selbst  von  geheimem 
Entsetzen  durchbebt;  nur  so  konnte  diese  Empfindung  auch  in  dem 
Beschauer   erregt     werden.      Für   die    Behandlung     des   Dämonisch- 
Schrecklichen  in  der  griechischen  Kunst  die  wichtigste  Urkunde.   - 
k  Leider  findet  man  an  der  Treppe  des  Pal.  Colonna  in  Rom  von  dem 
berühmten  porphyrnen  Colossalrelief  eines  Medusenhauptes  nur  noch 
1  den  bemalten  Gypsabguss.  —  Medusa  im  Profil,  Hauptsaal  der  Villa 
Ludovisi. 

Im  Ganzen   haben   unter   den    Masken   diejenigen   der    Komödie, 
wie  bemerkt,  das  grosse  Übergewicht;   sie  herrschen  auch  wohl  in 


Komische  Schauspieler.    Trophäen.    Thiere. 


531 


den  pompejanischen  Malereien  vor.  Einzelne  Statuen  komisch  er 
Schauspieler  sind  gleichsam  als  eine  Weiterbildung  der  Masken 
zu  betrachten;  sie  stellen  einen  Moment  einer  bestimmten  Rolle,  z.  B. 
eines  Davus,  eines  Maccus  dar,  und  nicht  den  berühmten  Komiker 
N,  N.  in  dieser  und  jener  Rolle.     (Die  besten  im  obern  Gang  des  Va-  a 
ticans,  andere  in  der  Villa  Albani,  Kaffehaus^);   manche  als  kleineb 
Bronzefiguren  in  den  betreffenden  Sammlungen.)   —  Für  die  Malerei 
waren  ganze  Theaterscenen  und  Proben  ein  nicht  ungewöhnlicher  Ge- 
genstand, wie  mehrere  antike  Gemälde  und  Mosaiken  des  Museums 
von  Neapel  beweisen  (u.  a.  die  beiden  zierlichen  Mosaiken  des  Dio-  c 
medes,  erster  unterer  Saal  links).    In  Rom  geben  die  einfachem  Mo- 
saiken am  Boden  der  Sala  delle  Muse  im  Vatican  einen  ziemlich  ge-  d 
nauen  Begriff  von  dem  Auftreten  tragischer  Schauspieler. 


Von  andern  leblosen  Gegenständen  hat  die  römische  Kunst  bis- 
weilen die  Trophäen  mit  ganz  besonderer  Schönheit  gebildet,  sowohl 
im  Relief  (Basis  der  Trajanssäule)  als  in  runder  Arbeit  (Balustrade  e 
des  Capitols).    Die  plastische  Gruppirung  des  Unbelebten  hat  vielleicht  f 
überhaupt  keine  höhren  Muster  aufzuweisen  als  diese. 


Die  Thierbildungen  der  alten  Kunst  zeigen  eine  reiche  Scala 
der  Auffassung,  vom  Heroischen  bis  zum  ganz  Naturalistischen,  In 
den  edlern  und  gewaltigeren  Thiergattungen  lebt  eine  ähnliche  Hoheit 
der  Form  wie  in  den  Statuen  von  Göttern  und  Helden;  in  den  ge- 
ringern wird  man  mehr  jene  naivsten  Züge  des  Lebens  bewundern, 
die  das  Thier  in  seinem  Charakter  zeigen.  —  Dieser  ganze  Kunstzweig 
lauss  eine  grosse  Ausdehnung  gehabt  haben:  von  noch  vorhandenen 
Resten  ist  z.  B.  die  grosse  Sala  degli  Animaliim  Vatican  er-  g 
füllt,  und  auch  im  Museo  Chiaramonti  findet  sich  Vieles,  lauter  römische  h 
Arbeiten,  die  zum  Luxus  des  Hauses,  zum  Schmuck  der  Brunnen  und 
Gärten  gedient  haben  mögen.  Den  Vorzug  behaupten  natürlich  die 
grossen,  monumentalen  Thiergestalten. 


')  Letztere   zusammen,    wenn    sie    richtig   geordnet    würden,    eine   komische    Scene    vorstellend. 
(Ansicht  Brauns.] 


v-.^ 


532 


Antike  Scalptur.    Thiere.    Pferde. 


Die  Pferde  der  antiken  Sculptur  beweisen  zunächst,  dass  die 
damalige  Pferdeschönheit  eine  andere  war  als  die,  welche  die  jetzigen 
Kenner  verlangen.  Wo  Mensch  und  Pferd  beisammen  sind,  wie  z.  B. 
auf  den  parthenonischen  Reliefs,  wird  man  das  Thier  schon  im  Ver- 
hältniss  kleiner  gebildet  finden,  aus  Gründen  des  Styles,  nicht  wegen 
Kleinheit  der  Race,  Sodann  galt  eine  andere  Bildung  des  Kopfes, 
des  Nackens,  der  Brust  und  der  Croupe,  namentlich  aber  ein  gedrunge- 
neres Verhältniss  der  Beine  für  schön,  als  jetzt.  Aus  Mangel  an  Spe- 
cialkenntnissen kann  der  Verfasser  hierauf  nicht  näher  eingehen; 
die  Denkmäler  selbst  sind  so  bekannt,  dass  sie  kaum  der  Aufzählung 
bedürfen.  Bei  weitem  das  Schönste  ist  und  bleibt  wohl  der  eine  par- 
thenonische Pferdekopf,  dessen  überall  verbreitete  Abgüsse  man  ver- 
gleichen möge;  Alles  was  zum  Ausdruck  der  Energie,  ja  des  edelsten 
Feuers  dienen  kann,  ist  scharf  und  wirksam  hervorgehoben  und  in 
die  Hautfiäche  ein  Leben  und  eine  Bedeutimg  hineingezaubert,  der- 
gleichen bei  einem  sterblichen  Thier  wohl  nicht  vorkömmt.  —  Als 
griechische  Arbeit  galten  bekanntlich  lange  Zeit  die  vielgewanderten 

a  vier  Bronzepferde  über  dem  Portal  von  S.  Marco  in  Venedig; 
gegenwärtig  hält  man  sie  doch  nur  für  römisch,  etwa  aus  neronischer 
Kunstepoche;  jedenfalls  gehören  sie  zu  den  besten  und  sind  als  ein- 
ziges erhaltenes  Viergespann  (wahrscheinlich  von  einem  Triumphbogen) 

b  unschätzbar  zu  nennen.  —  Die  stark  restaurirten  Pferde  der  C  o  1  o  s  s  e 
von  Monte  Cavalloin  Rom  sind  ohne  Zweifel  Nachahmungen 
griechischer  Vorbilder  wie  die  Statuen,  in  ihrem  jetzigen  Zustand  aber 
nicht  massgebend.  (Der  Kopf  des  einen  sehr  ausgezeichnet.)  —  Rö- 
mische Pferde  erscheinen  im  Ganzen,  neben  denjenigen  des  Phidias 
und  seiner  Schule,  roh  und  im  Detail  wenig  oder  nur  naturalistisch 

c  belebt,  in  der  Bewegung  aber  bisweilen  trefflich.  —  Im  Museum  von 
Neapel  verdienen  die  marmornen  Pferde  der  beiden  Balbi  (nach  mei- 
nem  Urtheil)   unbedenklich  den  Vorzug  vor  dem   (sehr  zusammen- 

d  geflickten)  ehernen  herculanensischen  Pferde  sowohl  als  vor  dem 
colossalen  ehernen  Pferdekopf  aus  dem  Palast  Colobrano  (Abtheilung 
der  grossen  Bronzen);  von  den  ebenda  befindlichen  bronzenen  Sta- 
tuetten übertrifft  das  Pferd  Alexanders  und  das  freisprengende  das- 

e  jenige  der  Amazone.  —  In  Rom  ist  das  PferdMarcAurels  auf 
dem  Capitol  gut  gearbeitet  und  lebendig  bewegt,  an  sich  aber  ein 


Löwen.    Hunde. 


533 


widerliches  Thier,  ohne  Zweifel  einem  Streitross  des  Kaisers  getreu 
nachgebildet.   —  In  Florenz  (Uffizien,  innere  Vorhalle)   das  bei  der  a 
Niobidengruppe  gefundene  Pferd,  mittelmässige  Decorationsarbeit.  — 
Das   1849  im  Trastevere  gefundene  eherne  Pferd,  welches  vorläufig  b 
im  Museo  capitolino  aufbewahrt  wird,  habe  ich  nicht  gesehen. 

Unter  den  Löwen  hat  der  grösste  von  den  vor  dem  Arsenale 
zuVenedig  aufgestellten  den  Altersvorzug  (er  stammt  bekanntlich 
aus  dem  Piräus).    Der  liegende  Löwe,  auf  der  andern  Seite  der  Thür, 
soll  auf  dem  Wege  vom  Piräus  nach  Athen  seine  Stelle  gehabt  haben. 
Er  scheint  wenig  jünger  und  doch  durchgebildeter  als  der  sitzende, 
hat  aber  einen  modernen  Kopf  und  starke  Verletzungen.    (Die  beiden 
kleinern  gering.)  —  Als  der  schönste  gilt  der  schreitende  Löwe  in  Re-  d 
lief,  an  der  grossen  Treppe  des  Palazzo  Barberini  zu  Rom.    —  Ein 
schreitender  Löwe  in  vollständiger  Figur,  von  guter  römischer  Arbeit,  e 
aber   durch   plumpe   moderne    Beine   entstellt,   befindet   sich   an   der 
Treppe   des  Museums  von  Neapel.    —  Der  eine  vor  der  Loggia  de'  f 
Lanzi  in  Florenz  ist  wohl  besser.     (Der  andere  modern,  von  Flami- 
nio  Vacca.)   —  Von  einer  sehr  bedeutenden  Gruppe,  welche  den  Sieg 
des  Löwen  über  das  Pferd  darstellte,  ist  diejenige  im  Hof  des  Con-  g 
servatorenpalastes  auf  dem  Capitol  ein  treffliches,   nur  zu  sehr  be- 
schädigtes Exemplar,  diejenige  im  Vatican  (Sala  degli  Animali)   ein  h 
schwacher  Nachklang;   auch  die  übrigen   Löwen   dieses   Saales  sind 
nicht  von   Bedeutung.    —  An  gewaltigem  Ernst  und  an  grandioser 
Behandlung  möchten  die  beiden  grossen  Granitlöwen  des  ä  g  y  p  t  i  -  i 
sehen  Museums  im  Vatican  wenigstens  alle  ruhenden  Bildungen 
dieser  Gattung  hinter   sich  lassen.     Wo  das  momentane  Leben  des 
Thieres  Preis  gegeben  und  seine  Bedeutung  als  Symbol  einer  gött- 
lichen  Naturkraft   hervorgehoben   wird,   wie   im   alten    Ägypten,    da 
allein  sind  solche  Charaktere  möglich. 

Von  den  Hunden  wurde  die  grosse  derbe  Gattung  der  M  o  - 
1  o  s  s  e  n  mit  Vorliebe  dargestellt.  Nachahmungen  eines  Werkes  dieser 
Art  sind  die  beiden  am  Eingang  der  Sala  degli  Animali  des  Vaticans,  k 
und  die  beiden  in  der  Innern  Vorhalle  der  Uffizien,  von  ungleicher  1 
Güte  der  Ausführung,  aber  sämmtlich  von  grandiosem  Ausdruck.  (Sie 
sind  nicht  als  Pendants  gearbeitet,  wie  schon  die  fast  identische  Wen- 
dung beweist.)    Sonst  genossen  die  Windhunde  am  häufigsten  das 


534 


Antike  Scnlptur.    Wölfin.    Eber.    Rinder  etc. 


a  Vorrecht  einer  plastischen  Darstellung.  Sehr  schön  und  naiv  (in  der 
Sala  d.  Anim.)  die  Gruppe  zweier  Windhunde,  deren  einer  das  Ohr 
des  andern  spielend  in  den  Mund  nimmt.  Anderswo  (auch  in  Neapel) 
einer,  der  sich  am  Ohre  kratzt. 

b  Die  bekannte  capitolinische  Wölfin  (Eckzimmer  des  Conserva- 
torenpalastes),  vom  Jahr  d.  St.  458,  pflegt  als  etruskisches  Werk 
betrachtet  zu  werden.  Die  Haare  heraldisch,  der  Leib  noch  ziemlich 
leblos,  die  Beine  kräftig  und  scharf.  (Aus  dem  Mittelalter,  in  wel- 
ches man  sie  aus  nicht  zu  verachtenden  Gründen  hat  verweisen  wol- 
len, kann  sie  doch  nicht  wohl  sein;  als  die  italienische  Kunst  des 
XIII.  oder  XIV.  Jahrhunderts  ähnliche  Beine  zu  bilden  vermochte, 
bildete  sie  das  Haar  nicht  mehr  heraldisch.  Die  wichtigsten  Ver- 
gleichungen  für  diese  noch  schwebende  Frage:  der  Löwe  vor  dem 
Dom  von  Braunschweig;  die  Löwen  des  Niccolö  Pisano  unter  den 
Kanzeln  des  Battistero  zu  Pisa  und  des  Domes  von  Siena  etc.)    — 

c  Anspringend  und  sehr  lebendig:  die  Chimära  von  Arezzo  in  den  Uf- 
fizien  (Bronzen,  zweites  Zimmer),  mit  etruskischer  Inschrift;  das  Haar 
in  symmetrisch  gesträubten  Büschen. 

d  Zum  AUertrefflichsten  gehört  der  florentinische  Eber 
(Offizien,  innere  Vorhalle);  er  richtet  sich  majestätisch  auf;  seine 
Borsten  kleben  buschweise  zusammen  vom  Schweiss  und  von  der 
Feuchtigkeit  seines  Lagers  und  bilden  zumal  an  der  Brust  einen  präch- 
tigen Ausdruck  innerer  Kraft.  —  Das  Mutterschwein  von  Alba  (Sala 

e  d.  Anim.)  ist  daneben  ein  sehr  geringes  Werk. 

{  Von  R  i  n  d  e  r  n  ist  in  riesiger  Grösse  der  farnesische  Stier  (s.  d.), 
doch  nur  mit  starken  Restaurationen  erhalten.    Ausserdem  enthält  das 

g  Museum  von  Neapel  (grosse  Bronzen)  ein  kleines  bronzenes  Rind,  von 
mittelguter  Arbeit.  Die  Erinnerung  an  Myrons  berühmte  Kuh  sucht 
man,  vielleicht  vergebens,  aus  kleinen  Bronzen  verschiedener  Galerien 
zusammen. 

h  Die  beiden  niedlichen  Rehe  des  Museums  von  Neapel  (grosse 

i  Bronzen)  stehen  ziemlich  vereinzelt.  Der  graumarmorne  Hirsch  im 
lateranensischen  Museum  ist  ebenfalls  eine  gute  Arbeit. 

Die  V^  ö  g  e  1  sind  für  die  Freisculptur  in  Marmor  nur  ausnahms- 
weise ein  geeigneter  Gegenstand;  indess  ergab  sich  wenigstens  für  den 
Adler  mehr  als  eine  Gelegenheit,  die  nicht  zu  umgehen  war.    Von 


Adler  etc.    Fabelthiere. 


535 


den  sämmtlichen  Darstellungen  des  Ganymed  zeigt  allerdings  vielleicht 
keine  einzige  den  Adler  mit  vollkommenem  Lebensgefühl  durchgebil- 
det, wenn  es  auch  an  guten  Motiven  nicht  fehlt  (S.  468,  u.  f.).  Als  Sym- 
bol an  römischenDenkmalen  wurde  wieder  aus  andern  Gründen  der  Adler 
nur  decorativ  behandelt.  Irgend  einmal  aber  hatte  sich  die  Kunst 
ernstlich  des  Königs  der  Vögel  angenommen  und  ihn  auf  immer  so 
stylisirt,  wie  er  bis  heute  plastisch  pflegt  gebildet  zu  werden,  nämlich 
mit  beträchtlicher  Verstärkung  der  untern  Theile  (eine  Art  starkbefie- 
derter Knie)  und  mit  grossartig  umgebildetem  Kopf.  Eines  der  besten  a 
Exemplare  bleibt  immer  der  Reliefadler  in  der  Vorhalle  von  SS.  Apo- 
stoli  zu    Rom. 

Für  den  Begriff  der  quantitativen  Ausdehnung,  welche  diese 
Thiersculptur  erreicht  hatte,  sorgt,  wie  gesagt,  die  Sala  degli  Ani-  b 
iTiali.  Hier  findet  sich  der  Elephant  wenigstens  in  verkleinertem  Re- 
lief, der  Minotaurus,  von  einem  Kameel  der  riesige  Kopf,  auch  das 
Haupt  eines  Esels  (ohne  besondern  Humor),  mehrere  Krokodile,  Pan- 
ther, Leoparden  (mit  eingelegten  Flecken) ;  dann  Gruppen  des  Kampfes 
und  der  Beute,  wie  die  von  Löwe  und  Pferd  (s.  oben),  Hund  und 
Hirsch,  Panther  und  Ziege,  Bär  und  Rind  etc.;  kleine  Amphibien  und 
Seethiere,  oft  von  farbigem  Marmor;  von  Vögeln  namentlich  Pfauen 
u.  a.  m.     Manches  hat  den  Charakter  blosser   Spielerei. 

Ausserdem  wird  man  in  den  Sammlungen  kleinerBronzen 
(z.  B.  Museum  von  Neapel,  drittes  Zimmer,  Uffizien  in  Florenz,  zwei-  c 
tes  Zimmer  der  betreffenden  Abtheilung,  sechster  Schrank)  eine  grosse  d 
Anzahl  und  zwar  gerade  der  schönsten  und  lebensvollsten  Thier- 
motive  vorfinden;  am  letztgenannten  Ort  u.  a.  einen  trefflichen  Stier 
mit  menschlichem  Angesicht,  von  griechisch  scheinender  Arbeit.  Auch 
hier  giebt  sich  die  antike  Kleinsculptur  nicht  als  Fabrikantin  artiger 
Nippsachen,  sondern  als  eine  des  Grössten  fähige  Kunst  zu  erken- 
nen (S.  496,  497). 

Eine  Anzahl  von  Thieren  konnte  ihrer  Natur  nach  bloss  in  der 
Malerei  und  höchstens  im  Relief  zu  ihrem  Rechte  kommen.  Diess 
sind  ausser  den  Fischen  die  sämmtlichen  fabelhaftenWasser- 
w  e  s  e  n  ,  Seestiere,  Seepanther,  Seeböcke,  Seegreife  u.  s.  w.,  welche 
den  Zug  der  Tritone  und  Nereiden  begleiten;  die  Tritone  selbst  sind, 
wie  oben  (S.  484)  bemerkt,  aus  einem  menschlichen  Oberleib  mit  dem 


536 


Antike  Scalptar.    Delphine.    Reliefs. 


Untertheil  eines  Pferdes  und  einem  geringelten  Fischschwanz  zusam- 
mengesetzt. Es  bleibt  hier  nur  zu  wiederholen,  dass  die  Übergänge 
aus  dem  einen  Bestandtheil  in  den  andern  so  meisterlich  unbefangen 
und  die  Verhältnisse  der  Bestandtheile  zu  einander  so  wohl  abgewo- 
gen sind,  dass  der  Beschauer,  weit  entfernt  etwas  Monstruöses 
darin  zu  finden,  an  das  Dasein  solcher  Wesen  zu  glauben  anfängt. 
Der  Delphin,  sehr  häufig  als  Brunnenthier,  auch  als  Begleiter 
der  Venus  dargestellt,  ist  unter  den  Händen  der  Kunst  zum  ,, Fisch 
an  sich",  zum  allgemeinen  Sinnbild  der  feuchten,  bewegten  Tiefe  ge- 
worden und  hat  mit  dem  wirklichen  Delphin  nicht  einmal  eine  flüch- 
tige Ähnlichkeit!).  Dieser  gehört  zu  den  formlosesten  Fischen;  wer 
ihn  im  Mittelmeer  nicht  zu  sehen  bekommen  hat,  kann  sich  hievon 
a  z.  B.  in  der  Naturaliensammlung  der  Specola  in  Florenz  überzeugen, 
deren  vortrefflich  ausgestopfte  Thiere  für  mehrere  Punkte  unseres 
Capitels  zur  entscheidenden  Vergleichung  dienen  mögen. 


Wenn  wir  hier  die  wichtigern  Reliefs  in  kurzer  Zusammen- 
stellung auf  die  Statuen  folgen  lassen,  so  geschieht  dies  nur  des  be- 
schränkten Raumes  wegen.  Abgesehen  von  seinem  unschätzbaren 
m3rthologischen  Werthe  hat  das  antike  Relief  das  Höchste,  was  die 
Kunst  je  in  diesem  Zweige  leisten  kann,  völlig  erschöpft,  sodass 
alles  Seitherige  daneben  nur  eine  bedingte  Geltung  hat.  —  Die  höchste 
Gattung,  die  Friese  und  Metopen  griechischer  Tempel,  wie  sie  das 
brittische  Museum  besitzt,  darf  man  in  Italien  freilich  nur  in  Gestalt 
von  Abgüssen  suchen  (zu  Rom  im  Museum  des  Laterans,  zu  Florenz 
in  verschiedenen  Räumen  der  Academie  etc.),  aber  auch  nicht  über- 
sehen; die  römischen  Friessculpturen  sind  daneben  selbst  im  besten 
Falle  nur  von  untergeordnetem  Werthe.  Dagegen  hat  die  Kunst- 
liebhaberei der  Römer  eine  beträchtliche  Anzahl  einzelner,  meist  klei- 
nerer Werke  aus  Griechenland  hergeschleppt  oder  von  griechischen 


')  Der  den  Eros  umschlingende  Delphin  im  Museum  von  Neapel  (Halle  des  Adonis)  iaX  eines  der 
wenigen  Absurda  der  antiken  Kunst. 


Innere  Gesetze  des  Reliefs. 


537 


Künstlern  in  Rom  und  Italien  arbeiten,  auch  wohl  copiren  lassen.  Es 
sind  Tafeln,  runde  und  viereckige  Altäre  und  Piedestale,  runde  Tem- 
pelbrunnen (röm.  Name:  Puteal),  Basen  von  Dreifüssen,  Marmorvasen 
u.  s.  v/.  Von  den  im  sog.  Tempelstyl  gearbeiteten,  welche  einen  nicht 
geringen  Theil  der  Gesammtzahl  ausmachen,  haben  wir  oben  des  Bei- 
spiels halber  einige  genannt;  ungleich  wichtiger  sind  immer  die  Werke 
des  entwickelten  griechischen  Styles. 

Um  die  Entstehung  dieser  Darstellungsweise  zu  begreifen,  wird 
man  sich  einen  architektonischen  Rahmen  hinzudenken  müssen.  Es 
ist  die  Sculptur  in  ihrer  Abhängigkeit  von  den 
Bauwerken,  die  sie  schmücken,  aber  nicht  beherrschen  soUi).  An 
den  griechischen  Tempeln  nun  rief  der  Aussenbau  mit  seinen  starken, 
scharf  schattigen  Formen  das  Hochrelief  hervor,  welches  die  mensch- 
liche Gestalt  bis  zu  drei  Viertheilen  heraustreten  lässt;  an  der 
Innenseite  der  Halle  dagegen  und  an.  der  Cella  fand  das  Basrelief 
in  dem  gemeinsamen  Halblicht  seine  Entstehung,  Eine  scharfe  Schei- 
dung zwischen  beiden  darf  man  natürlich  bei  spätem  Werken,  die  ohne 
specielle  Rücksicht  auf  bauliche  Aufstellung  entstanden  sind,  nicht 
verlangen. 

Ein  weiteres  architektonisches  Gesetz,  welches  im  Relief  lebt, 
ist  die  Beschränkung  des  darzustellenden  Momentes  auf  wenige, 
möglichst  sprechende  Figuren,  welche  durch  Entfernung  oder  deut- 
liche Contraste  auseinander  gehalten  werden.  Die  Vertiefung  des 
Raumes  wird  nur  sehr  beschränkt  angenommen,  die  Verschiebung  der 
Gestalten  hintereinander  nur  massig  angewandt.  Zur  römischen  Zeit 
glaubte  man  das  Relief  durch  masslose  Aufschichtung  von  Figuren, 
durch  Annahme  mehrerer  Pläne  hinter  einander  zu  bereichern,  wobei 
jene  Unzahl  von  Arbeiten  entstand,  die  man  nur  betrachten  mag, 
so  lange  nichts  Griechisches  daneben  steht. 

Die  Bezeichnung  des  Örtlichen  ist  entweder  eine  kurz  andeu- 
tende, welche  durch  einen  Pfosten  ein  Haus,  durch  einen  Vorhang 
ein  Zimmer  markirt,  oder  eine  symbolische,  welche  das  Wasser  durch 
eine  Quellgottheit,  den  Berg  durch  einen  Berggott  persönlich  macht. 
Ausgeführte  Darstellungen  von  Landschaften  und  Gebäuden,  perspecti- 


1)  Das  Extrem  des  Missbrauches  siehe  S.  385. 
Urcicerone. 


35 


538 


Antike  Sculptar.    Reliefs: 


visch  geschoben,  giebt  das  Relief  (seltene  Ausnahmen  abgerechnet) 
nicht  vor  dem  XV.  Jahrhundert.  (Ghiberti's  zweite  Bronzethür  am 
Battisterio  von  Florenz;  die  Scuola  di  S.  Marco  in  Venedig,  mit  den 
Sculpturen  der  Lombardi  etc.) 

In  der  Darstellung  der  Figuren  fand  die  griechische  Kunst  nach 
längerm  Suchen  zwischen  Profil  und  Vorderansicht 
diejenige  schöne  Mitte,  welche  bei  der  lebendigsten  Profilbe- 
wegung doch  den  Körper  in  seiner  Fülle  zu  zeigen  und  namentlich 
den  Oberleib  auf  das  Wohlthuendste  zu  entwickeln  wusste.  Die  frei- 
stehende Giebelgruppe  wird  die  Lehrerin  des  Reliefs;  ihre  Fortschritte 
sind  gemeinsam.  Die  schwierige  Frage  der  Verkürzungen, 
welche  vielleicht  nicht  absolut  lösbar  ist,  wurde  auf  sehr  verschiedene 
Weise  gelöst,  bald  durch  wirkliches  Heraustreten  der  betreffenden 
Theile,  bald  durch  verstecktes  Nachgeben.  Starke  Verstümmelungen 
verhindern  oft  jedes  unbedingt  sichere  Urtheil. 

Das  durchgehende  Grundgesetz  des  Reliefs  ist,  wie  man  sieht, 
die  grösste  Einfachheit.  Die  Mittel  der  Wirkung  sind  hier  so  be- 
schränkt, dass  das  geringste  Zuviel  in  Schmuck,  Kleidung,  Geräthe 
u.  s.  w.  den  Blick  verwirrt  und  das  Ganze  schwer  und  undeutlich 
macht.  —  Wir  wählen  nun  aus  der  Masse  des  Vorhandenen  nur  die- 
jenigen Werke  aus,  welche  diese  höhern  Bedingungen  deutlich  er- 
füllt zeigen,  nämlich  die  griechischen  und  die  nahen  und  unverkenn- 
baren, auch  mehrfach  vorkommenden  Nachbildungen  von  griechischen. 
Der  Bequemlichkeit  des  Auffindens  zu  Liebe  mögen  sie  nach  den  Ga- 
lerien geordnet  folgen;  die  Anordnung  nach  dem  Styl  oder  nach  den 
Gegenständen  würde  in  einer  Kunstgeschichte  den  Vorzug  verdienen. 

a  Im  V  a  t  i  c  a  n  :  Museo  Chiaramonti,  am  Anfang:  ein  sitzender 
Apoll;  gegen  das  Ende:  wandelnde  bacchische  Frauen. 

b  Belvedere,  im  Raum  des  Apoll:  die  zwei  Tempeldiene- 
rinnen mit  herrlich  wallenden  Gewändern,  einen  widerspenstigen 
Opferstier  führend. 

c  Galeria  delle  Statue:  Mehreres  Treffliche,  u.  a.  zwei  Reliefs  von 
griechischen  Grabmälern.  (Auch  ein  modernes  Werk,  vorgeblich  von 
Michel  Angeiu.)  Köstliche  Fragmente  in  die  Picdestale  mehrerer  Sta- 
tuen eingemauert. 


Reliefs. 


539 


Gabinetto  delle  Maschere:  Der  trunkene  Bacchus;  —  ein  O  p  f  e  r  ,  a 
letzteres  von  schöner  griechischer  Arbeit.   (In  der  anstossenden  Loggia  b 
scoperta,  welche  man  sich  kann  öffnen  lassen,  einige  Fragmente  von 
Werth  und  ein  ganz  origineller  Bacchuszug  mit  Centauren,  die  sich 
gegen  das  Aufsitzen  von  Satyrn  wehren.) 

Sala  delle  Muse:  Der  Tanz  der  Kureten;  —  die  Pflege  des  jungen  c 
Bacchus.  —  (Aus  später  römischer  Zeit:  Fries  mit  Kämpfen  der  Cen- 
tauren und  Lapithen,  ungeschickte  Nachahmung  griechischer  Tempel- 
metopen  der  Blüthezeit;  statt  der  Triglyphen  Bäume.) 

Oberer  Gang:   Zwei  schöne,   grossentheils  restaurirte  bacchische  d 
Vasen;  an  der  einen  tanzende  Kureten  und  ein  Satyr;  an  der  andern 
weinkelternde  Satyrn  und  ein  aufspielender  Silen.     U.  A,  m. 

Grosser  und  nächstfolgender  Saal  des  Appartamento  Borgia:  Das  e 
runde  Puteal  aus  der  Sammlung  Giustiniani,  mit  der  umständlichen 
Darstellung  eines  Bacchanals,  römische,  vielleicht  moderne  Arbeit  nach 
guten  Motiven;  —  Nymphe,  ein  Satyrkind  tränkend;  —  vorgeblicher 
Hippolyt  mit  Phädra  (ein  Grabrelief  von  griechischer  Erfindung), 
u.  A.  m. 

ImMuseocapitolino:  Zimmer  der  Vase:  Die  Einnahme  von  £ 
Ilion,  Miniaturrelief  in  feinem  Stucco^),  mit  zarten  griechischen  In- 
schriften; vielleicht  als  Geschenk  für  einen  fleissigen  Knaben  oder  zum 
Memoriren  für  ein  vornehmes  Kind  gearbeitet,  ähnlich  wie  die  Apo- 
theose des  Herakles  in  der  Villa  Albani  (s.  unten). 

Obere  Galerie:   Treffliche  Vase  mit  Bacchanten,  in  Form  eines  g 
Eimers.  —  Runde  Ära  mit  schreitenden  Götterfiguren  im  Tempelstyl, 
jetzt  der  grossen  Vase  (Seite  67,  i)  als  Basis  dienend. 

Grosser  Saal:  Altar  mit  der  Geschichte  des  Zeus  (als  Basis  h 
des  riesigen  Herakleskindes) ;  die  erhaltenen  Theile  vom  besten  Relief- 
styl, obwohl  kaum  griechisch. 

Philosophenzimmer:  Mehreres  Gute,  u.  a.  die  Bestattung  der  Leiche  i 
eines  Helden.  (Meleager?  —  dasselbe  in  grösserm  Massstab  im  Hof  k 
des  Palazzo  Mattei,  rechts,  oben.) 

Kaiserzimmer:  Die  Befreiung  der  Andromeda;  —  der  schlafende  i 
Endymion  (s.  unten  bei  der  Sammlung  Spada). 

1)   [Br.]:  Aus  einem  Stein,  welcher  zwischen  dem  Marmor  und  dem  lithographischen  Muschelkalk 
in  der  Mitte  steht. 


35* 


540 


Antike  Scülptnr.    Reliefs. 


a  Erstes  unteres  Zimmer:  Ära  mit  den  Thaten  des  Hercules,  je  drei 
auf  einer  Seite,  römische  Arbeit  zum  Theil  nach  alten  griechischen 
Motiven. 

b  In  der  VillaAlbani:  Untere  Halle  des  Palastes:  der  gestürzte 
Kapaneus  (?),  spätrömisch  nach  einem  trefflichen  griechischer.  Urbild; 
eine  sehr  verwitterte  runde  Ära  mit  den  einfach  schönen  Gestalten 
der  verhüllten  Hören,  die  einander  am  Zipfel  des  Schleiers  fassen. 

c  Treppe:  Die  schon  (Seite  440,  e)  geschilderte  Roma;  —  Artemis, 
drei  Niobiden  verfolgend;   —  Philoktet  (?). 

d  Runder  Saal:  Die  schöne  Marmorschale  mit  dem  Gefolge  des 
Bacchus  im  Hochrelief,  dem  Raum  gemäss  lauter  liegende  und  leh- 
nende Figuren  von  unbeschreiblicher  Frische  der  Erfindung. 

e  Zimmer  des  Äsop:  Die  Apotheose  des  Herakles,  von  feinem  Stucco 
mit  Miniaturinschriften,  wie  das  capitolinische  Relief;  —  Satyr  und 
Bacchantin,  öfter  vorkommende  Motive  rasender  bacchischer  Be- 
wegung, von  grösster  Schönheit. 

i  Zimmer  der  Reliefs:  Die  Kämpfer,  ein  vom  Pferde  gesprun- 
gener tödtet  einen  auf  der  Erde  liegenden.  Von  allen  Reliefs  italie- 
nischer Sammlungen  ist  dieses  in  Rom  selbst  ausgegrabene  Werk 
vielleicht  das  einzige,  welches  unmittelbar  an  Phidias  und  seine  Schule 
erinnert;  mit  allen  Verstümmelungen  übertrifft  es  an  grandiosem  Styl 
und  Lebensfülle  bei  Weitem  Alles,  was  sonst  von  dieser  Gattung  in 
Italien  vorhanden  ist.  —  Aphrodite  auf  einem  Seepferd;  —  zwei  sprin- 
gende Satyrn;  u.  A.  m. 

g  Hauptsaal:  Herakles  bei  den  Hesperiden;  —  Dädalus  und  Icarus; 
Ganymed  den  Adler  tränkend,  gute  römische  Arbeiten;  u.  A.  m. 

h  Im  anstossenden  Zimmer:  Zethus,  Antiope  und  A  m  - 
p  h  i  o  n  ,  s.  d.  Museum  von  Neapel,   S.  541,  h. 

i  Nebenräume  des  Palastes  zur  Rechten:  Artemis  und  eine  weib- 
liche Figur;  —  eine  Familie,  Mann,  Frau  und  Sohn;  —  opfernde 
Mutter  mit  drei  Kindern;  —  Dädalus  und  Icarus  (hier  von 
rothem  Marmor) ;  —  eine  grosse  Schale  mit  den  Arbeiten  des  Herakles, 
welche  wie  die  dürftige  Nachahmung  etwa  eines  Tempelfrieses  aus- 
sehen;  —  zwei  einzelne  Figürchen,  vielieicht  Palästriten. 

k  Im  sog.  Kaffehaus:  Theseus,  durch  Ägeus  als  Sohn  erkannt,  spät- 
römisch nach  griechischer  Erfindung, 


Reliefs. 


541 


In  der  Villa  Borghese:  Hauptsaal:  die  beiden  Reliefs  mit  a 
Pan  und  Satyrn. 

Zimmer  der   Juno:   Cassandra,  spätrömisch  nach  bester  griechi-  b 
scher  Erfindung.     Mehreres  Treffliche. 

Zimmer   des   Herakles:    Schöne  Vase,   mit  der   Relief darstellung  c 
eines  Tanzes  nackter  Kureten  und  verhüllter  Frauen;  Pan  musicirt. 

In  der  Villa  Ludovisi:   Hauptsaal:  das  Urtheil  des  Paris,  d 
grosses  Relief  nach  griechischen  Motiven. 

Im  Palast  Spada  zu  Rom,  zweiter  unterer  Saal:  Achte 
grössere  Reliefs,  wozu  noch  die  beiden  im  Kaiserzimmer  des 
Museo  capitolino  gehören;  sämmtlich  von  bester  römischer  Arbeit  und 
den  edelsten,  lebendigsten  Motiven,  doch  mehr  malerisch  als  plastisch 
empfunden  und  vielleicht  Nachbildungen  von  Gemälden.  Andeutungen 
hievon:  das  starke  Heraustreten  einzelner  Glieder,  die  Menge  der  Bei- 
werke, auch  die  weit  vertieft  gedachten  Hintergründe. 

In  der  VillaMedici:  eine  Anzahl  guter  Relieffragmente  nebst  f 
geringern,  an  der  Hinterwand  gegen  den  Garten. 

Im  Eingang  zum  Pal.  Giustiniani  :  zwei  gute  Grabreliefs,  sog.  g 
Todtenmahle. 

Im  Museum  von  Neapel:  Nebenraum  des  dritten  Ganges:  h 
Orpheus, Eurydice  undHermes,  schöne  griechische  Arbeit, 
stark  verletzt;  nicht  der  Ausführung,  aber  dem  Inhalt  nach  identisch 
mit  jenem  etwas  geringern  Relief  der  Villa  Albani,  wo  die  Namen 
Zcthus,  Antiope  und  Amphion  beigeschrieben  sind,  nach  einem  dritten 
Exemplar  im  Louvre,  welches  sie  in  antiker,  aber  lateinischer  Schrift 
enthält.  Durch  den  Zweifel  über  den  eigentlichen  Inhalt  verlieren 
wir  einigermassen  das  Interesse  an  diesem  für  die  Reliefbehandlung 
c) assischen  Werke;  ist  aber  wirklich  das  kurze  Wiedersehen  und  der 
letzte  Abschied  Eurydicens  dargestellt,  so  giebt  die  ungemeine  Mässi- 
gung  und  leise  Abstufung  des  Pathos  in  den  drei  Gestalten  viel  zu 
denken.  —  Eine  Nymphe,  die  einen  zudringlichen  Satyr  abwehrt, 
leider  fast  zur  Hälfte  neu;  —  mehrere  griechische  Grabreliefs,  nicht 
von  den  besten,  doch  als  Repräsentanten  dieser  in  italienischen  Samm- 
lungen seltenen  Gattung  zu  schätzen,  so  das  des  Protarchos  etc.;  — 
verkleinerte,  römische  Nachahinung  der  Basis  eines  griechischen  Sie- 
gesdenkmals (Tropäons)  mit  zwei  Karyatiden  und  einer  sehr  nied- 


542 


Antike  Scnlptar.    Reliefs. 


a  liehen,  sitzenden  Figur  i);  —  Zeus  auf  einem  Thron  mit  Sphinxen  — ; 
Orest  in  Delphi,  römisch  nach  einem  trefflichen  Original;  —  eine  An- 
zahl von  Marmorscheiben  (disci)  mit  flüchtigen,  aber  zum  Theil  schön 
gedachten  flachen  Reliefs;  —  Stück  aus  einem  bacchischen  Thiasos 
mit  den  öfter  vorkommenden  Motiven  der  Bacchantin  mit  Tamburin 
und  eines  Satyrs  mit  Flöten;  der  folgende  Satyr  meist  ergänzt:  — 
sodann  eines  der  herrlichsten  bacchischen  Reliefs,  welche  überhaupt 
vorhanden  sind:  der  bärtige  Dionysos  hält  Einkehr  bei  eiiem 
zechend  auf  dem  Ruhebett  gelagerten  Liebespaar;  ein  Satyr  stützt  ihn, 
ein  anderer  zieht  ihm  die  Sandalen  ab;  draussen  vor  der  Thür  des 
Hauses  Silen  und  die  übrigen  Gefährten  des  Gottes;  —  endlich  ein  klei- 
nes sehr  liebenswürdiges  Werk:  der  Ritt  durch  die  Nacht 
(Jüngling  und  Bacchantin  mit  Fackeln  zu  Pferde,  ein  Führer  voran). 

b  Halle  des  Jupiter:  Helena  wird  von  Aphrodite  unter  dem  Schutz 
der  Peitho  (Göttin  der  Überredung)  bewogen,  dem  Paris  zu  fo.gen, 
welcher  mit  Eros  sprechend  gegenübersteht;  sehr  schöne,  wenn  auch 
nicht  frühe  griechische  Arbeit;  —  Bacchus  mit  einem  Theil  seine:  Be- 
gleiter, griechisches  Motiv  von  unbedeutender  Ausführung. 

c  Halle  der  Musen:  Die  berühmte  VasevonGaeta,  mit  dem  Na- 
men des  Künstlers:  Salpion  von  Athen;  fast  lauter  auch  sonst  bekannte 
Motive  (Hermes,  welcher  der  Leukothea  das  Bacchuskind  übergiebt  — 
an  ein  Relief  der  Sala  delle  Muse  im  Vatican  erinnernd;  die  lehnende 
halbnackte  Bacchantin  —  aus  einem  Relief  der  Villa  Albani;  zwei 
Satyrn  und  die  tanzende  Bacchantin  —  aus  dem  eben  erwähnten  Re- 
lief des  dritten  Ganges  im  Museum  von  Neapel;  ausserdem  Silen  und 
eine  Bacchantin  mitThyrsus).  Die  Ausführung,  obwohl  trefflich,  hat 
doch  etwas  Conventionelles;  die  starken  Verstümmelungen  rühren  aus 
der  Zeit  her,  da  das  Gefäss  als  Pflock  für  die  Schiffseile  diente.  — 
Herrliches  bacchisches  Hochrelief  von  kleinem  Massstab; 
—  Flachrelief  von  sieben  weiblichen  Figuren. 


')  „Siegeszeichen  zu  Ehren  von  Hellas,  nach  Besiegung  der  Karyaten"  —  so  lautet  die 
Inschrift.  Die  Frauen  des  besiegten  Volkes,  also  die  Karyatiden,  wurden,  wie  an  neuern 
Denkmälern  z,  B,  Sklaven  und  Überwundene,  als  StUtzfiguren  für  das  Obergesimse  der 
Basis  behandelt.  Wahrscheinlich  war  das  Criginäi  -  Trupäon  ein  sehr  bekannte:  und 
berühmtes,  so  dass  „Karyatide"  der  Gattungsname  für  die  Stützfiguren  überhaupt  werden 
konnte.     Vgl.   S.  467. 


Reliefs. 


543 


Halle  des  Adonis:   (Als  Basis  einer  Venus)  Puteal  von  tüchtiger  a 
römischer  Arbeit,  mit  weinbereitenden  Satyrn. 

Abtheilung  der  Terracotten,  viertes  Zimmer:  Kleine  Reliefs  in  ge-  b 
brannter  Erde,  gefunden  zu  Velletri,  einen  alt-volskischen  Styl  re- 
präsentirend. 

In  den  UffizienzuFlorenz  :  Verbindungsgang:  Runde  Basis  c 
mit  der  Vorbereitung  zu  Iphigeniens  Opfer,  flüchtige,  etwa  spätgrie- 
chische Arbeit  (bez.   Kleomenes);    —  kleine  dreiseitige  Basis  (über 
einem  prächtigen  Dreifuss  aufgestellt,  zu  welchem  sie  nicht  gehört) 
mit  drei  Gewandfiguren  schönen  griechischen  Styles. 

Erster   Saal  der  Malerbildnisse:   Die  berühmte  mediceisched 
Vase  mit  dem  Relief  von  Iphigeniens  Opfer;  stark  restaurirt,  die  Ar- 
beit der  unberührten  Theile  ungefähr  wie  an  der  Vase  von  Gaeta; 
die  Composition  hochbedeutend  in  wenigen  Figuren  concentrirt. 

Halle  der  Inschriften:  Das  grosse  Relief  der  drei  Elemente,  noch  e 
von  mittelguter  römischer  Arbeit. 

Halle  des  Hermaphroditen:  Relief darstellung  eines  Rundtempels,  f 
sachlich  merkwürdig  wegen  des  Gitterwerkes,  welches  die  Säulen  ver- 
bindet; —  drei  Bacchantinnen  mit  Zicklein,  Thyrsus  etc.,  ein  öfter 
vorkommendes  griechisches  Motiv;  —  Dionysos  in  Delphi(?), 
schöne,  vielleicht  griechische  Arbeit;  —  kleinere  Wiederholung  des 
vaticanischen  Reliefs  der  beiden  Tempeldienerinnen  mit  dem  Stier  (s. 
Belvedere,  Raum  des  Apoll);  —  Genius,  den  Donnerkeil  Jupiters 
schleppend,  gut  römisch;  —  römisches  Opfer  eines  Feldherrn,  haupt- 
sächlich durch  die  unberührte  Erhaltung  interessant;  —  drei  wan- 
delnde bacchische  Frauen,  denjenigen  im  Museo  Chiara- 
monti  entsprechend. 

ImCamposanto  zu  Pisa:  N.  56  lebensgrosses  römisches  g 
Relief  einer  Wöchnerin  und  einer  Amme  mit  dem  Säugling,  decorativ 
gute  Arbeit;   —  N.  52  verwitterte  Marmorvase  mit  bacchischen  Re- 
liefs, von  flüchtig  conventioneller,  aber  noch  spätgriechischer  Aus- 
führung und  sehr  schöner  Erfindung. 

Im  Museo  lapidario  zu  Verona:  eine  bedeutende  An-  h 
zahl  von  Sculpturen,  worunter  mehrere  gute  Sepulcralreliefs. 

Im  Dogenpalast  zu  Venedig:  Sala  de'  rilievi:  mehrere  i 
kleine  Sepulcralreliefs  von  geringer  Ausführung,  aber  zum  Theil  grie- 


544 


Antike  Sculptur.    Reliefs  römischer  Denkmäler. 


a  chisch  scheinender  Erfindung;  in  demjenigen  mit  Attis  und  Cybele 
z.  B.  eine  sehr  schöne  Dienerin;  —  treffliches  römisches  Relief  einer 
Seeschlacht  in  reichfigurirten  Schiffen;  —  Putten  mit  den  Waffen  des 
Mars,  römisch;  —  ausgezeichnete  vierseitige  Ära  mit  bacchischen 
S  c  e  n  e  n  von  nur  flüchtiger  römischer  Arbeit,  aber  schön  erfunden. 

b  —  Camera  a  letto:  drei  Hören  mit  verschlungenen  Händen  eine  Herme 
umschreitend,  vielleicht  altgriechisch,  in  römischer  Zeit  als  Fussgestell 
für  eine  marmorne  Cista  benützt;   —  dreiseitiger  Untersatz  mit  vor- 

c  trefflichen  bacchischen  Figuren.  —  Corridojo:  zwei  Dreifussbasen  mit 
dem  bekannten  römischen  Motiv  waffenschleppender  Genien.  (Zwei 
andere  mit  Hierodulen  scheinen  verdächtig.) 


Nach  diesen  Schätzen  zum  Theil  ersten  Ranges  folgen  eine  An- 
zahl Arbeiten,  welche  wenigstens  einen  Vorzug,  nämlich  das  feste 
Datum,  vor  ihnen  voraus  haben:  dieSculpturender  Kaiser- 
bauten in  Rom. 

Schon  überfüllt,  doch  noch  von  schöner  und  nobler  Arbeit:   die 

d  Bildwerke  des  Titusbogens,  namentlich  die  beiden  Reliefs  mit  dem 
Triumphzug  wegen   Judäa's;    in   den   Bogenfüllungen   die   schönsten 

e  schwebenden  Victorien^).  —  Am  Forum  des  Nerva  (oder  Domitian) 
Hochreliefs  von  tüchtiger,  energischer  Zeichnung,  auf  die  Ferne  be- 
rechnet. —  Aus  Trajans  und  Hadrians  Zeit:  die  sehr  ausgezeich- 

f  neten  altern  Bildwerke  am  Constantinsbogen,  zumal  die  Kampf- 
scenen,  doch  ebenfalls  nicht  mehr  rein  im  Geiste  des  Reliefs  gedacht; 
(diejenigen  des  Bogens  von  Benevent  sind  dem  Verfasser  nur  aus  Ab- 

g  bildungen  bekannt;)  —  die  ungeheure  Spirale  der  Trajanssäule, 
durchweg  trefflich  gearbeitet  und  reich  an  einzelnen  der  besten  Zeit 
würdigen  Motiven,  doch  als  Gesammtaufgabe  in  hohem  Grade  geeig- 
net, das  nur  an  einer  unvergleichlichen  Mythologie  grossgewachsene 
Relief  durch  tödtlich  trockene  historische  Erzählung  gleichartiger  Facta 

h  auf  immer  zu  ermüden.  —  Vom  Forum  Trajans  stammen  ein  paar  herr- 
liche Friesstücke  (Genien  in  halber  Figur  mit  Arabesken,  sowie  Greife 

*  -)  Noch  {lü'uer,  iiöciisl  walusclitinlich  von  eineni  Triumphbogen  des  Claudius:  die  R»!i»f- 
fragmente  in  der  Vorlmlle  der  Villa  Borghese;  aus  der  Zerstörung  leuchten  no-ch  Züge 
der  grössten  Schönheit  hervor. 


) 'i^^i^-'fe' w'^.?'':.;v'ffj2»ffi 


Reliefs  römischer  DeDkmäler. 


545 


und  Gefässe)  und  ein  gutes  Relief  fragrrient  im  grossen  Saal  des  Appar-  a 
tamento  Borgia  (Vatican),    Von  einem  Gebäude  aus  trajanischer  Zeit: 
vier  Stücke  einer  Procession,  in  den  Uf fizien  zu  F  1  o  r  e  n  z  (äussere  b 
Vorhalle) ;  abgesehen  von  der  Überfüllung,  welche  sich  in  diesen  Flach- 
arbeiten besonders  empfindlich  macht,  von  ausserordentlicher  Schön- 
heit; vielleicht  gehört  das  herrliche  Hochrelief  eines  Stier opfers,  wel- 
ches dabei  aufgestellt  ist,  in  dieselbe  Kunstepoche.   —  Aus  der  Zeit 
Marc-Aurels:   die  schon  beträchtlich  geringern  und  überdiess  c 
schlechter  erhaltenen  Reliefs  der  Antoninssäule  und  die  fleissi- 
gen,    aber    etwas    leblosen    Sculpturen    wahrscheinlich    von    einem 
Triumphbogen,  jetzt  an  der  Treppe  und  in  der  obern  Halle  des  d 
Conservatorenpalastes  auf  dem  Capitol  eingemauert;  weit  das  beste 
darunter  ist  die  Apotheose  einer  Kaiserin,  entweder  der  altern  oder  der 
Jüngern  Faustina i).    An  der  Basis  des  Denkmals  des  Antoninus  Pius,  e 
jetzt  im  Giardino  della  Pigna  des  Vaticans,  ist  die  Apotheose  des  Kaisers 
(rituell  nach  altern   Vorbildern)   ebenfalls  auffallend  besser  als  die 
Reiterschaaren  zu  beiden  Seiten.  —  Am  Bogen  des  SeptimiusSe-f 
V  e  r  u  s  :  Alles  von  abschreckender  Überfüllung  und  Ungeschicklich- 
keit;  die  Heereszüge  im  Zickzack  angeordnet;    —  der  gleichzeitige  g 
Bogen  der  Goldschmiede  blosse  Steinmetzenarbeit.  —  Am  Consta  n-h 
tinsbogen  tritt  in  Allem,  was  nicht  vom  Bogen  Trajans  geraubt  ist, 
der  offene  Bankerott  des  Reliefs  und  der  Sculptur  überhaupt  zu  Tage; 
puppenhafte  Ungeschicklichkeit  des  Einzelnen  und  eine  völlig  leblose 
Anordnung.     Ebenso  in  den  Porphyrsärgen    der    Helena» 
und  Constantia.     (Vatican,  Sala  a  croce  greca.) 

Überblickt  man  diesen  traurigen  Gang  der  Kunst  im  Ganzen,  so 
wird  es  recht  klar,  wie  wenig  Geschichtliches  als  solches  dem  Relief 
darf  zugemuthet  werden.  Man  rechne  einmal  unter  all  den  Thatsachen, 
welche  in  diesen  Siegesdenkmälern  verherrlicht  sind,  diejenigen  zu- 
sammen, in  welchen  ein  sinnlich  wahrnehmbarer  dramatischer  Moment 
durch  die  Hauptpersonen  selbst  dargestellt  ist,  und  keine  blosse  Cere- 
monie,    kein   blosses  Obercommando;    man  zähle  die  Scenen,  welche 


')  Dieses  und  das  gegenüber  angebrachte   Relief,   Marc  Aurel  als  Redner,  stammen  von  einem 
ganz  andern  Denkmal,  dem  zerstörten  Arco  di  Portogallo,  her.     (Br.) 


546 


Antike  Scnlptar.    Sarcophage. 


sich  einigermassen  durch  Abwechselung  von  Geschlecht,  Alter  und 
Charakteren  in  dieser  sonst  auf  so  abgemessene  Mittel  beschränkten 
Gattung  annehmbar  machen  Hessen;  —  und  es  werden  ihrer  nur  we- 
nige sein.  Man  vergleiche  diese  Bilder  dacischer  und  parthischer 
Kriege  mit  den  Kampfschilderungen  der  Ilias,  und  man  wird  inne 
werden,  wie  schön  hier  der  Dichter  seine  einzelnen  Momente  isolirt 
und  gleichsam  in  hoher  Ahnung  für  eine  künftige  Kunst  vorbereitet 
hat.  Der  siegende  Imperator  dagegen  verlangte  seine  und  seines 
Heeres  Thaten  in  möglichster  Wirklichkeit  vor  sich  zu  sehen,  und 
unter  solch  einer  lastenden  Masse  des  äusserlich  Gegebenen  mussten 
sich  auch  die  keineswegs  sparsam  angebrachten  symbolischen  Zutha- 
ten  und  Beziehungen  gänzHch  verlieren  i). 


Eine  besondere  Gattung  von  erhobenen  Arbeiten,  diejenigen  an 
den  wahrhaft  unzähligen  Sarcophagen,  dürften  wir  ganz  mit 
Stillschweigen  übergehen,  wenn  der  absolute  Kunstwerth  einer  Arbeit 
allein  entschiede.  Diese  Steinsärge  sind  nämlich  fast  ohne  Ausnahme 
Werke  der  Kaiserzeit,  und  zwar  seit  dem  II.  Jahrhundert  n.  Chr., 
indem  erst  damals  die  Leichenverbrennung  ausser  Gebrauch  zu  kom- 
men anfing.  Die  Behandlung  des  Einzelnen  ist  nur  an  wenigen  dieser 
Denkmäler  wirklich  gut  zu  nennen,  an  vielen  dagegen  mittelmässig 
und  an  der  grossen  Mehrzahl  kümmerlich.  Allein  abgesehen  von  ihrer 
doppelten  religionsgeschichtlichen  Bedeutung  (indem  sie  erstens  eine 
Fülle  griechischer  Mythen  und  zweitens  in  diesen  Mythen  oft  Be- 
ziehungen auf  die  Unsterblichkeit  enthalten),  besitzen  viele  davon  auch 
einen  hohen  indirekten  Kunstwerth.  In  diese  engen  Räume  sind  viel- 
leicht Erinnerungen  und  Nachklänge  aus  griechischen  Freigruppen, 
Giebelgruppen  und  Tempelf riesen  zusammengedrängt;  ganz  befremd- 
lich blicken  bisweilen  die  schönsten  Gedanken  griechischer  Composi- 
tion  hinter  der  befangenen  Ausführung  hervor.  Sodann  gewinnen  wir 
fast  nur  hier  (abgesehen  von  den  griechischen  Reliefs  des  brittischen 


^)  Die  Abgüsse  von  einzelnen  Theilen  der   Spiralsäulen  und  andern  der  genannten  Monumente 
*  in    der    Academia    di    S.    Luca   (Treppe)   und   in   der    Acadimie   de   France   sind   dem    Auge 
viel  erreichbarer  ah  die  Originale. 


Sarcophage. 


547 


Museums)  einen  Begriff  von  der  fortlaufendenErzählungi), 
welche  dem  ausgedehntem  Relief  eigen  ist,  von  der  höchst  unbefange- 
nen Vereinigung  mehrerer  Momente  zu  einer  Geschichte.  Als  Er- 
gänzung muss  man  sich  allerdings  die  Allbekanntheit  der  Gegenstände 
hinzudenken;  immerhin  aber  gehörte  die  Gleichgültigkeit  des  antiken 
Menschen  gegen  alle  gemeine  Illusion  und  sein  offenes  Auge  selbst 
für  den  leisesten  symbolischen  Wink  dazu,  um  an  den  vorausgesetz- 
ten Verschiedenheiten  von  Zeit  und  Ort  —  nicht  bloss  auf  einem  und 
demselben  Bilde,  sondern  in  einer  und  derselben  vordem  Fläche  — 
keinen  Anstoss  zu  nehmen. 

Wir  lassen  einige  von  denjenigen  Sarcophagen,  welche  in  den 
angedeuteten  Beziehungen  vorzüglich  bezeichnend  sind,  nach  den  Auf- 
bewahrungsorten folgen. 

Im  V  a  t  i  c  a  n  :  Belvedere,  im  Gemach  des  Laocoon:  der  Triumph  a 
des  Bacchus  als   Siegers  über  Indien,  eine  der  vollständigsten  Dar- 
stellungen dieser  Art  (S.  483).   —  Zwischen  dem  Laocoon  und  dem 
Apoll:  einer  der  besten  Nereidensarcophage.   Im  Hof  und  in  b 
allen  einzelnen  Räumen  des  Belvedere  Sarcophage  aller  Art,  welche 
die  geläufigem  Mythen  vollständig  umfassen  mögen. 

Im  obern  Gang:  Niobidensarcophag,  welcher  ahnen  lässt,  c 
wie  wenig  oder  wie  viel  diese  Reliefs  sich  nach  den  berühmten  Sta- 
tuengruppen richteten;  man  bemerke  die  Anwesenheit  der  Amme  bei 
den  Töchtern  und  des  Pädagogen  bei  den  Söhnen;  am  Rande  des 
Deckels  die  schön  gruppirten  Leichen  der  Getödteten.  —  Bacchus,  der 
die  Ariadne  findet;  —  Luna  besucht  den  schlafenden  Endymion;  — 
beide  von  bester  Erfindung. 

ImMuseo  capitolino:  unterer  Gang:  ein  (absichtlich  sehr  d 
zerschundenes)  Bacchanal  mit  schön  bewegten  Figuren;  —  die  Ge- 
schichte Meleagers,  hier  gut  und  verhältnissmässig  früh. 

Untere  Zimmer:   eine  der  schon  (S.  490)   genannten   Schlachten  e 
von   Griechen   oder   Römern   und   Barbaren,   am   Rand   des   Deckels 
Leichen,   Gefangene,   trauernde  Weiber,   Trophäen;    —  der  colossale 
Sarcophag  mit  der  Geschichte  des  Achill;   angeblich  das  Grab  des 


1)  Die  eben  bezeichneten  Sculpturen  der  Kaiserbauten  geben  diesen  Begriff  auch,  aber  wir  sahen,  auf 
wessen  Unkosten  und  in  wie  unreiner  Gestalt. 


548 


Antike  Sculptar.    Sarcophage. 


Alex.  Severus,  dessen  anderweitig  bekannte  Züge  indess  der  einen 
auf  dem  Deckel  liegenden  Gestalt  nicht  entsprechen. 

a  Zimmer  der  Vase:  zwei  Kindersärge,  der  eine  mit  dem  schönsten 
vorhandenen  Relief  der  Endymionssage,  der  andere  spät,  aber 
sachlich  höchst  merkwürdig  durch  die  Darstellung  der  Schicksale  der 
Menschenseele.  (Prometheus,  Pallas,  Nemesis  etc.)  —  Ausserdem  ein 
guter  Bacchuszug. 

b  Obere  Galerie:  Geburt  und  Erziehung  des  Diony- 
sos, zum  Theil  von  den  allerbesten  Motiven. 

c  Zimmer  des  Fauns:  Kampf  zwischen  Griechen  und  Amazonen, 
am  Deckel  die  Gefangenen,  spätes,  aber  sehr  gut  erhaltenes  Exem- 
plar; —  guter  und  früher  Nereidenzug;  --  reicher  und  später  Endy- 
mionssarcophag. 

(1  Kaiserzimmer:  der  schon  erwähnte  Musensarcophag,  nach- 
weisbar zum  Theil  nach  einer  Sammlung  von  Musenstatuen  gearbeitet, 
was  von  andern  Sarcophagen  dieses  Inhalts  nicht  immer  gilt. 

e  In  der  Villa  A  1  b  a  n  i  eine  grosse  Anzahl.  Wir  nennen  nur  die 
wichtigsten,  am  Ende  der  Nebengalerie  rechts:  die  Götter  bringen 
P  e  1  e  u  s  und  T  h  e  t  i  s  Hochzeitsgeschenke,  gute  Arbeit  nach  reinen 
und  einfachen  Motiven  der  Blüthezeit.  —  Tod  der  AIceste;  —  ein  M  e  - 
leagersarcophag,  vielleicht  der  beste. 

f  In  der  Villa  Borghese:  Vorhalle:  eine  der  oben  erwähnten 
Schlachten  zwischen  Griechen  oder  Römern  und  Barbaren;  — Abschied 
und  Tod  eines  Jägers. 

g  Junozimmer:  ein  sehr  später  Musensarcophag,  welcher  jedoch  die 
Musen   nach   dem   alten,   feierlich-schönen   Typus   darstellt. 

h  Herakleszimmer:  grosser,  in  zwei  Theile  getrennter  Sarcophag 
mit  den  zwölf  Arbeiten  des  Helden,  in  besondern,  durch  Säulchen 
geschiedenen  Abtheilungen. 

i  Im  Palazzo  Corsinizu  Rom:  erster  Saal:  einer  der  schönsten 
Nereidensarcophage,  im  Einzelnen  vielleicht  nicht  ohne  le- 
bendige Nachklänge  aus  einer  berühmten  Gruppe  des  Skopas,  in  welcher 
die  Meergottheiten  dargestellt  waren,  die  den  vergöttlichten  Achill 
nach  Leuke,  der  Insel  der  Seligen,  führten.  (Dieses  Werk  befand  sich 
zur  Zeit  des  Plinius  in  Rom).  Solche  Züge  von  Tritonen  und  Ne- 
reiden offenbaren  trotz  des  ernsten,  fast  wilden  Ausdruckes  der  mann- 


^9iMim})9Vi 


Sarcophage. 


549 


liehen  Gestalten  (8.484)  in  der  Bewegung  einen  wahrhaft  bacchischen 
Charakter.      An  den  vielleicht  über  hundert  Sarcophagen  dieses  In- 
haltes, und  zwar  selbst  an  den  geringsten  Exemplaren  (mehrere  in  a 
der  Galeria  lapidaria  des  Vaticans)  wird  man  immer  einzelne  Motive 
von  ausserordentlicher  Schönheit,  namentlich  in  der  Verbindung  der 
Gestalten  finden. 

ImPalazzo  Farnese:  grosser  Saal:  ein  schöner  Amazonen-  b 
kämpf;   —  ein  besonders  reicher  bacchischer  Sarcophag, 
dessen  Vorderseite  dem  verdorbenen  im  untern  Gang  des  Museo  capito- 
lino  ziemlich  genau  entspricht. 

ImPalazzoMattei:  in  den  Höfen  und  der  offenen  Loggia:  c 
unter  einer  grossen  Anzahl  von  Sarcophagplatten  einige  gute.  —  Ebenso  d 
im  Hof  von  Palazzo  Giustiniani. 

Im  Museum  von  Neapel  :  Halle  des  Jupiter:  guter  Bacchus-  e 
zug,  zum  Theil  von  sehr  burlesken  Motiven;  —  eine  Anzahl  geringerer 
Sarcophage.    —  Zweiter   Gang:    ein  trefflicher,   aber  sehr   zerstörter  f 
Amazonensarcophag,    mit   Reliefs   auf   allen   vier    Seiten; 
vielleicht  eines  der  frühesten  Werke  dieser  Art. 

Im  Dom  von  Amalfi:  ein  Sarcophag  mit  dem  Raub  der  Pro-  g 
serpina,  als  griechische  Arbeit  geltend. 

In  S.  Chiara  zu  Neapel  (links) :  ein  Sarcophag  mit  der  Ge-  ii 
schichte  der  Alceste,  aus  guter  römischer  Zeit. 

In   S.  Lorenzo  fuori   le  mura  bei   Rom   (rechts  vom  i 
Portal) :  Sarcophag  mit  einer  römischen  Vermählung,  merkwürdig  durch 
Grösse  und  Vollständigkeit. 

In  S.  Vitale  zu  Ravenna:  der  schöne  Sarcophag  mit  der  k 
Apotheose  des  Augustus,  am  Eingang  zur  Sacristei. 

Im  Dom  von  Cortona  (links) :  ein  schöner  und  früher  Sar-  1 
cophag  mit  Centaurenkämpfen. 

In  den  Uffizien  zu  Florenz:  erster  Gang:  das  Leben  eines  m 
Römers,  Horoscop,  Erziehung,  Vermählung,  Opfer,  Kinderzucht,  Jagd- 
und  Kriegsleben,  sachlich  interessant;  —  Phaetons  Fall;  —  die  E  n  t  - 
führungderLeukippiden,  römische  Arbeit  nach  einem  grie- 
chischen Original,  einfach  und  dabei  prächtig  belebt;  —  acht  Arbeiten 
des  Herakles  auf  Einer  Fläche  (ein  ähnlicher,  roherer,  folgt  weiter  in 


550 


Antike  Scalptor.    Sarcophage, 


a  demselben  Gang,  ein  anderer  steht  im  Garten  Boboli) ;  —  eine  grosse 
Anzahl  geringerer  Sarcophage  nach  bekannten  Motiven. 

b  Im  Camposanto  zu  Pisa:  eine  sehr  grosse  Anzahl  Sarco- 
phage aller  Style,  von  den  Pisanern  von  nah  und  fern  zusammen- 
geholt, um  als  Särge  für  die  Ihrigen  zu  dienen,  deren  Namen  oft 
dareingemeisselt  zu  lesen  sind.  Von  erstem  Werthe  ist  wohl  nichts 
darunter;  das  Beste  geben:  II.  Sarcophag  mit  einer  Schlacht;  — 
V.  ein  altchristlicher  Sarcophag  mit  dem  guten  Hirten,  aus  dem  drit- 
ten, wenn  nicht  zweiten  Jahrhundert;  —  VIII.  gutes  bacchisches 
Fragment  (mit  Centauren);  —  XX.  schöner  starkverwitterter 
Bacchuszug;  —  XXI.  Geschichte  von  Phädra  und  Hippolyt, 
gut  spätrömisch,  mit  der  Asche  der  Gräfin  Beatrix  von  Toscana, 
Mutter  der  berühmten  Mathildis;  —  XXIX.  bacchischer  Sarcophag 
mit  der  Grabinschrift  Camurenus  Myron;  —  XXXI.  Sarcophag  mit 
grossem  Schlachtrelief,  etwa  gleichzeitig  mit  der  Basis  der  Antonins- 
säule im  Gardino  della  Pigna  des  Vaticans.  —  U.  a.  m.  —  Einige  von 
diesen  Särgen,  die  schon  vor  der  Erbauung  des  Camposanto  in  Pisa 
gewesen  sein  müssen,  dienten  dem  Niccolö  Pisano  zur  Grundlage  für 
seine  (kurze)  Wiederbelebung  des  antiken  Styles. 

c  ImDogenpalast  zu  Venedig:  Saia  de'  Riiievi:  einer  der 
besten  und  merkwürdigsten  Niobidensarcophage(S.  506,  *). 


Die  Sammlungen  von  Gemmen  und  Münzen,  an  welchen 
Italien  nach  allen  Plünderungen  noch  so  reich  ist,  müssen  wir  trotz 
ihres  hohen  künstlerischen  Werthes  gänzlich  übergehen,  weil  ihre 
Zugänglichkeit  und  die  dadurch  mit  bedingte  Theilnahme  des  Reisen- 
den in  einem  allzu  ungleichen  Verhältniss  zu  diesem  Werthe  steht. 
Doch  muss  wenigstens  im  Allgemeinen  mit  Nachdruck  auf  die  best- 
ausgestellte Gemmensammlung  hingewiesen  werden:  die  neapolita- 
d  nische  (Museum,  Zimmer  der  oggetti  preziosi,  bestentlieils  aus  der 
farnesischen  Erbschaft).  Die  köstlichsten  Schätze  finden  sich  unter 
den  sog.  Cameen  (Steinen  mit  erhabenen  Figuren  von  anderer,  meist 


Gemmen  und  Münzen. 


551 


hellerer  Farbenschicht  als  der  Grund).  Es  sind  Reliefmotive,  allein  nur 
die  ausgesuchtesten,  und  mit  der  höchsten  Eleganz  für  den  bedingten 
Stoff  und  Raum  durchgeführt.  Hie  und  da  finden  sich  auch  beliebte 
Statuen  in  diesem  kleinen  Massstab  abgebildet;  so  verdankt  man  z.  B. 
die  richtige  Restauration  des  Apollon  Sauroktonos  einer  Gemme.  Die 
antike  Kunst,  welche  hier  ins  Kleine  hineingeht,  erscheint  dabei  in 
ihrer  Art  so  gross  als  bei  irgend  einer  ihrer  Hervorbringungen;  sie 
hat  die  Gesetze  dieser  Gattung  auf  immer  festgestellt  und  —  man 
möchte  fast  sagen  —  sie  hat  auch  deren  möglichst  schöne  Gegenstände 
erschöpft  1). 

In  den  gewöhnlichen  (concaven)  Siegelgemmen  wird  man  eine 
Fülle  anmuthiger  kleinerer  Motive,  auch  scherzhafter  und  genrehafter 
Art  finden.  —  Zum  Ankauf  feilgebotener  Antiken  dieser  Gattung  ist 
nur  unter  Beihülfe  eines  geübten  Kenners  zu  rathen. 

Von  leicht  käuflichen  Münzen  wird  der  Reisende  fast  nur  römische 
zu  Gesicht  bekommen.  Kann  er  unter  diesen  sich  eine  Auswahl  von 
Kaisern  und  Anverwandten  des  augusteischen  Hauses,  nicht  nach  der 
Seltenheit,  sondern  nach  der  Schönheit  und  guten  Erhaltung,  ver- 
schaffen, so  ist  dieses  ein  Besitz,  der  auf  immer  Vergnügen  gewährt. 
—  Mit  griechischen  Münzen  kann  man  in  Unteritalien,  und  selbst  an 
kleinen,  abgelegenen  Orten,  arg  getäuscht  werden;  das  Schöne  und 
Echte  darunter  gehört  aber  anerkannter  Massen  zum  Trefflichsten, 
was  es  giebt. 


I)   In   Rom   ist   die   vaticanische   Bibliothek   (nördliches   Ende)   der   Aufbewahrungsort  einzelner  • 
schöner  Cameen,  mit  welchen  zugleich  Köpfchen  und  Statuetten  aus  kostbaren  Steinen  auf- 
gestellt sind.   Von  den  ebendort  befindlichen  Elfenbeinsachen  ist  Einzelnes  (z.  B.  ein  Apolls- 
kopf,   ein    Reliefkopf    des    Serapis)   von    grossem    Werthe,    das    Meiste   aber   spätrömisch.  — 
In   Florenz   befindet   sich   die   grosse    und   berühmte   mediceische    Gcmmensammlung   in   den  ** 
Uffizien.  —   In   der   Bibliothek   von    S.    Marco   zu   Venedig   die  berühmte   Gemme   des   Zeus  f 
Aigiochos, 


552 


Scniptur  des  Mittelalters. 


Als  das  Christenthum  die  antike  Sculptur  in  seine  Dienste  nahm, 
war  sie  bereits  in  tiefen  Verfall  gerathen;  schon  seit  dem  Ende  des 
11.  Jahrhunderts  war  die  Reproduction  der  frühern  Typen  zur  todten 
Wiederholung  geworden  und  die  ganze  Detailbehandlung  bedenklich 
ausgeartet.  Die  Vorliebe  für  das  Colossale,  für  kostbare  und  ausser- 
ordentlich harte  Steinarten  lenkte  die  Mittel  und  das  technische  Ge- 
schick von  den  höchsten  Zwecken  ab;  der  Verfall  und  die  Umbildung 
der  heidnischen  Religion  that  das  Übrige.  Die  Sculptur  der  constan- 
tinischen  Zeit  konnte  jedenfalls  keine  christlichen  Typen  mehr  schaf- 
fen, welche  den  Vergleich  mit  irgend  einem  Götterbild  der  bessern 
Zeit  ausgehalten  hätten. 

Vielleicht  im  stillen  Bewusstsein  dieser  Ohnmacht,  vielleicht  auch 
aus  Scheu  vor  der  dem  Heidenthum  so  theuern  statuarischen  Kunst 
und  aus  Rücksicht  auf  das  mosaische  Gesetz  wurde  der  kirchlichen 
Sculptur  die  Anfertigung  von  Statuen  fortan  fast  gänzlich  erlassen. 

a  Werke  wie  die  beiden  (sehr  geringen)  Statuen  des  guten  Hirten  in 
der   vaticanischen    Bibliothek    (Ausbau   gegen   den   Garten),   wie   die 

b  eherne  Statue  des  heil.  Petrus  aus  dem  V.  Jahrhundert  (in  S.  Peter) 
gehören  zu  den  grössten  Seltenheiten;  letztere  ist  offenbar  mit  aller 
Anstrengung  den  sitzenden  Togafiguren  der  heidnischen  Zeit  nach- 
geahmt. —  Von  den  noch  bis  ins  V.  Jahrhundert  häufig  vorkommen- 
den weltlichen  Ehrenstatuen  hat  sich  fast  nichts  erhalten,  und  selbst 
von  den  Regenten  nach  Constantin  besitzt  Italien  nur  noch  die  form- 
lose eherne  Culussalstatue  des  Kaisers  Hcraklius  zu  Barletta. 

Auf  diese  Weise  war  von  einer  Entwicklung  heiliger  Typen,  wie 
das  Heidenthum  sie  seinen  Göttern  gegeben,  wenigstens  auf  plasti- 


Ihre  nenen  BedingnDgcn. 


553 


schem  Gebiete  keine  Rede  mehr.  Überdiess  würden  sich  die  Gegen- 
stände —  zunächst  Christus  und  die  Apostel  —  lange  nicht  so  zu 
diesem  Zwecke  geeignet  haben,  wie  die  Heidengötter.  Letztere  waren 
recht  eigentlich  mit  der  Kunst  und  durch  sie  zur  vollen  Gestalt  er- 
wachsen; ihre  ganze  Körperbildung  sammt  Gewand  und  Attributen 
stand  charakteristisch  fest  und  umfasste  den  ganzen  denkbaren  Kreis 
des  Schönen,  wie  die  Alten  es  verstanden.  Die  heiligen  Personen  des 
Christenthums  dagegen  waren  von  vorn  herein  nicht  mythologisch, 
sondern  geschichtlich  und  längst  ohne  alles  Zuthun  der  Kunst  Gegen- 
stände des  Glaubens,  mit  welchen  sich  nicht  eben  frei  schalten  und 
walten  Hess;  sie  waren  ferner  nicht  erwachsen  aus  sittlichen  und 
Naturkräften  und  boten  also  bei  weitem  nicht  denselben  Reichthum 
der  Charakteristik  dar;  endlich  war  ihre  Bedeutung  eine  übersinnliche 
und  geistige  und  konnte  desshalb  überhaupt  nie  in  der  schönen  Kunst- 
form so  rein  und  ohne  Bruchtheil  aufgehen  wie  die  Bedeutung  der 
heidnischen  Typen. 

Die  Sculptur  half  sich  wie  sie  konnte  und  wie  der  neue  Glaube 
es  verlangte.  Statt  der  Gestalten,  die  sie  aus  den  oben  ange- 
gebenen Gründen  weder  genügend  in  Betreff  des  Styles,  noch  würdig 
in  Betreff  des  Gegenstandes  zu  beseelen  im  Stande  war,  schuf  sie 
Geschichten;  das  Relief  verdrängte  die  Freisculptur  und  wurde 
zugleich  seinerseits  ein  Anhängsel  der  Malerei,  die  jetzt  mit  ihm  den- 
selben Zweck  und  zugleich  viel  reichere  Mittel  hatte.  Bald  entscheidet 
das  blosse  Belieben  des  kirchlichen  Luxus  über  die  Anwendung  des 
erstem  oder  der  letztern.  Die  Kirche  verlangt  von  der  Kunst  das 
Viele;  in  ganzen  Cyclen  geschichtlicher  Darstellung  oder  wenig- 
stens in  ganzen  zusammengehörenden  Reihen  heiliger  Personen  will 
sie  symbolisch  ihr  Höchstes  verherrlichen;  die  beiden  Künste,  sammt 
all  ihren  Nebengattungen,  dienen  ihr  einstweilen  bloss  als  Mittel  zum 
Zweck  und  müssen  ihre  innern  Gesetze  vollkommen  Preis  geben. 

Der  Styl,  wie  er  sich  unter  solchen  Umständen  gestalten  musste, 
bietet  dem  Auge  wenig  dar.  Allein  das  geschichtlich-poetische  In- 
teresse kann  einen  Ersatz  schaffen.  Höchst  merkwürdig  ist  vor  Allem 
der  Ernst  und  die  Kraft,  womit  die  Kirche  ihre  Bilderkreise  vervoll- 
ständigt und  im  Grossen  wie  im  Kleinen  wiederholt,  sodass  eine 
Menge  von  Typen,   nicht  bloss   für   einzelne  Personen,    sondern   für 


Urcicerone. 


36 


554 


Scalptnr  des  Mittelalters.    Sarcophage. 


ganze  Geschichten  entstehen.  Von  grosser  poetischer  Wirkung  ist  so- 
dann neben  dem  geschichtlich  BibHschen  das  SymboHsche,  welches 
sich  in  der  Parallelisirung  alttestamentlicher  und  neutestamentlicher 
Vorgänge,  in  einer  Anzahl  eigenthümlicher  Gestalten  und  namentlich 
in  Beziehungen  aus  der  Offenbarung  Johannis  ausspricht.  Man  muss 
nur  immer  das  Ganze,  wenigstens  so  weit  es  erhalten  ist,  ins  Auge 
fassen,  denn  nur  als  Ganzes  will  es  sprechen  und  wirken.  Allerdings 
bezieht  sich  diess  Alles  mehr  auf  die  Malerei,  doch  verlangen  auch 
die  plastischen  Überreste,  dass  man  auf  diesen  Standpunkt  eingehe. 
Das  Einzelne  des  Styles,  wovon  bei  Anlass  der  Malerei  umständ- 
licher die  Rede  sein  wird,  ist  hier  mit  zwei  Worten  zu  schildern.  Bis 
in  das  VII.  Jahrhundert  dauert  der  antike  plastische  Styl  in  mehr 
oder  weniger  deutlichen  Nachklängen  fort;  dann  erfolgt  eine  Thei- 
lung;  der  eine  Weg  führt  in  barbarische  Verwilderung  der  Form,  der 
andere  in  die  byzantinische  Regelmässigkeit.  Diese  schafft  ein 
bestimmtes  System  von  Körperbildungen,  Gewandungen,  Bewegungen 
und  Ausdrucksweisen,  lernt  es  auswendig  und  reproducirt  es  uner- 
müdlich mit  einer  Sicherheit,  welche  fast  an  diejenige  der  alten  ägyp- 
tischen Kunst  reicht.  —  Beide  Wege  berühren  und  kreuzen  sich  in 
Italien  bisweilen;  hie  und  da  wirken  auch  frühchristliche,  bessere 
Muster  weit  abwärts. 


Von  der  antiken  Kunst  noch  am  nächsten  berührt,  ja  als  eine 

wahre  Fortsetzung  derselben  erscheinen  die  christlichen  Sarcophage. 

a  Die  bedeutendste  Sammlung  derselben  befindet  sich  im  Museo  cristiano 

b  des  Vaticans;  andere  (z.  B.  der  wichtige  des  Bassus)  in  der  Crypta  von 

c  S,  Peter  (den  sog.  Grotte  vaticane),  im  Camposanto  zu  Pisa  (S.  550,  b), 

in  sehr  vielen  italienischen  Kirchen  (meist  als  Altaruntersätze),  haupt- 

A  sächlich  zu  Ravenna  (Dom,   S.  ApoUinare  in  classe,   S.  Vitale  etc.) 

und  ausserhalb  Italiens  besonders  im  Museum  von  Arles,  einige  wich- 

e  tige  auch  im  Louvre.     (Derjenige  von  S.  Francesco  de'  Conventuali 

zu  Perugia,  linkes  Querschiff,  enthält  eines  der  besten  Exemplare  des  im 

IV.  Jahrhundert  kunstüblichen  Christus  im  Knabenalter;  dasselbe  gilt 

{  von  dem  ebenfalls  trefflichen  in  S.  Francesco  zu  Ravenna  (Altar  der 

rechten  Seitentribuna). 


Sarcophage  und  andere  Steinscnlptnr. 


555 


Die  altern  dieser  Sarcophage  zeigen  ganz  dieselbe  fortlaufende 
Erzählungsweise  mit  Vereinigung  mehrerer  dichtgedrängter  und  be- 
wegter Scenen  auf  demselben  Raum,  wie  die  spätheidnischen  Arbei- 
ten. Der  etwas  stenographische  Vortrag  dieser  Ereignisse  wird  selbst 
dem  bibelfesten  Beschauer  einigermassen  zu  schaffen  machen;  auch 
die  beständige  Gegenüberstellung  von  Vorbildern  aus  dem  alten  und 
Gegenbildern  aus  dem  neuen  Testament  erleichtert  das  Erkennen  nicht 
immer,  weil  diese  Bezüge  zum  Theil  etwas  gezwungen  sind.  Eine 
beschreibende  Aufzählung  und  Deutung  würde  hier  sehr  weit  führen; 
das  Nothwendige  in  Betreff  des  Museo  cristiano  und  der  Grotten  giebt 
Platner  in  der  ,, Beschreibung  Roms". 

Bei  abnehmendem  Kunstvermögen  gab  man  bald  auch  das  fort- 
laufende Relief  Preis  und  theilte  die  einzelnen  Vorgänge  durch  Säul- 
chen ab.  In  dieser  Form  übernahm  das  Mittelalter  den  Sarcophag 
und  bildete  derselben  auch  seine  Reliquienschreine  im  Grossen  und 
im  Kleinen  nach. 

Mehr  und  mehr  schrumpft  die  Sculptur  zu  einer  Kleinkunst 
zusammen  und  beschränkt  sich  allmählig  auf  die  Stoffe,  mit  welchen 
sie  einst  in  uralten  Zeiten  begonnen,  auf  Gold,  Silber,  Erz  und  Elfen- 
bein, Und  dabei  machen  ihr  fast  in  allen  Gattungen,  die  sie  noch  ver- 
tritt, das  Email,  die  Malerei  und  die  eingelegte  Flacharbeit  die  Stelle 
streitig.  Steinern  bleiben  bloss  die  Sarcophage  und  die  wenigen  Re- 
liefs, welche  auch  die  Byzantiner  innen  und  aussen  an  ihren  Kirchen 
anzubringen  pflegten.  (Einige  in  und  an  S,  Marco  in  Venedig.)  Auch 
erhielten  wohl  die  Altarschranken  (cancelli)  und  die  Kanzeln  biswei- 
len einen  figürlichen  Schmuck  von  Stein,  (Sculpirte  ehemalige  Altar-  a 
schranken  mit  den  Geschichten  Simsons  und  Christi,  aus  dem  XI.  oder 
XII.  Jahrhundert,  in  S.  Restituta  am  Dom  zu  Neapel,  hinten  links.) 
Im  Bewusstsein  der  eigenen  Ungeschicklichkeit  wandte  man  bisweilen 
antike  Sarcophage  zu  verschiedenem  Kirchenschmuck  an,  trotz  ihres 
heidnischen  Inhalts  (S.  549,  g  bis  1).  (Ein  altchristl.  Sarcophag  als  b 
Träger  der  Kanzel  in  S.  Ambrogio  zu  Mailand;  an  der  Kanzel  selbst 
der  bronzene  Adler  und  der  Evangelist,  etwa  X.  Jahrhundert;  die 
übrigen  Figuren  ziemlich  barbarisch,   XII.  Jahrhundert.) 

Vom  übrigen  Vorrath  plastischer  Arbeiten  wollen  wir  nur  einige 
bezeichnende  Beispiele  für  jede  Gattung  anführen. 

36* 


556 


Scnlptur  des  Mittelalters.    Altäre,    Throne. 


Die  kostbaren  Altäre  erhielten  bis  ins  XII.  Jahrhundert  einen 
Überzug  auf  allen  vier  Seiten  oder  doch  auf  der  Vorderseite  des  Tisches, 
womöglich  von  Goldblech,  mit  einer  Reihe  von  Figuren  oder  von 
ganzen  Historien  in  getriebener  Arbeit;  die  Einrahmungen  wurden  mit 
Email,  auch  mit  aufgenieteten  antiken  Gemmen  verziert.  Die  einzige 
vollständig  erhaltene  Bekleidung  dieser  Art,  von  einem  Künstler  Volf- 

a  vinus,  aus  der  ersten  Hälfte  des  IX.  Jahrhunderts,  umgiebt  den  Hoch- 
altar von  S.  Ambrogio  in  Mailand,  welcher  ausserdem  durch  die  gleich- 
zeitigen, bemalten,  ziemlich  sorgfältigen  Steinsculpturen  seines  Giebels 
merkwürdig  ist.  Als  Bild  des  Kunstvermögens  der  carolingischen 
Epoche  ergiebt  sich  daraus  eine  sonderbare  Mischung  von  classischen 
Reminiscenzen,  eigenthümlichem  Ungeschick  und  byzantinischer  Zier- 

b  lichkeit.  —  Der  Altarvorsatz  (pala  d'oro)  von  S.  Marco  zu  Venedig,  ein 
Werk  des  X.  Jahrhunderts  aus  Constantinopel,  enthält  bloss  äusserst 
saubere  Emailgemälde  auf  zahlreichen  Goldplatten;  sein  bronzener  und 
vergoldeter  Deckel  dagegen,  eine  gute  venezianische  Arbeit  des  XIV. 
Jahrhunderts,   zeigt  in  den   Hochrelieffiguren   der   Apostel   den   ent- 

c  wickelten  germanischen  Styl.  —  Ein  Altarvorsatz  von  Elfenbein  mit 
vielen  Historien  (XII.  Jahrhundert)  in  der  Sacristei  des  Domes  von 
Salerno.  —  Bei  spärlichen  Mitteln  vertrat  auch  wohl  Stucco,  Vergol- 
dung und  Malerei  das  ReUef  und  Email  aus  edlerm  Stoffe,     Ein  Al- 

d  tarvorsatz  dieser  Art,  datirt  1215,  in  der  Acad.  zu  Siena,  erster  Raum. 
—  Über  das  Bauliche  der  Altäre  vgl.  S.  79,  97  u.  f. 

Kleine  Hausaltärchen,  meist  mit  schliessbaren  Seitenflü- 

e  geln  (als  Triptychen),  wurden  vorzüglich  aus  Elfenbein  verfertigt.  Das 
Museo  cristiano  des  Vaticans  enthält  unter  mehreren  Beispielen  aus 
verschiedenen  Jahrhunderten  ein  sehr  ausgezeichnetes  byzantinisches 
Triptychon  von  der  delicatesten  Behandlung.  Die  Anwendung  des  Elfen- 
beins zu  kleinen  Altären  hat  übrigens  bekanntlich  nie  ganz  aufgehört. 
Bischöfliche  Throne  erhielten  bisweilen  eine  ganze  oder  theil- 
weise  Bekleidung  mit  Elfenbeinplatten,  auf  welchen  Figuren  und  ganze 

i  Geschichten  eingeschnitten  sind.  Dieser  Art  ist  der  Thron  des  heil. 
Maximian  in  der  Sacristei  des  Domes  von  Ravenna,  mit  Reliefs  von 
verschiedenen  Händen  (wie  es  scheint)  des  IV.  bis  VI.  Jahrhunderts; 
das  Beste  die  Einzelgestalten  an  der  Vorderwand  unten.     Auch  der 

g  Thron  des  heil.  Petrus,  welcher  in  Bernini's  colossale  Erzdecoration 


l/^'^y^'^M^i^'tCii^tap^rapJ 


pfefeÄLita.«*:. 


Diptychen.    Bücherdeckel.    Reliquiarien. 


557 


über  dem  hintern  Altar  von  S.  Peter  in  Rom  eingeschlossen  ist,  dürfte 
nach  den  Abbildungen  zu  urtheilen  mit  Elfenbeinarbeiten  aus  ver- 
schiedenen Zeiten  geschmückt  sein,  (Unter  andern  die  Thaten  des 
Hercules  und  die  himmlischen  Zeichen.)  Oft  nahm  man  mit  antiken 
Steinsesseln  vorlieb;  auch  von  dem  steinernen  Wagen  in  der  Sala  a 
della  Biga  (Vatican)  hat  das  erhaltene  antike  Stück  (mit  den  schönen 
Ornamenten)  als  bischöflicher  Thron  in  S.  Marco  zu  Rom  dienen 
müssen. 

Von  kleinerm  kirchlichen  Prachtgeräth  sind  die  sog,  Diptychen 
vorzüglich  bemerkenswerth :  zwei  Elfenbeindeckel,  der  eine  oder  beide 
mit  Reliefs  versehen,  dem  jeweiligen  Verzeichniss  der  Katechumenen 
oder  dem  der  Geistlichen  zum  Einband  dienend.  Einige  sind  für  die 
Kirchen  eigens  gefertigt  und  demgemäss  sculpirt,  andere  sind  herge- 
schenkte sog,  Consulardiptychen,  welche  den  Consul  oder  den  Kaiser 
darstellen,  indem  er  das  Signal  zum  Beginn  der  öffentlichen  Spiele 
giebt.  (Mehrere  im  Domschatz  von  Monza:  das  schöne  mit  Cicero  b 
und  einer  Muse  etwa  aus  dem  IV,  Jahrhundert;  das  eines  Kaisers, 
angeblich  Hadrian,  mit  einer  weiblichen  Figur  nicht  viel  später;  das 
zweier  geputzter  Consuln,  die  nachträglich  zu  Heiligen  gemacht  wor- 
den, etwa  aus  dem  VI,  Jahrhundert,  —  Ein  Diptychon  des  letzten  Con-  c 
suis  Anicetus  in  den  Uffizien  zu  Florenz,  II.  Zimmer  der  Bronzen, 
II.  Schrank.) 

Den  Diptychen  schliessen  sich  die  übrigen  elfenbeinernen  Bücher- 
d  e  c  k  e  1  an,  bei  welchen  man  sich  die  Bücher  als  liegend,  nicht  als 
in  Reihen  stehend  denken  muss.  (Der  untere  Deckel  wenig  oder  gar 
nicht  verziert.)  Ein  schöner  und  fi'üher  im  Museo  cristiano;  andere  d 
hauptsächlich  in  Bibliotheken,  Häufiger  kommen  Bücherdeckel  mit 
getriebenen  Figuren  von  vergoldeter  Bronze  und  mit  Emailzierra- 
then  vor. 

Von  Reliquienkasten  wüsste  ich  kaum  einen  sculpirten  zu 
nennen,  der  mit  den  bessern  nordischen  Arbeiten  dieser  Art  wetteifern 
könnte.  Das  Email  überwiegt  vollständig  zumal  in  den  noch  jetzt 
sehr  zahlreich  vorkommenden  kleinen  Reliquienkästchen.  —  Ein  Elfen- 
beinkästchen mit  den  Halbfiguren  der  Apostel  in  zierlichstem  byzantini-  « 
schem  Flachrelief  des  X.  bis  XII.  Jahrhunderts  findet  man  in  dem 
genannten  Räume  der  Uffizien,   14.  Schrank.   —  Ebenda  eine  runde 


558 


Scttlptur  des  Mittelalters.    Kirchengeräthe. 


Hostienbüchse  mit  der  Reliefdarstellung  der  Anbetung  der  Könige, 

a  vielleicht  aus  dem  VI.  Jahrhundert.  —  Mehrere  Reliquiarien  ver- 
schiedener Zeiten  im  Tesoro  von  S.  Marco. 

Kreuze,  Diademe  u.  dgl.  sind  im  ersten  Jahrtausend  sehr 
barbarisch  und  auf  die  blosse  Kostbarkeit  hin  gebildet  worden.    (Bei- 

b  spiele  im  Domschatz  von  Monza;  die  eiserne  Krone,  VII.  Jahrhun- 
dert (?),  macht  kaum  eine  Ausnahme.) 

Von  den  Kirchenschätzen  Italiens  sind  die  beiden  genannten  von 
Monza  1)   und  von   S.  Marco  in  Venedig  wohl  die  sehenswerthesten, 

c  In  den  Domschätzen  von  Mailand  und  Neapel  überwiegt  auf  eine  trau- 
rige Weise  der  schlechteste  Silberguss  aus  den  beiden  letzten  Jahr- 
hunderten, welcher  kaum  einen  andern  Zweck  verräth,  als  das  vor- 
handene Metall  zu  möglichst  massiven  Blöcken  und  damit  möglichst 

d  wenig  transportabel  zu  machen.  Der  Schatz  von  S.  Peter  gehört  über- 
haupt nicht  zu  den  reichsten  und  enthält  wenig  Altes  (dafür  aber 
einige  gute  Renaissanceleuchter,  welche  man  dem  Michelangelo  und 
dem  Benv.  Cellini  zuschreibt).  —  Einzelne  kirchliche  Antiquaglien 
der  verschiedensten  Style  und  Gattungen  findet  man  gesammelt  in  Flo- 

e  renz  (Uffizien,  II.  Zimmer  der  Bronzen,  14.  Schrank  und  Eckschrank 
links,  wo  sich  u.  a.  die  berühmte  Pax  des  Maso  Finiguerra  befindet); 

f  in  Neapel  (Museum,  Abtheilung  der  Terracotten,  II.  Saal),  in  Mailand 

g  (Sammlungen  der  Ambrosiana),  in  Brescia  (Museo  patrio)  und  ander- 
wärts. 

Der  plastische  E  r  z  g  u  s  s  ist  im  frühern  Mittelalter  für  Italien 
nicht  von  derselben  Wichtigkeit,  wie  für  Deutschland.  Die  einzige 
Anwendung  des  Erzes  im  Grossen,  nämlich  diejenige  für  Kirchen- 
pforten, wurde  der  Sculptur  grossentheils  entzogen,  indem  man  die 


*  1)  Die  eiserne  Krone  wird  nicht  in  der  Schatzkammer,  sondern  auf  dem  Altar  einer  Capelle 
**  rechts  vom  Chor  aufbewahrt.  —  Im  Schatz  u.  a.  der  Kamm  und  der  Fächer  der  Königin 
Theodelinde;  das  ihr  von  Gregor  d.  Gr.  geschenkte  Kreuz;  ein  anderes  Kreuz  mit  den 
an  Kettchen  daran  hängenden  Goldkugeln;  ein  goldenes  Pultblatt  (?)  von  ihr  gestiftet, 
mit  dufijeaieteteii  Gcnimer.,  ihre  Krone,  d.  h.  cir.  Goldreif  mit  ••unden  »rnaillirten  Knöpf- 
chen und  Edelsteinen  etc.;  endlich  das  Kreuz  von  Italien,  bedeckt  mit  Edelsteinen  und 
Email,  gestiftet  von  Berengar  I  (IX.  Jahrhundert).  Das  Meiste  ziemlich  roh  und  primitiv, 
das  Kreuz   von  Italien  wie  nach  dem  blossen  Augenmass  verfertigt. 


im 


Erzgttss.  —  Erwachen  des  romanischen  Styles. 


559 


heil.   Figuren  und  Geschichten  durch  eingelegte  Fäden  und  (für  das 
Nackte)  Flächen  von  Silber  oder  Gold  darstellte.  (Thüren  von  S.  Marco  a 
in  Venedig,  an  den  Domen  von  Amalfi,  Salerno  etc.,   ehemals  auch  b 
an  S.  Paul  bei  Rom.)    Was  daneben  von  Reliefs  an  gegossenen  Thür- 
flügeln  vorkömmt  (hintere  Thür  am  Dom  von  Pisa,  XII.  Jahrhundert,  c 
von  Bonannus  etc.;  Pforten  von  S.  Zeno  in  Verona)  lässt  diese  Ein-  d 
busse  kavim  bedauern  i).  —  Der  schöne  baumförmige  Bronze-Cande- 
laber  im  linken  Querschiff  des  Domes  von  Mailand  ist  sammt  seinen  e 
zahlreichen  Figürchen  wohl  erst  aus  dem   XIII.   Jahrhundert,  dem 
Zeitalter,  da  die  Sculptur  anderweitig  wieder  zu  einem  neuen  Leben 
erwacht  war. 


Die  Hauptbedingung  dieses  Erwachens  war  offenbar  die  Rück- 
kehr zur  Steinsculptur,  und  diese  konnte  erst  im  Zusammenhang  mit 
einer  neuen  Entwicklung  der  kirchlichen  Baukunst  eintreten. 

Der  entscheidende  Schritt  geschah  in  Toscana  und  der  Lombar- 
dei, während  des  XI.  und  XII.  Jahrhunderts,  hauptsächlich  mit  der 
Schöpfung  eines  neuen  Fassaden-  und  Portalbaues,  welcher  die  Sculp- 
tur erst  massig  und  dann  im  Grossen  in  Anspruch  nahm.  Auch  das 
Innere  der  Kirchen,  aus  der  bisherigen  engen  Pracht  von  Gold  und 
Mosaiken  in  das  Grossräumige  und  Einfache  übergehend,  verlangte 
von  der  Sculptur  jetzt  wieder  marmorne  Altäre,  Kanzeln  und  Grab- 
mäler,  während  zugleich  das  Mosaik  dem  Fresco  allgemach  die  Stelle 
räumte. 

Die  Aufgabe  der  Bildhauer  war  und  blieb  aber  geraume  Zeit  noch 
dieselbe  wie  früher:  Ausdruck  der  kirchlichen  Ideen  durch  das  Viele, 
durch  ganze  Systeme  und  Kreise  von  Gestalten  und  Historien.  Es 
handelte  sich  nun  darum,  ob  sie  in  dauernder  Abhängigkeit  von  der 
Malerei  verharren  oder  innerhalb  der  unvermeidlichen  Schranken  ihre 
eigenen  Gesetze  nach  Kräften  entwickeln  würde. 


' )  Und  doch  liegt  überall  ein  Goldkorn,  wo  man  sucht.  Der  alte  Bonannus  hat  z.  B.  bei  der 
Transfiguration  die  drei  Jünger  mit  der  Geberde  des  tiefsten  Sinnens,  die  Hand  am  Bart, 
mit  geschlossenen  Augen  dargestellt 


K»:::;n:'  ,.iia< 


^60       Sculptar  des  Mittelalters.    Romanischer  Styl.    Toscana. 

Wie  in  der  Architektur,  so  dürfen  wir  auch  in  der  Bildnerei  die 
neuen  Regungen  als  einen  romanischen  Styl  bezeichnen,  so- 
wie man  die  auf  dem  Römischen  ruhenden  Sprachen  des  Abendlandes 
nach  ihrer  (gerade  auch  zu  jener  Zeit  vollendeten  und  literarisch  be- 
thätigten)  Umbildung  als  romanische  Sprachen  benennt. 

Die  Anfänge  dieses  romanischen  Styles  der  italienischen  Sculptur 
waren  freilich  äusserst  roh  und  ungeschickt,  sodass  gleichzeitige  deut- 
sche Arbeiten  in  der  Regel  einen  beträchtlichen  Vorzug  behaupten 
werden.  Dafür  haben  sich  die  italienischen  Künstler  oft  mit  Namens- 
unterschrift genannt  und  dadurch  der  Kunstgeschichte  einen  fortlau- 
fenden urkundlichen  Faden  an  die  Hand  gegeben,  den  sie  in  Deutsch- 
land vermisst.  Diese  Namensnennimg,  bei  der  selbst  materiellen  Ge- 
ringfügigkeit der  meisten  Werke  doppelt  auffallend,  zeigt,  dass  die 
Steinsculptur  mit  der  ganzen  Wichtigkeit  einer  Neuerung  auftrat. 
Das  Wichtigere  ist  in  Kürze  folgendes: 

a  Taufbrunnen  in  S.  Frediano  zuLuccaii5i,  mit  unergründlichen 
Darstellungen  von  fleissiger,  aber  noch  sehr  befangener  Arbeit;  von 
Robertus.  Ein  Werk,  welches  besser  als  jede  Beschreibung  zeigt,  wie 
der  romanische  Styl  einen  gewissen  ornamentalen,  ja  kalligraphischen 
Schwung  in  seine  Gestalten,  namentlich  in  die  Gewänder  bringt. 
Die  Oberschwelien  der  Portale  an  S.  Andrea  und  S.  Bartolommeo 

b  in  P  i  s  t  0  j  a  ,  dort  11 66  von  Gruamons,  hier  11 67  von  Rudolf inus; 
elend  und  gering,  nur  als  Präcedentien  der  pisanischen  Schule  be- 
merkenswerth. 

c  Portalsculpturen  an  S.  Salvatore  zu  Lucca,  um  11 80  von  Bi- 
duinus,  welcher  auch  diejenigen  an  der  Kirche  von  Casciano  unweit 

d  Pisa  fertigte.  Die  eherne  Pforte  des  Bonannus  am  Dom  von  Pisa 
wurde  schon  erwähnt;  sie  fällt  nebst  den  Sculpturen  der  Seitenpfosten 

e  des  Ostportals  am  Baptisterium  in  dieselbe  Zeit,  welche  schon  viel 
entwickelter  sind. 

i  Schon  einen  Schritt  weiter  geht  das  Relief  der  Oberschwelle  an 
S.  Giovanni  zu  Lucca. 

Die  oberitalischen  Sculpturen  sind  durchgängig  um  einen 
bedeutenden  Grad  besser  und  lebendiger,  auch  diejenigen,  welche  um 
ein  halbes  Jahrhundert  älter  sind,  als  die  genannten  toscanischen.  Die 
Nähe  des  damals  kunstreichern  Nordens  ist  nicht  zu  verkennen. 


Modena.    Verona.    Ferrara. 


56r 


Am  Dom  von  Modena:  Aussen  an  der  Fassade  die  Geschichten  a 
der  ersten  Menschen,  im  rechten  Querschiff  die  Passion,  von  Nicolaus 
und  Guilelmus,  seit  1099.    Diese  Arbeiten  sind  nebst  den  Portalsculp- 
turen  bei  aller  Rohheit  merkwürdig  als  frühste  Denkmale  wahrhaft 
romanischen  Styles  in  Italien. 

An  der  Fassade  von  S.  Zeno  in  Verona  (seit  1139)  Sculpturen  b 
derselben  Künstler,  Nicolaus  und  Guilelmus,  schon  mit  höher  ent- 
wickeltem Sinn  für  Anordnung  im  Raum  und  für  Reliefbehandlung 
überhaupt.  (Bes.  die  Erschaffung  der  Thiere.)  Der  belehrende  Ver- 
gleich mit  den  Bronzeplatten  der  Thür,  welche  noch  ganz  barbarisch 
sind,  zeigt,  dass  diese  von  der  Thür  des  altern  Baues  entlehnt  sein 
m.üssen. 

(Im  Innern  stehen  an  der  Mauer  des  rechten  Seitenschiffes  die  c 
Statuen  Christi  und  der  zwölf  Apostel,  etwa  vom  Anfang  des  XIII. 
Jahrhunderts,  sorgfältige  Arbeiten.  Wie  gebunden  die  Kunst  sich  da- 
mals fühlte,  wenn  irgend  ein  höheres  geistiges  Verhältniss  auszudrücken 
war!  um  die  ehrfürchtige  Unterordnung  der  Apostel  zu  bezeichnen, 
sind  sie  alle  mit  einsinkenden  Knieen  gebildet,  am  merklichsten  die 
beiden  zunächst  bei  Christus.  Es  war  ein  weiter  Weg  von  da  bis  zu 
Rafaels  Tapete:   ,,pasce  oves  meas.") 

Die  Sculpturen  am  Portal  des  Domes  sind  befangener  als  die  an  d 
S.  Zeno,  die  Löwen  ganz  heraldisch.  Im  rechten  Seitenschiff  befindet 
sich  ein  Weihbecken  romanischen  Styles,  auf  drei  burlesken,  nackten 
Tragfiguren  (die  vierte  fehlt).  Das  XV.  Jahrhundert,  welches  diese 
halbdämonischen  Fratzen  nicht  mehr  als  solche  verstand,  glaubte  sie 
in  Gestalt  von  Buckligen  nachahmen  zu  müssen.  Dieser  Art  ist  der 
ganz  tüchtige  Gobbo,  welcher  in  S.  Anastasia  das  Weihbecken  links  e 
mit  so  aufrichtiger  Anstrengung  trägt.  (Derjenige  rechts  ein  geringes 
viel  späteres  Gegenstück.) 

Das  Taufbecken  in  S.  Giovanni  in  Fönte  (XII.  Jahrhundert)  zeigt  f 
in  seinen  Reliefs  den  säubern  und  sogar  schwungreichen  romanischen 
Styl  mit  noch  ziemlich  ungeschickten  Motiven  verbunden.    (Die  ein- 
zelnen Theile  von  verschiedenem  Werthe.) 

Von  den  Sculpturen  an  der  Fassade  des  Domes  von  Ferrarag 
gehören   diejenigen   des  Mittelportals  selbst  noch   der  Giündungszeit 


502 


Romanische  Scnlptar.    Parma. 


(1135)  und  dem  befangenem  romanischen  Styl  an.  (Die  alten  Origi- 
nale der  ziemlich  täuschend  erneuerten  Tragfiguren  auf  Löwen  findet 
man  in  einem  Hofe  hinter  dem  Chor.)     Schon  freier  regen  sich  die 

a  Gestalten  der  sechs  Monatsbilder  an  einem  Anbau  der  Fassade  rechts. 
Endlich  sind  die  obern  Sculpturen  über  dem  Mittelportal  ein  wahr- 
haft bedeutendes  Werk  des  germanischen  Styles,  etwa  um  1300.    (Die 

b  untere  Halle  der  Universität  enthält  einige  Fragmente  des  altchrist- 
lichen und  der  spätem  Style.) 

c  Mit  den  Sculpturen  am  Baptisterium  und  im  Dom  von  P  a  r  m  a  ist 
man  in  einiger  Verlegenheit,  weil  zweierlei  Style  einem  und  demsel- 
ben Künstler,  Benedetto  Antelami,  zugeschrieben  werden.  — 
Er  nennt  sich  mit  vollem  Namen  und  mit  dem  Datum  1178  in  dem  Re- 
lief einer  Kreuzabnahme,  welches  sich  jetzt  in  der  dritten  Capelle  rechts 
im  Dom  befindet;  eine  zierliche,  aber  noch  sehr  starre  Arbeit,  eher 
byzantinisch  als  romanisch.   Dann  hat  ein  ,, Benedi ctus"  im  Jahr  11 96 

d  die  Sculpturen  am  Südportal  des  Battistero  gefertigt,  und  laut  diesen 
wohl  auch  die  der  beiden  übrigen  Portale,  von  welchen  dasjenige  ge- 
gen Süden  durch  sein  fast  mithreisches  Aussehen  die  Liebhaber  der 
damaligen  Mystik  glücklich  machen  wird.  Diese,  nebst  den  Engeln 
in  den  Nischen  des  Innern  und  den  Innern  Thürreliefs  können  alle 
noch  wohl  von  der  gleichen  Hand  sein  und  würden  dann  einen  all- 
mäligen  Übergang  des  Antelami  zur  romanischen  Art  beweisen.  — 
Aber  die  schon  ungleich  lebendiger  gebildeten  Thiere  am  Sockel  des 
Gebäudes  aussen  und  die  zwölf  Hochreliefs  mit  den  Monatsbeschäfti- 
gungen in  einer  obern  Galerie  des  Innern  zeigen  einen  so  viel  höhern 
Grad  künstlerischen  Vermögens,  dass  sie  einem  Andern  angehören  müs- 
sen und  dieser  wäre  dann  der  bedeutendste  Bildhauer  Italiens  vor  oder 
neben  Nie.  Pisano  gewesen.  Lebendig  und  selbst  schön  bewegt  er- 
innern diese  Gestalten  in  ihrer  plastisch  trefflichen  Behandlung  des 
Nackten  unmittelbar  an  deutsche  Arbeiten  des  beginnenden  XIII.  Jahr- 
hunderts. 

e  Wie  wenig  aber  eine  Schwalbe  einen  Sommer  macht,  zeigen  die 
beiden  ungeschlachten  Löwen  vor  dem  Dom,  deren  Datum  1281  über 
dem  Hauptportal  nebst  dem  nicht  nennenswerthen  Namen  des  Bild- 
hauers zu  lesen  ist.    Sie  sind  wieder  ganz  heraldisch  und  leblos. 


Scolptnr  nm  1200.    Niccolö  Pisano. 


563 


In  Rom  sind  aus  dieser  Zeit  erhalten:  Die  geschnitzten  hölzer- 
nen Pforten  von  S.  Sabina;  Streben  nach  lebendigster  Bewegung  in 
äusserst  befangenen  Formen.     (Pforte  gegen  das  Kloster.) 


In  all  diesen  Werken  kämpft  das  Verlangen  nach  deutlicher  und 
energischer  Bezeichnung  des  Lebens  mit  einer  mehr  oder  weniger 
grossen  Ungeschicklichkeit;  auch  in  der  Formenbildung  zeigt  sich  noch 
nicht  das  geringste  Bedenken  darüber,  ob  zum  Ausdruck  des  Heiligen 
solche  Gestalten  und  solche  (oft  skurrile)  Geberden  auch  wirklich  hin- 
reichten. Um  das  Jahr  1200  stand  die  deutsche  Kunst  wie  in  allen 
Beziehungen  so  auch  hierin  hoch  über  der  italienischen  i). 

Auch   die   meisten    Arbeiten   von    1200 — 1250   gehen   nicht   weit 
über  dieses  Niveau  hinaus.   Als  Probe  ist  die  Kanzel  in  S.  Bartolommeo  b 
zu  P  i  s  t  o  j  a  zu  nennen,  von  Guido  da  Como  1250,  mit  leblos  zier- 
lichen Reliefs.   —  Oder    die    meisten    von    den  Sculpturen    in    der  c 
Vorhalle  des  Domes  von  L  u  c  c  a.  —  Ungleich  besser  (aber  vielleicht 
erst  vom  Ende  des  Jahrhunderts,  obwohl  noch  vollkommen  romanisch) : 
die  Reliefs  mit  dem  Stammbaum  und  der  Jugendgeschichte  Christi,  an  d 
den  Pfosten  des  Hauptportals  am  Dom  von  Genua.    Das  Lunetten- 
relief  mit  dem  Salvator  und  der  Marter  des  heil.  Laurentius  ist  viel 
geringer,  und  auch  die  steinerne  Area  Johannes  des  Täufers  in  dessen 
Altar  im  Dom  erreicht  jene  Thürpfosten  an  Schwung,  Feinheit  und 
Leben  des  Reliefs  nicht. 

In  dieser  Zeit  trat  nun  ein  grosser  Künstler  auf,  Niccolö  Pi- 
sano, dessen  Wirksamkeit  allein  schon  genügte,  um  der  Sculptur 
eine  ganz  neue  Stellung  zu  geben.  Sein  Styl  ist  eine  verfrühte  und 
desshalb  bald  wieder  erloschene  Renaissance;  von  antiken  Reliefs, 
hauptsächlich  Sarcophagen  begeistert,  erweckt  Niccolö  die  gestorbene 
Formenschönheit  wieder  vom  Tode.  Aus  jenen  Vorbildern  combinirt 
er  mit  ungemeinem  Takt  seine  heiligen  Geschichten  so  zusammen, 
dass  sie  ein  lebendiges  Ganzes  zu  bilden  scheinen,  und  ergänzt  und 


1)  Erst  im  XIV.  Jahrhundert  geht  jene  Herabstimmung  durch  die  deutsche  Geisterwelt,  die 
man  in  zahlreichen  Äusserungen  nachweisen  kann,  aber  noch  nicht  in  ihrem  Wesen  er- 
gründet hat. 


564 


Sculptaren  des  Nict^olö  Pisano  in  Lacca  ond  Pisa, 


verschmilzt  Alles  durch  einen  Natursinn,  der  wahrscheinlich  eben  erst 
durch  den  Anblick  der  Antike  in  ihm  geweckt  worden  war.  —  Seine 
Arbeiten  erreichen  wohl  bei  weitem  das  Bessere  des  Alterthums  nicht 
und  können  eher  geschichtliche  Curiosa  von  erstem  Werthe  als  hohe 
und  eigenthümliche  Schöpfungen  heissen.  Für  die  Folgezeit  hatten 
sie  die  grosse  Bedeutung,  dass  durch  sie  die  kindischen  und  abge- 
storbenen Formen  der  Frühern  beseitigt  waren,  und  dass  der  Geist 
des  Jahrhunderts  zwar  nicht  in  antikem  Gewände  wie  bei  Niccolö 
selbst,  aber  in  einer  durch  diesen  kurzen  Übergang  wesentlich  geläu- 
terten Gestalt  weiter  arbeiten  konnte. 

Niccolö's   frühstes  bekanntes  Werk  ist  das  Relief  der   Kreuzab- 

a  nähme  über  der  linken  Thür  der  Vorhalle  des  Domes  von  Lucca 
(1233).  Abgesehen  von  den  reinen  Formen,  welche  mit  den  Arbeiten 
seiner  Zeitgenossen  an  und  zwischen  den  andern  Portalen  befremdlich 
contrastiren,  offenbart  sich  der  grosse  Künstler  durch  eine  höchst  edle 
tuid  geschickte  Composition,  welche  die  Momente  der  Anstrengung 
und  des  Seelenausdruckes  vortrefflich  vertheilt  und  damit  ein  ganz 
ausgebildetes  Liniengefühl  verbindet. 

b  Nach  langer  Zwischenzeit  (1260)  folgt  die  weltberühmte  Kanzel 
des  Battistero  zu  Pisa.  (Den  Inhalt  der  Darstellungen  s.  in  den 
Reisehandbüchern.)  Die  Einwirkung  der  römischen  Vorbilder  beson- 
ders kenntlich  in  einer  Anzahl  weiblicher  Köpfe  (Madonna  als  Juno 
etc.),  in  der  Behandlung  der  Haare,  in  der  Darstellung  des  Nackten 
(wobei  sich  doch  schon  ein  wesentlich  neuer  naturalistischer  Zug  ein- 
mischt, s.  die  Fortitudo);  auch  in  der  Darstellung  der  Thiere,  z.  B. 
der  Pferdeköpfe  bei  der  Anbetung  der  Könige,  und  der  vier  Löwen, 
auf  welchen  die  Säulen  ruhen.  Dagegen  ist  die  Gewandung  mehr 
scharf  und  brüchig  als  bei  den  Alten.  Im  Ausdruck  und  in  der  Wahl 
der  Motive  zeigt  sich  viel  Geist  und  Leben,  aber  das  hohe  Mass  des 
Reliefs  von  Lucca  fehlt  gerade  der  Composition  des  Christus  am  Kreuz 
auf  empfindliche  Weise. 

c  An  der  berühmten  Area,  dem  Sarg  des  heil.  Dominicus  in  des- 
sen Kirche  zu  Bologna,  gelten  die  Reliefs  und  die  dazwischen  be- 
findlichen Statuetten  des  Sarcophages  selbst  als  Werke  des  Niccolö. 
In  Betreff  der  beiden  vordem  Reliefs  (Belebung  des  Knaben  und  Ver- 
brennung der   Bücher)    wird   man  diess  wohl   zugeben   können;    die 


in  Bologna  und  Siena. 


565 


Bildung  des  Einzelnen  ist  hier  so  vorzüglich  und  so  sehr  von  antiken 
Nachklängen  beseelt,  als  an  den  Arbeiten  in  Toscana.  Dagegen  zeigen 
die  Reliefs  der  Schmalseiten  und  der  Rückseite  eine  viel  geringere 
Arbeit;  wenn  sie  auch  unter  Niccolö's  Aufsicht  entstanden  sein  mö- 
gen, von  seiner  Hand  sind  sie  nicht.  Die  Zwischenstatuetten  endlich 
erscheinen  schon  als  Werke  des  entwickelten  pisanischen  Styles  und 
könnten  bei  ihrer  Vortrefflichkeit  wohl  von  Giovanni  herrühren. 

(Im  Camposanto  zu  Pisa  wird  dem  Niccolö  noch  das  unvollendete  a 
Relief  einer  Geburt  Christi,  N.  XVIII,  zugeschrieben.) 

Den  Übergang  aus  der  Weise  des  Niccolö  Pisano  in  die  seines 
Sohnes  Giovanni  macht  die  Kanzel  im  Dom  von  Siena,  an  welcher  b 
sie  in  der  That  Beide  gearbeitet  haben  (1266?  oder  eher  später?). 
Das  Antikisirende  ist  hier  schon  ein  halb  erlöschender  Nachklang  und 
selbst  in  den  ruhigen  allegorischen  Figuren  nur  noch  stellenweise 
kenntlich;  der  jüngere  Meister  des  dramatischen  Ausdruckes  behält 
das  Feld.  Die  Löwen  und  Löwinnen,  auf  welchen  die  Säulen  hier 
und  an  den  Pisaner  Kanzeln  ruhen,  sind  vielleicht  die  ersten,  und 
zwar  durch  antike  Anregung  ganz  lebendig  gewordenen  Thierbilder  des 
Mittelalters;  die  architektonische  Anordnung  des  Ganzen  vorzüglich. 

Andern  Nachfolgern  scheint  die  Weise  Niccolö's  mehr  imponirt 
zu  haben  als  dem  eigenen  Sohn  desselben.  So  dem  Verfertiger  der 
Kanzel  von  S.  Giovanni  fuoricivitas  in  P  i  s  t  o  j  a  (1270),  an  welcher  c 
sich  wieder  einige  direkte  Nachahmungen  antiker  Sarcophagfiguren 
finden').  Das  Werk  als  Ganzes  ist  ziemlich  geistlos,  zum  Beweis, 
dass  man  ein  N.  Pisano  sein  musste,  um  damals  mit  der  Antike  ctv/as 
Rechtes  anzufangen. 


Wo  diese  Zeit  eigentlich  hinauswollte,  zeigt  sich  klar  und  voll- 
ständig in  den  Malereien  Giotto's  und  seiner  Schule,  auf  deren  Be- 
sprechung (s.  unten)  wir  hier  der  Kürze  halb  verweisen.  Indess  hat 
die  Sculptur  hier  nicht  nur,  wie  gev/öhnlich,  die  zeitliche  Priorität 
vor  der  Malerei  voraus,  sondern  sie  offenbart  auch  ganz  eigenthüm- 
liche  Züge,  welche  Erörterung  verlangen. 


')  Laut  Vasari  von  einem  Deutschen. 


566 


Germanische  Scalptar.    Giovanni  Pisano. 


Es  hatte  sich  seit  der  ersten  Hälfte  des  XIII.  Jahrhunderts  im 
Norden  derjenige  Styl  gebildet,  welchen  man  gegenwärtig  wegen  sei- 
nes innern  Zusammenhanges  und  gleichzeitigen  Entstehens  mit  der 
germanischen  oder  gothischen  Baukunst  den  germanischen 
nennt.  Im  Wesentlichen  ist  er  eine  Umbildung  des  bisherigen  romani- 
schen nach  strengern  architektonischen  Principien;  die  Sculptur  wird 
von  der  übermächtig  gewordenen  Baukunst  in  die  Schule  genommen 
und  auf  ganz  bestimmte  Functionen,  auf  gegebene  Räume  angewiesen. 
Eine  germanische  Statue  ist  so  zu  sagen  unvollständig  ohne  die  Ni- 
sche, für  welche  sie  gedacht  ist.  Sie  hat  mit  ihrer  geradlinigen  Ein- 
fassung zu  contrastiren  durch  ausgeschwungene  Stellung;  sie  hat  mit 
der  Gliederung,  der  Schattenwirkung  derselben  zu  wetteifern  durch 
kräftigen  und  selbst  scharfen  Faltenwurf,  überhaupt  durch  bestimmte 
Fassung  ohne  weiche  Zerflossenheit.  Was  ihr  von  Schönheit  und 
Ausdruck  gegeben  werden  kann,  concentrirt  sich  im  Angesicht.  Eine 
vollständige  und  allseitige  Durchbildung  war  hiebei  zwecklos,  sogar 
unmöglich;  doch  hinderte  diess  nicht  das  Entstehen  einer  Anzahl 
Sculpturen  vom  höchsten  relativen  Werthe,  wie  z.  B.  diejenigen  aus 
dem  XIII.  Jahrhundert  an  der  Liebfrauenkirche  zu  Trier,  am  Strass- 
burger  Münster,  in  der  Vorhalle  des  Münsters  zu  Freiburg  etc. 


Von  diesen  Werken  scheint  nun  der  Sohn  des  Niccolö,  Gio- 
vanni Pisano,  den  wir  schon  nebst  dem  Vater  als  Architekten 
kennen,  angeregt  worden  zu  sein,  entweder  durch  einen  Aufenthalt  in 
Deutschland  oder  durch  herübergekommene  deutsche  Künstler  i). 

Allein  die  italienische  Baukunst  machte  der  nordischen  im  Ganzen 
gerade  diejenigen  Zierformen  nicht  nach,  welche  im  Norden  die  Um- 
bildung in  den  germanischen  Sculpturstyl  motivirt  hatten;  und  so  war 
auch  die  Aneignung  des  letztern  selbst  eine  zwar  kenntliche,  aber  doch 
freie.  Das  Vorbild  hätte  auch  lange  nicht  ausgereicht;  Giovanni's 
Hauptgattung  war,  wie  wir  sehen  werden,  das  reiche  und  bewegte 
Relief,  das  gerade  im  Norden  nur  ausnahmsweise  zu  einer  solchen 
Anwendung  gelangte.     Bald  darauf  ging  es  in  der  Malerei  ähnlich; 


')  Deren  (laut  Vasari)  eine  Anzahl  in  seiner  Nähe  waren. 


Giovanni  Pisano 


567 


auch  rite  erhielt  im  Süden  ungleich  weitere  Räume  und  freiere  Auf- 
gaben als  im  Norden. 

Auf  der  Grenze  des  neuen  Styles  stehen  die  biblischen  Reliefs, 
mit  welchen  die  untern  Theile  der  Fassade  von  Orvieto  (seit  a 
1290)  bedeckt  sind.  Es  ist  noch  die  Schule  Niccolö's,  doch  schon 
vorwiegend  unter  dem  Einfluss  Giovanni's.  Eine  Anzahl  ihm  selbst 
zugeschriebener  Scenen  zeigen  zuerst  in  der  italienischen  Kunst  eine 
selbständige  Composition  im  höhern  Sinne  mit  kenntlichem  Linien- 
gefühl; diess  wohl  eher  eine  Frucht  der  Thätigkeit  seines  Vaters  als 
der  nordischen  Einwirkung.  Aber  schon  zeigt  sich  auch  der  Cha- 
rakteristiker und  der  Darsteller  des  dramatischen  Ausdruckes  um 
jeden  Preis,  dem  später  auch  das  Heftige  und  Hastige  zur  Gewohn- 
heit wird. 

Schon  etwas  früher  (um  1280)  hatte  er  die  untere  Schale  des  b 
grossen  Brunnens  in  P  e  r  u  g  i  a  i)  mit  jener  Masse  von  biblischen,  al- 
legorischen und  parabolischen  Relieffiguren  geschmückt.  Vortrefflich 
lebendige  Bewegungsmotive  und  glückliche  Anordnung  im  Raum  geben 
ihnen  einen  höhern  Werth  als  die  noch  etwas  schwankende  plastische 
Behandlung. 

Nur  wenige  sichere  Werke  sind  aus  Giovanni's  reifster  Zeit  vor- 
handen. Als  Architekt  in  ganz  Italien  beschäftigt,  brachte  er  wohl 
auch  seine  plastischen  Grundsätze  überall  hin  (was  freilich  eher  zu 
vermuthen  als  zu  beweisen  ist),  behielt  aber  gewiss  wenig  Müsse  für 
eigene  Arbeiten. 

Der  Hochaltar  im  Dom  von  Arezzo  ist  in  decorativer  Be-  c 
Ziehung  ein  merkwürdiges  Denkmal  der  Ziellosigkeit,  welche  dem 
Italienisch-Gothischen  anhing,  als  es  die  Consequenzen  seiner  nordi- 
schen Vorbilder  verschmähte  (S.  163);  neben  deutschen  Altarwerken, 
welche  die  Kirche  selbst  in  leichter,  idealer  Durchsichtigkeit  nach- 
ahmen, könnte  er  auf  keine  Weise  bestehen.  In  den  Reliefs  und 
Statuetten  aber,  womit  das  Werk  bekleidet  ist,  erscheint  Giovanni 
Pisano  als  Bildhauer  auf  seiner  vollen  Höhe.  Es  ist  kaum  möglich, 
diese  Geschichten  der  Ortsheiligen  und  der  Maria,  diese  Halbfiguren 


')  Noch   zwei    Jahre    vorher    hatte    auch    der   alte   Niccolö   an    diesem    Brunnen   gearbeitet  — 
was?  weiss  man  nicht. 


568 


Germanische  Sculptür.    Giov.  Pisano. 


von  Propheten  und  Engeln,  diese  Apostelgestalten  für  die  gege- 
benen Räume  geistvoller  zu  componiren. 

a  Keine  andere  Schöpfung  bezeichnet  aber  die  Sinnesweise  Giovanni's 
deutlicher  als  die  Kanzel  in  S.  Andrea  zu  Piste  ja  (1301),  ein 
kleines  Werk,  doch  überquellend  von  geistigem  Reichthum,  der  die 
formale  Überladung  vergessen  lässt.  In  den  Reliefs  ist  die  Klage  der 
Mütter  von  Bethlehem,  die  Gruppe  der  Frauen  unter  dem  Kreuz  in 
ihrer  Art  unvergleichlich;  von  den  Eckstatuetten  geben  die  Sibyllen, 
tief  erregt  von  den  Einflüsterungen  der  sie  begleitenden  Engel,  das 
Höhenmass  des  Ausdruckes,  welcher  dem  grossen  Meister  zu  Gebote 
stand.  Die  anatomische  Schärfe  des  Nackten  zeigt  allerdings  u.  A., 
dass  sein  Ziel  ein  einseitiges  war.  —  Immerhin  möchte  diese  Kanzel 
sein  reifstes  Werk  und  z,  B.  derjenigen  im.  Dom  von  Siena,  welche 
ähnliche  Motive  unsicherer  durchführt,  weit  vorzuziehen  sein. 

Es  folgt  das  schon  bei  den  Decorationsarbeiten  erwähnte  Grab- 

b  mal  Benedicts  XI.  (f  1304)  in  S,  Domenico  zu  Perugia,  mit 
der  edeln  liegenden  Statue  des  Verstorbenen;  auch  die  den  Vorhang 
ziehenden  Engel  in  ihrem  lebendigen  Schreiten  sind  vortrefflich;  die 
obern  Statuetten  schon  mehr  conventioneil. 

c  Das  letzte  grössere  Werk  (131 1),  die  Kanzel  im  Dom  von  Pisa, 
wurde  später  auseinandergenommen;  die  einzigen  sichtbaren  Stücke 
findet  man  eingemauert  theils  noch  an  der  Kanzel  selbst  (man  beachte 
auch  die  beiden  Löwen),  theils  auf  einer  der  obern  Galerien  des  Do- 

d  mes,  (Die  sechs  Reliefs  über  den  Thronen  im  Chor,  von  welchen 
man  die  beiden  mittlem  für  Giovanni's  Werk  halten  könnte,  sind  von 
spätem  Künstlern  der  Schule.)  Ein  Übergang  in  das  Gesuchte  und 
Manierirte  ist  hier  im  Ganzen  nicht  zu  verkennen;  die  Eckfiguren 
haben  schon  etwas  gewaltsam  Interessantes,  worin  auch  die  kenntliche 
Verwandtschaft  Giovanni's  mit  Michelangelo  liegt. 

Noch  in  seiner  Blüthezeit  aber  hat  Giovanni  in  der  Madonna  war 

e  zwischen  zwei  Engeln  (Lunette  der  zweiten  Südthür  am  Dom  von 
Florenz)  den  Typus  der  Himmelskönigin  so  festgestellt,  wie  er  von 
der  ganzen  Sculptür  des  germanischen  Styles  reproducirt  werden  konnte. 
Es  ist  eine  schöne  und  reiche  Bildung,  eine  Fürstin,  grandios  einfach 
gehalten,  aber  ohne  irgend  einen  besondern  Zug  schwärmerischer  In- 
nigkeit.     Sonst  geht  Giovanni,  auch  wo  er  ruhig  bleibt,   nicht  auf 


in 


'Wß^ 


Giovanni  Pisano. 


569 


eigentliche  Schönheit  aus;  im  Nackten  ist  er  Naturalist,  in  den  Köpfen 
mehr  lebendig  und  (wo  der  Gegenstand  es  gestattet)  jugendlich  voll, 
als  holdselig.  Immer  aber  sind  die  conventionellen  byzantinischen,  die 
rohen  romanischen  Formen  durch  seinen  Vater  und  durch  ihn  ent- 
schieden beseitigt. 

In  Pisa  selbst  werden  dem  Giovanni  noch  mehrere  Madonnen 
zugeschrieben:  diejenige  auf  dem  Vordergiebel  des  Domes;  die  thro-  a 
nende  Madonna  mit  Engeln  in  dem  Baldachin  über  der  einen  Thür  b 
des  Camposanto  (für  ihn  zu  leblos).    (Vasari  führt  noch  andere  Ma- 
donnen an.) 

Einen  nahen  Anspruch  auf  seinen  Namen  möchten  die  Propheten- 
figuren in  den  Füllungen  zweier  Beichtstühle  zu  S.  Micchele  in  Borgo  c 
haben. 

Wie  weit  die  ihm  beigelegten  Arbeiten  im  Camposanto  ihm  d 
angehören,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Am  ehesten  wohl  die  edle 
Statuette  des  Petrus  (bei  II.),  vielleicht  auch  die  bedeutende  Gruppe 
(N.  47)  einer  Caritas,  über  den  zusammengestellten  Figuren  der  vier 
Cardinaltugenden,  so  viel  harte  Manier  auch  darin  sein  mag;  sie  könnte 
etwa  für  hohe,  entfernte  Aufstellung  berechnet  gewesen  sein.  (Die 
Nackte  von  den  untern  Figuren  verräth  die  Nachbildung  eines  Venus- 
motives,  in  Giovanni's  Formen.)  Auch  bei  dem  Heiligen  mit  der 
Wage  (N.  136)  über  einer  Basis  mit  den  sieben  freien  Wissenschaften 
(nebst  der  Philosophie  als  Königin)  wird  man  am  ehesten  an  Giovanni 
denken  dürfen.  Vollends  kann  der  barocke  Hercules  (N.  2)  kaum  von 
einem  andern  sein  als  von  dem  Sohne  Niccolö  Pisano's;  Kopf  und 
Seitenprofil  des  Ganzen  sind  der  Antike  entnommen,  die  magere  Bil- 
dung durchaus  naturalistisch. 

Auch  das  Weihbecken  mit  den  Statuen  der  vier  Evangelisten  im  « 
rechten  Querschiff  des  Domes  steht  der  Art  Giovanni's  noch  sehr  nahe. 

In  P  a  d  u  a  findet  sich  noch  ein  bezeichnetes  Werk  Giovanni's: 
,,Joh'is  magistri  Nicoli";  nämlich  das  Grabmal  des  Errico  Scrovegno  f 
hinter  dem  Altar  in  Madonna  dell'  Arena  (1321).  Maria,  im  Gespräch 
mit  dem  ganz  bekleideten  Kinde  auf  ihrem  Arm,  und  die  beiden  Engel 
sind  nicht  bloss  in  der  Art,  sondern  recht  sehr  in  der  Manier  des 
Meisters;  die  Statue  des  Verstorbenen  dagegen  ist  als  eines  der 
frühesten  Werke,  welche  seit  Untergang  der  römischen  Kunst  den  Na- 


Uicicerone. 


37 


570 


Germanische  Sculptnr.    Schale  von  Pisa. 


men  eines  vollendeten  Porträts  verdienen,  von  grossem  Interesse;  im 
Eifer  des  neugewonnenen  Kunstvermögens  hat  Giovanni  den  Kopf  und 
die  Hände  so  im  Einzelnen  charakterisirt,  wie  etwa  Balth.  Denner 
zu  thun  pflegt. 

Von  seinen  mit  Namen  genannten  Schülern  und  Nachfolgern  wird 
das  Sichere  unten  aufgezählt.  Seine  Schule  als  Ganzes  aber  giebt  sich 
in  den  zahlreichen  Sculpturen  des  XIV.  Jahrhunderts  in  und  ausser- 

a  halb  Pisa  kund.     In  Florenz  gehören  z.  B.  die  Statuetten  mehrerer 

Gräber  zu  S.  Croce  wahrscheinlich  hieher;  die  grosse  plastische  Werkstatt 

war  eben  damals  überhaupt  Pisa  und  nicht  Florenz,  sodass  auch  die 

geborenen  Florentiner  dort  Lehre  und  Anregung  empfangen  mochten. 

In    Pisa   haben,    wie   es   scheint,    verschiedene    Schüler   noch   bei 

,  Giovanni's   Lebzeiten   die  vielen    Statuetten   an   der   Aussenseite   der 

b  von  ihm  erbauten  S.  Maria  della  Spina  verfertigt,  die  denn  auch 
von  sehr  verschiedener  Güte  sind.  Ganz  trefflich  und  rein  einige  der 
zwölf  gegen  den  Christus  in  der  Mitte  gewendeten  Apostel,  auch 
einiges  am  vordem  Giebel. 

Noch  unter  Giovanni's  Einfluss  möchte  auch  die  liegende  Grab- 

c  statue  Heinrichs  VII.  im  Camposanto  mit  dem  edel  gewendeten 
Haupt  und  dem  ganz  vorzüglich  drapirten  Kaisermantel  gearbeitet 
sein;  die  Apostel  am  Sarcophag  zeigen  unmittelbar  den  Styl  seiner 
Schule.  (Die  sitzende  Statue  desselben  Kaisers  am  andern  Ende  des 
Gebäudes  ist  nebst  ihren  Begleitern  ein  rohes  Werk  dieser  Zeit.) 

Die  spätere  Zeit  der  Schule  giebt  sich  u.  a.  durch  ein  zierliches 
Raffinement  der  Gewandung  kund,  wie  diess  z.  B.  an  der  schönen 

d  (verstümmelten)  Madonna  im  Camposanto  N.  179  zu  bemerken  ist, 
auch  an  der  Gruppe  eines  Apostels  mit  zwei  Propheten  N.  69  u.  s.  w. 
Alles  in  Allem  gerechnet,  ist  Giovanni  der  einflussreichste  Künst- 
ler seiner  Zeit  gewesen.  Ohne  ihn  hätte  es  keinen  Giotto  gegeben 
oder  einen  andern  und  befangenem.  —  Giotto  verdankt  ihm  gewiss 
mehr  als  seinem  Lehrer  Cimabue. 


Von  den  Mitgenossen  Giovanni's,  die  wir  uns  hauptsächlich  beim 
Dom  von  Orvieto  um  ihn  versammelt  denken  dürfen,  ist  der  als  Bau- 


Arnolfo.    Sienesen.    Cosmaten. 


571 


meister  berühmte  Florentiner  ArnolfodelCambio  mit  grösserer 
Befangenheit  auf  den  germanischen  Sculpturstyl  eingegangen.  Am 
Brunnen  von  Perugia  beweisen  es  die  Statuetten  der  mittlem  Schale;  a 
sie  stehen,  als  fühlten  sie  Nischen  um  und  über  sich.  Auch  die  Fi- 
guren an  den  Tabernakeln  von  S.  Paul  und  S.  Cecilia  in  Rom  haben  b 
bei  würdiger  Gemessenheit  doch  etwas  Unfreies,  das  von  Giovanni's 
Art  weit  abweicht. 

Agostino  und  Angelo  von  Siena.die  Erbauer  der  hin- 
tern Fronte  des  dortigen  Domes  (S.  135),  haben  ausser  ihrer  Mitarbeit  in 
Orvieto  nur  ein  Hauptwerk  hinterlassen,  von  nur  zweifelhaftem  Werthe. 
Die  Sculptur  ist  schon  seit  der  Trajanssäule  immer  in  Verlegenheit 
gewesen,  wenn  sie  eine  Übermasse  von  Thatsachen  an  einem  und  dem- 
selben Denkmal  verewigen  sollte.  So  haben  sich  auch  die  Beiden  we- 
nig zu  helfen  gewusst,  als  sie  1330  das  Mausoleum  des  politisch  und 
kriegerisch  berühmten  Bischofs  Guido  Tarlati  im  Dom  von  Arezzo  c 
(Seitenschiff  links)  arbeiteten.  Die  übliche  Form  —  eine  Nische  mit 
Sarcophag  und  Giebel  —  behielten  sie  vergrössert  bei  und  erzählten 
dem  Beschauer  in  vier  Reihen  von  je  vier  Reliefs  übereinander  die 
Thaten  des  Helden.  Da  Vasari's  Aussage  sich  streng  genommen  nur 
auf  die  Anordnung  des  Grabes  im  Ganzen  bezieht,  so  möchte  es  wohl 
zweifelhaft  bleiben,  dass  Giotto  zu  diesen  ziemlich  ungeschickten  Com- 
positionen  die  einzelnen  Zeichnungen  geliefert  habe.  Viel  besser  sind 
die  zwischen  den  Reliefs  angebrachten   Statuetten. 

Auch  die  letzten  Cosmaten  wurden  sowohl  decorativ  als  pla- 
stisch vom  Styl  und  vielleicht  vom  persönlichen  Einfluss  Giovanni's 
berührt,  und  die  oben  erwähnten  Prälatengräber  in  der  Minerva  und  in  d 
S.  Maria  maggiore  zu  Rom  (S.  166,  b  und  c)  möchten  leicht  zum  Lie-  e 
benswürdigsten  der  ganzen  Richtung  gehören.   Die  stille  Weihe,  welche 
über  diesen  nur  aus  wenigen  aber  schön  geordneten  Elementen  be- 
stehenden Denkmälern  ruht,  hat  der  ungleich  vielseitigere  Meister  mit 
seinem  Reichthum  nie  erreicht,  —  (Die  Statue  Carls  von  Anjou,  ehe-  i 
mals  im  untern  Saal  des  Senatorenpalastes  auf  dem  Capitol,  wo  sie 
indess   1853  nicht  mehr  zu  finden  war,  ist  ein  im  Ganzen  sehr  un- 
genügendes, aber  als  Porträt  wichtiges  Werk,  von  unbekannter  Hand.) 


37* 


572 


Germanische  Scnlptar.    Giotto. 


Von  Giotto  selbst,  und  zwar  aus  den  letzten  Jahren  seines  Le- 
a  bens  (1334 — 36)  sind  die  sämmtlichen  Reliefs  an  den  beiden  untern 
Stockwerken  des  Campanile  beim  Dom  von  Florenz  entworfen  und 
zum  Theil  selbst  in  Marmor  ausgeführt  (die  übrigen  von  Andrea  Pi- 
sano  und  Spätem).  Composition  und  plastischer  Styl  erregen  hier 
ein  geringeres  Interesse  als  der  Inhalt,  welcher  eine  Art  von  Ency- 
clopädie  alles  profanen  und  heiligen  Thuns  der  Menschen  zu  geben 
sucht.  Das  Einzelne  findet  man  u.  a.  in  Försters  Handbuch  verzeich- 
net. Bei  Anlass  der  Malerei  werden  wir  auf  die  Anschauungsweise 
zurückkommen,  welche  dergleichen  Aufzählungen  in  der  damaligen 
Kunst  hervorrief  (dergleichen  auch  der  Brunnen  von  Perugia  eine 
liefert).  Jede  Kunstepoche  braucht  einen  Gedankenkreis  dieser  Art, 
an  dem  sich  die  Form  entwickeln  und  äussern  kann  und  der  zugleich 
an  sich  ein  bedeutendes  culturgeschichtliches  Zeugniss  ist.  Manche 
überschätzen  ihn  wohl  auch  und  legen  eine  Tiefe  hinein,  die  nicht 
darin  ist. 

Bei  diesem  Anlass  eine  Bemerkung  über  den  Unterschied  der 
christlichen  und  der  antiken  Symbolik  überhaupt.  Die  christliche  ist 
nicht  volksthümlichen  Ursprunges,  nicht  mit  der  Religion  und  mit  der 
Kunst  von  selbst  entstanden  wie  die  antike,  sondern  durch  Combina- 
tion  und  Abstraction  Gelehrter  und  Wissender  aus  den  verschiedensten 
Stellen  der  Bibel  gewonnen.  Schon  desshalb  hat  sie  nur  eine  bedingte 
Gültigkeit  in  der  Kunst  erreicht.  Nun  kam  aber  noch  aus  der  gelehrten 
Theologie  und  Philosophie  ein  starkes  Contingent  abstracter  allegori- 
scher Begriffe  hinzu,  welche  ebenfalls  von  der  Kunst  eine  sinnliche 
Belebung  verlangten.  Schon  im  Alterthum  kömmt  Ähnliches  vor,  aber 
anspruchloser  und  weniger  buchmässig.  Wenn  man  aber  inne  wird, 
welchen  heiligen  Ernst  und  welche  Treue  Giotto  und  die  Seinigen 
diesem  Gedankenkreise  widmeten,  so  bleibt  kein  Zweifel,  dass  sie 
davon  überzeugt  und  beglückt  waren.  Die  Gegenstände  sind  zeitlich 
bedingt,  wenn  nur  das  Gefühl,  welches  die  Künstler  daran  knüpfen, 
ein  unendliches  ist!    — 

Ihre  plastischen  Aufgaben  waren  allerdings  viel  einfacher  als 
diejenigen  auf  dem  Gebiete  der  Malerei.  Es  ist  die  immer  von  Neuem 
dargestellte  Madonna  zwischen  anbetenden  Engeln,  meist  in  der  Hal- 
tung, die  ihr  Giovanni  Pisano  gegeben,  ohne  irgend  ein  Streben  nach 


Andrea  Pisano.    Nino. 


573 


besondcrm  Pathos  oder  besonderer  Verklärung,  aber  immer  schön  und 
bedeutend,  und  in  der  Arbeit  gewissenhaft;  dieser  Typus  bildet  die 
feste  Basis,  ohne  welche  vielleicht  die  freisten,  herrlichsten  Madonnen 
des  XVI.  Jahrhunderts  nicht  so  vorhanden  wären,  wie  sie  sind.  So- 
dann wurden  biblische  und  auch  legendarische  Scenen  im  Relief  be- 
handelt, und  auf  diesem  Gebiet  einzelne  Aufgaben  so  vollendet  geist- 
voll gelöst,  wie  vielleicht  seither  nie  wieder. 

Gerade  der  nächste,  den  wir  hier  zu  erwähnen  haben,  Andrea 
P  i  s  a  n  o  ,  übertrug  das  Darstellungsprincip  Giotto's,  unter  dessen 
nächstem  Einfluss  er  arbeitete,  mit  wahrhaft  hohem  Bewusstsein  in 
die  bedingtem  Formen  der  plastischen  Kunst.  Von  ihm  ist  die  eherne  a 
Südthür  am  Baptisterium  zu  Florenz  (1330  oder  wenig  später)  mit 
den  Geschichten  Johannes  des  Täufers.  Hier  ist  ein  Fortschritt  auch 
über  Giovanni  hinaus;  zwar  wird  dessen  Detailbelebung  schon  des 
kleinern  Massstabes  wegen  nicht  erreicht,  allein  die  Grenzen  des  Re- 
liefs sind  hier  viel  richtiger  erkannt  und  festgehalten.  Es  ist  vielleicht 
die  reinste  plastische  Erzählung  des  ganzen  germanischen  Styles;  An- 
drea giebt  das  Seinige  wunderbar  in  Wenigem,  mit  dem  sichersten 
Gefühl  dessen,  was  in  dieser  Gattung  überhaupt  zu  geben  war,  wäh- 
rend Giovanni  mit  seinem  Reichthum  sich  überstürzt  hatte.  Die  Heim- 
suchung, die  Enthauptung,  die  Überreichung  des  Hauptes  (bloss  zwei 
Figuren),  die  Grabtragung,  die  Grablegung  des  Johannes  sind  Motive 
von  einfachster  Schönheit.  Die  acht  theologischen  und  moralischen 
Tugenden  in  den  untern  Feldern  können  ebenfalls  in  ihrer  Art  einzig 
heissen,  vor  allem  die  Figur  der  ,, Hoffnung".  —  Die  drei  Propheten-  b 
Statuen  am  Campanile  (Südseite)  sind  in  ihrer  Art  viel  weniger  be- 
deutend. 

Andrea's  Sohn,  NinoPisano,  erscheint  eigenthümlich  getheilt. 
Im  Styl  der  Gewandung  möchte  er  wohl  durch  Adel,  Gemessenheit 
und  schöne  Durchführung  den  Höhepunkt  der  pisanischen  Schule  be- 
zeichnen; auch  in  den  Stellungen  seiner  ruhigen  Figuren  hat  er  nichts 
von  dem  Gesuchten,  was  z.  B.  den  spätem  Arbeiten  Giovanni's  nach- 
geht; dafür  ist  seine  Bildung  der  Köpfe  und  Hände  schon  auffallend 
realistisch.  Auf  dem  Hauptaltar  von  S.  Maria  della  Spina  in  Pisa  ist  c 
nicht  nur  der  Petrus  mit  starken  Adern  der  Hände,  mit  gerunzelter 
Stirn,  sondern  auch  die  Madonna  mit  allerlei  Zügen  einer  nicht  mehr 


574 


Germanische  Scnlptnr.    Pisa.    Siena. 


jungen  Frau  dargestellt;  auf  der  andern  Seite  Johannes  der  Täufer. 

a  —  Die  gegenüberstehende  Reliefmadonna  des  kleinern  Altars  (in  der 
Handlung  des  Säugens)  zeigt  eine  etwas  idealere  Bildung.  —  In  S. 

b  Caterina  (Cap.  rechts  neben  dem  Chor)  ein  Engel  Gabriel  und  eine 
Madonna,  ersterer  eine  der  schönsten  pisanischen  Statuen,  auch  letz- 
tere von  trefflicher  Arbeit,  aber  einem  nichts  weniger  als  hohen  Typus 
(1370).  An  dem  dortigen  Erzbischof sgrab  (links  neben  der  Thür), 
vom  Jahr  1342,  möchten  doch  wohl  nur  die  untern  Reliefs  von  Nino 
sein;  die  obern  Figuren  sind  zu  ungeschickt. 

Weniger  eigenthümlich  als  Nino  ist  sein  Bruder  Tommaso  Pi- 

c  s  a  n  o.  Von  ilim  ist  der  Altar  N.  33  im  Camposanto  und  die  kleine 
Madonna  N,  172,  gute  fleissige  Arbeiten. 

Den  Ausgang  der  pisanischen   Schule  in  die  Art  des   XV.   Jahr- 

d  hunderts,  etwa  in  der  Art  des  Quercia,  bezeichnen  ein  paar  Reliefs 
in  S.  Sisto  zu  Pisa.     (Sonstige  pisanische  Sculpturen  s.  S.  570,) 


Die  damaligen  sienesischen  Bildhauer,  gleich  Agostino  und 
Agnolo  mehr  von  Giovanni  Pisano's  Geist  als  von  dem  der  gleich- 
zeitigen Maler  ihrer  Stadt  berührt,  haben  einige  nicht  unbedeutende 

e  Werke  hinterlassen.  Die  Sculpturen  an  der  Fassade  des  Domes,  theils 
von  dem  frühern  Bau  entlehnt,  theils  modern,  geben  keinen  Massstab. 

f  Im  Dom  von  Pistoja  (rechts)  ist  das  Grabmal  des  Rechtsgelehrten 
Cino  (1337)  eine  naive  Arbeit  des  Sienesen  Cinello;  der  Verstorbene 

g  ist  als  Docent  nebst  Zuhörern  dargestellt').  Im  Dom  von  Florenz 
sieht  man  gegen  Ende  des  rechten  Seitenschiffes  oben  auf  einem  Aus- 
bau schwebend  ein  Bischofsgrab  von  dem  Sienesen  Lino  di  Camaino, 
mit  gutem  Relief,  sonst  merkwürdig  durch  die  für  diese  Höhe  mit 
Recht  sitzend,  aber  als  sitzende  Leiche  gebildeten  Bischofsstatue.  — 
Von  Lino  ist  auch  das  mehr  decorativ  wichtige  Grabmal  des  Bischofs 


1)  Diese    Art    von    Professorendenkmälern    ist    dann    besonders    häufig    in    Bologna    wiederholt 
*  worden,  wo  man  dergleichen  sowohl  vom   Ctyl  des   XIV.   als  des   XV.    Jahrhimdi^rt«,     ?.   B. 
**  im    Klosterhof   von    S.    Domenico,    im    Chorumgang    von    S.    Giacomo   etc.,    mehrere    findet. 
Die    bessern   zeigen   in   den    Zuliörern    einen    abwechselnden,    bisweilen    tief   gemeinten    Aus- 
druck (Staunen,  Sinnen,  Federspitzen,  Nachschreiben  u.  s.  w.). 


Slena.    Spätere  Florentiner.    t)rcagna. 


575 


Aliotti  im  rechten  Querschiff  von  S.  Maria  novella  (die  Reste  seines  a 
Altars  im  rechten  Querschiff  des  Domes  von  Pisa  habe  ich  nicht  finden 
können).  —  Ein  ganz  später  Sieneser,  der  sich  Ego  Jacobus  magistri 
Petri  de  senis  1422  unterzeichnet,  und  den  man  nach  Vasari's  (schwer- 
lich richtiger)  Annahme  für  Jacopo  della  Quercia  (s.  unten)  hält, 
schuf  den  Altar  der  Sacramentscapelle  in  S.  Frediano  zu  Lucca,  b 
Madonna  zwischen  vier  Heiligen  in  gothischen  Baldachinen,  deren 
Spitzen  in  Halbfiguren  von  Propheten  auslaufen,  anmuthvolle  germa- 
nische Figuren,  deren  späte  Entstehung  sich  nur  durch  das  übermässige 
Faltenwerk  verräth.  (Die  Reliefs  der  Predella  sind  dann  wieder  für 
Quercia  zu  frei  und  zu  entwickelt;  sie  erinnern  eher  an  die  Arbeiten 
eines  Benedetto  da  Majano.) 


Von  Niccolö  Aretino  sind  zwei  unter  den  Statuen  der  Pa-  c 
triarchen  am  Campanile  zu  Florenz  (Ostseite)  und  die  Lunettengruppe 
an   der  Misericordia  zu   Arezzo,   mittelgute   Arbeiten.      Bei  weitem  d 
origineller  die  sitzende  Statue  des  Marcus  im  Dom  zu  Florenz  (erste  e 
Chorcapelle  links). 

Im  Innern  des  Bigallo  zu  Florenz  (jetziger  Archivraum)  ist  eine  f 
Madonna  zwischen  zwei  manierirten  Engeln,  von  Alberto  di  Ar- 
noldo  (um  1360),  ein  mehr  fleissiges  als  geistvolles  Werk.  (Die 
kleine  Madonna  aussen  am  Gebäude  wird  dem  Nie.  Pisano  beigelegt, 
was  auf  sich  beruhen  mag.  Die  Füllfiguren  der  Architektur,  Prophe- 
ten und  Sibyllen,  sind  ziemlich  roh  gegebene  Schulmotive.) 

Weit  der  bedeutendste  der  Schule  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIV. 
Jahrhunderts  ist  hier  wie  für  die  Malerei  Andrea  (diCione,  ge- 
nannt) O  r  c  a  g  n  a  (1329 — 89).  Die  Sculpturen  seines  berühmten  und 
überaus  prächtigen  Tabernakels  in  Orsanmicchele  (1359)  sind  schon  g 
sachlich  wichtig  als  Inbegriff  dessen,  was  sich  von  kirchlicher  Sym- 
bolik an  Einem  Kunstwerk  zusammenstellen  Hess.  Im  plastischen 
Styl  ist  Orcagna  wie  A.  Pisano  dem  Giovanni  Pisano  durch  Ruhe 
und  Gemessenheit  überlegen;  die  Figuren  stehen  auch  in  einer  höhern 
Linienharmonie  mit  der  Decoration;  allein  die  Formenschönheit  er- 
scheint als  eine  etwas  allgemeine  und  nicht  ganz  lebendige.  (Das 
Bedeutendste  einige  köstliche  Füllfiguren  an  den  Pfeilern  und  das 


576  Germanische  Scülptnr.    Gold  Schmiedearbeit. 

Relief  der  Rückseite.)  —  Nach  meinem  Dafürhalten  haben  die  Relief- 

a  medaillons  der  Loggia  de'  Lanzi  (Tugenden  i)  und  Madonna,  nach 
1375)    einen   höhern   und   reinem   Schwung;   schon   die   verwitterten 

b  Aussenstatuetten  an  den  Fenstern  von  Orsanmicchele,  wahrscheinlich 
ebenfalls  von  Orcagna,  sind  denjenigen  des  Tabernakels  zum  Theil 
mindestens  gleich  an  Werthe.  (Es  stehen  ähnliche  auch  innen  am 
Stabwerk  der  Fenster,  allein  so  beleuchtet,  dass  man  kaum  ihr  Da- 
sein bemerkt.) 

Von  einem  Nachahmer  Orcagna's  (nicht  von  Andrea  Pisano,  wie 

c  man  schon  gemeint  hat)  ist  der  Taufstein  im  Baptisterium,  dessen 
figurenreiche  Reliefs,  lauter  Taufen  darstellend,  des  Formates  wegen 
sehr  langgestreckte  Gestalten  zeigen.  Dabei  eine  fleissige  und  nicht 
geistlose  Arbeit. 

Von  einem  späten  Trecentisten,   Simone  da  Fiesole,  mag 

d  die  thronende  Madonna  in  Orsanmicchele  (Wandnische  links)  wenig- 
stens erwähnt  werden,  als  Specimen  dieser  Art. 


e  Prachtarbeiten  wie  der  silbervergoldete  Altar  im  Dom  von  Pistoja 
(hintere  Capelle  rechts,  gewöhnlich  verdeckt)  bilden  in  den  Zeiten 
einer  blühenden  Steinsculptur  nicht  mehr  eine  die  Kunst  bestimmende 
Gattung,  sondern  hängen  von  dem  Bildungsgrad  der  Steinsculptur  ab 
und  kommen  den  Werken  derselben  nicht  einmal  durchgängig  gleich, 
weil  der  enge  Raum  und  der  kostbare  Stoff  den  Künstler  bindet. 
Eine  streng  chronologische  Besichtigung  ist  indess  bei  einem  Werke, 
an  welchem  das  ganze  XIV.  und  XV.  Jahrhundert  hindurch  ciselirt 
wurde,  immer  sehr  lehrreich.  (Das  Beste  enthält  wohl  die  untere 
Tafel  rechts,  von  Leonardo  di  Ser  Giovanni,  1366.)  Der  ehemahge 
decorative  Zusammenhang  des  Ganzen,  als  der  Altar  noch  frei  stand, 

f  bleibt  zweifelhaft.  —  Den  Silberaltar  im  Baptisterium  zu  Florenz,  von 
ähnlichem  Werth,  hat  der  Verfasser  nicht  gesehen. 


Von  einem  späten  Florentiner  dieser  Richtung,  AndreadaFie- 
s  o  1  e  (der  mit  dem  100  Jahre  jüngeren  Andrea  Ferrucci  nicht  zu  vei- 


^)  Nach  Andern  zum  Theil  von  Jacopo  di  Pietro. 


Bologna  nnd  Ferrara. 


577 


wechseln  ist),  sind  einige  Denkmäler  in  Bologna  zu  beachten,  meist 
Professorengräber  der  oben  (Seite  574,  g)  beschriebenen  Gattung.  So 
eines  des  Juristen  Saliceti  (1403)  im  Klosterhof  von  S.  Martino  mag-  a 
giore;  ein  anderes  des  Bartolommeo  Saliceti  (1412)  im  Klosterhof  von  b 
S.  Domenico  (die  Eckstatuen  und  oben  der  zweite  Apostel  neben  der 
Madonna  fehlen;  das  Relief  der  Zuhörer  und  die  Putten  an  den  Con- 
solen  unten  sind  gut  und  lebendig,  die  liegende  Statue  weniger). 

Von  ähnlichem  Styl,  doch  schon  mehr  in  der  Art  des  XV.  Jahr- 
hunderts, das  vortreffliche  Grabmal  des  Juristen  Antonio  Bentivoglio  c 
im  Chorumgang  von  S.  Giacomo  maggiore;  von  den  Statuetten  sind 
zumal  die  der  vier  Tugenden  lebendig  und  ausdrucksvoll. 

Die  sonstigen  bolognesischen  Sculpturen  germanischen  Styles  sind 
meist  ebenfalls  von  Fremden  gearbeitet.      Unter  den   Urhebern  der 
ziemlich  unbedeutenden  Heiligenbrustbilder  am  Sockel  von  S.  Petronio  d 
wird  auch  ein  Deutscher,  HansFerrabech,  genannt,  welchem  der 
S.  Paulus  angehört.   Von  dem  Venezianer  Jacopo  Lanfraniist 
das  Denkmal  des  Taddeo  Popoli  in  S.  Domenico,  Nebencapelle  des  « 
linken  Querschiffes,  vom  Jahr  1347,  und  dasjenige  des  Juristen  Cal-  f 
derini,  t  1348,  im  dortigen  Klosterhof;  beides  befangene  Arbeiten. 


Sonst  geben  z.  B.  die  Sculpturen  am  obern  Theil  des  Dompor-  g 
tals  zu  Ferrara  einen  Massstab  für  dasjenige,  was  etwa  um  1300 
unabhängig  von  den  Pisanern  in  diesen  Gegenden  erreicht  wurde. 
(Madonna;  das  Weltgericht  als  Fries;  drüber  im  Giebel  der  Welt- 
richter mit  Heiligen  und  musicirenden  Ältesten;  weiter  unten  zu 
beiden  Seiten  Abrahams  Schooss  und  der  Schlund  der  Hölle.)  Bei 
mancher  Ungeschicklichkeit  sind  doch  Köpfe  und  Gewandmotive  fast 
durchgängig  energisch  und  in  ihrer  Weise  schön,  das  Ganze  völlig 
aus  einem  Guss. 


Nächst  Pisa  ist  wohl  Venedig  derjenige  Punkt  Italiens,  wo  die 
Sculptur  des  germanischen  Styles  ihre  wichtigste  Werkstätte  hatte. 
Alle  venezianische  Malerei  des  XIV.  Jahrhunderts,  sowohl  die  noch 
byzantinische  als  die  halb  giotteske,  steht  an  innerer  Bedeutung  hinter 
der  gleichzeitigen  Sculptur  zurück.  Die  mangelnde  Grossräumigkeit  der 


578 


Germanische  Sculptor.    Venedig.    Calendario. 


Gebäude  führte  bei  sonst  reiclien  Mitteln  von  selbst  auf  einen  Ersatz 
durch  plastischen  Schmuck,  und  bei  einem  so  durchgehenden  Bedürf- 
niss  konnte  sich  auch  eine  Schule  und  eine  Tradition  entwickeln. 
Eine  gewisse  Einwirkung  von  der  pisanischen  Schule  her  ist  wohl 

a  nicht  zu  läugnen.  Man  sieht  am  vordem  Portal  von  S.  Maria  de' 
Frari  eine  treffliche  Madonnenstatue,  welche  von  Niccolö  Pisano 
sein  soll,  der  bekanntlich  durch  den  Bau  dieser  Kirche  zuerst  den 
germanischen  Baustyl  nach  Venedig  brachte  (S.  137,  c).  Aus  der  pi- 
sanischen Schule  ist  sie  jedenfalls,  und  vielleicht  existirt  noch  Ande- 
res mehr  von  dieser  Art^).  Ausserdem  aber  hat  der  Norden,  wie  auf 
Giovanni  Pisano,  so  auch  auf  die  venezianischen  Sculptoren  einge- 
wirkt, und  zwar  auf  diese  sehr  unmittelbar.  Man  erkennt  diesen  Ein- 
fluss  in  der  eigenthümlichen  Rundung  der  jugendlichen  Köpfe,  in  der 
grössern  Strenge  der  Gewänder,  in  den  ausgeschwungenen  Stellungen 
(vgl.  Seite  566),  welche  bei  den  Pisanern  ebenfalls,  aber  in  einer  an- 
dern Nuance  vorkommen.  Das  Wesentliche  aber  ist,  dass  dieser  Styl 
an  einer  ganzen  Anzahl  von  Werken  mit  Geist  und  Leben  gehand- 
habt wurde. 

Die  geschichtlichen  Anhaltspunkte  sind  nur  spärlich  vorhanden, 
oder  dem  Verfasser  nicht  genügend  bekannt.  —  Der  erste  notorische 
Meister  istFilippo  Calendario,  welcher  um  1350  den  Dogen- 
palast erbaute  und  mit   Sculpturen  versah.      Es  sind  diess  grössere 

b  Relief figuren  an  den  Ecken  (Taufe  Johannis,  Sündenfall,  Engel  etc.), 
und  ganz  besonders  die  figurirten  Capitäle  der  untern  Ordnung.  Wenn 
auch  die  geistvollsten  und  zierlichsten  —  unläugbar  diejenigen  zu- 
nächst bei  S.  Marco  —  erst  von  spätem  Meistern  sein  sollten,  so  ent- 
halten doch  auch  die  übrigen  (gegen  die  Riva  und  die  ersten  gegen 
die  Piazzetta  hin)  eine  Menge  von  originell  gewendeten,  ausdrucks- 
vollen Figürchen  (meist  allegorischen  Inhaltes).  Die  Hochrelief gruppe 
,,Salomo's  Urtheil",  an  der  Ecke  gegen  S.  Marco,  ist  als  Ganzes  un- 
geschickt, im  Einzelnen  aber  sehr  würdig  und  wohl  nicht  viel  später 
als  Calendario  2). 


•)  Vasari  hatte  eine  dunkle  Kunde,  dass  Andrea  Pisano  an  S.  Marco  gearbeitet  habe. 
2)  Von   dem   bei   Anlass   von   Bologna   erwähnten   Venezianer   Lanfrani   ist   in   Venedig   nichts 
erhalten. 


Venedig.    Die  Massegne. 


579 


In   die    letzten  Jahrzehnte   des    XIV.  Jahrhunderts   fällt  dann  die 
Thätigkeit  der  Brüder  JacobelloundPierpaolodelleMas- 
segne  von  Venedig.   Von  ihnen  sind  die  vierzehn  Statuen  der  Apostel  a 
mit  Maria    und    S.  Marcus,    welche  in  S.  Marco    auf    dem  Geländer 
stehen,  das  den  Chor  vom  Querbau  abschliesst;  ebenso  das  Dogengrab 
Antonio  Venier  im  linken  Querschiff  von  S.  Giovanni  e  Paolo;  ausser-  b 
dem  möchte  ich  ihnen  das  schöne  Lunettenrelief  über  dem  Eingang  c 
zum  Vorhof  von  S.  Zaccaria  (Madonna  mit  Johannes  dem  Täufer  und 
S.  Marcus)  und  in  der  Taufcapelle  von  S.  M.  de'  Frari  (sog.  Cap.  S.  d 
Pietro,  links)  die  fünf  Statuen  an  der  Wand  über  dem  Taufbecken,  so- 
wie die  fünf  obern  Halbfiguren  des  dortigen  Altars  zuschreiben.    (Die 
fünf  untern  ganzen  Figuren  sind  etwa  60  Jahre  neuer.)     Vielleicht 
dürfen  wir  auch  die  ehemalige  Decke  der  Pala  d'oro  im  Schatz  von  S.  e 
Marco  hierherrechnen;  sie  enthält  (in  vergoldeter  getriebener  Arbeit) 
die  Gestalten  der  Apostel  i).    —  Mit  einer  meist  etwas  gedrungenen 
Bildung  wird  man  in  den  genannten  Werken  eine  ernste  Anmuth,  einen 
gediegenen   Ausdruck  und  jenen  idealen   Schwung  der  Gewandung 
verbunden  finden,  den  die  Pisaner  durch  eine  mehr  zierliche  Lebendig- 
keit ersetzen. 

Den  Mastro  Bartolommeo,  welcher  den  Übergang  in 
den  Styl  des  XV.  Jahrhunderts  bezeichnet,  versparen  wir  auf  die  fol- 
gende Periode.  —  Von  der  grossen  Menge  anonymer  Arbeiten  germani- 
schen Styles,  welche  bis  in  die  ersten  Jahrzehnte  des  XV.  Jahrhun- 
derts herabreichen,  sind  hauptsächlich  diejenigen  an  S.  Marco  hervor- 
zuheben. 


Und  zwar  wird  es  hier  wohl  gethan  sein,  den  ganzen  altern  pla- 
stischen Vorrath  dieses  wundersamen  Gebäudes  im  Zusammenhang  zu 


')  Mit  diesen  Arbeiten  ist  der  grosse  Marmoraltar  von  S.  Francesco  in  Bologna,  welcher  * 
ebenfalls  dem  Jacobelto  und  Pierpaolo  von  Venedig  zugeschrieben  wird,  kaum  zu  ver- 
einigen. In  dieser  ausgezeichneten  Arbeit  ist  statt  des  eigenthümlichen  Schwunges  der 
Massegne  in  Haltung  und  Gewandung  eher  eine  Zerbröckelung  in  kleine  Motive  und 
eine  steife  Stellung  zu  bemerken.  Von  den  Charakterköpfen  sind  einige  recht  schön.  — 
Auch  dem  Agostino  und  Agnolo  von  Siena,  welchen  Vasari  den  Altar  zuschreibt,  gleicht 
der  Styl  wenig. 


58o 


Germanische  Scnlptar.    Venedig. 


besprechen.    Ein  grosses  Stück  der  Geschichte  der  Sculptur  lässt  sich 
hier  mit  Beispielen  aus  den  verschiedensten  Jahrhunderten  belegen. 

«  Zunächst  sollen  antike  Bildwerke  daran  vorkommen.  Es  ist  mög- 
lich, dass  unter  den  Kleinigkeiten,  die  an  der  Nordseite  eingemauert 
sind,  sich  etwas  der  Art  befindet;  dagegen  sind  die  beiden  Reliefs  mit 
Thaten  des  Hercules  an  der  vordem  Fassade  wohl  nichts  anderes,  als 
sehr  merkwürdige  Versuche  eines  wohl  noch  mittelalterlichen  Bild- 
hauers (XIV.  Jahrhundert?),  griechische  Reliefs  nachzuahmen. 

b  Altchristlich  ist  sodann  der  Architrav  des  äussersten  untern  Fas- 
sadenfensters links;  —  er  bezeichnet  das  äusserste  plastische  Unver- 
mögen vielleicht  des  X.  Jahrhunderts,  das  sich  nur  durch  Zusammen- 
setzung alter  (und  schlechter)  Sarcophagbruchstücke  zu  helfen  wusste, 
um.  ein  Stück  biblischer  Geschichte  zusammenzubringen.  Desselben 
Styles  ist  wohl  auch  die  Reliefplatte  in  der  Capelle  Zeno  (rechts),  so 
wie  einiges  an  der  Nordseite  der  Kirche;  der  zum  Dogengrab  (Mo- 
rosini) benützte  Sarcophag  in  der  Vorhalle  zeigt  diesen  Styl  gänzlich 
barbarisirt. 

Inzwischen  griff  Byzanz  dem  plastisch  verwahrlosten  Venedig 
unter  die  Arme,  durch  übersandte  oder  von  griechischen  Bildhauern 
an  Ort  und  Stelle  gearbeitete  Reliefs  (Seite  555)^).    Die  Madonna  in 

c  der  Capelle  Zeno  (links)  und  die  fast  weggeküsste  am  ersten  Pfeiler 
des  rechten  Querschiffes  gelten  als  Arbeiten  aus  Constantinopel;  eine 
Anzahl  Reliefplatten  mit  Madonnen  und  einzelnen  Heiligen  in  der 
Kirche  (an  Pfeilern  und  Wänden  vertheilt),  dann  die  vier  Reliefs  zwi- 
schen den  fünf  untern  Hauptbogen  der  Fassade  (Madonna,  S.  Deme- 
trius,  S.  Georg  und  S.  Michael)  und  diejenigen  an  den  entsprechenden 
Stellen  der  Nordseite  sind  eher  venezianisch-byzantinisch,  nur  dass  die 
letztgenannten  sich  schon  wieder  mehr  der  abendländischen  Weise 
zuneigen. 


')  Die  beiden  Porphyrreliefs,  jedes  mit  einem  sich  umarmenden  Fürstenpaar,  aussen  bei 
*  der  Porta  della  Caria,  angeblich  von  Ptolemäus  hergebracht  und  als  ,,Harmodius  und 
Aristngitop"  benannt,  sinrt  wob!  nichts  anderes  als  Denkmäler  irgend  einer  byzantinischen 
Doppelregterung,  ,,concordi2e  augustorum".  Ähnliche  Darstellungen,  aus  vielleicht  frühe- 
rer Zeit  und  eben  so  barbarisch,   findet   man  an  zwei  Porphyrsäulen  in  der   vaticanischen 

**  Bibliothek. 


ScQlptureD  der  Marcaskirche. 


581 


Neben  der  Thätigkeit  der  Byzantiner  nämlich  hatte  sich  auch  der 
ganz  verkommene  altchristliche  Styl  wieder  aufgerafft;  wir  haben  bereits 
erwähnt,  wie  aus  den  Elementen  des  römischen  Styles  ein  neuer  ro- 
manischer entstand,  und  dieser  scheint  nun  in  Venedig  geraume  Zeit 
neben  dem  byzantinischen  einhergegangen  zu  sein.  Sein  erstes  Lebens- 
zeichen sind  die  peinlich  mit  Geschichten  bedeckten  Säulen,  welche  a 
den  Tabernakel  des  Hochaltares  tragen;  vielleicht  eine  Reminiscenz 
der  Trajanssäule,  nur  nicht  in  der  Spiralfolge,  die  z.  B.  S.  Bernward 
seinen  Reliefs  an  der  Säule  auf  dem  Domplatz  zu  Hildesheim  glaubte 
geben  zu  müssen.  (Ungefähr  gleichzeitig,  im  XI.  Jahrhundert.)  An- 
deres dagegen  ist  von  ausgebildetem,  zum  Theil  sehr  gutem  romani- 
schem Styl,  wie  denn  diese  merkwürdige  Kirche  auch  im  Bereich 
der  Mosaiken  neben  vorherrschenden  byzantinischen  Compositionen 
auch  ein  ausgedehntes  Denkmal  romanischer  Malerei  —  die  Mosaiken 
in  der  Vorhalle  —  aufweist. 

Diese  romanischen  Sculpturen  finden  sich  an  der  Bogeneinfassung  h 
der  mittlem  Hauptthür  (Tugenden,  Sibyllen,  Verrichtungen  der  Monate) 
und  an  derjenigen  des  Portals  der  Nordseite  (Propheten,  Engel,  Hei- 
lige, nebst  einer  noch  halbbyzantinischen  Geburt  Christi  in  dem  birn- 
förmigen  Felde  über  der  Thür).  Auch  die  vier  vergoldeten  Engel 
unter  der  Mittelkuppel  und  derjenige  an  dem  einen  Pult  gehören  hie- 
her.  —  Einen  Übergang  in  den  germanischen  Styl  zeigt  dann  die  Bogen- 
einfassung der  Nische  über  der  mittlem  Hauptthür  (sitzende  und  leh- 
nende Propheten,  eine  Menge  von  Gewerken  und  Verrichtungen,  die 
hiemit  in  den  Schutz  des  heil.  Marcus  befohlen  werden);  auch  die 
vier  Statuetten  in  der  Capelle  Zeno,  dem  Altar  gegenüber,  gehören 
diesem  Übergangsstyl,  d.  h.  etwa  der  ersten  Hälfte  des  XHI.  Jahrhun- 
derts an.  Zwar  ist  hier  nichts,  was  mit  der  plastischen  Sicherheit  und 
Fülle  eines  Bened.  Antelami  (Seite  562)  wetteifern  könnte,  allein  als 
belebte  und  sorgfältige  Arbeiten  verdienen  zumal  die  letztgenannten 
Bogeneinfassungen  alle  Beachtung. 

Für   den  vollendeten   germanischen   Styl   Italiens  ist   sodann   die 
Marcuskirche  eines  der  wichtigsten  Gebäude  ausserhalb  Toscana's.   Im 
XIV.    Jahrhundert   erhielten   die   halbrunden    obern    Abschlüsse   der  c 
Kirche  ihre  prächtige  Bekleidung  mit  dem  schwungreichen  durchbro- 
chenen Laubwerk,  den  Spitzthürmchen  und  einer  Menge  von  Statuen 


582 


Germanische  Scalptar.    Venedig.    S.  Marco. 


a  und  Halbstatuen.  Von  den  Figuren  auf  den  mittlem  Blumen  der  Ab- 
schlüsse sind  diejenigen  an  der  Vorderseite  modern,  mit  Ausnahme 
der  m_ittlern,  eines  sehr  würdigen  segnenden  Christus;  an  der  Süd- 
und  Nordseite  scheinen  sie  sämmtlich  gut  germanisch.  Ebenso  die 
Statuen  in  den  Spitzthürmchen,  welche  nur  etwas  zu  weit  zurück- 
stehen; treffliche  Arbeiten,  die  sich  dem  Styl  der  Massegne  nähern. 
Die  aus  dem  Laubwerk  hervorspriessenden  Halbfiguren  von  Propheten 
und  Sibyllen  haben  in  ihrer  Beweglichkeit  eher  etwas  mit  den  Figür- 
chen  an  Calendario's  Capitälen  gemein;  —  ebenso  auch  die  Bogen- 
einfassung  des  obern  Mittelfensters  (Geschichten  des  alten  Testamentes 
und  Heilige  unter  Baldachinen).  Endlich  gehen  die  trefflich  belebten 
Urnentfäger  unter  den  Spitzthürmchen  als  freie  Stellvertreter  der 
wasserspeienden  Thiere  schon  beinahe  über  die  geistigen  Grenzen  des 
germanischen  Styles  hinaus,  und  wenn  irgend  eine  Kunde  der  Vermu- 
thung  zu  Hülfe  käme,  so  wären  sie  erst  etwa  in  die  Zeit  des  Mastro 
Bartolommeo  zu  setzen. 

Im  Innern  sind  die  schon  erwähnten  Apostel  der  Massegne  das 
Bedeutendste.  —  Ausserdem  enthalten  zwei  Sacramentschränke  rechts 
und  links  neben  dem  Chor  (im  Durchgang  zur  Nebencapelle)  ein  paar 
artige  Figürchen  von  Propheten  und  Engeln  mit  Leuchtern.  —  Die  Sta- 

b  tuen  über  den  Säulenstellungen  am  Eingang  beider  Nebencapellen  des 
Chores  scheinen  von  einem  ungeschicktem  Zeitgenossen  der  Massegne 
herzurühren.  —  Die  Capeila  S.  Isidoro  fand  Verfasser  dieses  neuerlich 
sammt  dem  daselbst  befindlichen  Altar  unzugänglich.  Der  schöne  Altar 

c  in  der  Capelle  de'  mascoli  —  Madonna  mit  zwei  andächtigen  in  der 
Arbeit  höchst  vollendeten  Aposteln  —  ist  wohl  erst  aus  dem  XV. 
Jahrhundert,  etwa  von  einem  der  alten  Weise  treugebliebenen  Zeit- 
genossen des  Mastro  Bartolommeo;  die  Madonna  selbst  kein  pisanisches 
Werk,  wofür  sie  gehalten  wird,  sondern  ebenfalls  venezianisch. 

Ausserhalb  von  S.  Marco  gebührt  der  Preis  dem  Relief  einer  Ma- 

d  donna  mit  zwei  anbetenden  Engeln,  in  der  Lunette  einer  Thür  am 
linken  Querschiff  der  Frari.  Wendung  und  Gestalt,  zumal  des  Kin- 
des, sind  von  einer  lebensvollen  Schönheit,  wie  sie  in  diesem  Styl 
selten  wieder  so  vorkömmt. 

e  Eine  Anzahl  Grabmäler  vorzüglich  in  S.  tiovanni  e  Paolo  voll- 
enden das  Bild  dieses  Styles.     Wir  nennen  dßs  Dogengrab  Morosini 


Lombardei.    Genua.    Neapel. 


583 


(t  1382)  im  Chor  rechts,  mit  tüchtiger  Bildnissfigur  und  befangenem 
Statuetten;  —  das  Dogengrab  Corner,  im  Chor  rechts  (von  dem  Ur- 
heber der  S.  582,  b  genannten  Statuen?);  —  die  Grabstatue  des  Do- 
gen Michele  Steno  im  linken  Seitenschiff,  mit  dem  höhnischen  Aus- 
druck u.  a.  m. 

Über  die  Stylnuancen  in  den  germanischen  Sculpturen  des  alten 
Herzogthums  Mailand  fehlte  mir  die  eigene  Forschung.     Es  wäre  ein 
verdienstliches  Werk,  unter  den  4000  Statuen  des  Domes  von  Mailand  a 
die  schönen  und  alten  (deren  nicht  wenige  sind)  aufzusuchen  und  zu 
bezeichnen.  —  Die  berühmtesten  Heiligengräber  sind:  das  des  S.  Pe- 
trus Martyr  in  S.  Eustorgio  zu  Mailand,  von  Giovanni  di  Bal-b 
d  u  c  c  i  o  1339,  —  und  die  ausserordentlich  reiche  Area  di  S.  Agostino  c 
im  Dom  von  Pavia,  begonnen  1362,  vielleicht  von  demselben  B  o  n  i  n  o 
da  Campiglione,  welcher  (S.  167,  c)  bei  den  Gräbern  der  Scali- 
ger erwähnt  wurde. 

Genua  ist  an  dieser  Stelle  unglaublich  arm  im  Verhältniss  zu 
seiner  schon  damaligen  Bedeutung,  Mit  Ausnahme  von  drei  Figuren 
über  dem  rechten  Seitenportal  von  Madonna  delle  Vigne  habe  ich  nur  d 
ein  Werk  zu  erwähnen:  ein  Bischof sgrab  im  Dom,  zunächst  beim  zwei-  « 
ten  Seitenportal  rechts,  in  der  Höhe,  mit  dem  Datum  1336.  Der  auf 
vier  Löwen  ruhende  Sarcophag  hat  ein  fast  pisanisch  schönes  Relief: 
der  Auferstandene,  welcher  von  den  Jüngern  erkannt  und  angebetet 
wird.    Auch  die  Grabstatue  und  die  vorhangziehenden  Engel  sind  gut. 


Die  neapolitanische  Kunstgeschichte  beruft  sich  hauptsäch- 
lich auf  zwei  Namen,  Masuccio  den  Altern  im  XHI.  und  Masuccio  den 
Jüngern  im  XIV.  Jahrhundert,  welche  auch  als  Architekten  thätig 
waren.  Die  Handbücher  theilen  jedem  von  beiden  das  Seinige  zu;  wir 
haben  es  hier  nur  mit  dem  Schulstyl  im  Allgemeinen  zu  thun. 

Wenn  der  Anschein  nicht  trügt,  so  hat  auch  hier  Giovanni  Pi- 
sano  eingewirkt,  ist  aber  nicht  ganz  durchgedrungen.  So  weit  diese 
neapolitanische  Sculptur  von  den  gemeinsamen  Tugenden  des  germa- 
nischen Styles,  der  Würde  der  Stellung,  dem  reinen  Fluss  der  Dra- 
perien, dem  Ernst  und  der  Schönheit  der  Gesichtszüge  mit  bedingt  ist, 


584 


Germanische  Sculptur.    Neapel. 


mag  sie  wohl  Gefallen  erregen;  was  ihr  aber  eigen,  das  ist  eine  ge- 
wisse Plumpheit  und  Puppenhaftigkeit,  eine  monotone  Wiederholung 
derselben  Motive,  eine  Gedankenlosigkeit,  die  neben  den  gleichzeitigen 
toscanischen  Sculpturen  arg  abstechen  würde.    Hievon  machen  weder 
a  die  Gräber  des  Hauses  Anjou  in  S.  Chiara,  noch  die  keck  bemalten  in 
b  der   Capella  Minutoli  im  Dom   (hinten,   rechts),  noch  diejenigen  des 
c  Hauses  Durazzo  im  Chorumgang  von  S.  Lorenzo,  noch  die  in  S.  Do- 
d  menico,  eine  Ausnahme.     Es  sind  immer  die  gleichen  allegorischen 
Tugenden  und  Wissenschaften,  die  freistehend  den  Sarg  tragen,  immer 
dieselben  Relieffiguren  am  Sarg  selber,  die  nämlichen  vorhangziehen- 
den Engel  drüber  u.  s.  w.     Die  Statuen  der  Verstorbenen  selbst  er- 
scheinen meist  etwas  besser.   —  Eine  Menge  solcher  Gräber  in  allen 
altern  Kirchen,  hie  und  da  mit  Farbenschmuck  und  Mosaiken.     Ein 
e  grosses  erzbischöfliches  Grab  vom  Jahr  1405  in  der  letzten  Capelle 
des  rechten  Seitenschiffes  im  Dom. 

Das  Beste  dieses  Styles  sind  wohl  die  neun  allegorischen  Figu- 
f  ren,  welche  je  zu  dreien  gruppirt  den  Leuchter  der  Osterkerze  in 
S.  Domenico  maggiore  tragen.  Hier  belebt  sich  Antlitz  und  Gestalt 
bis  zu  freier  Anmuth;  die  Behandlung  ist  derjenigen  des  Weihbeckens 
in  S.  Giovanni  Fuoricivitas  zu  Pistoja  ähnlich,  welches  dem  Giovanni 
Pisano  selbst  zugeschrieben  wird. 

Aus  dem  Anfang  des  XV.  Jahrhunderts  kömmt  hinzu  das  grosse 
g  prachtvolle  Grabmal  des  Ladislas  und  seiner  Schwester  Johanna  H, 
von  Andrea  Ciccione,  in  S.  Giovanni  a  Carbonara.  Auch  hier  ist 
alles  Einzelne  viel  lebendiger  und  bedeutender  als  bei  den  Masuccj, 
die  Charaktere  zumal  in  den  kleinern  Statuetten  schärfer  und  energi- 
scher, so  dass  sich  der  Übergang  in  den  eigenthümlichen  realistischen 
Styl  des  XV.  Jahrhunderts  nicht  verkennen  lässt. 
h        Die  Portalsculpturen  am  Dom  und  an  S.  Giovanni  Maggiore  sind 

bloss  als  decoratives  Ganzes  von  Bedeutung, 
i        Die   Grabstatue   Innocenz   IV.,    im  linken  Querschiff  des   Domes, 
mit  ihrem  höchst  ausdrucksvollen,  imposanten  und  feinen  Priester- 
antlitz  ist  wohl  erst  lange  nach  seinem  Tode  (1254),  etwa  zu  Anfang 
des  XV.  Jahrhunderts  gearbeitet. 


ScQlptor  des  XV.  Jahrhunderts. 


585 


Mit  dem  XV.  Jahrhundert  erwacht  in  der  Sculptur  derselbe  Trieb 
wie  in  der  Malerei  (bei  welcher  umständlicher  davon  gehandelt  wer- 
den wird),  die  äussere  Erscheinung  der  Dinge  allseitig  darzustellen, 
der  Realismus.  Auch  die  Sculptur  glaubt  in  dem  Einzelnen,  Vie- 
len, Wirklichen  eine  neue  Welt  von  Aufgaben  und  Anregungen  ge- 
funden zu  haben.  Es  zeigt  sich,  dass  das  Bewusstsein  der  höhern 
plastischen  Gesetze,  wie  es  sich  in  den  Werken  des  XIV.  Jahrhun- 
derts offenbart,  doch  nur  eine  glückliche  Ahnung  gewesen  war;  jetzt 
taucht  es  fast  für  hundert  Jahre  wieder  unter,  oder  verdunkelt  sich 
doch  beträchtlich.  Die  Einfachheit  alles  Äusserlichen  (besonders  der 
Gewandung),  welche  hier  für  die  ungestörte  Wirkung  der  Linien  so 
wesentlich  ist,  weicht  einer  bunten  und  oft  verwirrenden  Ausdrucks- 
weise und  einem  mühsam  reichen  Faltenwurf;  Stellung  und  Anord- 
nung werden  dem  Ausdruck  des  Charakters  und  des  Momentes  in 
einer  bisher  unerhörten  Weise  unterthan,  oft  weit  über  die  Grenzen 
aller  Plastik  hinaus.  Aber  Ernst  und  Ehrlichkeit  und  ein  nur  theil- 
weise  verirrter,  aber  stets  von  Neuem  andringender  Schönheitssinn 
hüten  die  Sculptur  vor  dem  wüst  Naturalistischen;  ihre  Charakter- 
darstellung versöhnt  sich  gegen  den  Schluss  des  Jahrhunderts  hin 
wieder  mehr  und  mehr  mit  dem  Schönen;  es  ebnen  sich  die  Wege 
für  Sansovino  und  Michelangelo. 

Das  Relief  aber  musste  dem  Realismus  bleibend  zum  Opfer 
fallen.  Sollte  es  in  Darstellung  der  Breite  des  Lebens  mit  der  Ma- 
lerei concurriren,  so  war  kein  anderer  Ausweg:  es  wurde  zum  Ge- 
mälde in  Stein  oder  Erz.  Bei  mehrern  Künstlern,  zumal  bei  den  Rob- 
bia,  schimmert  das  richtige  Bewusstsein  von  dem,  was  das  Relief  soll, 

Urcicerone.  3^ 


586 


Sculptar  des  XV.  Jahrhanderts.    Florenz. 


deutlich  durch;  ja  es  fehlt  durchgängig  nicht  an  plastisch  untadelhaften 
Einzelmotiven;  im  Ganzen  aber  ist  das  Relief  dieser  Zeit  eine  Neben- 
gattung der  Malerei.  Die  Überfüllung  spätrömischer  Sarcophage  mochte 
wohl  zur  Entschuldigung  dienen.  Im  Ganzen  aber  wird  man  erstau- 
nen, in  dieser  Sculptur,  deren  decorative  Einfassung  lauter  antikisi- 
rende  Renaissance  ist,  fast  gar  keinen  plastischen  Einfluss  des 
Alterthums  zu  entdecken.  Mit  Ausnahme  etwa  einzelner  Puttenmo- 
tive ist  nur  hie  und  da  eine  Figur  von  dort  entlehnt;  die  Behandlung 
aber,  Zeichnung  und  Modellirung,  ist  kaum  irgendwie  vom  Alterthum 
berührt. 

Die  neuen  und  die  in  neuer  Gestalt  fortdauernden  frühern  Gat- 
tungen der  Denkmäler  wurden  sclion  bei  Anlass  der  Decoratioa 
(Seite  227,  ff.)  aufgezählt. 


Die  zeitliche  Priorität  in  Betreff  des  neuen  Styles  könnte  zwischen 
dem  Sienesen  Jacopodella  Quercia  (1344 —  um  1424)  und 
dem  Florentiner  Lorenzo  Ghiberti  (1378  — 1455)  streitig  sein^). 
Allein  der  letztere  hat  jedenfalls  den  ganzen  Stylwechsel  ebenso  selbst- 
ständig durchgemacht  als  Jener,  und  zwar  als  Führer  der  mächtigsten 
Schule;   er  ist  zugleich  einer  der  grössten  Bildhauer  aller  Zeiten. 

Merkwürdig  durchdringt  sich  in  ihm  der  Geist  des  XIV.  und  der 
des  XV.  Jahrh.  mit  einem  schon  darüber  hinausgehenden  Zug  frei- 
ster Schönheit,  wie  er  im  XVI.  Jahrh.  zur  Blüthe  kam.  Die  beiden 
Idealismen,  Giotto  und  Rafael,  reichen  sich  über  den  Realismus  hin- 
weg die  Hand,  und  dabei  erscheint  Ghiberti  durchgängig  voll  des 
höchsten  Lebensgefühles,  wie  es  selbst  in  Donatello  nicht  reichlicher 
vorhanden  ist.  —  Die  Belege  zu  seinem  Entwicklungsgang  liegen  haupt- 
sächlich in  den  gegossenen  Bronzereliefs,  aus  welchen  seine  meisten 
Werke  bestehen.  Die  Technik  des  Gusses  gilt  hier,  beiläufig  gesagt, 
als  eine  vollendete. 

Die  frühern  Arbeiten  zeigen  noch  den  Künstler  des  germanischen 
Styles  und  zwar  den  geistvollen  Erweiterer  desjenigen  Principes,  wel- 
chem Andrea  Pisano  nachlebte.    Ausser  dem  Relief  mit  Isaaks  Opfer, 


')   Jedenfalls   ist   sie   auch    hier   auf    Seiten   der  Sculptur,    nicht   auf    Seiten    der  Malerei,    wenn 
es  sich  auch  nur  um  etwa  ein  Jahrzehnt  handelt. 


Lorenz©  Ghibertf.  cg« 

v/clrhes  mit  derselben  Darstellung  von  Brunellesco  concurrirte  und  a 
dieser  an  Geschick  der  Anordnung  und  an  Schönheit  des  Einzelnen 
beträchtlich  überlegen  ist  (beide  in  den  Uffizien,  I.  Zimmer  der  Bron- 
zen), sind  die  Pforten  der  nördlichen  Thür  des  Baptisteriums  (1403  b 
bis  1427)  aus  dieser  frühern  Zeit.  Sie  stellen  in  vielen  Feldern  die 
Geschichte  Christi,  unten  die  vier  Evangelisten  und  die  vier  grossen 
Kirchenlehrer  (sitzend)  dar.  Als  Reliefs,  welche  die  höchsten  Bedin- 
gungen dieser  Gattung  nahezu  erfüllen,  stehen  sie  unstreitig  höher  als 
die  viel  berühmtem  Pforten  der  Ostthür;  sie  geben  das  Ausserordent- 
liche mit  viel  Wenigerem;  nirgends  ist  mit  der  blossen  prägnanten 
Andeutung,  wie  sie  schon  der  kleine  Massstab  vorschrieb,  Grösseres 
geleistet;  zugleich  wird  Andrea  Pisano  hier  an  Lebendigkeit  der  Form 
und  des  Ausdruckes  überholt.  Die  Räumlichkeit  ist  schon  etwas  um- 
ständlicher als  bei  ihm,  doch  noch  immer  stenographisch.  Der  Blick 
muss  sich  mit  Liebe  in  diese  meisterlichen  kleinen  Gruppen  vertiefen, 
um  ihnen  ihren  ganzen  Werth  abzugewinnen;  dann  wird  man  viel- 
leicht zugeben,  dass  Scenen  wie  hier  die  Erweckung  des  Lazarus,  die 
Taufe  Christi,  die  Geburt,  die  Tempelreinigung,  die  Anbetung  der 
Könige,  Christus  als  Knabe  lehrend  nicht  mehr  ihres  Gleichen  haben 
und  von  den  untern  Figuren  wenigstens  der  tiefsinnende  Johannes 
nicht. 

Auch  von  den  beiden  von  G.  herrührenden  ReUefs  am  Taufbrun-  c 
nen  zu  S.  Giovanni  in  Siena  (1417)  ist  Johannes  vor  Herodes,  wie  er 
aus  dem  Verklagten  zum  Ankläger  wird,  eine  dramatische  Erzählung 
ersten  Werthes;  die  Taufe  Christi  entspricht  im  Ganzen  der  eben  ge- 
nannten. —  An  dem  marmornen  Sacramentschrank  im  Chor  von  S.  d 
Maria  la  nuova  in  Florenz  ist  das  Bronzethürchen  mit  dem  herrlich 
gedachten  Reliefbild  des  thronenden  Christus  ohne  Zweifel  ein  frühes 
Werk  von  Ghiberti. 

Die  östlichen  Thüren  des  Baptisteriums,  die  sog.  ,, Pf  orten  des  Pa-  e 
radieses"  (1428—42)  enthalten  in  grössern  Feldern  die  Geschichten 
des  alten  Testamentes.  Hier  spricht  das  neue  Jahrhundert;  Ghiberti 
glaubt,  ihm  sei  dasselbe  erlaubt  wie  (etwas  später)  Masaccio;  er  be- 
freit das  Relief  wie  dieser  die  Malerei  von  der  bloss  andeutenden, 
durch  Weniges  das  Ganze  repräsentirenden  Darstellungsweise  und 
übersieht  dabei,  dass  diese  Schranke  in  der  Malerei  eine  freiwillige, 

38* 


588 


Scolptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Gbiberti. 


■  im  Relief  eine  nothwendige  gewesen  war.  Eine  figurenreiche  Assi- 
stenz umgiebt  und  reflectirt  jedes  Ereigniss  und  hilft  es  vollziehen; 
reich  abgestufte  landschaftliche  und  bauliche  Hintergründe  suchen  den 
Blick  in  die  Ferne  zu  leiten.  Aber  neben  diesem  Verkennen  des 
Zieles  der  Gattung  taucht  die  neu  geborene  Schönheit  der  Einzelforrn 
mit  einem  ganz  überwältigenden  Reiz  empor.  Die  befangene  germa- 
nische Bildung  macht  hier  nicht  einem  ebenfalls  (in  seinen  eigenen 
Netzen)  befangenen  Realismus  Platz,  sondern  einem  neuen  Idealismus. 
Einige  antike  Anklänge,  zumal  in  der  Gewandung,  lassen  sich  nicht 
verkennen,  aber  es  sind  wenige;  das  Lebendig- Schönste  ist  G.  völlig 
eigen.  Es  wäre  überflüssig,  Einzelnes  besonders  hervorzuheben;  der 
Reiz  der  Reliefs  sowohl  als  der  Statuetten  in  den  Nischen  spricht  mäch- 
tig genug  zu  jedem  Auge. 

a  Der  eherne  Reliquienschrein  des  heil.  Zenobius  (1439)  unter  dem 
hintersten  Altar  des  Domes  enthält  auf  der  Rückseite  einen  von  schwe- 
benden Engeln  umgebenen  Kranz,  auf  den  drei  übrigen  Seiten  die  Wun- 
der des  Heiligen,  in  einer  ähnlichen  Darstellungsweise  wie  die  der 
letztgenannten  Pforten,    (Man  übersehe  die  beiden  Schmalseiten  nicht, 

b  welche  vielleicht  das  Vorzüglichste  sind.)  —  Die  einfache  und  kleinere 
Cassa  di  S.  Giacinto  in  den  Uffizien  (I.  Zimmer  der  Bronzen)  zeigt 
bloss  an  der  Vorderseite  schön  bewegte  Engel.   —   Auch  die  Grab- 

c  platte  des  Lionardo  Dati  mit  dessen  grosser  Flachrelieffigur  im  Mittel- 
schiff von  S.  Maria  novella  ist  hier  schliesslich  als  trefflichste  Arbeit 
in  dieser  Gattung  zu  erwähnen. 

Nur  zwei  ganze   Statuen  sind  von  Ghiberti  vorhanden,   die  aber 

d  genügen,  um  ihn  in  seiner  Grösse  zu  zeigen;  beide  an  Orsanmicchele. 
Die  frühere,  welche  dem  Styl  der  ersten  Thür  entspricht,  ist  Johannes 
der  Täufer  (1414),  ein  Werk  voll  ungesuchter  innerer  Gewalt  und 
ergreifendem  Charakter  der  Züge,  in  herben  Formen.  (Sehr  bezeich- 
nend für  Ghiberti's  ideale  Sinnesart  ist  die  Bedeckung  des  bloss  an- 
gedeuteten Thierfelles  mit  einem  Gewände.)  Die  jüngere  ist  S.  Ste- 
phanus,  eine  der  zugleich  reinsten  und  freisten  Hervorbringungen  der 
ganzen  christlichen  Sculptur,  streng  in  Behandlung  und  Linien  und 
doch  von  einer  ganz  unbefangenen  Schönheit.  Es  giebt  spätere  Werke 
von  viel  bedeutenderm  Inhalt  und  geistigem  Aufwand,  aber  wohl 
keines  mehr  von  diesem  reinen  Gleichgewicht.    (Der  Matthäus,    früher 


Michelozzo.    Die  Robbia. 


589 


ebenfalls  dem  Ghiberti  zugeschrieben,  gilt  jetzt  als  Werk  des  Bau-  a 
meisters  Michelozzo  ;  eine  schöne,  einfach  resolute  Arbeit,  mit 
würdigen  Zügen,  aber  von  rechts  gesehen  ungenügend  und  in  der  Dra- 
perie zu  allgemein.  —  Die  drei  christlichen  Tugenden,  unten  an  dem  b 
Denkmal  Johanns  XXIII  im  Baptisterium,  sind  wohl  sämmtlich  von 
Michelozzo;   vorzüglich  edel  belebt  die  ,, Hoffnung".      In  der  innern 
Sacristei  daselbst  befindet  sich  die  silberne  Johannesstatue  desselben  c 
Künstlers.    Über  der  Thür  der  gegenüber  vom  Baptisterium  liegenden 
Canonica  ist  der  naive  kleine  Johannes  von  ihm.    Als  Bildhauer  war  d 
er  Gehülfe  Donatellos',) 

Ghiberti's  Richtung  behielt  den  unmittelbaren  Sieg  nicht;  wir 
werden  sehen,  wie  der  entschiedene  Naturalismus  Donatello's  die 
Meisten  mit  sich  fortriss.  Was  aber  später  von  Schönheit  und  echtem 
Schwung  der  Form  und  des  Gedankens  zum  Vorschein  gekommen  ist, 
das  deutet  auf  Ghiberti  zurück  und  hat  seinen  Anhalt  an  den  Robbia. 


Denn  neben  ihm,  dem  Erzgiesser,  war  ein  Bildner  in  Thon  auf- 
getreten, wie  die  Welt  keinen  grössern  gekannt  hat,  L  u  c  a  d  e  1 1  a 
Robbia  (1399 —  nach  1480),  welcher  nebst  seinem  Neffen  Andrea 
(1435  — 1528),  dessen  Söhnen  G  i  o  v  a  n  n  i  und  G  i  r  o  1  a  m  oundmeh- 
rern  Verwandten  und  Mitgenossen  eine  Schule  von  mehr  als  einem 
Jahrhundert  und  doch  von  einem  durchaus  gemeinsamen  Charakter 
bildet.  Bis  in  die  iS30er  Jahre  hinein  wechselt  der  Styl  derselben 
nur  in  leisen  Übergängen;  sie  macht  wenige  Concessionen  an  den 
inzwischen  so  oft  und  stark  geänderten  Geschmack;  von  selbst  ist 
sie  dem  Schönsten  jedes  Jahrzehnts  seelenverwandt;  sie  erlischt  auf 
der  gleichmässigen  Höhe  ihres  Könnens  durch  Mangel  an  Bestellun- 
gen, indem  sie  mit  dem  emporgekommenen  sog.  grossartigen  Styl 
weder  Verhältniss  noch  Bündniss  schliessen  kann.  Hier  liegt  eine 
erbliche  Gesinnung  zu  Grunde,  die  wie  ein  Schutzgeist  unsichtbar 
über  der  Werkstatt  gewaltet  haben  muss. 

Das  erste  grosse  Werk  L  u  c  a  's  gehört  nicht  dem  Thon,  sondern 
der  Marmorsculpturan;  es  ist  der  berühmte  Fries,  welcher  ehe-  < 
mals  die  eine  Orgelbalustrade  im  Dom  schmückte  und  jetzt  in  zehn 
Stücken  in  den   Offizien   (Gang  der  toscan.   Sculpt.)   aufgestellt  ist: 


590 


Sculptar  des  XV.  Jahrhanderts.    Die  Robbia. 


singende,  musicirende  und  tanzende  Knaben  und  Mädchen  verschie- 
denen Alters.  Nirgends  tritt  uns  das  XV.  Jahrhundert  anmuthreicher 
und  naiver  entgegen  als  hier;  es  ist  keine  schöne  naive  Stellung  und 
Geberde  im  Kinder-  und  Jugendleben,  die  nicht  hier  verewigt  wäre. 
Manche  Motive  sind  auch  plastisch  von  vollendeter  Schönheit  und 
Strenge,  der  Ausdruck  durchgängig  überaus  liebenswürdig  i) . 

Im  Erzguss  lieferte  Luca  die  Thüren  der  Sacristei  im  Dom. 
Bei  grosser  Schönheit  des  Einzelnen  sind  sie  doch  kein  ganz  harmo- 
nisches Werk;  die  Anordnung  im  Raum,  die  Wiederholung  ähnlicher 
Motive  (je  ein  sitzender  Heiliger  mit  zwei  Engeln  etc.),  der  kleine 
Massstab,  wodurch  der  Ausdruck  mehr  in  die  Geberde  als  in  die  Züge 
zu  liegen  kam  —  diess  Alles  stimmte  nicht  ganz  zu  Luca's  Weise, 
und  auch  in  dem  Grad  der  Reliefbehandlung  fehlt  Ghiberti's  un- 
trügliche Sicherheit.  (Ein  Theil  der  Felder  von  Maso  di  Barto- 
lommeo.) 

Bei  weitem  die  zahlreichsten  Werke  der  Schule  sind  die  Sculpturen 
von  gebranntem  und  glasirtem  Thon,  deren  Florenz  und 
die  Umgegend  (nach  starker  Ausfuhr)  noch  immer  unzählige  besitzt; 
meist  Reliefs,  doch  auch  ganze  Statuen.  Die  Glasur,  vorherrschend 
weiss,  bei  den  Reliefs  mit  hellschmalteblauem  Grunde,  ist  von  einer 
merkwürdigen,  wie  man  sagt,  sehr  schwer  zu  erreichenden  Zartheit, 
die  auch  der  leisesten  Modellirung  beinahe  vollkommen  folgt.  Anfangs 
wohl  aus  technischem  Unvermögen,  in  der  Folge  gewiss  aus  stylistischen 
Grundsätzen,  hielten  sich  die  Robbia  durchschnittlich  ausser  dem  Weiss 
an  vier  Farben:  gelb,  grün,  blau,  violett 2);  erst  in  der  spätem  Zeit 
der  Schule  gaben  sie  dem  allgemeinen  Drang  der  Zeit  nach  und  führ- 
ten die  Colorirung  bisweilen  nach  dem  Leben  durch.  Allein  auch 
hier  noch  hielten  sie  eine  sehr  bestimmte  Grenze  fest;  alle  bloss  de- 
corativen  Figuren  und  Zuthaten  blieben  auf  das  bisherige  Farben- 
system beschränkt,  und  auch  in  den  Hauptfiguren  will  die  Färbung, 


1)  Noch   eine   Marmorarbeit  Luca's  wären   drei   von   den   Statuen   an   der   Domseite   des   Cam- 
*  panile    (zwei    Propheten    und    zwei    Sibyllen);  die    vierte    soll    von    Nanni    di    Bartolo    sein. 

•*  Ihre    Aufstellung    macht    jede    genauere    Prülung    unmöglich.    —    Die  beiden    haibtertigen 
Reliefs  mit  der  Geschichte  des  Petrus  befinden  sich  bei  dem  Orgelfries  in  den  Uffizien. 

2)  Das  schon  früh  vorkommende  Braun  scheint  wie  nur  aufgemalt. 


Die  Robbia. 


591 


selbst  des  Nackten,  noch  keine  Illusion  hervorbringen,  wie  z.  B. 
Wachsbilder;  die  lebhaften  Farben  und  reichen  Details,  welche  den 
plastischen  Eindruck  aufhöben,  werden  sorgfältig  vermieden,  sodass 
der  Sculptur  und  ihren  hohen  Gesetzen  das  vollste  Vorrecht  bleibt  i). 
Es  sind  allerdings  keine  höchsten  Aufgaben  und  Ziele,  welche 
diese  Schule  verfolgt  hat;  sie  konnte  auch  nicht  die  Hauptstätte  des 
Fortschrittes  im  Grossen  sein.  Allein  was  sie  gab,  so  bedingt  es  sein 
mochte  —  es  war  in  seiner  Art  vollendet.  Sie  lehrt  uns  die  Seele 
des  XV.  Jahrh.  von  der  schönsten  Seite  kennen;  der  Naturalismus 
liegt  wohl  auch  hier  zu  Grunde,  aber  er  drückt  sich  mit  einer  Ein- 
fachheit, Liebenswürdigkeit  und  Innigkeit  aus,  die  ihn  dem  hohen 
Styl  nahe  bringt  und  deren  lange  und  gleichmässige  Fortdauer  gera- 
dezu ein  psychologisches  Räthsel  ist.  Was  als  religiöser  Ausdruck 
berührt,  ist  nur  der  Ausdruck  eines  tief  ruhigen  einfachen  Daseins, 
ohne  Sentimentalität  oder  Absicht  auf  Rührung.  —  Und,  was  man  ja 
nicht  übersehen  möge,  jedes  Werk  ist  ein  neu  geschaffenes  Original- 
werk, keines  ein  blosser  Abguss.  Hundertmal  wurden  die  gleichen 
Seelenkräfte  in  gleicher  Weise  angestrengt,  ohne  dabei  zu  erlahmen. 

—  Bei  der  folgenden  Aufzählung  ist  es  uns  unmöglich  zu  scheiden, 
was  Luca  und  was  den  Nachfolgern  angehört;  schon  die  vorhandenen 
Angaben  reichen  dazu  bei  Weitem  nicht  aus.  Wir  geben  nur  das 
Wichtigste. 

Fürs  Erste  hat  diese  Schule  das  Verhältniss  ihrer  Gattung 
zur  Bauweise  der  Renaissance  mit  Freuden  anerkannt  und  im 
Einklang  mit  den  grössten  Baumeistern  ganze  grosse  Gebäude  ver- 
ziert. —  Von  Andrea  d.  R.  sind  jene  unvergleichlichen  Medaillons 
mit  Wickelkindern  an  den  Innocenti  bei  der  Annunziata.  Man  muss  a 
sie  alle,  wonöthig  mit  dem  Glas,  geprüft  haben,  um  von  diesem  un- 
erschöpflichen Schatz  der  heitersten  Anmuth  einen  Begriff  zu  erlangen. 

—  Ebenso  sind  von  Andrea  die  Medaillons  mit  Heiligenfiguren  an  der  b 
Halle  auf  Piazza  S.  Maria  novella;  die  Thürlunette  am  Ende  der  Halle 
selbst  (Zusammenkunft  von  S.  Dominicus  und  S.  Franz)  ist  vom  Herr- 


')  Wie  roh  die  Technik  noch  bei  den  nächsten  Vorgängern  in  dieser  Gattung  gewesen  war, 
zeigt  z.  B.  die  Krönung  Maria  in  der  Portalunette  von  S.  Maria  nuova,  ein  Werk  des 
D  e  1 1  o  um  1400;  statt  der  Glasur  kalte  Vergoldung. 


592 


Scnlptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Die  Robbia. 


liebsten  der  ganzen  Schule.  —  Aus  mehrern  Klostergängen,  u.  a.  aus 
der  Certosa  sind  ganze  grosse  Reihenfolgen  von  Heiligenköpfen  in 

a  Medaillons  nach  der  Academie  gebracht  und  in  deren  Hof  eingemauert 
worden;  sie  sind  von  sehr  verschiedener  Güte,  die  bessern  darunter 
aber  sehr  würdig  und  zum  Theil  von  himmlischer  wie  weltlicher  Ju- 

b  gendschönheit.  —  (Zwei  einzelne  Köpfe,  ein  lachendes  Weib  und  ein 
Bacchus,  im  Hof  von  Pal.  Magnani.)     An  Orsanmicchele  hat  Luca 

c  zwei  von  den  Medaillons  mit  holdseligen  Reliefs  ausgefüllt  (sitzende 
Madonna  und  zwei  Wappenengel).  —  In  andern,  hauptsächlich  klei- 
nern Bauten  übernahm  die  Schule  wenigstens  die  Cassettirung  ein- 

d  zelner  Wölbungen,   kleiner  Kuppeln   (Cap.   Pazzi   bei   S.   Croce,   wo 

e  auch   Figürliches;   Vorhalle  des   Domes  von   Pistoja  etc.);    auch   die 

f  Verzierung  des  Frieses  und  der  Pendentifs  (Madonna  delle  Carceri  in 
Prato  etc.);  kleine  Gewölbe  wurden  wohl  ganz  ihren  Scuipturen  ge- 

g  widmet  (die  vier  Tugenden  und  der  heil.  Geist,  Cap.  des  Cardinais 
von  Portugal  in  der  Kirche  S.  Miniato  etc.).  —  Ein  höchst  eigenthüm- 
liches  Denkmal  der  ganzen  Schule  gewährt  endlich  der  grosse  Fries 

h  des  Hospitals  del  Ceppo  zu  Pistoja  (seit  1525);  die  Werke  der  Barm- 
herzigkeit, hier  von  Ordensleuten  ausgeübt,  in  zum  Theil  vortrefflicher 
dramatischer  Erzählung  durch  figurenreiche  Scenen.  Hier  vorzüglich 
kann  man  die  Mässigung  in  der  Vielfarbigkeit,  und  zwar  auf  ver- 
schiedenen Stufen  erkennen;  Consequenz  der  Färbung  war  ferner  das 
Verzichten  auf  allen  landschaftlichen  und  sonstigen  perspectivischen 
Hintergrund,  der  ohne  grosse  Buntheit  nicht  wäre  anzubringen  ge- 
wesen i).  Überhaupt  ist  diese  in  ihrer  Art  einzige  Arbeit  fast  ebenso 
wichtig  durch  das,  was  die  Künstler  mit  weisem  Bedacht  wegliessen 
als  durch  das,  was  sie  gaben.  Das  italienische  Relief  ist  rein  von 
sich  aus  hier  dem  griechischen  näher  gekommen  als  irgendwo  mit 
Hülfe  römischer  Vorbilder  2).  (Das  äusserste  Relief  rechts  im  Styl 
beträchtlich  moderner.) 


')  Vielleicht   hat   einst  auch   im  altgriechischen   Relief  die  Farbigkeit  einen  grossen  und  zwin- 
genden   Einfluss   auf   die   Vereinfachung   des    Styles   geübt.   —    Das   Verhältniss   der    Robbia 
zur  Uecoraiion  inrer  Zeit  s.  S.  237. 
*)  Man   vergleiche   z.  B.  die   antikisirenden   Thonreliefs  eines   oder   mehrerer   unbekannten   Mei- 
*  ster  (etwa    1530)  im   Hof   des  Pal.   Gheradesca  (Borgo   a  Pinti)  in   Florenz.    Sie  sind  schon 


Die  Robbia. 


593 


Sehr  zahlreich  sind  sodann  die  Lunetten  über  Kirchen-  und 
Klosterportalen,  welche  bisweilen  den  besten  Schmuck  des  Gebäudes 
ausmachen.  Von  ganz  kleinem  Massstab  bis  zur  Lebensgrösse  fort- 
schreitend, geben  sie  wohl  das  Bedeutendste  von  Einzelbildung,  dessen 
die  Schule  fähig  war.  Es  sind  die  halben  oder  ganzen  Figuren  der 
Madonna  mit  zwei  oder  mehrern  Seitenheiligen,  oder  mit  zwei  an- 
betenden Engeln,  auch  einzelne  Ortsheilige  mit  Engeln  u.  A.  m.  — 
eine  sich  immer  wiederholende  und  in  diesen  Formen  nie  ermüdende 
Gattung.  Die  Madonna  ist  bisweilen  von  einer  Hoheit,  die  Heiligen 
von  einem  tiefinnigen  Ernst,  die  Engel  von  einer  reizenden  Holdselig- 
keit, welche  die  meisten  übrigen  Sculpturen  der  Zeit  in  Vergessenheit 
bringen  können.  Im  Detail  ist  die  Gewandung  durchgängig  das  Ge- 
ringere; die  Bildung  des  Nackten  dagegen,  zumal  der  Hände,  oft  sehr 
vorzüglich,  freilich  durch  eine  Haltung  und  Bewegung  beseelt,  welche 
viel  nachlässigere  Arbeiten  unvergänglich  machen  würde.  —  Ausser 
Stande,  sie  dem  Styl  nach  zu  ordnen,  nennen  wir  nur  die  wichtigern 
Lunetten: 

Ognissanti  in  Florenz:  Krönung  Maria.  a 

S.  Lucia  de'  Magnoli:  die  Heilige  mit  zwei  Engeln.  b 

Badia,  Cap.  in  der  Kirche  links  vom  Eingang:  eine  ehemal.  Thür-  c 
lunette,  Mad.  mit  zwei  Heiligen,  aus  den  allerletzten  Zeiten  der  Schule 
(von  einem  gew.  Baglioni?)  und  so  schön  als  das  Frühere. 

Certosa,  dritter  Hof:   S.  Lorenz  mit  zwei  Engeln.  d 

Innocenti,  Eingang  vom  Hof  in  die  Kirche:  Verkündigung,  mit  e 
einem  Halbkreis  von  Cherubim,  eines  der  edelsten  Hauptwerke. 

Kirche  Montalvo  a  Ripoli,  Via  della  Scala:  Mad.  mit  zwei  Hei-  i 
ligen,  ebenfalls  von  höchstem  Werthe.   (Im  stets  verschlossenen  Innern 
sollen  noch  zwei  gute  farbige  Robbia  sein,) 

Dom:   die  Lunetten  beider   Sacristeithüren  von  Luca  selbst,  die  g 
Himmelfahrt  (1446)  und  die  (viel  bessere)  Auferstehung;  beide  zeigen 
ihn  von  der  schwächern,  nämlich  von  der  dramatischen  Seite. 

S.  Pierino  (beim  Mercato  vecchio) :  Mad.  mit  zwei  Engeln,  sehr  i» 
früh  und  von  reiner  Schönheit. 


an  Liebe  und  Fleiss  der  Behandlung  nicht  mit  den  Robbia  zu  vergleichen,  vielmehr  als 
gleichgültig  decorirender  Fries  rings  um  den  Hof  gelegt,  der  übrigens  sammt  Umgang 
immer  ein  sehenswerthes  Prachtstück  bleibt. 


594 


Sculptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Die  Robbia. 


a  Vorhalle  der  Academie:  eine  Auferstehung,  trefflicher  als  die- 
jenige im  Dom;   Maria  Himmelfahrt  (Luca). 

b  Dom  von  Prato:  Madonna  mit  zwei  Keiligen,  einfacli  und  von 
schönstem  Ausdruck. 

c        Dom  von  Pistoja:  Madonna  mit  Engeln. 

d  (S.  Frediano  zu  Lucca:  Lunette  beim  Taufbrunnen,  mit  einer 
Verkündigung,  Cherubsköpfen  und  Putten;  ein  räthselhaftes  Werk, 
mit  der  vollen  Technik  der  Robbia,  aber  ohne  Seele  und  Schönheit, 
als  hätten  sie  die  Arbeit  eines  Andern  ausführen  müssen.) 

Auch  ganze  Altäre  lieferte  die  Schule;  entweder  grosse  Altar- 
reliefs mit  irgend  einem  heiligen  Vorgang,  oder  reichgeschmückte  Um- 
gebungen der  Nische  für  das  Sacrament;  der  Kürze  wegen  rechnen 
wir  diefigurirten  Nischen  hinzu,  welche  als  sog.  Tabernakel 
an  Strassen,  auch  wohl  in  Kiosterhöfen  angebracht  sind. 

e  Das  Wichtigste  möchten  die  drei  Altäre  in  der  Madonnencapelle 
des  Domes  von  Arezzo,  und  zwar  unter  diesen  der  Altar  der  Drei- 
einigkeit geben;  die  Engel  um  den  Gekreuzigten  sind  von  überir- 
discher Anmuth.     (Von  Andrea.) 

f  In  Florenz:  S.  Croce,  Cap.  de'  Medici  am  Ende  des  Ganges  vor 
der  Sacristci:  ausser  mehrern  kleinern  Arbeiten  der  Altar,  Mad.  zwi- 
schen mehrern  Heiligen,  die  Stellungen  befangen,  der  Ausdruck  schön 
und  treuherzig, 

g  In  der  Kirche,  vorletzte  Cap.  des  Querschiffes  links:  Mad.  mit 
Magdalena,  Johannes  und  Engeln,  als  späte  Arbeit  wie  die  meisten 
folgenden  farbenreich;  noch  sehr  schön. 

h  An  einem  Hause  Borgo  S.  Jacopo  N.  1785:  ein  ehemal.  Altar- 
relief der  Verkündigung,  ebenfalls  spät. 

i  In  der  Kirche  S.  Girolamo,  Via  delle  poverine,  soll  sich  ein  vor- 
züglicher Altar  befinden. 

k        Misericordia  (Domplatz):  ein  mittelguter  Altar. 

I        S.  Onofrio:  links  ein  Altar  mit  Christus  als  Gärtner. 

m  Hinter  dem  Kloster  rechts,  auf  der  Strasse:  ein  grosser,  durch 
schmutzige  Glasfenster  kaum  noch  zu  erkennender  Prachttabernakel 
vom    ^,   1.K22    beides  farbenreiche  Werke. 

In  Florenz  selbst  wird  der  Vorzug   vor   diesen   allen   dem  Taber- 

n  nakel  im  linken  Seitenschiff  von  SS.  Apostoli  gebühren,  welcher  eine 


Die  Robbia. 


595 


ganze  Hierarchie  von  verschiedenartig  beschäftigten  Engeln  und  Put- 
ten, über  die  Massen  liebliche  Gestalten  enthält.  (Luca.)  —  Und  ebenso 
trefflich  in  seiner  Art:  der  Sacristeibrunnen  von  S.  Maria  novella,  mit  a 
den  guirlandentragenden  Putten  und  einer  in  die  Lunette  gemalten 
Landschaft;  ein  Prachtwerk,  haarscharf  innerhalb  der  Bedingungen 
des  Stoffes  gehalten. 

Neben  diesen  grössern  Arbeiten  existiren  noch  eine  Menge  von 
kleinern  Reliefs  für  die  Andacht;  man  benützte  den  unzerstörbaren 
Stoff  statt  der  Malerei  besonders  gerne,  wenn  an  Häusern,  an  Strassen- 
ecken  oder  sonst  im  Freien  eine  Madonna  mit  Kind,  oder  das  Kind 
anbetend,  oder  eine  heilige  Familie  angebracht  werden  sollten.  Dieses 
Ursprunges  sind  wohl  die  meisten  der  jetzt  im  Hof  der  Academie  b 
eingemauerten  Reliefs.  Man  glaubt,  das  Mögliche  an  vielartiger  und 
dabei  stets  frischer  Auffassung  dieses  so  eng  begrenzten  Gegenstandes 
hier  erschöpft  zu  sehen  und  besinnt  sich,  wie  Andere  auf  einen  solchen 
Reichthum  hin  noch  neu  sein  konnten. 

Die  ganzen  Statuen  waren  für  die  späteren  Robbia  zwar  tech- 
nisch keine  Sache  der  Unmöglichkeit,  allein  doch  nichts  Leichtes  und 
von  Seiten  des  Styles  keine  starke  Seite,  da  der  Entwicklung  der  Körper- 
formen im  Grossen  die  Entschiedenheit  fehlte.    Die  Robbia  beschränk- 
ten sich  auch  gerne  auf  Halbfiguren,  deren  man  in  Florenz  noch  eine 
ziemliche  Anzahl  vorfindet.    (Ganze  fast  lebensgrosse  Statuen  u.  a.  in 
der  Sacramentscapelle  von  S.  Croce;  eine  sitzende  Madonna  in  einem  c 
Nebenraum  von  S.  Domenico,  Via  della  Pergola.)      Ihren  schönen  d 
ganzen  Sinn  offenbaren  solche  Statuen  nur,  wenn  sie  noch  in  ihrer 
echten  alten  Nische  mit  farbigen,  von  Putten  getragenen  Fruchtkrän- 
zen stehen;  so  der  S.  Petrus  martyr  im  Gang  vor  der  Sacristei  von  e 
S.  Croce;    der  heil.  Romulus  (1521)    über    dem  Portal  im  Dom  zu  f 
Fiesole  u.  s.  w.     Hier  erst  hat  man    das  Heilige    im    Gewände    der 
Lebensfreude,    welches    ja    der    durchgehende  Gedanke    der    ganzen 
Schule  ist. 


Wir  knüpfen  wieder  da  an,  von  wo  die  Robbia  ausgegangen. 
Zwischen  Ghiberti  und  Donatello  steht  der  Baumeister  F  i  1  i  p  p  o 
Brunellesco,  der  Erwecker  der  Renaissance  (1375  -  1444).    In 


^g6       Scnlptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Bronellesco.    Donatello. 

a  dem  Abrahamsrelief  (Uffizien,  erstes  Zimmer  d.  Br.),  welches  er  in 
Concurrenz  mit  dem  erstem  schuf,  ist  die  nackte  Figur  des  Isaak  durch 
ihren  strengen  Naturalismus  ein  bedeutendes  und  frühes  Denkmal 
dieser  Richtung.     Viel  gemässigter  und  edler  spricht  sich  dieselbe  in 

b  B.'s  berühmtem  Crucifix  aus  (S.  Maria  noveüa,  nächste  Cap.  links 
vom  Chor);  es  ist  eine  zwar  scharfe  aber  schöne  Bildung,  auch  in 
dem  geistvollen  Haupte.  —  Doch  schon  hatte  der  gewaltige  Genosse 
B.'s  die  Sculptur  zu  beherrschen  angefangen. 


Es  kömmt  in  der  Kunstgeschichte  häufig  vor,  dass  eine  neue 
Richtung  ihre  schärfsten  Seiten,  durch  wekhe  sie  das  Frühere  am 
Unerbittlichsten  verneint,  in  einem  Künstler  concentrirt.  So  ganz  nur 
das  Neue,  nur  das  dem  Bisherigen  Widersprechende,  ist  aber  selten 
bei  einem  Stylumschwung  mit  derjenigen  Einseitigkeit  vertreten  wor- 
den, wie  der  Formengeist  des  XV.  Jahrh.  vertreten  ist  in  D  o  n  a  t  e  1 1  o 
(1382  od.  87—1466). 

Seine  frühste  grössere  Arbeit,  das  grosse  Relief  der  Verkündigung 
c  in  S.  Croce  (nach  dem  fünften  Altar  rechts)  zeigt  noch  eine  flüchtige 
Annäherung  gegen  die  Antike  hin;  aber  schon  in  den  Engelkindern 
auf  dem  Gesimse  meldet  sich  die  spätere  Sinnesweise:  sie  halten  sich 
an  einander,  um  nicht  schwindlig  zu  werden  —  ein  Zug,  wie  er  bei 
keinem  Frühern  vorgekommen.  Auch  später  noch  klingt  das  Studium 
antiker  Sarcophage  u.  a.  Sculpturen  aus  seinen  Arbeiten  heraus; 
solche  Stellen  stechen  aber  befremdlich  ab  neben  dem  Übrigen. 

Donatello  war  ein  hochbegabter  Naturalist  und  kannte  in  seiner 
Kunst  keine  Schranken.  Was  da  ist,  schien  ihm  plastisch  darstellbar 
und  Vieles  schien  ihm  darstellungswürdig  bloss  weil  es  eben  ist,  weil 
es  Charakter  hat.  Diesem  in  seiner  herbsten  Schärfe,  bisweilen 
aber  auch,  wo  es  der  Gegenstand  zuliess,  in  seiner  grossartigen  Kraft 
rücksichtslos  zum  Leben  zu  verhelfen,  war  für  ihn  die  höchste  Auf- 
gabe. Der  Schönheitssinn  fehlte  ihm  nicht,  aber  er  musste  sich  be- 
ständig zurückdrängen  lassen,  sobald  es  sich  um  den  Charakter  han- 
delte. Man  musste  damals  die  Stylgesetze  neu  errathen,  und  diess 
geschah  überhaupt  nur  partiell  und  zaghaft;  wer  sich  aber  einer  sol- 
chen Einseitigkeit  überliess,  dem  musste  Manches  verborgen  bleiben, 


Donatello.    Stataen. 


597 


was  andere  vielleicht  ungleich  weniger  begabte  Zeitgenossen  glücklich 
zu  Tage  förderten.  Als  Gegengewicht  legt  Donatello  beständig  seine 
Charakteristik  in  die  Wagschale.  Selbst  die  einfach  normale  Körper- 
bildung muss  daneben  unaufhörlich  zurücktreten,  während  er  die  Ein- 
zelheiten der  menschlichen  Gestalt  begierig  aufgreift,  um  sie  zur  Be- 
zeichnung des  gewollten  Ganzen  zu  verwenden. 

Nur  er  war  im  Stande,  die  heil.  M  a  g  d  a  1  e  n  a  so  darzustellen,  a 
wie  sie  im  Baptisterium  von  Florenz  dasteht;  an  der  zum  länglichen 
Viereck  abgemagerten  Figur  hängen  die  Haare  wie  ein  zottiges  Fell 
herunter.  Das  Gegenstück  dazu  bilden  die  Statuen  Johannes  desb 
Täufers;  so  die  bronzene  im  Dom  von  Siena  (Cap.  S.  Giovanni) ; 
was  das  sehr  umständlich  behandelte  Thierfell    vom  Körper    übrig 
lässt,  besteht  aus  lauter  Adern  und  Knochen;  ungleich  geringer  die 
marmorne  in  den  Uffizien  (Ende  des  2.  Ganges),  welche  vor  lauter  c 
Charakter  weder  so  stehen  noch  auch  nur  leben  könnte.    Ein  dritter 
mehr  dem  sienesischen  entsprechender  Johannes  findet  sich  in  den 
Frari  zu  Venedig  (2.  Cap.  links  vom  Chor) ;  wenigstens  ungesuchter  d 
in  der  Stellung.    Zum  Beweis,  wie  wenig  ihm  die  Schönheit  —  aller- 
dings unter  den  Bedingungen  des  XV.  Jahrh.  —  fehlte,  wenn  er  nur 
wollte,  dient  der  jugendliche  bronzene  David  in  den  Uffizien  (I.  Zim-  e 
mer  der  Bronzen). 

Eine  etwas  edlere  Bildung  zeigt  der  Crucifixus  in  S.  Croce  i 
zu  Florenz  (Cap,  Bardi,  Ende  d.  1.  Querschiffes),  ein  kunstgeschicht- 
lich (als  Muster  Späterer)  wichtiges  Werk,  geschaffen  in  Concurrenz 
mit  Brunellesco  (S.  596,  b).  —  (Das  bronzene  Crucifix  sammt  den  dazu 
gehörenden   Statuen  hinten  im  Chor  des   Santo  zu  Padua  fand  der  g 
Verf.  wegen  der  Fasten  verhüllt.) 

In  der  Gewandung  arbeitete  Donatello  ganz  offenbar  nach  Mo- 
delldraperien in  einem  meist  schweren  Stoff  und  ohne  die  Motive  des 
Mannequin's  sowohl  als  der  Falten  lange  zu  wählen.  Wo  er  nicht 
durch  sonstige  sehr  bedeutende  Züge  entschädigt,  erscheint  er  daher 
in  durchschnittlichem  Nachtheil  gegenüber  den  stylvollen  Gewandfigu- 
ren des  XIV.  Jahrh.  und  vollends  Ghiberti's.  So  z.  B.  in  dem  bronze- 
nen S.  Ludwig  von  Toulouse  über  dem  mittlem  Portal  von  S.  Croce,  h 
dessen  Kopf  er  absichtlich  bornirt  gebildet  haben  soll.  Sonst  sind 
seine  Heiligen  in  der  Regel  Porträtköpfe  guter  Freunde,    Die  Stellun- 


598 


ScQlptnr  des  XV.  Jahrhunderts.    Donatello.    Statnen. 


gen,  oft  von  auffallender  Steifbeinigkeit,  mögen  wohl  auch  bisweilen 
einer  persönlichen  Bildung  oder  dem  Modeschritt  jener  Zeit  angehören 
(über  welchen  sich  höher  gesinnte  Künstler  zu  erheben  v/ussten),  bis- 
weilen offenbar  dem  Mannequin.    Zu  den  bessern  und  lebensvollem 

a  Gewandstatuen  gehören  vor  Allen  die  beiden  an  Orsanmicchele:  Mar- 
cus und  Petrus;  —  viel  manierirter,  doch  für  die  hohe  Aufstellung  wirk- 

b  sam  drapirt:  die  vier  Evangelisten,  worunter  der  sog.  Zuccone,  am 
Campanile  (Westseite);  ebendort  Abraham  und  ein  anderer  Erzvater 

c  (Ostseite).  —  Im  Dom  werden  ihm  Apostel-  und  Prophetenstatuen  sehr 
verschiedener  Art  mit  mehr  oder  weniger  Sicherheit  zugeschrieben. 
In  der  ersten  Nische  rechts  eine  manierirt  lebendig  gewendete  mit 
Porträtzügen;  in  derjenigen  ünks  eine  andere  mit  den  Zügen  Pog- 
gio's;  in  der  zweiten  rechts  die  des  Ezechias,  noch  alterthümlich  be- 
fangen (schwerlich  von  ihm) ;  in  den  Capellen  des  Chores  die  sitzenden 
Statuen  des  Ev.  Johannes  und  des  Ev.  Matthäus,  beide  wieder  aus- 
gezeichnet. Sie  stammen  zum  Theil  von  der  durch  Giotto  angefange- 
nen,  1588  weggebrochenen  Domfassade. 

d  Ein  Unicum  ist  die  bronzene  Judith  mit  Holofernes  in  der  Loggia 
de'  Lanzi.  Das  Lächerliche  überwiegt  hier  dergestalt,  dass  man  schwer 
die  nöthige  Pietät  findet,  um  die  bedeutenden  Schwierigkeiten  einer  der 
frühsten  profan-heroischen  Freigruppen  nach  Verdienst  zu  würdigen. 

e  Die  bronzene  Grabstatue  Papst  Johanns  XXIII.  im  Baptisterium 
ist  ein  vortreffliches,  ungeschmeicheltes  Charakterbild;  die  marmorne 
Madonna  in  der  Lunette  drüber  kalt  und  unlieblich;  die  Putten  am 
Sarcophag  naiver. 

f  Die  vier  Stuccofiguren  an  beiden  Enden  des  Querschiffes  von  S. 
Lorenzo  (oben)  erscheinen  wie  flüchtige  Improvisationen  für  einen 
Zweck  des  Augenblickes  und  dürften  unbeschadet  dem  Ruhm  Dona- 
tello's  verschwinden. 

Seiner  Sinnesweise  nach  mussten  ihm  energische,  heroische  Ge- 

g  stalten  am  besten  gelingen.  In  der  That  hat  auch  sein  S.  G  e  o  r  g  in 
einer  der  Nischen  von  Orsanmicchele  durch  leichte  Entschiedenheit 
des  Kopfes  und  der  Stellung,  durch  treffliche  Gesammtumrisse  und 
einfache  Behandlung  den  Vorzug  vor  seinen  meisten  übrigen  Werken. 

h  Der  marmorne  David  in  den  Uffizien  (Ende  des  zweiten  Ganges)  sieht 
nur  wie  eine  befangenere  Replik  davon  aus. 


Donatello.    Reiterbild.    Reliefs. 


599 


Die  eherne  Reiterstatue  des  vcnezian.  Feldherrn  Gattamelataa 
vor  dem  Santo  zu  Padua,  schon  technisch  ein  grosses  und  neues 
Wagestück  für  jene  Zeit,  war  auch  in  der  Darstellung  eine  Aufgabe, 
auf  welche  Donatello  gleichsam  ein  Vorrecht  besass,  weil  ihr  kein 
Zeitgenosse  so  wäre  gewachsen  gewesen.  In  jenen  Gegenden  war  man 
von  den  Gräbern  der  Scaliger  her  (S.  167,  b,  c)  an  Reiterdenkmale 
gewöhnt;  aber  erst  D.  belebt  Ross  und  Mann  vollständig  und  zwar 
diessmal  —  wie  man  gestehen  muss  —  ohne  capriciöse  Herbheit,  in 
einem  beinahe  grossartigen  Sinne.  (Für  das  Pferd  dienten  wohl  eher 
die  Rosse  von  S.  Marco  als  die  Marc  Aurelsstatue  zum  Muster?  — 
Im  Pal.  della  Ragione  steht  ein  grosses  hölzernes  Modell,  welches  b 
zwar  diesem  Pferde  nicht  ganz  entspricht,  doch  aber  eine  Vorarbeit 
dazu  gewesen  sein  möchte.) 

Was  D.  im  Relief  für  bedeutend  und  für  möglich  und  erlaubt 
hielt,  zeigen  am  vollständigsten  die  beiden  Kanzeln  in  S.  Lorenzo,  c 
welche  von  ihm  und  seinem  Schüler  Bertoldo  verfertigt  sind.  In  ihren 
einzelnen  Theilen  sehr  ungleich,  selbst  was  den  Massstab  der  Figuren 
betrifft,  durchaus  unplastisch,  gedrängt,  im  Einzelnen  oft  energisch- 
hässlich,  sind  diese  Darstellungen  doch  dramatisch  sehr  bedeutend. 
Das  Gedränge  und  die  Sehnsucht  um  den  in  der  Vorhölle  erscheinen- 
den Christus,  die  Begeisterung  des  Pfingstfestes,  der  Jammer  und  die 
Hingebung  um  das  Kreuz  u.  a,  m.  ist  auf  ungemein  lebendige  und 
geistreiche  Weise  zur  Anschauung  gebracht,  freilich  zum  Theil  auf 
Kosten  der  Grundgesetze  aller  Plastik;  edel  und  gemässigt  ist  nur 
etwa  die  Grablegung.  (Am  Obergesimse  hat  D.  ausser  Putten  u.  dgl. 
sogar  die  quirinalischen  Pferdebändiger  in  classischem  Eifer  ange- 
bracht.) —  In  der  Sacristei  ist  mit  Ausnahme  von  Verocchio's  Sarco-  d 
phag  alles  Plastische  von  ihm,  und  zwar  so  glücklich  zur  Architektur 
geordnet,  dass  man  ein  genaues  persönliches  Einverständniss  mit  Bru- 
nellesco  annehmen  kann.  In  die  Zwickel  unter  der  Kuppel  kamen 
Rundbilder  mit  legendarischen  Darstellungen,  welche  freilich  mit  ihrer 
malerisch  gedachten  Räumlichkeit  und  ihrer  zerstreuten  Composition 
ärmlich  aussehen;  hochbedeutend  aber,  ja  auch  plastisch  vom  Besten 
sind  die  vier  Rundbilder  der  Evangelisten  in  den  Lunetten;  sie  sitzen 
in  tiefem  Sinnen  oder  in  Begeisterung  vor  Altären,  auf  welchen  ihre 
bücherhaltenden   Thiere  stehen.      Über   den   beiden  Pforten  zu   den 


6oo  Scalptnr  des  XV.  Jahrhunderts.    Donatello.    Reliefs. 


hintern  Nebenräumen  der  Sacristei  sind  auf  farbigem  Grunde  je  zwei 
fast  lebensgrosse  Heilige  dargestellt.  Diess  Alles  ist  von  Stucco  und 
so  auch  der  ebenfalls  D.  zugeschriebene  Kopf  des  heil.  Laurentius 
über  der  Thür  zur  Kirche;  dazu  kommen  die  beiden  genannten  Pforten 
von  Erz,  welche  in  einzelnen  Feldern  je  zwei  Apostel  oder  Heilige 
enthalten;  flüchtige,  aber  sehr  energische  und  bedeutend  gebildete  Fi- 
gürchen,  die  schon  weit  in  das  XVI.  Jahrh.  hineinweisen.  Der  Mar- 
morsarcophag  unter  dem  Tisch  der  Sacristei  mit  den  Putten  ist  wieder 
nur  von  mittlerm  Werth.  —  In  nackten  Kinderfiguren  kommt  über- 
haupt D.'s  ganze  Einseitigkeit  zum  Vorschein;  gerade  das,  was  ihn 

a  gross  macht,  fand  hier  keine  Stelle.  Seine  Kinder  in  der  Sacristei 
des  Domes  (an  der  Attica)  sind  in  ihrer  Hässlichkeit  wenigstens  naiv; 

b  dagegen  hat  der  Kindertanz  in  den  Uffizien  (Gang  der  tose.  Sculptur) 
etwas  gespreizt   Übertriebenes,   was  sich  auch  in  den  musicirenden 

c  und  tanzenden  Kindern  an  der  Aussenkanzel  des  Dom^s  von  Prato, 
obwohl  bei  weitem  weniger,  bemerklich  macht.  Neben  Robbia  wird 
D.  hier  immer  nicht  bloss  befangen,  sondern  unförmlich  erscheinen, 

d  trotz  einzelner  vortrefflicher  Intentionen.  (An  dem  Grabmal  des 
Bischofs  Brancacci  in  S.  Angelo  a  Nilo  zu  Neapel  scheinen,  beiläufig 
gesagt,  wenigstens  die  oben  stehenden  Putten  von  ihm.) 

e  Die  Reliefmedaillons  im  Hof  des  Pal.  Riccardi  (Fries  über  dem 
Erdgeschoss)  erscheinen  wie  Übersetzungen  antiker  Cameen  und  Münz- 
reverse in  den  herben  Styl  des  Meisters.  —  Zu  den  spätem  Werken, 

f  wie  die  Kanzeln  in  S.  Lorenzo,  gehören  die  ehernen  Reliefs  am  Vorsatz 
des  Hochaltars  und  des  3.  Altars  rechts  im  Santo  zu  Padua,  beide- 
iTiale  ein  Pietä  mit  Vi^undern  des  heil.  Antonius  zu  beiden  Seiten; 
reiche  Improvisationen  mit  einzelnen  wunderbaren  Zügen  des  Lebens; 
wie  z.  B.  die  Gruppe  der  Reuigen,  welche  den  Heiligen  umgeben;  die 
der  Fliehenden  bei  der  Scene,  wo  er  die  Brust  des  verstorbenen  Geiz- 
halses aufschneidet.  Im  Chorumgang,  und  zwar  über  der  hintern  Thür 
in  der  Chorwand,  ist  dann  noch  das  Relief  einer  Grablegung,  eine 
späte  und  sehr  ausdrucksvolle  Arbeit  des  Meisters.  (Geringer:  die 
vier  Symbole  der  Evangelisten,  in  Bronzereliefs,  am  Eingang  des 
Chores.) 


Filarete.    Nanni  di  Banco. 


6oi 


Donatello  übte  eine  ungeheure  und  zum  Theil  gefährliche  Wirkung 
auf  die  ganze  italienische  Sculptur  aus;  er  wurde  in  viel  weitern  Krei- 
sen bekannt  als  Ghiberti,  schon  durch  seinen  wechselnden  Aufenthalt. 
Ohne  den  starken  innern  Zug  nach  dem  Schönen,  welcher  die  Kunst 
immer  von  Neuem  über  den  blossen  Realismus  und  auch  über  das 
oberflächliche  Antikisiren  emporhob,  d.  h.  ohne  den  starken  Geist  des 
XV.   Jahrh.  wäre  Donatello's  Princip  eine  tödtüche  Mode  geworden. 

Aber  schon  in  seiner  unmittelbarsten  Nähe  gab  es  Künstler,  die 
durch  ihn  nicht  gänzlich  unfrei  wurden.  Von  seinem  Bruder  Simone 
(dem  Verfertiger  des  Gitters  im  Dom  von  Prato,  S.  233,  f)  und  von 
Antonio  Filarete  wurden  1439 — 47  die  ehernen  Hauptpforten  von  a 
S.  Peter  in  Rom  gegossen;  die  Hauptfiguren  der  grossen  Vierecke  sind 
flau,  wie  von  einem  etwas  verkommenen  Meister  der  altern  Schule,  und 
wir  dürfen  darin  speciell  das  Werk  Filarete's  erkennen,  —  wenngleich 
die  viel  bessere  eherne  Grabplatte  Martins  V  vor  der  Confession  des  b 
Laterans  auch  von  diesem  ist.  Die  Reliefs  und  Ornamente  der  Ein- 
rahmungen dagegen  zeigen  wohl  Simone's  Geist,  und  erstere  sind  bei 
aller  Flüchtigkeit  trefflich  naiv  und  von  den  Härten  seines  Bruders 
ziemlich  frei. 

Noch  auffallender  ist  diese  (immer  nur  relative)  Unabhängigkeit 
bei  Nanni  di  Banco i),  von  dem  im  florent.  Dom  (i.  Chorcap.  c 
rechts)  die  sitzende  Statue  des  Lucas,  sowie  an  Orsanmicchele  die  d 
Statuen  der  HH.  Eligius,  Jacobus,  Philippus  und  die  Gruppe  der  vier 
Heiligen  herrühren.  (Die  letztern  sind  keineswegs  zum  Behuf  ihrer 
Zusammenstellung  in  der  Schulterbreite  verkürzt-),  stehen  auch  gar 
nicht  unglücklich  bei  einander.)  Bei  ungleicher  und  meist  donatelli- 
scher,  auch  wohl  etwas  kraftloser  Bildung  machen  sich  hier  einzelne 
sehr  schöne  und  freie  Motive  geltend,  welche  der  Künstler  wahrschein- 
lich der  Anregung  Ghiberti's  verdankt.  —  Sonst  aber  überwiegt  der 
Einfluss  Donatello's. 


>)   So  dass  Rumohr  bezweifelt  hat,  dass  derselbe  wirklich  Donatello's  Schüler  gewesen. 
2)  Laut  Vasari  hätte  sich  Donatello  um  ein  Abendessen  zu  dieser  Correctur  verstanden, 


Urcicerone, 


39 


6o2 


Scalptar  des  XV.  Jahrbmiderts.    Verocchio. 


Zu  seinen  eifrigsten  Nachfolgern  gehört  Andrea  Verocchio 
(1432 — 88);  die  Wirklichkeit  des  Lebens  ohne  höhere  Auffassung  geht 

a  ihm  bisweilen  über  den  Kopf.  In  dem  Grabrelief  der  Dame  Torna- 
buoni  (Uffizien,  Gang  der  toscanischen  Sculptur)  giebt  er  das  ganz 
reelle  Elend  eines  Todes  im  Kindbett  nebst  dem  Jammer  der  Um- 

b  gebung.  Sein  David  (ebenda,  I.  Zimmer  der  Bronzen)  ist  gar  nichts 
als  das  Modell  eines  gewöhnlichen  Knaben  und  steht  sogar  hinter  dem 
als  Gegenstück  aufgestellten  bronzenen  David  des  Donatello  an  Com- 
position  und  Form  weit  zurück.  (Merkwürdig  ist  im  Kopf  die  Vor- 
ahnung des  bekannten  lionardesken  Ideals.)    Ungleich  besser  und  nai- 

c  ver,  zumal  trefflich  bewegt  ist  der  kleine  bronzene  Genius  auf  dem 
Brunnen  im  Hof  des  Pal.  vecchio.  Stellenweise  bricht  sich  immer  der 
ideale  Zug  Bahn,  welchen  Ghiberti  aus  der  germanischen  Zeit  her- 
übergerettet und  nach  Massgabe  seines  Jahrhunderts  geläutert  hatte. 
Sobald  man  sich  durch  den  bei  Verocchio  ganz  besonders  umständli- 
chen, knittrigen  Faltenwurf  nicht  stören  lässt,  treten  bisweilen  Motive 

d  von  schönstem  Gefühl  hervor.  So  theilweise  in  der  Bronzegruppe 
des  Christus  mit  S.  Thomas  am  Orsanmicchele;  die  Bewegung  des 
Christus  ist  mächtig  überzeugend,  die  beiden  Köpfe  fast  grossartig 

e  frei  und  schön.  —  Die  Madonna  am  Grab  des  Lionardo  Aretino  in 
S.  Croce  zu  Florenz  ist  beträchtlich  lebloser;  die  übrigen  Sculpturen 
(Engel,  Putten  u.  s.  w.),  welche  mehr  dem  Styl  Ghiberti's  als  dem 
des  Donatello  folgen,  sollen  von  dem  Erbauer  des  Grabes,  Bernardo 
Rosellino,  selbst  herrühren,  dessen  als  Bildhauer  berühmtem  Bruder 
Antonio  wir  bald  werden  zu  nennen  haben  i). 

f  Verocchio  fertigte  auch  das  Grabmal  des  Bischofs  Forteguerra 
(1474),  wovon  im  Dom  von  Pistoja  links  vom  Eingang  noch  die  wich- 
tigern Theile  —  grosse  Relieffiguren  von  Engeln,  die  den  Erlöser  um- 
schweben —  erhalten  sind.     Dieselbe  herbe  Schönheit,  derselbe  viel- 


1)  In  dieser  Gegend  wird  wohl  der  Niccoiö  Baroncelli  aus  Florenz  einzuschalten 
sein,  welcher  mit  seinem  Sohn  Giovanni  und  seinem  Eidam  Domentco  di  Paris  aus  Padua 
•  die  fünf  lebensgrossen  Bronzefiguren  fertigte,  die  im  rechten  Querschiff  des  Domes  von 
Fcrrarc  stehen.  (Dci  Gckrcurigtc,  Maiia,  Johannes,  S.  Georg  und  S.  Müurclius.)  Tlcis- 
sige,  aber  harte  und  doch  zugleich  flaue  Arbeiten,  mit  einem  Anklang  an  Verocchio, 
zumal  im  S.  Georg. 


Verocchio.    PoUajaolo. 


603 


knittrige  Faltenwurf  wie  in  der  Gruppe  zu  Florenz.  (Vollendet  von 
dem  damals  noch  jungen  Lorenzetto,  welchem  die  Figur  der  Caritas 
angehört.) 

Ausserhalb  Toscana's  ist  von  Verocchio  nur  ein  namhaftes  Werk 
vorhanden:  die  eherne  Reiterstatue  des  Feldherrn  C o  1 1  e o n i  a 
vor  S.  Giovanni  e  Paolo  zu  Venedig.  Sie  wurde  von  Verocchio  bloss 
modellirt  und  von  Aless,  Leopardo  gegossen,  der  auch  das  schöne 
Piedestal  entwarf  (S.  252,  k).  In  der  Gestalt  und  Haltung  des  Reiters 
ist  Verocchio  hier  so  herb  individualistisch  als  irgend  ein  damaliger 
florent.  Porträtbildner;  wir  dürfen  glauben,  dassCoUeoni  sich  zu  Pferde 
vollkommen  so  stämmig  gespreizt  ausnahm;  aber  auch  das  Bedeutende 
des  Kopfes  und  der  Geberde  —  mag  sie  auch  keine  glücklichen  Linien 
bilden  —  ist  mit  grosser  Sicherheit  wiedergegeben.  Das  Pferd  ist 
merkwürdig  gemischt;  der  Kopf  nach  antikem  Vorbild,  die  Bewegung 
wahrscheinlich  nach  dem  Pferde  Marc  Aureis,  das  übrige  Detail  nach 
emsigstem  Naturstudium. 

(Von  diesem  Colleoni  und  von  Donatello's  Gattamelata  sind  dann 
die  hölzernen  und  vergoldeten  Reiterstatuen  in  S.  M.  de  Frari  und  b 
S.  Giovanni  e  Paolo  zu  Venedig  abgeleitet.  Es  wurde  mit  der  Zeit  c 
Sitte,  dass  die  Republik  ihre  Generale  auf  diese  Weise  ehrte.  Im  Styl 
ist  keine  davon  besonders  ausgezeichnet.  Eine  aus  dem  XVII.  Jahrh, 
—  die  späteste  —  offenbart  schon  das  damals  allverbreitete  Streben  nach 
Affect  durch  heftigen  Galopp  über  Kanonen  und  verwundete  Feinde.) 


Viel  manierirter,  aber  in  der  Technik  des  Erzgusses  eben  so  be- 
deutend erscheint  Antonio  Pollajuolo  (1431— 1498),  dessen 
Hauptarbeit  das  Grab  Sixtus  IV.  in  der  Sacramentscapelle  von  S.  d 
Peter  ist.  Die  liegende  Statue  ist  als  hart  realistisches  Bildniss  von 
grossem  historischem  Werthe,  die  sehr  unglücklich  an  den  schiefen 
Flächen  des  Paradebettes  angebrachten  Tugenden  und  Wissenschaften 
lassen  mit  ihrem  Schwanken  zwischen  Relief  und  Statuette  und  mit 
ihren  jjesuchten  Formen  schon  ahnen,  auf  welchen  Pfaden  die  Sculptur 
100  Jahre  später  wandeln  würde.  Das  eherne  Wanddenkmal  Inno-  e 
cenz  VIII.  (an  einem  Pfeiler  des  linken  Seitenschiffes  von  S.  Peter) 
ist  in  Anordnung  und  Ausführung  viel  befangener  als  so  manches 
Bessere  aus  derselben  Zeit  (1492).     Die  ehernen  Schrankthüren  (zu 


6o4 


Scalptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Rosellino. 


a  den  Ketten  Petri)  in  der  Sacristei  von  S.  Pietro  in  Vincoli  zu  Rom 

plastisch  unbedeutend,  decorativ  artig.  Ein  Relief  der  Kreuzigung  in 
b  den  Uffizien  (I.  Zimmer  der  Bronzen)  erinnert  in  den  schwungvoll 

manierirten  Formen  an  die  paduanische  Schule.  —  Eines  der  Reliefs 
c  am  Taufbrunnen  von  S.  Giovanni  in  Siena  (Gastmahl  des  Herodes) 

von  Pietro  Pollajuolo  möchte  an  Reinheit  des   Styles  alle 

Arbeiten  seines  Bruders  übertreffen. 


Mehr  von  Robbia  als  von  Donatello  inspirirt  erscheint  Antonio 
Rosellino  (geb.  1427),  der  ausserdem  in  der  Delicatesse  der  Mar- 
morbehandlung dem  Mino  da  Fiesole  (s.  unten)  verwandt  erschemt. 
Das  Wenige,  was  von  ihm  vorhanden  ist,  verräth  einen  gemüthlichen 
Florentiner,  etwa  von  derjenigen  Sinnesweise,  welche  unter  den  Ma- 
lern dem  Lorenzo  di  Credi  eigen  ist;  die  Madonna  bildet  er  schön 
mütterlich,  florentinisch  häuslich.     Sein  Hauptwerk,  die  von  ihm  er- 

d  baute  Grabcapelle  des  Cardinais  von  Portugal  (f  1459)  in  S.  Miniato 
(links)  enthält  dessen  prächtiges  Monument.  Hier  tritt  das  Decorative 
merkwürdig  neben  dem  Plastischen  zurück;  über  dem  Sarcophag  mit 
der  sehr  edeln  Statue  des  Todten  und  zwei  das  Bahrtuch  um  sich 
ziehenden  Putten  knieen  auf  einem  Sims  zwei  schöne  hütende  Engel; 
drüber  von  zwei  in  Relief  gebildeten  schwebenden  Engeln  getragen 
das  Rundrelief  der  Madonna;  der  Vorhang  ist  bloss  als  Einfassung 

e  der  ganzen  Nische  behandelt.  —  Ganz  ähnlich  ist  das  Grabmal  der  Maria 
d'Aragona  in  der  Kirche  Monte  Oliveto  zu  Neapel  angeordnet.  (Cap. 
Piccolomini,  links  vom  Hauptportal;  ebendaselbst  das  durchaus  ma- 
lerisch behandelte  Altarrelief  mit  Christi  Geburt  und  einem  Engelreigen, 
welches  zwischen  Antonio  und  Donatello  streitig  ist.)  —  Von  ähnlichen 

i  Grabmälern  stammen  ohne  Zweifel  zwei  herrliche  Madonnenreliefs  in 
den  Uffizien  (Gang  der  tose.  Sculpt.,  in  dessen  weiterer  Fortsetzung 
man  wenigstens  Eine  trefflich  naturalistische  Büste  A.'s  findet,  die  des 
Matteo  Palmieri  1468).  Ebenda  ein  kleiner  laufender  Johannes,  in 
Donatello's  Art  bis  auf  das  holde  Köpfchen  i). 


')   Am  ehesten   bei   Rosellino   zu   nennen,   nur  viel   manierirter:    die  beiden   Reliefs   der   Flucht 
•  nach  Ägypten  und  der  Anbetung  der  Könige,  in  der  Galerie  zu  Parma. 


Settignano.    CiTitall. 


605 


Der  als  Decorator  gerühmte  Desiderio  da  Settignano 
(S.  234)  ist  auch  als  Bildhauer  in  einzelnen  Theilen  seiner  Werke  so 
trefflich,  dass  ihm  das  auffallend  Geringere  daran  unmöglich  zugeschrie- 
ben werden  kann.  An  dem  Grabmal  Marzuppini  im  linken  a 
Seitenschiff  von  S.  Croce  sind  ausser  der  höchst  edel  gelegten  und  be- 
handelten Statue  wohl  nur  die  beiden  kräftigen  Engelknaben  als  Guir- 
landenträger  von  ihm;  an  dem  Tabernakel  von  S.  Lorenzo  (rechtes  b 
Querschiff)  gehören  ihm  nur  die  drei  obersten  Engelkinder  sicher  an^). 


Ob  der  grosse  Matteo  Civitali  von  Lucca  (1435 — 1501)  ein 
Schüler  Desiderio's  war,  weiss  ich  nicht  anzugeben,  ganz  gewiss  aber 
geht  er  parallel  mit  dessen  zunächst  zu  erwähnendem  Schüler  Mino 
da  Fiesole,  mit  welchem  er  manche  Äusserlichkeiten  gemein  hat.  Nur 
war  in  Matteo  viel  weniger  Manier,  ein  viel  grösserer  Schönheitssinn, 
eine  Gabe  des  Bedeutenden,  wie  wir  sie  unter  den  Malern  etwa  bei 
D.  Ghirlandajo  antreffen.  Die  Härten  und  Ecken  Donatello's  sind  bei 
ihm  gänzlich  überwunden;  wie  in  der  Decoration,  so  ist  er  in  der 
Sculptur  einer  der  Einfachsten  seiner  Zeit. 

In  den  Uffizien  zu  Florenz  (Gang  der  tose.  Sculptur)  ist  von  ihm  c 
das  Relief  einer  Fides,  deren  schöner  und  inniger  Ausdruck  wohl 
auffordern  mag  zum  Besuch  der  classischen  Stätte  von  Matteo's  Wirk- 
samkeit: des  Domes  von  Lucca.  Hier  findet  man  in  den  beiden  d 
anbetenden  Engeln  auf  dem  Altar  der  Sacramentscapelle  (rechtes  Quer- 
schiff) Alles  erfüllt,  was  jene  Gestalt  verhiess.  Mit  dem  edelsten  Styl, 
den  das  XV.  Jahrhundert  seit  Ghiberti  aufweist,  verbindet  sich  hier 
der  Ausdruck  einer  inbrünstigen  Andacht  und  hohe  jugendliche  Schön- 
heit. Das  Grabmal  des  Petrus  a  Noceto  (1472,  ebenda),  eine  frühere 
Arbeit,  verräth  in  der  Reliefmadonna  und  den  Putten  den  Mitstreben- 
den Mino's,  aber  schon  auf  einer  ungleich  höhern  Stufe  der  Ausbil- 
dung und  des  Ausdruckes;  auch  die  liegende  Statue  ist  der  ähnlichen 


')  Bei   diesem  oder   irgend   einem   andern   Anlass   mUsste   auf   den   köstlichen   Marmoraltar   in 
dem    Carmeliterkirchlein    S.    Maria,    eine    Viertelstunde    vor    Arezzo     aufmerksam    gemacht  • 
werden.   Ich  kann  aus  der  Erinnerung  nur  so  viel  sagen,  dass  er  mir  dem  Styl  nach  zwischen  den 
Robbia  und  Mino  da  Fiesolc  zu  stehen  scheint. 


6o6 


Scülptur  des  XV.  Jahrhandeits.    Civitali. 


a  Arbeit  Desiderio's  kaum  nachzusetzen.  An  dem  Grabmal  Bertini  (1479, 
ebenda)  zeigt  die  Büste  einen  geistvollem  Naturalismus  als  der  der 
meisten  Florentiner.  Zunächst  rechts  vom  Chor  endlich  steht  der 
prächtige  S.  Regulus  Altar  (1484),  ein  Hauptwerk  des  Jahrhunderts 
(die  Predella  ausgenommen,  welche  wohl  von  Mino  sein  könnte).  Die 
drei  untern  Statuen  entsprechen  dem  Imposantesten  der  damaligen 
Historienmalerei;  die  Engel  mit  Candelabern  und  die  thronende 
Madonna  oben  haben  schon  etwas  von  der  freien  Lieblichkeit  eines 
Andrea  Sansovino.  —  Dagegen  genügt  der  S.  Sebastian  am 
Tempietto  (linkes  Seitenschiff)  nicht  ganz;  es  ist  keine  so  vollkommene 
Bildung,  wie  sie  der  Meister  in  dem  bevorzugten  Lucca  hätte  schaffen 
können. 

Als  Werk  seines   Alters  dürfen  wir  die  sechs   Seitenstatuen  der 

b  Johannescapelle  imDomvonGenua  betrachten:  Jesajas,  Elisabeth, 
Eva,  Habacuc,  Zacharias,  Adam.  —  Adam  und  Eva,  leider  mit  Gyps- 
draperien  der  berninischen  Zeit  verunziert,  sind  oder  waren  bedeu- 
tende naturalistische  Gestalten,  Adam  mit  einem  grandiosem  Ausdrucke 
flehenden  Schmerzes;  Eva  absichtlich  als  ,, Mutter  des  Menschenge- 
schlechtes" reich  und  stark  gebildet.  Die  übrigen  sind  theils  etwas 
müde,  theils  gesuchte  Motive;  im  Zacharias  sollte  das  Anhören  einer 
Offenbarung  ausgedrückt  werden,  was  aber  bei  der  ungenügenden 
Körperlichkeit  und  wunderlichen  Tracht  vollkommen  missglückte;  im 
Jesajas  und  in  der  Elisabeth  sind  zwar  einzelne  sehr  schöne  Gewand- 
motive, allein  die  Seele  des  S.  Regulus  fehlt;  Habacuc  ist  eine  miss- 
geschaffene Genrefigur.  Möglicherweise  sind  die  vier  Reliefhalbfiguren 
der  Evangelisten  an  den  Pendentifs  der  Kuppel,  die  wieder  deutlich 
an  Ghirlandajo  erinnern,  ebenfalls  Werke  Civitali's. 

Welches  nun  auch  der  absolute  Werth  dieser  Sculpturen  sei,  in  dem 
von  Antiken  entblössten,  vom  florentinischen  Kunstleben  abgeschnit- 
tenen Genua  galten  sie  als  das  Höchste.  Wenn  auszumitteln  wäre, 
dass  Matteo  selber  für  längere  Zeit  hier  wohnte,  so  möchte  der  halb 

c  runde  untere  Theil  des  Reliefs  auf  dem  5.  Altar  rechts  im  Dom  eine 
ehemaHge  Lunette)  von  einem  genuesischen  Schüler  herrühren.  Es 
stellt  die  Madonna  mit  zwei  Engeln  vor,  deren  einer  den  kleinen 
knieenden  Johannes  präsentirt;  eine  sehr  gute  Arbeit.  —  Später  hat 
Taddeo  Carlone  und  seine  ganze  Schule  an  Matteo's  Statuen  beständig 


Mino  da  Fiesole. 


607 


gelernt  und  sie  sogar  schlechtweg  wiederholt  (Statuen  in   S.  Pietro  a 
in  Banchi,  in  S,  Siro,  S.  Annunziata  u.  s.  w.). 


Einer  der  weniger  begabten,  aber  zugleich  wohl  der  fleissigste 
aller  dieser  florentinischen  Sculptoren  nächst  Donatello  war  Desiderio's 
Schüler,  der  eben  erwähnte  Mino  da  Fiesole  (geboren  nach  1400, 
hauptsächlich  thätig  im  dritten  Viertel  des  XV.  Jahrhunderts).  Der 
einseitige  Naturalismus  und  die  bekannten  äusserlichen  Manieren 
dieser  Kunstepoche  werden  bei  ihm,  wie  theilweise  schon  bei  Dona- 
tello selbst,  etwas  Unvermeidliches;  dabei  ist  seine  Ausführung  äusserst 
sauber  und  genau  und  bisweilen  durch  die  schönsten  Ornamente 
(Seite  235)  verherrlicht.  In  einzelnen  Fällen  erhebt  er  (oder  einer 
seiner  Mitarbeiter)  sich  zu  einer  grossen  Anmuth;  meist  aber  ist  seinen 
Gestalten,  abgesehen  von  der  nicht  eben  geschickten  Anordnung  im 
Raum,  eine  gespreizte  Stellung  und  eine  geringe  körperliche  Bildung 
eigen;  seine  Reliefs  gehören  zu  den  überladensten,  mit  flachen  und 
dabei  unterhöhlten  Figuren. 

Seine  Thätigkeit  vertheilte  sich  auf  Florenz  und  Rom.    In  Rom 
scheint  er  eine  bedeutende  Werkstatt  gehabt  zu  haben,  wenigstens  ist 
in  den  zahllosen  Grabmälern,  Marmoraltären  und  Sacramentschränken, 
womit  sich  damals  die  römischen  Kirchen  füllten,  sein  Styl  nicht  sel- 
ten zu  erkennen;  Einiges  ist  auch  bezeichnet  oder  durch  Nachrichten 
gesichert.    Weit  das  Wichtigste  sind  die  Sculpturen  vom  G  r  a  b  m  a  1  b 
Pauls  II  (t  1471),  jetzt  an  verschiedenen  Stellen  der  Crypta  von 
S.   Peter  eingemauert;    die  allegorischen   Frauen  in   Hochrelief  sind 
seine  anmuthigsten  Figuren,  wenn  auch  von  etwas  gesuchtem  Reich- 
thum;  die  grosse  Lunette  mit  dem  Weltgericht  merkwürdig  als  Zeugniss 
des  flandrischen  Eiuflusses  auch  auf  die  Sculptur  der  Italiener;  die  Grab- 
statue nur  durch  das  reiche  Costüm  interessant.  —  An  dem  Grabmal 
des  Bischofs  Jacopo  Piccolomini  (f  1479)  im  Klosterhof  von  S.  Agostino  c 
ein  ähnlich  aufgefasstes  kleineres  Weltgericht.    —   Sicher  von  ihm: 
das  Grabmal  des  Jünglings  Cecco  Tornabuoni  in  der  Minerva  (links  d 
vom  Eingang);   und  der  Wandtabernakel  für  das  heil.  Öl  in  der  Sa- e 
cristei   von    S.  Maria   in  Trastevere.     Die   Werke    seiner   römischen 
Nachfolger  sind  unten  zu  erwähnen. 


6o8       Scalptur  des  XV.  Jahrhunderts.    Mino.    Andrea  Ferrnccl. 


a        In  Toscana  sind  von  ihm:  im  Dom  von  Fiesole  (Querschiff  rechts) 
ein  zierHcher  Altar  und  das  prachtvoll  decorirte  und  darin  classische 
b  Grabmal  des  Bischofs  Salutati  (f  1466)  mit  guter  Büste;  —  im  Dom 
c  von  Prato  die  Kanzel;   —  im  Dom  von  Volterra  der  Hauptaltar;   — 
d  in  S.  Ambrogio  zu  Florenz:  der  prächtige,  aber  im  Einzelnen  barocke 
e  Altar  der  Cap.  del  Miracolo;  —  in  der  Badia  zu  Florenz,  dem 
classischen  Ort  für  Mino's  heimische  Wirksamkeit:  ein  Rundrelief  der 
Madonna  aussen  über  der  Thür;  im  rechten  Kreuzarm  das  Grab  des 
Bernardo  Giugni  (f  1466),  und  im  linken  das  noch  prachtvollere  des 
Hugo  von  Andeburg  vom  Jahr  1481,  endlich  unweit  von  der  Thür  ein 
Altarrelief  mit  drei  Figuren;  fast  sämmtlich  Arbeiten  von  bedeuten- 
dem Rang  in  Beziehung  auf  Luxus  und  Zierlichkeit. 

Von  Freisculpturen  sind  einige  Büsten  das  Beste:  mehrere  in  den 
f  Uffizien  (verschlossener  Raum  hinter  den  Sculpturen  der  toscanischen 
g  Schule) ;   diejenige  der  Isotta  von  Rimini  im  Camposanto  zu  Pisa, 
N.  XIX.  —  Von  den  kleinen  Statuen  Johannes  d.  T.  und  S.  Sebastians 
hin  S.  Maria  sopra  Minerva  zu  Rom  (3.  Cap.  links),  welche  ihm  ohne 
Sicherheit  zugeschrieben  worden,  ist  die  letztere  beinahe  zu  gut  für 
i  ihn.  —  Wenn  die  Colossalstatuen  des  Petrus  und  Paulus,  ehemals  an 
der  Treppe  vor  S.  Peter,  jetzt  im  Gange  nach  der  Sacristei,  wirklich 
von  ihm  (und  nicht  von  einem  gewissen  Mino  del  Reame)  sein  sollten, 
so  würden  sie  eine  ungemeine  Befangenheit  in  der  Freisculptur  be- 
weisen. 

Von  andern  fiesolanischen  Sculptoren,   welche  mit  Mino  in  Ver- 
bindung stehen  mochten,  ohne  doch  seine  Schule  zu  bilden,  ist  An- 
drea Ferrucci  (f  1522)  der  wichtigste.     Die  von  ihm  sculpirte 
k  Nische  über  dem  Taufstein  des  Domes  von  Pistoja  zeigt  in  mehrern 
Gestalten  Anklänge  an  Mino's  Styl,  aber  in  das  Schöne  und  Veredelte; 
der  Seelenausdruck  in  der  gesundern  Art  der  umbrischen  Malerschule, 
zumal  in  dem  grossen  Hochrelief  mit  der  Taufe  Christi;  die  vier  klei- 
nern Reliefs  mit  der  Geschichte  des  Täufers  wenigstens  trefflich  com- 
1  ponirt  und  schön  ausgeführt.  —  In  Florenz  ist  von  Andrea  das  Bild- 
nissdenkmal des  Marsilius  Ficinus  im  rechten  Seitenschiff  des  Domes; 
m  sodann  das  schöne  Crucifix  in  S.  Felicita  (4.  Cap.  rechts),  mit  dem 
n  edeln  reichgelockten  Haupt;  —  der  grosse  S.  Andreas  im  Dom  (Ein- 
gang zum  linken  Querschiff,  rechts)  hat  schon  etwas  academisch  Be- 


Benedetto  da  Rlajano. 


609 


faiigenes.  —  Von  A.'s  Schülern  Silvio  und  Maso  Boscoli  von 
Fiesole  ist  u.  a.  das  Grabmal  des  Antonio  Strozzi,  im  linken  Seiten-  a 
schiff  von  S.  Maria  novella. 


Ein  freierer  florent.  Nachfolger  Mino's  ist  der  Baumeister  Bene- 
detto da  Majano  (1444 — 98).  Die  wenigen  erhaltenen  Arbeiten 
verrathen  einen  der  grössten  Bildhauer  der  Zeit.  An  Schönheitssinn 
und  Geschick  ist  er  dem  Mino  weit  überlegen  und  erscheint  eher  als 
der  Fortsetzer  Ghiberti's.  Die  Reliefs  der  Kanzelin  S.  Croce  zei-  b 
gen  höchst  lebendig  entwickelte  Scenen  mit  den  herrlichsten  Motiven 
(zum  Theil  auf  der  Dreiviertelansicht  beruhend);  die  Statuetten  in 
den  Nischen  unten  sind  bei  winzigem  Massstab  vom  Köstlichsten 
dieser  Zeit.  —  In  der  Capelle  Strozzi  in  S.  Maria  novella  (rechtes  c 
Querschiff)  ist  das  Grabmal  hinter  dem  Altar  von  ihm;  über  dem  Sar- 
cophag  das  Rundrelief  der  Madonna,  von  Engeln  umschwebt,  träume- 
risch süss  und  holdselig,  wie  etwa  ein  frühes  Werk  des  Andrea  San- 
sovino  könnte  ausgesehen  haben.  In  seinen  Freisculpturen  ist  Benedetto 
allerdings  noch  etwas  befangen.  Sein  Johannes  der  Täufer  in  den  d 
Uffizien  (Ende  des  zweiten  Ganges)  ist  aber  in  dieser  Befangenheit 
sehr  liebenswürdig  durch  den  naiven  Ausdruck;  ebenso  die  Sta- 
tue des  S.  Sebastian  in  einem  Nebenraum  des  Kirchleins  der  Mise-  « 
ricordia  (auf  dem  Domplatz),  Die  in  demselben  Raum  (auf  dem  Altar) 
befindliche  Madonna  deutet  schon  entschieden  auf  die  Weise  des  XVI. 
Jahrhunderts,  auf  Lorenzetto  und  Jac.  Sansovino  hin.  Seine  anmuth- 
reiche  Phantasie  erräth  das,  wozu  seine  formelle  Bildung  wohl  nicht 
hingereicht  hätte.  —  Das  Denkmal  Giotto's  (1490)  im  rechten  Seiten-  f 
schiff  des  Domes,  ein  blosses  Reliefmedaillon,  ist  wie  andere  Ehren- 
denkmäler dieser  Kirche  ein  Beweis  dafür,  wie  wenig  Prunk  damals 
von  Staatswegen  (,,cives  posuere")  mit  dem  Andenken  verstorbener 
grosser  Männer  getrieben  wurde;  es  lebten  ihrer  noch  welche i).    Fast 


1)  Dagegen  haben  die  im  Auftrag  des  Staates  (der  ,, Gemeine")  bloss  grau  in  grau  gemal- 
ten Denkmäler  im   Dom  von   Florenz  und   anderswo   allerdings  das   Ansehen  ,  als  ob   man  * 
gern    gemocht    und    nicht    gekonnt    hätte.      Es    sind    gleichsam    Anweisungen    auf    künftige 
Marmordenkmäler      Vgl.  Vasari  im  Leben  des  Lor.  di  Bicci. 


6io 


Scalptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Agostino  dl  Guccio. 


a  gegenüber  ist,  ebenfalls  von  B.'s  Hand,  die  Büste  des  Musikers  Squar- 
cialupi,  eines  Zeitgenossen,  welchem  der  Künstler  so  wenig  als  dem 

b  Pietro  Meilini  (Uffizien,  Gang  d.  tose,  Sculpt)  die  natürliche  Hässlich- 
keit  erliess.  Es  wurden  damals  in  Florenz  fast  so  viele  Büsten  aus 
Marmor,  Thon  und  Kittmasse  (und  dann  farbig)  gebildet  als  Porträts 
gemalt;  in  allen  werden  die  unregelmässigen  Züge  nicht  bloss  frei 
zugestanden,  sondern  als  das  Wesentliche  und  zwar  bisweilen  grandios 

c  behandelt.  Der  genannte  Gang  in  den  Uffizien  und  seine  meist  ver- 
schlossene Fortsetzung  enthalten  eine  Anzahl  davon,  sämmtlich 
marmorn. 


Mit  Unrecht  wurde  früher  zum  Hause  der  Robbia  derjenige  be- 
deutende Künstler  gerechnet,  welcher  1461  die  Fassade  der  Brüder- 
d  Schaft  von  S.  Bernardino  in  Perugia  (neben  S.  Francesco)  baute  und 
mit  Sculpturen  bedeckte,  Agostino  di  Guccio  aus  Florenz i). 
Diese  reiche  und  prächtige  Arbeit,  aus  Terracotta,  Kalkstein,  weissem, 
röthlichem  und  schwarzem  Marmor  ist  der  Geschichte  und  der  Glorie 
des  genannten  Heiligen  geweiht.  Das  Plastische  ist  ungleich;  die  vor- 
züglichere Hand  verräth  sich  hauptsächlich  in  den  anmuthig  schwe-- 
benden  Engeln  mit  ihren  feinfaltigen,  rundgeschwungenen  Gewändern, 
sowie  in  einigen  der  kleinen  erzählenden  Reliefs.  Offenbar  stand  der 
Künstler  zur  Antike  in  einem  viel  nähern  Verhältniss  als  die  übrigen 
Robbia,  ja  als  die  meisten  Sculptoren  seiner  Zeit;  man  wird  z.  B.  eine 
Figur  finden,  die  das  bekannte  Motiv  einer  bacchischen  Tänzerin  ge- 
radezu wiederholt;  auch  ist  seine  Relief behandlung  plastischer  als  die 
der  florentinischen  Zeitgenossen  insgemein,  welche  alle  mehr  von  Do- 
natello  berührt  erscheinen.  An  innerlichem  Schönheitssinn  und  tieferm 
Seelenausdruck  ist  Luca  della  Robbia  auch  ihm  überlegen. 


1)  Wahrscheinlich  ist  der   Augustinus  de  Florentia,   welcher   1442   die  Platte   mit   vier   Reliefs 

*  aus    der   Geschichte    des    heil.    Geminian   am    Dom   von    Modena   (aussen   auf    der    Südseite 

nahe   beim    Chor)    fertigte,    dieselbe    Person.      Das    von    Donatello    unabhängige    Leben,    die 

leichte,  geschickte    und    deutliche  Bewegung,    die    feingefalteten,    schwungreichen  Draperien 

geben  eine  Vorahnung  des  Werkes  von  Perugia. 


Montelupo.    Rovezzano.    Hastici. 


6ri 


Um  das  Ende  des  XV.  Jahrh.  arbeitete  BacciodaMontelupo 
die  Statue  des  Ev.  Johannes  an  Orsanmicchele;  ein  gemässigter  und  a 
geschickter  Nachfolger  Verocchio's,  doch  nicht  ohne  gezwungene  Ma- 
nier.    An  einem  der  Dogenmonumente  in  den  Frari  zu  Venedig  (des  b 
Pesaro,   1503)  wird  ihm  die  Statue  des  Mars  zugeschrieben. 

InBenedetto  da  Rovezzano  kHngt  noch  einmal  Ghiberti 
nach.  Seine  Reliefs  mit  den  Thaten  des  heil.  Johann  Gualbert  in  den  c 
Uffizien  (Gang  der  tose.  Sculpt.),  vom  Jahr  1515,  deuten  noch  wesent- 
lich in  das  vergangene  Jahrh.  zurück;  viel  delicates  Einzelnes,  meh- 
rere treffliche  dramatische  Momente  (der  Transport  der  Besessenen, 
die  Bannung  des  Teufels  von  dem  kranken  Mönch),  aber  auch  Vieles 
matt  und  gedankenlos.  —  Die  Statue  des  Ev.  Johannes  im  Dom  d 
(Eingang  zum  Chor,  rechts)  ist  eine  fleissige,  aber  äusserst  geringe 
Arbeit. 

Beide  letztgenannten  überragt  bei  Weitem  G  i  o  v.  Franc.  R  u  - 
s  t  i  c  i  ,  von  welchem  die  Bronzegruppe  der  Predigt  des  Täufers  über  c 
der  Nordthür  des  Baptisteriums  gearbeitet  ist.  Er  war  Schüler  Ve- 
rocchio's, und  die  Neider  sagten  dem  Werke  nach,  dass  ein  anderer 
berühmterer  Schüler  jenes,  Lionardo  da  Vinci,  daran  geholfen 
habe.  Wie  dem  nun  sei,  es  waltet  in  der  Gruppe  jener  Geist  des 
Hochbedeutenden,  welchen  wir  unter  den  Malern  vorzüglich  bei  Luca 
Signorelli  wiederfinden.  Die  innere  Aufregung  ist  in  dem  Täufer  und 
ganz  besonders  in  den  beiden  zuhörenden  Pharisäern  mit  ergrei- 
fender Kraft,  in  letztern  wie  verhehlt,  doch  unwillkürlich  hervorbre- 
chend ausgedrückt.  Die  Gewandung  gehört  noch  mehr  dem  XV. 
Jahrhundert  an,  während  das  Nackte  schon  der  grandiosen  und 
freien  Behandlung  der  höchsten  Blüthezeit  würdig  erscheint.  —  L  i  o  - 
n  a  r  d  o  '  s  eigene  Sculpturwerke  sind  auf  klägliche  Weise  zu  Grunde 
gegangen. 


In  Pisa  spielt  die  Sculptur  seit  Anfang  des  XV.  Jahrh.  keine 
Rolle  mehr;  ja  man  wird  selten  in  der  ganzen  Kunstgeschichte  ein 
so  völliges  Aufhören  einer  blühenden  und  thätigen  Schule  so  genau 
mit  dem  politischen  Sturz  der  betreffenden  Stadt  (1405)  zusammen- 
gehen sehen.     Von  einem  guten  Bildhauer,  dessen  Formen  etwa  an 


612 


Scolptnr  des  XV.  Jahrhunderts.    Siena.    dnercia. 


a  die  des  Sandro  Botticelli  erinnern,  sind  die  sieben  Tugenden  in  Re- 
lief neben  dem  Hauptaltar  in  S.  Maria  della  Spina;  möglicherweise 
gehören  die  noch  bessern  drei  Tugenden  an  dem  Sarcophag  des  Erz- 

b  bischofs  Ricci  (f  1418,  aber  das  Grab  aus  späterer  Zeit)  im  Campo 
Santo,  bei  N.  49,  derselben  Hand  an,  ebenso  die  Reliefstatuetten  der 
Caritas,  Misericordia  etc.  ebenda,  N.  90,  94  etc. 

Den  Ausgang  ins   XVI.   Jahrh.  belegen  die  ziemlich  guten  und 

c  freien  Sculpturen  des  Altars  in  S.  Ranieri. 


Die  Sculptur  von  Siena  seit  dem  Anfang  des  XV.  Jahrh.  ist 
der  gleichzeitigen  sienesischen  Malerei  im  Ganzen  überlegen,  ja  sie 
kann  in  Betreff  der  neuen  Auffassungsweise  sogar  gegenüber  der  flo- 
rentinischen  Sculptur  eine  zeitliche  Priorität  in  Anspruch  nehmen. 
Ihr  wichtigster  Meister,  Jacopo  della  Quercia,  ist  wohl  über- 
haupt der  frühste  unter  Jenen,  welche  den  ausgelebten  Styl,  der  einst 
von  Giovanni  Pisano  ausgegangen,  gegen  eine  derbere,  mehr  natura- 
listische Auffassung  vertauschten.    Von  ihm  sind  zu  Siena:  zwei  von 

d  den  sechs  Bronzereliefs  am  Taufbrunnen  in  S.  Giovanni  (Geburt  und 
Predigt  des  Täufers),  noch  im  Styl  des  XIV.  Jahrh.,  und  die  Sculptu- 

e  ren  der  Fönte  gaja  auf  dem  grossen  Platz  (141 9),  sein  vollständigstes 
und  anmuthigstes  Werk  im  neuen  Styl.     An  dem  Grabmal  der  Ilaria 

£  del  Carretto  (f  1405)  im  Hnken  Querschiff  des  Domes  von  Lucca  ist 
die  liegende  Statue  noch  mehr  germanisch,  der  Sarcophag  dagegen  — 
nackte  Kinder  (Putten),  welche  eine  Fruchtschnur  tragen  —  von  einer 
weichen  und  schönen  Lebendigkeit,  die  den  Vorgängern  noch  fremd 

g  ist.  (Die  eine  Seite  von  diesem  Sarcophag  befindet  sich  in  den  Uf- 
fizien  zu  Florenz,  Gang  der  tose.  Sculptur.)  —  Der  Altar  in  der  Sacra- 

h  mentscapelle  zu  S.  Frediano  in  Lucca,  datirt  1422,  kann  kaum  von 
Qu.  sein,  wenn  dieser  schon  1419  die  Fönte  gaja  gearbeitet  hatte; 
freilich  ist  es  schwer,  neben  ihm  einen  zweiten  ,, Jacopo  Sohn  Pietro's" 
aus  blosser  Vermuthung  anzunehmen,  da  auch  sein  Vater  Pietro  hiess; 
vielleicht  könnte  das  Werk  früher  von  ihm  gearbeitet  und  erst  1422 
aus  der  Werkstatt  gegeben  worden  sein.   (Vgl.  S.  575,  b.)    An  der  zwei- 

i  ten  Thür  der  Nordseite  des  Domes  von  Florenz  ist  von  ihm  (eher  als 
von  Nanni  di  Banco)  das  Giebelrelief  der  Madonna  della  cintola,  eine 


Oaerda  und  Schfiler  in  Bologna. 


613 


grosse  feierlich  bewegte  Composition,  im  Detail  etwas  flauer  als  die 
Fönte  gaja. 

Während  in  Toscana  die  grossen  Florentiner  ihn  allmälig  in  den 
Schatten  stellten,  gewann  er  durch  seinen  Aufenthalt  in  Bologna 
einen,  wie  es  scheint,  weitgreifenden  Einfluss  auf  die  oberitalische 
Sculptur.  Hier  sind  die  Sculpturen  am  Hauptportal  von  S.  Petro-a 
n  i  o  ,  begonnen  1429,  vielleicht  seine  bedeutendste  Arbeit  überhaupt; 
weniger  die  Statuen  der  Madonna  und  zweier  Bischöfe  in  der  Lunette, 
als  die  Reliefhalbfiguren  der  Propheten  und  Sibyllen  in  der  Schrägung 
der  Pforte  und  des  Bogens.  Die  neue  Kunstzeit  spricht  hier  ver- 
nehmlich aus  den  scharf  individuellen  Köpfen  und  aus  dem  Momen- 
tanen der  Bewegung.  Die  fünf  Geschichten  aus  der  Kindheit  Christi 
am  Architrav  passen  nicht  wohl  zu  Q.'s  sonstigen  Reliefs;  die  zehn 
Reliefs  mit  den  Geschichten  der  Genesis  an  den  Pilastern  der  Thür 
erregen  ebenfalls  einige  Zweifel.  Wenn  sie  aber  von  Quercia  sind,  so 
würden  sie  eine  so  früh  im  XV.  Jahrh,  unerhörte  Freiheit  des  Styles 
bezeugen,  während  sie  für  das  XVI.  Jahrh.  doch  nur  die  Geltung  von 
manierirten  und  wenig  durchgebildeten  Arbeiten  haben  könnten. 

Ein  bolognesischer  Schüler  Quercia's  Niccolö  dell'  Area  (st. 
1494),  fertigte  die  grosse  thönerne,  ehemals  vergoldete  Relief madonna  b 
an  der  Fassade  des  Pal.  Apostolico,  die  für  die  Zeit  um  1460  kein 
bedeutendes  Werk  ist.  —  Wichtiger  war  Niccolö's  Theilnahme  an  der 
Area  in  S.  Domenico,  von  welcher  er  seinen  Beinamen  erhielt.    Hier  c 
werden  ihm  mehrere  der  obern  Statuetten  und  der  knieende  Engel 
rechts  vom  Beschauer i)   zugeschrieben;   für  die  übrigen   Statuetten 
(Niemand  sagt  genau  welche)  nennt  man  einen  wohl  fünfzig  Jahre 
Jüngern  Künstler,  Girol.  Cortellini.  Genug  dass  es  angenehme 
und  lebensvolle  Figürchen  sind,  die  vielleicht  im  Abguss  eine  weite 
Verbreitung  finden  würden.    (Der  heil.  Petronius  und  der  Engel  unten 
links  vom  Beschauer  sind  anerkanntermassen  von  Michelangelo.)  —Eine 
sehr  tüchtige  Arbeit  des  Niccolö  ist  auch  das  bemalte  Reiterrelief  des  d 
Annibale  Bentivoglio  (1458)  in  der  gleichnamigen  Capelle  zu  S.  Gia- 
como  maggiore  (Chorumgang), 


')  Welchen  ich  glaube  für  ein  Werk  des  XVI.  Jahrhunderts  halten  zu  mUssen. 


6i4 


Scalptor  des  XV.  Jahrhunderts.    Schüler  duercia's. 


Den  Einfluss  von  Quercia's  Styl  wird  man  vielleicht  ausserdem 
erkennen  an  den  Sculpturen  der  Fassade  von  Madonna  di  Galliera. 

a  Dagegen  zeigt  er  sich  da  nicht  deutlich,  wo  man  ihn  erwarten  sollte, 
nämlich  in  den  Propheten  und  Sibyllen  (unten)  an  den  Seitenfenstern 

b  von  S.  Petronio,  welche  zum  Theil  gute  Arbeiten  verschiedener  lom- 
bardischer Meister  des  XV.  Jahrh.  sind'). 


Von  Quercia's  sienesischen  Schülern  führte  Urban  von  Cor- 
t  o  n  a  ,  wie  man  glaubt  nach  des  Meisters  Entwürfen,  die  Statuen  der 

c  HH.  Ansanus  und  Victorius  an  den  mittlem  Pfeilern  des  Casino  de' 
Nobili  in  Siena  aus,  lebendige  und  resolute  Gestalten,  die  an  das  Beste 
von  Verocchio  erinnern;   Ähnliches  gilt  von  dem  etwas  spätem  N  e  - 

d  r  o  c  c  i  o  (Statuen  in  den  beiden  Seitennischen  der  runden  Cap.  S,  Gio- 
vanni im  Dom).  Vecchietta  dagegen  hat  die  naturalistische  Härte 
Donatello's  ohne  dessen  innere  Gewalt;   seine  Bronzestatue    des  Er- 

e  lösers,  auf  dem  Hauptaltar  der  Hospitalkirche  della  Scala,  ist  wie  ein 
Andrea  del  Castagno  in  Erz;  die  Grabstatue  des  Soccino  (f  1467)  in 

f  den  Uffizien  (I.  Zimmer  d.  Br.)  sieht  einem  von  der  Leiche  genomme- 
nen Abguss  ähnlich,  wenn  auch  die  Falten  nicht  ohne  Geschick  geordnet 
sind.     Auch  die  übrigen  Sienesen  sind  nach  den  in  den  Gängen  der 

g  Academie  aufgestellten  Fragmenten  zu  schliessen  von  keiner  Bedeutung 
(die  Cozzarelli,u,  A,),  wenn  nicht  die  mir  unbekannten  Sculptu- 
ren in  der  Osservanza  ihnen  doch  einen  bessern  Platz  anweisen.  — 
Später  folgt  dann,  ganz  vereinzelt,  der  oben  bei  Anlass  der  Decoration 

h  (S.  239,  e)  erwähnte  herrliche  Altar  in  Fontegiusta. 


Die  römische  Sculptur  dieser  Zeit  ist  eine  fast  ganz  anonyme. 
Doch  steht  wenigstens  am  Anfang  des  Jahrh.  der  Name  des  Paolo 
Romano  fest.  In  ihm  regt  sich,  gleichzeitig  mit  Quercia,  der  be- 
ginnende Realismus  wenigstens  in  so  weit,  dass  seine  liegenden  Grab- 
statuen mit  Geist  und  Freiheit  individualisirt  heissen  können.    (Grab- 


^)  Die  älteni  iiäch  dem  Campo  Sctntu  veiselzten  Giabmäier  verschiedener  Kirchen  hat  der 
Verfasser  nur  flüchtig  gesehen.  Es  befindet  sich  darunter  das  Grabmal  Papst  Alexan- 
ders V. 


Scolptaren  in  Rom. 


615 


mäler  des  Card.  Stefanschi,  st.  1417,  im  linken  Querschiff  von  S.  Maria  a 
in  Trastevere,  —  und  des  Comthurs  Carafa  im  Priorato  di  Malta;  —  b 
vielleicht  schon  dasjenige  des  Card.  Adam,  st.  1398,  in  S.  Cecilia.)  —  c 
Von   zweien  Schülern  Paolo's,   Niccolö  della  Guardia  und 
Pierpaolo  daTodi,  das  aus  einer  Anzahl  erzählender  u.  a.  Reliefs 
bestehende  Denkmal  Pius  II  (st.  1464),  im  Hauptschiff  von  S.  Andrea  d 
della   Valle;    später  als   Gegenstück    hinzugearbeitet    das    Denkmal 
Pius  III.;   beide  ungünstig  aufgestellt.   —  Von  den  sichern  Arbeiten 
des  Filarete,   A.  Pollajuoloi)  und  Mino  da  Fiesole 
(s.  oben)  war  schon  die  Rede;  sodann  ist  hier  der  Abschnitt  über  das 
Decorative  (S.  242)  zu  vergleichen. 

Ausser  dem,  was  dort  über  den  römischen  Gräberluxus  seit  1460 
im  Allgemeinen  gesagt  ist  (vgl.  auch  S.  229),  muss  hier  zugestanden 
werden,  dass  der  schönste  Eindruck  dieser  römischen  Sculpturen  ein 
coUectiver  ist.  Sie  geben  zusammen,  in  ihrer  edeln  Marmorpracht, 
das  Gefühl  eines  endlosen  Reichthums  an  Stoff  und  Kunst;  die  Gleich- 
artigkeit ihres  Inhaltes,  der  doch  hundertfach  variirt  wird,  erregt  das 
tröstliche  Bewusstsein  einer  dauernden  Kunstsitte,  bei  welcher  das 
Gute  und  Schöne  so  viel  sicherer  gedeiht,  als  bei  der  Verpflichtung, 
stets  ,, originell"  im  neuern  Sinne  sein  zu  müssen.  An  den  Grab- 
mälern  ist  der  Todte  in  einfache  Beziehung  gesetzt  mit  den  höchsten 
Tröstungen;  ihn  umstehen,  in  den  Seitennischen,  seine  Schutzpatrone 
und  die  symbolischen  Gestalten  der  Tugenden;  oben  erscheint,  zwi- 
schen Engeln,  die  Gnadenmutter  mit  dem  Kinde  oder  ein  segnender 
Gottvater  —  Elemente  genug  für  die  wahre  Originalität,  welche  her- 
gebrachte Typen  gerne  mit  stets  neuem  Leben  füllt,  und  dabei  stets 
neue  künstlerische  Gedanken  zu  Tage  fördert,  anstatt  bei  der 
Poesie  und  andern  ausserhalb  der  Kunst  liegenden  Grossmächten  um 
neue  ,, Erfindungen"  anzuklopfen. 

Ein  ganzes  Museum  von  Sculpturen  findet  sich  in  S.  M  a  r  i  a  d  e  1  e 
p  o  p  o  1  o  ;  hundert  andere  Denkmäler  sind  durch  alle  altern  Kirchen 
zerstreut.     Wir  nennen  bloss  das  Bedeutendere. 


')  Ob   die   bronzene    Grabstatue   eines    Bischofs   in    S. 
ihm  sein  mag? 


M.    del  popolo   (3.    Capelle    rechts)    von  • 


6i6 


Scnlptur  des  XV.  Jahrhunderts.    Rom. 


a  Der  Art  Mino's  stehen  am  nächsten:  das  Grabmal  des  Bartol. 
Roverella  (f  1476)  in  S.  demente  (rechts),  mit  werthvollen  Reliefs 
von  verschiedenen  Händen,  die  trauernden  Putten  vorzüglich  schön, 

b  die  Madonna  vielleicht  von  Mino  selbst;  —  das  Grab  des  jungen  Al- 
bertoni (t  1485)  in  S.  M.  del  popolo  (4.  Cap.  rechts),  nahe  verwandt 

c  mit  dem  S.  607,  d  erwähnten  ;^  —  der  Tabernakel  der  Nebencapelie  links 

d  in  S.  Gregorio;  —  die  Gräber  Capranica  und  de  Coca  in  S.  M.  sopra 
Minerva  (hinten  rechts),  mit  ausgemalten  Nischen;  —  die  Gräber  de 

e  Mella  (t  1467)  und  Rod.  Sanctius  (f  1468)  in  der  Halle  hinter  S.  M. 
di  Monserrato.  Geringerer  Grabmäler,  Tabernakel  etc.  zu  geschweigen. 
Parallel  mit  diesen  Werken  gehen  diejenigen  eines  andern  Mei- 
sters oder  einer  andern  Werkstatt,  welcher  wir  das  Beste  verdanken. 
Ohne  den  herrschenden  Typus  des  decorativen  Grabes  und  Altares  zu 
überschreiten,  zeigen  diese  Arbeiten  einen  höhern  Adel  des  Styles, 
eine  lebendigere  Durchführung  alles  Äusserlichen  und  einen  schönern, 
oft  ganz  innigen  Ausdruck,  der  doch  nichts  mit  dem  der  umbrischen 

f  Maler  gemein  hat.      Die  frühsten:   das  Grabmal   Lebretto  (f   1465) 

g  nächst  dem  Hauptportal  von  Araceli;  —  das  des  Alanus  von  Sabina 
in  S.  Prassede  (eine  der  Cap.  rechts);   —  dann  folgt  das  prachtvolle 

h  Monument  des  Pietro  Riario  (f  1474)  im  Chor  von  SS.  Apostoli,  — 

i  mit  welchem  das  ungleich  spätere  des  Gio.  Batt.  Savelli  (t  1498)  im 
Chor  von  Araceli  eine  bestimmte  Stylähnlichkeit  hat;  —  auch  die  Fi- 
guren der  beiden   Johannes  in  einem  Vorgemach  der   Sacristei  des 

k  Laterans  gehören  hierher.  —  Den  Höhepunkt  dieses  Styles  bezeichnet 

1  dann  der  AltarAlexanders  VI.  (1492,  als  er  noch  Cardinal  Bor- 

gia  war)  in  der  Sacristei  von  S.  M.  del  popolo,  mit  den  wunderschönen 

m  Engeln  in  den  Bogenfüllungen;  —  und  der  kleine  Altar  des  Guiler- 
mus de  Pereriis  (1490)  im  Chorumgang  von  S.  Lorenzo  fuori  le  mura; 

n  —  endlich  eine  einzelne  Figur  des  heil.  Jacobus  d.  ä.  im  Lateran  (an 
einem  Wandpfeiler  des  rechten  Seitenschiffes).   —  Es  ist  auffallend, 

o  dass  beim  Dasein  solcher  Kräfte  das  Grabmal  Sixtus  IV.  in  so  (ver- 
hältnissmässig)  geringe  Hände  fallen  konnte,  wie  die  erhaltenen  Reliefs 
zeigen.     (Crypta  von  S.  Peter.) 

Später  findet  sich  auch  der  umbrische  Gefühlsausdruck  in  einigen 

pausgezeichneten  Werken;  so  sind  an  der  Hof  treppe  des  Nebenbaues 
links  an   S.  Maria  maggiore  Fragmente  eines  Altares  eingemauert, 


ScalptureD  in  Rom. 


617 


welche  köstliche  Nischenfiguren  und  die  besten,  naivsten  römischen 
Putten  des   XV.  Jahrh.  enthalten;    —  etwas  später  (1510)  entstand 
das  Grab  eines  Erzbischofs  von  Ragusa  links  vom  Portal  in  S.  Pietro  a 
in  Montorio,  von  dem  sonst  wenig  bekannten  Bildhauer  G  i  o.  A  n  t. 
D  o  s  i  o  ,  mit  einer  sehr  schönen,  frei  peruginesk  empfundenen  Madonna. 

Unter   den   liegenden  Bildnisstatuen  der  Gräber  ist  diejenige  des  b 
Pietro  Meilini  (t  1483)   in  der  gleichnamigen  Capelle  in  S.  M.  del 
popolo  besonders  bemerkenswerth  durch  die  naturalistische  Strenge, 
womit  Kopf  und  Hände  individualisirt  sind;  —  ähnlich  die  des  Cor-  c 
dova  (t  i486)  in  der  Halle    hinter  S.  M,  di  Monserrato.     Wen    die 
Grabstatue  Alexanders  VI.  (f  1503)  interessirt,  findet  dieses  mittel-  d 
massige,  doch  in  den  Zügen  wahrscheinlich  sehr  getreue  Werk  in  der 
Crypta  von  S.  Peter.     (Die  Gebeine  liegen  im  Chor  von  S.  M.  di  Mon- 
serrato.)    Die  lieblichsten  Mädchenköpfe  an  dem  einen  Grabe  der  e 
Familie  Ponzetti  (1505  und  1509)  in  S.  M.  della  Pace  (Hauptschiff 
links) ;  zwei  gute  Greisenbüsten  an  dem  Grabmal  Bonsi,  Vorhalle  von  i 
S.  Gregorio.  —  Über  der  Treppe  der  Villa  Albani  die  liebenswürdig-  g 
naturalistische  Büste  einer  angehenden  Matrone  (der  Teodorina  Cybö). 

Noch  zu  den  bessern  Arbeiten  gehörend,  doch  ohne  tiefere  Eigen- 
thümlichkeit:   in   S.   M.   del  Popolo:   das  prächtige  Grabmal  Lonati  h 
(Querschiff  links);    —  das  Grab  des  Cristoforo  Rovere  (nach   1479, 
I.  Cap.  rechts);   —  des  Giorgio  Costa  (1508,  4.  Cap.  rechts);   —  des 
Pallavicini  (1507,  i.  Cap.  links);  —des  Rocca  (1482,  in  der  Sacristei); 
—  die  letztern  vier  vielleicht  von  demselben  Künstler,  welcher  in  der 
Minerva  die  Grabmäler  Sopranzi  (1495,  letzte  Cap.  des  rechten  Seiten-  i 
Schiffes)  und  Ferrix  (1478,  im  ersten  Klosterhof),  ausserdem  vielleicht 
auch  das  Grab  des  Diego  de  Valdes  (1506,  in  der  Halle  hinter  S.  M.  k 
di  Monserrato)  schuf.    Alles  Arbeiten  von  einer  gewissen  stereotypen 
Eleganz,  mit  einzelnen  trefflichen  Bestandtheilen. 

Die  Masse  der  übrigen  marmornen  Grabmäler  und  Altäre  lassen 
sich  meist  einer  der  eben  angegebenen  Rubriken  unterordnen;  sie  alle 
zu  nennen,  fehlt  uns  der  Raum.  Es  giebt  darunter  sehr  kostbare, 
welche  nur  wenig  eigenthümliches  Leben,  und  sehr  einfache,  welche 
doch  irgend  einen  ganz  schönen  Zug  enthalten. 


Urcicerone. 


40 


6i8 


Sculptor  des  XV.  Jahrhunderts.    Genaa. 


In  Genua  drang  der  realistische  Sculpturstyl  nur  sehr  langsam 

a  durch.     Man  sieht  im  Dom  auf  dem  i.  Altar  rechts  das  Relief  einer 

Kreuzigung,  von  guter  und  fleissiger  Arbeit,  etwa  aus  der  Mitte  des 

Jahrh.,  und  doch  kaum  von  einem  fernen  Echo  der  florentinischen 

b  Umwälzung  berührt.    Ebenso  ist  (in  der  i.  Cap.  links)  das  Grabmal 

des  1461  verstorbenen  Card.  Giorgio  Fiesco  in  der  Anordnung  sowohl 

als  in  der  recht  schönen  und  ausdrucksvollen  Behandlung  fast  noch 

ein  Werk  des  vorhergehenden  Jahrhunderts.  —  Das  Thürrelief  mit  der 

c  Anbetung  der  Könige,  an  dem  Hause  N.  1 1 1  Strada   degli   orefici  ist 

vielleicht  kaum  früher  und  doch  noch  fast  germanisch;  hier  nennens- 

werth  als  das  beste  unter  sehr  vielen. 

Am  frühsten  meldet  sich  der  Realismus  des  XV.  Jahrh.  —  vielleicht 
selbständig,  vielleicht  auf  eine  Anregung  hin,  die  von  Quercia  herstam- 
men könnte  —  in  den  Ehrenstatuen  verdienter  Bürger.    Wohl 
ein  Dutzend  derselben  aus  dieser  Zeit  stehen  theils  (nebst  neuern)  in  den 
d  Gängen  und  im  Hauptsaal  des  Pal.  S.  Giorgio  am  Hafen,  theils  in  den 
e  fünf  Aussennischen  eines  Palastes  an  Piazza  Fontana  amorose  (N.  17, 
er  heisst  Pal.  Spinola),  auch  anderswo.    Bei  ungeschickter  Gestalt  und 
Haltung,  bei  einer  bisweilen  rohen  Draperie  ist  doch  in  den  Köpfen, 
auch  wohl  in  den  Händen  der  Ausdruck  des  individuellsten  Lebens 
hie  und  da  vollkommen  erreicht.    (Auch  für  die  Trachten  von  Werth.) 
Ein  kenntlicher  florentinischer  Einfluss  ist  vielleicht  zuerst  an  den 
i  erzählenden  Reliefs  der  Aussenseite  und  der  grossen  Innern  Lunetten 
der  Johannescapelle  im  Dom  sichtbar;  ungeschickte,  selbst  rohe  Ar- 
beiten, die  man  nicht  einmal  Mino  da  Fiesole,  geschweige  denn  Matteo 
Civitali  zutrauen  möchte,  als  dessen  Arbeit  wenigstens  die  Lunette  links 
gilt.    Mit  den  notorischen  Arbeiten  Matteo's  (S.  606,  b)  schliesst  dann 
das  Jahrhundert. 


Woher  für  Venedig  die  Anregung  zu  dem  neuen  Styl  kam,  ist 
schwer  zu  sagen.  Derjenige  bedeutende  Künstler,  welcher  in  den 
ersten  4  Jahrzehnten  des  XV.  Jahrh.  die  Reihe  der  Renaissancebild- 
hauer eröffnet,  Mastro  Bäitolom  m  e  o  ,  wächst  so  allniälig  in 
den  neuen  Styl  hinein,  dass  man  annehmen  darf,  er  sei  selbständig 


Venedig.    Mastro  Bartolommeo. 


6  ig 


durch  den  Zug  der  Zeit  darauf  gekommen,  noch  ehe  die  Antikensamm- 
lung des  (1394  geborenen)  Malers  Squarcione  in  Padua  vorhanden  war  i). 

Sein  frühstes  Hauptwerk,  in  der  entlegenen  Kirche  der  A  b  b  a  z  i  a  a 
(links  vom  Portal),  ist  eine  grosse  ehemalige  Thürlunette;  die  ,, Mater 
misericordiae",  von  jener  reichen  deutschen  Lieblichkeit  des  Antlitzes, 
die  aus  so  manchem  venezianischen  Marmorkopf  des  XIV.  Jahrh. 
herausschaut,  steht  zwischen  kleinern  knieenden  Mönchen,  deren  Ge- 
berden und  Bildnisszüge  die  tiefste  Andacht  ausdrücken;  Engel  halten 
das  Gewand  der  Jungfrau  über  ihnen  ausgespannt;  der  übrige  Raum 
ist  ausgefüllt  durch  Laubwerk  mit  den  Halbfiguren  von  Propheten; 
das  Kind  ist  als  Relief  in  die  colossale  Agraffe  versetzt,  welche  den 
Mantel  der  Maria  zusammenhält  —  eine  in  diesem  architektonischen 
Styl  und  in  dieser  Zeit  vollkommen  glückliche  Kühnheit'-).  — Zu  den 
Seiten  zwei  Engelstatuen,  decorativ  und  fast  roh  wie  die  Lunette  auch, 
aber  von  demselben  tiefen  Ausdruck.  (An  der  Wand  gegenüber  drei 
Statuen  weiblicher  Heiligen,  schon  dem  spätem  Styl  B.'s  näher.) 

Wenn  nun  hier  noch  der  germanische  Styl,  obwohl  bereits  ge- 
mildert, vorherrscht,  so  zeigt  die  Portal-Lunette  an  der  Scuola  di  b 
S.  Marco  einen  ganz  ähnlichen  Gegenstand  entschieden  in  der  neuen 
Art  gebildet.  Wir  sehen  S.  Marcus,  eine  würdige  Gestalt,  thronend 
zwischen  der  knieenden  Bruderschaft,  deren  Vorsteher  ihm  die  linke 
Hand  küsst,  während  er  mit  der  Rechten  segnet.  Der  Styl  der  neuen 
Zeit  drückt  sich  ganz  sprechend  aus  in  einem  jener  neu  gewonnenen 
Reizmittel,  die  dem  XIV.  Jahrh.  noch  ganz  fremd  waren:  S.  Marcus 
sitzt  nach  links  und  wendet  sich  nach  rechts  (vom  Beschauer).  —  Die 
Statuen  neben  und  über  der  Lunette  scheinen  neuer  und  restaurirt. 

Das  wichtigste  spätere  Werk  B.'s  sind  dann  die  Sculpturen  an 
der  Porta  della  carta  des  Dogenpalastes  (1439).  Sowohl  in  den  c 
vier  Tugenden  als  in  den  Engeln  und  Putten  oben  trifft  er  hier  — 
wahrscheinlich  zufällig  —  ziemlich  nahe  mit  Quercia  zusammen.  Mit 
dem  muthwilligen  Herumklettern,  ja  schon  mit  der  Darstellung  dieser 
nackten  Kinder  ist  die  Renaissance  offen  ausgesprochen;  von  den  Tu- 


')  Vasari,    im    Leben    des    Scarpaccia,    nennt    wohl    einen    florent.    Bildhauer    Simone    Bianco, 

der  sein  Leben  in  Venedig  zugebracht  habe,  giebt  aber  keine  Werke  desselben  an. 
^)  Für  welche  überdiess  byzantinische  Vorbilder  vorhanden  waren. 

40* 


^Mۊgaimm 


mmfMjMjjjj^ 


620 


Scnlptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Venedig.    Rizzo. 


genden  giebt  die  Fortitudo  ein  herrliches  Motiv,  welches  so  ganz  ver- 
schieden von  Ghiberti's  Art  und  doch  parallel  mit  derselben  die  Frei- 
heit des  neuen  Styles  mit  der  Würde  des  germanischen  verbindet  i). 

a  —  (An  dem  Hauptfenster  gegen  die  Riva  hin,  welches  der  Verf.  Re- 
paraturhalber verdeckt  fand,  will  man  in  den  Statuen  ebenfalls  B.'s 
Styl  erkennen.     Ausserdem  werden  ihm  die  Apostel   und   der  heil. 

b  Christoph  an  der  Fassade  von  S.  Maria  dell'  Orto  zugeschrieben; 
letzterer  wohl  am  ehesten  mit  Recht;  die  Apostel  scheinen  von  ver- 
schiedenen Händen  zu  sein  2). 


Dem  wachsenden  Kunstbedürfniss  der  Republik  scheinen  diese 
und  andere  einheimische  Kräfte  bald  nicht  mehr  genügt  zu  haben. 
Donatello  erschien  in  Padua  (S.  597  ff);  Verocchio  wurde  für  ein  grosses 
Denkmal  in  Anspruch  genommen  (S.  603,  a).  Auch  andere  Toscaner  ar- 
beiteten früher  und  später  in  Venedig,  wie  z.  B.  die  sonst  nicht  be- 
kannten Piero  di  Niccolö  aus  Florenz  und  Giovanni  di  Martine  aus 

c  Fiesole,  welche  das  Dogengrab  Mocenigo  (f  1423)  im  linken  Seiten- 
schiff von  S.  Giovanni  e  Paolo  fertigten,  offenbar  unter  Donatello's 
Einfluss  (und  kaum  vor  1450);  ein  Werk,  das  sich  durch  die  Schön- 
heit der  Köpfe  an  den  zahlreichen  Statuetten  auszeichnet. 

Die  paduanische  Malerschule  mit  ihrem  scharfen,  fleissigen  Mo- 
delliren, ihren  plastischen  und  antiquarischen  Studien  musste  ihrer- 
seits ebenfalls  auf  die  Sculptur  wirken;  keine  Malereien  des  damaligen 
Italiens  haben  einen  so  ausgesprochenen  plastischen  Gehalt  wie  die 
ihrigen,  Verocchio  etwa  ausgenommen.  —  Wahrscheinlich  empfing  von 
ihr  aus  der  veronesische  Bildhauer  Antonio  Rizzo  seine  Anre- 

d  gung.  Von  ihm  sind  (um  147 1)  die  Statuen  Adam  und  Eva  im  Dogen- 
palast (unten  gegenüber  der  Riesentreppe)  gearbeitet;   ersterer  eine 


>)  Fast    gleichzeitig    mit    der    Porta    della    carta    entstand    das    Heiligengrab    des    Beato    Paci- 
*  fico  (t   1437)  im  rechten   Querschiff  der  Frari.      Schlecht  erhalten   und   ungünstig  in  dunk- 
ler Höhe  befestigt,  scheint  es  der  Art  des  B.  ähnlich. 
')  Von    zwei    verschiedenen    guten    Zeit-    und    Stylgenossen    sind    in    Madonna    dell'    orto    vor- 
**  banden:    auf    dem    3.    Altar    rechts   eine    lebensgrosse   stehende   Madonna,    von   etwas   deut- 
schem   Charakter;    über    der    Sacristeithür    die    Halbfigur    einer    Madonna,    milder    und    an- 
muthiger. 


Die  Bregni,  lombardi  and  Leopardo. 


621 


vorzüglich  tüchtige  Bildung,  deren  Naturalismus  gemildert  erscheint 
durch  die  ergreifende  Geberde  und  Miene  des  Schuldbewusstseins; 
bei  Eva  ist  derselbe  schon  störender. 


Seit  der  Mitte  des  XV.  Jahrh.  erscheinen  dann  mehrere  Bildhauer- 
werkstätten neben  einander  und  in  wechselseitiger  Einwirkung  auf 
einander.  Die  wichtigsten  derselben  sind  die  der  Bregni,  der 
Lombardi  und  des  Leopardo. 

Die  Gesammtheit  ihrer  Productionen  ist  schon  der  Masse  nach 
sehr  bedeutend;  an  innerm  Gehalt  bilden  dieselben  das  wichtigste 
Gegenstück  zu  den  Werken  der  gleichzeitigen  Toscaner.  Es  ist  der 
Realismus  des  XV.  Jahrh.  ohne  Donatello,  ohne  die  extremen  Härten, 
aber  auch  ohne  die  entschiedene  Kraft  der  Motive.  Es  mangelt  nicht 
an  Bestimmtheit  der  Formen,  zumal  der  Gewandung,  wohl  aber  an 
der  unablässigen  Beobachtung  des  bewegten  Körpers;  daher  sind  auch 
der  Attitüden  wenige,  die  sich  um  so  häufiger  wiederholen;  die  Be- 
handlung des  Nackten  ist  beträchtlich  conventioneller  als  gleichzeitig 
bei  den  Vivarini  und  bei  Mantegna.  Den  Ersatz  bildet  ein  sehr  ent- 
wickelter Sinn  für  schöne  und  anmuthige  Formen  und  für  höhern 
Gefühlsausdruck;  noch  verhüllt  und  befangen  bei  Pietro  Lombarde, 
der  in  den  Köpfen  mannigfach  die  Härten  eines  Bart.  Vivarini  theilt; 
gesteigert  bis  zum  tiefsten  und  süssesten  Reiz  bei  Leopardo. 

Die  Antike  wirkt  nur  stellenweise  direkt  ein,  dann  aber  so  stark 
wie  vielleicht  bei  den  damaligen  Florentinern  nirgends.  Im  Ganzen 
ist  allerdings  eher  die  Malerei  der  paduanischen  Schule  als  Führerin 
dieser  Sculptur  zu  betrachten.  Mit  ihr  ist  der  Ausdruck  vieler  Köpfe, 
die  Behandlung  der  Falten  und  Brüche  des  Gewandes,  auch  die  Stel- 
lung vieler  Figuren  am  nächsten  verwandt.  Auch  an  Cima,  Carpaccio 
und  Giovanni  Bellini  wird  man  vielfach  erinnert. 

Angewiesen  auf  die  zum  Theil  zweifelhaften  und  unbestimmten 
Namengebungen,  welche  bis  jetzt  im  Gange  sind,  können  wir  unmög- 
lich die  einzelnen  Künstlercharaktere  scharf  von  einander  abgrenzen. 
Unsere  Aufzählung  macht  desshalb  keinerlei  systematische  Ansprüche. 

Die  altern  Bregni, Antonio  und  Paolo,  erscheinen  noch  wie 
Schüler  des  Mastro  Bartolommeo  an  dem  Dogengrab  Franc.  Foscari 


!«Pf*!f85äpä8«TW3WP^»S^f^^ 


622         Scalptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Venedig.    Die  Bregni. 


"  (t  1457)  irn  Chor  der  Frari  (rechts).  Nicht  nur  ist  die  Decoration 
noch  gothisch  wie  bei  Jenem,  sondern  sie  gleichen  ihm  auch  in  der 
tüchtigen,  an  Quercia  erinnernden  Lebensauffassung.  —  Gegenüber 
steht  das  derselben  Künstlerfamilie  zugeschriebene  Dogengrab  Tron 
(t  1472),  in  der  Decoration  schon  vollkommene  Renaissance,  im  Figür- 
lichen sehr  ungleich  und  jedenfalls  von  verschiedenen  Händen;  die 
Dogenstatue  insbesondere  wird  als  Werk  des  Antonio  namhaft  ge- 
macht. An  den  beiden  Tugenden  zu  seinen  Seiten  haben  wir  die 
ersten  vollständigen  Typen  derjenigen  fleissigen,  zierlichen  und  an- 
genehmen Gewandstatuen,  welche  sich  in  Venedig  bis  gegen  das  Jahr 
1500  wiederholen;  der  Schildhalter  links  ist  eine  treffliche  lebendig  ge- 
wendete Figur,  wahrscheinlich  von 

Lorenzo  Bregno,  welcher  die  Hauptkraft  der  Schule  wurde. 

b  Von  ihm  ist  wahrscheinlich  das  Denkmal  des  Feldherrn  Pesaro  (f  1503) 
im  rechten  Querschiff  derselben  Kirche  (über  der  Sacristeithür)  mit 
den  Statuen  des  Verstorbenen,  des  Neptun  und  des  Mars  —  letztere 
freilich  von  Baccio  da  Montelupo,  dessen  florentinische  Lebens- 
derbheit den  Venezianern  überlegen  erscheint.  —  An  dem  Vorbau  im 

c  Hof  des  Dogenpalastes  möchte  der  Schildhalter  neben  Bandini's  Statue 
des  Herzogs  von  Urbino  ebenfalls  eine  Arbeit  Lorenzo's  sein.   —  In 

d  S.  Giovanni  e  Paolo  ist  die  Statue  des  Feldherrn  Naldo  (rechtes  Quer- 
schiff, über  der  Thür)  vom  Jahr  1510  ein  ziemlich  lebloses  Werk. 


Mit  oder  bald  nach  den  Bregni  traten  die  L  o  m  b  a  r  d  i  auf, 
vielleicht  nicht  bloss  eine  Familie,  sondern  eine  Colonie  lombardischer 
Bildhauer,  deren  Styl,  wie  wir  sehen  werden,  mit  den  besten  gleich- 
zeitigen Werken  des  übrigen  Oberitaliens  eine  nahe  Verwandtschaft 
zeigt.  Als  Baumeister  und  Decoratoren  werden  ihrer  fünf  oder  sechs 
genannt  (S.  214,  Anm.);  in  der  Sculptur  kommt  hauptsächlich  P  i  e  t  ro 
mit  seinen  Söhnen  Antonio  und  T  u  1  1  i  o  in  Betracht. 

Was  sie  gemeinschaftlich  hervorbrachten,  wird  sich  jetzt  kaum 
mehr  scheiden  lassen.  Pietro's  Namen,  aber  von  späterer  Hand,  habe 
e  ich  nur  an  einer  Statuette  des  heil.  Hieronymus  in  S.  Stefano  (3.  Altar 
links)  entdecken  können;  danach  eine  ganze  grosse  Anzahl  von  Wer- 
ken näher  bestimmen  zu  wollen,  in  welchen  man  die  ,,  Schule  der 


Die  Lombardi. 


623 


Lombardi"  oder  die  „Art  der  L."  im  Allgemeinen  zu  erkennen  pflegt, 
wäre  ein  gewagtes  Unternehmen.  Als  allgemeines  Schulgut  sind  der 
Betrachtung  besonders  werth: 

An  der  Scuola  di  S.  Marco  die  obern  Statuen  zwischen  und  über  a 
den  Rundgiebeln. 

Im  Dogenpalast  an  dem  Vorbau  gegenüber  der  Riesentreppe:  die  b 
Figuren  auf  den  Spitzthürmchen,  zum  Theil  auf  kugel- 
förmigen von  hübschen  Putten  gehaltenen  Untersätzen;  diese  am  besten 
von  der  Sala  del  collegio  aus  sichtbaren  Statuen  sind  zum  Theil  sehr 
geistvoll  und  lebendig,  besonders  die  Prudentia  mit  dem  Spiegel. 

An  S.  Maria  de'  miracoli:  die  sämmtlichen  Aussensculpturen;  c 
der  Gottvater  und  die  anbetenden  Engel  über  und  neben  der  halb- 
runden Obermauer  nur  Decorationsarbeit,  aber  vorzüglich  schön  ge- 
dacht; die  Halbfiguren  der  Propheten  und  Heiligen  in  den  Bogen- 
füllungen  der  obern  Pilasterordnung,  ebenfalls  trefflich  ausdrucksvoll 
und  von  meisterhafter  Arbeit. 

In  der  Capeila  Giustiniani  zu  S.  Francesco  della  Vigna  (links  d 
neben  dem  Chor)  verrathen  von  den  Reliefhalbfiguren  an  den  Wänden 
die  vier  Evangelisten  einen  besonders  geistvollen  Künstler 
(Tu  11  i  o  L,?);  die  übrigen  scheinen  von  demjenigen  noch  etwas  be- 
fangenem, aber  ernsten  und  tüchtigen  Meister,  welcher  die  Halbfiguren  e 
der  Propheten  an  den  Chorschranken  der  Frari  verfertigte.  (Der  Altar 
nebst  Predella  und  Vorsatz,  sowie  der  Relieffries  mit  der  Geschichte 
Christi  sind  zierliche,  aber  geringe  Arbeiten.) 

In  den  Frari  könnten  die  Statuen  der  Apostel  und  Heiligen  über  £ 
den  Chorschranken  am  ehesten  ein  Werk  dieser  Schule  sein.    Ausser- 
dem wird  derselben  dort  das  Grab  des  Jacopo  Marcello  (f  1484)  ver- 
muthungsweise  zugeschrieben  (im  rechten  Querschiff,  rechts). 

In   S.   Stefano  enthält  ausser  der  genannten  Arbeit  die   Sacristei  g 
zwei  halbe   und  zwei  ganze  Heiligenfiguren  des  Pietro;   letztere  für 
ihn  vorzüglich  charakteristische  Werke. 

In   S.   Giovanni  e  Paolo  ist  das  Dogengrab  Mocenigo   (f   1476),  h 
rechts  vom  Portal,  eine  gemeinschaftliche  Arbeit  des  Pietro,  An- 
tonio und  T  u  1 1  i  o  ;  ein  Haupttypus  der  frühern  Gräber  dieser  Art, 
mit  lauter  Helden,  die  den  Sarg  tragen  und  in  Seitennischen  stehen, 


524       Scnlptar  d.  XV.  Jahrb.   Venedig.   Die  Lombardi.  Leopardo. 

mit  Putten,  welche  aus  Engeln  zu  kriegerischen  Pagen  geworden  sind, 
mit  Trophäen  und  Herculesthaten  in  Relief;  das  Christliche  beschränkt 
sich  auf  ein  oberes  Flachrelief,  die  Frauen  am  Grabe,  und  auf  kleine 
Giebelstatucn  des  Erlösers  und  zweier  Engel  —  von  schönem  Aus- 
druck, während  das  Übrige  von  mittlerm  Werthe,  der  Doge  nur  durch 
seinen    Porträtkopf    ausgezeichnet    ist.    —    Ebendaselbst    im    linken, 

a  Seitenschiff  das  Dogengrab  Marcello  (f  1474),  anonym,  aber  ohne 
Zweifel  ebenfalls  aus  dieser  Werkstatt,  am  ehesten  von  P  i  e  t  r  o 
selbst,  mit  vier  in  seiner  Art  hübschen  Tugenden, 

b  Die  vergoldete  Madonna  an  der  Torre  deU'  Orologio,  welche  eben- 
falls dieser  Schule  zugeschrieben  wird,  ist  von  gutem  und  mildem 
Ausdruck,  aber  in  der  Anordnung  nicht  geschickt  1). 

P  i  e  t  r  o  und  Antonio  arbeiteten  endUch  (1505— 1515)  die  Mo- 

c  delle  der  grossen  Bronzearbeiten  in  der  Capeila  Zeno  zu  5. 
Marco  gemeinschaftlich  mit. 

Alessandro  Leopardo,  der  ebenfalls  das  Haupt  einer  be- 
trächtlichen eigenen  Werkstatt  war.   Ihm  wird  vor  Allem  das  schönste 

d  der  Dogengräber  beigelegt,  dasjenige  des  Andrea  Vendramin 
(t  1478)  links  im  Chor  von  S.  Giovanni  e  Paolo,  Verglichen  mit  den 
Gräbern  des  P.  Lombardo  ist  schon  die  Eintheilung  besser,  ohne  jene 
allzugleichartigen  Wiederholungen;  die  untern  Figuren  —  drei  Genien 
mit  Leuchtern  am  Sarcophag,  zwei  Helden  in  Seitennischen  und  zwei 
später  beigefügte  Figuren  —  haben  die  nöthige  freie  Luft  über  sich; 
oben  folgen  nur  Reliefs  verschiedenen  Grades  und  eine  leichte  Giebel- 
verzierung, Sirenen,  welche  einen  Medaillon  mit  dem  Christuskinde 
halten;  auch  unten  an  dem  herrlich  verzierten  Sockel  sind  die  Engel 
mit  der  Schrifttafel  und  die  beiden  Putten  auf  Meerwundern  in  Relief 
gebildet.  Dieser  Sinn  des  Masses  und  der  Abstufung  bezeichnet  hier 
allein  schon  den  grossen  Künstler,  ebenso  die  Behandlung  des  Ein- 
zelnen, Zwar  sind  seine  Motive  zum  Theil  kaum  entschiedener  als 
die  der  Lombardi;  seine  Helden  stehen,  seine  Engel  laufen  nicht 
freier  und  besser;     nur  in  den  Tugenden  am   Sarcophag    fällt  eine 


1)  In    Ravenna   werden   dem    Pietro    Lombardo    oder    den    Lombardi    überhaupt   beigelegt:    eine 
*  Altareinfassung   und   ein    Grabmal   in    S.    Francesco,    und    ein    S.    Marcus   (Hochrelief,    da- 
tirt  1491)  im  Dom,  ein  ausgezeichnetes  Werk. 


Leopardo.    Die  Gapella  Zeno. 


625 


edlere  und  freier  abwechselnde  Stellung  auf,  welche  auf  einem  sehr 
unmittelbaren  Studium  der  Antike  beruhen  muss.  Das  Beste  aber 
hat  L.  nicht  aus  dieser  Quelle;  ich  meine  die  wunderbare  Süssigkeit 
und  Milde  der  reichgelockten  jugendlichen  Köpfe,  die  in  dieser  Zeit 
geradezu  nur  bei  Lionardo  da  Vinci  ihres  Gleichen  finden.  Und  der 
eine  herrliche  Putto,  welcher  auf  seinem  Seepferd  so  wohlgemuth  über 
die  Wellen  gleitet,  ist  auch  wohl  ebenso  von  Leopardo  beseelt,  wie  die 
Putten  der  Galatea  es  von  Rafael  sind. 

Ausserdem  sind   notorisch   von   Leopardo   die  drei   Flaggen-a 
h  a  1 1  e  r  auf  dem  Marcusplatz,  deren  Figürliches  dieselbe  Benützung 
antiker  Vorbilder  mit  grossem  natürlichem  Schönheitssinn  verbunden 
offenbart  1). 

Nach  Massgabe  dieser  Werke  hat  man  nun  auszuscheiden,  welche 
Theile  der  Sculpturen  in  der  Cap.  Zeno  zu  S.  Marco  ihm  gehören.  Es  b 
handelt  sich  um  eine  der  prachtvollsten  Grabstätten  des  XVI.  Jahr- 
hunderts, diejenige  des  Cardinais  Gio,  Batt,  Zeno.  An  dem  Sarco- 
phag  selbst  sind  wohl  die  sechs  zum  Theil  den  Deckel  haltenden 
Tugenden  von  Leopardo;  sie  erscheinen  allerdings  freier,  ihm  mehr 
gemäss,  weniger  durch  die  Antike  befangen  als  diejenigen  am  Grab- 
mal Vendramin.  Die  liegende  Statue  des  Cardinais  ist  schwer  zu 
definiren.  Auf  dem  Altar  sind  die  Statuen  des  Petrus  und  des  Täu- 
fers Johannes  wohl  am  ehesten  von  Pietro  oder  Antonio  Lombardi, 
herrliche  Köpfe,  welche  die  unvollkommene  Stellung  wohl  gut  machen; 
ebenso  das  Relief  des  Thronhimmels  (Gottvater  mit  Engeln).    Die  be- 


')  Hier   oder   nirgends   sind  zwei    Reliefs   unterzubringen,   welche   zu   den   schönsten   in   Vene- 
dig gehören.      In   einer   Nebencapelle   des   rechten    Querschiffes   von    S.    Trovaso   findet   sich  * 
ein   Altarvorsatz,   der   in   flacher,    etwas  unterhöhlter   Arbeit   Engelkinder   mit   den   Passions- 
instrumenten   (ähnlich     denjenigen    in    dem    muranesischen    Altarbild    der    Krönung    Maria 
in  der  Academie)  und  seitwärts  musicirende  Engel  darstellt,    von    der    naivsten  Anmuth^  in   ** 
Köpfen    und    Geberden    und    mit    grossem,    raffinirtem    Geschick    der    Verkürzungen.      Man 
glaubt  ein   florentinisches  Werk  vor  sich  zu  sehen,   bis  man  dieselbe  Behandlung  in  einem 
Relief    der    Camera   a    letto    des     Dogenpalastes     wi  der     erkennt;     zwei    Heilige    empfehlen  f 
den  knieenden  Dogen   und  den  Patriarchen  der  thronenden  Madonna  ;   es  ist  die  Seele  Gio- 
vanni Bellini's  in  Marmor.     Das  Christuskind  schreitet  über  der  Mutter   Knie  den  Männern 
freundlich  entgegen.     Ob  diese  köstlichen  Werke  von  L.  sind,   mag  zweifelhaft  bleiben;  aber 
sie  kommen  seiner  Art  näher  als  der  aller  Übrigen. 


626 


Scalptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Die  Lombardi. 


rühmte  Madonna  della  Scarpa  dagegen,  dieser  reine  Gedanke  der  gol- 
denen Zeit  Giov.  Bellini's,  mag  wiederum  eher  dem  Leopardo  ange- 
hören. Vorzüglich  schön  ist  das  auf  ihrem  rechten  Knie  sitzende 
Kind,  welches  sich  eben  zum  Segnen  anschickt. 


Unter  diesen  gemischten  Eindrücken  scheinen  Pietro  Lom- 
bard o  '  s  Söhne  Antonio  und  T  u  1 1  i  o  aufgewachsen  zu  sein. 
Von  Antonio  w^erdcn  meines  V/issens  nur  zwei  sichere  Einzelarbeiten 
namhaft  gemacht:  die  Statue  des  h.  Thomas  von  Aquino  über  dem 

a  Grabmal  Trevisan  i)  im  linken  Seitenschiff  der  Frari,  und  in  S.  An- 
tonio zu  Padua,  Cap.  del  Santo,  das  neunte  Relief,  wovon  unten.  Er 
folgt  oder  geht  voran  (im  Styl)  seinem  berühmtem  Bruder 

T  u  1 1  i  o.  Von  Leopardo  und  von  dem  Studium  der  Antike  zu- 
gleich berührt,  hat  er  diese  Einwirkungen  mit  der  Lehre  seines  Vaters 
in  einen  gewissen  Einklang  gebracht.  Sein  grosser  Schönheitssinn  hat 
sich  zwar  in  gewisse  Manieren  verfangen,  da  die  innere  Kraft  dem- 
selben nicht  gleich  stand.  (Feine,  wie  gekämmte  Falten,  unnütze 
Zierlichkeiten  der  Haare,  conventioneile  Stellungen  etc.)  An  sicherer 
Naivetät  steht  er  dem  Leopardo  beträchtlich  nach.  Allein  im  günsti- 
gen Fall  hat  er  Werke  hervorgebracht,  welche  nicht  zu  den  grossar- 
tigsten, wohl  aber  zu  den  ansprechendsten  jener  Zeit  zu  rechnen  sind. 

b  Zum  Frühsten  möchten  diejenigen  Arbeiten  in  S.  Maria  de'  mira- 
coli  gehören,  welche  ich  ihm  glaube  zuschreiben  zu  müssen;  es  sind 
die  halben  Figuren  auf  der  Balustrade  der  Chortreppe  —  worunter 
Maria  und  gegenüber  der  Engel  Gabriel  vielverheissend  erscheinen 
wie  Jugendwerke  Rafaels  —  und  die  Relief  Scheiben  an  den  meisten 

c  Thürpfosten.  Dann  sind  datirt  vom  J.  1484  die  vier  knieenden  Engel, 
welche  das  Taufbecken  in  S.  Martino  (links)  tragen,  schön  gedacht, 
mit  andächtigen  und  anmuthigen  Köpfen.     Nicht  viel  später  möchte 

d  das  grosse  Relief  in  S.  Giovanni  Crisostomo(2.  Altar  links) 
entstanden  sein;  Christus,  von  den  Aposteln  umgeben,  legt  die  Hand 


^)  Von   wem   ist   an    diesem    Grabe   die   Porträtstatue    des   jungen,    1528   verstorbenen    Alvise 
Trevisan?     Jedenfalls  ein  Muster  des  nobeln  Liegens  eines  vornehmen  Todten. 


Antonio  ond  Tnllio  Lombardo. 


627 


auf  eine  gekrönte  Frau;  wahrscheinlich  eine  etwas  ungewöhnliche 
Darstellung  der  Krönung  Maria,  womit  auch  die  oben  erscheinende 
Glorie  wohl  stimmen  würde.  In  den  Köpfen,  zumal  der  Hauptper- 
sonen, ist  eine  eigenthümliche  classische  Idealität  erstrebt,  die  in  der 
damaligen  Sculptur  sonst  kaum  vorkömmt.  —  Von  den  untern  Sculp- 
turen  der  Scuoladi  S.  Marco  kommen  die  zwei  ziemlich  befange-  a 
nen  Löwen  weniger  in  Betracht  als  die  zwei  Thaten  des  heil.  Marcus, 
bei  welchen  dem  Künstler  nicht  bloss  römische,  sondern  griechische 
Reliefs  scheinen  vorgelegen  zu  haben,  wie  besonders  aus  der  Behand- 
lung der  hinten  stehenden  Personen  erhellt.  Womit  dann  die  perspec- 
tivisch  gegebene  Halle,  die  den  Raum  darstellt,  wunderlich  contrastirt. 
—  Ebenfalls  noch  früh:  das  Dogengrab  Mocenigo  (f  1485)  in  S.  Gio-  b 
vanni  e  Paolo,  links  vom  Portal;  hier  ist  von  den  allegorischen  Sei- 
tenfiguren die  eine  nach  einem  bekannten  antiken  Musenmotiv  unmit- 
telbar copirt;  in  dem  Sockelrelief  sucht  Tullio  eher  seine  Manier  mit 
dem  süssen  Ausdruck  Leopardo's  zu  verbinden. 

Von  den  spätem  Arbeiten  der  beiden  Brüder  enthält  die  Capelle 
des  h.  Antonius  im  Santo  zu  Padua  das  Wichtigste.  Wir  lernen 
hier  (im  neunten  Relief,  wo  der  Heilige  ein  kleines  Kind  zum  Sprechen  c 
bringt)  den  Antonio  Lombardi  als  bedeutenden  Componisten  kennen; 
von  der  Schönheit  der  Antike  erscheint  er  auf  unbefangnere  Weise 
durchdrungen  und  geleitet  als  Tullio.  Letzterem  gehören  das  sechste  d 
und  das  siebente  Relief  (wie  der  Heilige  die  Leiche  eines  Geizhalses 
öffnet  und  statt  des  Herzens  einen  Stein  findet;  wie  er  das  gebrochene 
Bein  eines  Jünglings  heilt);  das  erstere,  bez.  1525,  muss  ein  Werk 
seines  hohen  Alters  sein,  und  es  ist  das  freiere,  weichere  von  beiden; 
denn  das  siebente  hat  bei  bedeutenden  Schönheiten  auch  noch  alle 
Unarten  der  frühern  Werke  Tullio's. 


Ein  Zeitgenosse,  vielleicht  ebenfalls  eher  Lombarde  als  Venezianer, 
Antonio  Dentone,  hält  in  den  Bildnissfiguren  an  dem  charakter- 
vollen Naturalismus  fest,  während  seine  Idealfiguren  theils  eine  mehr 
allgemeine  Formenbildung,  theils  ein  Hinneigen  zu  dem  übertriebenen 
Ausdruck  eines  Mazzoni  verrathen.  So  das  Relief  einer  Pieta  mit  e 
Heiligen,  in  der  Salute  (Vorraum  der  Sacristei),  wenn  ihm  dasselbe 


628 


Scülptür  des  XV.  Jahrhanderts.    Venezianer. 


a  mit  Recht  beigelegt  wird.  An  dem  Grabmal  des  Feldherrn  Melchior 
Trevisan  (f  1500)  in  den  Frari  (2.  Cap.,  links  vom  Chor)  ist  die  Por- 
trätstatue eine  der  besten  in  jener  herben  Art,  die  beiden  gepanzerten 
Putten  dagegen  nur  allgemeines  Schuigut.     Ebenso  verhält  es  sich 

b  mit  dem  Denkmal  des  Vittor  Capello  (1480)  im  linken  Querschiff  von 
S,  Giovanni  e  Paolo;  der  knieende  Ritter  ist  voll  Wahrheit  und  In- 
nigkeit, die  heil.  Helena,  welche  vor  ihm  steht,  ziemlich  unsicher  in 

c  Haltung  und  Zügen.  Die  artige  Halbfigur  einer  Heiligen  in  der  Ab- 
bazia  (Capelle  hinter  der  Sacristei)  steht  doch  nur  mit  Pietro  Lom- 
bardo  parallel. 


Eine  andere  gute  anonyme  Arbeit,  welche  im  Ausdruck  an  die 

d  Gemälde  des  Cima  da  Conegliano  erinnert,  ist  das  Bronzerelief  einer 
Madonna  mit  Heiligen  im  rechten  Seitenschiff  von  S.  Stefano  (bei  der 
Sacristeithür). 

Dagegen  erscheinen  die  Apostel  an  beiden  Wänden  des  Chores 

e  daselbst,  von  einem  gew.  Vittor  Camelo,  nur  als  zaghafte  Ar- 
beiten eines  Schülers  der  Lombardi.  —  Von  demselben  Künstler  aber 

f  enthält  die  Academie  zwei  kleine  bronzene  Hochreliefs  mit  Scenen 
nackter  Kämpfenden,  etwa  für  ein  Feldherrngrab  bestimmt;  überaus 
lebendig  und  dabei  für  jene  Zeit  und  Schule  gar  nicht  überfüllt,  sondern 
plastisch  componirt,  im  Ganzen  von  den  besten  damaligen  Reliefs. 

g  Den  Pyrgoteles,  welcher  die  Madonna  in  der  Thürlunette  von 
S.  Maria  de'  miracoli  gemacht  hat,  möchte  man  für  einen  begabten 
Dilettanten  halten,  der  glücklich  einen  schönen  Kopf  und  ein  interes- 
sant scheinendes  Motiv  gefunden  hat.  (Das  Kind  fasst  den  Daumen 
an  der  Hand  der  Mutter,  auf  welcher  es  sitzt.)  Man  glaubt,  der  Künst- 
ler habe  der  bekannten  griechischen  Familie   der  Lascaris  angehört. 


In  Padua  hatte  D  o  n  a  t  e  1 1  o   längere  Zeit  gearbeitet  und  sein 

Einfluss  überwiegt  noch  das  ganze  Jahrhundert  hindurch,  obwohl  auch 

die  verschiedenen  venezianischen  Schulen  daneben  vertreten  sind. 

Einem   seiner  toscanischen   Schüler,   Giovanni   von   Pisa, 

h  gehört  das  thönerne   Altarrelief  der   Cap.    SS.    Jacopo   e   Cristoforo 


Paduanlsche  Nachfolger  Donatello's. 


62g 


(Eremitani),  Madonna  mit  sechs  Heiligen  nebst  Predella,  Puttenfries 
u.  a.  Zuthaten.  Neben  die  Sculpturen  der  Lombardi  etc.  gehalten,  zeugt 
diess  Werk  bei  allen  Härten  doch  deutlich  für  die  siegreiche  toscanische 
Leichtigkeit,  alle  Lebensäusserungen  sich  eigen  zu  machen  und  dar- 
zustellen. 

Auch  der  Paduaner  V  e  1 1  a  n  o  war  D.'s  Schüler  und  seine  Bronze- 
reliefs an  den  Chorwänden  des  Santo  (1488)  zeigen  deutlicher  als  irgend  a 
ein  toscanisches  Schulwerk,  wohin  man  gelangen  konnte,  wenn  man 
Donatello's  Freiheiten  nachahmte,  ohne  seinen  Verstand  und  seine  all- 
belebende Darstellungsgabe  zu  besitzen.  Es  sind  ganz  kindlich  auf- 
geschichtete Historien  in  zahllosen,  sorgfältigen  Figürchen. 

Dagegen  lebte  in  Andrea  Briosco  genannt  R  i  c  c  i  0  (Crispus, 
von  seinen  gelockten  Haaren)  der  echte  Geist  der  grossen  Zeit.  Das 
Figürliche  an  seinem  berühmten  ehernen  Candelaber  im  Chor  des  b 
Santo  (Seite  254, 1)  ist  zwar  um  so  viel  glücklicher,  je  mehr  es  sich 
dem  Decorativen  nähert  (Nereidenzüge,  Centauren  u.  s.  w.),  aber  auch 
die  überfüllten  erzählenden  Reliefs  sind  geistvoll  und  originell.  In  den 
zwei  Reliefs  jener  von  Vellano  begonnenen  Reihe  an  den  Chorwän-  c 
den,  welche  dem  Riccio  angehören,  zeigt  sich  eine  ungemeine  Über- 
legenheit. (David  vor  der  Bundeslade;  Judith  und  Holofernes,  vom 
Jahr  1507.)  Der  Styl  des  XV.  Jahrh.  ist,  wie  überall,  so  auch  hier, 
dann  am  reizendsten,  wenn  er  sich  dem  idealen  Styl  zu  nähern  be- 
ginnt. 

In  derselben  Art  sind  noch  eine  Anzahl  anderer  Sculpturen  gear- 
beitet, deren  Urheber  dem  Verfasser  nicht  bekannt  sind.  —  In  S.  Fran- 
cesco sieht  man  (linkes  Querschiff)  ein  grosses  Bronzerelief  der  thro-  d 
nenden  Jungfrau  zwischen  zwei  heil.  Mönchen,  und  (rechtes  Querschiff) 
das  ebenfalls  bronzene  Grabrelief  eines  Professors,  der  hinter  seinem 
Schreibtisch,  Bücher  nachschlagend,  abgebildet  ist;  zu  beiden  Seiten 
Putten  als  Schildhalter,  angenehme  Werke,  wenn  auch  ohne  höheres 
Leben.  —  In  den  Eremitani  (rechts  und  links  von  der  Thür)  gewal-  e 
tige  Tabernakel  von  Terracotta,  bemalt,  mit  grossen  Statuen  und  zahl- 
reichen, auch  decorativ  nicht  werthlosen  Zuthaten,  der  eine  (mit  dem 
Gemälde  in  der  Mitte)  datirt  151 1.  In  beiden  scheint  der  Styl  Dona- 
tello's und  derjenige  der  Lombardi  gemischt. 


KmttiN^sßilit^ 


630 


Sculptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Padaa.    Verona. 


a  In  der  Academie  von  Venedig  sind  einige  bedeutende  Bronze- 
r  e  li  e  f  s  aus  Riccio's  Schule;  das  einzige,  welches  in  der  That  so  be- 
zeichnet ist,  eine  Himmelfahrt  Maria  mit  den  Jüngern  am  Grabe,  ist 
in  dem  kleinen  Massstab  erhaben  gedacht,  irn  Ausdruck  tief  und  innig, 
in  Zeichnung  und  Composition  Ghiberti  vergleichbar,  überhaupt  eines 
der  Meisterwerke  italienischer  Sculptur;  —  vier  andere,  dem  Riccio 
selber  zugeschrieben  und  von  15 13  datirt,  enthalten  die  Geschichte 
der  Kreuzerfindung;  im  Detail  sind  sie  dem  erstgenannten  wohl  ver- 
wandt, aber  viel  überfüllter  und  in  manchen  Motiven  sogar  flau  und 
unrein;  —  dagegen  ist  die  Thür  eines  Sarramenthäuschens,  welche 
ohne  allen  Grund  dem  Donatello  zugeschrieben  wird,  wohl  des  Mei- 
sters der  Himmelfahrt  Maria  würdig;  unter  einem  Renaissanceportal 
sieht  man  eine  anmuthige  Engelschaar;  die  mittlem  halten  ein  Kreuz; 
an  der   Basis  zwei  kleine  Reliefs  mit  Passionsscenen.    —  Von  dem 

b  etwas  spätem  Medailleur  C  a  v  i  n  o  ,  der  die  sog.  Pataviner-Münzen 
machte,  befindet  sich  ebenda  ein  peinlich  fleissiges  Relief,  S.  Martin 
mit  dem  Bettler. 


Wie  im  übrigen  Oberitalien  der  realistische  Styl  des  XV.  Jahr- 
hunderts eindrang,  ist  der  Verfasser  nicht  im  Stande  näher  anzugeben. 
Reisende  Florentiner,  auch  wohl  die  Einwirkung  Quercia's  von  Bo- 
logna her  mögen  Das  vollendet  haben,  wozu  der  Antrieb  schon  in  der 

c  Zeit  lag.  Man  sieht  z.  B.  in  S.  Fermo  zu  Verona  (links  vom  Haupt- 
portal) das  Familiengrab  Brenzoni,  angeblich  von  einem  Florentiner 
G  i  o  V.  R  u  s  s  i  ,  welches  in  einer  schön  realistisch,  doch  nicht  in  Do- 
natello's  Manier  belebten  Wandgruppe  die  Auferstehung  darstellt;  der 
Sarcophag  ist  zum  Grab  Christi  umgedeutet,  vor  welchem  die  schla- 
fenden Wächter  sehr  gut  und  geschickt  angebracht  sind;  ein  Engel 
hält  den  Grabstein,  andere  die  Leuchter,  Putten  ziehen  den  Vorhang. 
—  Von  diesem  Geiste  berührt  mag  dann  ein  Einheimischer  das  schon 

d  (S.  167,  c)  erwähnte  Reiterdenkmal  des  Sarego  (1432)  im  Chor  von 
S.  Aiiastasia  zu  Verona  geschaffen  haben.  Vor  und  hinter  dem  Feid- 
herrn  stehen  —  nicht  mehr  auf  gothischen  Consolen,  sondern  auf  na- 
turalistisch dargestellten  Felsstufen  —  zwei  geharnischte  Knappen, 
welche  den  Vorhang  des  Baldachins    auf    die  Seite    halten;  der  vor- 


Verona.    Bergamo. 


631 


dere  zieht  die  Mütze  vor  dem  Herrn;  auf  dem  Gipfel  des  Baldachins 
ein  Schildhalter.  Diess  ganze,  durchaus  profane  Werk  ist  umgeben 
von  einer  barock-gothischen  Einrahmung;  erst  über  dieser  folgen  — 
in  Fresco  —  Engel,  Heilige  und  Legendenscenen.  Auch  alles  Plasti- 
sche ist  bemalt. 


Was  sonst  im  Westen  von  Venedig  bis  ins  Herzogthum  Mailand 
hinein  von  Sculpturen  seit  etwa  1450  vorkömmt,  hat  fast  durchgängig 
eine  nahe  Verwandtschaft  mit  dem  Styl  der  Lombardi,  deren  Na- 
men wir  desshalb  (S.  622)  unbedenklich  als  Landesnamen  in  Anspruch 
genommen  haben.  Es  sind  dieselben  conventioneilen  Stellungen,  Ge- 
wandmotive, Kopfbildungen,  nur  nicht  eben  häufig  mit  der  Präcision 
eines  Pietro  Lombardo  und  noch  seltener  mit  dem  süssen  Reiz  eines 
Leopardo  durchgeführt. 

In  V  e  r  o  n  a  trifft  man  auf  eine  Menge  Giebelstatuen,  hauptsäch- 
lich über  den  Renaissancealtären  der  altern  Kirchen,  welche  diesen 
allgemeinen  Schultypus  wiedergeben.  So  diejenigen  im  Dom,  in  S.  Ana-  a 
stasia  u.  a.  a.  0.;  auch  die  über  dem  Portal  des  bischöflichen  Palastes  b 
(dat.  1502);  die  fünf  berühmten  Veronesen  auf  der  Dachbalustrade  des  c 
Palazzo  del  consiglio  u.  s.  w.     Das  Bedeutendste  enthalten  ein  paar 
Altäre  in  S,  Anastasia:  der  4.  links  mit  vier  Statuen  über  einander  d 
auf  jeder  Seite,  von  reinem  und  gutem  Ausdruck;  der  S.  Sebastian 
keine  geringe  Bildung;    —  und  der  erste  links,  mit  bemalten   Sta- 
tuen auf  den  Seiten  und  im  Giebel,  naturalistischer  und  befangener, 
aber  von  bedeutendem  Charakter  und  beseelt  von  Andacht;  die  drei 
Hauptstatuen  des  Altares  selbst  wohl  von  anderer  Hand. 

Im  Dom  von  B  r  e  s  c  i  a  (3.  Altar,  rechts)  ist  der  Marmorschrein  e 
des  heil.  Apollonius    mit    seinen  Legendenreliefs  und  Statuetten  ein 
sehr  sorgfältiges,    doch  nicht    gleichmässig  belebtes  Werk  der  Zeit 
um  1500. 

In  Bergamo  enthält  die  Capelle  Colleoni  bei  S.  Maria  f 
maggiore  ausser  den  reichen  Fassadensculpturen  das  prächtige  Grabmal 
des  Feldherrn  Bartolommeo  Colleoni  selbst,  theilweise  von  Antonio 
A  m  a  d  e  o.     Vier  auf  Löwen  ruhende  Säulen  tragen  eine  Basis  mit 
Passionsreliefs,  ganz  von  der  fleissigen  und  säubern  aber,  im  Ausdruck 


632 


Sculptar  des  XV.  Jahrhunderts.    Bergamo. 


bis  zur  gemeinen  Grimasse  übertriebenen  Art,  welche  wir  bei  Maz- 
zoni  werden  kennen  lernen.  Auf  der  Basis  sitzen  und  stehen  füni 
Heldenstatuen,  die  zum  Bedeutendsten  der  ganzen  oberitalischen  Sculp- 
tur  gehören;  das  Äusserliche  der  Behandlung  ist  in  der  Art  der  Lom- 
bardi,  die  Motive  (des  Sinnens)  aber  geistvoller  und  origineller  als  die 
meisten  Werke  derselben.  Geringer  sind  wiederum  die  obern  Theile: 
die  Reliefs  am  Sarcophag  selbst  und  die  Reiterstatue  darüber,  nebst 
den  Tugenden  zu  beiden  Seiten,  von  verschiedenen  Händen.  —  Ebenda 

a  das  Denkmal  der  Medea,  CoUeoni's  Tochter,  mit  drei  köstlichen  alle- 
gorischen Figuren.  (Die  beiden  Engel,  welche  den  Altartisch  tragen, 
bei  leichter  Anmuth  doch  ernst  aufgefasst,  mögen  von  einem  treff- 
lichen Lombarden  zu  Anfang  des  XVI.  Jahrh.  gefertigt  sein.)  —  An 

b  der  Aussenseite  der  Capelle  sind  ein  paar  Putten  oben  und  die  Sockel- 
reliefs mit  den  Geschichten  der  Genesis  und  den  Thaten  des  Hercu- 
les des  herben  und  tüchtigen  Styles  wegen  bemerkenswerth,  die  Denk- 
mäler Cäsars  und  Trajans  aber,  welche  als  Aufsätze  der  Fenster  dienen, 
sowie  die  in  Medaillons  angebrachten  Köpfe  des  Augustus  und  Ha- 
drian  geben  wenigstens  einen  Begriff  von  der  damaligen  Vergötterung 
des  Alterthums, 


Im  Dom  von  C  o  m  o  lernt  man  zunächst  den  Vollender  des  Baues 
selbst,  Tommaso  Rodari,  auch  als  Bildhauer  und  Decorator  ken- 
c  nen;  sein  Antheil  an  der  nördlichen  Seitenpforte  i)  und  der  von  ihm 
d  verfertigte  erste   Altar  des  rechten   Seitenschiffes  (datirt   1492,   mit 
Marmorreliefs)  verrathen  jedoch  ein  nur  mittelmässiges  Talent.    Die 
zahlreichen  übrigen  Sculpturen  an  und  in  diesem  schönen  Gebäude 
sind  zum  Theil  bedeutender.  —  Von  mehr  oder  weniger  befangenen  lom- 
bardischen Künstlern  der  Zeit  um  1470 — 1500  rühren  her:  die  meisten 
e  Bildwerke  an  der  Fassade,  also  die  Statuen  in  den  Nischen  der  Pi- 
laster,  über  dem  Hauptportal,  in  den  Fenstergewandungen  und  weiter 
oben,  sowie  die  Reliefs  der  drei  Portallunetten;  ferner  im  Innern:  die 
Apostel  an  den  Pfeilern  des  Hauptschiffes,  mittelgute  Arbeiten  ganz 


')  Wie  dort  über  die  römischen  Kaiser,  so  darf  man  sich  hier  über  Bacchanten,  Centauren, 
Hercules,  Genius  Imperatoris  u.  a.  Heidenthum  nicht  verwundern.  Die  Lunettengruppe  ent- 
hält wenigstens  Maria  Heimsuchung. 


Dom  von  Como. 


633 


in  der  Weise  der  Lombardi;  die  Gruppe  einer  Picta  auf  dem  4.  Altar 
links;  der  Tabernakel  ohne  Altar  am  Anfang  des  rechten  Seitenschiffes, 
datirt  1482  u.  a.  m.  —  Von  den  Lombardi  und  von  der  Richtung  Do-  a 
natello's  zugleich  inspirirt  erscheint  dann  der  prächtige  grosse  Schnitz- 
altar i)  des  heil.  Abondio  (der  2.  im  rechten  Seitenschiff),  Der  Meister 
desselben  ist  kein  grosser  Bildhauer,  der  die  lombardische  Sculptur 
über  die  Schranken  des  XV.  Jahrh.  emporgehoben  hätte;  in  seinen 
Statuen  und  Reliefs  sind  Stellungen  und  Bildungen  zum  Theil  ziem- 
lich unfrei  und  unsicher;  allein  sein  Naturalismus  schwingt  sich  bis-  > 
weilen  zu  einer  ganz  unbefangenen  Schönheit  auf,  so  in  der  würdigen 
Gestalt  des  heil.  Bischofs  und  in  dem  lionardesken  Haupt  der  Ma- 
donna. —  Vielleicht  dieselbe  Hand  verräth  sich  auch  in  den  Denkmä- 
lern des  altern  und  des  Jüngern  Plinius  an  der  Fassade  (das  eine  b 
datirt  1498),  deren  sitzende  Statuen  manierirt  und  doch  nicht  ohne 
freie  Schönheit  sind;  mit  grosser  Naivetät  stellen  die  Reliefs  den  al- 
tern Plinius  dar,  wie  er  zum  brennenden  Vesuv  geht,  den  Jüngern  wie 
er  Briefe  schreibt,  vor  Trajan  plaidirt  etc.;  die  Putten  mit  Frucht- 
kränzen u.  s.  w.  zeigen  dieselbe  Verwandtschaft  mit  denjenigen  der 
paduanischen  Malerschule,  wie  die  der  meisten  genannten  Decorations- 
werke Oberitaliens. 

Das  Beste  aus  dem  XV.  Jahrh.  sind  wohl  an  diesem  Gebäude 
die  Urnenträger  unter  dem  Kranzgesimse  der  Strebepfeiler;  ei-  c 
nige,  zumal  an  der  Südseite,  stehen  an  origineller  Energie  denjenigen  von 
S.  Marco  in  Venedig  gleich,  während  andere  schon  eine  spätere  und 
allgemeinere  Formenbildung  zeigen.  Auch  die  Prophetenstatuen  an  der 
Südseite  des  Äussern  sind  besser  als  die  der  Nordseite.  Von  den  Sta- 
tuen im  Innern  ist  noch  ein  guter  S.  Sebastian  im  linken  Querschiff,  d 
etwa  um  1530  gearbeitet,  nachzuholen;  ebenda  eine  S.  Agnes,  als 
Nachahmung  einer  antiken  Gewandfigur;  die  übrigen  Statuen  im 
linken  Querschiff  sind  ziemlich  flau,  die  Apostel  im  Chor  modern. 


1)  Ich  nenne  ihn  so,   ohne  bei  der  durchgängigen  Bemalung  und  Vergoldung  gewiss  zu  sein, 
dass  er  wirklich  ganz  aus  Holz  und  nicht  zum  Theil  aus  Stucco  u.  s.  w.  bestehe.  Vom  Nor- 
den her  kamen  damals  mehrere   Schnitzaltäre  nach  Oberitalien,   wovon   einer  in  S.   Nazaro 
zu   Mailand,    vordere    Capelle   links,    im    Styl    durchaus   dem    St.    Evergisilaltar    in  S.    Peter  * 
zu  Köln  entspricht.     Eine  italienische  Nachahmung  derselben  ist  der  in  Rede  stehende. 


Uiciccrone. 


4» 


634 


Sculptnr  des  XV.  Jahrhunderts.    Certosa  von  Pavla. 


An  der  Fassade  der  Cathedrale  von  Lugano  sind  unten  derbere 
Reliefhalbfiguren  von  Propheten,  in  den  Friesen  dagegen  Medaillons 
mit  Halbfiguren  von  Aposteln  und  Heiligen  angebracht,  letztere  zum 
Theil  von  demselben  süssen  und  innigen  Ausdruck,  wie  die  entspre- 
chenden Figuren  an  S.  Maria  de'  miracoli  in  Venedig,  nur  freier  in 
den  Formen. 


b  Über  die  Sculpturen  endlich,  welche  die  Fassade  der  berühmten 
Certosa  von  Pavia  bedecken  und  auch  das  Innere  dieser  unvergleich- 
lichen Kirche  verherrlichen,  darf  ich  aus  ziemlich  alter  Erinnerung 
und  aus  wenig  getreuen  Abbildungen  kein  Urtheil  wagen.  Es  wer- 
den vom  XV.  bis  zum  XVH.  Jahrh.  gegen  30  Bildhauer  und  Deco- 
ratoren  bloss  für  die  Fassade  namhaft  gemacht,  worunter  Antonio 
A  m  a  d  e  o  und  Andrea  Fusina  für  das  XV.,  G  i  a  c  o  m  o 
della  Porta  und  Agostino  Busti,  genannt  B  a  m  b  a  j  a  , 
für  das  XVI.  Jahrh.  die  wichtigsten  sind.  (Am  Prachtdenkmal  des 
Giangaleazzo  Visconti  arbeiteten  besonders  Amadeo  und  della  Porta,) 
Die  ganze  lombardische  Sculptur  hatte  hier  ihren  Heerd  und  ihre 
Schule;  von  hier  könnten  selbst  die  Lombardi  ausgegangen  sein.  Der 
Verfasser  empfindet  es  als  die  grössten  Mängel  dieses  Buches,  dass 
er  diese  Certosa  und  die  Sculpturen  von  Loretto  nicht  so  besprechen 
kann,  wie  das  Verhältniss  zu  allem   Übrigen  es  verlangen  würde  i). 


Neben  all  diesen  zum  Theil  sehr  realistisch  gesinnten  Bildhauern 
Oberitaliens  tritt  wenigstens  Einer  auf,  der  sie  in  dieser  Richtung  so 
weit  überholt,  dass  sie  neben  ihm  noch  als  Idealisten  erscheinen.  Seit 
dem  Untergang  des  architektonisch  bedingten  germanischen  Styles  von 
jeder  Rücksicht  entbunden,  schafft  die  Kunst  hier  eine  Anzahl  von 
Gruppen,  welche  als  solche  weder  einem  plastischen,  noch  auch  einem 


^)  Ein    Ambrogio    da    Milano    nennt    sich    auf    dem    Grabmal    des    Bischofs    Roverella 

*  (147s)    im    Chor    von    S,    Giorgio    bei    Ferrara    (vor    Porta    romana).      Nach    der    Madonna 

mit    Engeln    in    der    Lunette    möchte    man    einen    Schüler    der    Florentiner    aus    Rosellino's 

Zeit    vermuthen;    auch    die    sorgfältigen    und    glücklich    beseelten    fünf    Statuetten,    sowie 

die  trefflich  wahre  Grabstatue  weisen  auf  einen  solchen  Einfluss  hin. 


Modena.    Gaido  Mazzonl. 


^35 


höhern  malerischen  Gesetz,  sondern  nur  einem  dramatischen  folgen. 
Der  Bildner  stellt  seine  bemalten  zum  Theil  lebensgrossen  Thonfiguren 
wohl  oder  übel  zu  einem  Moment  zusammen.  Ein  gewisser  Guido 
Mazzoni  in  Modena  erwarb  sich  und  der  Gattung  einen  sichern 
Ruhm,  da  ihm  auch  die  gemeinste,  wenn  nur  populär  ergreifende 
Ausdrucksweise  gelegen  kam.  Seine  Gruppen  bedürfen  natürlich  einer 
geschlossenen  Aufstellung  in  einer  Nische,  wie  auf  einem  Theater; 
nimmt  man  sie  auseinander,  um  sie  frei  aufzustellen  (wie  diess  mit 
einer  von  ,,Modanino",  d.  h.  wahrscheinlich  von  Mazzoni  gearbeiteten,  a 
jetzt  bronzirten  Gruppe  in  Montoliveto  zu  Neapel,  Cap.  neben  dem 
rechten  Querschiff,  geschehen  ist),  so  wirken  die  einzelnen  Figuren  nur 
lächerlich.  Sein  Hauptwerk  ist  in  S.  Giovanni  decollato  zu  Modena,  b 
der  Leichnam  Christi  auf  dem  Schoos  seiner  Mutter,  von  den  An- 
gehörigen beweint;  theilweise  eine  wahre  Caricatur  des  Schmerzes,  in 
unwürdigen  spiessbürgerlichen  Figuren  und  dabei  doch  nicht  ohne 
wahre  realistische  Gestaltungskraft;  der  magere  Leichnam  ist  gar  nicht 
gemein.  Eine  andere  Gruppe,  in  der  Crypta  des  Domes  (Altar  rechts)  c 
stellt  die  von  zwei  knieenden  Heiligen  verehrte  Madonna  dar;  daneben 
steht  ein  ganz  abscheuliches  weibliches  Wesen,  das  nach  der  Schürze 
und  dem  zerrissenen  Ärmel  zu  urtheilen  ein  Dienstmädchen  darstellen 
könnte;  sie  hält  ein  Süppchen  für  das  Kind  und  bläst  schielend  in 
den  heissen  Löffel.  Dergleichen  geht  über  allen  Caravaggio  hinaus. 
—  Wenn  man  aber  inne  wird,  wie  volksthümlich  solche  Werke  sind, 
so  möchte  man  beinahe  wünschen,  dass  einmal  die  wahre  Sculptur 
noch  einen  Versuch  dieser  Art  wagen  dürfte. 

Schliesslich  glaube  ich  dem  Mazzoni  die  Gruppe  in  S.  Maria  della  d 
Rosa  zu  Ferrara  (neben  der  Thür,  links,  ihrer  echten  Nischenaufstel- 
lung beraubt)  zuschreiben  zu  müssen.  Es  ist  wieder  die  Klage  um 
den  todten  Christus,  welcher  hier  mit  demjenigen  in  S.  Giovanni  zu 
Modena  völlig  übereinstimmt;  auch  der  furchtbar  grimassirende  Schmerz 
sowohl  als  der  plastische  Styl  der  übrigen  Figuren  ist  ganz  dersel- 
ben Art.  Es  ist  Zeit,  den  Namen  Alfonso  Lombardi's  (welchen  man 
dem  Werk  aus  blosser  Vermuthung  beilegt)  von  diesen  zwar  energi- 
schen, aber  unleidlichen  Missbildungen  zu  trennen.  —  (Eine  etwas  ge- 
mässigtere  Gruppe  ähnlichen  Styles  im  Carmine  zu  Brescia,  Ende  des  « 
Seitenschiffes.) 


-'■M-»^*'«V^<«»V 


t  ^f^iC^i^  Uil.J^J  V«  J^.- irjMiT^T.-.VI^T^^-  ^  JI»^JJjj^-^^)(^i^^yJ> ,.  if , 


636 


Scnlptur  des  XV.  Jahrhanderts.    Neapel. 


In  diesen  lonibardischcn  Formenkreis  gehört  auch  wohl  der  Christus 

a  am  Kreuz,  welcher  in  S.  Giorgio  maggiore  zu  Venedig  (2.  Altar  rechts) 
dem  Michelozzo  zugeschrieben  wird.      Aber  kein  Florentiner,  selbst 
nicht   Donatello,    hätte   eine   solche    Schmerzensgrimasse   gebildet. 
Auch  in  dem  marmorarmen  Bologna  begegnen  wir  diesen  bemal- 

b  ten  Thongruppen  als  einem  sehr  alten  Brauch.  In  S.  Pietro  (Gang 
zur   Unterkirche)   ein   frühromanischer  Gekreuzigter  mit  Maria  und 

c  Johannes;  in  einer  der  Nebenkirchen  von  S.  Stefano  (S.  Trinitä,  3. 
Cap.  rechts)  eine  Anbetung  der  Weisen,  etwa  XIV.  Jahrb.,  mehrerer 
sog.  heiliger  Gräber  nicht  za  erwähnen.  —  Mit  Mazzoni  verwandt,  nur 
weniger  scharf  und  absurd:  der  etwas  jüngere  VincenzoOnofri; 

d  von  ihm  ein  heil.  Grab,  rechts  neben  dem  Chor  von  S.  Petronio;  und 

e  das  farbige  Relief  im  Chorumgang  der  Servi  (1503),  Madonna  mit 
S.  Laurentius  und  S.  Eustachius  nebst  zwei  Engeln,  eine  bessere,  gar 
nicht  seelenlose  Arbeit;  wie  denn  auch  die  Grabbüste  des  berühmten 

f  Philologen  Beroaldus  in  S.  Martino  maggiore  (hinten,  links)  lebendig 
und  schön  behandelt  ist.     Ausserdem  gehört  ihm  das  Grabmal  des 

g  Bischofs  Nacci  in  S.  Petronio  (am  Pfeiler  nach  der  7.  Capelle  links). 


Abgesehen  von  den  florentinischen  Arbeiten  (der  Altar  mit  Engel- 
reliefs und  das  Grabmal  von  Rosellino  in  der  Cap.  Piccolomini  in 
Montoliveto;  der  Triumphbogen  Giul.  da  Majano's  im  Castell  etc.) 
geben  die  Sculpturen  Neapels  den  Charakter  der  damaligen  italieni- 
schen Kunst  nur  beschränkt  wieder.  —  Die  ehernen  Pforten  des  ge- 

h  nannten  Triumphbogens,  von  Guglielmo  Monaco  aus  Neapel  — 
überfüllte  Schlachtreliefs  mit  einzelnen  schönen  Motiven  —  dürfen  so 
wenig  als  Filarete's  Pforten  von  S.  Peter  mit  dem  etwa  gleichzeitigen 
Ghiberti  verglichen  werden.  —  Über  Reliefs  und  Statuetten  gehen  die 
neapol.  Bildhauer  dieses  Jahrh.  überhaupt  kaum  hinaus.    Zu  den  Aus- 

i  nahmen  gehört  u.  a.  die  naturalistisch  gut  gearbeitete  knieende  Statue 
des  Olivieri   Carafa  in  der  Crypta  des  Domes.      Die  paar  tüchtigen 

k  Bronzebüsten  im  Museum  (Abtheilung  der  Terracotten,  I,  Zimmer) 
scheinen  wiederum  florentinische  Arbeit  zu  sein.  Über  die  Gruppe 
der  Grablegung  in  Montoliveto  (Capelle  rechts,  hinten),  von  ,,Moda- 
nino",  vgl.  was  eben  über  Guido  Mazzoni  gesagt  wurde  (S.  635,  a). 


Sculptur  des  XVI.  Jahrhunderts. 


637 


Wenn  die  grossen  Bildhauer  des  XVI.  Jahrh.  bei  weitem  nicht 
die  grossen  Maler  dieser  Zeit  aufwiegen,  wenn  sie  nicht  zu  halten  schei- 
nen, was  das  XIV.  und  XV.  Jahrh,  in  der  Sculptur  versprach,  so 
lag  die  Schuld  lange  nicht  bloss  an  ihnen. 

Die  unsichtbaren  Schranken,  welche  zunächst  die  kirchliche  Sculp- 
tur umgeben  und  ihr  nie  gestatten,  das  zu  werden,  was  die  griechi- 
sche Tempelsculptur  war,  sind  schon  oben  mehrfach  angedeutet  wor- 
den. An  ihre  Seite  trat  jetzt  allerdings  eine  profane  und  eine  nur 
halbkirchliche  allegorische  Sculptur,  allein  dieser  fehlte  die  innere  Noth- 
wendigkeit,  sie  war  und  blieb  ein  ästhetisches  Belieben  der  Gebildeten 
jener  Zeit,  nicht  eine  noth  wendige  Äusserung  eines  all  verbreiteten  my- 
thologischen Bewusstseins. 

Dafür  wird  die  Sculptur  im  XVI.  Jahrh.  eine  freiere  Kunst,  als 
sie  je  gewesen  war.  Nehmen  wir  z.  B.  die  Grabmäler  als  Massstab 
des  Verhaltens  der  beiden  Künste  an,  so  herrscht  in  der  gothischen 
Zeit  die  Architektur  völlig  vor;  das  Bildwerk  scheint  um  des  Bauge- 
rüstes willen  da  zu  sein.  Zur  Zeit  der  frühern  Renaissance  ist  es 
statt  der  Architektur  schon  eher  nur  die  Decoration,  welche  als  Nische, 
als  Triumphbogen  die  Sculpturen  einfasst;  wohl  ist  sie  um  der 
letztern  willen  vorhanden  und  dennoch  gehört  die  Gesammtwirkung 
noch  wesentlich  dem  decorativen,  nicht  dem  plastischen  Gebiet  an. 
Dieser  bisher  immer  noch  mehr  oder  weniger  bindende  Zusammen- 
hang mit  der  Architektur  nimmt  jetzt  einen  ganz  andern  Charakter 
an;  die  beiden  Künste  brauchen  einander  fortwährend,  allein  die  Sculp- 
tur ist  nicht  mehr  das  Kind  vom  Hause,  sondern  sie  scheint  bei  der 
Architektur  zur  Miethe  zu  wohnen;  man  überlässt  ihr  Nischen  und 
Balustraden,  damit  mag  sie  anfangen,  was  sie  will,  wenn  sie  nur  die 
Baulinien  nicht  auffallend  stört.     Wo  sie  kann,  richtet  sie  sogar  das 


itwfa^iiftiMjigte 


638 


Scalptar  des  XVI.  Jahrhanderts. 


Gebäude  nach  ihren  Bedingungen  ein.  Ganz  bisher  mehr  architek- 
tonische Partien,  Altäre,  Grabmäler  u.  s.  w.  werden  ihr  jetzt  oft  aus- 
schliessUch  überlassen. 

Sie  ist  ferner  freier  in  ihren  Mitteln  ;  die  Lebensgrösse  ihrer 
Gestalten,  im  XV.  Jahrh.  eher  Ausnahme  als  Regel,  genügt  jetzt  nicht 
mehr;  das  Halbcolossale  wird  das  Normale  und  das  ganz  Riesenhafte 
kömmt  nicht  selten  vor. 

Sie  ist  endlich  freier  im  Typus.  Die  biblischen  Personen  wer- 
den noch  einmal  nach  plastischen  Bedürfnissen  umstylisirt,  und  auch 
die  mythologischen  nichts  weniger  als  genau  den  entsprechenden  an- 
tiken Bildungen  nachgeahmt.  Die  Allegorie  geht  vollends  geradezu 
in  das  Unbedingte  und  Schrankenlose. 

Diese  viele  Freiheit  musste  nun  aufgewogen  werden  durch  die 
freiwillige  Beschränkung,  welche  der  hohe  plastische  Styl  sich  selber 
auferlegt,  durch  Grösse  innerhalb  der  Gesetzlichkeit.  Der  Geist  des 
XV.  Jahrh.  in  der  Sculptur  war  vor  allem  auf  das  Wirkliche  und 
Lebendige  gerichtet  gewesen,  das  er  bald  liebenswürdig,  bald  unge- 
stüm, oft  mit  hoher  Ahnung  der  obersten  Stylgesetze,  oft  roh  und 
fessellos  zur  Darstellung  brachte.  Dieses  Wirkliche  und  Lebendige 
sollte   nun  in  ein  Hohes  und  Schönes  verklärt  werden. 

Hier  trat  das  Alterthum  noch  einmal  begeisternd  und  befreiend 
ein.  Ganz  anders  als  zur  Zeit  Donatello's  und  der  alten  Paduaner, 
welche  der  Antike  ihren  decorativen  Schein  als  Hülle  für  ihre  eigenen 
Gedanken  abnahmen,  erforschten  jetzt  einige  Meister  das  Gesetzmäs- 
sige  der  alten  Plastik.  Es  war  vielleicht  ein  kurzer  Augenblick;  nur 
sehr  wenige  thaten  es  ernstlich;  bald  überwog  äusserliche  manierirte 
Nachahmung  nach  den  Werken  dieser  Meister  selbst,  wobei  sowohl 
das  Alterthum,  als  das  bisher  eifrig  gepflegte  Studium  des  Nackten 
halb  vergessen  wurden;  —  nichtsdestoweniger  blieben  von  der 
empfangenen  Anregung  einige  kenntliche  Züge  zurück:  die  Absicht 
auf  grossartige  Behandlung  des  Nackten  und  die  Vereinfachung  der 
Zuthaten,  hauptsächlich  der  Gewandung.  (Innerhalb  der  einfachen 
Draperie  hielten  sich  freiiich  die  vielen  und  überflüssigen  Faltenmo- 
tive mit  Hartnäckigkeit.)  Sodann  beginnt  mit  Andrea  Sansovino,  wie 
wir  sehen  werden,  die  ebenfalls  dem  Alterthum  entnommene  bewusste 
Handhabung  des  Gegensatzes  der  einzelnen  Theile  der  Gestalt,   das 


Das  Relief.    Andrea  Sansovino. 


639 


Hervortreten  der  linken  gegen  die  rechten,  der  obern  gegen  die  untern 
und  umgekehrt  für  die  entgegengesetzten  Seiten.  Dieser  sog.  Contra- 
posto  wird  allerdings  bei  Manchen  nur  zu  bald  der  einzige  Gehalt  des 
Werkes.  Endlich  bleiben  zahlreiche  vereinzelte  Aneignungen  aus  an- 
tiken Werken  nicht  aus.  Was  uns  in  den  manierirten  Werken  an- 
stössig  erscheint,  ist  nicht  das  Antikisiren  an  sich,  womit  man  noch 
immer  ein  Thorwaldsen  sein  kann,  sondern  die  unechte  Verquickung 
desselben  mit  fremden  Intentionen. 

Am  übelsten  ging  es  dabei  dem  Relief.  Die  grosse  Masse  der 
vorliegenden  antiken  Reliefs,  nämlich  die  spätrömischen  Sarcophage, 
schienen  jede  Überladung  zu  rechtfertigen;  schon  das  XV.  Jahrhun- 
dert hatte  die  Sache  so  verstanden,  war  aber  noch  bedeutend  weiter 
gegangen  als  die  spätesten  Römer  und  hatte,  wie  wir  sahen,  Gemälde 
mit  reichem  und  tiefem  Hintergrund  in  Marmor  und  Erz  übersetzt. 
Diesen  ganzen  Missbrauch  behielt  die  Sculptur  jetzt  mit  wenigen  Aus- 
nahmen bei,  nur  ohne  die  Naivetät  des  XV.  Jahrb.,  in  anspruchvoUern 
und  bald  ganz  öden  Formen.  W  i  e  das  Relief  erzählen  muss,  welches 
seine  nothwendigen  Schranken  sind,  davon  hatte  schon  etwa  von 
1530  an  Niemand  mehr  auch  nur  das  leiseste  Gefühl.  Eine  Masse  von 
Talent  und  von  äussern  Mitteln  geht  von  da  an  für  mehr  als  volle 
200  Jahre  an  einer  ganz  falschen  Richtung  verloren. 


Der  erste  und  wohl  der  edelste  der  Bildhauer,  welche  das  XVI.  Jahr- 
hundert vertreten,  ist  Andrea  (Contucci  da  Monte)  San- 
sovino, geb.  1460  (?),  st.  1529.  Mit  einer  milden,  schönen  Empfin- 
dungsweise begabt,  die  sich  in  ihrer  Äusserung  etwas  an  Lionardo  da 
Vinci  anlehnt  1),  wächst  er  halb  unbewusst  in  die  Freiheit  des  XVI. 
Jahrh.  hinein,  sodass  man  zweifelhaft  bleibt,  ob  die  hohe  Schönheit 
der  Form  und  der  bei  ihm  zuerst  streng  durchgeführte  Gegensatz  der 
Theile  mehr  seiner  eigenen  Innern  Ausbildung  oder  mehr  dem  Studium 
der  Antiken  angehören. 

Die  beiden  Prälatengräber  (Basso  und  Sforza  Visconti)  im  Chor  a 
von  S.  Maria  del  popolo  (1505  ff.)  die  herrlichsten,  welche  Rom 


')   Ausserdem  ist  auch  der  Einfluss  des  Matteo  Civitali  wahrscheinlich. 


fil>i?iWiMi>i^iip^^ 


640 


Scnlptnr  des  XVI.  Jahrhunderts.    Andrea  Sansovino. 


überhaupt  enthält,  folgen  in  der  Anordnung  noch  dem  Einrahmungs- 
system des  XV,  Jahrh.  (Das  bald  darauf  verlassen  wurde,  um  jenen 
grossen  Freigruppen  Platz  zu  machen,  mit  welchen  dann  so  Wenige 
etwas  anzufangen  wussten.)  Die  allegorischen  Figuren  stehen  noch 
halblebensgross  in  ihren  Nischen;  ihre  Schönheit  ist  aber  der  genau- 
sten Betrachtung  werth.  (Die  Gewänder  nicht  im  Verhältniss  zum 
Massstab  und  desshalb  scheinbar  schwer  drapirt.)  Ganz  wunderbar 
edel  sind  dann  die  beiden  schlummernd  liegenden  Prälaten  gebildet; 
das  auf  den  Arm  gestützte  Haupt  motivirt  die  köstlichste  Belebung 
der  ganzen  Gestalt;  dieser  Schlaf  ist  gegenüber  den  frühern  symme- 
trisch ausgestreckten  Grabstatuen  vielleicht  Naturalismus  gegenüber 
dem  strengen  Styl;  allein  er  ist  so  gegeben,  dass  das  Urtheil  verstummt. 
Auch  die  Madonnenreliefs  in  den  Lunetten  und  vorzüglich  die  Engel 
mit  Leuchtern  oben  sind  bewundernswerth. 

a  In  der  Sacramentsnische  von  S.  Spirito  in  Florenz  (linkes  Quer- 
schiff) sind  von  Andrea  wohl  nur  die  Statuetten  der  beiden  Apostel, 
die  Engel  mit  den  Candelabern,  das  Christuskind  oben  im  gebroche- 
nen Giebel  und  möglicher  Weise  die  Reliefs  der  Predella,  Diese  Fi- 
guren sind  in  Schönheit  und  Styl  den  eben  genannten  verwandt. 
Der  Rest  (die  Lunette  mit  der  Krönung  Maria,  die  Rundreliefs  mit  der 
Verkündigung,  der  Altarvorsatz  mit  einer  Pietä)  scheinen  von  irgend 
einem  Florentiner  aus  der  Schule  des  Mino  oder  Rosellino  zu  sein^). 

b  In  S.  A  g  o  s  t  i  n  o  zu  Rom  (2.  Cap.  links)  steht,  leider  im  schlech- 
testen Licht,  die  Gruppe  der  heil.  Anna  mit  der  Jungfrau  Maria  und 
dem  Kinde,  Stiftung  eines  deutschen  Protonotars,  Johann  Coricius, 
vom  Jahr  1512.  Alles  erwogen,  ist  es  das  anmuthigste  Sculpturwerk 
des  Jahrhunderts,  schön  und  frei  in  den  Linien  und  Formen  und  vom 
holdesten  Ausdruck  der  Mütterlichkeit  auf  zweierlei  Stufen. 

c  Das  Höchste  aber  möchte  Andrea  erreicht  haben  in  der  Gruppe 
der  Taufe  Christi  über  dem  Ostportal  des  Baptisteriums  von 
Florenz.  (Den  Engel,  von  Spinazzi,  möge  man  ja  wegdenken.)  Wel- 
cher Adel  in  dieser  Gestalt  des  Christus!  und  welche  Weihe  in  Aus- 
druck und  Bewegung!    In  dem  Täufer  wird  man  das  grandiose  Motiv 

>)  Vasari  behandelt  das  Ganze  als  ein  durchaus  von  Andrea  gearbeitetes  Jugendwerbu  Al- 
lein wenn  wirklich  Alles  daran  von  ihm  ist,  so  müssen  doch  die  erstgenannten  voll- 
kommeneren Theile  aus  einer  spätem  Epoche  des  Meisters  herrühren. 


Andrea  Sansovino.    Rafael.    Lorenzetto. 


641 


der  stärksten  innern  Erregung  aus  einem  Relief  von  Ghiberti's  Nord- 
thür  in  erhöhter  Darstellung  wiederfinden.    (Nach  1500  gearbeitet.) 

Über  den  Marmorumbau  des  heiligen  Hauses  in  der  Kirche  von  a 
L  o  r  e  1 1  o  kann  der  Verf.  nicht  aus  Anschauung  berichten.  Bramante 
gilt  als  Erfinder  der  baulichen  Anordnung;  Andrea  Sansovino  leitete 
den  plastischen  Schmuck  und  arbeitete  selbst  einen  Theil  der  Reliefs; 
die  übrigen  sind  ausgeführt  von  Tribolo,  Bandinelli,  Rafael  da  Mon- 
telupo,  Franc,  da  Sangallo,  Lancia,  Girol.  Lombardo  und  Mosca.  Nach 
zuverlässigen  Urtheilen  sollen  die  Sculpturen  dieser  Künstler  im  Gan- 
zen mehr  ihrem  anderweitig  bekannten,  zum  Theil  schon  beträchtlich 
manierirten  Styl  folgen  als  dem  Vorbilde  Andrea's. 

In  der  Johannescapelle  des  Domes  von  Genua  (links)  sind  die  b 
Statuen  des  Täufers  und  der  Madonna  (wahrscheinlich  frühe)  Ar- 
beiten von  ihm;  erstere  noch  etwas  herb,  letztere  aber  ungemein  schön 
in  Stellung  und  Motiv,  das  Kind  naiv  bewegt  und  wiederum  mit  einem 
kenntlichen  lionardesken  Anklang.  —  Von  kleinern  Sachen  möchte  ich 
dem  Andrea  einen  Salvator  zuschreiben,  welcher  in  Araceli  zu  Rom  c 
auf  der  Spitze  eines  Grabmals  (Lud.  Gratus,  f  1531)  links  vom  Haupt- 
portal angebracht  worden  ist^). 


Diese  an  Zahl  geringen  Arbeiten  repräsentiren  uns  in  der  Sculptur 
fast  einzig  denjenigen  Geist  massvoller  Schönheit,  welchen  in  der 
Malerei  vorzüglich  Rafael  vertritt.  Auch  gleichen  ihnen  am  meisten 
diejenigen  Sculpturwerke,  welche  Rafael  selbst  schuf  oder  unter 
seiner  Aufsicht  hauptsächlich  durch  Lorenzetto  ausführen  Hess. 
Als  eigenhändige  (und  jetzt  wohl  einzig  vorhandene)  Arbeit  R.'s  gilt 
gegenwärtig  die  nackte  Statue  des  Jonas  in  S.  Maria  del  Popolo  d 
(Cap.   Chigi)    zu   Rom;    eine  keineswegs    vollkommene    körperliche 


*)  Das  Grabmal  des  Petrus  de  Vincentia  (1504),  im  Durchgang  der  Südthür  an  der  Kirche 
Araceli,  ist  mir  immer  wie  eine  Vorarbeit  Andrea's  zu  den  oben  genannten  Prälatengräbern 
vorgekommen;  die  Grabstatue  sowohl  als  das  Rundrelief  der  Madonna  und  die  Allegorien 
zu  dessen  Seiten  scheinen  sehr  schöne  Versuche  eines  noch  nicht  ganz  geläuterten  Stre- 
bens,  welches  erst  in  jenen  Meisterwerken  seine  Erfüllung  fand.  Dagegen  kann  das  Grab- 
mal Armellini,  1524,  im  rechten  Querschiff  von  S.  M  .  in  Trastevere,  höchstens  als  tüch- 
tiges Schulwerk  gelten. 


542        Sculptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Lorenzetto.    Tribolo. 

Bildung,  aber  in  der  Geberde  von  wunderbarem  Ausdruck  des  wie- 
dergewonnenen jugendlichen  Lebens,  das  wie  vom  Schlaf  erwacht. 
(Der  Fischrachen  ist  geschickt  und  bescheiden  angegeben.  Im  Kopf 
des  Jonas  eine  Annäherung  an  die  Züge  des  Antinous.)  —  Der  Prophet 

a  Elias  gegenüber  zeigt  Lorenzetto's  stumpfere  Ausführung;   —  ebenso 

b  die  sehr  schön  gedachte  Madonnenstatue  auf  demjenigen  Altar  im 
Pantheon,   welcher   Rafaels   Grab   hinter  sich  birgt.    —   Lorenzetto's 

c  eigene  Erfindung  möchte  der  S.  Petrus  am  Eingang  der  Engelsbrücke 
sein.  —  (In  der  Art  Lorenzetto's  scheint  auch  die  sitzende  Madonna 

d  über  dem  Grabmal  des  Guidiccioni  in  S.  Francesco  zu  Lucca  gearbeitet, 
deren  Urheber  ich  nicht  anzugeben  weiss.  Die  schöne  Intention  in 
dem  Kopf  der  Madonna,  in  Bewegung  und  Gestalt  des  Kindes,  das 
sie  am  Schleier  fasst,  übertrifft  die  Ausführung.) 


Der  Zeit  nach  müsste  schon  hier  Michelangelo  genannt  werden, 
allein  bei  der  historischen  Stellung,  die  er  gegenüber  der  ganzen 
s  p  ä  t  e  r  n  Sculptur  einnimmt,  ist  es  nothwendig,  zuerst  diejenige  An- 
zahl von  Künstlern  zu  besprechen,  welche,  obwohl  meist  jünger  als 
er,  noch  nicht  oder  noch  wenig  von  seinem  Styl  berührt  wurden.  Sie 
haben  theils  die  Richtungen  des  XV.  Jahrb.,  dessen  Realismus  und 
bunten  Reichthum  aufgebraucht,  theils  auch  sich  der  freien  und  hohen 
Schönheit  stellenweise  genähert,  meist  aber  sich  der  von  der  römi- 
schen Malerschule  ausgehenden  Entartung  nicht  entziehen  können. 

Zunächst  ein  paar  Florentiner.  (Den  B  a  n  d  i  n  e  1 1  i  versparen  wir 
auf  die  Michelangelisten,  zu  welchen  er  wider  Willen  gehört.)  —  Tri- 
bolo (eigentlich  Niccolö  Pericoli,  1500  — 1565)  war  anfänglich  Schüler 
des  unten  zu  nennenten  Jacopo  Sansovino,  allein  in  einer  Zeit,  da 
dieser  noch  seinem  Lehrer  Andrea  im  Styl  näher  stand  als  seiner 
eigenen  spätem  Manier;  zudem  muss  Tribolo  von  Anfang  an  auch 
Andrea's  Werke  gekannt  haben  und  später,  durch  die  Mitarbeit  an 
der  Santa  casa  von  Loretto  nach  dessen  Entwürfen,  von  dem  Styl 
Andrea's  durchdrungen  worden  sein.  Der  Verf.  hat  es  besonders  an 
dieser  Stelle  zu  beklagen,  dass  ihm  die  Untersuchung  der  dortigen 
Sculpturen  nicht  vergönnt  war.  Welch  ein  Meister  Andrea  Sansovino 
auch  im  Relief  gewesen  sein  muss  und  welchen  Einfluss  er  auf  die 
Seinigen  ausübte,  lassen  die  Arbeiten  dieses  seines  Schülers  wenigstens 


Tribolo  in  Bologna. 


643 


ahnen.  Tribolo  bekam  noch  in  jungen  Jahren  (um  1525)  die  Seiten- 
thüren  der  Fassade  von  S.  Petronio  in  Bologna  zu  verzieren,  a 
Von  ihm  sind  an  beiden  die  Propheten,  Sibyllen  und  Engel  in  der  Schrä- 
gung der  Pforte  und  des  Bogens,  sodann  die  sämmtlichen  Pilasterreliefs 
an  der  Thür  rechts  (Geschichten  Josephs),  und  von  denjenigen  der  Thür 
links  das  erste,  dritte  und  vierte  des  linken  Pilasters  (Geschichten  des 
Moses).  In  dem  kleinen  Massstab  dieser  zahlreichen  Gegenstände  ist 
ein  reiner  und  massvoller  Styl  entwickelt,  wie  er  sonst  sehr  wenigen 
Reliefs  der  damaligen  Zeit  innewohnt.  Die  Propheten  und  Sibyllen 
verhehlen  zwar  schon  in  der  Tracht  und  Körperbildung  den  Einfluss 
der  Sistina  nicht;  auch  im  Motiv  selber  macht  er  sich  hie  und  da 
kenntlich;  aber  es  sind  von  den  reinsten  und  reizendsten  Einzelfiguren 
der  goldenen  Zeit.  Die  erzählenden  Reliefs,  zwar  etwas  überfüllt, 
doch  weniger  als  das  meiste  Gleichzeitige,  geben  fast  allein  einen  Be- 
griff von  den  Liniengesetzen  dieser  Gattung  und  sind  reich  an  geist- 
voll prägnanten  einzelnen  Zügen.  (Joseph  in  den  Brunnen  gesenkt; 
an  den  Midianiter  verkauft;  die  Tödtung  des  Böckleins;  das  mit  dessen 
Blut  gefärbte  Kleid  wird  dem  Jacob  vorgewiesen  etc.)  An  diesen  in 
Form  und  Gedanken  trefflichen  Arbeiten  machte  auch  der  etwas  ältere 
Genosse,  Alfonso  Lombardi,  eine  neue  Schule  durchs). 

Aus  Tribolo's  späterer  Zeit  möchte  das  grosse  Relief  von  Maria  b 
Himmelfahrt  (S.  Petronio,  11.  Cap.  rechts),  wenigstens  dessen  untere 
Hälfte   herrühren.     Es  zeigt,   dass  er  den  falschen  Ansprüchen   und 
Manieren  der  Nachahmer  Michelangelo's  auch  später  fern  blieb. 

Von    einem   trefflichen   ungenannten    Meister,    der   aber   dem   T. 
offenbar  sehr  nahe  stand,   ist  das  1526   errichtete  Grab  der  Familie  c 
Cereoli  in  S.  Petronio  (innen  links  vom  Hauptportal),  und  vielleicht 
auch  die  Madonna  in  der  6.  Cap.  rechts  (daselbst)  gearbeitet.  —  Von  d 
Alf.  Lombardi  wird  weiter  die  Rede  sein. 

Als   Tribolo's   Hauptwerk  zu   Rom   gilt  das   Grabmal  Papst   Ha-  e 
drians  VI  (st.   1523)  im  Chor  von  S.  Maria  dell'  anima  (rechts),  im 


')  Von  den   Lunettengruppe  der  Thür  rechts  gehört    nur   die   Madonna    dem  T.   an,  der  Chri-  * 
stusleichnam   in  den    Armen  des  Nicodemus  ist  eine   ungeschickte   Arbeit  des  Malers   Amico 
Aspertini,    und   der    Johannes    von    Seccadenari,    dem    die   ganze    Arbeit   der    beiden    Seiten- 
thüren    im    Grossen    verdungen    war.    Die   obern    Pilaster    neben    den    Giebeln   sind    von   ge- 
ringern lombardischen  Meistern  rcliefirt. 


,jlftift*i.-.'jv.<<..  •  ^6t,^'^;sJt-Mrf0^4imf<S't«i<»->'mmm.^MSimyim.tmf^  <  j«,«»^'  >  *",'»Vt 


644 


Scalptar  des  VI.  Jahrhunderts.    Benvenuto  Cellini. 


Ganzen  nicht  von  glücklicher  Anordnung  (diese  von  Peruzzi),  und 
auch  im  Einzelnen  unplastisch  überfüllt.  Übrigens  ist  Tribolo's  An- 
theil  vielleicht  auf  die  allegorischen  Figuren  zu  beschränken;  die 
liegende  Statue  ist  bestimmt  und  das  meiste  übrige  vielleicht  von 
Michelangelo  Sanese. 

Die  spätere  Thätigkeit  T.'s  betraf  zum  Theil  Decorationen  des 
Augenblickes,  für  welche  er  ein  besonderes  Talent  besass;  auch  wurde 
er  eines  der  bauHchen  Factotum  Cosimo's  I  (S.  401,  b).  Was  von  seinen 
(auch  plastischen)  Arbeiten  in  der  Villa  Castello  unweit  Florenz  noch 
erhalten  ist,  weiss  ich  nicht  anzugeben. 


In  diese  Reihe  gehört  auch  BenvenutoCellini  (1500 — 1572), 
der  durch  seine  eigene  Lebensbeschreibung  eine  grössere  Bedeutung 
gewonnen  hat  als  durch  seine  Werke.  Von  seinem  decorativen  Ver- 
dienst ist  oben  (S.  272)  die  Rede  gewesen;  hier  handelt  es  sich  um 
seine  Bildwerke.    Von  grösserm  Umfang  und  selbständiger  Bedeutung 

a  ist  bloss  der  eherne  P  e  r  s  e  u  s  unter  der  Loggia  de'  Lanzi  in  Florenz. 
Benvenuto  erscheint  hier  noch  wesentlich  als  der  Naturalist  des  XV. 
Jahrb.,  als  der  geistige  Sohn  Donatello's,  allein  das  Motiv  ist  bei  aller 
Wunderlichkeit  (man  sehe  die  Verschränkung  der  Medusenleiche) 
doch  nicht  nur  energisch,  sondern  auch  in  den  Linien  bedeutend,  so- 
dass man  die  Mängel  der  an  sich  sehr  fleissigen  Einzelbehandlung, 
z.  B.  die  Dürftigkeit  des  Rumpfes  im  Verhältniss  zu  den  Extremitäten, 
darob  übersehen  mag.  Die  Statuetten  an  der  Basis  sind  dagegen 
idealistisch  manierirt  in  der  schlechtesten  Art  der  römischen  Schule, 
das  Relief  ebenso  und  dabei  möglichst  unplastisch.  —  In  den  Uffizien 

b  (I.  Zimmer  der  Br.)  findet  man  ausser  zwei  unter  sich  verschiedenen 
Modellen  zum  Perseus,  von  welchen  das  wächserne  den  Vorzug  haben 
möchte,  die  colossale  Bronzebüste  Cosimo's  I,  etwas  gesucht  in  Schmuck 
und  Haltung,   aber  von  vortrefflicher  Arbeit.  —  Seine  Restaurationen 

c  antiker  Werke,  wie  z.  B.  an  dem  Ganymed  in  den  Uffizien  (Saal  d. 
Kermaphr.),  sehen  freilich  sehr  geziert  aus^). 

')   Unter    den    Elfenbeinsachen    im    Pal.    vecchio,    Sala    dell'    Udienza,    welche    nebst    den    dort 

*  aufgestellten   Gegenständen    von    Bernstein     durchschnittlich     von     geringem     Werthe     sind, 

könnte   ein  S.  Sebastian   wirklich   von    ihm   herrühren,    ein   trefflicher  Pokal    mit   mytholog. 


Sangallo.    Danti.    Begarelll. 


645 


Als  Werk  eines  Ungenannten  schliessen  wir  am  besten  hier  den 
Bacchus  an,  welcher  jenseits  Ponte  vecchio  in  Florenz  in  einer  Brun- 
nennische steht.  Mit  Schale  und  Traube  in  den  Händen  vorwärts 
stürmend  und  überhaupt  energisch  belebt,  ist  er  doch  nur  für  den 
Anblick  von  links  berechnet  und  stösst  ab  durch  vulgäre,  gesucht 
herculische  Bildung.  Man  vergleiche  ihn  z.  B.  mit  dem  Bacchus  Jac. 
Sansovino's,  der  ein  ähnliches  Motiv  viel  schöner  giebt. 


Francescoda  Sangallo  (1498— 1570),  Sohn  des  Architekten 
Giuliano,  ist  einer  der  weniger  bedeutenden  Nachfolger  A.  Sansovino's. 
Seine  Altargruppe  in  Orsanmicchele  zu  Florenz,  derselbe  Gegenstand  b 
wie  die  seines  Meisters  in   S.   Agostino  zu  Rom,  zeigt  seine  ganze 
Inferiorität;  die  beiden  sitzenden  Frauen  stossen  das  Kind  auf  ihren 
Knieen  hervor.  —  Porträtstatue  des  Paolo  Giovio  im  Klosterhof  von  c 
S.   Lorenzo.    —  Grabmal   des   Prälaten   Angelo   Marzi-Medici   in   der  d 
Annunziata,  am  Eingang  der  Rotunde.  —  Theilnahme  an  den  Sculptu- 
ren  in  Loretto. 

Vincenzo  Danti  (1530—1567)  erscheint  in  der  Bronzegruppe 
der  Enthauptung  des  Täufers  über  der  Südthür  des  Baptisteriums  e 
stylistisch  halbirt.  Einer  schönen  Inspiration  aus  den  Werken  San- 
sovino's gehört  der  knieende  Johannes  an;  der  Henker  dagegen  und 
das  zuschauende  Weib  sehen  den  Gedanken  und  Formen  der  römi- 
schen Malerschule  nur  zu  ähnlich.  —  Die  Statue  Papst  Julius  III.  i 
beim  Dom  von  Perugia  gehört  ebenfalls  der  letztern  Art  an. 


In  Oberitalien  hält  Ein  Künstler  den  meisten  bisher  genann- 
ten, mit  Ausnahme  Andrea  Sansovino's,  das  Gleichgewicht:  Antonio 
B  e  g  a  r  e  1 1  i  von  M  o  d  e  n  a  (st.  1555).  Sein  Vorgänger  ist  jener 
wunderliche  Guido  Mazzoni  (S.  635),  welcher  durch  seine  grossen  gri- 
massirenden  Thongruppen  weniger  eine  neue  Gattung  geschaffen,  als 
eine  missachtete  Gattung  gewissermassen  zu  Ehren  gebracht  hatte, 
sodass  sie  für  Modena  eine  anerkannte  Specialität  ausmachte.     Den 

Figuren    dagegen,     den    man     ihm    zuschreibt,     möchte     eine     deutsche     Arbeit     des     XVII. 
Jahrh.  sein. 


646 


ScQlptar  des  XYI.  Jahrhunderts.    Oberitaliener. 


BegarelH  hob  nicht  eine  Bekanntschaft  mit  dem  Alterthum,  sondrrn 
eine  nahe  und  unverkennbare  Kunstbeziehung  zu  Coreggio,  wobei 
man  nicht  einmal  genau  sagen  kann,  welcher  Theil  der  gebende  war; 
sodann  die  allgemeine  Kunsthöhe  der  Zeit.  Seine  Einzelformen  sind 
so  schön,  frei  und  reich,  als  diejenigen  A.  Sansovino's,  denen  sie  nicht 
gleichen.  Allein  diess  ganze  Vermögen  steht  im  Dienste  eines  Geistes, 
der  gerade  die  höchsten  Gesetze  der  Plastik  so  wenig  anerkennt,  als 
Coreggio  die  der  Malerei. 

Allerdings  muss  man  ihm  sein  Princip  zugeben;  er  arbeitete  seine 
lebensgrossen  Thongruppen  nicht  für  freie  Aufstellung,  sondern  für 
ganz  bestimmte  Nischen  und  Capellen,  d.  h.  als  Bilde  r.  An  die 
Stelle  des  streng  geschlossenen  Baues  der  Gruppe  tritt  eine  rein  ma- 
lerische Anordnung  für  Einen  Gesichtspunkt.  Allein  innerhalb  dieser 
Schranken  hätte  er  wenigstens  so  streng  bleiben  müssen,  als  die 
strengere  Malerei  es  muss;  statt  dessen  überliess  er  sich  bei  einem 
grossen  Schönheitssinn  doch  sehr  dem  naturalistischen  Schick  und 
Wurf,  dem  blossen  Streben  nach  Lebendigkeit  und  Wirklichkeit.  Sein 
Gefühl  selbst  für  bloss  malerische  Linien  ist  so  wenig  entwickelt  als 
dasjenige  Coreggio's.  Seine  Körperbildungen  sind  meist  gering,  die 
Haltvmg,  sobald  sie  nicht  in  einem  bestimmten  Moment  aufgeht,  unent- 
schieden und  unsicher,  sodass  er  in  den  zur  freien  isolirten  Aufstel- 
lung bestimmten  Statuen  weniger  genügt  als  Manche,  die  sonst  tief 
unter  ihm  stehen. 

Sein  vielleicht  frühstes  Werk  in  Modena  ist  die  Gruppe  der  um 

a  den  todten  Christus  Weinenden  inS.  Mariapomposa  (Piazza  S. 
Agostino,  I.  Altar  rechts).  Hier  ist  er  noch  am  meisten  von  Mazzo- 
ni's  Gruppe  in  S.  Giovanni  (S.  635,  b)  abhängig,  sowohl  in  der  Anord- 
nung als  in  dem  grimassirenden  Ausdruck.  —  Vielleicht  folgt  zunächst 

b  das  grosse  Hauptwerk  in  S.  Francesco  (Cap.  links  vom  Chor) :  die 
Kreuzabnahme.  Vier  Personen,  symmetrisch  auf  zwei  Leitern  geord- 
net, senken  den  Leichnam  nieder;  unten  die  ohnmächtige  Maria,  von 
drei  Frauen  gehalten  und  umgeben;  ein  knieender  und  ein  stehender 
Keiliger  zu  beiden  Seiten.  (Johannes  d.  T,,  Hieronymus,  Franciscus 
und  Antonius  von  Padua.)  Dass  gerade  der  Moment  der  physischen 
Anstrengung  symmetrisch  dargestellt  ist,  wirkt  nicht  glücklich;  dafür 
ist  die  Gruppe  der  Frauen  malerisch  vortrefflich  und  im  Ausdruck 


Antonio  Begarelli. 


647 


des  Jammers  edel  und  ergreifend  zugleich,  die  Köpfe  grandios,  wie 
sie  nur  in  der  Zeit  der  hohen  Blüthe  vorkommen.  Die  Frau  zur 
Linken  der  Madonna  hat  z.  B.  am  ehesten  in  Rafaels  Kreuztragung 
ihres  Gleichen.  Der  Künstler  ist  aber  auch  aller  andern  Mittel  des 
Ausdruckes  völlig  Herr;  die  Hände  sind  mit  der  grössten  Leichtigkeit 
schön  und  sprechend  angeordnet  i),  das  Liegen  der  Maria,  das  Knieen 
des  Franciscus,  das  Überbeugen  der  hinten  stehenden  Frau  zeigen 
eine  vollendete  Meisterschaft,  In  der  Gewandung  aber  verräth  sich 
das  selbst  malerisch  Ungenügende  dieses  Naturalismus,  der  nicht  er- 
kennt, dass  die  Gewandung  in  der  Kunst  etwas  anderes  ist  als  im 
Leben,  nämlich  ein  werthvolles  Verdeutlichungsmittel  der  Gestalt  und 
Bewegung,  das  zudem  in  der  Plastik  sehr  bestimmten  Gesetzen  unter- 
liegt. So  drängt  sich  an  dieser  Stelle  viel  Müssiges  und  Unnützes 
vor;  schon  beginnen  Mantelenden  und  Schleier  zu  flattern,  als  wehte 
von   Neapel  her  bereits  der  berninische  Scirocco  hinein. 

Doch  ein  ganz  reifes  und  herrliches  Werk  kann  diese  Schatten- 
seiten vergessen  machen.    In  S.  P  i  e  t  r  o  (Cap.  rechts  vom  Chor)  ist  a 
wieder  eine  ,, Klage  um  den  todten  Christus"  nur  von  vier  Figuren. 
Nicodemus  hebt  den  liegenden  Leichnam  etwas  empor,  Johannes  hält 
die  davor  knieende  Mutter.    Als  Bild  vollkommen,  in  der  Behandlung 
des  Details  einfach  und  grossartig,  erreicht  diese  Gruppe  jene  reine 
Höhe  der  vollendeten  Meisterwerke  des  XVI.  Jahrhunderts.  —  In  der- 
selben Kirche  ist  die  Altargruppe  des  rechten  Querschiffes  (vier  Hei-  b 
lige,  oben  in  Wolken  Madonna  mit  Engeln)  von  B.  angefangen,  von 
seinem   Neffen   Lodovico   vollendet;    Einzelnes   wie   die    Ekstase   des 
Petrus,  die  Schönheit  des  Kopfes  der  Maria  und  des  Kindes  ist  auch 
hier  von  grossem  Werthe.  —  Dagegen  zeigen  die  sechs  lebensgrossen  c 
Statuen,  welche  frei  im  Hauptschiff  stehen,  die  ganze  Unfähigkeit  des 
Künstlers,  eine  ruhige  Gestalt  plastisch  zu  stellen.  —  Ebenso  verhält 
es  sich  mit  den  vier  Statuen  im  obern  Klostergang  zuS.  Giovannid 
i  n  P  a  r  m  a  ,  welche  im  Detail  diese  sechs  übertreffen  und  zu  den  Wer- 
ken  der   besten   Epoche  gehören.     Wie   unentschieden  ist   Leib   und 
Haltung  dieses  Ev.  Johannes,  dieser  Madonna!  wie  vergnüglich  cha- 
rakterisirt  Begarelli  die  weiten  hängenden  Ärmel  des  heil.  Benedict! 


')  Was  bei  Correggio  durchaus  nicht  immer  der  Fall  ist. 


',»ijii..i<ir«ii"ji»«  >:;a<,fryi;.MiiriT^iTii'Ti"ri  ii  jm[i^         ^     _  ^_^  ,  jji_ 


f'»W^itlii 


648 


Sculptur  des  XVI.  Jahrhunderts.    Oberitallener. 


wie  lässt  er  den  Schleier  der  Madonna  flattern!  Aber  auch  welche 
Schönheit  in  den  Köpfen  und  in  der  Kindergestalt  des  Täufers  Jo- 
hannes, der  seine  Mutter  begleitet! 

Die  späteste  Zeit  Begarelli's  glaube  ich   (abgesehen   von  jenem 
Altar  des  Querbaues  in  S.  Pietro)  zu  erkennen  in  der  grossen  Gruppe 

a  von  S.  Domenico  zu  Modena  (Durchgang  aus  der  Kirche  in  die 
untere  Halle  des  Academiegebäudes).  Es  ist  die  Scene  von  Martha 
und  Maria,  letztere  vor  Christus  knieend,  erstere  sammt  zwei  Mägden 
rechts,  zwei  Jünger  links.  Unverkennbar  wirkt  hier  der  Geist  der 
römischen  Malerschule  auf  den  Künstler  ein,  wie  schon  die  Draperien 
beweisen;  auch  macht  sich  (z.  B.  in  der  Martha,  die  auch  als  Ein- 
zelstatue gut  ist)  der  Gegensatz  der  entsprechenden  Theile  des  Körpers 
auf  bewusstere  Weise  geltend.  Die  Köpfe  sind  noch  meist  von  naiver 
Schönheit. 

b  (Ein  kleines  Presepio  B.'s  im  Dom,  unter  dem  4.  Altar  links,  in 
der  Regel  verschlossen,  hat  der  Verf.  nicht  gesehen.) 

Wahrscheinlich  hat  B.  seine  Gruppen  nicht  bemalt.    Auch  wo  die 
jetzige  Beweissung  abspringt,  kömmt  keine  Farbe  zum  Vorschein  i). 


Die  meisten  oberitalienischen  Sculptoren  der  Zeit  suchen,  im  Ge- 
gensatz zu  diesem  entschlossenen  Realisten,  ihre  heimische  Befangen- 
heit durch  den  von  Florenz  und  Rom  ausgehenden  Idealismus  auf- 
zubessern. Welche  von  ihnen  die  Werke  A.  Sansovino's  und  die 
ebenfalls  sehr  einflussreichen  Deckengemälde  der  sixtinischen  Capelle 
gekannt  haben,  ist  im  Einzelnen  nicht  immer  leicht  anzugeben;  bei 
mehreren  sind  diese  Einwirkungen  ganz  deutlich  nachweisbar;  Michel- 
angelo wirkte  schon  lange  als  Maler  auf  die  Sculptur,  ehe  seine 
plastischen  Hauptwerke  zu  Stande  kamen.  —  Von  den  1520er  Jahren 
an  muss  dann  namentlich  die  Anwesenheit  des  Tribolo  in  Bologna  der 
römisch-toscanischen  Richtung  den  Sieg  verschafft  haben. 


')  Schon  Vasari  sagt,  er  habe  ihnen  bloss  Marmorfarbe  gegeben.  Er  spricht  davon  u.  a. 
bei  Anlass  eines  Besuches  des  Michelangelo  in  Modena  und  berichtet  dessen  begeistertes 
Wort:  „Wenn  dieser  Thon  Marmor  würde,  dann  wehe  den  antiken  Statuenl" 


AlfoDso  Lombardi. 


649 


Vielleicht  der  bedeutendste  dieser  Reihe  nächst  Begarelli  war  der 
Ferrarese*)  Alfonso  Lombardi  (1487 — 1536),  der  hauptsächlich 
in  Bologna  arbeitete.  Auch  er  beginnt  realistisch,  sogar  mit  ähnlichen 
Aufgaben  wie  Begarelli.  Ein  frühes  Werk,  worin  er  demselben  sehr 
nahe  steht,  sind  die  bemalten  (und  jetzt  neu  bemalten)  Halbfiguren  a 
Christi  und  der  Apostel  in  den  beiden  Querarmen  des  Domes  von 
F  e  r  r  a  r  a.  Der  Künstler  erscheint  hier  noch  mehr  naturalistisch  ge- 
bunden durch  die  Präcedentien  seiner  Schule;  er  verräth  sich  z.  B. 
als  Schulgenossen  eines  Lorenzo  Costa  schon  durch  die  grossen  Hände, 
und  als  tüchtigen  Anfänger  durch  die  zierliche  und  exacte  Arbeit. 
Allein  die  grosse  lebendige  Schönheit  mehrerer  Köpfe,  wie  z.  B.  des 
Johannes,  die  bedeutende  Geberde  z.  B.  des  Thomas,  der  sich  in 
seinen  Mantel  hüllt,  zeigen,  welches  Aufschwunges  Alfonso  bereits 
fähig  war.  —  Ähnliches  gilt  von  der  bemalten  Thongruppe  des  von  b 
seinen  Angehörigen  beweinten  Christusleichnams,  in  der  Crypta  von 
S.  Pietro  zu  Bologna,  mit  vorzüglichen  Köpfen  2).  —  Später,  und  zwar 
zuletzt  unter  dem  Einfluss  Tribolo's,  nähert  er  sich  demjenigen  Mass 
idealer  Bildung,  welches  Andrea  Sansovino  dieser  ganzen  Schule  vor- 
gezeichnet hatte.  Er  wagte  sich  an  Aufgaben  wie  z.  B.  der  colossalc  c 
sitzende  Hercules  (von  Thon)  im  obern  Vorsaal  des  Palazzo  apostolico, 
der  in  den  Verhältnissen  immer  beträchtlich  besser,  in  der  Stellung 
ungesuchter  ist  als  Alles,  was  Bandinelli  und  Ammanati  hinterlassen 
haben.  (Stark  restaurirt.)  —  Die  grösste  Zahl  seiner  Arbeiten  finden 
sich  anS.  Petronio:  anscheinend  noch  lombardisch  befangen:  die  d 
Statuen  (englischer  Gruss  mit  Gottvater,  und  Sündenfall)  an  der  In- 
nenseite des  rechten  und  linken  Seitenportals  der  Fassade;   —  freier 


1)  Er  stammte  eigentlich  von  Lucca  und  hiess  Citadella.  Als  Künstler  gehört  er  aber  durch- 
aus nach  Oberitalien. 

2)  Aus  derselben  Zeit  enthält  der  von  Touristen  wenig  besuchte  Wallfahrtsort  Varallo  (west- 
lich vom  Lago  maggiore)  in  der  Capella  del  sacro  monte  und  (wie  man  annimmt)  auch 
in  einigen  der  Stationscapellen  lebensgrosse  farbige  Freigruppen,  angegeben  oder  auch  aus- 
geführt von  dem  berühmten  Maler  Gaudenzio  Ferrari;  die  darin  dargestellten  Vor- 
gänge der  Passion  sind  gleichsam  fortgesetzt  und  erklärt  durch  Fresken  an  den  Wänden, 
Wie  sie  sich  zum  Styl  des  Mazzoni  oder  des  Alfonso  verhalten,  weiss  ich  nicht  anzugeben. 


Urcicerone. 


4» 


ySi**»^* 


650 


ScDlptor  des  XVI.  Jahrhunderts.    Oberitaliener. 


a  und  sehr  tüchtig:  die  Lunettengruppe  der  Auferstehung  Christi,  aussen 
am  Unken  Seitenportal  (wenn  Christus  sich  auf  einen  sitzenden  Wäch- 
ter zu  stützen  scheint,  so  hat  der  Künstler  diess  wohl  nur  gethan,  um 
sich  in  einem  reichern  Linienproblem  zu  versuchen) ;  —  ferner  drei 
von  den  Reliefs  der  Geschichte  Mosis  am  rechten  Pilaster  desselben 
Portals,  in  offenbarem  und  glücklichem  Wetteifer  mit  Tribolo  (S.  643) 
entworfen  sowohl  als  ausgeführt.  —  Mehr  malerisch  als  plastisch,  aber 
köstlich  wie  die  besten  jener  Miniaturgeschichten  der  ferraresischen 

b  Malerschule  erscheinen  die  drei  Reliefs  am  Untersatz  der  berühmten 
Area  inS,  DomenicO;  eine  der  geistvollsten  und  delicatesten  Ar- 
beiten dieser  Gattung. 

c        Eine  ungleiche,  zum  Thcil  sehr  tüchtige  Arbeit  sind  die  Medail- 

d  lonköpfe  an  Pal.  Bolognini,  N.  77.  —  Das  Grabmal  Ramazzotti  in 
S.  Micchele  in  Bosco  (rechts  vom  Hauptportal)  ist  eines  der  besten 
jener  oberitalischen  Soldatengräber,  welche  den  Geharnischten  schlum- 
mernd und  über  ihm  die  Madonna  darstellen. 

In  Alfonso's  spätester  Zeit  entstand  dann  wahrscheinlich  die  über 

e  lebensgrosse,  figurenreiche  Thongruppe  im  Oratorium  bei  S.  Maria 
d  e  1  1  a  Vita  (zugänglich  auf  Nachfrage  in  den  links  an  die  Kirche 
stossenden  Bureaux,  eine  Treppe  hoch).  Nicht  ohne  Mühe  erkennt 
man  darin  eine  Darstellung  des  Todes  Maria;  ringsum  die  Apostel, 
vorn  am  Boden  die  nackte  Figur  eines  Widersachers;  ein  eifriger 
Apostel  will  eben  ein  schweres  Buch  auf  ihn  werfen,  wird  aber  von 
dem  in  der  Mitte  erscheinenden  Christus  zurückgehalten  i).  Mit  die- 
sem wunderlichen  Zug,  der  uns  sonst  bei  keiner  Darstellung  dieser 
Scene  vorgekommen  ist,  bezahlt  Alfonso  seinen  Tribut  an  die  alt- 
oberitalische  Manier  des  heftigen,  grellen  Ausdruckes.  Sonst  ist  die 
Gruppe  merkwürdig  durch  ihren  Gegensatz  zu  denjenigen  des  Be- 
garelli;  sie  macht  Anspruch  auf  plastische,  nicht  bloss  malerische  An- 


1)  Vasari  sagt:  „ein  rühmliches  Werk,  worin  u.  a.  ein  Jude  auffällt,  der  die  Hände  an  die 
Todtenbahie  der  Mddunua  legt."  —  Vvo^eu  der  deutsche  Herausgeber  bemerkt:  dieses 
Ereigniss  werde  erzählt  in  der  Schrift  ,,de  transitu  virginis",  welche  dem  Bischof  Melito 
(II.  Jahrh.)  zugeschrieben  wurde,  jetzt  aber  für  beträchtlich  neuer  gilt.  Ich  will  die 
oben  im  Text  gegebene  Deutung  nicht  weiter  vertheidigen,  da  meine  Erinnerung  an  die 
Gruppe  nicht  mehr  frisch  und  die  genannte  Schrift  mir  nicht  zur  Hand  ist. 


Alfonso  Lombardi.    Da  Grado. 


65r 


Ordnung,  und  ihre  Einzelformcn  sind  durchaus  mehr  ideal  und  allgemein 
(sowohl  Köpfe  als  Gewandung). 

Nun  stehen  aber  noch  14  Büsten  von  Aposteln  und  Heiligen  im  a 
Chor  von  S.  Giovanni  in  Monte  über  dem  Stuhlwerk;  ungleich 
schönere,  innigere,  lebensvollere  Köpfe,  die  man  der  Vermuthung  nach 
ohne  Anderes  dem  Begarelli  zuschreiben  würde,  wenn  nicht  ,, Alfonso 
und  Niccolö  (?)  von  Ferrara"  als  Urheber  bezeugt  wären.  Nach  der 
momentanen  Lebendigkeit  zu  schliessen,  möchten  sie  zu  einer  Gruppe 
(Maria  Himmelfahrt?  oder  etwas  Ähnlichem)  aus  Alfonso's  bester  mitt- 
lerer Zeit  gehört  haben  i). 

Eine  Mitstrebende  des  A.  Lombardi,  ohne  Zweifel  zuletzt  eben- 
falls unter  Tribolo's  Einfluss,  war  Properzia  de'  Rossi  (st.  1530).  b 
Von  ihr  sind  u.  a.  die  beiden  Engel  neben  Tribolo's  Relief  der  Him- 
melfahrt Maria  in  S.  Petronio  (11.  Cap.  rechts). 


Unter  den  übrigen  Bildhauern  Oberitaliens  ist  der  schon  als  De- 
corator  genannte  Gio.  Franc,  da  Grado  wegen  der  einfach  guten 
Feldherrngräber  in  der  Steccata  zu  Parma  rühmlich  anzuführen.  (Eck-  c 
capellen:  hinten  rechts:  Grab  des  Guido  da  Correggio;  hinten  links: 
Grab  des  Sforzino  Sforza  1526;  vielleicht  auch,  vorn  rechts,  das  des 
Beltrando  Rossi  1527.)  Die  Helden  mögen  auf  ihren  Sarcophagen 
stehen,  schlafen,  oder  wachend  lehnen,  immer  sind  sie  schlicht  und  in 
schöner  Stellung  gegeben;  das  Detail  genügend,  wenn  auch  nicht  vor- 
züglich belebt.  Es  ist  die  Art,  in  welcher  auch  wohl  dem  Giovanni 
da  Nola  ein  vorzüglicher  Wurf  gelangt),  —  Von  sonstigen  Parmesa- 
nern nennen  sich  drei  Brüder  G  o  n  z  a  t  a  mit  der  Jahrzahl  1508  an 
den  vier  Bronzestatuen  von  Aposteln  über  der  hintern  Balustrade  des  d 


')  Die   Gruppe  in   S.    Maria   della   Rosa  zu  Ferrara,   die   man  dem   Alfonso   zuschreibt,   haben 
wir   oben    S.  635,  d   dem    Mazzoni    zugewiesen.      Sonst    gilt    in    Ferrara    die    Reliefhalbfigur  * 
einer  Madonna  in  S.   Giov.   Battista  (die  ich  nicht  kenne)  als  sein  Werk  ,  ebenso  die  Büste  ** 
des  heil.    Hyacinth  in   S.   Domenico,   5.  Cap.   links,  ohne  Zweifel  das  naturalistische  Porträt 
irgend  eines  ausdrucksvollen  Mönchskopfes. 

2)  Von   demselben   da   Grado   könnte   wohl    auch   die    Statue   des   h.    Agapitus   über   dem    Altar  t 
rechts  in  der  Crypta  des  Domes  herrühren. 

42» 


652 


Scnlptur  des  XVI.  Jahrhunderts.    Jacopo  Sansovino. 


Domchors;  magere,  unsicher  gestellte,  aber  im  Detail  sehr  sorgfältige 
a  Figuren.    (Der  dahinter  aufgestellte  Marmortabernakel  ist  eine  geringe 

Arbeit  des  XV.  Jahrh.)     Mit  Begarelli   haben  weder  da  Grado  noch 

die  Gonzaten  etwas  gem.ein. 

Ob  der  Marcus  a  Grate,  welcher  den  geschundenen  S.  Bartholo- 
b  maus  im  Chorumgang  des  Domes  von  Mailand  fertigte,  ein  Sohn  des 

Gio.  Francesco  war,    lassen  wir  dahingestellt.     Der  Kunstgeist  der 

zweiten  Hälfte  des  Jahrh.  kehrt  uns  in  dieser  steifen  Bravourarbeit 

seine  widerlichste  Seite  zu. 


Von  einem  der  trefflichsten  Lombarden  der  goldenen  Zeit,  A  g  o  - 
stino    Busti,   genannt   B  a  m  b  a  j  a  ,    weiss   ich   nur   soviel   zu 
sagen,  dass  Fragmente  seiner  Hauptarbeit,  des  Denkmals  des  Feldherrn 
c  Gaston  de  Foix,  in  der  Ambrosiana  und  in  der  Brera  zu  Mailand  auf- 
bewahrt sein  sollen. 


Doch  es  ist  Zeit,  auf  den  bedeutendsten  Schüler  des  Andrea  San- 
sovino  zu  kommen,  auf  JacopoTatti  aus  Florenz  (1479 — 1570), 
der  von  seiner  nahen  und  vertrauten  Beziehung  zu  dem  grossen  Mei- 
ster insgemein  Jacopo  Sansovino  genannt  wird.  Allerdings 
lernen  wir  ihn  fast  nur  durch  Werke  aus  der  zweiten  Hälfte  seines 
langen  Lebens  kennen,  da  er  als  eine  der  ersten  künstlerischen  Gross- 
mächte Venedigs  (S.  324)  eine  grosse  Anzahl  baulicher  und  plastischer 
Werke  schuf  und  eine  beträchtliche  Schule  um  sich  hatte.  Doch  ist  aus 
seiner  frühern  römischen  Zeit  die  sitzende  Statue  der  Madonna  mit  dem 

d  Kinde  in  S.  AgostinozuRo  m  vorhanden  (neben  dem  Hauptportal), 
eine  Arbeit,  in  welcher  er  sich  dem  Andrea  etwa  auf  die  Weise  Lo- 
renzetto's  nähert,  mit  regem  Schönheitsgefühl  noch  ohne  volles  Lebens- 
gefühl, wie  der  Vergleich  mit  der  nahen  Gruppe  Andrea's  zeigen  mag. 
—  Vollkommen  lebendig  und  von  sehr  schöner  Bildung,  aber  gesucht  in 

c  der  Stellung  erscheint  dann  seine  Statue  des  Apostels  Jacobus  d.  ä. 
im  Dom  von  Florenz  (Nische  am  Pfeiler  links  gegen  die  Kuppel).  —  Zu 

i  diesen  frühern  Werken  mag  auch  der  heil.   Antonius  von  Padua  in 


Jacopo  Sansovino. 


653 


S,  Petronio  zu  Bologna  (9.  Cap.  rechts)  zu  rechnen  sein,  —  endlich  der 
köstliche  Bacchus  in  den  U  f  f  i  z  i  e  n  (Ende  des  2.  Ganges).  Ju-  a 
belnd  schreitet  er  aus,  die  Schale  hoch  aufhebend  und  anlachend,  in 
der  andern  Hand  eine  Traube,  an  welcher  ein  kleiner  Panisk  nascht. 
Der  Bacchus  des  Michelangelo  steht  zur  Vergleichung  in  der  Nähe; 
an  lebendiger  Durchbildung  der  Einzelform  ist  er  dem  Jacopo's  weit 
überlegen;  wer  möchte  aber  nicht  viel  lieber  die  Arbeit  Jacopo's  er- 
dacht haben  als  die  Michelangelo's?  —  ich  spreche  von  Unbethei- 
ligten,  denn  die  Künstler  würden  für  letztern  stimmen,  weil  sie  mit 
seinen  Mitteln  etwas  Anderes  anzufangen  gedächten.  (Der  dritte 
dortige  Bacchus,  eine  kleinere  Figur  auf  einem  Fässchen  stehend,  ist  b 
aus  derselben  Zeit,  aber  von  keinem  der  Sansovino.) 

In  seinen  venezianischen  Arbeiten  erscheint  Jacopo  sehr  un- 
gleich; Einzelnes  ist  unbegreiflich  schwach.  Anderes  dagegen  verräth 
eine  tüchtige  selbständige  Weiterbildung  des  vom  Lehrer  Überkom- 
menen. Zwar  neigt  sich  Jacopo  bisweilen  ebenso  in  das  Allgemeine, 
wie  die  meisten  Nachfolger  Andrea's,  der  seine  schöne  subjective 
Wärme  auf  Niemanden  vererben  konnte;  allein  Jacopo  ist  nur  wenig 
befangen  von  den  Manieren  der  römischen  Malerschule,  auch  nicht 
wesentlich  von  der  Einwirkung  Michelangelo's,  die  erst  bei  seinen 
Schülern  hie  und  da  hervortritt;  er  war  desshalb  im  Stande,  nebst 
seiner  Schule  in  Venedig  eine  Art  Nachblüthe  der  grossen  Kunstzeit 
aufrecht  zu  halten,  die  mit  der  Nachblüthe  der  Malerei  (durch  Paolo 
Veronese,  Tintoretto  etc.)  parallel  geht  und  Jahrzehnte  über  seinen 
Tod  hinaus  dauert. 

Bei  ihm  wie  bei  den  Schülern  sind  nicht  die  Linien,  überhaupt 
nicht  das  Bewusstsein  der  höhern  plastischen  Gesetze  die  starke  Seite; 
ihre  Grösse  liegt,  wie  bei  den  Malern,  in  einer  gewissen  freien  Lebens- 
fülle, welche  über  den  Naturalismus  des  Details  hinaus  ist;  sie  liegt 
in  der  Darstellung  einer  ruhigen,  in  sich  selbst  (ohne  erzwungen 
interessante  Motive)  bedeutenden  Existenz.  Ihre  Arbeiten  können  von 
sehr  unstatuarischer  Anlage  und  doch  im  Styl  ergreifend  sein;  von 
allen  Zeitgenossen  sind  diese  Venezianer  am  wenigsten  conventionell 
in  der  Ausführung  und  am  wenigsten  affectirt  in  der  Anlage.  Hierin 
liegt  wenigstens  ein  grosses  negatives  Verdienst  Sansovino's;  er  ist 
der  unbefangenste  unter  den  Meistern  der  Zeit  von  1530 — 70. 


)A«««*{..-'<.''.'-''^<*<**>*-s?-'  »-illh-#»ö.'«i**viMM*.>«»M'j*««ir* 


654 


Scalptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Jacopo  SaDsovino. 


Für  sein  schönstes  Werk  in  Venedig  glaube  ich  die   Statue  der 

a  Hoffnung  am  Dogengrab  Venier  (f  1556)  zu  S.  Salvatore  halten 
zu  müssen  (nach  dem  2.  Altar  rechts).  Die  plastisch  vortreffliche, 
leichte  Haltung,  die  nicht  ideale,  aber  venezianische  Schönheit  des 
Kopfes,  der  ruhig  gefasste  Ausdruck  lässt  gewisse  Spielereien  in  Haar- 
putz und  Gewandung  wohl  vergessen.  (Thorwaldsen  ist  bei  einer  der 
allegorischen  Statuen  am  Grabmal  Pius  VII.  auf  ein  ganz  ähnliches 
Motiv  gerathen.)  —  Aber  wie  viel  geringer  ist  das  Gegenstück,  die 
Caritas,  mit  ihren  hart  manierirten  Putten!  (Das  Lunettenrelief  von 
anderer  Hand.) 

b  Von  mythologischen  Gegenständen  enthält  die  Loggia  am  Fuss 
des  Campanile  di  S.  Marco  das  Beste  (um  1540).  Die  Bronzestatuen 
des  Friedens,  des  Apoll,  Mercur  und  der  Pallas  sind  zwar,  die  erst- 
genannte ausgenommen,  im  Motiv  etwas  gesucht,  aber  von  schöner 
Bildung,  namentlich  was  die  Köpfe  (zumal  des  Mercur  und  der  Pax) 
betrifft.  Ganz  vorzüglich  sind  dann  einzelne  der  kleinen  Reliefdar- 
steilungen  am  Sockel,  die  zu  den  so  seltenen  wahrhaft  naiven  Kunst- 
werken mythologischen  Inhalts  gehören.  (Die  obern  Reliefs  und  die 
Figuren  in  den  Bogenfüllungen  gelten  als  Schülerarbeit.) 

Übrigens  ist  Jacopo  auch  sonst  im  Relief  am  glücklichsten,  wenn 
es  sich  um  einzeln  eingerahmte  Figuren  handelt.    Man  findet  hinten 

c  im  Chor  von  S.  M  a  r  c  o  die  berühmte  kleine  Bronzethür,  welche 
in  die  Sacristei  führt,  und  welche  den  Meister  zwanzig  Jahre  lang 
beschäftigt  haben  soll;  ihre  beiden  grössern  Reliefs  (Christi  Tod  und 
Auferstehung)  können  bei  vielem  Geist  doch  im  Styl  z.  B.  nicht  neben 
Tribolo  aufkommen,  während  die  Einzelfiguren  der  Propheten  in  den 
horizontalen  und  senkrechten  Einfassungen  völlig  genügen  und  zum 
Theil  von  hoher  Vortrefflichkeit  sind.  (Was  von  der  Bildnissähnlich- 
keit der  vortretenden  Köpfe  in  den  Ecken  mit  Tizian,  Pietro  Aretino 
und  S.  selber  gesagt  wird,  ist  nicht  ganz  zuverlässig.)  —  Ebenso  fehlt 

d  es  den  sechs  bronzenen  Reliefs  mit  den  Wundern  des  heil.  Marcus 
(rechts  und  links  vom  Eingang  des  Chores  an  der  Brustwehr  zweier 
Balustraden)  zwar  nicht  an  geistvollem  und  energischem  Ausdruck 
der  Thatsachen,   wohl  aber  an  dem  wahren  Mass,  welches  diese  Gat- 

e  tung  beherrschen  muss.  —  An  dem  Altar  im  Hintergrunde  des  Chores 
ist  das  kleine  Sacramentsthürchen  mit  dem  von  Engeln  umschwebten 


Jacopo  Sansovino. 


655 


Erlöser  wiederum  eine  nicht  alltägliche  Composition;  man  wird  aber 
vielleicht  die  beiden  einzelnen  marmornen  Engel  auf  den  Seiten  vor- 
ziehen. 

Derselbe  Chor  enthält  auch  noch  die  einzige  Arbeit,  in  welcher  a 
S.  dem  übermächtigen  Einfluss  Michelangelo's  einen  kenntlichen  Tribut 
bezahlt  hat,  nämlich  die  sitzenden  Bronzestatuetten  der  vier  Evange- 
listen auf  dem  Geländer  zunächst  vor  dem  Hochaltar.  (Die  vier  Kir- 
chenlehrer sind  von  einem  Spätem  hinzugearbeitet.)  Man  wird  ohne 
Schwierigkeit  den  ,, Moses"  Michelangelo's  als  ihr  Vorbild  erkennen, 
aber  auch  gestehen,  dass  sie  von  allen  Nachahmungen  die  freiste 
und  eigenthümlichste  sind. 

Im  Dogenpalast  empfängt  uns  Sansovin  mit  den  beiden  Co-  b 
lossalstatuen  des  Mars  und  Neptun,  von  welchen  die  Riesentreppe 
ihren  Namen  hat.  Ihre  unschöne  Stellung,  zumal  beim  Anblick  von 
vorn,  fällt  schneller  in  die  Augen  als  ihre  guten  Eigenschaften,  welche 
erst  demjenigen  ganz  klar  werden,  welcher  sie  in  Gedanken  mit  den 
gleichzeitigen  Trivialitäten  eines  Bandinelli  vergleicht.  Sie  sind  vor 
Allem  noch  anspruchlos  und  mit  Überzeugung  geschaffen,  ohne  ge- 
waltsame Motive  und  erborgte  Musculatur;  es  sind  noch  echte,  un- 
mittelbare Werke  der  Renaissance,  eigene,  wenn  auch  nicht  voll- 
kommene Idealtypen  eines  schöpfungsfähigen  Künstlers,  der  selbst 
mangelhafte  Motive  durch  grossartige  Behandlung  zu  heben  wusste. 

Ein  anderes  bedeutendes  Werk  ist  die  thönerne  vergoldete  Ma-  c 
donna  im  Innern  der  Loggia  des  Marcusthurmes;  sie  ermuthigt  den 
unten  hingeschmiegten  kleinen  Johannes  durch  Streicheln  seines  Haa- 
res, sich  dem  segnenden  Christuskinde  zu  nähern.  Verkleistert,  be- 
stäubt, verstümmelt  und  von  jeher  etwas  manierirt  in  den  Formen, 
ist  die  Gruppe  doch  immer  von  einem  liebenswürdigen  Gedanken  be- 
lebt. —  (Durchaus  schlecht:  die  Madonna  in  der  Capelle  des  Dogen-  d 
palastes.) 

Als   tüchtiges    monumental   aufgefasstes   Porträt   ist   die   eherne  e 
sitzende  Statue  des  Gelehrten  Thomas  von  Ravenna  über  dem  Portal 
von   S.  Giulian  etwa  mit  Tintoretto  in  Parallele  zu  setzen. 

In  welche  Periode  endlich  gehört  der  Johannes  über  dem  Tauf-  i 
becken  in  den  Frari  (Cap.  S.  Pietro,  links)?     Unplastisch  componirt, 


i^-^iM^tiWi'fciiiif  Hfimi*) 


656 


Scnlptnr  des  XVI.  Jahrhunderts.    Venedig. 


aber  fleissig,  naiv  und  vom  zartesten  Gemüthsausdruck  sieht  das  Werk 
aus,  als  hätte  Sansovin  es  noch  von  Rom  her  mitgebracht. 


Wen  Sansovino  von  der  altern  venezian.  Schule  noch  in  Thätig- 
keit  antraf,  wissen  wir  nicht;  es  scheint  eher,  dass  seine  Anstellung 
mit  dem  Auslöschen  jener  zusammenhing.  Es  mögen  um  1530  auch 
andere  Schüler  des  altern  Andrea  Sansovino  in  Venedig  gelebt  haben; 

a  von  einem  solchen  sind  wohl  die  drei  Reliefs  der  Verkündigung,  An- 
betung der  Hirten  und  Anbetung  der  Könige  in  der  kleinen  sechs- 
eckigen Capelle  bei  S.  M  i  c  c  h  e  1  e.  Bei  einer  nicht  besonders  ge- 
schickten Anordnung  (sodass  man  z.  B.  nicht  an  Tribolo  denken  kann) 
sind  sie  vielleicht  das  Holdeste  und  Süsseste,  was  Venedig  in  Marmor 
darbietet,  von  einem  Reiz  der  Formen  und  einem  Seelenausdruck  in 
Zügen  und  Geberden,  der  Entzücken  erregt.  —  Gewiss  war  damals 
auch  Guglielmo  Bergamasco  noch  in  Thätigkeit,  der  1530 
eben  diese  Capelle  baute.    Sollte  er  etwa  der  Urheber  der  drei  Reliefs 

bsein?  die  einzige  bekannte  Statue  von  ihm,  eine  heil.  Magdalena  auf 
dem  Altar  der  ersten  Capelle  rechts  vom  Chor  in  S.  Giovanni  e  Paolo, 
würde  mit  ihrer  reichen  und  süssen  Schönheit,  selbst  mit  ihrem  bau- 
schigen und  doch  nicht  unplastischen  Gewände  zu  diesen  Arbeiten 
wohl  passen.  (Die  übrigen  Sculpturen  des  betreffenden  Altars  eine 
zum  Theil  gute  Schularbeit  der  Lombardi.) 

Jedenfalls  gewann  Jacopo  S.  einen  Einfluss,  der  alle  Übrigen  in 
Schatten  stellte  und  fast  ausschliesslich  um  ihn  eine  Schule  versam- 
melte.    Bei  einem  Bau  von  so  grossem  plastischem  Reichthum  wie 

c  die  B  i  b  1  i  o  t  e  c  a  ergab  sich,  scheint  es,  die  Sache  von  selbst;  aus- 
drücklich werden  T o m ma s 0  Lombardo  (vielleicht  ein  Verwandter 
der  altern  Lombardi),  Girolamo  Lombardo,  Danese  Cataneo 
und  Alessandro  Vittoria  als  ausführende  Schüler  genannt. 
Ich  glaube,  diejenigen  Sculpturen,  welche  noch  unter  unmittelbarer 
Aufsicht  und  Theilnahme  des  Meisters  zu  Stande  kamen,  finden  sich 
hauptsächlich  an  der  Schmalseite  gegen  die  Riva  und  etwa  an  dem 
ersten  Drittel  der  Seite  gegen  die  Piazzetta.  Hier  haben  die  Reliefs 
in  den  Bogen,  die  Flussgötter  in  den  Füllungen  des  untern,  die  Göt- 
tinnen in  denjenigen  des  obern  Geschosses  die  schönste  und  kräf- 
tigste Bildung.    (Bei  den  Flussgöttern  ist  anzuerkennen,  dass  sie  von 


Schüler  Jacopo  Sansovino's.   Gampagna. 


657 


den  entsprechenden  bronzefarbenen  Figuren  in  der  Sistina  fast  ganz 
unabhängig  erscheinen.)    Die  beiden  Karyatiden,  welche  die  Thür  tra-  a 
gen,  sind  von  Vittoria.  —  Von  den  Reliefs  in  den  Bogen  sind  auch 
wieder  die  Felder  mit  einzelnen  Figuren  die  glücklichsten. 

Zwei  frühe  Schüler  Sansovins  scheinen  Tiziano  Minio  von 
Padua  und  D  e  s  i  d  e  r  i  o  von  Florenz  gewesen  zu  sein,  welche  den 
ehernen  Deckel  des  Taufbeckens  in  S.  Marco  verfertigten.  Die  er-  b 
zählenden  Reliefs  sind  in  der  Composition  vom  Besten  der  ganzen 
Schule,  den  Meister  selbst  nicht  ausgenommen.  (Die  Statue  des  Täu- 
fers später,  1565,  von  Franc.  S  e  g  a  1  a.)  —  Minio's  Statuen  zweier  c 
heiligen  Bischöfe  hinter  dem  Hochaltar  des  Santo  in  Padua  sind  bei 
ihrer  jetzigen  Aufstellung  so  viel  als  unsichtbar. 


Unter  allen  Schülern  aber  istGirolamo  Campagna  der  be- 
deutendste und  überhaupt  einer  von  den  sehr  wenigen  Bildhauern, 
welche  noch  nach  der  Mitte  des  XVI.  Jahrh.  eine  naive  Liebens- 
würdigkeit beibehielten.  —  In  S.  G  i  u  1  i  a  n  o  zu  Venedig  (Cap.  links  d 
vom  Chor)  sieht  man  sein  Kochrelief  des  todten  Christus  mit  zwei 
Engeln;  die  Linien  sind  nicht  mustergültig,  die  Gewandung  schon  etwas 
manierirt,  aber  Ausdruck  und  Bildung  sehr  edel  und  schön.  —  In  S. 
Giorgio  maggioreist  die  bronzene  Hochaltargruppe  von  ihm;  e 
die  vier  Evangelisten  tragen  halbknieend  eine  grosse  Weltkugel,  auf 
welcher  der  Erlöser  steht.  Eher  als  Evangelisten  hätten  dämonische 
Naturmächte,  Engel  u.  dgl.  für  diese  Stellung  gepasst,  auch  kann  die 
lebendige  Behandlung  und  die  würdige  Bildung  der  Köpfe  nicht  ganz 
vergessen  machen,  dass  es  dem  Künstler  etwas  zu  sehr  um  plastisch 
interessante  Motive  des  Tragens  zu  thun  war;  aber  der  Salvator  ist 
einfach  und  ganz  grossartig. 

Seine  einzeln  stehenden  Statuen  muss  man  nie  streng  nach  den 
Linien,  sondern  nach  dem  Ausdruck  und  nach  dem  Lebensgefühl 
beurtheilen,  wie  diess  von  den  gleichzeitigen  venez.  Malern  in  noch 
viel  weiterm  Sinne  gilt.  Seine  Bronzestatuen  des  heil.  Marcus  und  i 
des  heil.  Franciscus,  welche  nach  dem  Gekreuzigten  emporschauen 
(auf  dem  Hochaltar  des  Redentore),  sind  innerhalb  dieser  Grenzen 
vortrefflich,  zumal  der  so  schön  und  schmerzlich  begeisterte  Marcus; 
in  dem  Gekreuzigten  bemerkt  man  bei  einer  guten  und  gemässigten 


658        Sculptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Venedig.    Campagna. 

(weder  allzumagern  noch  hässlichen)   Bildung  eine  etwas  zu  starke 
Andeutung  des  schon  eingetretenen  Todes  durch  das  Vorhängen  der 

a  linken  Schulter  i).  —  Neben  dem  Hochaltar  von  S.  Tommaso:  die 
Statuen  des  Petrus  und  Thomas,  mit  würdigen  Köpfen.  —  In  S.  Ma- 

b  ria  de'  miracoli,  vor  der  Balustrade:  S.  Franz  und  S.  Clara,  ersterer 
vielleicht  ein  frühes  Jugendwerk. 

Campagna's  Madonnenstatuen  genügen  weniger;  ihre  Haltung  und 
Kopfbildung  erinnert  zu  sehr  an  Paolo  Veronese,  um  ein  hohes  Da- 

c  sein  ausdrücken  zu  können.  An  derjenigen  in  S.  Salvatore  (2.  Altar 
rechts)  sitzt  das  Kind  hübsch  leicht  auf  den  Händen  der  Mutter,  und 
auch  die  beiden  Putten,  die  sich  unten  an  ihr  Kleid  halten,  sind  glück- 

d  lieh  hinzugeordnet;  dagegen  erscheint  die  in  S.  Giorgio  maggiore 
(2,  Altar  links)  durchaus  wie  ein  spätes  und  schwaches  Werk.    Eine 

e  hübsche  aber  wenig  bezeugte  Madonna  in  der  Abbazia,  Cap.  hinter 

f  der  Sacristei.  In  C.'s  Vaterstadt  Verona  steht  eine  Madonna  von  ihm 
an  der  Ecke  des  Obergeschosses  der  Casa  de'  Mercanti. 

Von   dem   Lieblingsgegenstand   der    venezian.    Sculptur    (wie    der 
Bacchus  es  bei  den  Florentinern  war),  dem  heil.  Sebastian,  hat  Cam- 

g  pagna  am  Hochaltar  von  S.  Lorenzo  wenigstens  eine  gute  Darstellung 
geliefert,  mit  dem  Ausdruck  des  Schmerzes  ohne  Affeetation. 

Wie  schön  und  tüchtig  er  sonstige  Aktfiguren  zu  behandeln  wusste, 

h  zeigt  der  colossale  Atlant  oder  Cyclop  im  untern  Gang  der  Z  e  c  c  a. 
Das  höchst  affectirte  Gegenstück  des  Tiziano  Aspetti  spricht  lauter 
zu  Campagna's  Gunsten,  als  Worte  es  könnten.  —  Im  Dogenpalast 

i  stehen  auf  dem  Kamin  der  Sala  del  Collegio  seine  hübschen  und  le- 
bendigen Statuetten  des  Mercur  und  Hercules.    (Geringer  die  3  Statuen 

k  über  der  einen  Thür  der  Sala  delle  4  porte.) 

1  In  der  Scuola  di  S.  Rocco  ist  bei  der  Statue  des  Heiligen  (un- 
tere Halle)  das  unerlässliche  Vorzeigen  der  Schenkelwunde  glücklich 
als  dasjenige  Wendungsmotiv  benützt,  um  welches  die  damalige  Sculp- 
tur so  oft  in  Verlegenheit  ist.  Im  obern  Saal  sind  die  Statuen  neben 
dem  Altar  —  Johannes  d.  T.  und  wiederum  ein  S.  Sebastian  —  von 
geringerem  Interesse  a's  die  beiden  (unvollendeten)  sitzenden  Prophe- 


*')   Die  kleinen  Statuetten  dieses  Altars  sind  späte,  aber  (ür  den  berninischen  Styl  recht  glückliche 
Schöpfungen  des  Bolognesen  Mazza,  vom  Jahre  1679. 


Campagna.    Cataneo. 


659 


ten  an  den  Ecken  der  Balustrade;  hier  wirkt  Michelangelo  ein,  aber 
noch  nicht  durch  den  Moses,  sondern  durch  die  Figuren  der  Sistina. 
—  Die  beiden  Bronzestatuen  des  Hochaltars  in  S.   Stefano  werden  a 
vielleicht  mit  Unrecht  dem  C.  zugeschrieben;  die  beiden  marmornen 
Statuen  in  S.  Giovanni  e  Paolo  (hinten  am  Altartabernakel  der  Ca-  b 
pella  del   Rosario)   sind   offenbar  im  Missmuth  über  die  ungünstige 
Aufstellung  geschaffen.     Auch  die  heil.  Justina  über  dem  Thorgiebel  c 
des  Arsenals  scheint  ein  geringeres  Werk  zu  sein. 

An  Porträtstatuen  ist  von  C,  ein  Jugendwerk,  der  Doge  Loredan  d 
auf  dessen  Grab  im  Chor  von  S.  Giovanni  e  Paolo  erhalten,  und  eine 
treffliche  Grabfigur  seiner  reifsten  Zeit,  der  schlummernde  Doge  Ci-  e 
cogna  (t  1595)  in  der  Jesuitenkirche  links  vom  Chor. 

Von  wem  ist  endlich  der  schöne  Christuskopf  inS.  Pantaleonef 
(2.  Cap.  rechts)?     Ich  glaube,  dass  von  den  Spätem  nur  Campagna 
fähig  war,  die  edelste  Inspiration  eines  Giov.  Bellini  und  Tizian  so  in 
sich  aufzunehmen.    Und  eine  Arbeit  der  zweiten  Hälfte  des  XVI.  Jahr- 
hunderts wird  die  Büste  doch  sein. 

Endlich  möchte  wohl  die  Annunziata  (in  zwei  aus  der  Wand  vor-  g 
tretenden  Bronzefiguren)  am  Pal.  del  Consiglio  zu  V  e  r  o  n  a  ein  schö- 
nes frühes  Werk  des  Meisters  sein,  etwa  aus  der  Zeit  des  Reliefs  von 
S.  Giuliano;  Gabriel  gleicht  den  Engeln  des  letztern,  und  die  Madonna, 
obwohl  zu  Vermeidung  der  Profilsilhouette  etwas  sonderbar  gewendet, 
ist  die  schönste  weibliche  Figur,  die  C.  gebildet  haben  mag. 


Von  Thomas  von  Lugano,  bekannt  unter  dem  Namen  T  o  m  - 
maso  Lombardo,  sollen  eine  Anzahl  von  Statuen  auf  dem  Dache  h 
der  Biblioteca  gearbeitet  sein.     Der  S.  Hieronymus  in   S.   Salvatore  i 
(2.  Alt.  links)  giebt  vielleicht  als  schwaches  und  spätes  Werk  keinen 
sichern  Anhaltspunkt.     (Nach  Andern  von  Jacopo  Colonna.) 

Danese  Cattaneo  scheint  ausser  J.  Sansovino  auch  an- 
dere Florentiner  gekannt  zu  haben;  wenigstens  sind  die  Statuen  am  k 
Dogengrab  Loredan  (1572)  bei  einer  gewissen  äusserlichen  Süssigkeit 
von  demselben  unvenezianischen  Geist  der  Lüge  und  Affeetation  be- 
seelt, der  die  unwahren  Arbeiten  eines  Ammanali  beherrscht.  (Die 
Porträtstatue,  wie  gesagt,  von  Campagna,  und  früher  gearbeitet  als  der 


4*  '4l6i*M:.*--^<*^:«*!«4*<t»^^-»> 


660        Scnlptor  des  XVI.  Jahrhunderts.    Venedig.    Vittoria. 

a  Rest;  der  Doge  starb  schon  1525.)  —  Weniger  manierirt  die  Statuen 
des  ersten  Altars  rechts  in  S.  Anastasia  zu  Verona. 

Ammanati  selbst  war  übrigens  eine  Zeitlang  J.  Sansovino's  Schü- 
ler gewesen  und  hatte  z.  B.  in  Padua  gearbeitet  (wovon  unten). 


Am  stärksten  repräsentirt  von  allen  Schülern  ist  Alessandro 
Vittoria  (t  1605).   Im  günstigen  Falle  dem  Campagna  beinahe  ge- 
wachsen, hat  er  doch  nirgends  die  Seele  desselben.     Er  producirte 
leicht  und  machte  sich  mit  den  Hauptmotiven  keine  grosse  Mühe,  wäh- 
rend Campagna  wenigstens  gerne  plastisch  rein  gestaltet  hätte.  Sein  an- 
b  genehmstes  Werk  ist  wohl  sein  eigenes  Grabmal  in  S.  Zaccaria  (Ende 
des  linken  Seitenschiffes),  eine  vortreffliche  Büste  zwischen  den  Alle- 
gorien der  Scultura  und  Architettura,  oben  im  Giebel  eine  Ruhmesgöt- 
c  tin,  echt  venezianische  Figuren.    Auch  die  Statue  des  Propheten  über 
der  Hauptthür  ist  schön  und  würdig.  —  Sein  bester  bewegter  Akt  ist 
d  der  S.  Sebastian  in  S.  Salvatore  (3.  Alt.  links,  als  Gegenstück  eines 
e  geringen  S.  Rochus),  seine  sorgfältigste  Anatomiefigur  der  S.  Hiero- 
f  nymus  in  den  Frari  (3.  Alt.  rechts).     Auch  S.  Catharina  und  Daniel 
auf  dem   Löwen,   in   S.   Giulian,   sind  wenigstens  resolut  behandelt, 
g  Geringer  und  zum  Theil  sehr  manierirt:  die  Arbeiten  im  Dogenpalast 
h  (Sala  deir  anticollegio,  Thürgiebel),  an  der  Biblioteca  (die  zwei  Karya- 
i  tiden  der  Thür),  in  S.  Giovanni  e  Paolo  (Mehreres),  in  der  Abbazia 
k  (zwei  grosse  Apostelstatuen),  in  S.  Giorgio  maggiore,  in  S.  Francesco 
della  Vigna  (2.  Cap.  links)  u.  a.  a.  0.    Auch  an  dem  sehr  überfüllten 
1  Grabmal  Contareno  (f  1553)  im  Santo  zu  Padua  (am  ersten  Pfeiler 
links)  sind  mehrere  Figuren  von  ihm. 

Ein  leidlicher  Nachahmer  des  Vittoria,  Franc.  Terilli,  hat 
m  die  Statuetten  des  Christus  und  Johannes  über  den  beiden  Weihbecken 
des  Redentore  mit  vielem  Fleiss  gearbeitet. 


T  i  z  t  a  n  o  A  s  p  e  1 1  i  (t  1607)  steht  wieder  um  eine  grosse  Stufe 

niedriger  und  nähert  sich  den  schlimmsten  Manieren  der  florenti- 

n  nischen  Schule,    Sein  Moses  und  Paulus,  grosse  Erzbilder,  verunzieren 

Palladio's  Fassade  von  S.  Francesco  della  Vigna,  seine  beiden  Engel 


Aspetti.    Dal  Moro. 


661 


den  Altar  der  ersten  Cap.  links.     Sein  schlechter  Atlant  in  der  Bib-  a 
lioteca  wurde  schon  erwähnt;  etwas  besser  sind  die  Tragfiguren  des 
Kamins  in  der  Sala  dell'  Anticollegio  des  Dogenpalastes.     Im  Santo  b 
zu  Padua  ist  mit  Ausnahme  des  Christus  auf  dem  Weihbecken  lauter  c 
geringe  Arbeit  von  A.  in  grosser  Menge  vorhanden. 

Den  Ausgang  der  Schule  macht  Giulio  dal  Moro,  schwäch- 
licher und  gewissenhafter  als  Aspetti.   Das  Geniessbarste  von  ihm  sind 
wohl  die  Sculpturen  der  einen  Thür  der  Sala  delle  quattro  porte  im  d 
Dogenpalast  und  die  drei  Altarstatuen  in  S.  Stefano  (Cap.  rechts  im  e 
Chor).     Seine  grossen  Statuen  des  Laurentius  und  Hieronymus  am  f 
Grabmal  Priuli  in  S.   Salvatore  (nach  dem  ersten  Altar  links)  sind 
sehr  manierirt,  und  ebenso  die  mehrfach  vorkommenden  Statuen  des 
Auferstandenen,  wovon  z.  B.  eine  in  derselben  Kirche  (nach  dem  er- 
sten Altar  rechts). 

Es  braucht  kaum  wiederholt  zu  werden,  dass  auch  diese  Schule, 
wo  ihr  Ideales  nicht  genügt,  den  Blick  durch  eine  Menge  vortreff- 
licher Porträtbüsten  entschädigt;  sie  holt  damit  ein,  was  das  XV.  Jahrh. 
in  Venedig  mehr  als  in  Florenz  versäumt  hatte.  Die  Auffassung  ist 
bisweilen  so  grossartig  frei  wie  in  den  tizianischen  Bildnissen.  Künst- 
lernamen werden  dabei  seltener  genannt  als  bei  den  Statuen  heiligen 
oder  allegorischen  Inhaltes. 


Mit  dem  XVII.  Jahrh.  tritt  in  der  venezian.  Sculptur  dieselbe 
vollkommene  Erschlaffung  ein,  wie  in  der  Malerei  nach  dem  Absterben 
der  Bassano  und  Tintoretto.  Was  von  da  bis  zum  Eindringen  des 
berninischen  Styles  geschaffen  wurde,  ist  kaum  des  Ansehens  werth- 
und  auch  dieser  letztere  Styl  hat  von  seinen  achtbarem  Schöpfungen 
fast  nichts  in  Venedig  hinterlassen. 


Zum  Schluss  muss  hier  im  Zusammenhang  von  den  neun  grossen 
Reliefs  die   Rede  sein,   welche  die  Wände  der  Antoniuscapelle    im  g 
Santo  zu  Padua  bedecken.    Die  Aufgabe  war  eine  der  ungünstigsten, 
die  sich   denken  Hessen:    (mit   Ausnahme  des  ersten   Reliefs)   lauter 
Wunder,  d.  h.  sinnliche  Wirkungen  aus  einer  plastisch  unsichtbaren 


J&W«VliVT  -M 


tV£-'^>Mfif-r^SilM<9Kmfifffill^  »VJWil|iliilBlM«jfa^i^WtPi'i#rfM»i>||>i;ww»i  »af»-^»  ^-1 


662 


Sculptar  des  XVI.  Jahrhnnderts.    Reliefs  im  Santo. 


Ursache,  nämlich  dem  Machtwort,  dem  Dasein,  dem  Gebet,  höchstens 
dem  Gestus  des  HeiHgen.  Für  die  andächtige  Menge,  welche  diese 
Stätte  besucht  und  die  Stirn  an  die  Rückseite  des  Heiligensarges  zu 
drücken  pflegt,  ist  allerdings  über  diesen  Causalzusammenhang  kein 
Zweifel  vorhanden;  sie  verstand  und  versteht  diese  Reliefs,  die  für  sie 
geschaffen  sind,  vollkommen,  würde  aber  vielleicht  doch  bemalte  Thon- 
gruppen  in  der  Art  Mazzoni's  (S.  635)  noch  sprechender  finden,  als 
den  idealen  Styl,  durch  welchen  die  Künstler  mit  namenloser  Anstren- 
gung diese  Historien  veredelt  haben. 

Die  allmählige  Bestellung  und  Ausführung  hat  in  geschichtlicher 
Beziehung  einiges  Dunkle.  Jedenfalls  wollten  die  Besteller  von  allem 
Anfang  an  nur  Grosses  und  Bedeutendes.    Wenn  das  erste  Relief  (die 

a  Aufnahme  des  Heiligen  in  den  Orden),  von  Antonio  Minelli, 
in  der  That  schon  151 2  gearbeitet  ist,  so  hätte  man  sich  gleich  zuerst 
an  einen  vorzüglichen  wahrscheinlich  florentinischen  Mitstrebenden  des 
■  altern  Andrea  Sansovino  gewandt;  es  ist  eines  der  edelsten  und  ge- 
niessbarsten  der  ganzen  Reihe.  Um  dieselbe  Zeit  scheinen  —  mit 
Übergehung  des  Riccio  und  seiner  localen  Schule  —  die  Brüder  An- 
tonio und  Tullio  Lombardi,  wahrscheinlich  als  alte  und  an- 
erkannte Häupter  der  venezianischen  Sculptur  in  Anspruch  genommen 

b  worden  zu  sein;  sie  lieferten  das  sechste,  siebente  und  neunte  Relief 
(vgl.  S.  627,  c,  d)  und  gaben  wahrscheinlich  die  architektonischen  Hinter- 
gründe mit  Stadtansichten  auch  für  alle  übrigen  an.  (Diess  ist  zu  ver- 
muthen  nach  Tullio's  Relief  an  der  Scuola  di  S.  Marco.)  Auf  dem 
sechsten  steht  die  Jahrzahl  1525. 

Darauf  trat  Jacopo  Sansovino  mit  mehrern  seiner  Schüler 

c  ein.  Sein  eigenes  Relief,  das  vierte  (Wiedererweckung  der  Selbst- 
mörderin) ist  auffallend  manierirt;  welche  Epoche  seines  Lebens  dafür 
verantwortlich  sein  mag,  ist  schwer  zu  sagen;  ein  Schüler  Andrea's 
hätte  überhaupt  nie  solche  Körper  und  Köpfe  bilden  dürfen,  wie  hier 

d  mehrere  vorkommen.  Dagegen  ist  C  a  m  p  a  g  n  a  im  dritten  Relief  (Er- 
weckung des  todten  Jünglings)  auf  seiner  vollen  Höhe;  die  nackte 
Kalbiigui  höchst  edel  gebildet  und  entwickelt,  die  Linien  des  Ganzen 
harmonisch,  alles  Einzelne  sehr  gediegen.  —  Einen  andern  schon  mehr 

e  manierirten  Schüler  Jacopo  S.'s  erkennt  man  dann  im  zweiten  Relief 
(Ermordung  der  Frau),  welches  einem  gew.  Paolo  Stella  oder 


Reliefs  )m  Santo.    Neapel. 


663 


Giov.   Maria   Padovano   be'gelegt   wird.   —  Das   fünfte   (Er-  a 
weckung  des  jungen  Parrasio)  und  das  achte  (das  Wunder  rnit  dem  b 
Glase)  sind  für  Danese  Cattaneo,  dem  sie  von  Einigen  zuge- 
schrieben werden,  wohl  zu  gut  und  zu  wenig  affectirt,  wesshalb  andere 
sonst  wenig  bekannte  Namen  (PaoloPeluca,  Giov,  Minio  etc.) 
eher  etwas  für  sich  haben  möchten. 

Alles  zusammengenommen,  ist  die  Reihenfolge  durch  eine  grössere 
Einheit  des  Styles,  der  Erzählungsweise  und  Detailbehandlung  ver- 
bunden, als  man  bei  einer  Hervorbringung  so  Vieler  irgend  erwarten 
dürfte.  Sie  ist  ein  Denkmal  der  höchsten  Anstrengung  der  neuern 
Sculptur  in  der  Gattung  des  erzählenden  Reliefs,  welches  in  der  besten 
dieser  Tafeln  so  massvoll  und  rein  zur  Erscheinung  kömmt,  wie  in 
wenigen  Denkmälern  seit  dem  Zerfall  der  römischen  Kunst.  Das 
übertriebene,  grimassirende  Pathos  der  alten  Lombarden  ist  bis  auf 
vereinzelte  Spuren  (im  2.,  5.,  selbst  im  4.)  überwunden  durch  eine 
ideale  und  ganz  lebendige  Behandlung. 


Neapel,  dessen  Schicksale  gerade  zu  Anfang  des  XVI.  Jahrh. 
sehr  bewegt  waren,  verdankt  vielleicht  seine  wenigen  ganz  ausge- 
zeichneten Sculpturen  nicht  inländischen  Kräften.  —  Den  stärksten 
Sonnenblick  der  rafaelischen  Zeit  glaube  ich  hier  zu  erkennen  in  einem 
bescheidenen  Grabmal  der  Cap.  Carafa  in  S.  Domenico  mag-c 
g  i  o  r  e  (zunächst  rechts  vom  Hauptportal),  mit  dem  Datum  1513.  Über 
dem  Sarcophag,  zu  beiden  Seiten  eines  Profilmedaillons  des  Verstor- 
benen, sitzen  zwei  klagende  Frauen,  welche  Andrea  Sansovino's 
würdig  wären.  —  Den  schönen  frühern  Arbeiten  Michelangelo's  d 
nähert  sich  eine  Statue  der  Madonna  als  Schützerin  der  Seelen  im 
Fegfeuer,  in  S.  Giovanni  a  Carbonara. 

Der  einheimischen  Schule,  die  um  diese  Zeit  mit  Giovanni  da 
N  o  1  a  zu  Kräften  kam,  haben  wir  oben  (S.  247)  einen  wesentlich  deco- 
rativen  Werth  zugewiesen.  Giovanni  selbst  zeigt  weder  ein  tiefes, 
durchgehendes  Lebensgefühl  (so  naturalistisch  er  sein  kann)  noch  ein 
durchgebildetes  Bewusstsein  von  den  Grenzen  und  Gesetzen  seiner 
Kunst,  allein  die  allgemeine  Höhe  hebt  auch  ihn  oft  über  das  Ge- 


664 


Scülptur  des  XVI.  Jahrhunderts.    Neapel. 


wohnliche,  und  die  Versuche  in  stets  neuen  Motiven  geben  seinen  Grab- 
mälern  zumal  einen  originellen  Anschein. 

a  Als  Denkmal  der  ganzen  Schule  kann  die  runde  Cap.  der  Carac- 
cioli  di  Vico  in  S.  Giovanni  a  Carbon  ara  gelten,  voll  von  Sta- 
tuen und  Reliefs;  von  dem  Spanier  P  1  a  t  a  ist  die  (vielleicht  beste) 
Figur   des   Galeazzo   Caracciolo.    —   Ein   anderes   grosses   Werk   der 

b  Schule  ist  das  Grabmal  des  berühmten  Pietro  di  Toledo,  hinten  im 
Chor  von  S.  Giacomo  degli  Spagnuoli;  als  Ganzes  dem 
Grabmal  Franz  I  in  S.  Denis,  und  zwar  nicht  glücklich  nachgebildet, 
in  der  Ausführung  reich  und  sorgfältig;  der  Statthalter  und  seine  Ge- 
mahlin knieen  auf  einem  Ungeheuern  Sarcophag  hinter  Betpulten;  auf 
den  Ecken  des  noch  grössern,  peinlich  decorirten  Untersatzes  stehen 

c  vier  allegorische  Figuren.  —  Von  den  Grabmälern  Giovanni's  in  S.  S  e  - 
V  e  r  i  n  o  ist  dasjenige  eines  sechsjährigen  Knaben,  Andrea  Cicara,  zu- 

d  nächst  vor  der  Sacristei  am  schönsten  gedacht;  —  die  drei  der  vergif- 
teten Brüder  Sanseverino  (15 16,  eine  der  frühsten  Arbeiten)  in  der 
Cap.  rechts  vom  Chor  wunderlich  einförmig,  indem  die  Dreie  fast  in 
gleicher  Stellung  auf  ihren  Sarcophagen  sitzen.  —  Als  das  beste  Re- 

c  lief  des  Meisters  gilt  eine  Grablegung  in  S.  Maria  delle  Grazie  bei  den 
Incurabili  (in  einer  Capelle  links).  —  Schularbeiten  in  vielen  Kirchen 

f  z.  B.  in  S.  Domenico  magg.,  3.  Cap.  links,  das  für  die  damalige  Alle- 
gorik  bezeichnende  Grab  eines  gewissen  Rota,  der  in  Rom  und  Flo- 
renz Beamter  gewesen,  und  dem  desshalb  Arno  und  Tiber  Lorbeer- 

g  kränze  reichen  müssen.  —  Die  Altäre  des  Giovanni  und  seines  Rivalen 
Girolamo  Santa  Croce  zu  beiden  Seiten  der  Thür  in  Monteoliveto  sind 
im  Styl  kaum  zu  unterscheiden.  (Derjenige  des  letztern  ist  kenntlich 
am  S.  Petrus.) 

Durchgängig  das  Beste  sind,  wie  in  so  manchen  Schulen,  wo  das 
Ideale  nicht  rein  und  ohne  Affeetation  zu  Tage  dringen  konnte,  die 
Bildnisse  der  Mausoleen,  sowohl  Büsten  als  Statuen.  Neapel  besitzt 
daran  einen  reichen  Schatz  auch  aus  dieser  Zeit;  ein  Marmorvolk 
von  Kriegern  und  Staatsmännern,  wie  vielleicht  nur  Venedig  ein  zwei- 
tes aufv/eist. 


Wir  gelangen  zu  demjenigen  grossen  Genius,  in  dessen  Hand  Tod 
und  Leben  der  Scülptur  gegeben  v/ar,  zu  Michel  Angelo  Buo- 


Michelangelo. 


665 


n  a  r  r  o  t  i  (1474  — 1563).  Er  sagte  von  sich  selbst,  einmal  er  sei  kein 
Maler,  ein  anderes  Mal  die  Baukunst  sei  nicht  seine  Sache,  dagegen 
bekannte  er  sich  zu  allen  Zeiten  als  Bildhauer  und  nannte  die  Sculptur 
(wenigstens  im  Vergleich  mit  der  Malerei)  die  erste  Kunst:  ,,Es  war 
ihm  nur  dann  wohl,  wenn  er  den  Meissel  in  den  Händen  hatte." 

Seine  Anstrengungen,  dieses  fest  erkannten  Berufes  Herr  zu  werden, 
waren  ungeheuer.  Es  ist  keine  blosse  Phrase,  wenn  behauptet  wird, 
er  habe  zwölf  Jahre  auf  das  Studium  der  Anatomie  verwandt;  seine 
Werke  zeigen  ein  Ringen  und  Streben  wie  die  keines  Andern  nach 
immer  grösserer  schöpferischer  Freiheit. 

Der  erste  Anlauf,  welchen  Michelangelo  nahm,  war  über  alle 
Massen  herrlich.  In  den  Räumen  des  Palazzo  Buonarrotizua 
Florenz  (Via  Ghibellina  N.  7588),  welche  von  dem  jungem,  als  Dich- 
ter berühmten  Michelangelo  B.  dem  Andenken  und  den  Reliquien  des 
grossen  Oheims  geweiht  worden  sind^),  wird  ein  Relief  aufbewahrt, 
welches  dieser  in  seinem  siebzehnten  Jahr  verfertigte:  ,, Hercules  im 
Kamf  gegen  die  Centauren",  d.  h.  ein  Handgemenge  nackter  Figuren, 
unter  welchen  auch  Centauren  vorkommen.  Obwohl  im  Geiste  des 
überreichen  römischen  Reliefs  gedacht,  enthält  es  doch  Motive  von 
griechischer  Art  und  Lebendigkeit,  Wendungen  von  Körpern,  welche 
den  bedeutendsten  momentanen  Ausdruck  mit  der  schönsten  Form 
verbinden;  dass  in  dem  Menschenknäul  vor  der  mittlem  Figur  das 
Mass  überschritten  wird,  geschieht  doch  nicht  auf  Kosten  der  Deut- 
lichkeit und  lässt  sich  durch  die  Jugend  des  Künstlers  entschuldigen. 
Vielleicht  noch  früher  ist  das  Flachrelief  einer  säugenden  Madonna  b 
im  Profil  (ebendort)  gearbeitet;  eine  der  ersten  Arbeiten,  welche  aus 
dem  Realismus  des  XV.  Jahrh.  ganz  entschieden  hinausgehen  in  den 
rein  idealen  Styl. 

Wie  vollkommen  liebenswürdig  wusste  Michelangelo  damals  zu 
bilden!  An  der  Arcadi  S.  Domenico  in  der  Kirche  dieses  Hei-  c 
ligen  zu  Bologna  ist  von  ihm  der  eine  knieende  Engel  mit  dem 
Candelaber  (derjenige  links  vom  Beschauer);  ein  so  hold  jugendliches 
Köpfchen,  wie  es  damals  nur  Lionardo  da  Vinci  zu  bilden  im  Stande 
gewesen  wäre.    Den  schweren  Gewandstoff,  der  zu  einer  lebensgrossen 


')  Sichtbar  jeden  Donnerstag. 
Urcicerone. 


43 


rwi»^-*-'^-  ■^.^A»4J<l-4^ji^.«»;t?fe>^*^^ 


666 


Scnlptur  des  XVI.  Jahrhunderts.    Michelangelo. 


Figur    richtig    passen  würde,    und    die  unverhältnissmässigen  Haar- 
locken nimmt  man  hier  dem  Künstler  so  gerne  als  Unbesonnenheiten 

a  eines  Anfängers  hin.  —  (Auch  die  Statuette  des  heil.  Bischofs  Petro- 
nius,  eine  von  den  vieren  zunächst  über  dem  Sarcophag,  ist  von  ihm, 
aber  unmöglich  aus  derselben  Zeit,  wie  schon  das  manierirte  Gewand 
zeigt.) 

Das  letzte  Werk  dieser  frühen  Periode  (1499)  des  Meisters  ist  die 

b  Gruppe  der  Pietä  in  S.  Peter  zu  Rom  (erste  Capelle  rechts;  die 
Aufstellung  im  kläglichsten  Licht  macht  die  Vergleichung  der  Gyps- 
abgüsse  nothwendig,  deren  ich  aber  keinen  öffentlich  aufgestellten 
kenne).  Dieser  Gegenstand  war  bisher  unzählige  Male  gemeisselt  und 
gemalt  worden,  oft  mit  sehr  tiefem  und  innigem  Ausdruck,  nur  liegt 
insgemein  der  Leichnam  Christi  so  auf  den  Knieen  der  Madonna,  dass 
das  Auge  sich  abwenden  möchte.  Hier  zuerst  in  der  ganzen  neuern 
Sculptur  kann  wieder  von  einer  Gruppe  im  höchsten  Sinne  die  Rede 
sein;  der  Leichnam  ist  überaus  edel  gelegt  und  bildet  mit  Gestalt  und 
Bewegung  der  ganz  bekleideten  Madonna  das  wunderbarste  Ganze. 
Die  Formen  sind  anatomisch  noch  nicht  ganz  durchgebildet,  die  Köpfe 
aber  von  einer  reinen  Schönheit,  welche  Michelangelo  später  nie  wie- 
der erreicht  hat^).  —  (Etwa  aus  derselben  Zeit  die  Madonna  in  N  o  - 
tre  Dame  zu  Brügge.) 


Wie  verhielt  sich  nun  Michelangelo's  Geist,  als  er  seiner  reifen 
Epoche  und  seiner  grossen  Stellung  entgegenging,  zu  den  Aufgaben, 
welche  seine  Zeit  ihm  bot?  Bei  weitem  die  meisten  waren  kirchlicher 
Art,  oder  mussten  doch  zu  einer  kirchlichen  Umgebung  passen.  Die 
freie  Altargruppe  begann  eben  erst  als  Gattung  zu  gelten;  man  er- 
innere sich  der  Capelle  Zeno  in  S.  Marco  zu  Venedig  (1505)  und  ähn- 
licher Arbeiten.  Die  Nischen  der  Kirchenfassaden  füllten  sich  nur 
sparsam  mit  Statuen,  die  der  Pfeiler  im  Innern  etwas  häufiger.    Was 


')  Das  Werk  wurde  ölter  in  Marmor  und  Erz  copirt.  Schon  Luca  Signorelli  malte  davon 
jene  freie  Abbildung  grau  in  grau,  welche  neuerlich  im  römischen  Leihhause  wieder 
aufgetaucht  ist;  wahrscheinlich  dachte  er  nicht  daran,  dass  man  dereinst  Michelangelo's 
Gruppe  für  eine  Copie  nach  seinem  Gemälde  halten  würde,  wie  schon  geschehen  ist. 


Michelangelo. 


667 


sonst  übrig  blieb,  waren  Grabmäler,  deren  Allegorien  das  einzige 
ganz  freie  Element  der  damaligen  Suclptur  heissen  konnten.  Denn 
grosse  Sculpturwerke  mythologischen  Inhalts  waren  noch  ein  seltener 
Luxus,  der  ausserhalb  Florenz  einstweilen  kaum  vorkam. 

Michelangelo  aber  war  stärker  als  je  ein  Künstler  von  dem  Drange 
bewegt,  alle  irgend  denkbaren  und  mit  den  höhern  Stylgesetzen  ver- 
einbaren Momente  der  lebendigen,  vorzüglich  der  nackten  Menschenge- 
stalt aus  sich  heraus  zu  schaffen.  Er  ist  in  dieser  Beziehung  das  ge- 
rade Gegentheil  der  Alten,  welche  ihre  Motive  langsam  reiften  und  ein 
halbes  Jahrtausend  hindurch  nachbildeten;  er  sucht  stets  neue  Möglich- 
keiten zu  erschöpfen  und  kann  desshalb  der  moderne  Künstler  in 
vorzugsweisem  Sinne  heissen.  Seine  Phantasie  ist  nicht  gehütet  und 
eingeschränkt  durch  einen  altehrwürdigen  Mythus;  seine  wenigen  bibli- 
schen Figuren  gestaltet  er  rein  nach  künstlicher  Inspiration  und  seine 
Allegorien  erfindet  er  mit  erstaunlicher  Keckheit.  Das  Lebensmotiv, 
das  ihn  beschäftigt,  hat  oft  mit  dem  geschichtlichen  Charakter,  den 
es  beseelen  soll,  gar  keine  innere  Berührung  —  selbst  in  den  Pro- 
pheten und  Sibyllen  der  Sistina  nicht  immer. 

Und  welcher  Art  ist  das  Leben,  das  er  darstellt?  Es  sind  in  ihm 
zwei  streitende  Geister;  der  eine  möchte  durch  rastlose  anatomische 
Studien  alle  Ursachen  und  Äusserungen  der  menschlichen  Form  und 
Bewegung  ergründen  und  der  Statue  die  vollkommenste  Wirklichkeit 
verleihen;  der  andere  aber  sucht  das  Übermenschliche  auf  und  findet 
es  —  nicht  mehr  in  einem  reinen  und  erhabenen  Ausdruck  des  Ko- 
pfes und  der  Geberde,  wie  einzelne  frühere  Künstler  — ,  sondern  in 
befremdlichen  Stellungen  und  Bewegungen  und  in  einer  partiellen  Aus- 
bildung gewisser  Körperformen  in  das  Gewaltige.  Manche  seiner  Ge- 
stalten geben  auf  den  ersten  Eindruck  nicht  ein  erhöhtes  Menschliches, 
sondern  ein  gedämpftes  Ungeheures.  Bei  näherer  Betrachtung  sinkt 
aber  dieses  Übernatürliche  oft  nur  zum  Unwahrscheinlichen  und  Bi- 
zarren zusammen. 

Sonach  wird  den  Werken  Michelangelo's  durchgängig  eine  Vor- 
bedingung jedes  erquickenden  Eindrucks  fehlen:  die  Unabsichtlichkeit. 
Überall  präsentirt  sich  das  Motiv  als  solches,  nicht  als  passend- 
ster Ausdruck  eines  gegebenen  Inhaltes.  Letzteres  ist  vorzugsweise 
der  Fall  bei  Rafael,  der  den  Sinn  mit  dem  höchsten  Interesse  an  der 

43* 


'•  j^>-»>'.K»><ie»JC.'<i»i"A'.  ■iti.lVt  *Mi'i»i^.<»»<»j*iji*»^Mir<jt»t>gMtft^^ 


668 


ScQlptur  des  XVI.  Jahrhunderts.    Michelangelo. 


Sache  und  das  Auge  mit  innigstem  Wohlgefallen  erfüllt,  lange  ehe 
man  nur  an  die  Mittel  denkt,  durch  welche  er  sein  Ziel  erreicht  hat. 
Aber  die  ungeheure  Gestaltungskraft,  welche  in  Michelangelo  wal- 
tete, giebt  selbst  seinen  gesuchtesten  und  unwahrsten  Schöpfungen 
einen  ewigen  Werth.  Seine  Darstellungsmittel  gehören  alle  dem  höch- 
sten Gebiet  der  Kunst  an;  da  sucht  man  vergebens  nach  einzelnem 
Niedlichem  und  Lieblichem,  nach  seelenruhiger  Eleganz  und  buhleri- 
schem Reiz;  er  giebt  eine  grandiose  Flächenbehandlung  als  Detail  und 
grosse  plastische  Contraste,  gewaltige  Bewegungen  als  Motive.  Seine 
Gestalten  kosten  ihn  einen  viel  zu  heftigen  innern  Kampf,  als  dass  er 
damit  gegen  den  Beschauer  gefällig  erscheinen  möchte. 

Damit  hängt  denn  auch  ihre  unfertige  Beschaffenheit  eng  zusam- 
men. Er  arbeitete  gewiss  selten  ein  Thonmodell  von  derjenigen  Grösse 
aus,  welche  das  Marmorwerk  haben  sollte;  der  sog.  Puntensetzer  be- 
kam bei  ihm  wenig  zu  thun;  eigenhändig  im  ersten  Eifer,  hieb  er 
selbst  das  Werk  aus  dem  Rohen.  Mehrmals  hat  er  sich  dabei  noto- 
risch ,, verhauen",  oder  der  Marmor  zeigte  Fehler,  und  er  Hess  desshalb 
die  Arbeit  unfertig  liegen.  Oft  aber  blieb  sie  auch  wohl  unvollendet, 
weil  jener  innere  Kampf  zu  Ende  war  und  das  Werk  kein  Interesse 
mehr  für  den  Künstler  hatte.  (Ob  etwa  auch  ein  Trotz  gegen 
missliebige  Besteller  mit  unterlief,  ist  im  einzelnen  Falle  schwer  zu 
sagen.) 

Wer  nun  von  der  Kunst  vor  Allem  das  sinnlich  Schöne  verlangt, 
den  wird  dieser  Prometheus  mit  seinen  aus  der  Traumwelt  der  (oft 
äussersten)  Möglichkeiten  gegriffenen  Gestalten  nie  zufrieden  stellen. 
Eine  holde  Jugend,  ein  süsser  Liebreiz  konnte  gar  nicht  das  aus- 
drücken helfen,  was  er  ausdrücken  wollte.  Seine  Ideale  der  Form 
können  nie  die  unsrigen  werden;  wer  möchte  z.  B.  bei  seinen  meisten 
weiblichen  Figuren  wünschen,  dass  sie  lebendig  würden?  (Die  Aus- 
nahmen, wie  z.  B.  die  Delphica  in  der  sixtin.  Capelle,  gehören  frei- 
lich zum  Herrlichsten.)  Gewisse  Theile  und  Verhältnisse  bildet  er 
fast  durchgängig  nicht  normal  (die  Länge  des  Oberleibes,  der  Hals, 
die  Stirn  und  die  Augenknochen,  das  Kinn  etc.),.  andere  fast  durch- 
gängig herculisch  (Nacken  und  Schultern).  Das  Befremdliche  liegt 
also  nicht  bloss  in  der  Stellung,  sondern  auch  in  der  Bildung  selbst. 
Der  Beschauer  darf  und  soll  es  ausscheiden  von  dem  echt  Gewaltigen. 


Der  Bacchus.    Der  David. 


669 


Die  Zeit  des  Künstlers  freilich  wurde  von  dem  Guten  und  von 
dem  Bösen,  das  in  ihm  lag,  ohne  Unterschied  ergriffen;  er  imponirte 
ihr  auf  dämonische  Weise.  Über  ihm  vergass  sie  binnen  20  Jah- 
ren Rafael  vollständig.  Die  Künstler  selber  abstrahirten  aus  dem, 
was  bei  Michelangelo  die  Äusserung  eines  Innern  Kampfes  war,  die 
Theorie  der  B  r  a  v  o  u  r  und  brauchten  seine  Mittel  ohne  seine  Gedan- 
ken, wovon  unten  ein  Mehreres.  Die  Besteller,  unter  der  Herrschaft 
einer  Bildung,  welche  ohnehin  jede  Allegorie  guthiess,  Hessen  sich 
von  Michelangelo  das  Unerhörte  auf  diesem  Gebiete  gefallen  und  be- 
merkten nicht,  dass  er  bloss  Anlass  zur  Schöpfung  bewegter  Gestal- 
ten suchte. 

Die  Reihe  dieser  freien,  rein  künstlerischen  Gedanken  beginnt 
schon  frühe  (vor  der  Pietä)  mit  dem  Bacchus  in  den  U  f  f  i  z  i  e  n  a 
(Ende  des  2.  Ganges).  Mit  dem  antiken  Dionysos-Ideal,  wie  wir  es 
jetzt,  nach  den  seither  ausgegrabenen  Resten  und  den  tiefen  Forschun- 
gen der  Archäologie  kennen,  darf  man  diesen  Bacchus  nicht  vergleichen 
ohne  Ungerechtigkeit;  er  ist  hervorgebracht  unter  der  Voraussetzung, 
einen  trunkenen  Jüngling  darstellen  zu  müssen,  daher  mit  einem  bur- 
lesken Anflug,  mit  starren  Augen,  lallendem  Mund,  vortretendem 
Bauche.  Vielleicht  die  erste  Statue  der  neuern  Kunst,  welche  mit  der 
Absicht  auf  vollkommene  Durchbildung  eines  nackten  Körpers  geschaf- 
fen worden  ist!  ohne  Zweifel  das  Resultat  der  fleissigsten  Naturstudien, 
und  doch,  abgesehen  vom  Gegenstand,  schon  durch  die  bizarre  Stellung 
gründlich  ungeniessbar,  zumal  von  links  her  gesehen. 

Auf  den  ersten  Blick  gefällt  der  colossale  David  vor  dem  Pa-  b 
lazzo  vecchio  in  Florenz  (1501 — 1503)  vielleicht  noch  weniger.  Allein 
der  Künstler  war  auf  einen  Marmorblock  angewiesen,  aus  welchem 
schori  ein  früherer  Bildhauer  irgend  etwas  zu  meisseln  begonnen  hatte; 
sodann  beging  er  einen  Fehler,  den  der  Beschauer  in  Gedanken  wieder 
gut  machen  kann:  er  glaubte  nämlich  David  ganz  jung  darstellen  zu 
nmssen  und  nahm  einen  Knaben  zum  Modell,  dessen  Formen  er  colos- 
sal  bildete.  (Was  hauptsächlich  bei  der  Seitenansicht  bemerklich  wird.) 
Nun  lassen  sich  aber  nur  erwachsene  Personen  passend  vergrössern 
(S.  444,  Anm.),  wenigstens  bei  isoHrter  Aufstellung,  denn  in  Gesell- 
schaft anderer  Colosse  kann  auch  das  colossale  Kind  seine  berech- 
tigte Stelle  finden.   Durch  ein  Verkleinerungsglas  gesehen  gewinnt  der 


., .  v>„»fc.  'ijxu^  ji*i^..,At*v-**'^  jBa^>>rf«<4».tfM  ite^*** 


^#;#N 


670 


Sculptnr  des  XVI.  Jahrhunderts.    Michelangelo. 


David  ungemein  an  Schönheit  und  Leben,  allerdings  mit  Ausnahme 
des  Kopfes,  der  in  einer  ganz  andern  Stimmung  hinzugearbeitet  scheint. 
Wenn  in  dieser  Statue  noch  eine  gewisse  Modellbefangenheit  nicht 
zu  verkennen  ist,  so  finden  wir  Michelangelo  einige  Jahre  später  auf 
der  Höhe  seines  künstlerischen  Könnens  in  dem  nach  1504  entworfe- 
nen, in  der  nächstfolgenden  Zeit  stückweise  ausgeführten  Grabdenk- 

a  mal  Papst  Julius  II.  für  die  Peterskirche.  Die  sehr  flüchtige  Ori- 
ginalzeichnung, die  von  dem  Werke  doch  vielleicht  nicht  das  defini- 
tiv angenommene  Project  wiedergiebt,  ist  in  der  florentinischen  Samm- 
lung der  Handzetchnungen  aufbev/ahrt.  Ein  hoher  Bau  in  länglichem 
Viereck  sollte  an  seinen  Wänden  nackte  gefesselte  Gestalten  (die  von 
Julius  wiedererworbenen  Provinzen  und  die  durch  seinen  Tod  in 
Knechtschaft  gedachten  Künste)  und  auf  seinen  Vorsprüngen  jeden- 
falls die  sitzenden  Statuen  des  Moses  und  Paulus  enthalten,  anderer 
Zuthaten  nicht  zu  gedenken.  Die  Symbolik  war  eine  willkürliche,  ja 
eine  zweideutige;  wer  hätte  z.  B.  Moses  und  Paulus  für  Allegorien 
des  thätigen  und  des  beschaulichen  Lebens  genommen?  und  doch 
waren  sie  so  gemeint.  Aber  als  plastisch-architektonisches  Ganzes 
gedacht  wäre  das  Grabmal  doch  immer  eines  der  ersten  Werke  der 
Welt  geworden. 

Erst  dreissig  Jahre  später,  unter  Paul  III.,  kam  dasjenige  Denk- 

b  mal  zu  Stande,  welches  jetzt  in  S.  Pietro  in  Vincoli  steht.  Es 
ist  kein  Freibau,  sondern  nur  noch  ein  barocker  Wandbau  daraus  ge- 
worden; die  obern  Figuren  sind  von  den  Schülern  nach  dem  Entwurf 
des  Meisters  hinzugearbeitet  und  zwar  nicht  glücklich;  in  dem  armen 
Papst,  der  sich  zwischen  zwei  Pfeilern  strecken  muss,  so  gut  es  geht, 
ist  auch  die  Anordnung  unverzeihlich.  Unten  aber  stehen  die  für  das 
ursprüngliche  Project  in  der  frühern  Zeit  eigenhändig  gearbeiteten 
Statuen  des  Moses,  nebst  Rahel  und  Lea,  letztere  wiederum  als  Sym- 
bole des  beschaulichen  und  des  thätigen  Lebens,  nach  einer  schon  in 
der  Theologie  des  Mittelalters  vorkommenden,  an  sich  absurden  Typik. 
—  Moses  scheint  in  dem  Moment  dargestellt,  da  er  die  Verehrung 
des  goldenen  Kalbes  erblickt  und  aufspringen  will.  Es  lebt  in  seiner 
Gestalt  die  Vorbereitung  zu  einer  gewaltigen  Bewegung,  wie  man  sie 
von  der  physischen  Macht,  mit  der  er  ausgestattet  ist,  nur  mit  Zittern 
erwarten  mag.    Seine  Arme  und  Hände  sind  von  einer  insofern  wirk- 


KmiHfliiiiBaHeiw 


Grabmal  Julius  II. 


671 


lieh  übermenschlichen  Bildung,  als  sie  das  charakteristische  Leben 
dieser  Theile  auf  eine  Weise  gesteigert  sehen  lassen,  die  in  der  Wirk- 
lichkeit nicht  so  vorkömmt.  Alles  bloss  Künstlerische  wird  an  dieser 
Figur  als  vollkommen  anerkannt,  die  plastischen  Gegensätze  der  Theile, 
die  Behandlung  alles  Einzelnen.  Aber  der  Kopf  will  weder  nach  der 
Schädelform  noch  nach  der  Physiognomie  genügen,  und  mit  dem  herr- 
lich behandelten  Bart,  dem  die  alte  Kunst  nichts  Ähnliches  an  die 
Seite  zu  stellen  hat,  werden  doch  gar  zu  viele  Umstände  gemacht; 
der  berühmte  linke  Arm  hat  im  Grunde  nichts  anderes  zu  thun,  als 
diesen  Bart  an  den  Leib  zu  drücken.  —  R  a  h  e  1  ,  das  beschauliche 
Leben,  ist  im  Motiv  ganz  sinnlos;  sie  hat  so  eben  auf  dem  Schemel 
nach  rechts  gebetet  und  wendet  sich  plötzlich,  noch  immer  betend, 
nach  links;  zudem  scheint  ihr  linker  Arm  schon  oben  verhauen.  Das 
Detail  sonst  trefflich.  —  L  e  a  ,  das  thätige  Leben,  mit  dem  Spiegel 
in  der  Hand,  zeigt  in  der  Draperie  unnütze  und  bizarre  Motive  und 
unschöne  Verhältnisse  der  untern  Theile.  Die  Köpfe  haben  wohl  etwas 
Grandios-Neutrales,  Unpersönliches,  welches  die  Seele  wie  ein  Klang 
aus  der  altern  griechischen  Kunst  berührt,  aber  auch  eine  gewisse 
Kälte. 

Ausser  diesen  drei  Statuen  hat  Michelangelo  offenbar  in  sehr 
verschiedenen  Zeiten  eine  Anzahl  von  nackten  Figuren  gemeisselt, 
welche  theils  zum  Grabmal  Julius  IL  wirklich  gehören  sollten,  theils 
wenigstens  damit  in  Verbindung  gebracht  werden.  Das  Trefflichste 
sind  die  beiden  ,,Sclaven"  im  Louvre,  die  offenbar  Stücke  aus  der 
Reihe  jener  Gefesselten  sind.  Weniger  lässt  sich  dies  verbürgen  bei 
den  vier  (nur  theilweise  aus  dem  Rohen  gearbeiteten  und  beträcht-  a 
lieh  grössern)  Statuen  in  einer  Grotte  des  Gartens  Bobolizu  Flo- 
renz (vom  Eingang  links);  es  sind  höchst  lebensvolle  Acte  des  Leh- 
nens  und  Tragens;  die  beiden  vordem  freilich  kaum  erst  kenntlich. 
Dann  eine  Gruppe,  betitelt  ,,der  Sieg",  im  grossen  Saale  des  P  a  1  a  z  z  o  b 
v  e  e  c  h  i  o  ;  ein  Sieger  auf  einem  (unvollendeten)  Besiegten  knieend, 
und  das  während  des  Kampfes  nach  hinten  gestreifte  Gewand  wieder 
hervorziehend,  mit  einer  Wendung  und  Bewegung,  die  freilich  hie- 
durch  nur  nothdürftig  motivirt  wird.     (Spätere  Zeit?) 

Wir  kehren  wieder  in  seine  frühere  römische  Epoche  zurück  und 
nennen  zunächst  den  Christus  im  Quersehiff  von  S.  Maria  soprac 


672 


Scnlptur  des  XVI.  Jahrhanderts.    Michelangelo. 


M  i  n  e  r  V  a  zu  Rom  (um  1527).  Es  ist  eines  seiner  liebenswürdigsten 
Werke;  Kreuz  und  Rohr  sind  zu  der  nackten  Gestalt  und  ihrer  Be- 
wegung edel  und  geschickt  geordnet,  der  Oberleib  eines  der  schönsten 
Motive  der  neuern  Kunst;  der  sanfte  Ausdruck  und  die  Bildung  des 
Kopfes  mag  so  wenig  dem  Höchsten  genügen  als  irgend  ein  Christus, 
imd  doch  wird  man  diesen  milden  Blick  des  ,, Siegers  über  den  Tod" 
auf  die  Gemeinde  der  Gläubigen  schön  und  tief  gefühlt  nennen  müssen. 

a  Ebenfalls  wohl  aus  dieser  Zeit:  die  nur  aus  dem  Rohen  gehauene  und 
in  diesem  Zustand  sehr  viel  versprechende  Statue  eines  Jünglings,  in 
den  Uffizien  (zweiter  Gang),  wahrscheinlich  Apoll,  der  mit  der  Linken 
über  die  Schulter  greift,  um  einen  Pfeil  aus  dem  Köcher  zu  holen.  — 
Dessgleichen,   wenigstens   aus   der   ersten   Hälfte  von   Michelangelo's 

b  Leben:  das  runde  Relief  in  den  Uffizien  (Gang  der  tose.  Sculptur), 
Madonna  mit  dem  auf  ihr  Buch  lehnenden  Kinde,  hinten  der  kleine 
Johannes;  wundervoll  in  diesen  Raum  componirt  und,  soweit  die  Ar- 
beit vollendet  ist,  edel  und  leicht  belebt. 


Die  Arbeiten  des  vorgerückten  Alters  möchten  etwa  mit  dem 
c  t.odten  A  d  o  n  i  s  der  Uffizien  (zweiter  Gang)  zu  beginnen  sein.  Der 
Künstler  hat  Alles  gethan,  um  die  Statue  plastisch  interessant  zu  ma- 
chen; der  Körper  beginnt  auf  der  rechten  Seite  liegend  und  wendet 
sich  nachher  mehr  nach  links;  unter  den  gekreuzten  Füssen  lagert  der 
Eber,  dessen  Zahn  dem  Jüngling  die  (sehr  grelle)  Schenkelwunde  bei- 
gebracht hat.  Aber  der  Kopf  gehört  zu  den  manierirtesten  und  der 
Leib  ist  von  keiner  schönen  Bildung. 

Um  das  Jahr  1529  soll  dann  die  Arbeit  an  den  Statuen  der  welt- 
d  berühmten  mediceischen  Capelle  (oder  Sagrestia  nuova)  bei 
S.  Lorenzo  ihren  Anfang  genommen  haben.  Selten  hat  ein  Künstler 
freier  über  Ort  und  Aufstellung  verfügen  können  (vgl.  S.  329,  c).  Die 
Denkmäler  wirken  desshalb  in  diesem  Raum  ganz  vorzüglich,  schon 
wenn  man  sie  nur  als  Ergänzung  und  Resultat  der  Architektur  be- 
trachtet. L^m  die  Figuren  gross  erscheinen  zu  lassen,  hat  der  Künstler 
sie  in  eine  aus  kleinen  Gliedern  gebildete  bauliche  Decoration  einge- 
rahmt, deren  Detail  freilich  nicht  zu  rühmen  ist.  Die  Aufgabe  selbst 
enthielt  eine  starke  Aufforderung  zu  allgemeinen  Allegorien;  es  han- 


Die  mediceischen  Grabmäler. 


673 


delte  sich  um  die  Gräber  zweier  ziemlich  nichtswürdigen  mediceischen 
Sprösslinge,  für  welche  Michelangelo  am  allerwenigsten  sich  begei- 
stern konnte.  Unter  den  Nischen  mit  den  sitzenden  Statuen  derselben 
brachte  er  die  Sarcophage  an  und  auf  deren  rund  abschüssigem  Deckel 
die  weltberühmten  Figuren  des  Tages  und  der  Nacht  (bei  Giuliano 
Medici-Nemours) ,  der  Morgen-  und  der  Abenddämmerung  (bei  Lorenzo 
Medici,  Herzog  von  Urbino).  Kein  Mensch  hat  je  ergründen  können, 
was  sie  hier  (abgesehen  von  ihrer  künstlerischen  Wirkung)  bedeuten 
sollen,  wenn  man  sich  nicht  mit  der  ganz  blassen  Allegorie  auf  das 
Hinschwinden  der  Zeit  zufrieden  geben  will.  Vielleicht  hätte  Cle- 
mens Vn.  als  Besteller  lieber  ein  paar  trauernde  Tugenden  am  Grab 
seiner  Verwandten  Wache  halten  lassen  —  der  Künstler  aber  suchte 
geflissentlich  das  Allgemeinste  und  Neutralste  auf.  Wie  dem  sei,  diese 
Allegorien  sind  nicht  einmal  bezeichnend  gebildet,  was  denn  auch,  mit 
Ausnahme  der  Nacht,  eine  reine  Unmöglichkeit  gewesen  wäre.  Die 
Nacht  ist  wenigstens  ein  nacktes,  schlafendes  Weib;  man  darf  aber  a 
fragen:  ob  wohl  jemals  ein  Mensch  in  dieser  Stellung  habe  schlafen  kön- 
nen.? sie  und  ihr  Gefährte,  der  Tag,  lehnen  nämlich  mit  dem  rechten 
Ellbogen  über  den  linken  Schenkel.  Sie  ist  die  ausgeführteste  nackte 
weibliche  Idealfigur  i)  Michelangelo's;  der  Tag,  mit  unvollendetem 
Kopf,  kann  vielleicht  als  sein  vorzüglichstes  Specimen  herculischer 
Bildung  gelten.  Als  Motive  aber  sind  gewiss  die  beiden  Däm-b 
merungen  edler  und  glücklicher,  namentlich  der  Mann  sehr  schön 
und  lebendig  gewendet;  das  Weib  (die  sog.  Aurora)  ebenfalls  mehr 
ungesucht  grossartig  als  die  Nacht,  wunderbar  in  den  Linien,  auch 
mit  einem  viel  schönern  und  lebendigem  Kopf,  der  indess  noch  immer 
etwas  Maskenhaftes  behält. 

In  diesen  vier  Statuen  hat  der  Meister  seine  kühnsten  Gedan- 
ken über  Grenzen  und  Zweck  seiner  Kunst  geoffenbart;  er  hat  frei 
von  allen  sachlichen  Beziehungen,  nicht  gebunden  durch  irgend  eine 
von  aussen  verlangte  Charakteristik,  den  Gegenstand  und  seine  Aus- 
führung geschaffen.  Das  plastische  Princip,  das  ihn  leitete,  ist  der 
bis  auf  das  Äusserste  durchgeführte  Gegensatz  der    sich  entsprechen- 


')  Der   Kopf,   welcher   tief   unter  dem  Übrigen  steht,   kann   kaum  von  M.    A.   ausgeführt  sein. 


674 


Sculptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Michelangelo. 


den  Körpertheile,  auf  Kosten  der  Ruhe  und  selbst  der  Wahrschein- 
lichkeit. Mit  seiner  Stylbestimmtheit  gehandhabt,  brachte  dieses  Prin- 
cip  das  grossartige  Unicum  hervor,  welches  wir  hier  vor  uns  sehen. 
Für  die  Nachfolger  war  es  die  gerade  Bahn  zum  Verderben. 

a  Die  Statue  des  J  u  1  i  a  n  ist  nicht  ganz  ungezwungen;  wohin  wen- 
det er  seinen  langen  Hals  und  seine  falschen  Augen?  Ganz  vortreff- 
lich ist  aber  die  Partie  der  Hände,  des  Feldherrnstabes  und  der  Kniee, 

bLorenzo,  bekannt  unter  dem  Namen  il  pensiero,  unvergleichlich  ge- 
heimnissvoll durch  die  Beschattung  des  Gesichtes  mit  Helm,  Hand 
und  Tuch,  hat  doch  in  der  Stellung  seines  rechten  Armes  etv/as  Un- 
freies. Die  Arbeit  ist  von  grösstem  Werthe.  —  Auch  mit  diesen  bei- 
den Statuen  that  Michelangelo  keinen  Schritt  in  das  Historisch-Cha- 
rakteristische, das  seiner  Seele  widerstrebt  haben  muss;  sie  sind 
vielmehr  in  seinen  Styl  vollkommen  eingetaucht  und  können  als  eben 
so  frei  gewählte  Motive  gelten,  wie  alles  Übrige. 

c  Der  kaum  aus  dem  Rohen  gearbeiteten  Madonna  lag  ursprüng- 
lich wohl  ein  ausserordentlich  schöner  plastischer  Gedanke  zu  Grunde; 
es  fehlte  vielleicht  nicht  viel,  so  wäre  sie  die  einzig  treffliche  ganz 
frei  sitzende  Madonna  geworden  (indem  fast  alle  andern  nur  auf 
den  Anblick  von  vorn  berechnet  sind).  Allein  durch  einen  Fehler 
des  Marmors  oder  ein  ,, Verhauen"  des  Künstlers  kam  der  rechte  Arm 
nicht  so  zu  Stande,  wie  er  beabsichtigt  gewesen  sein  muss,  und  wurde 
dann  hinten  so  angegeben,  wie  man  ihn  jetzt  sieht.  Vermuthlich 
hatte  dann  das  Übrige  mit  zu  leiden  und  wurde  desshalb  nur  andeu- 
tungsweise und  dürftig  vollendet.  Ein  unruhigeres  Kind  hat  freilich 
die  ganze  Kunst  nicht  gebildet,  als  dieser  kleine  Christus  ist;  auf  dem 
linken  Knie  der  Mutter  vorwärts  sitzend,  wendet  er  sich  sehr  künst- 
lich rückwärts  um,  greift  mit  seinem  linken  Ärmchen  an  die  linke 
Schulter  der  Mutter  und  sucht  mit  dem  rechten  ihre  Brust. 

d  (Die  zwei  HH.  Cosmas  und  Damian  sind  Schülerarbeiten  vielleicht 
nach  ganz  kleinen  Modellen  des  Meisters.) 

Aus  der  spätem  Zeit  ist  wohl  auch  die  angefangene  Apostelstatue 
e  im  Hof  der  Academie  in  Florenz;  sie  zeigt  auf  das  Merkwür- 
digste, wie  Michelangelo  arbeitete;  ungeduldig  möchte  er  das  (gequält 
grossartige)  Lebensmotiv,  das  für  ihn  fertig  im  Marmorblocke  steckt, 


Letzte  Arbeiten. 


675 


daraus  befreien;  aber  irgend  ein  Umstand  kommt  dazwischen  und  die 
Arbeit  bleibt  liegen  i). 

Endlich  sorgte  Michelangelo  eigenhändig  für  sein  Grabmal;  es  a 
sollte  wieder  eine  Pietä  sein.  Damals  begann  er  wahrscheinlich  das- 
jenige Werk,  welches  jetzt  im  Hofe  des  Palazzo  Rondanini  zu  Rom 
(am  Corso)  steht,  und  das  am  besten  unbesichtigt  bleibt.  Wie  konnte 
er,  nachdem  der  Block  schon  so  verdorben  war,  wie  man  ihn  sieht, 
doch  noch  diese  Gestalten  herauszwingen  wollen,  auf  Kosten  der- 
jenigen Körperverhältnisse,  die  Niemand  besser  kannte  als  Er?  Leider 
ist  wohl  jeder  Meisselschlag  von  ihm. 

Später  arbeitete  er  —  der  Sage  nach  aus  einem  Capital  des  Frie-  b 
denstempels,  das  ihm  Papst  Paul  III.  geschenkt  —  diejenige  Gruppe, 
welche  jetzt  im  Dom  von  Florenz,  unter  der  Kuppel,  aufgestellt 
ist.  Er  hat  den  Werth  einer  monolithen  Arbeit  überschätzt  und  dem 
Marmor,  welcher  nicht  reichte,  das  Unmögliche  zugemuthet,  um  Fi- 
guren herauszubringen,  die  sich  der  Lebensgrösse  wenigstens  nähern. 
Es  ist  ein  höchst  unerquickliches  Werk,  von  der  rechten  Seite  ge- 
sehen unklar,  durch  die  Gestalt  des  Nicodemus  zusammengedrückt. 
Die  Stellung  der  Leiche  dürfte  mit  jener  ersten  Pietä  in  S.  Peter  nicht 
von  ferne  verglichen  werden. 

Eine  ganz  späte  Arbeit  soll  auch  die  angefangene  Büste  desc 
Brutus  in  den  Uffizien  (Halle  d.  Hermaphr.)  sein,  angeblich  nach 
einer  antiken  Gemme  wahrscheinlich  aber  ein  frei  geschaffenes  Cha- 
rakterbild und  ein  Gegenstand,  der  dem  trotzigen  Sinne  des  Meisters 
nahe  lag.    Physiognomisch  abstossend  und  dabei  grandios  behandelt. 

—  Das  eigene  Bildniss  Michelangelo's,  ein  schöner  Bronzekopf,  im  d 
Conservatorenpalast  des  Capitols  (5.  Zimmer)  gilt  als  seine  Arbeit. 

Zahllose  kleine  Modelle  seiner  Hand  sind  zerstreut  und  zu  Grunde 
gegangen;  was  von  der  Art  in  italienischen  Sammlungen  vorkömmt, 
verdient  insgemein  wenig  Zutrauen.     (Der  Christuskopf  in  S.  Agnese  e 
bei  Rom,  in  einer  Cap.  rechts,  ist  jedenfalls  nicht  von  ihm  ausgeführt; 

—  das  Relief  einer  Pietä  in    der  Kirche  des  Albergo  de'  poveri  zu  f 


1)  Wenn  auch  Michelangelo  schon  1503  für  die  Querbaucapellen  des  Domes  in  Florenz  die 
Statuen  der  12  Apostel  bestellt  erhielt,  so  kann  er  doch  den  vorliegenden  S.  Matthäus  wohl 
viel  später  und  für  eine  andere  Bestimmung  gearbeitet  haben.  Der  Styl  nöthigt  zu  einet 
derartigen  Annahme. 


676 


Scnlptnr  des  XVI.  Jahrhonderts.    Michelangelo. 


a  Genua  zweifelhaft;  —  über  eine  Gruppe  der  Pieta  in  S.  Rosalia  zu 
Palestrina  ist  mir  nichts  Näheres  bekannt;   —  die  Statue  Gregors  d. 

b  Gr.  in  einer  der  Capellen  neben  S.  Gregorio  in  Rom,  von  Cordieri 
vollendet,  hat  wohl  am  ehesten  Anspruch  auf  Erfindung  und  Theil- 
nähme  des  Meisters;   —  als  Jugendarbeit  wird  ihm  der  kleine  nackte 

c  Christus  am  Grabmal  Bandini  im  linken  Seitenschiff  des  Domes  von 
Siena  beharrlich  zugeschrieben  etc.  etc.) 


Der  Beschauer  wird  merkwürdig  gestimmt  gegen  einen  Künstler, 
dessen  Grösse  ihm  durchgängig  imponirt  und  dessen  Empfindungs- 
weise doch  so  gänzlich  von  der  seinigen  abweicht.  Die  frucht- 
bringendste Seite,  von  welcher  aus  man  Michelangelo  betrachten  kann, 
bleibt  doch  wohl  die  historische.  Er  war  ein  grossartiges  Schick- 
s  a  1  für  die  Kunst;  in  seinen  Werken  und  ihrem  Erfolg  liegen  we- 
sentliche Aufschlüsse  über  das  Wesen  des  modernen  Geistes  offen 
ausgesprochen.  Die  Signatur  der  drei  letzten  Jahrhunderte,  die 
Subjectivität,  tritt  hier  in  Gestalt  eines  absolut  schrankenlosen 
Schaffens  auf.  Und  zwar  nicht  unfreiwillig  und  unbewusst  wie  sonst 
in  so  vielen  grossen  Geistesregungen  des  XVI.  Jahrh.,  sondern  mit 
gewaltiger  Absicht.  Es  scheint,  als  ob  Michelangelo  von  der  die  Welt 
postulirenden  und  schaffenden  Kunst  beinahe  so  systematisch  gedacht 
habe,  wie  einzelne  Philosophien  von  dem  weltschaffenden  Ich. 


Er  hinterliess  die  Sculptur  erschüttert  und  umgestaltet.  Keiner 
seiner  Kunstgenossen  hatte  so  fest  gestanden,  dass  er  nicht  durch 
Michelangelo  desorientirt  worden  wäre  —  in  welcher  Weise,  haben 
wir  schon  angedeutet.  Aber  die  äußere  Stellung  der  Sculptur  hatte 
sich  durch  ihn  ungemein  gehoben;  man  wollte  jetzt  wenigstens  von 
ihr  das  Grosse  und  Bedeutende  und  traute  ihr  Alles  zu. 

Die  Gehülfen  des  Meisters  haben,  seit  sie  das  waren,  kaum  mehr 
einen  eigentliümlichen  Werth.  Vvii  uexuien  zuerst  Giov.  Angelo 
Montorsoli  (1498  — 1563),  der  den  Michelangelo  schon  von  dessen 
frühern  Werken,  zumal  von  der  Sistina  an  begleitet  und  nachahmt, 
dabei  aber  auch  Einwirkungen  von  Andrea  Sansovino  und  von  den 


Hontorsoli. 


677 


Lombarden  her  verräth,  und  diess  Alles  mit  einer  gewissen  decora- 
tiven  Seelenruhe  zu  einem  nicht  unangenehmen  Ganzen  verschmelzt. 
Von  der  Mitarbeit  in  der  mediceischen  Capelle  an,  wo  er  den  heil,  a 
Cosmas  ausarbeitete,  wird  er  ausschliesslich  Michelangelist. 

Von  Andrea  Doria  nach  Genua  berufen  i),  musste  er  als  Archi- 
tekt und  Bildhauer  das  sein,  was  Perin  del  Vaga  als  Maler;  die  in 
den  Künsten  durch  politische  Leiden  arg  zurückgekommene  Stadt 
bedurfte  auswärtiger  Kräfte.  Die  Kirche  S.  M  a  1 1  e  o  ,  das  Familien-  b 
heiligthum  der  Doria,  ist  ein  ganzes  Museum  seiner  Sculpturen^), 
Manches  davon  zeigt,  dass  er  sich  half,  wie  er  konnte;  in  den  sitzen- 
den Relieffiguren  der  beiden  Kanzeln,  in  den  vier  Evangelisten  der 
Chorwände  ist  mehr  als  eine  Reminiscenz  aus  der  Sistina  zu  be- 
merken; von  den  Freisculpturen  hinten  im  Chor  ist  die  Pietä,  was 
die  Lage  des  Leichnams  betrifft,  nach  derjenigen  Michelangelo's  in 
S.  Peter  copirt,  was  zu  der  peruginesken  Madonna  nicht  recht  passt; 
die  vier  übrigen  Statuen  (Propheten)  haben  beinahe  die  Art  des 
Guglielmo  della  Porta  und  der  damaligen  Lombarden.  Die  reiche 
Stucchirung  der  Kuppel  und  des  Chores  (von  Gehülfen  ausgeführt), 
die  beiden  Altäre  des  Querschiffes  (mit  den  vielleicht  von  andern 
Händen  gefertigten  Reliefs  über  den  Altären),  die  Reliefs  von  Tritonen 
und  gefangenen  Türken  unter  den  Kanzeln  und  das  Denkmal  des 
Andrea  Doria  in  der  Crypta  (welches  der  Verf.  nicht  sah)  vollenden 
diesen  in  seiner  Art  einzigen  plastischen  Schmuck,  dessen  Gleichen 
selten  Einem  Künstler  anvertraut  worden  ist.  Montorsoli  hatte  bei 
seiner  massigen  Begabung  ganz  Recht,  dass  er  sich  nicht  durch  das 
gleichzeitig  glänzende  Beispiel  der  mediceischen  Capelle  irre  machen 
Hess.    Auf  diese  Weise  hat  die  Nachwelt  etwas  Geniessbares  erhalten. 

Eine  späte   Arbeit  M.'s  ist  dann  der   1561   vollendete  Hauptaltar  c 
in  den   Servi  zu  Bologna.     Die  drei   Statuen  der  Nischen,  der  Auf- 
erstandene mit  Maria  und  Johannes  zeigen  noch  eine  schöne  sanso- 


')  Laut  der  genuesischen  Guida  schon  1528,  laut  Vasari  erst  nach  1535  oder  noch  später,  was  zu 

andern  Daten  nicht  recht  passt. 
^)  Im   anstossenden    Kreuzgang   sind   die    Überreste   der    1797    demolirten    Statuen   des    Andrea 

und   Giov.   Andrea    Doria,    von    den    Jahren    1528  (?)    und  1577    aufgestellt.     Die   erstere    ist 

ein    vortreffliches    Werk     von     Montorsoli's     Hand,     die     letztere     eine     schon     manierirte 

Nachahmung     der  erstem. 


^>^j'  <t-:  •«./■».,  -.-•■  <>n,v»v-»:.'*-«.«^MjiK<:*r»JV*.vw<.i 


678 


Scolptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Montorsoli. 


vinische  Inspiration;  die  (ungeschickter  Weise  viel  grösser  gebildeten) 
Statuen  über  den  beiden  Seitenthüren  und  unten  an  den  Seiten  des 
Altares,  sowie  die  sämmtlichen  Sculpturen  der  Rückseite  mehr  das 
Öde  und  Allgemeine  der  römischen  Schule.  —  Nicht  sehr  viel  früher 

a  arbeitete  M.  die  Statuen  des  Moses  und  Paulus  in  der  Capella  de' 
Pittori  bei  der  Annunziata  in  Florenz.  (Die  ebendort  befindlichen 
sitzenden  Statuen  sind  von  Verschiedenen  nach  den  gemalten  Pro- 
pheten der  sixtinischen  Capelle  in  Thon  modellirt;  ein  Zeugniss  mehr 
für  den  Einfluss  der  letztern  auf  die  ganze  Sculptur,  welche  noch 
heute  daraus  Belehrung  schöpfen  kann.) 

b  Das  Grabmal  Sannazaro's  in  S.  Maiia  del  Parto  zu  Neapel,  woran 
die  sitzenden  Statuen  des  Apoll  und  der  Minerva  (in  David  und  Judith 
travestirt)  von  M.'s  Hand  sind  (der  Rest  von  Santacroce),  bekenne  ich 
nicht  gesehen  zu  haben. 


Ein  anderer  Schüler  Michelangelo's,  Rafaelle  da  Monte- 

c  1  u  p  o  ,  arbeitete  nach  des  Meisters  Modellen  in  der  mediceischen  Capelle 

d  den  heil.  Damian  und  oben  am  Grabmal  Julius  II  die  Statuen  des 

Propheten  und  der  Sibylle  (S.  670,  b).   Von  seinen  unabhängigen  Wer- 

e  ken  ist  die  tüchtige  und  einfache  Grabstatue  des  Cardinais  Rossi  (in  der 

Vorhalle  von  S.  Felicita  in  Florenz)  zu  nennen. 

GuglielmodellaPorta(t  I577)  könnte  nach  seiner  frühern 
und  spätem  Thätigkeit  auf  zwei  verschiedene  Stellen  dieser  Übersicht 
vertheilt  werden,  wenn  nicht  auf  der  spätem  Zeit,  da  er  den  Michel- 
angelo nachahmte,  der  beträchtlich  stärkere  Accent  läge.  Seine  frühern 
Sachen,  die  den  lombardischen  Styl  am  Anfang  des  XVI.  Jahrh.  re- 
präsentiren,  mit  einem  kleinen  Anklang  an  A,   Sansovino,  sind  be- 
sonders zahlreich  in  Genua  vorhanden.      Sehr  unerquicklich:   die 
f  Propheten  in   Relief  an  den   Säulenbasen  des  Tabernakels  der   Jo- 
hannescapelle  im  Dom;  —  höchst  fleissig,  überladen  und  von  gesuchter 
g  Belebung  in  Draperie  und  Fleisch:  die  sieben  Statuen  am  Altar  des 
linken  Querschiffes  ebenda;  nur  die  mittlere,  ein  sitzender  Christus, 
h  mit  höherer  Weihe;    —  fast  roh:   die  Gruppe  Christi  und  des  heil. 
Thomas,  an  der  Vorhalle  von  S.  Tommaso.  —  Später,  unter  dem  sehr 
nahen  Einfluss  Michelangelo's,  entstand  das  berühmte  Grabmal 


Della  Porta.    Clementi. 


679 


Pauls  III.  im  Chor  von  S.  Peter.  Die  gewonnene  Stylfreiheit  ist  a 
vortrefflich  benützt  in  der  sitzenden  Bronzestatue  des  Papstes,  welche 
Guglielmo's  volles  Eigenthum  ist;  lebenswahr  und  doch  heroisch  er- 
höht. Die  beiden  auf  dem  Sarcophag  lehnenden  Frauen,  angeordnet 
wie  die  vier  Tageszeiten  auf  den  Gräbern  von  S,  Lorenzo,  sind  diesen 
an  Bedeutung  der  plastischen  Linien  nicht  zu  vergleichen,  allein 
Guglielmo  übertraf  den  Meister  wenigstens  von  der  einen  Seite,  wo 
ihm  leicht  beizukommen  war,  von  Seiten  der  sinnlichen  Schönheit. 
Seine  ,, Gerechtigkeit"  ist  zwar  darob  etv/as  lüstern  und  absichtlich 
ausgefallen;  die  betagte  ,, Klugheit"  hat  mehr  von  Michelangelo.  — 
Im  grossen  Saal  des  Pal.  Farnese  findet  man  zwei  ähnliche  Statuen,  b 
welche  wie  erste,  weniger  gerathene  Proben  derselben  Aufgabe  aus- 
sehen, jedoch  zu  demselben  Grabmal  gehörten  und  erst  bei  dessen 
Versetzung  an  die  jetzige  Stelle  davon  weggenommen  wurden.  —  Von 
Guglielmo's  Bruder  G  i  a  c  o  m  o  sind  die  Grabmäler  der  Gap.  Aldo-  c 
brandini  in  der  Minerva  (die  6.  rechts)  wenigstens  entworfen;  in  der 
Ausführung  erinnern  sie  an  Guglielmo. 


Unter  den  Lombarden,  welche  von  Michelangelo  die  Richtung 
ihres  Styles  empfingen,  ist  nächst  Gugl.  della  Porta  ein  gewisser 
Prospero  Clementi  nicht  unbedeutend,  welcher  hauptsächlich  in 
seiner  Vaterstadt  Reggio  um  die  Mitte  des  Jahrh.  thätig  war.  Im 
Dom  daselbst  (Cap.  rechts  vom  Chor)  ist  das  Grabmal  des  Bischofs  d 
Ugo  Rangoni  sein  Hauptwerk;  sowohl  die  sitzende  Statue  als  die 
beiden  Putten  am  Sarcophag  und  die  zwei  kleinen  Reliefs  (Tugenden) 
an  der  Basis  verrathen  den  Einfluss  Michelangelo's,  ja  schon  den  des 
della  Porta,  allein  es  ist  ein  solider  Rest  von  Naivetät  übrig  geblieben, 
der  weder  arge  Manier  noch  falsches  Pathos  aufkommen  lässt.  Dann 
möchte  ich  dem  Clementi  an  dem  absurd  (als  colossales  Stundenglas) 
gebildeten  Grabdenkmal  des  Ch.  Sforziano,  gleich  links  vom  Eingang, 
die  drei  vorzüglich  schönen  Statuetten  des  Auferstandenen  und  zweier 
Tugenden  zuschreiben.  Sie  verbinden  die  Art  der  römischen  Schule 
mit  einer  noch  fast  sansovinischen  Milde  und  Mässigung.  (Viel 
geringer  und  wohl  von  anderer  Hand  das  Grab  Maleguzzi,  1583,  gegen- 
über.) —  Am  Palazzo  Ducale  zu  Modena,  beim  Portal,  die   Statuen  e 


68o 


ScQlptur  des  XVI.  Jahrhanderts .   Bandinelli. 


des    Lepidus     und     des    Hercules,     letztere   ungeschlacht     musculös. 

a  —  In  der  Crypta  des  Domes  von  Parma  ist  von  Clement!  ein  Grab 
vom   Jahr    1542     mit    zwei     sitzenden   Tugenden     (hinten,     rechts). 

b  —  In  S.  Domenico  zu  Bologna  (Durchgang  zur  linken  Seitenthür)  am 
Grabmal  Volta  die  Statue  des  heil.  Kriegers  Proculus,  einfach  und 
tüchtig. 

c  Das  Grab  des  Meisters,  vom  Jahr  1588,  im  Dom  von  Reggio  (i. 
Gap.  links)  ist  mit  seiner  schönen  Büste  geschmückt.  —  Den  Auslauf 
seiner  Schule  bezeichnen  die  Statuen  im  Querschiff  und  an  der  Fas- 
sade daselbst. 


Wenn  man  sich  jedoch  in  Kürze  überzeugen  will,  welche  zwin- 
gende Gewalt  Michelangelo  als  Bildhauer  über  sein  Jahrhundert  und 
das  folgende  ausübte,  so  genügt  schon  ein  Blick  auf  die  florentinische 
Sculptur  nach  ihm.  Sie  ist  besonders  belehrend,  weil  die  mediceischen 
Grossherzoge  auch  die  profane,  mythologische  und  monumentale  Seite 
der  Kunst  mehr  pflegten,  als  diess  sonst  irgendwo  in  Italien  geschah, 
ohne  dass  doch  die  kirchlichen  Aufgaben  desshalb  aufgehört  hätten. 
Wir  haben  bis  hieher  einen  florentinischen  Künstler  verspart,  der 
als  Michelangelo's  unedler  Nebenbuhler  auftrat  und  doch  in  seinen 
meisten  Werken  ihn  gerade  von  der  bedenklichen  Seite  nachahmte: 
Baccio  Bandinelli  (1487 — 1559).  Er  ist  ein  sonderbares  Ge- 
misch aus  angeborenem  Talent,  Reminiscenzen  der  altern  Schule  und 
einer  falschen  Genialität,  die  bis  ins  Gewissenlose  und  Rohe  geht.  — 

d  Das  Beste,  wo  er  ganz  ausreichte,  sind  die  Relieffiguren  von  Aposteln, 
Propheten  etc.  an  den  achtseitigen  Chorschranken  unter  der  Kuppel 
des  Domes;  hier  sind  einige  Figuren  sehr  schön  gedacht  und  stehen 
trefflich  im  Raum;  alle  sind  einfach  behandelt.  —  Dagegen  zeigt  die  be- 

e  kannte  Gruppe  des  Hercules  und  Cacus  auf  Piazza  del  Granduca, 
was  er  an  Michelangelo  bewundern  musste  und  wie  er  ihn  miss- 
verstand. Er  glaubte  ihm  die  mächtigen  Formen  absehen  zu  können 
und  machte  ihm  auch  die  Contraste  nach,  so  gut  er  konnte;  aber 
ohne  alles  Liniengefühl  und  ohne  eine  Spur  dramatischen  Gedankens, 
wozu  doch  der  Gegenstand  genügsame  Mittel  an  die  Hand  gab;   es 


Bandinelli  und  Schule. 


68i 


ist  eines  der  gleichgültigsten  Sculpturwerke  auf  der  Welt,  —  Adam  und  a 
Eva  im  grossen  Saal  des  Pal.  Vecchio,  datirt  1551,  sind  wenigstens 
einfache  Akte,  Adam  sogar  wieder  mehr  naturalistisch.     Die  Bildniss- 
statuen ebendaselbst  haben  in  den  Köpfen  etwas  von  der  grandiosen 
Fassung,  welche  auch  den  gemalten  Porträts  der  sonst  schon  manie- 
rirten  Zeit  eigen  ist,  sind  aber  im  Körpermotiv  meist  gering.     (Die 
Gruppe  der  Krönung  Carls  V  offenbar  von  zwei  verschiedenen  Künst- 
lern.) —  Die  Basis  auf  dem  Platze  vor  S.  Lorenzo,  mit  einem  für  jene  b 
Zeit  plastischen  Relief,  trägt  jetzt  die  ihr  längst  bestimmte  sitzende 
Statue  des  Giovanni  Medici,  von  welcher  dasselbe  Urtheil  gilt.  —  Ein 
Bacchus')  im  Pal.  Pitti  (Vestibül  des  ersten  Stockes)  ist  im  Gedanken  c 
die  geringste  unter  den  Bacchusstatuen  der  damaligen  Künstler.  —  Die 
beiden  Gruppen  des  todten  Christus  mit  Johannes  (in  S.  Croce,  Cap.  d 
Baroncelli)  und  mit  Nicodemus  (Annunziata,  rechtes  Querschiff")  von  e 
ganz  leeren  Formen  und  von  der  schlechtesten  Composition;  der  Haupt- 
umriss  ein   rechtwinkliges  Dreieck  auf  der  längern  Kathete  liegend. 
Ganz  kümmerlich  ist  der  sitzende  Gottvater  (im  ersten  Klosterhof  von  f 
S.  Croce)  ausgefallen;  als  das  Beste  erscheint  die  nach  Michelangelo 
copirte  Hand  mit  dem  Buch.   —  Etwas  besser  der  Petrus  im  Dom  g 
(Eingang  zum  Chor,  links).  —  Ganz  mittelmässig:  die  Nebenfiguren 
an  den  Grabmälern  Leo's  X.  und  Clemens  VII.  im  Chor  der  Minerva  h 
zu  Rom;   die  ebenfalls  unbedeutenden  sitzenden  Porträtstatuen  sind 
von  Raf.  da  Montelupo  und  Nanni  di   Baccio  Bigio,   einem  andern 
kümmerlichen  Rivalen  Michelangelo's,  ausgeführt. 

Baccio's  Schüler  Giovanni  dall'  Opera  hatte  Antheil  an 
den  Reliefs  im  Dom  und  fertigte  die  Altarreliefs  in  der  Cap.  Gaddi  in  i 
S,  Maria  novella  (Querschiff  links,  hinten),  welche  die  darzustellende 
Thatsache  durch  tüchtig  präsentirte  Nebenfiguren  in  Vergessenheit 
bringen.  —  An  dem  von  Vasari  componirten  Grabmal  Michelangelo's  in  k 
S,  Croce  ist  die  Figur  der  Baukunst  von  ihm;  eine  recht  gute  Arbeit. 
(Die  Sculptur  von  Cioli,  die  Malerei,  mit  der  Statuette  in  der  Hand, 
von  Lorenzi.)  Das  ganze  Denkmal  ist,  beiläufig  gesagt,  eines  der 
wenigen,  wo  die  Allegorie  völlig  in  ihrem  Rechte  ist  und  deutlich  von 
selber  spricht,  indem  sie  ein  notorisches  Verhältniss  ausdrückt.     Die 

')  Laut  Vasari  aus  einem  missrathenen  Adam  zum  Bacchus  umgestaltet. 

^)  Letztere  von  seinem  natürlichen  Sohn  demente  angefangen,  von  ihm  vollendet. 


Urcicerone. 


44 


,_T       «jiML*«' 


HiMMJwiMMttiMiiiiiiii^^ 


682 


Sculptnr  des  XVI.  Jahrhonderts.    Ammanati. 


Allegorien  z.  B.  gerade  der  meisten  übrigen  Monumente  von  S.  Croce 
sind  entweder  nur  durch  einen  weiten  Verstandesumweg  zu  erkennen 
oder  ganz  müssig. 


Weiter  zehrt  von  Michelangelo  der  als  Baumeister  so  bedeutende 
Bartol.    Ammanati   (1511 — 92,    anfangs    Schüler   des    Jacopo 
a  Sansovino),  von  welchem  der  Brunnen  auf  Piazza  del  Granduca  her- 
rührt. Der  grosse  Neptun  ist  ein  sehr  unglücklicher  Akt,  ohne  Sinn  und 
Handlung,  die  Tritonen,  welche  ihm  als  Tronco  dienen,  undeutlich;  das 
Postament  würde  man  ohne  die  (für  diese  Last  doch  gar  zu  kleinen) 
Seepferde  nicht  für  ein  Räderschiff  halten.     Von  den  unten  herum 
sitzenden  Bronzefiguren  sind  die  mit  möglichster  Absicht  auf  leichtes 
Schweben  gestalteten  Satyrn  und  Pane  allein  erträglich,  übrigens  zum 
Theil  den  Kranzträgern  an  der  Decke  der  sixtin.  Capelle  nachgebildet; 
b  hier  sind  ihre  Attitüden  müssig.  —  (Ganz  gering  die  Gypsstatuen  im 
c  Baptisterium).  —  Im  linken  Querschiff  von  S.  Pietro  in  Montorio  zu 
Rom  sind  die  Grabmäler  zweier  Verwandten  des  Papstes  Julius  III 
sammt  den  beiden  Nischenfiguren  der  Religion  und  Gerechtigkeit  von 
Amm. ;  zwischen  der  manierirten  Nachahmung  des  Michelangelo  schim- 
mern doch  einige  schönere  Züge  durch.  —  Ebenso  verhält  es  sich  mit 
d  dem  Mausoleum  der  Verwandten  Gregors  XIII  im  Campo  santo  zu 
Pisa.   —  Einige  frühere  Arbeiten  A.'s  finden  sich  in  Padua.     So  der 
e  Gigant  im  Hof  des  Pal.  Aremberg.     Das  Grabmal  des  Juristen  Man- 
f  tova  Benavides  in  den  Eremitani  (links)  ist  im  Styl  der  allegorischen 
Figuren  ganz  der  prahlerischen  Absicht  würdig,  mit  welcher  es  gesetzt 
wurde.     (Unten  Wissenschaft  und  Ermüdung,  zu  beiden  Seiten  des 
Professors  Ehre  und  Ruhm,  oben  drei  Genien,  deren  mittlere  die  Un- 
sterblichkeit bedeutet.     Alles  bei  Lebzeiten.) 


Uniäugbar  höher  steht  der  in  Florenz  vollauf  beschäftigte  Flamän- 
der  Giovanni  da  Bologna  (1524 — 1608).  Das  Gesetz  des  Con- 
trastes,  das  bei  Michelangelo  oft  so  quälerisch  durchgeführt  wird,  muss 
sich  bei  ihm  mit  einer  Formenschönheit  vertragen,  die  allerdings  keine 
gar  tiefe  Wurzel  hat  und  sich  meist  mit  Allgemeinheiten  begnügt. 
Daneben  aber  hat  Giovanni  einen  sehr  entwickelten  Sinn  für  bedeu- 


Giovanni  da  Bologna. 


683 


tende,  hochwirksame  Gesammtumrisse;  seine  Statuen  und  vorzüglich 
seine  Gruppen  stehen  prächtig  in  der  freien  Luft  und  bleiben,  so 
kühn  sie  auch  hinausgreifen,  doch  immer  statisch  möglich  und  wahr- 
scheinlich; er  will  nicht,  wie  Bernini  bisweilen,  das  Unglaubliche  dar- 
stellen. Der  eigentliche,  meist  sehr  energische  Inhalt  berührt  uns  trotz 
aller  Bravour  der  Linien  und  des  Baues  innerlich  weniger,  schon  weil 
die  Formenbildung  eine  zu  allgemeine  ist  und  das  Lebensgefühl  sich 
doch  nur  .auf  das  Motiv  beschränkt. 

An  dem  schön  gedachten  Brunnen  auf  dem  grossen  Platz  zu  B  o  -  a 
logna  (1564)  soll  zwar  der  Entwurf  des  Ganzen  von  dem  Maler 
Tommaso  Laureti  und  nur  das  Plastische  von  Giovanni  herrühren. 
Allein  es  scheint,  als  hätte  letzterer  schon  beim  Entwurf  sein  Wort 
mitgeredet.  Man  bemerkt  schon  ganz  seine  Art,  durch  Einziehung 
nach  unten,  durch  kühne  luftige  Stellung  der  Figuren  zu  wirken;  das 
Verhältniss  des  Ornamentes  zum  Figürlichen  verräth  den  vollendeten 
Decorator.  Vom  Einzelnen  sind  die  Putten  mit  den  Delphinen  aus- 
gezeichnet gut  bewegt,  und  der  Neptun,  bei  ziemlich  allgemeiner 
herculischer  Bildung,  doch  in  den  Linien  effectreich. 

Am  vollkommensten  befriedigt  die  colossale  Gruppe  des  Oceanus  b 
und  der  drei  grossen   Stromgötter  auf  dem   Brunnen  der   Insel  im 
Garten  Boboli,  eine  möblirende  Prachtdecoration  ersten  Ranges, 
scheinbar  leicht  schwebend  durch  das  Einziehen  der  die  Urnen  um- 
schlingenden Beine  der  Flussgötter  an  den  schlanken  Pfeiler  in  der 
Mitte  der  Schale.  —  Die  weltberühmte  Gruppe  des  Raubesder  Sa-e 
binerinnen  (Loggia  de'  Lanzi),  deutlich  und  interessant  für  alle 
Gesichtspunkte,  ebenfalls  kühn  und  doch  sicher  auf  dünner,  mehrmals 
eingezogener  Unterpartie  sich  emporgipfelnd;  die  Einzelbildung  aber 
von  störender  Willkür.  —  Hercules  und  Nessus,  ebenda,  als  Gruppe  gut  d 
gebaut  und  dramatisch   lebendig,   aber  in  den  Formen   gleichgültig. 
—  Die  nicht  minder  berühmte  Gruppe  ,,virtü  e  vizio"  im  grossen  Saal  e 
des  Pal.  vecchio  ist  ein  Gegenstück   zu  Michelangelo's  ,,Sieg"    und 
eine  zugestandene  Allegorie,  während  bei  letzterm  die  Allegorie  nicht 
mehr  näher  bekannt  und  jedenfalls  nur  ein  Vorwand   gewesen  ist. 
Ein   merkwürdiger   Beleg   dafür,   wie   wenig   diese   Gattung   von   Ge- 
genständen eine  gesunde  Mythologie  ersetzen  kann,  zumal  wenn  der 
Meister  das  Ziel  seiner  Kunst  nur  in  äusserer  That,  nur  in  kühner 

44* 


f  *>*"-■ 


«,'*j<,,i^''«>  4Jvß>^j*.M>«*T»»*;J:»;»i« 


iwiitfMMiiiiMiMiiiaMilMii^ 


684        Sculptnr  des  XVI.  Jahrhunderts.    Giovanni  da  Bologna. 

Bewegung  und  starken  Linien  zu  finden  im  Stande  ist.  Wie  zu  er- 
warten stand,  hat  die  Tugend  das  Laster  durch  irgend  welche  Mittel 
gebändigt  und  kniet  ihm  nun  auf  dem  Rücken.  —  Von  der  Colossal- 

a  Statue  des  Apennin  in  Pratolino  kann  der  Verf.  nicht  aus  eigener 
Anschauung  berichten.  Der  ,,Überfluss"  (Copia),  auf  der  höchsten 
Terrasse  des  Gartens  BoboH,  ist  ein  höchst  manierirtes  Werk,  übri- 
gens von  G.  da  Hol.  nur  begonnen. 

b  Die  sechs  kleinern  Bronzestatuen  von  Göttern  und  Göttinnen  in 
den  Uffizien  (L  Zimmer  d.  Br.)  scheinen  nur  um  des  Balancirens,  um 
der  künstlichen  Wendung  willen  vorhanden  zu  sein;  dagegen  ist  der 
durch  die  Luft  springend  gedachte  M  e  r  c  u  r  (mit  dem  einen  Fuss  auf 
einem  —  ehernen  —  Windstoss  ruhend)  eine  ganz  vortreffliche  Ar- 
beit, die  an  schöner,  lebensvoller  Bildung  alles  Übrige  von  Gio.  da 
Bol.  weit  übertrifft  und  von  allen  Bronzen  des  XVL  Jahrh.  der  Antike 
am  nächsten  kömmt. 

c  Von  kirchlichen  Aufgaben  sind  die  Statuen  des  Altares  links  vom 
Chor  des  Domes  zu  Lucca  ungefähr  das  Beste.  —  Der  bronzene  Lucas 

d  an  Orsanmicchele  steht  dagegen  hinter  allen   Statuen  dieser  Kirche 

'  durch  falsche  Bravour  und  Mangel  an  Ernst  zurück. 

Wie  durchgängig  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVL  Jahrh.  die  Bild- 
nisse das  Geniessbarste  sind  (weil  frei  von  dem  falschen  Ideal  und 
dem  Pathos  der  historischen  und  symbolischen  Aufgaben),  so  auch 

e  hier.  Ar^  der  Reiterstatue  Cosimo'sL  auf  der  Piazza  del 
Granduca  wird  man  zwar  das  Pferd  manierirt  finden,  aber  ganz  meister- 
haft edel  und  leicht  ist  die  Haltung  des  Fürsten,  zumal  die  Wendung 
des  Kopfes;  es  war  die  Zeit  des  nobeln  Reitens!  Der  Styl  des  Ein- 
zelnen ist  ernst  und  vortrefflich.  —  Die  ungleich  geringere  Reiterfigur 

i  Ferdinands  L  auf  Piazza,  dell'  Annunziata  ist  ein  Werk  aus  dem  Grei- 
senalter des  Künstlers.  —  Was  nach  seinen  Entwürfen  von  Franca- 
villa  in  dieser  Art  ausgeführt  wurde,  ist  rohe  Decoration,  so  die  mar- 

E  morne  Statue  Cosimo's  L  auf  Piazza  de'  Cavalieri  in  Pisa,  und  die 

h  Ferdinands  L  am  Lungarno  daselbst.  Der  Grossherzog  hebt  die  ge- 
sunkene Pisa  mit  ihren  beiden  Putten  nicht  empor,  sondern  hindert 
sie  nur  an  weiterm  Sinken. 

In  der  Behandlung  des  Reliefs  theilte  Giovanni  die  malerischen 
Vorurtheile  seiner  Zeit,  war  aber  innerhalb  derselben  sehr  ungleich. 


Giovanni  da  Bologna.    Fratzen. 


685 


Auf  derselben  Piazza  del  Granduca  ist  beisammen  sein  Bestes,  die  in  a 
den  Motiven  für  ihn  vorzüglich  reine,  wenn  auch  unplastische  Basis 
des  Sabinerinnenraubes,  und  vielleicht  sein  AUerschlechtestes,  die  Basis 
des  Cosimo  I.  —  Als  Bilder  beurtheilt  werden  die  Reliefs  an  der  Haupt-  b 
thür  des  DomesvonPisa  und  diejenigen  in  der  hintersten  Capelle  c 
der  Annunziata  zu  Florenz  (der  Gruftcapelle  des  Meisters)  zum  Theil 
geistvoll  und  trefflich  erzählt  erscheinen,  wenn  auch  in  manierirten 
Formen;  als  Reliefs  sind  sie  styllos,  so  gemässigt  sie  neben  spätem 
Arbeiten  sein  mögen.    Das  schon  im  XV.  Jahrh.  vorkommende  Aus- 
wärtsbeugen des  Oberkörpers  der  Figuren,   der   Unlensicht  und   der 
Überfüllung  zu  Liebe,  ist  in  der  Annunziata  besonders  auffallend.    Bei 
den   Pisanerthüren  war  das  Vorbild   Ghiberti's   (auch  in  decorativer 
Beziehung)  noch  zu  übermächtig. 

Giovanni  ist  besonders  interessant  in  einzelnen  decorativen  Sculptur- 
sachen.    Seit  dem  Absterben  der  echten  Renaissanceverzierung  war  ein 
Ersatz  des  Vegetabilischen  und  Architektonischen  durch  Masken, 
Fratzen, Monstra  etc.  eingetreten,  und  diese  hat  Keiner  so  treff- 
lich gebildet  als  er.     Die  wasserspeienden  Ungeheuer  an  dem  Bassin  d 
um  die  Insel  des  Gartens  Boboli,  der  kleine  bronzene  Teufel  als  Fackel-  e 
halter  an  einer  Ecke  zwischen  Pal.  Strozzi  und  dem  Mercato  vecchio 
geben  genügsames  Zeugniss  von  seinem  schwungvollen  Humor  in  die- 
sen zum  Theil  geflissentlich  manierirten  Formen.  Sein  Schüler  P  i  e  t  r  o 
T  a  c  c  a  ,  von  welchem  sonst  auch  die  tüchtige  bronzene  Reiterstatue  i 
Ferdinands  I.  am  Hafen  von  Livorno  herrührt,  schuf  in  jenem  Fratzen- 
styl  die  ebenfalls  trefflichen  bronzenen  Brunnenfiguren  auf  Piazza  dell'  g 
Annunziata  zu  Florenz.     In  diesem  Geist  sind  auch  die  beiden  sog. 
Harpyien  am  Portal  von  Pal.  Fenzi  (Via  S.  Gallo,  5966)  von  C  u  r  -  ii 
r  a  d  i  gearbeitet.    Die  römische  Schule,  Bernini  nicht  ausgenommen, 
offenbart  keine  scherzhafte  Seite  dieser  Art.    Als    sehr  glückliche  de- 
corative  Gesammtcomposition  mag  bei  diesem  Anlass  auch  die  Fontaine 
zunächst  über  dem  Hof  des  Pal.  Pitti,  von  S  u  s  i  n  i  ,  genannt  werden.  « 
(Von  welchem  auch  das  eherne  Crucifix  im  Chor  von  SS.  Micchele  e  k 
Gaetano  herrührt;  ein  blosser  Akt.)  —  Tüchtige  Wappeneinfassungen 
dieser  Zeit  sind  wohl  in  Florenz  häufiger  als  anderswo. 


iittiiiMiliriMiiiiii 


^.^jfr.  .jf.^ 


686        Scnlptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Landini.    Francavilla. 

Von  Taddeo  Landini,  einem  florentinischen  Zeitgenossen 

a  des  Giov.  da  Bologna,  rührt  unter  den  Statuen  der  vier  Jahreszeiten  am 
Ponte  della  Trinita  ,,der  Winter"  her;  eine  tüchtige  Arbeit,  aber  recht 
bezeichnend  für  die  müssige  Güederschausteüung  jener  Schule;  wenn 
den  Alten  so  friert,  warum  nimmt  er  seinen  Mantel  nicht  besser  um? 

b  —  Allein  derselbe  Künstler  schuf  auch  die  Fontana  delle  Tar- 
tarugheinRom  (1585),  welche  ohne  Frage  das  liebenswürdigste 
plastische  Werk  dieser  ganzen  Richtung  ist.  Nirgends  wohl  ist  das 
Architektonische  so  glücklich  in  leichten  lebenden  Figuren  ausge- 
drückt, als  hier  in  den  vier  sitzenden  Jünglingen,  welche  die  Schild- 
kröten an  den  Rand  der  obern  Schale  (wie  um  sie  zu  tränken)  em- 
porheben und  dabei  eine  ganz  durchsichtige  Gruppe  bilden.  Was 
man  von  einer  zu  Grunde  liegenden  Zeichnung  Rafaels  sagt,  ist  nicht 
erwiesen,  eher  könnte  von  einer  Angabe  des  Baumeisters  Giacomo 
della  Porta  die  Rede  sein,  wenn  nicht  gerade  die  florentinische,  von 
Giovanni  da  Bol.  ausgehende  Inspiration  sich  so  deutlich  kundgäbe. 

c  Als  bescheidene  Parallele  vergl.  man  die  Lampe  im  Dom  von  Pisa 

mit  den  vier  sitzenden  Genien,  welche  echt  florentinisch  gedacht  ist. 

Ein  anderer  Nachfolger  und  Landsmann  des  Bologna,  P  i  e  t  r  o 

Francavilla  aus  Cambray,  fertigte  u.  a.  die  Statuen  in  der  Cap. 

d  Niccolini  in  S.  Croce  (am  Ende  des  linken  Querschiffs),  manierirt  und 
doch  nicht  ohne  einen  gewissen  oberflächlichen  Reiz.     Mittelgut  die 

e  sechs  Statuen  im  Dom  von  Genua,  Cap.  rechts  vom  Chor.  Was  er 
nach  den  Angaben  des  Meisters  ausführte  (Statuen  in  der  erwähnten 

f  Grabcap.  der  Annunziata  etc.),  ist  meist  schlechte  Arbeit  und  selbst 
durch  die  Motive  des  Meisters  nur  selten  interessant;  eine  Ausnahme 

g  zum  Bessern  machen  einige  der  sechs  Statuen  in  der  Cap.  S.  Antonino 
zu  S.  Marco.  (Die  Reliefs  und  die  bronzenen  Engel,  alles  höchst 
manierirt,  von  Partigiani.)     Vgl.   S.  684,  g  und  h. 

Weiter  gehört  hieher  Gio,  Batt.  Caccini,  der  seit  1600  die 

h  Balustrade  und  den  Tabernakel  unter  der  Kuppel  von  S.  Spirito  er- 
baute und  eigenhändig  mit  den  Statuen  der  Engel  und  der  vier  Hei- 
ligen versah;  letztere,  bctiächtlich  besser,  repräsentiren  das  kecke 
Linienprincip  des  Gio.  Bologna  in  nicht  unedler  Weise.     Anderes  im 

i  Chor  der  Annunziata  u.  a.  a.  O.   Von  ihm  ist  auch  die  schöne  Christus- 

k  büste  an  der  Ecke  des  jetzigen  Hotel  d'York  (1588).     Er  war  da- 


Spätere  Florentiner. 


687 


mals  28  Jahre  alt  und  erhielt  dafür   100  Ducati,  wie  ein  Chronist 
bemerkt. 

Die  Reliefs  der  Schule  entsprechen  insgemein  dem  Schlechtesten 
des  Giovanni;  sie  wären  schon  als  Bilder  gering  und  sind  mit  ihrer 
zerstreuten  Composition  und  ihren  manierirten  Formen  als  plastische 
Arbeiten  kaum  anzusehen.   (T  a  c  c  a  '  s  Relief  am  Altar  von  S.  Stefano  a 
e  Cecilia;  N  i  g  e  1 1  i  '  s  Silberrelief  am  Altar  der  Madonnencapelle  in  b 
der  Annunziata,  u.  dgl.  m.)    Man  kann  nichts  Stylloseres  finden,  als 
die  Nischenreliefs  an  den  beiden  Enden  des  Querschiffes  im  Dom  von  c 
Pisa;  die  Freigruppen  drüber  sind  wieder  beträchtlich  besser,  Werke 
eines  gewissen  Francesco   Mosca  (ebenfalls  eines  Florentiners 
um  1600),  von  dessen  oben  (S.  244,  h)  genanntem  Vater  Simone 
sich  Mehreres,  u.  a.  eine  Anbetung  der  Könige,  in  der  Madonnencapelle  d 
des  Domes  von  Orvieto  befindet.  —  Von  dem  etwas  altern  V  i  n  c  e  n  z  o 
d  e  1  R  o  s  s  i  aus  Fiesole  sind  die  schwülstigen  Sculpturen  der  ganzen  e 
zweiten  Capelle  rechts  in   S.  Maria  della  Face  zu  Rom;    Simone 
Mosca  arbeitete  hier  die  Ornamente. 

Die  wahre  Sinnesweise  der  Schule  zeigt  sich  weniger  in  den  kirch- 
lichen  als   in   den   profanen   Werken,    an   welchen   Florenz   für 
diese  Zeit  ungleich  reicher  ist  als  irgend  eine  andere  Stadt.     Selbst 
das  höchst  Colossale,  für  welches  man  hier  von  jeher  Geschmack  ge- 
habt, ist  nicht  bloss  durch  den  ,, Apennin",  sondern  auch  durch  den 
(lächerlichen)  Polyphem  im  Garten  des  Pal.  Stiozzi-Ridolfi  vertreten,  f 
Sonst  sind  es  fast  lauter  Gruppen  des  Kampfes,  zu  welchen  der  an- 
tike ,, Hercules  mit  Antäus"  (S.  501,  b)  die  stärktse  Anregung  mag  ge- 
geben haben.  Der  genannte  Vincenzodel  Rossi  versah  den  gros- 
sen Saal  des  Pal.  Vecchio  mit  einer  ganzen  Reihe  von  Herculeskämpfen,  g 
welche  hier  nebeneinander  trotz  aller  Bravour  und  Leidenschaft  den 
Eindruck  der  vollkommensten  Langenweile  hervorbringen.    Desselben 
Rossi  Liebesgruppe  ,, Paris  und  Helena",  im  Hintergrund  jener  Grotte  h 
des  Gartens  Boboli,  wo  sich  die  vier  Atlanten  Michelangelo's  befin- 
den, ist  als  Arbeit  nicht  verächtlich,  aber  im  Motiv  gemein  i).     Wie 


')  Von   Rossi  ist  auch  der  Matthäus  im  Dom  (rechts  unter  dem  Eingang  zum   Kuppelraum),  * 
die  manierirteste  aller  dort  befindlichen   Apostelstatuen.     Der  Thomas  (Eingang  zum  linken 
Querschiff,  links)  ist  kaum  besser. 


688 


Scnlptar  des  XVI.  Jahrhunderts.    Spätere  Römer. 


a  weit  man  in  der  Allegorie  ging,  beweisen  die  Statuen  des  N  o  v  e  1 1  i , 
P  i  e  r  a  1 1  i  u.  A.  in  der  Grotte  hinten  am  grossen  Hofe  des  Pal.  Pitti, 
,,die  Gesetzgebung,  der  Eifer,  die  Herrschaft,  die  Milde";  Moses, 
dessen  Eigenschaften  diess  sein  sollen,  steht  (von  Porphyr  gemeisselt) 
in  der  Mitte.  —  Wie  weit  man  aber  vom  wirklichen  Alterthum  trotz 
aller  classischen  Gegenstände  entfernt  war,  zeigen  die  beiden  lächer- 

b  liehen  Statuen  des  Jupiter  und  Janus  von  Francavilla,  welche  in 
der  untern  Halle  des  Pal.  Brignole  zu  Genua  stehen.  (Derjenige  Pal. 
dieses  Namens,  welcher  dem  rothen  gegenüber  an  der  Str.  nuova 
steht.)  Nach  den  grossen  Köpfen,  kümmerlichen  Leibern,  forcirten 
Gewändern  und  prahlerisch  micheiangelesken  Händen  zu  urtheilen 
glaubt  man  einen  echten  Bandinelli  vor  sich  zu  haben. 

Neben  diesen  etwas  hohlen  und  müssigen  Schaustellungen,  die 
immerhin  ihre  Stelle  in  Nischen  oder  im  Freien  wirksam  ausfüllen, 
meldet  sich  —  ausser  jenen  decorativen  Fratzen  —  bald  auch  eine 
eigentliche   Genresculptur,   von   halb  pastoralem,   halb  possenhaftem 

c  Charakter;  Figuren  von  Jaques  Callot  als  Statuen  ausgeführt  u.  dgl. 
(Garten  Boboli  etc.)  Die  künstlerische  Nichtigkeit  dieser  Productionen 
verbietet  uns  jede  nähere  Betrachtung.  Sie  haben  übrigens  eine  Nach- 
folge gefunden,  welche  noch  jetzt  nicht  erloschen  ist  und  in  Mailand 
ganze  Ateliers  beschäftigt.  (Chargen,  auch  in  moderner  Tracht,  auf 
Gartenmauern  etc.) 


In  Rom  macht  sich  in  den  ersten  Jahrzehnten  nach  Michelangelo's 
Tode  nicht  eine  schwülstige  Ausbeutung  seiner  Ideen,  sondern  eher 
eine  tiefe  Ermattung  geltend.  Ausser  den  paar  Florentinern  sind  es 
vereinzelte,  wenig  namhafte  Meister,  welche  die  Altargruppen  und  die 
Grabstatuen  dieser  Zeit  fertigen.   SoGiov.  Batt.  dellaPorta, 

d  von  welchem  in  S.  Pudenziana  (hinten  links)  die  Gruppe  der  Schlüs- 
selverleihung gearbeitet  ist;    —  Giov.  Batt.  Cotignola,  von 

e  welchem  sich  derselbe  Gegenstand  sehr  ähnlich  behandelt  findet  in  S. 
Agostino  (4.  Cap.  rechts) ;  —  die  beiden  C  a  s  i  g  n  o  1  a  ,  von  welchen 

f  die  thronende  Statue  Pauls  IV.  über  dessen  Sarcophag  in  der  Minerva 
(Cap.  Caraffa)  gearbeitet  ist,  mit  tüchtig  individuellem  Kopfe,  sonst 
gesucht  und  ungeschickt.  Die  Papstgräber  sind  überhaupt  um  diese 
Zeit  ein  interessanter  Gradmesser  für  die  kirchliche  Intention  sowohl 


Spätere  Römer  und  Genuesen. 


689 


als  für  das  künstlerische  Können.  Mit  dem  Grabe  Pauls  III.  hört  die 
grosse  Freicomposition  von  einer  Porträtstatue  und  zweien  oder  meh- 
rern allegorischen  Figuren  für  längere  Zeit  auf;  die  thatenreichen 
Päpste  der  Gegenreformation  müssen  wieder  in  einer  Detailerzählung 
gefeiert  werden,  welche  wie  zur  Zeit  der  Renaissance  (S.  615,  detc.)  nur 
durch  eine  Zusammenstellung  vieler  Reliefs  zu  erreichen  ist;  grosse 
Architekturen  geben  den  Rahmen  dazu  her;  eine  mittlere  Nische  ent- 
hält das  sitzende  oder  knieende  Standbild  des  Papstes.  Dieser  Art 
sind  die  riesigen  Denkmäler  Pius  V.  und  Sixtus  V.,  Clemens  VIII.  und  a 
Pauls  V.  in  den  beiden  Prachtcapellen  von  S.  M.  maggiore;  die  Ten-  b 
denz,  welche  hier  wieder  über  die  Kunst  die  Oberhand  hat,  brachte 
es  bis  zur  säubern,  sorgfältigen  Darstellung  des  Vielen;  in  künstleri- 
scher Beziehung  sind  diese  kostbaren  Werke  so  nichtig,  dass  wir  die 
Urheber  gar  nicht  zu  nennen  brauchen.  (Einiges  Gute  am  Grabmal 
Pius  V.)  Ein  vorzugsweise  erzählendes  Grabmal  von  etwas  besserer 
Art  ist  dasjenige  Gregors  XI.,  1574  von  O  1  i  v  i  e  r  i  verfertigt,  in  c 
S.  Francesca  romana,  dagegen  zeigt  dasjenige  eines  Herzogs  von 
Cleve  im  Chor  der  Anima,  von  dem  Niederländer  Egidio  di  Ri-d 
viere,  wiederum  nichts  als  eine  gewisse  Meisselgeschicklichkeit.  — 
Mit  dem  Denkmal  Urbans  VIII.  von  Bernini  kehrt  dann  jene  Frei- 
composition wieder,  aber  in  einem  andern  Sinne  umgestaltet. 


Die   parallel   stehende   genuesische    Sculptur   der  Zeit   von   etwa 
1560  — 1630  hängt,  wie  oben  (S.  606,  c)  bemerkt,  noch  theilweise  von 
den  Vorbildern  des  Civitali,  auch  von  altern  Lombarden  ab,  doch  unter 
starker    indirekter     Einwirkung     Michelangelo's,       (Zwei     Künstler- 
familien,   des   Namens    C  a  r  1  o  n  e  ;    ihre    Sachen   in    S.    Ambrogio,  e 
S.  Annunziata,  S.  Siro,  S.  Pietro  in  Banchi  und  überall;  zugleich  die  f 
Thätigkeit  Francavillas,  S.  688,  b.)   Ob  irgend  etwas  selbständig  Bedeu- 
tendes vorkömmt,  weiss  ich  nicht  zu  entscheiden,  bezweifle  es  aber. 
Luca  Cambiaso,  der  sich  auch  einmal  in  der  Sculptur  versuchte, 
hat  in  seiner  Fides  (Dom,   Cap.   links  vom  Chor)   das  gerade  nicht  g 
erreicht,  was  seine  Bilder  so  anziehend  macht,  deren  beste  zur  Ver- 
gleichung  daneben  stehen. 


f,-j»-"r    ^-f 


.    .•*.,  ^^~^^  ^J|i■t^^»i*^■|^^^V■■'*^',<^>>4^*W^*««>1n,*M<S■W'^'»*w/'«>"■^'^^^**X»^*"^-"^      - 


690 


Barocksculptnr. 


Bis  gegen  das  Jahr  1630  hin  hatte  die  Sculptur  die  Lebenskräfte 
desjenigen  Styles,  der  mit  Andrea  Sansovino  begonnen,  vollständig 
aufgezehrt.  Sie  hatte  versucht,  in  wahrhaft  plastischem  Sinne  zu  bil- 
den; aus  den  todten  Manieren  der  römischen  Malerschule  hatten  sich 
einzelne  Bessere  von  Zeit  zu  Zeit  immer  zu  einem  reinem  und  wah- 
rern Darstellungsprincip  hindurchgekämpft;  die  eigentliche  Grundlage 
der  Plastik,  die  abgeschlossene  Darstellung  der  menschlichen  Gestalt 
nach  bestimmten  Gesetzen  des  Gleichgewichtes  und  der  Gegensätze, 
schien  gesichert.  Zu  einem  reinen  und  überzeugenden  Eindruck 
aber  hatte  diese  Kunst  es  im  letzten  halben  Jahrhundert  (etwa  1580 
bis  1630)  doch  nicht  mehr  gebracht.  Theils  ist  des  Trübenden  zu 
viel  darin  (die  genannten  römischen  Manieren,  die  alten  und  neuen 
naturalistischen  Einwirkungen,  die  verlockenden  Kühnheiten  des  Mi- 
chelangelo, die  Principlosigkeit  der  Gewandung),  theils  fehlt  es  an 
durchgreifenden  Künstlerindividualitäten,  an  wirklichen  frischen  Kräf- 
ten, indem  sich  damals  die  Besten  alle  der  Malerei  zuwandten.  Wess- 
halb  thaten  sie  diess?  Weil  der  Kunstgeist  der  Zeit  sich  überhaupt 
nur  in  der  Malerei  mit  ganzer  Fülle  aussprechen  konnte. 

Einige  Decennien  hindurch  hat  nun  die  Malerei  einen  neuen,  die 
Sculptur  noch  den  alten  Styl.  Endlich  entschliesst  sie  sich,  der  Malerei 
(deren  Vorgängerin  sie  sonst  ist)  nachzufolgen,  deren  Auffassungsweise 
ganz  zu  der  ihrigen  zu  machen.  Das  ReUef  ist  schon  seit  dem  XV,  Jahrh. 
ein  Anhängsel  der  Malerei;  die  Freisculptur  war  durch  die  grössten 
Anstrengungen  der  Meister  der  goldenen  Zeit  vor  diesem  Schicksal 
einstweilen  bewahrt  worden;  jetzt  unterlag  auch  sie.  —  Welches  der 
Geist  dieser  Malerei  war,  der  fortan  auch  in  den  Sculpturen  lebt,  wird 
unten  im  Zusammenhang  zu  schildern  sein.  In  der  Malerei  können 
wir  ihm  seine  Grösse  und  Berechtigung  zugestehen;  in  der  Sculptur 
gehen  die  wichtigsten  Grundgesetze  der  Gattung  darob  verloren  und 
es  entsteht  kein  grösseres,  namentlich  kein  ideales  Werk  mehr,  das 
nicht  einen  schweren  Widersinn  enthielte.  Nicht  ohne  Schmerz  sehen 
wir  ganz  ungeheure  Mittel  und  einzelne  sehr  grosse  Talente  auf  d  i  e 
Sculptur  verwendet,  welche  die  folgenden  anderthalb  Jahrhunderte 
hindurch  (1630  — 1780)  über  Italien  und  von  da  aus  über  die  ganze  Welt 
herrschte.  Ihr  Sieg  war  schnell  und  unwiderstehlich,  wie  überall,  wo  in 
der  Kunstgeschichte  etwas  Entschiedenes  das  Unentschiedene  beseitigt. 


Die  Meister  derselben. 


691 


Übergehen  dürften  wir  sie  aber  hier  doch  nicht.  Ihre  subjectiven 
Kräfte  waren  —  im  Gegensatz  zur  vorhergehenden  Periode  —  unge- 
mein gross,  ihre  Thätigkeit  von  der  Art,  dass  sie  mehr  Denkmäler 
in  ItaUen  hinterlassen  hat  als  die  Gesammtsumme  alles  Frühern,  das 
Alterthum  mitgerechnet,  ausmacht.  Sie  hat  ferner  einen  sehr  bestimm- 
ten decorativen  Werth  im  Verhältniss  zur  Baukunst  und  zur  Anord- 
nung grosser  Ensembles,  und  endlich  giebt  sie  gewisse  Sachen  so 
ganz  vortrefflich,  dass  man  ihr  auch  für  den  Rest  einige  Nachsicht 
gönnt.    (Vgl.  den  Abschnitt  über  die  Barockarchitektur;  S.  366  u.  ff.) 


Der  Mann  des  Schicksals  war  bekanntlich  Lorenzo  Bernini 
von  Neapel  (1598— 1680),  der  als  Baumeister  und  Bildhauer,  als  Günst- 
ling Urbans  VIII.  und  vieler  folgenden  Päpste  einer  fürstlichen  Stel- 
lung genoss  und  in  seinen  spätem  Jahren  ohne  Frage  als  der  grösste 
Künstler  seiner  Zeit  galt.  Er  überschattet  denn  auch  alle  Folgenden 
dergestalt,  dass  es  überflüssig  ist,  ihren  Stylnuancen  näher  nachzu- 
gehen; wo  sie  bedeutend  sind,  da  sind  sie  es  innerhalb  seines  Styles.  — 

Nur  ein  paar  Zeitgenossen,  die  noch  Anklänge  der  frühern  Schule 
auf  bedeutsame  Weise  mit  der  berninischen  Richtung  vereinigen,  sind 
hier  vorläufig  zu  nennen:  Alessandro  Algardi  (1598 — 1654) 
und  der  Niederländer  Franz  Duquesnoy  (1594  —  1644).  Ferner 
ist  schon  hier  auf  das  starke  französische  Contingent  in  diesem  Heer- 
lager aufmerksam  zu  machen,  auf  die  Legros,  Monnot,  Teudon,  Hout- 
ton  u.  s.  w.,  vor  Allem  auf  Pierre  Puget  (1622— 1694),  von  dem 
man  wohl  sagen  könnte,  er  sei  berninischer  als  Bernini  selbst  gewesen. 
Wie  Ludwig  XIV.  in  Person,  ebenso  waren  auch  die  französischen 
Künstler  für  den  ,, erlauchten"  Meister  eingenommen;  auffallend  ist 
trotzdem,  dass  sie  in  Italien  selbst  so  stark  beschäftigt  wurden  und 
um  1700  in  Rom  beinahe  das  Übergewicht  hatten.  Wir  wollen  nun 
versuchen,  die  Grundzüge  der  ganzen  Darstellungsweise  festzustellen. 
Bei  diesem  Anlass  können  die  besonders  wichtigen  oder  belehrenden 
Werke  mit  Namen  angeführt  werden. 


Die  zwingende  Gewalt,  welche  die  Sculptur  mit  sich  fortriss,  war 
der  seit  etwa  1580  siegreich  durchgedrungene  Styl  der  Malerei,  wel- 


■:A^' 


*£:- Ä^i>4!0i'Hä*r*!^^ 


6g2 


BarockscQlptar.    Porträtbildungen. 


eher  auf  den  Manierismus  der  Zeit  von  1530  an  gefolgt  war.  Der- 
selbe zeigt  zwei  Haupteigeuschaften,  weiche  sich  durchdringen  und 
gegenseitig  bedingen:  i)  den  Naturalismus  der  Formen 
und  der  Auffassung  des  Geschehenden,  edler  in 
der  bolognesischen,  gemeiner  in  der  neapolitanischen  Schule  ausge- 
prägt; 2)  die  Anwendung  des  Af  f  ectes  um  jeden  Preis.  Die  Maler  ver- 
fahren naturalistisch,  um  eindringlich  zu  sein,  und  am  Affect  erfreut  sie 
wiederum  nur  die  möglichst  wirkliche  Ausdrucksweise.  Dieses  Wirk- 
liche, weil  es  zugleich  so  w  i  r  k  s  a  m  war,  eignete  sich  jetzt  auch  die 
Sculptur  an.  Ihr  Verhältniss  zur  Antike  war  fortan  kein  innigeres 
als  z.  B,  dasjenige,  welches  wir  bei  Guido  und  Guercin  finden,  die 
Entlehnung  einzelner  weniger  Formen.  Bernini  persönlich  empfand 
den  Werth  der  Antiken  recht  gut  und  erkannte  z.  B.  in  dem  ver- 
stümmelten Pasquino  die  goldene  Zeit  der  griechischen  Kunst,  allein 
als  Künstler  drängte  er  nach  einer  ganz  andern  Seite  hin. 

Es  versteht  sich  nun  von  selbst,  dass  er  und  seine  Schule  die- 
jenigen Aufgaben  am  besten  löste,  bei  welchen  der  Naturalismus 
im  (wenn  auch  nicht  unbedingten)  Rechte  ist.  Hieher  gehört  das 
Porträt.  Schon  in  den  vorhergehenden  Perioden  eines  echten  und 
halbfalschen  Idealismus  war  die  Büste  durchgängig  gut,  ja  bald  die 
beste  Leistung  dieser  Kunst  gewesen,  und  diess  Verhältniss  dauerte 
nun  in  glänzender  Weise  fort.  Die  Gräber  von  Rom,  Neapel,  Florenz, 
Venedig  enthalten  viele  Hunderte  von  ganz  vortrefflichen  Büsten  dieser 
Art,  welche  den  Porträts  von  Van  Dyck  bis  Rigaud  als  würdige  Pa- 
rallele zur  Seite  stehen.  Sie  geben  die  Charaktere  nicht  idealisirt,  aber 
in  freier,  grossartiger  Weise  wieder,  wie  es  nur  eine  mit  den  grössten 
idealen  Aufgaben  vertraute  Sculptur  kann.  Wir  dürfen  um  dieses 
Reichthums  willen  den  Kunstfreund  seiner  eigenen  Entdeckungsgabe 
a  überlassen.  Im  Santo  zu  Padua,  in  S.  Domenico  zu  Neapel,  im  La- 
b  teran  und  in  der  Minerva  zu  Rom  wird  er  sein  Genüge  finden.  In 
c  der  Halle  hinter  S.  M.  di  Monserrato  suche  man  die  Grabbüste  eines 
spanischen  Juristen  Petrus  Montoya  (f  1630),  eine  edle  leidende  Phy- 
siognomie von  trefflichster  Behandlung. 

Ausserdem  genügt  der  Naturalismus  noch  am  ehesten  in  der  Dar- 
stellung des  Kindes  (zumal  des  italienischen),  in  dessen  Wesen  alle 
mögliche  Schönheit  nur  unbewusst  als  Natur  vorhanden  ist,  und  dessen 


Kinder.    Idealköpfe.    Charakterköpfe. 


693 


Affcclc  so  einfach  sind,  dass  man  sie  nicht  wohl  durch  Pathos  ver- 
derben kann  (was  einzelne  Künstler  dennoch  versucht  haben).  A  1  - 
g  a  r  d  i  und  Duquesnoy  genossen  zu  ihrer  Zeit  einen  gerechten 
Ruhm  für  ihre  oft  ganz  naiven  und  schönen  Kinderfiguren.  (Von 
letzterm  ein  paar  Köpfe  an  den  Grabmälern  der  zwei  hintersten  Pfei-  a 
1er  in  S.  Maria  dell'  Anima  zu  Rom.)  Von  ihren  Nachfolgern  lässt 
sich  nicht  mehr  so  viel  Gutes  sagen;  die  Putten  wurden  in  so  be- 
sinnungsloser Masse  decorativ  verbraucht,  dass  die  Kunst  es  damit 
allmählig  leicht  nahm.  Und  doch  wird  man  selbst  unter  den  von 
Stucco  zu  Tausenden  improvisirten  Figuren  dieser  Art  sehr  viele  wahre 
und  schöne  Motive  finden,  die  nur  unter  der  manierirten  und  sorglosen 
Einzelbildung  zu  Grunde  gehen. 

Selbst  einzelne  Idealköpfe  der  Schule  haben  einen  Werth,  der 
sie  doch  immer  mit  guten  bolognesischen  Gemälden  in  eine  Reihe  stellt. 
Das  XVII.  Jahrhundert  hatte  wohl  im  Ganzen  einen  andern  Begriff 
von  Schönheit  als  wir  und  legte  namentlich  den  Accent  des  Liebreizes 
auf  eine  andere  Stelle,  wovon  Mehreres  bei  Anlass  der  Malerei;  allein 
desshalb  werden  wir  doch  z.  B.  gewissen  Köpfen  A  1  g  a  r  d  i  *  s  (z.  B. 
im  rechten  Querschiff  von  S.  Carlo  zu  Genua),  oder  der  Statue  der  b 
Mathildis  von  Bernini  (in  S.  Peter)  eine  dauernde  Schönheit  nicht  c 
ganz  abstreiten  dürfen.  Hie  und  da  ist  die  Einwirkung  der  (damals 
noch  in  Rom  befindlichen  und  vielstudirten)  Niobetöchter  nicht  zu  ver- 
kennen. Anderes  ist  mehr  national-italienisch.  Selbst  ohne  höhern 
geistigen  Adel,  nehmen  sich  doch  manche  Madonnenköpfe,  frei  behandelt 
und  zwanglos  gestellt  wie  sie  sind,  recht  gut  aus.  So  z.  B,  mehrere 
Assunten  des  Filippo  Parodi  auf  genuesischen  Hochaltären.  Im 
Ganzen  ist  freilich  die  ideale  Form  etwas  geistesleer. 

Die  sog.  Charakterköpfe  folgen  ganz  der  Art  der  damaligen 
Maler,  und  zwar  nicht  der  bessern.  B  e  r  n  i  n  i  selber  steht  dem  Pietro 
da  Cortona  viel  näher  als  etwa  dem  Guercino;  seine  männlichen  Indi- 
viduen sind  von  jenem  gemein-heroischen  Ausdruck,  der  in  der  Ma- 
lerei erst  seit  der  Epoche  der  gänzlichen  Verflachung  (1650)  herr- 
schend wurde.  An  seinem  Constantin  (unten  an  der  Scala  regia  im  d 
Vatican)  hat  man  den  mittlem  Durchschnitt  dessen,  was  er  für  einen 
würdigen  Typus  des  Mannes  und  des  Pferdes  hielt;  sein  Pluto  (Villa  e 
Ludovisi)  ist  in  der  Kopfbildung  ein  Excess  der  cortonistischen  Richtung. 


694 


Barockscalptur.    Behandlang  des  Nackten. 


Auch  seine  Behandlung  der  menschlichen  Gestalt  im 
allgemeinen  ist  mit  Recht  verrufen,  schon  abgesehen  von  der 
Stellung.  Jugendlichen  und  idealen  Körpern  gab  er  ein  weiches  Fett, 
das  allen  wahren  Bau  unsichtbar  macht  und  durch  glänzende  Politur 

a  vollends  widerlich  wird.  Die  Art,  wie  Pluto's  Finger  in  das  Fleisch 
der  Proserpina  hineintauchen  (Villa  Ludovisi),  ist  auf  jede  andere 
Wirkung  berechnet  als  auf  die  künstlerische.      Seine  Jugendarbeit, 

b  Apoll  und  Daphne  (Villa  Borghese,  oberer  Saal),  ist  bei  aller  Charakter- 
losigkeit doch  leidlicher,  weil  sie  noch  nicht  üppig  ist.  Spätere  haben, 
dem  Geschmack  ihrer  Besteller  zu  Liebe,  nach  dieser  Richtung  hin 
auf  jede  V/eise  raffinirt. 

Den  heroischen  und  Charakterfiguren  gab  Bernini  eine  prahlerische 
Musculatur,  die  sich  mit  derjenigen  Michelangelo's  zu  wett- 
eifern anschickt,  gleichwohl  aber  nicht  den  Ausdruck  wahrer  elasti- 
scher Kraft  hervorbringt,  sondern  aufgedunsenen  Bälgen  gleichsieht. 
Diess  kömmt  zum  Theil  wieder  von  der  unglücklichen  Politur  her 
(Pluto,  V.  Lud.).    Bei  den  nicht  von  ihm  selbst  au,sgeführten  Statuen 

c  der  grossen  Stromgötter  (Hauptbrunnen  auf  Piazza  navona)  hängt  der 
so  viel  günstigere  Eindruck  offenbar  mit  der  anspruchlosern  Behand- 
lung der  Oberflächen  des  Nackten  zusammen.     Und  wo  die  Aufgabe 

(1  ihm  wahrhaft  gemäss  war,  wie  z.  B.  der  Triton  der  Piazza  Bar- 
berini,  bei  welchem  jene  üble  Prätension  auf  Eleganz  ohnediess  weg- 
fiel, da  genügt  Bernini  völHg.  Er  hat  vielleicht  überhaupt  nichts  Bes- 
seres geschaffen  als  diese  halbburleske  Decorationsfigur,  welche  mit 
Schale  und  Untersatz  ein  so  prächtig  belebtes  Ganzes  bildet.  Wie 
so  oft  in  der  neuern  italienischen  Kunst  wirken  gerade  diejenigen 
Mittel  im  rein  naturalistischen  und  komischen  Gebiet  vortrefflich, 
welche  im  idealen  Alles  verderben. 

Andere  Bildhauer  waren  auch  in  der  Musculatur  wahrer  und  na- 
turalistischer, in  der  Epidermis  mürber,  aber  desshalb  nicht  viel  erquick- 
licher.    Eine  grosse   Schaustellung  anatomischen  Könnens  ist  z.   B. 

e  P  u  g  e  t '  s  S.  Sebastian  in  der  S.  Maria  di  Carignano  zu  Genua;  der 
Heilige  muss  sich  vor  Qual  krümmen,  damit  der  Künstler  das  Uner- 
hörte von  Formen  an  ihm  entwickeln  könne.  Freilich  weit  die  meisten 
Berninesken  waren  zu  sehr  blosse  Decoratoren,  um  sich  auf  eine  so 
ernstliche  Virtuosität  einzulassen. 


Gewandung.    Amtstrachten. 


695 


Die  G  e  w  a  n  d  u  n  g  ist  vollends  eine  wahrhaft  traurige  Seite  dieses 
Styles.  Es  bleibt  ein  Räthsel,  dass  Bernini  zu  Rom,  in  der  täglichen 
Gegenwart  der  schönsten  Gewandstatuen  des  Alterthums  sich  so  ver- 
irrte. Allerdings  konnten  ihm  Togafiguren  und  Musen  nicht  unbe- 
dingt zum  Vorbilde  dienen,  weil  er  lauter  bewegte,  affectvolle  Motive 
bearbeitete,  die  im  Alterthum  fast  nur  durch  nackte  Figuren  reprä- 
sentirt  sind;  allein  auch  seine  Aufgaben  zugegeben,  hätte  er  die  Ge- 
wandung anders  stylisiren  müssen.  Er  componirt  diese  nämlich  ganz 
nach  malerischen  Massen  und  giebt  ihren  hohen,  plastischen  Werth 
als  Verdeutlichung  des  Körpermotives  völlig  Preis. 

In  Porträtstatuen,  wo  der  Affect  wegfiel  und  die  Amtstracht 
eine  bestimmte  Charakteristik  der  Stoffe  verlangte,  hat  dieser  Styl 
Treffliches  aufzuweisen.  Seit  Bernini's  Papststatuen  (Denkmäler  Ur-  a 
bans  VIII.  und  Alexanders  VII.  in  S.  Peter)  legte  sich  die  Sculptur  b 
mit  einem  wahren  Stolz  darauf,  den  schwerbrüchigen  Purpur  des  ge- 
stickten Palliums,  die  feinfaltige  Alba,  die  Glanzstoffe  der  Ärmel,  der 
Tunica  etc.  in  ihren  Contrasten  darzustellen.  Von  den  Statuen  Papst 
Urbans  ist  diejenige  am  Grabe  (im  Chor  von  S.  Peter)  durch  beson- 
ders niedliche  Einzelpartien  dieser  Art,  durchbrochene  Manschetten  und 
Säume  etc.,  diejenige  im  grossen  Saal  des  Conservatorenpalastes  da-  c 
gegen  durch  kecke  Effectberechnung  auf  die  Ferne  merkvnirdig.  Auch 
die  Cardinalstracht  wurde  bisweilen  gut  und  würdig  behandelt  (La-  d 
teran,  Cap.  Corsini).  Fürsten,  Krieger  und  Staatsmänner  sind  wenig- 
stens im  Durchschnitt  besser  als  Engel  und  Heiüge,  wo  sie  nicht  durch 
antike  (und  dann  schlecht  ideale)  Tracht  und  heftige  Bewegungen  in 
Nachtheil  gerathen  wie  z.  B.  die  meisten  Reiterstatuen.  Von  den  letz- 
tern, sowie  sie  dem  berninischen  Styl  angehören,  reicht  keine  an  den 
grossen  Kurfürsten  auf  der  langen  Brücke  in  Berlin.  (Von  Schlüter.) 
Francesco  Mocchi  (f  1646),  der  etwa  die  Grenzscheide  zwischen  dem  e 
bisherigen  und  dem  berninischen  Styl  bezeichnet,  hat  in  Ross  und 
Reiter  die  äusserste  Affection  hineinzulegen  gewusst.  (Bronzedenk- 
mäler des  Alessandro  und  des  Ranuccio  Farnese  auf  dem  grossen 
Platz  in  Piacenza.)  —  An  Grabmälern  in  den  Kirchen  findet  man  zahl- 
reiche Halbfiguren,  in  welchen  das  lange  Haar,  der  Kragen,  die  Amts- 
tracht bisweilen  mit  dem  ausdrucksvollen  Kopf  ein  schönes  Ganzes 
ausmachen. 


'.Ä»v<-K<-»-»  -  --^'^-^  ■-?%*  »fcvi  ^.M'iiff»'.t*i-Jtr>^*;^J 


(i^iM^)lMwi>*«W*»i|*t*«j«l-«Ä^*>^  -^'  -  •'''  **■■ 


696 


BarocksGQlptnr.    Idealtracht.    Köosteleien. 


Die  ideale  Tracht  aber  verschlingt  den  Körper  in  ihren  wei- 
ten {liegenden  Massen  und  flatternden  Enden,  von  welchen  das  Auge 
recht  gut  weiss,  dass  sie  factisch  centnerschwer  sind.  Die  Politur, 
womit  Bernini  und  viele  seiner  Nachfolger  das  ideale  Gewand,  zumal 
himmlischer  Personen,  glaubten  auszeichnen  zu  müssen,  verderbt  das- 
selbe vollends.  Es  gewinnt  ein  Ansehen,  als  wäre  es  —  man  erlaube 
die  Vergleichung  —  mit  dem  Löffel  in  Mandelgallert  gegraben.  Thon- 
figuren  sind  desshalb  oft  leidlicher  als  marmorne. 


Bisweilen  wurde  aber  auch  auf  ganz  besondere  Art  mit  der  Ge- 
wandung gekünstelt.  Eine  der  unvermeidlichen  Sehenswürdigkeiten 
Neapels  sind  die  drei  von  allen  Neapolitanern  (und  auch  von  vielen 
a  Fremden)  auf  das  höchste  bewunderten  Statuen  in  der  Capelle  der 
S  a  n  g  r  i  ,  Duchi  di  S.  Severo;  sämmtlich  um  die  Mitte  des  vorigen 
Jahrh.  gearbeitet.  Von  SanMartinoist  der  ganz  verhüllte  todte 
Christus,  eine  Gestalt,  welche  zwar  kein  höheres  Interesse  hat,  als 
das  Durchscheinen  möglichst  vieler  Körperformen  durch  ein  feines  Lin- 
nen, doch  wird  der  Beschauer  weiter  nicht  gestört.  Von  Corradini 
ist  die  ganz  verhüllte  sog.  Pudicitia,  mit  welcher  es  schon  viel  miss- 
licher aussieht;  ein  Weib  von  ziemlich  gemeinen  Formen,  die  sich 
vermöge  der  künstlichen  Durchsichtigkeit  der  Hülle  weit  widriger  auf- 
drängen, als  wenn  die  Person  wirklich  nackt  gebildet  wäre*).  Von 
dem  Genuesen  Q  u  e  i  r  o  1  o  aber  ist  die  Gruppe  ,,il  disinganno,  die  Ent- 
täuschung"; ein  Mann  (Porträt  des  Raimondo  di  Sangro)  macht  sich 
aus  einem  grossmächtigen  Stricknetze  frei  mit  Hülfe  eines  höchst  ab- 
geschmackt herbeischwebenden  Genius.  Welche  Marter  an  diesen 
Arbeiten  auch  die  meisselgewandteste  Virtuosenhand  ausstehen  musste, 
weiss  nur  ein  Bildhauer  ganz  zu  würdigen.  Und  bei  all  der  Illusion 
ist  der  geistige  Gehalt  null,  die  Formengebung  gering  und  selbst  elend. 
Die  Capelle  ist  noch  mit  andern  Arbeiten  dieser  Zeit  angefüllt.  Wer 
von  da  unmittelbar  zur  Incoronata  geht,  kann  mit  doppeltem  Erstaunen 
sich  überzeugen,  mit  wie  Wenigem  das  Höchste  sich  zur  Erscheinung 
bringen  lässt, 

*i)  Von    demselben    Corradini  steht    eine    verhüllte    „Wahrheit  "  in    der    Galerie    Manfrin    zu 
Venedig. 


Der  Affect. 


697 


Übrigens  sind  dieses  seltene  Ausnahmen.  Der  Barockstyl  liebt 
viel  zu  sehr  das  Massenhafte  und  in  seinem  Sinn  glänzende  Improvi- 
siren,  um  sich  häufig  eine  solche  Mühe  zu  machen. 


Welches  war  nun  der  Affect,  dem  zu  Liebe  Bernini  die  ewi- 
gen Gesetze  der  Drapirung  so  bereitwillig  preisgab?  Bei  Anlass  der  • 
Malerei  wird  davon  umständlicher  gehandelt  werden;  denn  bei  dieser 
ging  ja  die  Sculptur  jetzt  in  die  Schule,  Genug,  dass  nunmehr  ein 
falsches  dramatisches  Leben  in  die  Sculptur  fährt,  dass  sie  mit  der 
Darstellung  des  blossen  Seins  nicht  mehr  zufrieden  ist  und  um  jeden 
Preis  ein  Thun  darstellen  will;  nur  so  glaubt  sie  etwas  zu  bedeu- 
ten. Die  heftige  Bewegung  wird,  je  weniger  tiefere,  innere  Nothwen- 
digkeit  sie  hat,  desto  absichtlicher  in  dem  Gewände  explicirt.  Ging 
man  aber  so  weit,  so  war  auch  die  plastische  Composition  überhaupt 
nicht  mehr  zu  retten.  Die  so  schwer  errungene  Einsicht  in  die  for- 
malen Bedingungen,  unter  welchen  allein  die  Statue  schön  sein  kann, 
das  Bewusstsein  des  architektonischen  Gesetzes,  welches  diese  stoff- 
gebundene Gattung  allein  beschützt  und  beseelt  —  diess  ging  für  an- 
derthalb Jahrhunderte  verloren. 

Schon  für  alle  Einzelstatuen  (geschweige  denn  für  Gruppen)  wird 
nun  irgend  ein  Moment  angenommen,  der  ihre  Bewegung  begründen 
soll.  Bisweilen  gab  es  freie  Themata,  welche  aus  keinem  andern 
Grunde  gewählt  wurden.  So  Bernini's  schleudernder  David  (Villa « 
Borghese),  welcher  die  grösste  äussere  Spannung  einer  gemeinen  ju- 
gendlichen Natur  ausdrückt.  Aber  welcher  Moment  sollte  in  die  zahl- 
losen Kirchenstatuen,  in  all  die  Engel  und  Heiligen  gelegt  werden,  die 
auf  Balustraden,  in  Fassadennischen,  in  Nebennischen  der  Altäre 
u.  a.  a.  0.  zu  stehen  kamen?  Die  Aufgabe  war  keine  geringe!  Ber- 
nini hatte  z.  B.  mittelbar  oder  unmittelbar  für  die  162  Heiligen  zu  b 
sorgen,  welche  auf  den  Colonnaden  vor  S.  Peter  stehen,  und  ähnliche, 
wenn  auch  minder  ausgedehnte  Reihenfolgen  kamen  bei  der  Aus- 
zierung  von  Gebäuden  nicht  selten  in  Arbeit. 

Die  Sculptur  ging  nun  auch  hier  der  Malerei  getreulich  nach  und 
nahm  ihr  den  ekstatisch  gesteigerten,  durch  Geberden  ver- 

Urcicerone.  45 


•'.4^.'«.M 


-ik.  --^i^^-t-t.  -*  ~s- -  ^i(^ai»4i«i/i«v> ly  I  im  'i>i"iyii»^4»>'H.  J'iii  ^fit***iVI-ft- 


6g8 


Barockscnlptnr.    Ekstasen. 


sinnlichten  Gefühlsausdruck  ab.  Derselbe  ist  an  sich  gar  wohl 
darstellbar  und  könnte  mit  grosser  Schönheit  und  Reinheit  gegeben 
werden.  Allein  wenn  er  zur  Regel  wird  und  bald  den  einzigen  Inhalt 
und  Gehalt  auszumachen  droht,  so  ist  er  der  Sculptur  gefährlicher  als 
der  Malerei,  welche  letztere  durch  Farbe  und  Umgebung  viel  mehr 
Abwechselung  und  neue  Motivirung  hineinbringen  und  das  Auge  be- 
ständig von  Neuem  täuschen  kann. 

Mit  einer  Art  von  resoluter  Verzweiflung  geht  die   Sculptur  an 
ihr  Tagewerk.    Sie  sucht  mit  aller  Anstrengung  nach  Nebengedanken; 
sie  giebt  dem  Heiligen  einen  Putto  bei,  mit  welchem  er  Conversation 
machen  kann;   sie  lässt  den  Apostel  heftig  in  seinem  vorgestützten 
a  Buche  blättern  (lehrreiche  Apostelreihe  von  Monnot,  Le  Gros  u.  A.  in 
b  den  Pfeilernischen  des  Laterans);  Mocchi's  S.  Veronica  (in  S.  Peter) 
c  läuft  eilig  mit  ihrem  Schweisstuch;  Bernini's  Engel  auf  Ponte  S.  An- 
gelo  cokettiren  ganz  zärtlich  mit  den  Marterinstrumenten  (der  mit  der 
Kreuzinschrift  von  B.  eigenhändig  ausgeführt) ;  u.  dgl.  m.  —  Im  Allge- 
meinen aber  sind  und  bleiben  es  einige  wenige  Motive,  welche  sich 
besonders  häufig  nur  versteckt  wiederholen.    Da  macht  sich  z.  B.  ein 
d  inspirirtes  Auffahren,  wie  aus  einem  Traum,   bemerklich   (Bernini's 
e  Statuen  in  S.  M.  del  popolo,  Cap.  Chigi;  in  der  Capeila  del  voto  des 
Domes  von  Siena  etc.) ;  ein  eifriges  Betheuern  und  Schwören  (Bernini's 
f  Longin  in   S.  Peter,  auch  mehrere  der  Ordensstifter  in  den  Nischen 
g  der  Hauptpfeiler  daselbst;  unter  diesen  ist  der  S.  Ignatius  Loyola,  von 
Giuseppe  Rusconi,  durch  tiefern  Ausdruck  und  gediegenere 
h  Ausführung   ausgezeichnet;    ganz   unverzeihlich   schlecht   der    Beate 
Alessandro  Sauli  von  Puget,  in  S.  M.  di  Carignano  zu  Genua,  u.  a.  m.). 
Es  ist  noch  ein  Glück  für  den  Künstler,  wenn  er  seinen  Heiligen  als  be- 
geisterten Prediger  darstellen  kann.      (S.  Peter.)      Sonst  findet  sich 
namentlich  ein  schwärmerisches  Hinsinken  oder  Hinknieen,  theils  mit 
gesenktem  Haupt  (Legros,  S.  Aloys  Gonzaga,  im  rechten  Querschiff 
von  S.  Ignazio  zu  Rom),  theils  mit  einem  solchen  Blick  nach  oben, 
dass  man  wenig  mehr  als  Kinnbacken  und  Nasenspitze  bemerkt.   (Eine 
k  Hauptstatue  dieser  Gattung,  der  silberne  S.  Ignatius  von  Legros,  im 
linken  Querschiff  ai  Gesü,  ist  nur  noch  durch  eine  kupferversilberte 
l  Nachbildung  vertreten.)    Der  S.  Andreas  des  Duquesnoy,  in  S.  Peter, 
welcher  es  beim  blossen  sehnsüchtigen  Blick  und  Handgestus  bewen- 


Martyrien.    Attribute. 


699 


den  lässt,  ist  ohnediess  auch  durch  Mässigung  der  Form  ein  besseres 
Werk. 

Höchst  widrig  ist  denn  die  Vermischung  dieses  ekstatischen  Aus- 
druckes mit  einem  je  nach  Umständen  grässlichen  körperlichen 
Leiden.  Die  grosse  Lieblingsaufgabe,  S,  Sebastian,  welcher  nackt 
und  dennoch  ein  Heiliger  ist,  wurde  jetzt  von  Puget  (Kirche  Carig-  ; 
nano  zu  Genua,  s.  oben)  in  einer  Weise  gelöst,  welche  des  rücksichts- 
losen Naturalismus  jener  Zeit  ganz  würdig  war.  Hatten  bisher  Maler 
und  Bildhauer  das  körperliche  Leiden  des  Heiligen  entweder  wegge- 
lassen (indem  sie  den  bloss  Gebundenen,  noch  nicht  Durchschossenen 
abbildeten),  oder  doch  würdig  dargestellt,  so  windet  sich  hier  S.  Se- 
bastian wie  ein  Wurm  vor  Schmerzen.  Das  Stärkste  aber  bietet 
(ebenda)  ein  anderer  Franzose,  Claude  David,  in  seinem  S.  Bartholo-  i 
maus;  man  sieht  den  nackten,  bejahrten  Athleten  an  einen  Baumstamm 
gebunden,  halb  knieend,  halb  aufspringend  mit  schon  halbgeschundener 
Brust;  ein  heranschwebender  Engel  zieht  das  hängende  Stück  Haut 
an  sich  und  macht  den  Beschauer  in  naseweiser  Art  auf  das  Leiden 
des  Heiligen  aufmerksam. 

Also  lauter  sehnsüchtige  Devotion  und  Passivität,  mit  Güte  oder 
Gewalt  in  das  Momentane  und  Dramatische  übersetzt  —  diess  ist  der 
Inhalt  der  kirchlichen  Einzelstatuen.  Ein  weiteres  pikant  gemeintes 
Interesse  verlieh  ihnen  z.  B.  Bernini  gern  durch  allzugrosseBil- 
d  u  n  g  im  Verhältniss  zur  Kleinheit  der  Nische  (die  erwähnten  Sta-  < 
tuen  im  Dom  von  Siena);  die  Ausgleichung  liegt  in  gebückter,  son- 
derbar sprungbereiter  Stellung  u.  dgl.  Zu  diesem  gezwungen  Momen- 
tanen, vermeintlich  Dramatischen  gehört  ganz  consequent  auch  die 
Bildung  der  Attribute  in  demselben  Verhältniss  zur  wirklichen 
Grösse  wie  die  Figuren.  Das  frühere  Mittelalter  hatte  dem  heil.  Lau- 
rentius  nur  ein  kleines  Röstlein,  der  heil.  Catharina  ein  Rädlein  in  die 
Hand  gegeben;  jetzt  weiss  man  von  einer  solchen  andeutenden,  symboli- 
schen Darstellungsweise  nichts  mehr;  da  es  sich  um  eine  Situation  han- 
delt, an  deren  Gegenwärtigkeit  der  Beschauer  glauben  soll,  muss 
Laurentius  einen  mannslangen  Rost,  Catharina  ein  Wagenrad  mit- 
bekommen;  soviel  gehört  nothwendig  mit  zur  Illusion. 

Indess  giebt  es  ein  paar  Heiligenfiguren,  in  welchen  statt  der  so 
oft  unechten  Ekstase  eine  ruhige,  sogar  innig  andächtige  Stimmung 

45* 


»-»ftli-r 


/•-■>  --^  i    ;  <i«<v.--*-w-*  Tjc^.^itf^tf! j^y;ni>'*>j*<  V^'*'''""^''^ >*^t>*<n' 


»t'<>w|W»^iL««'»'iU-',-W^^  -'•  -■  -js-^  < 


700 


Barocksculptar.    Werke  von  reinerm  Änsdrack. 


ausgedrückt  ist.    So  in  der  vielleicht  besten  Statue  des  XVII.  Jahrh., 
a  der  H.  Susanna  des  DuquesnoyinS.  M.  Loretto  zu  Rom; 
sie  deutet  mit  der  Linken  auf  die  Palme,  welche  sie  in  der  Rechten  hält, 
und  blickt  sanft  nieder.     Ohne  den  bessern  Antiken  irgendwie  eben- 
bürtig zu  sein,  hätte  dieses  Werk  doch  genügen  sollen,  um  alle  Zeit- 
genossen auf  ihren  Irrwegen  zu  beschämen.  Oder  Houttons  hei- 
bliger  Bruno  (S.   M.  degli   Angeli  in  Rom,   Eingang  ins  Haupt- 
schiff); hier  ist  im  Gegensatz  zu  dem  sonst  üblichen  unwahren  Auf- 
fahren jene  demüthige,  innige  Carthäuser-Devotion  ganz  einfach  dar- 
gestellt, welche  gleichzeitig  durch  die  Maler  Stanzioni  und  Le  Suevir 
c  einen  unvergänglich  schönen  Ausdruck  fand.     Bernini's  heil.  Bibiana 
(in   der  gleichnamigen  stets  verschlossenen   Kirche)   soll   wenigstens 
einen  Anflug  von  ähnlichem  einfachem  Ernst  haben. 

Sodann  giebt  es  eine  Anzahl  Martyrien  ohne  Pathos, 
in  welchen  nicht  mehr  das  Leiden,  sondern  der  ruhige  Augenblick  des 
Todes  dargestellt  ist.     Was  man  auch  von  solchen  Gegenständen  — 
namentlich  wenn  sie  plastisch,  ohne  irgend  ein  sachliches  Gegengewicht 
vorgetragen  werden  —  denken  möge,  immerhin  sind  die  hieher  ge- 
hörenden liegenden  Statuen  Bernini's  zu  seinen  besten  Werken  zu 
d  zählen.     So  die  selige  Lodovica  Albertoni  (in  S.  Francesco  a  ripa  zu 
Rom,  hinten  links),  und  der  nach  seinem  Modell  von  Giorgini  aus- 
e  geführte  S.  Sebastian  (in  S.  Sebastiano,  links).    Endlich  in  S.  Cecilia 
f  zu  Rom  (unter  dem  Hochaltar)  die  schöne,  in  der  Art  ihres  Liegens 
rührende  heil.  Cäcilia  des  Stefano  Maderna.     Mehrere  ähnliche  Sta- 
tuen in  andern  Kirchen. 


Von  der  Bildung  einzelner  Gestalten  gehen  wir  über  zu  den 
Gruppen,  deren  mehrere  bereits  beiläufig  genannt  worden  sind. 
Eine  Kunstepoche,  welche  so  grossen  Werth  auf  das  Momentane  und 
Dramatische  legte  und  in  allen  Künsten  so  sehr  auf  Pomp  und  Pracht 
ausging,  musste  eine  entschiedene  Vorliebe  für  grosse  Marmorgruppen 
haben.  Da  ihr  aber  die  höhern  Liniengesetze  gleichgültig  waren  neben 
dem  Ausdruck  der  Wirklichkeit  und  des  Momentes,  so  mussten  in 
der  Regel  verfehlte  Werke  zum  Vorschein  kommen. 


Profane  Gruppen.  Brnnnengrappen.  Grabgruppen. 


701 


In  den  Profangruppen  wird  das  Capitel  der  mythischen 
Entführungsscenen  umständlich  behandelt;  Bernini  gab  schon  in 
seiner  frühern  Gruppe  ,, Apoll  und  Daphne"  (S.  694,  b)  dasjenige  Über- 
mass  des  Momentanen,  womit  jene  Zeit  glücklich  zu  machen  war;  ausser-  a 
dem  gehört  sein  Pluto  (S.  694,  a)  hieher.  Mit  der  Zeit  geriethen  solche 
Sujets  in  die  Hände  von  Garten- Steinmetzen,  und  fielen  dann  bisweilen 
so  lächerlich  aus,  dass  man  das  Anstössige  völlig  vergisst.  Irgend 
etwas  von  dem  plastischen  Ernste  des  Sabinerinnenraubes  von  Giov. 
Bologna  wird  man  im   XVII.  und   XVIII.   Jahrh.  vergebens  suchen. 

Von  den  Brunnengruppen  ist  zum  Theil  schon  die  Rede  ge- 
wesen (S.  396  u.  f.).  In  derjenigen  auf  Piazza  Navona  (S.  694,  c)  strebt  b 
Bernini  nach  dem  Ausdruck  elementarischer  Naturgewalten  in  Michel- 
angelo's  Sinne,  allein  statt  eines  blossen  gewaltigen  Seins  kann  er 
auch  hier  sein  Pathos  nicht  unterdrücken,  ein  Nachtheil,  welchen  die 
einfach  tüchtige  Detailarbeit  nicht  wieder  gut  machen  kann.  Hier 
lernt  man  Giov.  Bologna's  Brunnen  im  Garten  Boboli  (S.683,  b)  schätzen, 
welcher  einen  streng  architektonischen  Sinn  in  plastischen  Gestalten 
ausdrückt  und  keines  irrationellen  Elementes  bedarf,  wie  in  Bernini's 
Werk  der  mit  unsäglicher  Schlauheit  arrangirte  Naturfels  ist. 

Ebenso  muss  man  die  Prachtgräber  dieser  Zeit  mit  ihrer 
Art  von  Gruppenbildung  kennen,  um  Michelangelo's  Gräber  in  der  Sa- 
cristei  von  S.  Lorenzo  ganz  zu  würdigen.     Bernini  selber  begann  die 
neue  Reihe  mit  dem  Grabmal  Urbans  VIII.   im  Chor  von   S.   Peter,  c 
und  endete  mit  demjenigen  Alexanders  VII.  (über  einer  Thür  seitwärts 
vom  linken  Querschiff);  der  Typus  des  erstgenannten  herrscht  dann 
weiter  in  den  Grabmälern  Leo's  XI.  (von  Algardi),  Innocenz  XI.  (von 
Monnot),  Gregors  XIII.  (erst  lange  nach  dessen  Tode  errichtet,  1723, 
von  Camillo  Rusconi,  das  beste  der  Reihe),  und  Benedicts  XIV.  (von 
Pietro  Bracci),  wozu  noch  dasjenige  Benedicts  XIII.  in  der  Minerva  d 
(ebenfalls  von  Bracci)  und  dasjenige  Clemens  XII.  im  Lateran  (Gap.  e 
Corsini)  zu  rechnen  sind. 

Durchgängig  das  Beste  oder  Leidlichste  sind  natürlich  die  über 
den  Särgen  thronenden,  stehenden  oder  knieenden  Porträtstatuen 
der  Päpste,  zumal  bei  Bernini  selbst.  Im  Übrigen  aber  wird  die 
Nische,  in  welcher  der  Sarcophag  steht,  nur  als  eine  Art  Schaubühne 
behandelt,  auf  welcher  Etwas  vorgehen  muss.    Noch  Gugl.  della  Porta 


--  .  .A:*;\^r'!*ii-!»*<^«;-jW*iÄi.WÄ>i»»<Jy-Ä*»^.*^^^  ' 


702 


Barockscnlptnr.    Grabmäler. 


hatte  seine  „Klugheit"  und  „Gerechtigkeit"  ruhig  auf  dem  Sarcophag 
Pauls  III.  lagern  lassen,  allerdings  nicht  mehr  so  unbekümmert  um 
den  Beschauer  wie  Michelangelo's  Tag,  Nacht  und  Dämmerungen  i) . 
Seit  Bernini  aber  müssen  die  zwei  allegorischen  Frauen  eine  dra- 
matische Scene  aufführen;  ihre  Stelle  ist  desshalb  nicht  mehr 
auf  dem  Sarcophag,  sondern  zu  beiden  Seiten,  wo  sie  stehend  oder 
sitzend  (und  dann  auffahrend)  ihrem  Affect  freien  Lauf  lassen  können. 
Der  Inhalt  dieses  Affectes  soll  meist  Trauer  und  Jammer,  Bewunde- 
rung, verehrende  Ekstase  um  den  Verstorbenen  sein,  was  denn  jeder 
Bildhauer  auf  seine  Weise  zu  variiren  sucht.  —  Die  kirchliche  Decenz 
verlangte  jetzt  eine  vollständige  Bekleidung,  sodass  an  diesen  Gräbern 
von  S.  Peter  die  ausgesuchtesten  damaligen  Draperiemotive  zu  finden 
sind.  Die  Bravour  im  Nackten  entschädigte  sich  durch  beigegebene 
Putten.  Daneben  bringt  schon  Bernini  —  wenn  ich  nicht  irre,  zum 
erstenmal  seit  dem  Mittelalter  —  die  scheussliche  Allegorie  des  Todes 
« in  Gestalt  eines  Skelettes  vor;  am  Grabmal  Urbans  VIII.  schreibt 
dasselbe  auf  einen  marmornen  Zettel  die  Grabschrift  zu  Ende;  am 
Monument  Abxanders  VII.  hebt  es  die  colossale  Draperie  von  gelb 
und  braun  geflecktem  Marmor  empor,  unter  welcher  sich  die  Thür 
befindet.     Leider  fand  gerade  diese  „Idee"  sehr  eifrige  Nachbeter. 


Bei  Anlass  dieses  Extremes  ist  von  den  Allegorien  Einiges 
zu  sagen,  weil  sie  gerade  für  die  Sepulcralsculptur  als  wesentlichste 
Gedanken  quelle  betrachtet  wurden;  auch  an  Altären  spielen  sie  oft  die 
erste  Rolle.  Die  Prachtgräber  und  Altäre  Italiens  sind  eben  so  voll 
von  verzweifelten  Versuchen,  dieses  Element  interessant  zu  machen, 
wie  eine  gewisse  Gattung  der  damaligen  Poesie.  Über  die  Stelle  der 
Allegorie  in  der  Kunst  überhaupt  haben  wir  hier  nicht  zu  entschei- 
den. Ihre  Unentbehrlichkeit  in  allen  nicht-polytheistischen  Zeitaltern 
und  die  Möglichkeit  schöner  und  erhabener  Behandlung  zugegeben, 
fragt  es  sich  nur,  wesshalb  sie  uns  bei  den  Berninesken  so  ganz  be- 
sonders ungeniessbar  erscheint? 

Diese  Gedankenwesen,  geboren  von  der  Abstraktion,  haben  eben 
ein  zartes  Leben.     Selber  Prädicate,  sind  sie  wesentlich  prädicatlos 


*)  Die  Grabtypen  der  Zwischenzeit  siehe  S.  689. 


Allegorien  der  Grabmäler  and  Altäre. 


703 


und  vollends  thatlos.  Der  Künstler  darf  sie  zwar  als  Individuen  dar- 
stellen, welche  dasjenige  empfinden,  was  sie  vorstellen,  allein  er  muss 
diese  Empfindung  nur  wie  einen  Klang  durch  die  ruhige  Gestalt  hin- 
durchtönen lassen.  Statt  dessen  zieht  die  Barocksculptur  sie  unbe- 
denklich in  das  momentane  Thun  und  in  einen  Affect  hinein,  der  sich 
durch  die  heftigsten  Bewegungen  und  Geberden  zu  äussern  pflegt. 
Nun  ist  es  schon  an  und  für  sich  nichts  Schönes  um  Idealfiguren 
dieses  Styles,  wenn  sie  aber  auffahren,  springen,  einander  an  den 
Kleidern  zerren,  auf  einander  losschlagen,  so  wirkt  diess  unfehlbar 
lächerlich.  Alles  Handeln  und  zumal  alles  gemeinschaftliche  Handeln 
ist  den  allegorischen  Gestalten  untersagt;  die  Kunst  muss  sich  zu- 
frieden geben,  wenn  sie  ihnen  nur  ein  wahres  Sein  verleihen  kann. 

Gleichzeitig  mit  Bernini  dichtete  Calderon  seine  Autos  sagramen- 
tales,  wo  fast  lauter  allegorische  Personen  handeln  und  welche  doch 
den  Leser  (um  nicht  zu  viel  zu  sagen)  ergreifen.  Aber  der  Leser 
steht  dabei  unter  der  Rückwirkung  desjenigen  starken  spanischen 
Glaubens  und  derjenigen  alten  Gewöhnung  an  die  Allegorie,  welche 
schon  dem  grossen  Dichter  entgegenkam  und  ihm  die  zweifellose 
Sicherheit  gab,  deren  er  in  dieser  Gattung  bedurfte  und  die  uns  für 
den  Augenblick  völlig  mitreisst,  während  wir  bei  den  Berninesken  das 
ästhetische  Belieben,  die  Wählerei  recht  wohl  ahnen.  Sodann  sind 
es  Dramen,  d.  h.  Reihen  fortschreitender  Handlungen,  nicht  einzelne 
in  den  Marmor  gebannte  Momente.  Endlich  steht  es  der  Phantasie 
des  Lesers  frei,  die  allegorischen  Personen  des  Dichters  mit  der  edel- 
sten Form  zu  bekleiden,  während  die  Sculptur  dem  Beschauer  auf- 
dringt, was  sie  vorräthig  hat.  —  Übrigens  empfindet  man  bei  Rubens 
bisweilen  eine  ähnüche,  zum  Glauben  zwingende  Gewalt  der  Allegorie 
wie  bei  Calderon. 

Welcher  Art  die  Handlungen  der  allegorischen  Gruppen  bisweilen 
sind,  ist  am  glorreichsten  zu  belegen  mit  den  Gruppen  von  Legros  a 
und  Teudon  links  und  rechts  von  dem  Ignatiusaltar  im  Gesü  zu  Rom: 
die  Religion  stürzt  die  Ketzerei,  und  der  Glaube  stürzt  die  Abgötterei; 
die  besiegte  Partei  ist  jedesmal  durch  zwei  Personen  repräsentirt. 
Was  an  dieser  Stelle  erlaubt  war,  galt  dann  weit  und  breit  als  clas- 
sisch  und  fand  Nachahmer  in  Menge.  Einem  besonders  komischen 
Übelstand  unterliegen  dabei  die  weiblichen  Allegorien  des 


^.-^   ^ ..  ^, 


.«-.-n  j,-!wtj.U^  •.^♦Ur  ivfc>«*««>i4i(j»-^*iMiWvii«i»'>«fc-  ^,if^iV>*->wV5V^> 


»J»*»»»**'  '■— "  - 


704 


Barockscalptar.    Allegorien. 


Bösen.  Aus  Neigung  zum  Begreiflichen  bildete  man  sie  als  häss- 
liche  Weiber,  und  zwar,  wie  sich  bei  den  Berninesken  von  selbst 
versteht,  in  Affect  und  Bewegung,  im  Niederstürzen,  Fliehen  u.  s.  w. 

a  Auf  dem  figurenreichen  Hochaltar  der  Salute  in  Venedig  (von  Justus 
de  Curt)  sieht  man  neben  der  Madonna  u.  a.  eine  fliehende  ,, Zwie- 
tracht", von  einem  Engel  mit  einer  Fackel  verfolgt,  das  hässlichste 
alte  Weib  in  bauschig  flatterndem  Gewand.  Nicht  umsonst  hatte  schon 
der  alte  Giotto  (Padua,  Fresken  der  Arena)  die  Laster  in  männlicher 
Gestalt  dargestellt.  —  Und  dann  kann  überhaupt  nur  ein  reiner  Styl 
wahrhaft  grossartige  Allegorien  des  Bösen  schaffen. 

Allein  auch  die  ruhigern,  einzeln  stehenden  Allegorien  unterliegen 
zunächst  der  manierirten  Bildung  alles  Idealen.    Unter  zahllosen  Bei- 

b  spielen  heben  wir  die  Statuen  im  Chor  von  S.  M.  Maddalena  de  Pazzi 
in  Florenz  hervor,  weil  sie  mit  besonderm  Luxus  gearbeitet  sind: 
Montani's  Religion  und  Unschuld,  und  Spinazzi's  Reue  und  Glaube; 
der  letztere  eine  von  den  beliebten  verschleierten  Figuren  in  der  Art 
der  oben  (S.  696,  a)  genannten.  Während  sich  aber  hier  wenigstens  die 
Bedeutung  der  einzelnen  Figuren,  wenn  auch  mit  Mühe,  errathen 
lässt,  tritt  in  vielen  andern  Fällen  ein  absurder  vermeintlicher  Tief  sinn 
dazwischen,  der  mit  weit  hergeholten  pedantischen  Anspielungen  im 
Geschmack  der  damaligen  Erudition  die  Allegorien  vollends  unkennt- 
lich macht  und  sich  damit  zu  brüsten  scheint,  dass  eben  nicht  der 
Erste  Beste  erkenne,  wovon  die  Rede  sei.    Man  suche  z.  B.  aus  den 

c  acht  lächerlich  manierirten  Statuen  klug  zu  werden,  mit  welchen  Mi- 
chele  Ongaro  die  kostbare  Capelle  Vendramin  in  S.  Pietro  di  Castello 
zu  Venedig  verziert  hat!  (Ende  d.  1.  Querschiffes.)  Mit  allen  Attri- 
buten wird  man  die  Bezüge  des  XVIL  Jahrh.  erst  recht  nicht  errathen. 
— ■  Ein  anderer  Missbrauch,  der  alle  Theilnahme  für  diese  allegorischen 
Gebilde  von  vorn  herein  stört,  ist  die  oben  (S.  385  u.  f.)  gerügte  Ver- 
schwendung derselben  für  decorative  Zwecke,  zumal  in 
einer  ganz  ungehörigen  Stärke  des  Reliefs,  welche  beinahe  der  Frei- 
sculptur  gleich  kömmt.  Denselben  Schwindel,  welchen  man  im  Namen 
der  Bogenfüllungstugenden  empfindet,  fiihlt  man  dann  auch  für  die 
eigentlichen  Statuen,  die  auf  den  Gesimsen  von  Altartabernakeln  stehen, 
oder  vollends  für  jene  Fides,  Caritas  u.  s.  w,,  welche  nebst  Putten  und 
Engeln  auf  den  gebrochenen  Giebelschnecken  der  Altäre  in  Pozzo's 


Grabmäler  als  WandscolptareD. 


705 


Geschmack  (S.  390)  höchst  gefährlich  balancirend  sitzen.  (Ein  Bei- 
spiel von  vielen  in  S.  Petronio  zu  Bologna,  2.  Cap.  links.)  Was  uns  a 
besorgt  macht,  ist  der  Naturalismus  ihrer  Darstellung  und  die  seil- 
tänzerische Prätension  auf  ein  wirkliches  Verhältniss  zu  dem  Räume, 
wo  sie  sich  befinden,  d.  h.  auf  ein  wirkliches  Sitzen,  Stehen,  Lehnen 
an  einer  halsbrechenden  Stelle.  Für  eine  Statue  des  XIV.  Jahrh., 
mit  ihrem  einfachen  idealen  Styl,  ist  dem  Auge  niemals  bange,  so  hoch 
und  dünn  auch  das  Spitzthürmchen  sein  mag,  auf  welchem  sie  steht. 


Doch  wir  müssen  noch  einmal  zu  den  Grabmälern  zurückkehren. 
Die  Nachtreter  haben  Bernini  weit  überboten  sowohl  in  der  plastischen 
als  in  der  poetischen  Rücksichtslosigkeit.  Als  sie  einmal,  wie  bei 
Anlass  der  Altargruppen  weiter  zu  erörtern  ist,  die  Gattungen  der 
Freisculptur  und  des  Hochreliefs  zu  einer  Zwitterstufe,  der  W  a  n  d  - 
s  c  u  1  p  t  u  r  (sit  venia  verbo)  vermengt  hatten,  war  schlechterdings 
Alles  möglich.  Bei  der  totalen  Verwilderung  des  Styles  rivalisirte 
man  jetzt  fast  nur  noch  in  ,, Ideen",  d.  h.  in  Einfällen  und,  wer 
seine  Geschicklichkeit  zeigen  wollte,  in  naturalistischem  Detail.  Hier 
halten  weinende  Putten  ein  Bildnissmedaillon;  dort  beugt  sich  ein 
Prälat  über  sein  Betpult  hervor;  ein  verhülltes  Gerippe  öffnet  den 
Sarg;  abwärts  purzelnde  Laster  werden  von  einer  Inschrifttafel  er- 
drückt, über  welcher  oben  ein  fader  Posaunenengel  mit  einem  Me- 
daillon schwebt;  für  alle  Arten  von  Raumabstufung  müssen  marmorne 
Wolken  herhalten,  die  aus  der  Wand  hervorquellen,  oder  es  flattern 
grosse  marmorne  Draperien  rings  herum,  für  deren  Brüche  und  Bau- 
schen die  Motivirung  erst  zu  errathen  ist.  Statt  aller  Denkmäler 
dieser  Art  nennen  wir  nur  das  der  Maria  Sobieska  im  linken  Seiten-  b 
schiff  von  S.  Peter,  als  eines  der  prächtigsten  und  sorgfältigsten  (von 
Pietro  Bracci).  —  In  Florenz  ist  die  unter  Foggini's  Leitung  decorirte  c 
(1692  vollendete)  Cap.  Feroni  in  der  Annunziata  (die  zweite  links) 
ein  wahres  Prachtstück  berninesker  Allegorie  und  Formenbildung. 
Als  Grabcapelle  des  (in  Amsterdam  als  Kaufmann  reich  gewordenen, 
später  in  Florenz  als  Senator  festgehaltenen)  Francesco  Feroni  hätte 
sie  nur  Eines  Sarcophages  bedurft;  der  Symmetrie  zu  Liebe  wurden 
es  zweie;  auf  dem  einen  sitzen  die  Treue  (mit  dem  grossen  bronzenen 


,i*<rf».>«.«-/  ». 


■:ttrt»iyitt<ß»t'»*i»t*^;i'mt 


'A-Mid».'»f'*ivi;^*^^*)^'^ 


706 


Barocksculptur.    Dogengräber. 


Bildnissmedaillon)  und  die  Schifffahrt,  auf  dem  andern  die  Abundantia 
maritima  und  der  „Gedanke",  ein  nackter  Alter  mit  Büchern;  über 
den  Särgen  stehen  dort  S.  Franciscus,  hier  S.  Dominicus;  unter  dem 
Kuppelrand  schweben  Engel,  in  der  Kuppel  Putten.  Und  über  diess 
Alles  ist  doch  Ein  Styl  ausgegossen  und  der  Beschauer  lässt  sich  we- 
nigstens einen  Augenblick  täuschen,  als  gehöre  es  zusammen.    (Das 

a  Altarbild  von  Carlo  Lotti.) 

In  Venedig  behielten  die  Dogengräber  von  der  vorhergehenden 
Epoche  her  die  Form  grosser  Wandarchitekturen  von  zwei  Ordnungen 
bei,  nur  dass  dieselben  in  noch  viel  colossalerm  Massstab  ausgeführt 
wurden.  Das  Figürliche  concentrirt  sich  hier  nicht  zu  emer  allego- 
rischen Sarcophaggruppe,  sondern  vertheilt  sich  in  einzeln  aufgestellte 
Statuen  vor  und  zwischen  den  Säulen,  in  Reliefs  an  den  Postamenten 
u.  s.  w.  Ganze  Kirchenwände  (am  liebsten  die  Frontwand)  werden 
von  diesen  zum  Theil  ganz  abscheulichen  Decorationen  in  Beschlag 
genommen.  Unverzeihlich  bleibt  es  zumal,  dass  die  Besteller,  was  sie 
an  der  Architektur  ausgaben,  an  den  armen  Schluckern  sparten,  welche 
die  Sculpturen  in  Verding  nahmen,  sodass  die  elendesten  Arbeiten  des 
berninischen  Styles  sich  gerade  in  den  venezianischen  Kirchen  finden 

b  müssen.  Eine  Ausnahme  macht  etwa  das  Mausoleum  Valier  im  rech- 
ten Seitenschiff  von  S,  Giovanni  e  Paolo,  wofür  man  wenigstens  einen 
der  bessern  Berninesken,  Baratta,  nebst  andern  Geringern  in  Anspruch 
nahm.  (Unter  den  obern  Statuen  u.  a.  eine  Dogaressa  in  vollem  Co- 
stüm  um  1700.)  —  Wie  weit  das  Verlangen  geht,  überall  recht  be- 
greiflich und  wirklich  zu  sein,  zeigt  auf  erheiternde  Weise  das  im 

c  linken  Seitenschiff  der  Frari  befindliche  Grabmal  eines  Dogen  Pesaro 
(t  1669).  Vier  Mohren  tragen  als  Atlanten  das  Hauptgesimse;  ihre 
Stellung  schien  nicht  genügend,  um  sie  als  Besiegte  und  Galeotten 
darzustellen;  der  Künstler,  ein  gewisser  Barthel,  gab  ihnen  zerrissene 
Hosen  von  weissem  Marmor,  durch  deren  Lücken  die  schwarzmarmor- 
nen Kniee  hervorgucken;  er  hatte  aber  auch  genug  Mitleid  für  sie 
und  Nachsicht  für  den  Beschauer,  um  zwischen  ihren  Nacken  und  den 
Sims  dicke  Kissen  zu  schieben;  das  Tragen  thäte  ihnen  sonst  zu  wehe. 


Von  den  Altargruppen  sind  zuerst  die  frei  stehenden 
zu  betrachten.   Die  beste,  welche  mir  vorgekommen  ist,  befindet  sich  in 


Freistehende  Altargrnppen.    Wolken. 


707 


der  Crypta  unter  der  Capeila  Corsini  im  Lateran  zu  Rom;  es  a 
ist  eine  P  i  e  t  a  von  Bernini.  (?  Sie  fehlt  im  Verzeichniss  seiner  Werke 
bei  Dominici.)  Die  delicate  Behandlung  des  Marmors  macht  sich  in 
einigen  Künsteleien  absichtlich  bemerkbar,  sonst  ist  an  der  Gruppe 
nur  die  durchaus  malerische  (und  in  diesem  Sinne  gute)  Composition 
zu  tadeln;  im  Übrigen  ist  es  ein  ziemlich  reines  Werk  von  schönem, 
innerlichem  Ausdruck  ohne  alles  falsche  Pathos;  im  Gedanken werth 
den  besten  Darstellungen  dieses  Gegenstandes  aus  der  Schule  der 
Caracci  wohl  gleichzustellen.  Wie  Bernini  am  gehörigen  Ort  seinen 
Styl  zu  bändigen  und  zu  veredeln  wusste,  zeigt  auch  der  Christus-  b 
leichnam  in  der  Crypta  des  Domes  von  Capua. 

Allein  diess  waren  Werke  für  geschlossene  Räume  mit  beson- 
derer Bestimmung.  Was  sollte  auf  die  Hochaltäre  der  Kirchen  zu 
stehen  kommen?  Nicht  Jeder  war  so  naiv  wie  Algardi,  der  für  den 
Hauptaltar  von  S.  Paolo  zu  Bologna  eine  Enthauptung  Johannis  in  c 
zwei  colossalen  Figuren  arbeitete;  statt  des  Martyriums  sucht  man 
vielmehr  durchgängig  eine  Glorie  an  diese  feierlichste  Stelle  der 
Kirche  zu  bringen.  Die  höchste  Glorie,  welche  die  Kunst  ihren  Ge- 
stalten hätte  verleihen  können,  eine  grossartige,  echt  ideale  Bildung 
mit  reinem  und  erhabenem  Ausdruck  —  diese  zu  schaffen  war  das 
Jahrhundert  nicht  mehr  angethan;  der  Inhalt  des  Altarwerkes  musste 
ein  anderer  sein.  Vor  Allem  musste  der  pathetische  und  ekstatische 
Ausdruck,  welchen  man  die  ganze  Kirche  hindurch  in  allen  Nischen- 
figuren und  Nebenstatuen  der  Seitenaltäre  auf  hundert  Weisen  variirt 
hatte,  in  der  Altarsculptur  consequenter  Weise  seinen  Höhepunkt  er- 
reichen, indem  man  die  Ekstase  zu  einer  Verklärung  zu  steigern  suchte. 
Hier  beginnt  die  Nothwendigkeit  der  Zuthaten;  die  betreffende  Haupt- 
figur, die  man  am  liebsten  ganz  frei  schweben  Hesse,  schmachtet  sehn- 
süchtig auf  Wolken  empor,  welche  dann  weiter  zur  Anbringung  von 
Engeln  und  Putten  benützt  werden.  Als  aber  einmal  die  Marmorwolke 
als  Ausdruck  eines  überirdischen  Raumes  und  Daseins  anerkannt  war, 
wurde  Alles  möglich.  Es  ist  ergötzlich,  den  Wolkenstudien  der  da- 
maligen Sculptoren  nachzuforschen;  in  ihrem  redlichen  Naturalismus 
scheinen  sie  —  allerdings  irriger  Weise  —  nach  dem  Qualm  von  bren- 
nendem feuchtem  Maisstroh  u,  dgl.  modellirt  zu  haben.  Die  Altäre 
italienischer  Kirchen  sind  nun  sehr  reich  an  kostbaren  Schwebegrup- 


ny   i^i^-jt 


j.  .  »..  — 


v.^v^lw»■»^vW■Ws**^««-»--.'*«'^-*^««»%*•.!«'>.4J»^«W^  *i^' 


708 


Barockscnlptar.    Freistehende  Altargrnppen. 


pen^)  dieser  Art.  Es  ist  hauptsächlich  die  von  Engeln  gen  Himmel 
getragene  Assunta,  wie  sie  etwa  Guido  Reni  aufgefasst  hatte,  mit  ge- 
kreuzten oder  ausgestreckten  Armen  und  im  letztern  Fall  sogar  oft 
eher  declamatorisch  als  ekstatisch.     Oder  der  Kirchenheilige  in  einer 

a  Engelglorie.  In  Genua  z.  B.  kam  es  so  weit,  dass  fast  kein  Haupt- 
altar mehr  ohne  eine  solche  Gruppe  blieb.  Man  sieht  dergleichen  von 
Puget  auf  dem  Hauptaltar  der  Kirche  des  Albergo  de'  Poveri,  von 
Domenico   und  Filippo  Parodi  und  Andern  auf  den  Altären  von   S. 

b  Maria  di  Castello,  S.  Pancrazio,  S.  Carlo  etc.  Das  Auge  hält  sie  von 
Weitem  für  Phantasieornamente  und  kann  sie  erst  in  der  Nähe  ent- 
ziffern. Die  halbe  Illusion,  welche  sie  erreichen,  steht  im  widerlich- 
sten Missverhältniss  zu  der  ganzen  Illusion,  nach  welcher  die  Decken- 
fresken streben;  oft  bilden  sie  eine  dunkle  Silhouette  gegen  einen 
lichten  Chor;  ausserdem  steht  ihre  Proportion  in  gar  keiner  Beziehung 
zu  den  Proportionen  aller  andern  Bildwerke  der  Kirche;  sie  hätten 
eigentlich  höchst  colossal  gebildet  werden  müssen.  Danken  wir  gleich- 
wohl dem  Himmel,  dass  diess  nicht  geschehen  ist.  —  Eine  unterste 

c  Stufe  der  Ausartung  bezeichnet  nach  dieser  Seite  T  i  c  c  i  a  t  i '  s  Altar- 
gruppe im  Baptisterium  von  Florenz  (1732).  Von  den  für  schwebend 
geltenden  Engeln  trägt  der  eine  die  Wolke,  auf  welcher  Johannes 
d.  T.  kniet;  der  andere  stützt  sie  mit  dem  Rücken;  ein  Stück  Wolke 
quillt  bis  über  den  Sockel  herunter.  Auf  gemeinere  Weise  Hess  sich 
das  Übersinnliche  nicht  versinnlichen,  selbst  abgesehen  von  der  süss- 
lich  unwahren  Formenbildung.   -^  Auf  dem  Hochaltar  der  Jesuiten- 

d  kirche  zu  Venedig  sieht  man  Christus  und  Gottvater  sehr  künstlich 
balancirend  auf  der  von  Engeln  mit  sehr  wirklicher  Anstrengung  ge- 
tragenen Weltkugel  sitzen;  es  wäre  nun  gar  zu  einfach  gewesen,  die 
Engel  auf  dem  Boden  stehen  zu  lassen  —  sie  schweben  auf  Marmor- 
wolken. 

Bei    solchen   Excessen   mussten   die   Klügern   auf  den   Gedanken 
kommen,  dass  es  besser  wäre,  die  freistehende  Gruppe  ganz  aufzu- 


')  Der  berühmte  jetztlebende  amerilcanische  Bildhauer  Crawford,  der  seine  Figuren  auch 
gerne  schweben  lässt,  giebt  dem  Schweben  eine  Richtung  seitwärts,  vom  Postament 
weg.  Solches  geschieht  heut  zu  Tage  in  Rom,  doch  glücklicher  Weise  noch  nicht 
für  europäische  Kunstfreunde. 


AltargrappeD  als  Wandscalptaren. 


709 


geben,  als  ihre  Gesetze  noch  länger  mit  Füssen  zu  treten.  Und  nun 
wird  endlich  das  rein  malerische  Princip  zugestanden  in  vielen  Altar- 
gruppen, welche  nicht  mehr  frei  hinter  dem  Altar  stehen,  sondern  in 
einer  Nische  dergestalt  angebracht  sind,  dass  sie  ohne  dieselbe  nicht 
denkbar  wären.  Sie  sind  nämlich  ganz  als  Gemälde  componirt,  selbst 
ohne  Zusammenhang  der  Figuren,  mit  Preisgebung  aller  plastischen 
Gesetze.  Von  den  Wänden  der  Nische  aus  schweben  z.  B.  Wolken 
in  verschiedenen  Distanzen  her,  auf  welchen  zerstreut  Madonna,  Engel,  a 
S.  Augustin  und  S.  Monica  in  Ekstase  sitzen,  kauern,  knieen  u.  s.  w. 
(Altar  des  rechten  Querschiffes  in  S.  Maria  della  consolazione  in  Ge- 
nua, von  Schlaf fino  um  1718.)  Aus  den  hundert  andern  Gruppen 
dieser  Wandsculptur  heben  wir  nur  noch  zwei  in  Rom  befind- 
liche besonders  hervor:  die  Wohlthätigkeit  des  heil.  Augustin  (Altar  b 
des  linken  Querschiffes  in  S.  Agostino),  von  dem  Malteser  Melchiorre 
Gafa,  wegen  der  fleissigen  Arbeit  und  eines  Restes  von  Naivetät  —  und 
die  berühmte  Verzückung  der  heil.  Teresa  (im  linken  Quer- c 
schiff  von  S.M.  della  Vittoria),  von  Bernini.  In  hysterischer  Ohnmacht, 
mit  gebrochenem  Blick,  auf  einer  Wolkenmasse  liegend  streckt  die 
Heilige  ihre  Glieder  von  sich,  während  ein  lüsterner  Engel  mit  dem 
Pfeil  (d.  h.  dem  Sinnbild  der  göttlichen  Liebe)  auf  sie  zielt.  Hier 
vergisst  man  freilich  alle  blossen  Stylfragen  über  der  empörenden  De- 
gradation des  Übernatürlichen. 

Da  überall  die  Absicht  auf  Illusion  mitspielt,  so  scheut  sich  auch 
die  Sculptur  so  wenig  als  die  decorirende  Malerei  (S.  389),  ihre  Ge- 
stalten bei  Gelegenheit  weit  aus  dem  Rahmen  heraustreten  zu  lassen, 
überhaupt  keine  architektonische  Einfassung  mehr  anzuerkennen.  Es 
genügt,  auf  Bernini's  ,,C  a  t  e  d  r  a"  (hinten  im  Chor  von  S.  Peter)  zu  d 
verweisen,  welche  unten  als  Freigruppe  der  vier  Kirchenlehrer  an- 
fängt, um  oben  als  Wanddecoration  um  ein  Ovalfenster  (Engeischaaren 
zwischen  Wolken  und  Strahlen  vertheilt)  zu  schliessen.  Es  ist  das 
rohste  Werk  des  Meisters,  eine  blosse  Decoration  und  Improvisation; 
er  hätte  wenigstens  nicht  zum  Vergleich  mit  der  danebenstehenden  so- 
lidem Arbeit  seiner  eignen  frühern  Zeit,  dem  Denkmal  Urbans  VIII., 
so  unvorsichtig  auffordern  sollen. 


'  MiA^i:?^  1^^  -  ■*i^i' 


»»  Ai*,*.    ■iiUf.H«i»'.tS^A<i*J^ »  w  '•* 


710 


Barokscalptar.    Farbige  Bemalung. 


Endlich  erkennt  der  Naturalismus  der  berninischen  Plastik  seine 
eigenen  Consequenzen  offen  an.  Wenn  einmal  die  Darstellung  eines 
möglichst  aufregenden  Wirklichen  das  höchste  Ziel  des  Bildhauers  sein 
soll,  so  gebe  er  die  letzten  academischen  Vorurtheile  über  Linien, 
über  Gruppenbildung  u.  dgl.  auf  und  arbeite  ganz  auf  dieses  Wirk- 
liche hin,  d.h.  er  füge  die  Farbe  hinzu!  Schon  das  Mittelalter, 
dann  die  realistischen  florentinischen  Bildner  des  XV.  Jahrh.,  die 
Robbia,  vorzüglich  Guido  Mazzoni,  waren  hierin  ziemlich  weit  ge- 
gangen; überdiess  wird  das  bemalte  Bildwerk  eine  Verständlichkeit 
für  sich  haben  und  einer  Popularität  geniessen,  um  welche  man  es 
zu  wenig  beneidet. 

Und  es  entstanden  wieder  zahllose  bemalte  Heiligenfiguren  von 
Holz,  Stucco  und  Stein.  Wer  .sich  von  Bildhauern  irgend  etwas  dünkte, 
wollte  allerdings  mit  dieser  Gattung  nichts  zu  thun  haben;  die 
academische  Kunst  schloss  kein  Verhältniss  mehr  mit  ihr;  sie 
mied  die  Verwandtschaft  und  Concurrenz  mit  jenen  periodisch  neu 
drapirten  Wachspuppen,  welche  z.  B.  in  Glaskasten  auf  den  Altären 
neapolitanischer  Kirchen  prangen.  Allein  bisweilen  verspinnt  sich 
doch  ein  schönes  Talent  in  die  bemalte  Sculptur  und  leistet  darin 
Vorzügliches.  In  Genua  lebte  um  das  Jahr  1700  ein  Künstler  dieser 
Art,  Maragliano,  dessen  Arbeiten  ungleich  erfreulicher  sind  als 
die  meisten  Papstgräber  in  S.  Peter.  Man  überliess  ihm  meist  eine 
ganze,  etwa  besonders  von  oben  beleuchtete  Nische  über  dem  Altar, 
in  welcher  er  seine  Figuren  ohne  den  Anspruch  auf  eine  plastische 
Gruppe,  vielmehr  bloss  malerisch  ordnete.  Mit  der  Farbe  hatte  er 
auch  dazu  das  Recht,  während  jene  Sculptoren  in  Marmor,  die  ihre 
Nischengruppen  ähnlich  bildeten,  ein  wüstes  Zwitterwesen  hervor- 
brachten. —  Gegen  das  unheimlich  Illusionäre  der  Wachsbilder  schützte 
ihn  die  plastische  und  in  seinem  Sinn  ideale  Gewandung.  Sein  Ma- 
terial ist,  wie  ich  glaube,  bloss  Holz  (bei  grössern  Figuren  von  zu- 
sammengenieteten Blöcken),  ohne  Nachhülfe  mit  Stucco. 

Diese  Arbeiten  sind  gleichsam  eine  höhere  Gattung  der  Präsepien, 
welche  in  Italien  noch  gegenwärtig  um  die  Zeit  des  Dreikönigstages 
in  den  Kirchen  (im  Kleinen  auch  in  Privathäusern)  aufgestellt  wer- 
den; nur  hier  mehr  künstlerisch  abgeschlossen  und  mit  einem  bedeu- 
tenden Talent,  mit  Fleiss  und  Liebe  durchgeführt.     Maragliano  ist 


IWaragliano.    Das  Relief. 


711 


bisweilen  wahr,  schön  und  ausdrucksvoll,  wie  ich  mich  nicht  erinnere 
irgend  einen  seiner  Fachgenossen  gefunden  zu  haben.    Seine  Gattung 
passte    hauptsächlich    gut    für    Capuzinerkirchen,    die    den    reichern 
Schmuck  schon  durch  die  vorgeschriebenen  hölzernen  Rahmen,  Git- 
ter etc.  ausschliessen.     Seine  besten  Altargruppen  zu  Genua:  S.  An-  a 
nunziata,  Querschiff  links;  —  S.  Stefano,  im  Anbau;  —  S.  Maria  della  b 
Pace:  im  Chor  eine  grosse  Assunta  mit  S.  Franz  und  S.  Bernardin,  c 
in  der  2.  Cap.  rechts  S.  Franz,  der  die  Wundmale  erhält,  ausserdem 
linkes  Querschiff  und  2.  Cap.  links  (in  der  3.  Cap.  rechts  eine  Gruppe 
desselben  Styles  von  Pas  quäle  Navone);   —  in  Madonna  delle  Vigne,  d 
Cap.  links  neben  dem  Chor:   ein  Crucifix  und  die  in  ihrer  Art  vor- 
trefflichen Statuen  der  Maria  und  des  Johannes;  —  Capuzinerkirche,  c 
Querschiff  rechts.   —  U.  a.  a.  0. 

Nicht  umsonst  kam  z.  B.  Legros  in  der  Statue  des  heil.  Stanislas  f 
Kostka  (in  einer  Kapelle  des  Noviziates  S.  Andrea  zu  Rom)  auf  die 
(allerdings  fehlgegriffene)  Zusammensetzung  aus  verschiedenen  Mar- 
morarten zurück.    Wie,  wenn  man  einmal  zur  Probe  versuchte,  ber- 
ninische  Sculpturen  zu  bemalen?  ob  sie  nicht  gewinnen  würden? 

Die  Gattung  starb  auch  später  nie  ganz  aus;  für  kleine  Genre- 
figuren von  Wachsmasse  und  von  Thon  wird  sie  vollends  immer  fort- 
dauern. Es  ist  bekannt,  welche  trefflichen  Arbeiten  in  diesem  Fache 
Mexico  liefert  (Costümbilder  und  heilige  Gegenstände);  aber  auch 
Sicilien  hat  bis  auf  unsere  Zeit  wahre  Künstler  dieser  Art,  wie  Ma- 
tera  und  B.  Palermo  gehabt. 


Was  kann  das  Relief  in  dieser  Periode  bedeuten?  Schon  seit 
dem  XV.  Jahrh.  seines  einzig  wahren  Stylprincipes  beraubt  und  zum 
Gemälde  in  Marmor  oder  Erz  herabgesetzt,  muss  es  jetzt,  mit  der 
manierirt-naturalistischen  Auffassung  und  Formbehandlung  der  Ber- 
ninesken, doppelt  im  Nachtheil  sein.  Überdiess  kann  man  fragen, 
was  eigentlich  noch  Relief  heissen  dürfe,  seitdem  die  Gruppensculptur 
zu  einer  Wand-  und  Nischendecoration  geworden?  seitdem  ganze 
Capellenwände  mit  Scenen  von  stark  ausgeladenen  lebensgrossen 
Stuccofiguren  bedeckt  werden?  Man  nennt  z.  B.  Algardi's  Attila  (S.  g 
Peter,  Cap.  Leo's  des  Grossen)  ,,das  grösste  Relief  der  neuern  Kunst"; 


712 


Barolscalptnr.    Relief. 


es  sollte  eher  eine  Wandgruppe  heissen.  Übrigens  ist  A  1  g  a  r  d  i , 
beiläufig  gesagt,  immer  eines  Blickes  werth,  weil  er  das  Detail 
gewissenhafter  behandelt  und  einen  Rest  naiven  Schönheitssinnes 
übrig  hat. 

Nächst  ihm  ist  der  Bolognese  Giuseppe  Mazza  insoweit  einer 
der  Bessern  im  Relief,  als  die  bolognesische  Malerschule  in  der  Com- 
position  die  meisten  übrigen  Maler  überragt.    Ausser  zahlreichen  Ar- 

a  beiten  in  den  Kirchen  seiner  Vaterstadt  hat  er  in  S.  Giovanni  e  Paolo 
zu  Venedig  (letzte  Cap.  des  rechten  Seitenschiffes)  in  sechs  grossen 
Bronzereliefs  das  Leben  des  heil.  Dominicus  geschildert;  nimmt  man 
die  obern  zwei  Drittheile  mit  den  Glorien  weg,  so  bleiben  ganz  tüch- 
tige Compositionen  übrig,  zumal  die  mit  dem  Tode  des  Heiligen. 
Dagegen  giebt  es  von  Mazza  Arbeiten  in  mehrern  Kirchen  seiner 
Vaterstadt,  die  nicht  besser  sind  als  Anderes  aus  dieser  Zeit. 

Für  Florenz  sind  am  ehesten  zu  nennen  die  drei  grossen  Altar- 

b  reliefs  des  Foggini  in  der  Cap.  Corsini  im  Carmine  (Querschiff  links). 
Süssliche  Engelchen  schieben  die  Wolken,  auf  welchen  der  verhim- 
melte Heilige  kniet;  in  dem  Schlachtrelief  sprengen  die  Besiegten 
links  aus  dem  Rahmen  heraus;  überall  bemerkt  man  Reminiscenzen 
aus  Gemälden.    Und  dabei  sind  es  doch  von  den  tüchtigsten  Arbeiten 

oder  ganzen  Richtung.  —  In  Rom  gewährt  S.  Peter  (ausser  dem  ge- 
nannten Relief  Algardi's)  noch  in  einer  Anzahl  kleinerer  Sarcophag- 
reliefs  an  den  Grabmälern  und  in  Bernini's  Relief  über  dem  Haupt- 
portal eine  Übersicht  derjenigen  Geschmacksvariationen,  welche  dann 
für  die  übrige  Welt  massgebend  wurden.    —  Die  Reliefs  über  den 

d  Apostelstatuen  im  Lateran  sind  von  Algardi  und  seinen  Zeitgenossen 
entworfen. 


Um  die  Mitte  des  XVHL  Jahrh.  beginnt  der  Styl  sich  etwas  zu 
bessern;  während  die  Auffassung  im  Ganzen  noch  dieselbe  bleibt, 
hören  die  schlimmsten  Excesse  des  Naturalismus  und  der  davon  ab- 
geleiteten Manier  allmälig  auf.  Das  Raffiniren  auf  Illusion,  welches 
noch  kurz  vorher  (S.  696,  a)  seine  Triumphe  über  die  besiegte  Schwie- 
rigkeit gefeiert,  macht  einer  ruhigem  Eleganz  Platz.  Von  diesen  Zeit- 
genossen eines  Rafael  Mengs  sind  natürlich  nur  wenige  zu  einigem 


Ausgang  des  Barockstyls. 


713 


Namen  gelangt,  weil  ihnen  die  wahre  Originalität  fehlte.    (In  Genua 
sind  mir  mehrere  Arbeiten  des  Niccolö  Traversoz.  B.  im  Chor  « 
des  Angelo  Custode  aufgefallen.) 

Das  grosse  Verdienst  C  a  n  o  v  a '  s  lag  darin,  dass  er  nicht  bloss 
im  Einzelnen  anders  stylisirte  als  die  Vorgänger,  sondern  die  ganze 
Aufgabe  neu  im  Sinne  der  ewigen  Gesetze  seiner  Kunst  aufzufassen 
suchte.  Sein  Denkmal  Clemens  XIV.  (im  linken  Seitenschiff  von  SS.  b 
Apostoli  zu  Rom)  war  eine  Revolution  nicht  bloss  für  die  Sculptur. 
Wie  man  immer  vom  absoluten  Werth  seiner  Arbeiten  denken  möge, 
kunsthistorisch  ist  er  der  Markstein  einer  neuen  Welt. 


u 


4«<j«v**-->' •»>- ^  ■^t* 


t".  ,»-.J.*  ^  »w...V'.-,>>y^-i-  »ayi-^AK^^tv-y^»»»  t<>tr't«^^ .<C(>l'(»«->>Aii«>'«|li^«i»Av»i^-t  *-  %^»-»!.^t**'-'i*.- 


"?^r?^^57_ 


GETTY  CENTER  LIBRARY 


3  3125  00634  2329 


URCKHAR 
iiCERONE 


ERSTE  AUFLAGE 


^CULPTUR