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Full text of "Repertorium für kunstwissenschaft"

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I 


REPERTORIUM 


FÜR 

KUNSTWISSENSCHAFT 


REDIGIERT 


VON 


HENRY  THODE, 

PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  IN  HEIDELBERG 
UND 

HUGO  VON  TSCHUDI, 

DIREKTOR  DER  KÖNIGLICHEN  NATIONALGALERIE  IN  BERLIN 


XXVIII.  Band. 


BERLIN  W.  35 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER 

1905 


PHOTOMECHANISCHER  NACHDRUCK 
WALTER  DE  GRUYTER  & CO.,  BERLIN  1968 


Arohiv-Nr.  3848680 


© 

1968  by  Walter  de  Gruyter  & Co.,  vormals  G.  J.  Gösohen’sche  Verlagshandlung  — J.  Guttentag,  Verlagsbuch- 
handlung — Georg  Reimer  — Karl  J.  Trübner  — Veit  & Comp.,  Berlin  30,  Genthiner  Straße  13. 

Printed  in  the  Netherlanda 

Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen,  Vorbehalten.  Ohne  ausdrückliche  Geneh- 
migung des  Verlages  Ist  es  auch  nicht  gestattet,  dieses  Buch  oder  Telle  daraus  auf  photomechanischem  Wege 
(Photokopie,  Mikrokopie,  Xerokopie)  zu  vervielfältigen 


THE  J.  PAUL  GETT''  CENTER 

LIBRARY 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano.  Von  Alfred  Möller I 

Der  Meister  des  Paradiesesgartens.  Von  Carl  Gebhardt 28 

Die  deutsche  Passionsbühne  und  die  deutsche  Malerei  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 

in  ihren  Wechselbeziehungen.  Schluß.  Von  K.  Tscheuschner-Btxn 35 

Augsburger  Urkunden.  Von  Wilhelm  R.  Valentiner • • • 59 

Kurfürst  Ottheinrich  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses.  Von  Friedrich 

H.  Hof  mann ^3 

Zu  den  Nachrichten  über  die  Ecclesia  Portuensis  in  Clermont-Ferrand  (Urbs  Arverna). 

Von  Felix  Willing 101 

Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  im  königl.  Kupferstichkabinett  in 

Berlin.  Von  A.  v.  Beckerath 104 

Donato  Veneziano.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  venezianischen  Malerei.  Von 

Hans  Ankwicz I27 

Peter  Strauss  (alias  Trünklein)  von  Nördlingen,  der  Schnitzer  des  Peters-  und 

Paulsaltars  in  Kloster  Heilsbronn.  Von  Albert  Gümbel 135 

Notiz  zu  Lorenzo  di  Credi.  Wilhelm  Schmidt 143 

Albert  van  Ouwater?  Karl  Simon *44 

A Note  on  Dürer.  Conway >47 

Ein  kunstgewerblicher  Entwurf  Altdorfers.  Ludwig  Lorenz 149 

Notizen  zu  Rembrandts  Radierungen.  A.  M.  Hind 150 

Rembrandt  und  Tizian.  Hermann  Voss 156 

Zu  Salomon  Köninck.  F.  Koch  • ■ , *63 

Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«.  Von  Georg  Graf  Vitzthum  199 
Archivalische  -Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte:  I.  Otto  Voß.. 

II.  Die  Familie  Praun-Löblich.  Von  Albert  Gütnbel 227 

Der  Formschneider  der  Holzschnitte  in  dem  Breslauer  Drucke  der  Hedwigslegende 

vom  Jahre  1504.  Von  W.  Molsdorf . . . 244 

Zwei  Orley-Schüler.  Won  Wilhelm  R.  Valentiner 252 

Zu  der  Rekonstruktion  der  Namatiuskirche  in  der  Stadt  der  Arverner  (Clermont- 

Ferrand).  Felix  Witting • • 263 

Francisco  de  Hollanda  und  Donato  Giannottis  Dialoge  und  Michelängelo.  Von 

Hans  Tietze 295 

Leonardo  da  Vincis  Stellung  in  der  Geschichte  der  Physiognomik  und  Mimik. 

Von  Hans  Klaiber . 321 

Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum.  Von  A.  Schmarsow 340 

Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen.  I.  und  II.  Von  Christian 

Geyer ■..■ 35 *»  495 

Dürers  Dresdener  Skizzenbuch.  Bemerkungen  zu  der  Ausgabe  von  Dr.  Bruck. 

Von  Ludwig  Justi 3^6 


IV 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo.  Von  A.  Schmarsow  391 

II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli.  Di  Arduino  Colasanti 406 

Unbekannte  Fresken  des  Paolo  Veronese.  Mitteilungen  zum  Kapitel  »Venezianische 

Freskomalerei«.  Von  Bernhard  Patzak 444 

Archivalisches  zur  fränkisch-schwäbischen  Kunstgeschichte:  I.  Eichstädter  und 

Ottinger  Meister  in  Kloster  Heidenheim.  II.  Peter  Strauss  und  Sebastian  Dayg 

in  Kloster  Heilsbronn.  Von  Alb . Gümbel 448 

Die  Flügel  des  Landauer  Altars.  Von  I.  Beth 457 

Das  Gothaer  Liebespaar.  Von  Carl  Gebhardt 466 

Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers.  3.  Von  Paul  Kalkoff 474 

Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom.  Von  Karl  Lange 486 

Ein  wiederentdeckter  Landschaftsmaler.  Von  Ernst  Sigismund 512 

Zur  Geschichte  der  Nürnberger  Malerfamilie  Praun-Löblich.  Ein  Nachtrag.  Gümbel.  516 

Neues  für  Jan  Mostaert.  Friedländer  517 

Zu  Nicolaus  von  Neufchatel.  Wilh.  Schtnidt 522 

Literatur. 

Beissel,  Stephan  S.  J.  Kunstschätze  des  Aachener  Kaiserdomes.  O.  v.  F.  . . 180 

Berteaux,  Emile.  L’Art  dans  l’Italie  meridionale.  C.  v.  Fabriczy 265 

Brüning,  Adolf  und  Wilhelm  Behncke,  Max  Creutz  und  Georg 
Swarzenzki.  Europäisches  Porzellan  des  18.  Jahrhunderts.  Katalog  der 
1904  im  kgl.  Kunstgewerbemuseum  zu  Berlin  ausgestellten  Porzellane.  Ernst 

Zimmer  mann 1 8 1 

Burger,  Fritz.  Zur  Geschichte  des  florentinischen  Grabmals.  C.  v.  Fabriczy..  523 
Colvin,  Sidney.  Selected  drawings  from  old  masters  in  the  University  Galleries 

and  in  the  library  at  Christ  Church  Oxford.  Friedländer 531 

Cruttwell,  Maud.  Luca  and  Andrea  della  Robbia  and  their  successors.  Paul 

Schubring 83 

Drexler,  K.  Der  Verduner  Alter.  O.  v.  F. 178 

Dülberg,  Franz.  Frühholländer.  II.  Altholländische  Gemälde  im  erzbischöf- 
lichen Museum  zu  Utrecht.  IV.  P.  Valentiner 175 

Eisenmann,  O.  Die  Gemäldegalerie  zu  Cassel 91 

Ferrari,  Giulio.  La  Iconografia.  C.  v.  F. 376 

Ganz,  Paul.  Handzeichnungen  schweizerischer  Meister  des  15.  bis  18.  Jahr- 
hunderts. H.  IV. 90 

Haupt,  Albrecht.  Peter  Flettner,  der  erste  Meister  des  Otto  Heinrichsbaues  zu 

Heidelberg.  Friedländer 81 

Italienische  Architektur  und  Skulptur.  Jahresbericht  1903.  C.  v.  Fabriczy 274 

Justi,  Ludwig.  Dürers  Dresdener  Altar.  //.  Wölfflin 87 

Kehrer,  Hugo.  Die  »Heiligen  drei  Könige«  in  der  Legende  und  in  der  deutschen 

bildenden  Kunst  bei  Albrecht  Dürer.  Friedländer 373 

Kern,  G.  J.  Die  Grundzüge  der  linearperspektivischen  Darstellung  in  der  Kunst 

der  Gebrüder  van  Eyck  und  ihrer  Schule.  Frida  Schottmüller 173 

Laban,  Ferdinand.  Heinrich  Füger  der  Porträtminiaturist.  Friedländer 536 

Lefevre-Pontalis,  Eugene.  L’architecture  gothique  dans  la  Champagne 

meridionale  au  XIIIe  et  au  XVIe  siede.  Vöge 374 

Lorenz,  Ludwig.  Die  Mariendarstellungen  Albrecht  Dürers.  Friedländer  ...  378 

Migeon,  Gaston.  Cnefs-d’ouvre  d’Art  japonais.  W.  v.  Seidlitz 384 


Inhaltsverzeichnis.  V 

Seite 

Pracliow,  Adrien.  Les  Tresors  d’Art  en  Russie.  James  von  Schmidt 77 

Prokop,  August.  Die  Markgrafschaft  Mähren  in  kunstgeschichtl.  Beziehung. 

Julius  Lcisching 386 

Schottmüller,  Frida.  Donatello.  C.  v.  Fabriczy 379 

Supino,  D.  B.  Arte  Pisana.  Swarzenski 164 

Tlii eie,  Georg.  Der  illustrierte  lateinische  Aesop  in  der  Handschrift  des  Ademar 

Codex  Vossianus  lat.  Oct.  15.  Fol.  195—205.  Jaro  Spritiger 528 

Vitry,  Paul,  et  Gaston  Briere.  Documents  de  sculpture  frangaise  du  moyen- 

äge.  Vöge 171 


Ausstellungen. 

Die  Porzellanausstellungen  im  Jahre  1904.  Ernst  Zimmer  mann 92 

Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 

Zu  Luciano  Laurana.  G.  Gr 95 

Zu  Tizians  Bildnis  einer  österreichischen  Prinzessin.  G.  Gr 95 

Giovanni  di  Bartolo,  il  Rosso  und  das  Portal  von  S.  Niccolo  zu  Tolentino  in 

den  Marken.  C.  v.  F.  , . , 96 

Ein  neues  Werk  Fra  Ambrogios  und  Fra  Matthias  della  Robbia.  C.  v.  Fabriczy.  98 
Die  Wiederauffindung  eines  seither  verschollenen  Werkes  des  piemontesischen 

Malers  Macrino  d’Alba.  C.  v.  F. 185 

Zur  Kunstgeschichte  von  Pistoja  bezw.  Siena.  C.  v.  F. 186 

Onofrio  Giordano  della  Cava.  C.  v.  F. 188 

Eine  bisher  unbekannte  Arbeit  Giulianos  da  Sangallo.  C.  v.  F. 190 

Pietro  di  Martino  da  Milano  in  Ragusa.  C.  v.  F. 192 

Domenico  Gaggini  in  Neapel.  C.  v.  F. 193 

Die  Fresken  der  Antoniazzo  Romano.  C.  v.  F. 286 

Pistojas  Kunstschätze.  C.  v.  F.  . , 287 

Neue  Daten  zur  Biographie  Benozzo  Gozzolis.  C.  v.  F. 538 

Boltraffios  h.  Barbara  im  Berliner  Museum.  C.  v.  F. 539 

Aus  dem  Gedenkbuch  Francesco  Baldovinettis.  C.  v.  F. 539 

Erwiderung.  Paul  Schubring 196 

Berichtigung.  Firmcnich-Richartz 197 

Nekrolog.  Gustav  Ludwig.  Georg  Gronau 294 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


1) 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 

Neue  Beiträge  zur  Niccolo -Pisano-Frage. 

Von  Dr.  Alfred  Möller. 

Noch  immer  sind  die  Rätsel,  die  Niccolo  Pisano  der  kunstgeschicht- 
lichen Forschung  aufgibt,  nicht  gelöst;  nicht  das  Rätsel  seiner  Abstammung, 
nicht  das  seiner  künstlerischen  Persönlichkeit.  Wir  enfmern  uns  der 
Kanzel  zu  Pisa  und  die  Vorstellung  von  der  Macht  antiker  Einflüsse  auf 
den  Künstler  drängt  sich  uns  auf.  Wir  kennen  auch  genug  der  zweifellos 
benutzten  Vorbilder.  Niccolo  erscheint  uns  als  Plastiker,  der  im  späten 
Mittelalter  stehend,  sehnsüchtig  hinüberblickt  in  das  Land  der  klassischen 
Kunst.  Wir  erinnern  uns  der  Kanzel  zu  Siena,  sehen  einen  anderen 
Geist  in  ihr,  können  an  Niccolo  Pisano  als  Schöpfer  kaum  glauben  und 
denken  an  seinen  Sohn,  der  der  »neuen  Zeit«,  der  Gotik,  voll  Hingabe 
seine  Opfer  brachte.  Wir  möchten  ihn  für  den  Schöpfer  halten,  der  den 
Vater  und  seine  Ideale  verdrängte.  Aber  wir  müssen  auch  des  Sarko- 
phages  des  heil.  Dominikus  in  Bologna  achten,  der  Arbeit,  die  Niccolo 
dort  nach  zweifellos  zuverlässigen  schriftlichen  Quellen  leistete,  und  wir 
werden  wieder  irre.  Die  Reliefs  an  S.  Martin  in  Lucca  erscheinen  der 
kunstgeschichtlichen  Forschung  bald  als  Anfang  bald  als  spätes  Werk 
Niccolo  Pisanos  und  sein  künstlerisches  Charakterbild  schwankt  trotz  der 
reichen  Arbeit,  die  diesem  Meister  und  der  Erforschung  seines  Wesens 
seit  langem  zugewendet  wird,  noch  immer. 

Für  die  meisten  älteren  Forscher  ist  Niccolo  Pisano  als  Schöpfer 
der  Kanzel  zu  Pisa  nur  der  begeisterte  Nachahmer  der  Antike.  Bei 
solcher  Auffassung  ist  ein  Verständnis  für  die  Zeit  seiner  späteren  Schöp- 
fungen fast  ausgeschlossen.  Man  tut  noch  am  besten,  wenn  man  (wie 
z.  B.  Fr.  X.  Kraus)  unter  solchen  Voraussetzungen  eine  Wandlung  der 
künstlerischen  Ideale  des  Meisters  zwischen  der  Schöpfung  der  Kanzel 
zu  Pisa  (1260)  und  der  zu  Siena  annimmt,  will  man  diese  nicht  — mit 
unhaltbaren  Gründen,  wie  unten  ausgeführt  werden  soll  — aus  seinem 
Lebenswerk  ausschließen  und  gegen  alle  Zeugnisse  dem  Giovanni  Pisano 
allein  zuschreiben.  Will  man  aber  die  zweifellosen  naturalistischen 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  X 


2 


Dr.  Alfred  Möller: 


Züge  in  den  späteren  Werken  des  Meisters  der  Kanzel  zu  Pisa  verstehen 
so  gibt  es  kein  anderes  Mittel  als  eine  bis  in  die  letzten  Einzelheiten 
gehende  genaue  Untersuchung  der  Reliefs  zu  Pisa,  eine  Untersuchung, 
die  dort,  in  voller  Anerkennung  der  antiken  Einflüsse,  die  sich  geltend 
machen,  doch  auch  die  Frage  nach  eigenen  Beobachtungen  des  Künstlers, 
nach  solchen,  die  mehr  der  Natur  als  klassischer  Stilisierung  zuneigen, 
aufwirft  und  vorurteilslos  zu  beantworten  sucht. 

Das  erste  Relief  an  der  Kanzel  zu  Pisa  stellt  die  »Geburt  Christi« 
dar.  Auf  den  ersten  Blick  fühlt  man  sich  ohne  Bedenken  zur  Ent- 
scheidung gedrängt;  hier  herrschen  Pose  und  Pathos;  wo  wäre  da  nur 
eine  Spur  liebevoller,  selbständiger  Naturbeobachtung  zu  finden,  die  wir 
an  Giovanni  Pisano  so  bewundern  müssen?  Hier  herrscht  die  Form,  und 
zwar  das,  was  Niccolo  Pisano  als  die  »schöne  Form«  erschienen  sein 
mag,  ausschließlich.  Wenige  Figuren,  starke,  grobknochige,  untersetzte 
Gestalten  in  dick  gebauschten  Gewändern  ohne  Verhältnis  zueinander, 
ja  gegen  die  Gesetze  der  Perspektive  angeordnet  und  gemessen.  Keine 
Spur  eines  Versuches  den  Darstellungen  zu  folgen,  die  die  Schrift  gibt. 
Maria  wuchtig,  mit  riesigen  Händen  verleugnet  durch  ihre  Erscheinung 
alles  Demütige,  das  ihr  dort  beigelegt  wird.  Wie  stolz  steht  sie,  die 
»Magd  des  Herrn«  vor  dem  Engel!  Dazu  herrscht  ein  wahrer  horror 
vacui.  Die  Figuren,  gering  an  Zahl,  füllen  mit  unförmlichen  Gliedern 
(man  vgl.  die  dicken,  schweren  Flügel  des  Engels,  seinen  unförmlichen 
Bauch!)  den  Raum  in  aufdringlicher  Weise.  Die  Gestalt  Josefs  zeigt 
auch,  wie  wenig  der  Künstler  die  christliche  Idee  des  Vorganges  be- 
rücksichtigen wollte.  Erscheint  er  in  seinem  starren  Trotz  nicht  wie 
ein  antiker  Heros?1)  Zeigt  sich  nun  in  diesem  Rahmen  nichts,  das  aus 
der  eisernen  Schwere  dieser  Darstellung  herausfällt,  weichere  Züge  enthält 
und  ein  klein  wenig  Naturgefühl  verrät?  Unser  Blick  fällt  auf  die  iiere: 
auf  die  Widder  neben  der  Lagerstatt  der  Maria,  auf  den  Hundeleib,  der 
auf  ihrer  Decke  ruht.  Seltsam!  Da  gibt  es  bisher  unbeachtet  gebliebene 
Motive  von  überaus  frischer,  natürlicher  Art,  ungekünstelt  und  von 
echtestem  Leben  erfüllt.  Wie  naturalistisch  ist  das  Fell  behandelt,  mit 
welcher  Sicherheit  ist  das  Charakteristische  im  Wesen  der  einzelnen  Tiere 
wiedergegeben. z)  Da  nehme  man  doch  einmal  Whrk  um  Werk  Giovannis, 
des  viel  gerühmten  Sohnes  vor!  Er  erreicht  in  der  Darstellung  der  lieie 
nirgends  ähnliches!  Daß  dem  Hunde  der  Kopf  fehlt,  bedauert  man  kaum. 
Eine  solche  Treffsicherheit,  eine  so  liebevolle  Darstellung  verrät  eine 
außerordentliche  Naturbeobachtung,  die  so,  von  allem  Anfang  an,  neben 


i)  Crowe  u.  Cavalcaselle,  Geschichte  d.  ital.  Malerei,  Leipzig  1859,  I.,  S.  104. 

*)  Sie  würden  heute  noch  unabhängig  von  der  Kanzel  überall  mit  Ehien  bestehen! 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


3 


anderen,  auffälligeren  Einflüssen  deutlich  genug  hervortrat.  Die  Tiere 
sind  eigentlich  das  einzige  »Christlich-Traute«,  das  wir  an  Krippen- 
darstellungen gerne  sehen.  Denn  das  Bademotiv  hat  bei  Niccolo  nichts 
von  dem  reizvoll-intimen  Zug,  den  Giovanni  später  mit  hoher  künst- 
lerischer Kraft  aufnahm;  bei  ihm  prüft  eine  der  Wärterinnen  sorglich 
die  Wärme  des  Wassers.  Der  kleine  Recke,  den  Niccolo  ins  Badebecken 
stellte,  bedarf  so  zarter  Sorgfalt  nicht.  Es  ist  eine  Art  »negativer  An- 
passung«, die  Niccolo  im  ersten  und  zweiten  Relief  befolgt,  indem  er 
gewisse  Motive,  die  er  trotz  ihres  unheroischen  Charakters  beibehalten 
muß,  mit  einem  möglichst  gleichgültigen  Zug  ausstattet.  So  paßt  unter 
seine  Figuren,  ein  von  Gram  und  Sorgen  gequälter  Mensch,  wie  Josef 
es  nach  Schrift 3)  und  künstlerischer  Tradition4)  sein  mußte,  nicht.  Niccolo 
gibt  ihm  einen  Zug  von  Mildheit  und  Trotz.  Von  den  herkömmlichen 
Schilderungen  des  Bademotives  wählt  er  die,  in  der  Christus  am  wenigsten 
als  pflegebedürftiges  Kind,  seine  Wärterinnen  im  geringsten  besorgt  er- 
scheinen. Dennoch  stellen  sie  noch  das  Weichste  im  ganzen  Relief  dar. 
Ihre  Haare  sind  ohne  Bohrer  gebildet,  die  Köpfe  und  Gestalten  kleiner 
und  ebenmäßiger,  besser  in  den  Verhältnissen  als  die  der  übrigen 
Figuren,  die  Gesichter  nicht  so  markiert,  die  Augäpfel  nicht  so  glotzig 
hervorgedrängt,  sondern  weicher  von  den  Lidern  umschlossen.  Die 
Hände  zeigen  eine  verständliche  Sprache,  individuelles  Leben.  5)  In  den 
Nebenfiguren,  gewissermaßen  hinter  den  Kulissen,  beginnt  Niccolos 
erste  Arbeit,  unabhängig  von  spröder  Nachahmung  klassischer  Vorbilder. 
Dort  zeigt  sich  zuerst  ein  Entfalten  selbständigster  Kraft.  Seine  Maria, 
sein  Christus,  seine  Könige  und  Priester  erscheinen  noch  lange  als 
Heroen.  In  ihrer  Umgebung  aber  tritt  das  Menschliche,  die  schlichte 
Natur,  schon  frühe  stärker  und  stärker  hervor. 

Es  folgt  die  »Anbetung«.  Huldigende  Könige,  Pferde,  der  kleine 
Christus  segnend,  die  thronende  Maria  — alles  so  durch  die  Vorschrift 
gegeben,  hat  nichts,  um  einem  Künstler,  der  in  der  Antike  Vorbilder 
zu  suchen  liebt,  auf  eigene  Wege  zu  leiten.  In  der  Tat  ist  auch  die 

3)  Wd-  Matthäus  I,  18,  19. 

4)  Über  den  Joseftypus:  Schmidt,  Die  Darstellung  der  Geburt  Christi,  (Stutt- 
gart 1890)  S.  66,  81,  110,  118.  Außerdem  ebenda  Abb.  24,  36.  S.  auch  Dobbert, 
Über  den  Stil  Niccolo  Pisanos  und  dessen  Ursprung,  München  1873,  S.  39.  Schließ- 
lich H.  Brockhaus,  Die  Kunst  der  Athosklöster,  Leipzig  1891,  S.  183  f. 

5)  Über  das  Bademotiv,  seine  Herkunft  und  Verwendung  in  der  Kunst,  s.  Seroux 
d’Agincourt,  Sammlung  der  vorzüglichsten  Denkmäler  v.  4. — 16.  Jahrh.  Deutsche  Aus- 
gabe v.  Quast  (Frankfurt  a.  M.).  In  Betracht  kommt  der  2.  Bd. ; Architektur  und  Skulp- 
tur. (Tafel  XIV,  10;  XII,  14)  u.  G.  Rohault  de  Fleury,  La  Ste.  Vierge  (Paris  1878) 
Bd.  I,  Tafel  15,  20.  Schmidt  a.  a.  O.  S.  14fr.  (Abb.  22  u.  23).  Dobbert,  a.  a.  O.  S.  38 ff. 
Im  Malerbuch  vom  Berge  Athos  S.  1 74  f. 


I 


4 


Dr.  Alfred  Möller: 


Maria  hier  fast  Zug  um  Zug  der  Phädra  vom  Phädrasarkophage  im 
Campo  Santo  (Kopfputz,  Gewandmotiv,  Stuhlform)  nachgebildet.6 7)  Die 
Figuren  zeigen  den  Habitus  des  ersten  Reliefs:  breitschulterig,  kräftig, 
untersetzt.  Die  Figurenzahl  ist  auf  das  Notwendigste  beschränkt.  Der 
meistens  vorkommende  Mann,  der  die  Pferde  hält,  fehlt.  Es  erscheinen 
viel  weniger  Menschen  und  Tiere  als  im  ersten  Relief  (sieben  gegen  zwölf; 
drei  gegen  acht).  Der  horror  vacui  besteht  fort.  An  den  Königen  mit 
ihrem  unverkennbaren  römischen  Imperatorentypus  zeigen  sich  gleichwohl 
Anklänge  an  das  Zeitkostüm  in  der  Fußbekleidung  mit  den  hoch  an- 
gesetzten Stachelsporen.  7)  Als  negative  Anpassung  muß  auch  die  Hin- 


6)  Vgl.  Vasari  (deutsche  Ausgabe  v.  Schorn,  Stuttgart,  1832)  I.  ßd.  S.  62  fr. 
Ferner  Dobbert  a.  a.  O.  S.  48  b u.  Dültschke,  Die  antiken  Bildwerke  des  Campo  Santo 
in  Pisa,  Leipzig  1874,  S.  20. 

7)  Der  Fehler,  der  fast  immer  bei  Anführung  der  antiken  Vorbilder  des  Niccolo 
besteht,  ist,  daß  man  auch  seine  Gewandbildung  als  antik  in  den  Kauf  nimmt.  Das 
ist  sie  ganz  und  gar  nicht  1 Auf  den  römischen  Sarkophagen  (auch  an  dem  benützten 
Phädrasarkophag !)  erscheinen  die  Gewänder  dünn,  fein  gefaltet  und  von  höchster 
Schmiegsamkeit,  so  daß  die  Formen  durch  sie  deutlich  wie  durch  nasses  deinen  »durch- 
sprechen«. Hans  Sempers  Bemerkung  (»Über  die  Herkunft  von  Niccolo  Pisanos  Stil« 
Zeitschr.  f.  bildend.  Kunst  1871  S.  263),  daß  die  schwerfällig  gebauschten  dicken  Ge- 
wänder mit  ihren  starren  harten  Falten  und  scharfen,  groben  Brüchen  lombardischer  Ab- 
kunft seien,  blieb  so  gut  wie  unbeachtet.  Sie  ist  auch  nicht  ganz  richtig;  es  sollte 
eben  romanisch  schlechtweg  heißen,  man  vgl.  u.  a.  nur  die  Statuen  des  Freiburger 
Münsters  damit!  — aber  immerhin  hätte  sie  denen,  die  Niccolo  ganz  im  Antiken  be- 
fangen sehen,  genügen  sollen.  Auch  die  untersetzte  Bildung  der  Figuren  weist  denselben 
Weg  ins  Mittelalter!  Hier  überhaupt  ein  Wort  über  Niccolos  Verhältnis  zur  Antike! 
Zweifellos  muß  des  Künstlers  deutliche  Zuneigung  zur  Antike,  seine  Kühnheit  diese 
Neigung  selbst  bei  einem  so  rein  christlichen  Thema  zum  Ausdruck  zu  bringen,  mit 
staunender  Anerkennung  begrüßt  werden.  Aber  sein  Verhältnis  zur  Antike  krankt  an 
einer  großen  Äußerlichkeit.  Er  ahmt  Figuren  nach,  versucht  aber  nicht  einen  Einklang 
der  gewählten  Form,  mit  dem  Inhalt  zu  erreichen.  Er  braucht  eine  sitzende  Maria,  und 
er  wählt  die  Phädra  vom  gleichnamigen  Sarkophag.  Das  geht  leidlich.  Aber  diese 
Wahl  nach  dem  Motiv  bringt,  wie  wir  sehen  werden,  oft  unleidliche  Härten  mit  sich. 
Hätte  Niccolo  nur  allegorische  Gestalten  zu  schaffen  gehabt,  seine  Verehrung  für  schöne 
Formen  und  ihre  Herübemahme  in  der  grobzügigen  Weise  hätte  ihm  zeitlebens  genügen 
können.  Das  christliche  Thema  aber  verlangte  gebieterisch  eigene  Formen.  Die 
unveränderte  Benutzung  mächtiger  Gestalten  mit  ihrem  Zufälligen  genügte  allenfalls  für 
Geburt,  Anbetung,  Darstellung.  Aber  bei  den  zwei  letzten  Tafeln  (Kreuzigung,  Welt- 
gericht) fehlte  es  an  passenden  Vorbildern.  Hier  verlangte  der  Stoff  Ausdruck  der  völlig 
zum  Inhalt  paßte  und  da  greift  Niccolo  nicht  mehr  mit  schwerfälliger  Hand  in  ein  klassisches 
Werk,  an  dem  ihm  eine  Gestalt  gefiel,  er  beginnt  dem  Sinne  des  Themas,  nicht  nur 
der  eigenen  Freude  nachzugehen.  Die  Freude  an  der  Form  tritt  zurück  über  der  Freude 
am  Ausdruck.  Man  hat  sich  bisher  nur  viel  zu  wenig  mit  den  zwei  letzten  Tafeln  be- 
faßt, suchte  immer  nach  antiken  Anklängen  und  beachtete  nicht,  was  neben  und  nach 
diesen  stärker  und  stärker  in  Erscheinung  trat.  Heute  freilich  ahnt  man  schon,  daß 
man  gutzumachen  hat,  und  es  gibt  Forscher,  die  Niccolo  nun  wieder  geradezu  zum 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


5 


Weglassung  einiger  freundlicher  Züge  zugunsten  des  Heroischen  erscheinen. 
Er  gibt  nicht  — wie  üblich  — einen  »greisen  König«  unter  den  An- 
betenden. Er  läßt  keinen  derselben  mit  abgenommenem  Kronreif  die 
Verehrung  darbringen.  Es  sind  durchaus  kraftvolle,  stolze  Gestalten,  von 
dem  bekannten  gedrungenen,  vierschrötigen  Körperbau,  die  hier  vor  dem 
Christkinde  knien.  Anatomisch  sind  sie  nicht  durchaus  wohlgeraten. 
Sie  könnten  kaum  stehen,  ohne , daß  sich  bedeutende  Unterschiede  in 
der  Länge  der  Beine  ergäben.  Auch  im  Josef  ist  hier  wieder  mit  Freude 
ein  echt  antiker  Kopf  gebildet.* * * * * * * 8 *)  Beachtenswert  ist  der  Kopf  des  bart- 
losen Königs.  Dieses  Antlitz  ist  durchgeistigter  als  es  Niccolos  Köpfe 
bisher  waren.  Man  fühlt  sich  dabei  an  den  geradezu  seelenvollen  Kopf 
des  Engels  mit  der  Kreuztafel  von  einer  der  Kanzelecken  erinnert. 9) 
Niccolo  hat  ihn  hier  vorgeahnt.  Der  Engel  dagegen,  der  sich  auf  einen 
Stab  stützt,  und  mit  der  Rechten  auf  Christus  weist,  hat  nichts  besonderes 
an  sich.10)  Dagegen  fällt  unser  Blick  wieder  auf  die  Tiere!  Hier  zeigt 


Naturalisten  stempeln  wollen  (vgl.  Ernst  Polaczeks  Aufsatz  »Zwei  Selbstbildnisse  des 

N.  Pisano«  i.  d.  Zeitschr.  f.  bild.  Kunst  v.  15,  III.  1903).  Aber  daß  auch  ältere  Forscher 
in  Niccolo  schon  mehr  sehen,  als  bloß  den  Vertreter  der  Protorenaissance,  sehen  wir  bei 

Bode.  Man  vergleiche  nur  seine  Ausführungen  über  Niccolo  in  der  »Ital.  Plastik«  (Berlin 

1893,  S.  16 f.)  mit  denen  in  Burkhardts  »Cicerone«  (7.  Aufl.,  von  Bode  besorgt,  S.  17). 

Sehr  richtig  bemerkten  schon  Crowe  u.  C.  a.  a.  O.  I.  S.  106,  daß  Niccolos  Imitation 

der  Alten  innerhalb  des  gegebenen  Stoffes  äußerlich,  unvollkommen  und  steif  erscheint, 

(ähnlich  Grimm,  »Künstler  und  Kunstwerke«  1865,  I.  Bd.  S.  5 2 ff.).  Schubring  (»Pisa«; 
Leipzig,  E.  A.  Seemann)  empfindet  das  nicht.  Er  hat  kein  Auge  für  das  Unfreie  im 
Schaffen  Niccolos,  solange  er  mit  im  großen  und  ganzen  unverändert  in  seine  Reliefs 
eingestellten  antiken  Figuren  arbeitet.  Er  sieht  ihn  »hingerissen«  und  »berauscht  vom 
Schönheitssinn  der  Antike«.  Aus  solcher  glühenden  Betrachtungsweise  ergibt  es  sich 
ganz  natürlich,  daß  er  die  Unfähigkeit  Niccolos  das  Bewunderte  weniger  äußerlich  nach- 
zubilden, übersieht.  Er  findet  darum,  daß  die  Maria  der  Geburtsdarstellung  mit  Nasen- 
flügeln, die  »in  heiliger  Erregung  vibrieren«  dargestellt  sei.  In  Wahrheit  ist  es  über- 
haupt Niccolos  Art  — wie  schon  eine  flüchtige  Betrachtung  zeigt  — große  Frauenköpfe 
mit  geblähten  Nasenflügeln  zu  bilden.  Auch  sonst  verfallen  die,  welche  Niccolos  Nei- 
gung zur  Antike  allzu  hoch  einschätzen,  leicht  in  den  Fehler,  Mängel  und  Unfertigkeiten 
für  besonders  feine  Züge  zu  erklären.  Man  halte  sich  dann  aber  vor  Augen,  wie  wenig 
selbst  in  der  Gewandung,  in  den  Körperverhältnissen  die  Antike  durch  den  vor  einer 
großen  Aufgabe  stehenden  Meister  erreicht  wird,  und  wie  ihm  alle  Leichtigkeit  und 
Freiheit,  gerade  da  er  in  den  Spuren  der  Antike  wandelt,  fehlt. 

8)  Schnaase  (a.  a.  O.  V.  Bd.  S.  267  unten)  beschreibt  ihn  mit  »bewundernd  ge- 
neigtem« Haupte.  Man  wird  das  wohl  als  hineingedeutet  empfinden  müssen. 

9)  Eine  Abbildung  davon  bei  Schubring,  a.  a.  O.  S.  47. 

10)  Kugler  (»Kunstgeschichte«  3.  Aufl.  II.  Bd.  273)  bringt  um  dieses  Engels 
willen  Niccolo  in  Zusammenhang  mit  der  nordischen  Kunst.  ».  . . Seine  meteorgleicht 
Erscheinung  dürfte  nur  durch  die  Voraussetzung  eines  Anschlusses  an  die  sächsische 
Schule  zu  erklären  seien.«  Dieses  Motiv  findet  man  aber  schon  auf  der  »Anbetung« 
im  Vatikanischen  Menologium  S.  272.  Vgl.  auch  Dobbert  a.  a.  O.  S.  41. 


6 


Dr.  Alfred  Möller: 


sich  in  interessanter  Weise,  wie  steife  Anlehnung  an  die  Antike  und 
frische  eigene  Beobachtung  bei  Niccolo  dicht  nebeneinander  auftreten 
können.  Bis  zur  Unförmlichkeit  ist  die  Leibesfülle  zweier  Pferde  oben 
übertrieben.  Der  Kopf  erscheint  an  den  dicken  Hälsen  sehr  klein,  die 
Mähnen  zerfallen  in  wollartig  aussehende  Büschel.  Die  Nüstern  sind 
stark  gebläht,  die  Augen  von  feurig-wildem  Ausdruck.  Prachtrosse,  Ab- 
kömmlinge des  »Urpferdes«,  nur  übertrieben.  Sie  verhalten  sich  zu  den 
edlen  antiken  Pferdedarstellungen  wie  Niccolos  ungeschlachte  menschliche 
Nachschöpfungen  zu  den  edlen,  klassischen  Urbildern.  Und  nun  das 
dritte  Pferd!  Nichts  von  Übernatur,  von  ins  Äußerste  übertriebener  Ideali- 
sierung. Man  sehe  die  liebevolle  Behandlung  des  Haares!  Wie  bei  den 
Tieren  auf  der  Geburtsdarstellung,  bei  denen  Niccolo  in  gleicher  Weise 
eigene  Wege  mit  Sorgfalt  und  stillem  Vergnügen  ging!  Dieses  dritte 
Pferd  ist  ganz  Natur.  Dabei  stehen  Kopf  und  Hals  in  schönstem  Ver- 
hältnis zueinander.  Nichts  daran  ist  in  so  fieberhafter  Spannung  wie 
bei  den  Pferden  oben.  Es  hat  einen  friedlichen  Ausdruck.11)  Dabei 
neigt  es  den  Kopf  und  schnuppert  suchend  — ein  reizvolles  Motiv!  — 
auf  der  Erde.  Der  eine  Fuß  ist  scharrend  gegeben,  die  Verkürzung  dabei 
sehr  gelungen.  Ein  Steigbügel  hängt  vor  dem  Reliefrahmen  nieder. 
Dieses  Können  überrascht.  Bode  gibt  einmal,  in  bezug  auf  N.  Pisano, 
zu:12)  »Die  strenge  Abhängigkeit  von  der  Antike  verhindert  ihn,  sich  zu 
wirklichem  Naturverständnis  durchzuarbeiten.«  Ganz  richtig!  Man  achte 
aber  nur  darauf,  wo  er  sich  von  dieser  Abhängigkeit  frei  macht! 

Auch  auf  der  »Darstellung«  fehlt  es  noch  nicht  an  getreu  nach- 
geahmten Vorbildern  aus  der  Antike,  so  daß  man  sie  leicht  nach- 
weisen  kann.  Es  ist  der  indische  Bacchus  von  der  Vase  Nr.  52  im 
Campo  santo  zu  Pisa,  der  hier  als  Priester  erscheint,  sowie  die  Amme 
vom  Phädrasarkophag,  die  als  Hannah  auftritt.  Wer  die  Hannah  un- 
befangen ansieht,  ist  erstaunt  über  die  Wahl.  Ein  altes,  häßliches 
Weib,  das  mit  zurückgeworfenem  Kopf  und  verzerrtem  Antlitz  einher- 
schreitet. Warum  wählte  sie  Niccolo?  Hier  hätte  er  doch  leichter  seiner 
»schönen  Form«  Opfer  bringen  können?  Schrift  und  Tradition  verlangen 
alles  eher  als  eine  solche  Hannah,  und  Niccolo  hätte  wohl  reichlichst 
passendere  Frauengestalten  finden  können.  Was  ließ  ihn  dennoch  eine 
solche  Wahl  treffen?  Doch  wohl  nicht  die  Freude  an  schönen  Formen, 
sondern  ein  anderer  geradezu  entgegengesetzter  Hang:  die  Freude  am 
Ausdruck, x3)  die  wir  schon  an  dem  jugendlichen  Könige  oben  wahr- 

”)  Semrau  läßt  doch  in  der  Neubearbeitung  von  Lübkes  »Grundriß«  von  drei 
feurigen  Pferden  ohne  Unterschied  die  Rede  sein  ! 

Ia)  a.  a.  O.  S.  16. 

*3)  Schubring  (a.  a.  O.  S.  51)  scheint  mir  wieder  zu  weit  zu  gehen.  Er  empfindet 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


7 


nahmen,  freilich  nicht  in  dieser  leidenschaftlichen  Weise.  Und  nun  der 
Bacchus!  Auf  dem  Original  ergreift  neben  dem  mächtigen  Ernst  der 
Gestalt  wohl  auch  die  schöne  Form.  Aber  hier?  Niccolo  hat  den  nackten 
Knaben  des  Originals,  den  der  Gott  führt,  bekleidet.  Er  paßt  sich 
damit  dem  Stoff  zum  ersten  Male  in  positiver  Weise  an.  Der  Bacchus 
ist  außer  dem  des  Urbildes  so  dünn  bekleidet,  daß  Glutäen  und  Nabel 
deutlich  durch  das  in  schönen  Falten  fallende  Gewand  durchschimmern. 
Niccolo  gibt  ihn  in  wuchtig  nachschleppendem  Kleid  mit  schwerfälligen 
Faltenbrüchen  und  unförmlichen  Bauschen.  Es  wird  geradezu  ein  Gegen- 
stück zu  dem  schönen  Urbild  der  Vase!  Niccolo  bekleidet  ihn  ganz 
nach  eigenem  Ermessen  und  geht  dabei  wie  beim  Knaben  weit  über 
das  Notwendige  hinaus.  *4)  Nichts  bleibt  von  der  ursprünglichen  form, 
dagegen  steigert  er  den  Ausdruck  im  Gesichte  des  bärtigen  Riesen 
durch  Vertiefung  der  Gesichtszüge  von  mildem  Ernst  zu  wildem  Irotz, 
so  daß  man  ihn  wohl  für  Herodes  halten  könnte  — wie  Schubring  will  — 
wenn  man  eben  nicht  lieber  — und  wohl  richtiger!  — wie  bei  der 
Hannah  nur  reine  Freude  an  starkem  Ausdruck  als  Grund  zur  Einführung 
nehmen  will.  Freilich  erscheint  dieser  (auch  hier  noch!)  unabhängig 
vom  Stoff  und  Inhalt.  Noch  anderes  läßt  Niccolos  stets  stärker  werdende 
Freude  am  Ausdruck  erkennen:  In  den  ersten  Reliefs  zeigt  sich  äußerste 
Beschränkung  der  Figurenzahl.  Er  drückt  die  wenigen  Figuren  gewisser- 
maßen auseinander,  putzt  sie  überreich  mit  Gewandstoffen,  gibt  nur  das 
Notwendigste  an  Gestalten.  Und  hier?  Fünf  Personen  sind  auf  Dar- 
stellungsszenen üblich,  und  Niccolo  gibt  sechzehn  — also  um  elf  mehr  als 
nötig!  Sie  sind  seine  Zutat,  sind  freie  Erfindung  des  Künstlers.  Wir 
sehen  etwas  an  Niccolo,  das  er  bisher  in  der  Darstellung  von  Menschen 
nicht  zeigte:  reiche  Fantasie  neben  (freierer)  Nachahmung  von  Vor- 
bildern. Die  Köpfe  der  Vielen  — an  der  Handlung  allerdings  Un- 
beteiligten — sind  überaus  reich  an  Ausdruck,  wirklich  aus  dem  Leben 
gegriffen.  Das  reiche  Innenleben  der  Figuren  wird  um  so  deutlicher, 
die  reine  Freude  daran,  um  so  augenfälliger,  als  all  dieser  Reichtum 
noch  ohne  Beziehung  zur  Handlung,  nur  um  seiner  selbst  willen  gegeben 
erscheint.  Es  beachtet  ja  niemand  den  Vorgang  außer  einem,  der  (links 
in  der  Ecke)  sich  auf  die  Zehenspitzen  stellt,  um  sehen  zu  können. 


die  Gestalt  nicht  als  eine,  die  aus  dem  Relief  herausfällt.  Ihn  erinnert  die  »Ekstase« 
der  Hannah  »an  die  eleusinischen  Mysterien«,  durch  die  nun  Niccolo  — Absicht? 
»die  großmächtige  Ruhe  Simons  und  Marias  doppelt«  wirken  lassen  kann. 

m)  Man  hätte  wahrscheinlich  gegen  ein  nacktes  Knäblein  vom  kirchlichen  Stand- 
punkte nichts  einzuwenden  gehabt.  Vgl.  u.  a.  die  allegorischen  Figuren  an  der  Kanzel! 
Außerdem  war  sich  N.  doch  von  Anfang  an  darüber  klar,  was  ihm  von  der  »schöner 
Form«  bei  reicher  Bekleidung  bleiben  würde:  allein  der  Kopf. 


8 


Dr.  Alfred  Möller: 


Unter  diesen  Köpfen  ist  nichts  von  steifer  Imitation  der  Antike.  Wie 
weich  sind  die  Gesichter  gebildet,  welch  träumerischer  Ausdruck  liegt 
zum  Teil  auf  ihnen  (man  vergleiche  damit  die  spröde,  kalte  Madonna  der 
Anbetung)!  Oder  man  sehe  sich  den  Prachtkopf  rechts  oben  in  der  Ecke 
an!  Wie  viel  Können  zeigt  sich  da!  Man  sehe  sich  daneben  den  der 
Antike  »abgelauschten«  kläglichen  Dionysosknaben  an!  Wie  schlecht 
nimmt  sich  Niccolo  damit  aus,  wie  unreif  und  ungeschickt!  Da  aber 
Hölzernes  und  so  Lebendiges  so  dicht  nebeneinander  auftritt,  muß  man 
nicht  zu  dem  Ergebnis  kommen,  daß  die  Antike  dem  Künstler  geradezu 
hinderlich  war,  sich  zu  entfalten?  Wenn  dort  auch  sein  Wollen  lag, 
(wenngleich  in  unserem  Relief  das  Selbständige  mehr  Liebe  verrät),  sein 
Können  wenigstens  ist  höher  (nicht  nur  wegen  des  besseren  Einklanges 
zum  Stoff!),  wenn  er  das  Antike  beiseite  läßt  (einen  Mittelweg  ging 
N.  nie)  und  aus  Eigenem  schöpft.  Da  gibt  es  dann  packendes  Leben 
in  seiner  Kunst!  Auch  sonst  zeigt  dieses  Relief  eine  Fortentwicklung: 
Die  Einordnung  in  den  Raum  ist  glücklicher,  die  Verhältnisse  der  Figuren 
sind  harmonischer;  keine  Gestalt  klebt  mehr  mit  dem  Scheitel  am  oberen 
Bildrand. 

In  der  »Kreuzigung«  ist  zum  erstenmal  Einklang  zwischen  Form 
und  Inhalt  erreicht.  Die  Freude  am  Ausdruck  erscheint  nicht  mehr  um 
ihrer  selbst  willen,  sondern  paßt  sich  dem  Inhalt  an.  Hier  fügt  sich 
der  Meister  vollends  dem  christlichen  Thema.  Keine  Figur  tritt  mehr 
fremdartig  und  plump,  wie  der  Bacchuspriester  und  der  Knabe  in  der 
»Darstellung«  in  den  heiligen  Kreis.  Außerdem  erscheint  hier  der  Aus- 
druck nicht  mehr  bloß  in  der  Ruhestellung  des  Körpers,  nicht  mehr  nur 
im  Gesicht  (die  »Zuschauer«  auf  der  Darstellung!),  er  ergreift  den  ganzen 
Körper;  jedes  Glied  nimmt  durch  lebendige  Sprache  an  den  Vorgängen 
des  Inneren  teil  (Maria!  Longinus).^)  Merkwürdig  ist  es,  daß  hier  so 
wie  bei  allem,  was  unseren  Meister  betrifft,  die  Urteile  wieder  schart 
auseinandergehen.  Schnaase16)  findet  die  Gewandbehandlung  härter  als 
in  allem  Vorhergehenden,  das  Anatomische  »roh  und  verfehlt«.  Schmar- 
sowJ7)  hingegen  bemerkt:  »Selbst  die  Juden  noch  ....  spielen  gar  un- 
erlaubt auf  seiner  Kreuzigung  eine  prächtige  Figur.«  Jedenfalls  darf  man 
nicht  mit  Schubring  annehmen,  daß  N.  Pisano  die  Vielheit  der  Figuren 


*5)  Vgl.  zur  Darstellung  der  »Kreuzigung« , Rockbauer,  Kunstgeschichte  des 
Kreuzes  (Schaffhausen  1870)  S.  165,  166.  Ferner  Fr.  X.  Kraus,  Realenzyklopädie  der 
christlichen  Altertümer  II,  S.  238  fr.,  Dobbert,  a.  a.  O.  S.  82,  90.  Ferner  derselbe: 
»Zur  Entstehungsgeschichte  des  Kruzifixes«.  Jahrb.  d.  königl.  preuß.  Kunstsammlungen  I,  1 
(Berlin  1890). 

,6)  a.  a.  O.  V,  S.  278. 

*7)  »Italienische  Forschungen«  S.  134. 


Das  Naturgefühl  bei  Niecolo  Pisano. 


9 


unangenehm  empfand.  Er  zeigte  sich  uns  auf  der  vorhergehenden  Tafel 
als  ein  Künstler,  auf  den  Dürers  »inwendig  voller  Figur«  nicht  übel  zu- 
trifft. Hat  er  da  doch  mit  Freude  eine  Anzahl  von  Personen  ohne  alle 
Notwendigkeit  eingeführt,  wie  es  scheint  nur,  um  Eindrücke  loszuwerden, 
die  ihm  eine  Anzahl  von  Charakterköpfen  gemacht  hatten.  Jedenfalls 
kann  man  nicht  übersehen,  daß  die  »Kreuzigung«  viele  Flüchtigkeiten 
aufweist,  Einzelheiten  erscheinen  vernachlässigt  und  zwar,  — und  damit 
ist,  glaube  ich,  der  Grundzug  des  Reliefs  gekennzeichnet18)  — zum  ersten- 
mal der  Gesamtwirkung  zuliebe. 

Betrachten  wir  nun  den  »Gekreuzigten«  und  hüten  wir  uns,  zu 
schnell  mit  dem  Wörtchen  »antik«  zur  Hand  zu  sein.  Bei  der  Not- 
wendigkeit eine  nackte  Gestalt  zu  bilden,  lag  für  Niccolo,  der  schon 
öfter  klassische  Gestalten  in  seine  Werke  einführte,  ein  ähnliches  Vor- 
gehen nahe.  Aber  man  darf  doch  nicht  gleich  (vgl.  dazu  unten!)  von 
einem  »Herkules«  reden,  da  nur  eine  von  Niccolos  echten  gedrungenen 
Figuren  (man  erkennt  das  am  besten,  wenn  man  sich  die  Gestalt  auf 
die  Erde  gestellt  denkt!)  am  Kreuze  hängt.  Jedenfalls  ist,  wenn  hier 
schon  antike  Erinnerungen  mitspielen  sollten,  kein  Vergleich  mehr  mit 
der  »antiken  Art«  des  Meisters  aus  den  früheren  Tafeln  zu  ziehen! 
Dieser  Christus  hat  zumindest  sehr  eingreifende  Änderungen  erfahren; 
noch  viel  reichere  als  der  Bacchus  und  der  Bacchusknabe  oben!  Wohl 
erscheint  Christi  Körper  in  einer  Fülle  kraftvollen  Fleisches.  Die  Ver- 
hältnisse aber  haben  gar  nichts  von  antiker  Schönheit:  die  Arme  sind 
zu  lang;  der  Brustkasten  ladet  nach  oben  unschön  (trichterförmig)  aus. 
Dazu  kommt  ein  häßlich  kurzer,  dicker  Hals.  Der  Schwerfälligkeit  des 
Leibes  ist  der  schwere  Querbalken  des  Kreuzes  und  der  in  Gestalt  eines 
schweren  metallenen  Tellers  gebildete  Heiligenschein  angepaßt.  Dagegen 
überrascht  die  feine  Beobachtung  an  vielen  Einzelheiten:  wie  treu  und 
richtig  ist  das  Durchscheinen  der  Rippen  durch  die  Haut  gegeben,  wie 
kommt  der  Verlauf  des  Brustbeins  (Sternums)  und  des  unteren  Rippen- 
bogens daran  zum  Ausdruck!  Die  einzelnen  Muskelbündel  an  der  rechten 
Wade  und  an  den  Armen  sind  auf  Grund  sehr  treuer  Beobachtung  mit 
anatomischer  Richtigkeit  gegeben.  Kann  da  auch  im  allgemeinen  allen- 
falls die  Erinnerung  an  eine  Herkulesdarstellung  mitgewirkt  haben,  so 
lassen  die  Feinheiten  der  eben  angeführten,  leicht  kontrollierbaren  De- 
tails doch  auch  ganz  gewiß  auf  ein  selbständiges  Naturstudium  schließen. 
Der  Ausdruck  des  Gesichtes  schmiegt  sich  dem  Inhalt  an:  der  Schmerz 
des  Gekreuzigten  ist  an  den  leicht  herabgezogenen  Mundwinkeln,  an  den 


,8)  Förster  a.  a.  O.  II.  S.  n)  sagt  kurzweg  von  der  Kreuzigung:  »Hier  hören 
fast  alle  antiken  Anklänge  auf.« 


IO 


Dr.  Alfred  Möller: 


geschlossenen  Augenlidern  deutlich  zu  erkennen.  *9)  Förster20)  sagt  sehr 
treffend:  »In  bezug  auf  die  Ausführung  muß  uns  der  Körper  des  Ge- 
kreuzigten um  so  mehr  auffallen,  da  Niccolo  für  diesen  sich  weder 
in  den  christlichen  Traditionen,  noch  in  der  Antike  Rats  erholen  konnte«.21) 
An  allen  Köpfen  bemerkt  man  überrascht  — fast  durchwegs  gelungene  — 
Versuche  zu  einen  zum  Stoff  und  Inhalt  durchaus  passenden  Ausdruck! 
Es  ist  Logik  in  der  Arbeit,  und  alle  angeschlagenen  Töne  klingen  hier 
harmonisch  zusammen.  Der  Hauptmann  (als  römischer  Offizier  durch 
das  Schwert  gekennzeichnet)  ist  geschickt  nach  den  Anweisungen  des 
Malerbuches  gegeben  (»  . . . schaut  auf  Christus,  hält  seine  Hand  erhoben  und 
preist  Gott«),  mit  einem  einfachen,  aber  vielsagenden  Gesichtsausdruck, 
der  dort  nicht  vorgesehen  ist.  Der  Mann  mit  dem  langen  Bart  greift 
mit  der  einen  Hand  darnach,  mit  der  anderen  fährt  er  erschreckt  an  den 
Leib.  Wie  hier  das  Spiel  aller  Hände  sich  reich  und  richtig  zeigt,  so 
ist  auch  die  Stellung  des  Mannes  (er  schreitet,  wie  um  zu  fliehen, 
nach  rechts  aus)  bezeichnend.  Alle  diese  Figuren  sind  Erscheinungen 
ohne  Widerspruch  zur  Umgebung  noch  in  sich,  während  auf  den  ersten 
Tafeln  Widersprüche  selbst  bei  den  Hauptfiguren  nicht  selten  waren. 
Man  beachte  auch  die  übrigen  Figuren  rechts:  einer  reckt  den  Hals,  um 
zu  sehen;  alle  Hände  reden  zu  uns  von  den  Gefühlen  ihrer  Träger, 
Stefaton,  der  Soldat,  der  den  Schwamm  reicht,  ist  im  Hintergründe  sicht- 
bar. Der  Mann,  rechts  an  der  Bildkante,  schielt  nur  scheu  auf  Christus. 
Ohne  jede  Rücksicht  auf  Schönheit  verzerrt  Johannes  (links!)  in  na- 
turalistisch gegebenem  Schmerz  das  Gesicht. 

Die  Frauen,  welche  der  Maria  beistehen,  blicken  mitleidig  auf  Maria. 
Diese  ist  freilich  sehr  ungeschickt  abgebogen  (so  steif  wie  die  Liegende 
auf  der  Geburt!  Beide  erinnern  in  den  spröden,  rechtwinkligen  Bie- 
gungen an  die  Gestalten  auf  etruskischen  Särgen).  Für  eine  Ohnmächtige 


*9)  Über  den  schmerzlichen  Ausdruck  in  der  Darstellung  des  Crucifixus  vgl. 
Stockbauer,  a.  a.  O.  S.  221. 

20)  a.  a.  O.  S.  121. 

21)  Interessant  ist  es,  auch  hier  wieder  die  Urteile  zu  vergleichen.  Schmarsow 
findet  (a.  a.  O.  S.  134),  daß  hier  der  »Sohn  der  Jungfrau  unversehens  (?)  zum  Sohne 
des  Jupiter  geworden  ist«.  Crowe  u.  C.  a.  a.  O.  (S.  103)  sehen  einen  »Herkules«, 
aber  — in  verständiger  Würdigung  des  Gesichtsausdruckes  — doch  nur  einen  »leidenden«. 
Dobbert  setzt  (wohl  durchaus  mit  "Recht!)  die  »von  der  antikisierenden  Richtung  nur 
wenige  Spuren  enthaltende  Kreuzigung«  den  übrigen  »ausdrucksloseren«  Tafeln 
(Geburt,  Anbetung,  Darstellung)  vor  (S.  51).  Ebenso  Schnaase,  a.  a.  O.  V.  S.  297 
unten.  Förster  (a.  a.  O.  S.  121),  Dobbert,  Schnaase  (S.  279)  erkennen  an  dieser  Tafel 
tüchtigstes  (»mit  Erfolg  belohntes«  — Förster)  Studium  des  Nackten  (bei  den  früheren 
Tafeln  merkte  man  keine  Spur  davon!  Hier  erkennt  man  schon  voll  den  künftigen 
Meister  der  Kanzel  von  Siena). 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


1 1 

sind  ihre  Glieder  zu  wenig  gelöst.  Trotzdem  aber  alle  Gesichter  groß 
sind,  erscheinen  die  Wangen  nicht  mehr  so  sehr  als  wüste  Flächen  wie 
an  den  ersten  Tafeln.  Ein  inniger  Ausdruck  erfüllt  alle,  auch  die  Engel 
oben.  Die  »Kirche«  ist  stolz  gegeben,  aber  nicht  mehr  auf  dem  Wege 
zur  Antike  gefunden  wie  die  Juno-Maria  aus  der  »Geburt«.  Die  Synagoge 
hat  einen  charakteristisch-verdrossenen  Ausdruck.  Die  Falten  sind  nirgends 
mehr  so  hartbrüchig,  plump  und  schwerfällig  wie  am  Bacchus,  nirgends 
mehr  so  steif  wie  an  der  Maria  der  ersten  Tafel.  Die  Körper  von 
»Kirche«  und  »Synagoge«  erscheinen  sogar  geschmeidig  umhüllt;  der 
Leib  ist  nicht  mehr  unter  Bauschen  ganz  versteckt.  • Auch  das  Auf- 
treten von  Besatzstreifen  an  den  Gewändern,  wie  es  auf  der  Kanzel  zu 
Siena  fast  durchgehends  erscheint,  beginnt  hier  schon  (der  Hauptmann 
usf.).  Diese  Tafel,  an  der  keine  Figur  aus  der  Gesamtdarstellung  mit 
dem  Anspruch  auf  Selbständigkeit  herausfällt,  bildet  den  schönen  Über- 
gang zu  der  Darstellung  der  letzten  Tafel. 

Das  »Weltgericht«  bringt  die  schöne  Erfüllung,  das  Endergebnis 
alles  Naturstudiums,  das  sich  bei  Niccolo  bisher  zeigte.  Die  Freude  am 
Ausdruck,  die  in  den  ersten  Reliefs  fehlte,  tritt  ungehemmt  auf,  herrscht 
über  die  »schöne  Form  auf  Kosten  des  Ausdruckes«  vollständig.  Hier 
finden  wir  den  bedeutsamsten  Fingerzeig  für  Niccolos  Fortentwicklung. 
Wer  an  der  Kanzel  zu  Siena  als  seiner  Schöpfung  zweifelt,  muß  auch 
hier  schon  »Gehilfenarbeit«  sehen.  Schon  äußerlich  ist  eine  Ähnlichkeit 
mit  Siena  durch  die  größere  Zierlichkeit  der  Figuren  gegeben.22)  Die 
Bewegungen  sind  überaus  mannigfaltig,  die  steife  Gebundenheit  der  ersten 
Reliefs  ist  vergessen.  Was  Niccolos  eigentliches  Element  ist,  wo  seine 
Neigung  und  sein  Können  sich  berühren,  zeigt  sich  an  dem  »Gericht« 
deutlich.  Die  gesicherten  Heiligen  oben  sind  ohne  besonderes  indivi- 
duelles Leben,  wenngleich  Mitleid,  Milde  u.  a.  gut  in  den  Gesichtern  les- 
bar ist.  Erst  wo  die  Verzweiflung  beginnt,  entwickelt  sich  ein  Reich- 
tum an  Motiven.  Körperliche  Qual,  Angst,  Vernichtungsgefühl  — das 
alles  spricht  sich  in  Gesichtern,  Händen,  Körpern  lebendig  aus.  Christus 
erscheint  ganz  gleichgültig.  In  den  Körperverhältnissen  aber  ist  er  — 
wie  im  Anatomischen  — über  den  Heiland  in  der  Kreuzigung  zu  stellen. 
Am  Brustkorb,  an  den  Armen  (man  beachte  die  Durchbildung  der  Mus- 
kulatur) stört  nichts  mehr  in  hohem  Grade  das  Ebenmaß.  Die  Ge- 
wandung ist  weich  gebildet  (wie  auf  den  kleinen  Figuren  schon  früher!), 
wie  die  Füße  und  ihre  Knöchel,  die  darunter  hervorkommen.  25  Köpfe 
fehlen.  Man  freut  sich  dessen  fast,  denn  das  Leben  in  den  Körpern 

ai)  Wo  Niccolo  die  Gestalten  klein  bildet  — in  seiner  Neigung  zur  Antike  ver- 
meidet er  das,  wohl  in  einer  Verwechslung  von  »groß«  und  »großartig« ! — ist  er 
stets  gefälliger,  natürlicher.  Vgl.  die  kleinen  Figuren  auf  allen  5 Tafeln! 


12 


Dr.  Alfred  Möller: 


wird  dadurch  um  so  auffälliger.  (Man  beachte  daraufhin  Maria,  an  der 
Seite  Christi.)  Alles  Körperliche  ist  sinn-  und  stoffgemäß  durchgeistigt. 
Man  denke  an  den  Dionysosknaben  und  stelle  nun  Figuren  aus  den 
unteren  Reihen  des  letzten  Reliefs  daneben.  Was  hat  Niccolo  seitdem 
gelernt!  Man  suche  bei  Giovanni  Pisano  nach  ähnlichen  Prachtstücken! 
Mit  den  schwierigsten  Stellungen  spielt  der  Meister.  Man  achte  auf  das 
hockende  Weib  links,  beachte  wie  Frauen-  und  Männerkörper  sich  durch 
Bau  und  Fleischbildung  unterschieden  zeigen.  Giovannis  Relief  in  Pistoja 
ist  hier  übertrofifen.  Der  Vater  braucht  nicht  beschämt  hinter  den 

Sohn  zurückzutreten.  Wie  fein  ist  das  Unschlüssige  gegeben,  wie  treffend 
die  Auffassung  jener,  die  aus  dem  langen  Schlaf  emporgeschreckt,  sich 
befangen  und  befremdet  abtasten.  (Das  Motiv  erinnert  übrigens  an  ein 
ähnliches  bei  Benedetto  Antelami  a.  d.  Taufkapelle  in  Parma.23)  So 
finden  wir  an  Niccolo  Pisano  so  viel  Naturgefühl,  so  viel  Liebe  für  kühn- 
naturalistische Motive  (besonders  an  der  letzten  Tafel,  der  Schmarsow, 
Schubring  u.  a.  bei  aller  Ausführlichkeit  über  die  ersten  Reliefs  keine 
Zeile  — Schubring  auch  von  dieser  allein  keine  Abbildung  — widmen), 
daß  wir  in  der  Arbeit  zu  Siena  und  weiterhin  in  den  Arbeiten  Giovanm 
Pisanos  keine  Gegensätze  zu  den  letzten  Stücken  der  Kanzel  zu  Pisa 
sehen.  Diese  erscheint  in  ihrem  Ausklang  als  Vorbereitung  und  Vor- 
schule dazu. 

Schon  durch  dieses  Negieren  gewisser  Teile  der  Pisaner  Kanzel  auf 
Kosten  anderer,  die  mit  antiken  Ausschnitten  beladen  sind,  erhält  man 
ein  falsches,  d.  h.  unvollständiges,  Bild  des  Meisters.  Nun  gehen  viele 
Autoren  aber  noch  weiter.  Sie  nehmen  dieses  unvollständige  künstlerische 
Charakterbild,  als  hätte  N.  sonst  nichts  mehr  geschaffen,  ruhig  her  und 
arbeiten  es  noch  auf  den  Gegensatz  zu  Giovannis  Arbeiten  zu.  An  und 
für  sich  sind  solche  Gegenüberstellungen  schon  Ungerechtigkeiten,  da  sie 
stets  nur  einseitige  Bilder  geben,  gewisse  Seiten  auf  Kosten  anderer  her- 
vorheben. Höchstens  der  volkstümlichen  Kunstschilderung  sollten  sie 
erlaubt  sein.  Dort  ist  Anschaulichkeit  (anschauliche  Schilderung  ist  immer 
und  überall  einseitig,  unvollständig)  das  Wichtigste,  Genauigkeit,  weil  sie 
ermüdend  wirkt,  als  größeres  Übel  zu  unterlassen.  Schmarsow  in  seinem 
an  scharfen  Beobachtungen  reichen  Buche  kommt  bei  Hervorhebung 
dessen,  was  Giovanni  an  Ausdruck  über  seinen  Vater  leistet,  in  einen 
subjektiv-hochpathetischen  Ton,  während  er  bei  Niccolo  es  an  nüchternem 
Konstatieren  genug  sein  läßt  (a.  a.  O.  S.  146 — 47  unten).  »Nichts  ist 
lehrreicher,  den  völlig  anderen  Geist  zu  fassen,  der  diesen  Gotiker  be- 
seelt, als  ein  »vergleichender  (ein  »Vergleichen«,  bei  dem  nur  der 


2 3)  Vgl.  Zimmermann,  Obental.  Plastik,  Leipzig  1897,  S.  128. 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


13 


Unterschiede  gedacht  wird!  !)  Blick«  auf  die  Kreuzigungsdarstellung  bei 
beiden  Meistern  (Taufkapelle  zu  Pisa  K.  60;  S.  Andrea  zu  Pistoja  v.  1301). 
»Welch  ein  Unterschied  in  allen  Teilen!  Der  Christus  seines  (Giovannis) 
Vaters  war  ein  Göttersohn,  eine  Hünengestalt,  die  man  aus  Kreuz 
genagelt,  ohne  ihre  Schönheit,  ihre  Manneswürde  zu  verletzen,  und 
ein  König  23)  bleibt  er,  der  gestorben  . . . .«  Wie  der  Schmerz  in  den 
Frauen,  an  den  Juden  zum  Ausdruck  kommt  wird  übergangen,  als  hätte 
die  Kreuzigung  nichts  als  die  antike  »Schönheit«  und  »Manneswürde« 
des  Heilands,  nichts  als  große  Ruhe  gezeigt,  als  wäre  der  nirgends  Aus- 
druck gegeben  worden.  Erst  bei  Giovanni  Pisano  soll  man  sehen,  daß  »Ent- 
setzen« die  Juden  erfaßt.  »Wie  vom  Sturm  gejagt,  stürzen  sie  hin- 
aus ....  Drüben  aber  ....  erhebt  sich  der  Schmerz  in  seiner  ganzen 

Stärke.  Wie  ein  schneidig  Schwert  durchdringt  er  die  Mutter 

Bebenden  Leibes  sinkt  sie  in  die  Knie.  Johannes  faßt  ihre  Hand  . . . 
aber  das  eigene  Weh  verzerrt  sein  Antlitz  (bei  N.  P.  nicht  weniger  stark!). 

Lauter  denn  alle  jammert  Magdalena « usf.  Diese  überaus 

lebendige  Schilderung  schädigt  die  Sachlichkeit  der  Betrachtung.  Auch 
bei  G.  P.  darf  niemand  sehen,  daß  die  Juden  »wie  vom  Sturm  gejagt« 
abstürzen.  Sie  ducken  sich  nur  (wie  bei  Niccolo);  nur  bei  einem  wird 
man  die  Bewegung  als  Enteilen  deuten  dürfen.  Wenn  Schmarsow  nach 
dem  Ausruf  »welch  ein  Unterschied  in  allen  Teilen!«  auch  den  Longinus 
anführt  (oben  nicht  zitiert),  so  ist  das  eine  besondere  Ungerechtigkeit. 
In  der  Bewegung  seiner  rechten  Hand,  in  der  stärkeren  Zurückbiegung 
seines  Oberleibes  liegt  sogar  mehr  Erschrecken  und  Bekennen  als  bei 
Giovanni ! Noch  weiter  gehen  die  Vertreter  der  süditalischen  Hypothese. 
Diesen  (vgl.  besonders  Schubring  a.  a.  O.)  kommt  es  vor  allem  darauf  an, 
das  Antike  bei  Niccolo  zu  sehen  und  zu  erklären.  Dabei  übergehen  sie 
alles  andere.  Ein  gutes  Beispiel  hierfür  ist  eine  Stelle  bei  Förster 
(a.  a.  O.  II,  S.  120  ff.).  Er  bewundert  an  der  Kreuzigung  nur  den  Christus. 
Er  legt  ganz  allein  einen  Maßstab  (Schönheitsforderungen)  auch  an  die 
übrigen  Figuren  und  tut  sie  nun  mit  folgender  klassischer  Verurteilung 
ab:  »Weit  ist  der  Abstand  dieser  häßlichen,  verzeichneten  kurzen  Ge- 
stalten mit  ....  verfehltem  (?)  Ausdruck  . . . von  der  sprechenden,  voll- 
endeten Erscheinung  Christi  . '...«  usf.  Ber  Giovanni  Pisano  lobt  man, 
was  man  an  Niccolo  nicht  beachtet,  oder,  wenn  dessen  doch  gedacht 
wird,  tadelt  (den  Ausdruck). 

Bedarf  es  nun  schon  großer  Einseitigkeit  und  einer  gewissen  Hart- 
näckigkeit, um  Niccolo  Pisano  als  einen  nur  von  einem  Drang  erfüllten 
Künstler  hinzustellen,  so  muß  man  sich  geradezu  wundern,  mit  welchen 


l3)  Die  Unterstreichungen  stammen  nicht  von  Schmarsow. 


14 


Dr.  Alfred  Möller: 


Hilfen  man  weiter  dazu  gelangt,  ihm  sein  zweites  Hauptwerk  (allerdings 
nur  in  konsequenter  Weise)  einfach  abzusprechen  und  seinem  Sohne 
(dem  Knaben  Giovanni)  sowie  seinem  Gesellen  zuzuteilen. 

Aus  dem  Vertrag,  24)  den  Niccolo  Pisano  mit  den  Bauherrn  von 
Siena  zur  Errichtung  der  Domkanzel  abschließt,  sind  die  Lohnverhältnisse 
festgesetzt.  Es  wird  unter  Aufstellung  hoher  Geldstrafen  festgesetzt,  daß 
Niccolos  Gesellen  pünktlich  eintreffen  müssen,  es  wird  des  Meisters  und 
der  Gehilfen  Lohn  bestimmt  und  endlich  von  dem  Willen  Niccolos  ab- 
hängig gemacht,  ob  er  seinen  Sohn  Giovanni  nach  Siena  mitbringen 
wolle.  Es  wird  ausdrücklich  Erlaubnis  dazu  und  Duldung  des  Knaben 
bei  der  Arbeit  erwähnt,  doch  muß  er  um  geringeren  Lohn  als  die  Ge- 
sellen arbeiten.  Das  wäre  eine  Beleidigung  gewesen  hätte  Giovanni  das 
Alter  der  Gesellen  besessen;  hier  erscheint  es  — wie  sich  aus  dem 
gnädigen  Ton,  in  dem  die  Stelle  gehalten  ist,  erkennen  läßt  — als  be- 
sondere Güte.  Aber  selbst,  wenn  jener  Vertrag  nicht  erhalten  wäre, 
mußte  man  doch  sich  folgendes  vor  Augen  halten:  die  Sieneser  sind  von 
der  Domkanzel  in  Pisa  entzückt  gewesen  (vgl.  u.  a.  die  bezüglichen 
Stellen  bei  Vasari),  sie  schließen  mit  Niccolo  ab,  sie  verlangen  ausdrtick- 
lichst  seine  Anwesenheit  während  der  ganzen  (dreijährigen)  Arbeitszeit, 
kurze  besonders  festgesetzte  Urlaube  ausgenommen.  Sie  wollen  sich  also 
völlig  versichern,  ein  Werk  des  Meisters  selbst  zu  erhalten.  Was  Förster 
zur  Entscheidung  des  Arbeitsanteiles  noch  am  Brunnen  zu  Perugia  (voll- 
endet 1280,  also  mehr  als  10  Jahre  nach  der  Kanzel  zu  Siena,  20  nach 
der  zu  Pisa)  anführt,  das  hat  natürlich  hier,  wo  Giovanni  noch  ein  Knabe 
ist,  doppelte  Gültigkeit: 25)  ».  . . . und  da  wohl  der  Sohn  dem  Vater  als 
Gehilfe  beigegeben  sein  kann  . . . nicht  so  leicht  aber  der  hoch  berühmte 
Vater  dem  Sohn  Gesellendienste  geleistet  haben  mag,  so  müssen 
wir  in  dem  Brunnen  von  Perugia  ein  Werk  des  Niccolo  . . .«  usf.  Es 
würde  unbegreiflich  scheinen,  daß  Urkunden  und  Vernunftgründen  zum 
Trotz  noch  andere  Meinungen  über  die  Urheberschaft  der  Kanzel  zu 
Siena  bestehen  können,  wenn  nicht  auch  hier  wieder  eines  Aufklärung 
brächte:  die  einseitige  Betrachtungsweise  der  Kanzel  zu  P.  läßt  die  zu  S. 
als  kühne  Neuerung  erscheinen.  So  unterscheidet  denn  Reymond  un- 
vermittelt zwei  »Manieren«  an  Niccolo.26)  Schubring  findet  sie  nicht 
erklärbar  aus  Niccolos  Kunstschaffen,  gibt  aber  doch  zu,  daß  Giovanni 


H)  Im  Wortlaut  bei  Rumohr,  Ital.  Forschungen,  II,  S.  145. 

*5)  Förster,  a.  a.  O.  S.  129. 

*6)  Reymond,  La  sculpture  florentine  S.  72.  » l’oeuvre  de  N.  de  Pise 

comprend  deux  manieres,  toutes  les  deux  fort  belles,  quoique  fort  differentes  l’une  de 
l’autre.  La  premiere  maniere  est  representee  par  la  Chaire  de  Pise  (1266)  et  la 
seconde  par  la  Chaire  de  Sienne  (1265 — 68). 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


*5 


nicht  als  Schöpfer  bezeichnet  werden  dürfe.  Er  erscheint  ihm  dazu  be- 
dingungslos als  »zu  jung«.  Aber  im  übrigen  drängt  es  ihn  doch  zur 
Frage  (a.  a.  O.  S.  67):  »ob  Vater  und  Sohn  den  Gegensatz,  der  so 

riesenhaft  zwischen  ihnen  durchbrach«,  wohl  empfanden.  Ihm  geht  es 
zwischen  den  beiden  scharf  wie  ein  Messerschnitt  durch.  Hier  »Antike«, 
hier  »Naturalismus«,  so  lauten  ihm  die  knappen  Kennworte  für  Niccolo 
und  Giovanni.  Bode  in  der  »Ital.  Plastik«  führt  unter  dem  Tadelns- 
werten der  Kanzel  zu  Siena  auch  den  Mangel  an  klassischen  Er- 
scheinungen an.  Doch  gesteht  er  dem  Werk  mit  Anerkennung  erhöhte 
Ausdruckskraft,  Lebendigkeit  und  Wahrheit  der  Darstellung  zu,  nach 
unserer  Meinung  ein  ebenso  bemerkenswerter  wie  voller  Ersatz  für 
»äußerliches  Nebeneinander  von  antiker  Form  und  modernem  Gehalt« 
(Dobbert).  Auch  Bode  betont  im  »Cicerone«,  daß  es  wegen  der  Jugend 
des  Giovanni  »unstatthaft«  sei,  die  Kanzel  zu  Siena  in  ihrer  reicheren 
und  lebendigeren  Gestaltung  »dem  rückwirkenden  Einflüsse  des  Sohnes 
auf  den  Vater  zuzuschreiben«,  und  als  der  Erste  und  Einzige  macht  "er 
scharfen  Blickes  das  Zugeständnis,  daß  die  in  Siena  »hervortretende  Rich- 
tung des  Niccolo  für  den  Sohn  von  Einfluß  war,  daß  dieser  sich  an  ihr 
entwickelte  und  aus  dem  dort  Gegebenen  allmählich  seinen  eigenen  Stil 
herausbildete.« 27)  Doch  rechnen  Bode  wie  Kraus  (a.  a.  O.  2.  S.  95)  den 
»neuen  Stil«  Niccolos  erst  von  Siena  an,  während  wir  ihn  schon  an  den 
Schlußtafeln  der  Kanzel  von  Pisa  nachweisen  konnten.  Bei  inniger  Be- 
schäftigung mit  den  Werken  N.  Pisanos  wird  das  Antike  daran  in  seiner 
unselbständigen  Weise  nach  Burckhardts  früherem  Ausspruch  als  »geschicht- 
liches Kuriosum«  erscheinen,  nicht  so  sehr  als  Kunst,  und  mit  der 
geringeren  Bewertung  des  Einen  wird  man  den  zweiten  wesentlichen 
Faktor  in  Niccolos  Schaffen,  sein  Streben  nach  Ausdruck,  sein  Natur- 
gefühl gerechter  beurteilen  und  immer  höher  stellen.  Nicht  erst  in 
seinem  Sohne,  in  ihm  schon  vollzieht  sich,  wie  wir  sahen,  die  Wandlung 
zum  Gotischen,  Lebensvollen  der  Kunst  und  zwar  schon  in  seinem  ersten 
großen  Werke. 

Am  weitesten  geht  Frey  in  kühner  Entscheidung  über  die  Urheber- 
schaft in  Siena  (»Codice  Magliabechiano«  — Berlin  1892,  S.  327). 
Ihm  ist  Niccolo  Pisano  der  »Entrepreneur«  der  Arbeit,  der  Mann,  der 
»Kontrakte«  abschloß,  über  empfangene  Geldsummen  quittierte.  Zu 
welchem  kläglichen  Schatten  schrumpft  der  Meister  damit  ein!  Er  soll 
keinen  Wunsch  gehabt  haben,  nachdem  sein  Ehrgeiz  durch  das  Angebot 
der  Herrn  aus  Siena  aufgestachelt  war,  sich  der  neuen  Aufgabe  würdig 

*7)  In  der  »Ital.  Plastik«  wird  im  Gegensätze  dazu  alles  Neue  an  der  Kanzel  zu 
Siena  noch  als  »wesentlich  mitbedingt  durch  die  verschiedenen  Mitarbeiter  Niccolos« 
hingestellt  und  nicht  aus  Wandlungen  im  Kunststreben  des  Meisters  selbst  erklärt. 


1 6 


Dr.  Alfred  Möller: 


zu  zeigen!  Er  soll  nicht  Verlangen  getragen  haben,  seinen  Ruhm  zu 
vermehren,  sondern  müßig,  die  Hände  im  Schoß,  andere  für  sich  haben 
arbeiten  lassen,  Gesellen  das  Lob  vor  sich  überlassend!  Der  Meister, 
der  in  seinem  eigenartig-wuchtigen  Anschluß  an  das  Antike,  wie  später 
im  Kampf  nach  treffendem,  lebendigem  Ausdruck  gleiche  Bewunderung 
fordert,  der  so  kühn  über  alles  kleinliche  »Vorher«  hinwegschritt,  soll 
in  der  Kanzel  von  Siena  als  Werksleiter  ein  Werk  erstehen  haben  lassen, 
das  nicht  nur  von  anderen,  sondern  von  diesen  anderen  auch  gegen 
seine  künstlerische  Art  geschaffen  wurde?  Kann  man  ernsthaft  glauben, 
daß  ein  Meister  von  der  machtvollen  Eigenart  und  dem  Selbstbewußtsein 
Niccolos,  das  in  seiner  Kühnheit  und  Gradheit  christliche  Vorwürfe  ganz 
nach  eigenem  Ermessen  zu  gestalten,  zum  Ausdruck  kommt,  es  geschehen 
läßt,  daß  seine  Schüler,  die  von  ihm  abhängigen  Gesellen,  ein  Evangelium 
predigen,  das  seinen  Kunstideen  zuwider  ist,  ihm  widerspricht?  Und  wie 
will  man  weiter,  in  so  einseitiger  Betrachtung  Niccolos  befangen,  ihm  nach 
Bologna  folgen?  An  Niccolo  erkennt  ein  aufmerksamer  Beobachter 
Wandlungen,  aber  — da  wir  auch  die  Brücken  dazu  sehen  (Zwang  des 
Stoffes,  angeborne  Kraft  zu  ausdrucksstarkem  Gestalten)  — keine  Wider- 
sprüche; in  Giovanni  nicht  seinen  Antipoden,  sondern  seinen  gelehrigen 
Nachfolger,  dem  nur  das  Suchen  erspart  blieb,  das  Niccolo  zuerst  das 
Finden  des  besten  Weges  erschwerte,  und  der  so  leichter  auf  dem  Pfade 
vorschritt,  der  dem  Vater  erst  durch  klassische  Typen  verstellt  war.  Die 
Kanzel  zu  Siena  als  Gesellenarbeit  zu  erklären,  verbietet  sich  endlich  auch 
aus  stilkritischen  Gründen.  Ihre  — allgemein  erkannte  — Einheitlichkeit 
weist  auf  einen  Urheber.  Zwischen  allen  klein  gebildeten  Figuren  der 
Kanzel  zu  Pisa  besteht  zu  denen  in  Siena  eine  auffällige  Ähnlichkeit. 
Der  antike  Einfluß  ist  nicht  ganz  ausgelöscht,  aber  das  Antike  erweist 
sich  hier  nicht  als  Hindernis  auf  dem  Pfade  zur  Natur,  sondern  es  wird 
im  Sinne  reifen,  eigenen  Naturerkennens  frei  benutzt,  nicht  mehr  in  eng- 
herzigster, grob-auffälliger  Art  nachgemacht.  Die  letzten  Errungenschaften 
zu  Pisa,  das  mühsam  Erworbene  wird  hier  in  liebenswürdigerer,  leichterer 
Art  verwertet.  Die  Motive  sind  im  großen  und  ganzen  dieselben. 
Nirgends  aber  werden  sie  ängstlich  gegeben,  wie  es  Schüler  tun  würden, 
die  ein  Thema  zum  erstenmal  behandeln.  Überall  erkennt  man  die 
sichere  erfahrene  Hand  des  Meisters.  Zielbewußt  angebrachte  Ver- 
besserungen sind  reichlich  zu  erkennen.  Trotzdem  in  Siena  die  Tafeln 
größer  sind  als  in  Pisa,  sind  die  Figuren  nun  doch  zahlreicher.  Wir 
sehen  dieselbe  Erscheinung  in  Pisa.  Sobald  das  ängstliche  Ringen  nach 
Vorbildern  vorbei  ist,  zeigt  sich  auch  dort  ungehemmt  und  in  reicher 
Entwicklung  eine  überraschende  Phantasietätigkeit.  Die  Figuren  sind  hier 
von  allem  Anfänge  an  klein,  weil  sie  sonst  der  reicheren  Gestaltung  des 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


17 


Stoffes,  den  vielen  Zutaten  im  Wege  wären  und  die  Erzählungslust  des 
Meisters  behindern  würden.  Den  leeren  Raum  liebte  er  nirgends.  Immer 
gestaltet  er  große  Figuren  zu  magerem  Inhalt,  oder  kleine  zu  reichem.  Die 
ungeschickt  gebauschten  Gewänder  zur  Raumdeckung,  die  puppenartig 
großen  Köpfe  kommen  hier  nicht  mehr  vor.  Wer  würde  sich  aber 

dessen  wundern?  Ist  doch  das  alles  schon  in  Pisa  überwunden 

worden!  In  Siena  packt  Niccolo  überall  sicher  an;  wo  er  es  nicht  tut, 

darf  man  Gehilfenarbeit  annehmen,  und  ich  glaube,  daß  ein  (erster!) 

Versuch,  die  Hände  von  Meistern  und  Gesellen  zu  scheiden,  doch  nicht 
so  aussichtslos  ist,  als  die  meisten  (vgl.  bei  Frey  a.  a.  O.)  meinen.  Wer 
einmal  den  Meister  in  Siena  als  Hauptschöpfer  erkennt,  ihn  höher  ein- 
zuschätzen weiß  als  die  Gesellen,  wird  ihre  Hände  gerade  dort  vermuten, 
wo  sich  nicht  eine  Art  freier  Fortführung  des  in  Pisa  Begonnenen  zeigt, 
sondern  wo  gewisse  Motive  von  dort,  hölzern  nachgeahmt,  steif  abge- 
zeichnet herübergenommen  erscheinen. 

Wie  frisch  zeigte  sich  z.  B.  Niccolo  gerade  in  der  Beobachtung 
der  Tierwelt  zu  Pisa  schon  in  den  ersten  Tafeln!  Hier  zeigen  sich  nun 
gerade  die  Tiermotive  aus  der  ersten  Tafel  von  Pisa  auf  der  entsprechen- 
den in  Siena  gewissermaßen  »wörtlich«  übernommen.  Aber  die  Aus- 
lührung ist  flacher,  matter  geworden.  Das  Beste  von  dort  erscheint  nun 
hier  schwächlich,  während  alles  Verbesserungsbedürftige  aus  Pisa,  hier 
frisch  angepackt,  in  Siena  vollendet  erscheint. 

Der  Meister  hätte  wohl  kaum  als  ein  so  frischer  Beobachter  des 
Pierlebens  an  so  glattem  Abdruck  (an  Stelle  neuer  Beobachtungen)  Freude 
gehabt.28)  Es  ist  aber  verständlich,  daß  die  Gesellen  spontan  oder  auf  Befehl 
des  Meisters,  der  sich  Größeres  zu  selbständigem  Gestalten  suchte,  die 
reizvollen  Motive  zu  wiederholen  hatten.  Auch  die  Hirtenszenen  machen 
diesen  Eindruck.  Hier  hatte  der  Meister  wohl  auch  nichts  Neues,  über 
Pisa  Hinausgehendes  zu  sagen.  Und  er  ließ  die  Gesellen  arbeiten,  die, 
ohne  Erfindungsgabe  oder  ohne  Erlaubnis  zu  eigenen  Änderungen,  einfach 
das  in  Pisa  Gegebene  kopieren.  Im  Hirten  links  zeigt  sich  eine  Abweichung 
von  der  Hirtendarstellung  der  ersten  Tafel  zu  Pisa.  Sie  weist  aber  erst 
recht  auf  eine  Gesellenhand  hin.  Hier  ist  in  unverkennbarer  Deutlichkeit 
in  der  Bildung  des  Kopfes,  in  der  Beinstellung,  in  der  Geberde  (wie  er  den 
Mantel  mit  der  linken  Hand  ergreift^)  der  Longinus  aus  der  »Kreuzigung« 
zu  Pisa  nachgebildet,  — ein  Vorgehen,  das  bei  dieser  Nebenfigur  dem  phan- 
tasiereichen Meister  gewiß  nicht  in  den  Sinn  gekommen  wäre!  Was  kann 
man  an  dem  ersten  Relief  zu  Siena  noch  der  Urheberschaft  nach  bestimmen? 

l8)  Die  meisten  Künstler  vermeiden  auch  gelungene  Wiederholungen.  Goethe 
griff  schon  verwendete  Themen  auch  zu  Verbesserungen  nur  ungern  wieder  auf,  Lionardo 
freute  sich  vor  allem  des  Entwurfes,  der  völligen  Neuheit  einer  Idee  u.  dgl.  m. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  2 


i8 


Dr.  Alfred  Möller: 


Ich  verweise  auf  die  dort  gegebene  Heimsuchung.  Wie  die  Blicke  der 
Frauen  ineinandertauchen,  ist  sehr  schön  gegeben.  Der  Altersausdruck 
im  Kopf  der  Frau  rechts  ist  sehr  charakteristisch.  Man  denke  an  die 
Freude,  die  Niccolo  an  gehaltvollen  Köpfen  (»Darstellung«  zu  Pisa) 
bekundete,  und  man  wird  hier  nicht  unsicher  urteilen.  Die  Körperver- 
hältnisse sind  n.un  freilich  gefälliger,  der  Faltenwurf  aber  noch  der 
charakteristische  Niccolos,  nur  sind  die  Stoffe  jetzt  (wie  schon  in  den 
letzten  Reliefs  zu  Pisa)  feiner,  weicher,  nicht  mehr  so  lodenartig  schwer 
und  steif.  Das  Körperliche  geht  bei  aller  Trefflichkeit  aber  doch  nirgends 
mehr  über  die  Errungenschaften,  die  sich  am  Weltgericht  der  Kanzel 
von  1260  zeigten,  hinaus.  Der  Reichtum  und  das  Geschick  von  dort 
wird  nirgends  mehr  überboten.  Übertrieben  bauschige  Umhüllungen  zu 
Raumfüllungszwecken  (wie  am  Verkündigungsengel  zu  Pisa)  weichen 
eleganterer  Umkleidung  der  Figuren.  Neue  Figuren  vertreten  die  Stelle 
dieser  ehemaligen  Gewandungetüme.  Die  Badefrauen  hier  unterscheiden 
sich  wenig  von  denen  zu  Pisa.  Sie  sind  auch  dort  von  kleiner  Statur 
gewesen,  und  kleine  Figuren  gerieten  dem  Meister  immer  gut. 

In  der  Anbetung  fällt  ein  Reiter  auf,  der  keck  sein  Pferd  wendet. 
Ein  echt  Niccolosches  Tiermotiv.  29)  Man  beachte  auch  das  Windspiel, 
das  sich  unter  den  Hufen  der  Pferde  duckt!  Es  ist  ganz  ähnlich  der  Art, 
davon  eines  auf  dem  Lager  der  Maria  zu  Pisa  zu  sehen  ist.  Aber  ein 
neues  Motiv  ist  bier  gegeben.  Kameele,  wie  sie  hier  erscheinen,  fand 
Niccolo  in  der  Antike  nicht.  Muß  er  nicht  gerade  diese  Tiere  mit  be- 
sonderer Freude  gebildet  haben?  Eine  freudlose  Wiederholung  des 
grasenden  Pferdes  aus  Pisa  fällt  daneben  — freilich  nur  im  Vergleich 
zu  dem  gelungeneren  Vorgänger  — ab.  Wir  wissen,  wem  wir  solch  flaues 
Kopieren  Zutrauen  dürfen.  Das  Bein  ist  hier  schwer  geworden,  der  Hals 
zu  dick.  Neben  den  Fortschritten  ringsum  ein  gewiß  auffälliger  Rück- 
schritt. Der  eine  der  Könige  (links  vom  bellenden  Hund,  zu  Pferd),  er- 
innert an  den  Josef  der  »Geburt«  zu  Pisa.  Da  sind  der  starre  Blick,  die 
dicken  Lippen.  Die  rechte  Schulter  ist  hier  wie  dort  (aber  hier  nur  in 
leerer  Nachahmung,  völlig  unmotiviert)  emporgezogen,  das  Sitzen  auf 
dem  Pferde  ist  unklar,  in  schülerhafter  Weise  gegeben.  Das  lier  selbst 
ist  sehr  beachtenswert.  Ich  glaube  mit  Recht  Schüler  und  Meister  hier 
dicht  nebeneinander  erkennen  zu  dijrfen.  Das  Gesicht  des  bartlosen 
Königs  ist  noch  feiner  und  durchgeistigter  geworden  als  in  Pisa.  Die 
Landschaft  ist  reicher,  verrät  Natursinn.  Nur  die  Madonna  hat  einen 
griesgrämigen  Ausdruck.  Darum  allein  darf  man  sie  nicht  den  Gesellen 


a9)  Crowe  u.  Cavalcaselle  rechnen  die  Anbetung  in  Siena  zu  dem  Besten,  was 
das  13.  Jahrhundert  hervorgebracht  hat.  Mit  Recht! 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


r9 


geben.  Vieles  deutet  auch  auf  Niccolo  selbst.  Die  Figur  ist  ihm  aber 
mißlungen.  Die  »Flucht  und  Darstellung«  zeigt  wieder  derbere  Ver- 
hältnisse der  Körper.  Vielleicht  fällt  ihre  Ausführung  in  die  kontraktlich 
festgestellte  Urlaubszeit,  vielleicht  erhielt  der  Meister  eine  Verlängerung 
zur  Ausführung  des  Sarkophagschmuckes  in  Bologna,  jedenfalls  ist  sie  nicht 
so  gelungen  wie  die  eben  genannten  Tafeln.  Auch  das,  was  hier  von 
Niccolo  stammen  dürfte,  ist  schwächer.  Die  Hannah  ist  wohl  sicher 
wieder  eine  matte  Nachahmung  durch  Schülerhände;  dagegen  ist  das 
erschreckte  Zurückbeugen  des  Kindes  ein  gelungener  Zug.  Das  Pferd, 
auf  dem  Maria  sitzt,  wäre  dem  Meister  auch  besser  gelungen.  Der  Alte, 
der  sich  in  den  Bart  greift,  erinnert  (in  glücklicherer  Weise  als  die  oben 
erwähnten  Nachbildungen)  an  eine  ähnliche  Erscheinung  auf  der  »Kreuzi- 
gung« zu  Pisa.  Aon  Äußerlichkeiten  erinnert  auch  hier  eine  sehr  an 
Pisa:  die  bartlosen  Köpfe  sind  beiderseits  stets  größer  gebildet  als  die 
bäitigen.  Der  »Kindermord«  wird  mit  seinen  naturalistisch-grimas- 
sierenden  Köpfen  nicht  so  verblüffen,  wenn  man  sich  des  Johannes  aus 
der  »Kreuzigung«  zu  Pisa  erinnert.  Niccolo  versteht  es,  wilde  Schmerzens- 
ausbrüche ohne  Rücksicht  auf  Schönheit  naturwahr  zu  geben.  Dagegen 
dürften  die  klagenden  Mütter  an  den  Rändern  nicht  vom  Meister  sein. 
Wehmütigen,  stillen  Schmerz  versteht  er  schon  in  Pisa  besser  darzu- 
stellen. 3°)  Man  denke  an  die  » Myrrhen trägerinnen«  der  »Kreuzigung«, 
an  viele  Gestalten  voll  stummer  Verzweiflung  im  »Weltgericht«.  Im 
Gegensatz  zu  Crowe  u.  Ca.,  die  Christus  in  Siena  schlechter  proportio- 
niert finden  als  in  Pisa,  betonen  wir  das  Gegenteil ! Gerade  dieses  ist 
hier  allein  zutreffend.  In  Pisa  sind  die  Hände  fast  so  lang  wie  die 
Unterarme,  der  Hals  zu  kurz,  die  Schultern  zu  hoch,  der  Kopf  zu  groß. 
Auch  hängt  dort  der  Leib  nicht  an  den  Armen,  sondern  diese  sind  nur 
an  den  Balken  angelegt.  In  Siena  sind  sie  steiler  gestellt,  die  Muskeln 
sind  wirklich  gespannt.  Besonders  die  Stellen,  wo  der  Armmuskel  in 
die  Schulter  übergeht,  sind  zu  vergleichen,  denn  hier  zeigt  sich  (in  Siena) 
der  auffällige  Fortschritt  gegenüber  Pisa  im  Studium  des  Nackten.  In 
Pisa  sind  die  Arme  hölzern  und  unlebendig  eingesetzt;  in  Siena  kommen 
an  der  hochgehobenen  Achsel  der  Deltamuskel  und  die  sehnigen  Ansätze 
am  Brustkorb  und  am  Schlüsselbein  vorzüglich  heraus.  Am  rechten 
Oberarm  erscheint  der  zweiköpfige  Muskel  in  richtiger  Plastik  unter  der 
straff  gespannten  Haut,  man  sieht  die  Sehnen  in  der  Armbeuge  und  am 

3°)  Crowe  u.  C.  (a.  a.  O.  S.  223),  die  die  Kanzel  zu  Siena  als  »unzweifel- 
haft Niccolos  eigenes  Werk«  erklären,  finden  dort  »bei  aller  Vorzüglichkeit«  doch  »nur 
kalt-klassische  Schönheit«.  Wie  weit  fassen  da  die  Autoren  wohl  diesen  Begriff,  wenn 
sie  das  hier  so  allgemein  — also  auch  dem  »Kindesmord«  und  »Weltgericht«  gegen- 
über — behaupten ! 


20 


Dr.  Alfred  Möller: 


Handgelenk  ansetzen  usf.  Der  Rumpf,  den  Cr.  u.  C.  besonders  tadeln, 
ist  bedeutend  besser  proportioniert  als  in  Pisa.  In  den  Beinen  ist  frei- 
lich auch  noch  in  S.  mehr  ein  Aufstehen  mit  gespannten  Muskeln  als 
ein  richtiges  Hängen  gegeben.  Doch  ist  die  treffliche  Naturbeobachtung, 
die  sich  an  der  'Bildung  der  Kniescheibe  und  deren  Umgebung  zeigt, 
beachtenswert.  Der  freie  Anschluß  an  Pisa,  die  geniale  V^eiteifiihrung 
ist  nirgends  zu  verkennen.  Nur  wer  sich  ausschließlich  der  eisten  »an- 
tiken Versuche«  Niccolos  freut  und  seine  Wendung  zur  Natur  mit  Be- 
dauern sieht,  kann  so  harte  Urteile  über  Siena  fällen,  wie  Cr.  u.  C.  es  tun. 
Auch  die  sichere  Schilderung  der  Ohnmacht  der  Maria  verrät  den  stets 
fortschreitenden  Meister.  Ebenso  ist  die  Innigkeit  des  Soldaten,  der 
Christus  den  Schwamm  reicht  — schon  in  Pisa  eine  sehr  gute  Leistung 
hier  noch  gesteigert.  Die  Engel  über  dem  Kreuz  sind  in  Pisa  bessei  ge- 
lungen. Auch  die  »Kirche«  hat  in  Siena  ein  mehr  ausdruckslos  teigiges 
Gesicht,  das  hinter  Pisa  zurückbleibt. 

Am  »jüngsten  Gericht«  ist  es  besonders  schwer  zu  unterscheiden, 
was  vom  Meister,  was  von  den  Schülern  ist.  Auffallend  sind  die  vielen 
Mönchsgestalten.  Es  ist  fein  beobachtet,  wie  alle  diese  Figuren  eine 
leichte  Beugung  des  Hauptes  zeigen,  einen  Zug  von  zur  Gewohnheit  ge- 
wordener Demut  der  Haltung,  wie  man  sie  auch  später  auf  der  Aica 
des  hl.  Dominikus  reichlich  sieht. 31)  Neben  peinlich  genauen  Wieder- 
holungen von  Motiven  aus  dem  »Weltgericht«  zu  Pisa  (so  z.  B.  die  Nach- 
bildung eines  Verdammten,  der  in  den  Höllenrachen  geworfen  wird) 
finden  sich  viele  Erweiterungen  und  Vervollkommnungen  des  in  Pisa  Ge- 
brachten. 

Wenn  man  Niccolo  in  seiner  doppelten  Wesenheit  erfaßt,  wenn 
man  erkannt  hat,  daß  »zwei  Seelen«  in  seiner  Künstlerbrust  wohnen,  so 
erscheint  die  Area  di  S.  Domenico  zu  Bologna  eine  so  selbstverständliche 
Folge  seines  Schaffensdranges,  daß  man  hier  den  deutlich  genug  spre- 
chenden Urkunden  nicht  mehr  mit  Gegengründen  zu  begegnen  sucht. 
Was  an  diesem  Werk  dem  Guglielmo,  was  dem  Niccolo  gehört,  das  zu 
entscheiden  soll  hier  nicht  unternommen  werden.  Wir  wenden  uns 
einem  Werk  zu,  das  bald  in  die  Früh-,  bald  in  die  Spätzeit  von  Niccolos 
Schaffen  gelegt  wird. 

Wir  meinen  die  Darstellungen  an  St.  Martin  in  Lucca. 

»Als  früheste  Arbeit  des  Niccolo  kennzeichnen  sich  die  Skulpturen 
an  einem  Seitenportal  von  S.  Martino  in  Lucca«,  sagt  Bode  im  »Cicerone« 
(S.  17  unten).  Er  nimmt  aber  nicht  das  Jahr  1233,  das  Vasari  leicht- 
fertig angibt,  als  Datum  für  die  Entstehung  an,  sondern  denkt  — ohne 


3*)  Vgl.  Schnaase,  a.  a.  O.  V.  S.  282  f.- 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


2 I 

sich  bestimmter  auszusprechen  — an  ein  späteres,  natürlich  aber  doch 
vor  der  Arbeit  in  Pisa  (die  Kanzel  in  der  Taufkapelle  v.  J.  1260) 
gelegenes.  32)  Schmarsow  spricht  sich  bedingungslos  für  Niccolo  Pisano 
als  Schöpfer  der  Reliefs  aus,  nur  setzt  er  ihre  Vollendung  nach  der 
Kanzel  zu  Pisa,  »etwa  um  das  Jahr  1263«  an. 33)  Schmarsow  gewinnt 
dieses  Jahr  1263  vorerst  (S.  110 — 03)  aus  der  Baugeschichte  von 
S.  Martino  in  Lucca.  Er  zitiert  nach  Ridolfi  (L’  arte  in  Lucca  studiata 
nella  sua  cattedrale  1882)  einen  Beschluß  v.  J.  1261,  der  »pro  reforma- 
tione  et  reparatione  Campanilis  ecclesie  S.  Martini  Lucani«  gefaßt  wird. 
Daraus  schließt  Schmarsow,  daß  damals,  da  sich  die  Sorge  der  Bauherren 
anderen  Teilen  der  Kathedrale  zuwendete,  die  Vorhalle  schon  vollendet 
oder  die  Arbeit  doch  schon  vergeben,  der  Meister  für  sie  schon  gefunden 
worden  sei;  daß  also  die  Arbeiten  keinesfalls  lange  vor  diesem  Beschlüsse, 
also  nicht  lange  vor  1261  zu  setzen  seien.  Das  Jahr,  das  die  Inschrift, 
das  Vasari  nennt  — 1233  — , ist  damit  freilich  ausgeschlossen,  nicht  aber, 
ob  die  Reliefs  nicht  doch  noch  vor  der  Kanzel  zu  Pisa,  also  vor  1260 
geschaffen  seien.  Das  aber  gerade  ist  überaus  wichtig.  Da  reichen  die 
baugeschichtlichen  Vermerke,  die  Schmarsow  bringt,  nicht  aus.  Auch  er 
geht  daher  zu  einer  stilistischen  Untersuchung  als  letztem  und  ver- 
läßlichstem Rettungsmittel  über,  zu  einem  Vergleich  mit  der  Kanzel  in 
Pisa.  Dabei  findet  er,  daß  die  Reliefs  in  Lucca  mehr  Kunst  verraten 

31)  Vasari  folgt  in  seinen  Angaben  (Ed.  Le  Monnier  I,  S.  263)  lediglich  der 
Zahlenangabe,  die  seitwärts  an  einer  Wand  der  Vorhalle  — also  nicht  unter  oder 
neben  den,  über  der  linken  Pforte  angebrachten,  hier  in  Betracht  kommenden  zwei 
Reliefs  — auch  heute  noch  sichtbar,  steht.  Dort  heißt  es:  »Hoc  opus  cepit  fieri  Abe- 
lenato  et  Aldibrando  operariis  A.  D.  MCCXXIII.«  Nun  ist  es  natürlich  jedem  unbe- 
nommen, bei  »Hoc  opus«  an  die  Vorhalle  selbst,  an  eines  der  Reliefs  oder  an  beide  — 
Darstellung  der  Geburt  und  Kreuzabnahme  — zu  denken.  Förster  spricht  freilich  (»Bei- 
träge« S.  16)  von  diesen  Reliefs  als  von  Arbeiten,  die  »urkundlich«  Arbeiten  des 
Niccolo  seien.  Nun  aber  erfahren  wir  von  ihm  selbst  (Ital.  Kunst,  1870;  2.  Bd.  S.  108), 
welche  »Urkunden«  er  im  Auge  hatte.  Er  sagt:  »Ich  habe  als  Quelle  ....  in  meinen 
Notizen  aufgezeichnet:  Memorie  e Documenti  per  servire  all’  istoria  del  ducato  di  Lucca 
1822  T.  VIII,  leider  ohne  die  betreffende  Stelle  zu  zitieren  und  ohne  sie 
aufsuchen  zu  können,  da  die  »Memorie«  hier  nicht  zur  Hand  sind.«  Die  »be- 
treffende Stelle«  aber,  deren  sich  Förster  nicht  entsinnt,  ist  wieder  nur  die  — Inschrift 
aus  der  Vorhalle  (vgl.  auch  Schnaase,  Gesch.  d.  bildend,  Künste,  Bd.  V,  S.  285  f.,  An- 
merkung 2).  Wir  müssen  am  besten  auf  das  bauen,  was  sich  in  gewissenhaftem  Prüfen 
und  Vergleichen  aus  stilistischen  Eigentümlichkeiten  zur  Feststellung  der  Künstlerhand 
gewinnen  läßt. 

33)  S.  Martin  in  Lucca,  S.  1 1 1 ff.  Man  findet  eingehende . Auseinandersetzungen 
über  die  verschiedenen  Hypothesen,  nach  denen  die  Reliefs  bald  früher,  bald  später 
angesetzt,  bald  dem  Niccolo,  bald  dem  Guglielmo  u.  dgl.  m.  zugewiesen  werden,  bei 
Dobbert  S.  62  Anmerkung  3 ff. ; bei  Schmarsow  S.  uff.;  bei  Schnaase  in  den  An- 
merkungen V.  S.  285  f. 


Dr.  Alfred  Möller: 


2 2 

als  die  genannte  Kanzel,  daß  sie  aber  doch  noch  vor  der  Kanzel  von 
Siena  anzusetzen  sind.  So  wird  schließlich  das  Jahr  1263  als  ungefährer 
Zeitpunkt  der  Entstehung  der  Reliefs  von  S.  Martin  zu  Lucca  angesetzt. 

Die  Schlüsse,  die  Schmarsow  aus  dem  urkundlich  gegebenen  Be- 
schluß von  1261  zieht  — der  Übergang  des  Interesses  der  Bauherren  auf 
den  Turm  setze  voraus,  daß  die  Vorhalle  durchaus  vollendet  (seit  wann 
denn?!)  oder  doch  alle  Arbeit  dafür  vergeben  gewesen  sei  — , haben  in 
ihrer  Abgrenzung  nach  oben  (frühestes  Datum)  nichts  durchaus  Unan- 
fechtbares und  Beweisendes.  Zur  Feststellung  aber,  daß  die  Reliefs  in 
Lucca  erst  nach  der  Kanzel  zu  Pisa  entstanden  sein  können,  dazu  sind 
die  stilistischen  Anhaltspunkte,  die  ein  gewissenhafter  Vergleich  beider 
ergibt,  von  weit  überzeugenderer  Wirkung  und  darum  viel  wertvoller  als 
alle  Vermutungen  und  Annahmen,  die  sich  an  die  urkundlich  feststehen- 
den Einzelheiten,  wie  sie  Schmarsow  zitiert,  knüpfen  lassen.  Das  »sichere« 
schriftliche  Zeugnis,  das  dem  Laien  immer  so  sehr  imponiert,  muß  der 
Kunstgelehrte  oft  weit  hinter  die  anderen  Hilfsmittel  seiner  Forschung 
stellen,  gerade  so  wie  der  scharfsinnige  Arzt  eine  selbst  durchgeführte 
Untersuchung  am  Kranken  verläßlicher  finden  wird  als  dessen  genaueste 
Angaben  über  das,  was  er  fühlt  und  leidet.  Sie  werden  ihn  lediglich 
bei  seiner  Aufnahme  unterstützen,  aber  sehr  oft  wird  er  ihre  Bedeutung 
auf  Kosten  eigener  Beobachtung  schmälern  und  tiefer  stellen  müssen. 

Gehen  wir  nun  gleich  in  medias  res  und  setzen  wir  uns  vorerst 

mit  der  Annahme  Försters,  Bodes  u.  a.  auseinander.  Dabei  möge  — da 

die  Reliefs  der  »Kreuzabnahme«  und  der  »Geburt«  durchaus  nicht  ohne 
/ 

Verschiedenheiten  in  Technik  und  Auffassung  sind  — vorerst  nur  die 
erstere  Berücksichtigung  finden.  Kann  nun: 

1.  die  »Kreuzabnahme«  in  Lucca  das  Erstlingswerk  des  Niccolo 
Pisano  sein?  Ich  glaube  nicht,  daß  es  viel  Fragen  im  Gebiete  der 
Kunstwissenschaft  gibt,  auf  die  man  sicherer  und  ruhiger  mit  »nein« 
antworten  dürfte,  als  auf  diese.  Wir  haben  gesehen,  wie  Niccolo 
Pisano  auf  der  Kanzel  zu  Pisa  erst  mühsam  den  Weg  suchte,  um  Inhalt 
und  Form  einander  anzupassen,  wie  er  erst  darnach  rang,  für  die  ihm 
durch  sein  Studium  und  durch  seine  Neigung  von  Anfang  an  geläufigen 
Formen  den  entsprechenden  passenden  Ausdruck  zu  geben ; wie  er  ihn 
erst  vergebens  sucht,  ungeschickt  verfehlt,  indem  er  fast  unverwandelt 
oder  schlecht  geändert  in  kalter,  nüchterner  Nachbildung  antike  Figuren 
kurzweg  in  seine  Darstellung  herübernimmt.  Wir  haben  gesehen,  wie  er 
erst  im  Verlaufe  des  Werkes  den  Weg  zu  ungezwungener  Darstellung  ent- 
deckte, wie  er  erst  auf  den  letzten  Reliefs  den  längst  erstrebten  Einklang 
zwischen  Inhalt  und  Ausdruck  erreicht,  indem  er  direktes  Naturstudium 
über  ängstliche  Nachahmung  der  Alten  setzte. 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


2 3 


Und  nun  hier?  Da  ist  von  einer  willkürlichen  Entlehnung  einzelner 
zur  Nachahmung  besonders  reizender  antiker  Gestalten  nichts  zu  finden. 
Keine  Figur  fällt  aus  dem  Umkreis  der  übrigen  in  dem  Maße  heraus, 
wie  es  in  Pisa  nicht  nur  dem  Ausdruck,  sondern  auch  den  Körperformen 
nach  der  Fall  war.  Während  dort  z.  B.  auf  der  »Geburt«  als  dem  in 
Anordnung  und  perspektivischer  Sicherheit  am  tiefsten  stehenden  Werke 
die  Körpermaße  ohne  Rücksicht  auf  das  Ferner  und  Näher  zum  Auge  des 
Beschauers  gegeben  erscheinen,  sucht  man  hier  vergeblich  nach  so  über- 
aus auffälligen  Unregelmäßigkeiten.  In  dieser  Beziehung  zeigt  sich  also 
wie  auch  in  der  größeren  Gleichmäßigkeit  und  Einheit  der  Stimmung 
und  des  Ausdruckes  ein  starkes  Hinauswachsen  über  die  Kanzel  zu 
Pisa.  Kein  Tasten  und  Suchen  mehr,  sondern  ein  sicheres  Vorgehen 
spricht  daraus.  Und  das  Werk  sollte  vor  der  Kanzel  zu  Pisa  ent- 
standen sein? 

2,  Gehört  dieses  Werk  überhaupt  dem  Niccolo  Pisano  an?  Es 
ist  auf  den  ersten  Blick  klar,  daß  lebhafte  Beziehungen  zwischen  der 
Kreuzabnahme  und  dem  Werke  zu  Pisa  herrschen,  trotzdem  das  Relief 
durch  Überschmieren  mit  dunkler  Farbe  u.  dgl.  arg  beschädigt  und 
teilweise  entstellt  ist.  Beiderseits  finden  wir  — das  »Weltgericht«  und 
zum  Teil  auch  die  »Kreuzigung«  ausgenommen!  — dieselben  derben, 
groben  Körperverhältnisse,  die  starkknochigen,  etwas  untersetzten  Gestal- 
ten mit  den  großen  Köpfen.  Wir  finden  den  massigen,  scharf  brüchigen 
Faltenwurf  (dieser  ähnelt  am  meisten  dem  in  der  »Darstellung«),  die 
schleppenden  Gewänder,  die  oft  in  Zipfeln  ein-  und  ausschlagenden 
Gewandenden.  Auch  die  Angst  vor  dem  leeren  Raume  zeigt  sich  viel- 
fach und  wird  zum  Teil  ganz  ähnlich  wie  bei  der  Verkündigung  in  Pisa 
durch  Gewandbauschen  ungeschickt  verhüllt  (vgl.  u.  a.  die  Verkündigungs- 
szene am  ersten  Relief  zu  Pisa).  Ein  Hinausgehen  über  die  ersten  Reliefs 
an  der  Kanzel  im  Baptisterium  zu  Pisa  zeigen  hier  aber  sogar  kleine 
Einzelheiten.  So  setzt  z.  B.  das  Vorkommen  von  Besatzstreifen,  die  in 
Pisa  erst  an  der  »Kreuzigung«  erscheinen,  wohl  diese  wie  das  folgende 
Weltgerichtsrelief  voraus.  Nebst  alldem  zeigen  sich  aber  auch  manche 
Unterschiede  zwischen  Pisa  und  Lucca,  Unterschiede,  die  an  der  An- 
nahme genauester  Kenntnis  der  Pisaner  Kanzel  für  den  Schöpfer  der 
»Kreuzabnahme«  zwar  nichts  ändern,  dagegen  aber  deutlich  von  Niccolo 
Pisano  als  Urheber  weg  auf  eine  andere  Hand  weisen.  So  verraten  alle 
Köpfe  wohl  deutliche  Anklänge  an  die  Art  des  Meisters,  aber  zugleich 
auch  deutliche  Abweichungen.  Sie  sind  durchwegs  teigiger,  voller,  weich- 
licher gebildet  als  dort.  Ein  Kopf  wie  der  der  Knienden  links  wäre 
dem  Niccolo  Pisano  auch  vor  der  Fertigung  der  Kanzel  zu  Pisa  nicht 
recht  zuzutrauen.  Sein  Gesichtstypus  ist  ein  so  ausgeprägter,  daß  man 


24 


Dr.  Alfred  Möller: 


eine  solche  Abweichung  wie  hier  bei  ihm  nicht  vermuten  kann.  Immer 
tritt  bei  ihm  das  Knochengerüst  des  Schädels  — vor  allem  der  Backen- 
knochen deutlich  unter  der  fleischigen  Hautdecke  durch;  die  Züge 
sind  in  bestimmter  Weise  markiert  (Einziehung  an  den  Mundwinkeln,  an 
den  Nüstern  usf.).  Hier  findet  sich  eine  solche  nur  an  einer  Stelle 
und  zwar  an  einer,  an  der  sie  bei  Niccolo  nie  erscheint:  im  Kinne. 
Lippen-,  Nasen-  und  Augenbildung  weichen  ganz  von  des  Meisters  Art 
ab.  Auch  der  unförmliche,  schwammige,  vorne  aufgetriebene  Hals  findet 
sich  niemals  bei  Niccolo.  Daß  der  Johannes  im  Ausdruck  an  den  der 
Kreuzigung  zu  Pisa  anschließt  und  wieder  hinter  diesem  zurückbleibt, 
statt  ihn,  wie  man  erwarten  sollte,  zu  übertreffen,  erkennt  man  auch 
leicht;  ebenso  das  Abweichen  seiner  Kopftorm  von  der  entsprechenden 
zu  Pisa.  Der  Leib  Christi  erinnert  (selbst  mit  seinen  schlechten  Seiten, 
Armen  und  Schultern)  an  den  des  Gekreuzigten  zu  Pisa.  Aber  auch  er 
ist  hier  weichlicher,  teigiger  als  dort  gebildet.  Noch  aus  einem  anderen 
Umstand  ergibt  sich,  daß  das  Werk  hier  die  vollständige,  vollendete 
Kanzel  zu  Pisa  durchaus  voraussetzt.  Die  Gewandbildung  erinnert  zum 
Teil  noch  an  die  der  »Darstellung«,  ist  aber  nicht  mehr  so  hart  und 
eckig  wie  z.  B.  an  der  Maria  der  »Geburt«  in  Pisa.  Die  Brüche  sind 
weicher,  biegsamer  und,  wie  schon  gesagt,  mit  Details  versehen,  die  erst 
auf  den  letzten  Pisaner  Reliefs  — »Kreuzigung«  und  »Weltgericht«  — 
auftauchen. 

Die  Frage:  »Wer  ist  der  Meister?«  läßt  sich  nur  dahin  beantworten, 
daß  es  sich  nicht  um  Niccolo  selbst  handeln  kann,  sondern  daß  das 
Relief  eine  Schülerarbeit  ist.  Hans  Semper  hat  an  Guglielmo  gedacht 
und  stützt  seine  Ansicht  durch  einen  Vergleich  mit  dem  Werke  des  Fraters 
zu  Pistoja.  34)  Nun  ist  aber  gerade  Guglielmos  Ausdrucksfähigkeit  — 
schon  im  allgemeinen  nicht  sehr  bedeutend  — an  seiner  Kanzel  zu 
Pistoja  weit  hinter  dem  hier  genannten  Relief  zurückbleibend,  und  Dobbert 
hat  völlig  recht,  wenn  er  schon  wegen  der  »Innigkeit«,  die  das  Relief 
in  Lucca  zeigt,  von  Guglielmo  absieht.  35)  In  Lucca  stehen  ja  die  Figuren 
nicht  nur  nicht  mehr  so  steif  und  drahtpuppenartig  nebeneinander  wie 
auf  den  ersten  Tafeln  zu  Pisa,  sie  sind  nebstbei  durch  ein  gemeinsames 
Band  — den  Schmerz  — wundersam  zusammengehalten.  Und  diese 
Kunst  ist  dem  Frater  nicht  zuzutrauen.  Guglielmos  Kanzelreliefs  in 
Pistoja  muten  nüchtern,  kühl,  fast  leer  an. 

Das  Relief  unter  der  Abnahme  vom  Kreuze  stellt  die  »Geburt« 
und  die  »Anbetung  durch  die  Könige«  dar.  Die  reichere  Anordnung, 


34)  Zeitschrift  f.  bildend.  Kunst  1871,  VI.  Bd.  S.  365. 

35)  a.  a.  O.  S.  65  f. 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


25 


die  größere  Leichtigkeit  in  den  Bewegungen,  die  zartere  Bildung  der 
Gestalten,  der  zum  Teil  viel  feinfaltigere  Wurf  der  Gewänder,  die 
dünneren  Stoffe  lassen  sofort  an  Siena  denken.  Tatsächlich  sprechen 
sich  die  meisten  Autoren  sogleich  bei  Erwähnung  des  Reliefs  dahin  aus, 
daß  dieses  der  Kanzel  zu  Siena  näher  stehe,  als  der  zu  Pisa.  An  letztere 
erinnert  aber  hier  doch  etwas  sehr  deutlich:  die  Verkündigung.  Man 
beachte  sie  im  ganzen  und  in  den  Einzelheiten  genau  und  vergleiche. 
Diese  Verkündigungsszene  eben  suchte  der  Schüler  in  Siena  vergebens. 
Er  mußte  daher,  wohl  oder  übel,  seinem  Vorbild  nach  Pisa  folgen.  Er 
nimmt  von  dort  die  Haltung  des  Engels  und  der  Madonna  (wie  er 
vorne  das  Gewand  faßt!  wie  sie  die  Spindel  trägt!)  und  behält  sogar 
ein  echt  schülerhafter  Zug!  — bei,  wie  hinter  dem  Engel  überflüssiges 
Gewand  sich  bauscht  und  rücksichtsvoll  den  Reliefgrund  verdeckt.  Da- 
bei bleibt  er  aber  noch  hinter  dieser  schlechten  Art  eines  Ausweges, 
dem  Freilassen  von  Raum  zu  entgehen,  zurück.  Der  Meister  hat  in  Pisa 
— selbst  an  seinen  Anfangsleistungen  sind  solche  plumpe  Folgen  des 
horror  vacui  vereinzelt  — auf  seiner  ersten  Tafel  das  doch  • immer 
noch  viel  geschickter  gemacht.  Hier  in  Lucca  haben  die  Bauschen  und 
die  sich  stauenden  Falten  keinen  Haltpunkt  und  ihre  Lage  ist  so  nicht 
einmal  in  ärmlicher  Weise  begründet.  Auffallenderweise  aber  deutet 
ein  Zug  dicht  daneben  nicht  nur  über  Pisa,  sondern  auch  über  Siena 
hinaus,  ein  Zug,  dessen  Erklärung  Schmarsow  bei  seiner  Annahme  schul- 
dig bleiben  muß:  die  ausgesprochen  gotische  Architektur  im  Hinter- 
gründe rechts  von  Maria  mit  den  Spitzbogen  und  der  von  zierlichem 
Maßwerk  durchbrochenen  und  gelösten  Wand.  Man  halte  sich  einmal 
die  »Geburt«  und  »Anbetung«  der  Kanzel  zu  Siena  daneben,  beachte 
die  wesentlich  romanischen  baulichen  Gebilde  daselbst  und  man  wird 
sich  der  oben  ausgesprochenen  Ansicht,  daß  wir  hier  Einwirkungen  einer 
späteren  Zeit  haben,  nicht  verschließen  können.  Im  übrigen  erinnert  der 
Faltenwurf  (selbst  bei  der  »Verkündigung«  bemerkt  man  in  dieser  Be- 
ziehung — dünnere  Stoffe!  — eine  Wandlung  gegenüber  Pisa)  durch- 
aus an  Siena.  Wenig  ist  mehr  von  dem  Massigen,  Schwerfälligen,  Scharf- 
brüchigen der  ersten  Reliefs  von  Pisa  zu  finden.  Der  Faltenwurf  ist  zier- 
licher, knitteriger,  weicher  geworden.  Wenn  schon  die  »Kreuzabnahme« 
durch  eine  geringere  Wucht  der  Auffassung  des  Körperlichen,  dagegen 
durch  reichere  Beseelung  von  der  »Geburt«  und  »Anbetung«,  der  »Dar- 
stellung« und  selbst  der  »Kreuzigung«  in  Pisa  abwich,  so  ist  hier  alles 
zur  größeren  Zierlichkeit  und  Feinheit  der  Sieneser  Kanzel  gemildert.  Die 
Köpfe  sind  — wie  dort  dem  Verhältnisse  der  Körper  entsprechend  — 
kleiner  geworden.  Auch  im  übrigen  ist  ein  Ebenmaß  gewonnen,  das 
stark  an  das  zweite  Kanzelwerk  Niccolos  erinnert  (die  kleinen  Hände! 


2 6 


Dr.  Alfred  Möller: 


Man  vergleiche  die  beiden  Marien  daraufhin  mit  der  zu  Pisa).  Die 
Art,  wie  Maria  lagert,  erinnert  trotz  der  abweichenden  Stellung  auffallend 
an  Siena  (das  Lager  selbst!  die  Anordnung  des  Gewandes!).  Daß  wir 
dabei  einen  Künstler  vor  Augen  haben,  der  für  das  Zarte  und  Innige 
Sinn  und  selbständigen  Ausdruck  hat,  wurde  schon  anläßlich  der  »Kreuz- 
abnahme« bemerkt.  Er  gibt  der  Madonna  (der  Kopf  fehlt  leider!) 
einen  Niccolo  in  den  ersten  Reliefs  völlig  fremden  Zug  von  inniger, 
mütterlicher  Liebe,  der  übrigens  nicht  gegen  die  Überlieferung  ist.  36) 
Maria  hat  die  linke  Hand  auf  die  Krippe  des  Kindes  gelegt  und  zieht 
vom  Kopf  des  Kleinen  kosend  eine  Hülle  zurück. 

Als  ein  schlechter  Schüler  Niccolos  verrät  sich  uns  der  Schöpfer 
des  Reliefs  von  Lucca  durch  die  Bildung  der  Tiere.  Diese  gelingen 
ihm,  im  auffallendsten  Gegensatz  zum  Geschick  und  der  Art  Niccolo 
Pisanos  für  diese  Dinge,  in  keiner  Weise.  So  zeigen  sich  an  den 
Pferden  rechts  neben  dem  Bestreben,  Motive  des  Meisters  genau  zu  wieder- 
holen (das  grasende  Pferd  mit  Beinen  wie  aus  Holz  oder  Ton!),  eine 
starke  Unfertigkeit  und  mangelndes  Verständnis  für  die  Organisation  des 
Tierleibes.  Auch  die  Widder  unten  — wie  trefflich  sind  die  Tiere  auf 
der  ersten  Tafel  in  Pisa!  — sind  trotz  aller  Anlehnung  an  die  Arbeiten 
in  Siena  und  Pisa  (der  Hund  auf  der  Decke!)'  schwächliche  und  unge- 
schickte Leistungen,  die  ebenfalls  dem  Meister  nicht  zuzutrauen  wären. 
An  Siena  erinnern  auch  die  Besatzstreifen  am  Lager  der  Maria,  über 
dem  Kinde  usf. 

Wann  sind  demnach  die  Reliefs  anzusetzen?  Bei  allen  Verschieden- 
heiten — diese  erklären  sich  völlig  ausreichend  durch  die  verschiedenen 
Vorbilder:  Pisa  für  die  »Kreuzabnahme«,  Siena  für  die  »Geburt  und  An- 
betung« — weisen  in  vielen  gemeinsamen  Zügen  mit  Bestimmtheit  auf 
eine  Hand.  In  beiden  erscheint  ähnlich  der  Typus  der  Köpfe  und  der 
Gesichter,  die  ety/as  teigige  Behandlung  des  Fleisches  an  Antlitz  und 
Armen  der  Gestalten,  die  Wiedergabe  der  Falten,  d.  h.  ihrer  Brüche,  mit 
den  eigentümlich  scharfen,  schmalen,  gegen  den  Beschauer  gerichteten 
Graten,  wie  sie  bei  Niccolo  gar  nicht,  bei  Guglielmo  in  bedeutend 
schwächerer  Ausprägung  auftreten.  Das  alles  ist  oben  wie  unten  in  un- 
verkennbarer größter  Ähnlichkeit  gegeben. 

Man  wird  die  »Kreuzabnahme«  nicht  unmittelbar  nach  Vollendung 
der  Pisaner  Kanzel  ansetzen  dürfen,  denn  die  freiere  selbständige  Ver- 
arbeitung des  dort  Gesehenen  setzt  voraus,  daß  die  von  dort  über- 
nommenen Eindrücke  längere  Zeit  auf  den  Künstle?  von  Lucca  ein- 


36)  Er  findet  sich  unter  anderem  in  ähnlicher  Weise  schon  im  griechischen 
Evangeliar  der  Vaticana  Nr.  2.  Vgl.  Schmidt  a.  a.  O.  S.  21  (mit  Abbildung). 


Das  Naturgefühl  bei  Niccolo  Pisano. 


27 


gewirkt  haben,  ehe  er  sie  so  umgeformt  verausgaben  konnte.  Die  »Geburt 
und  die  Anbetung«  dürften  aber  dann  doch  bald  auf  die  »Kreuzabnahme« 
gefolgt  sein,  denn  ihre  Eindrücke  scheinen  beim  Künstler  noch  von 
frischerer,  mehr  äußerlicher,  weniger  verarbeiteter  Wirkung  als  die  aus 
Pisa.  Die  letzteren  sind  aber  immerhin  sehr  deutlich.  Erinnerungen 
daran  klingen  durch  das  zweite  Relief  durch  und  behaupten  sich  einen 
Platz  neben  den  reicheren,  deutlicheren  Anlehnungen  an  Siena.  (Nicht 
nur  in  der  »Verkündigung«,  sondern  auch  im  Kopf  des  bartlosen  Königs, 
der  unverkennbar  auf  Pisa,  nicht  auf  Siena  zurückgeht,  in  einigen  Tier- 
motiven, wie  der  Hund  auf  der  Decke  u.  a.  m.).  Streng  genommen  setzt 
das  zweite  Relief  von  Lucca  in  seinen  Motiven  usf.  nur  die  Kenntnis 
der  ersten  Tafeln  auf  der  Kanzel  von  Siena  voraus;  nur  der  Spitzgiebel 
weist  um  einiges  darüber  hinaus,  wenn  auch  immer  nur  eine  Zeit  anzu- 
nehmen bleibt,  die  die  Erinnerungen  an  Niccolos  Werk  zu  Pisa  noch 
nicht  verblassen  und  durch  nichts  Neues  verdrängen  ließ.  Wir  werden 
also  folgendes  annehmen  können:  Das  Werk  zu  Lucca  kann  von  1264 
an  entstanden  sein.  1270  konnte  es  vollendet  sein.  In  diesen  Grenzen 
ist  die  Zahl,  die  die  Begrenzung  nach  unten  gibt  — das  Jahr  1264  — , 
mit  viel  größerer  Sicherheit  zu  nennen,  als  die  nach  oben.  Besondere 
Umstände  könnten  ja  die  Ausführung  des  Werkes,  seinen  ruhigen  Fort- 
gang u.  dgl.  um  einige  Zeit  verschleppt  und  die  Vollendung  verzögert 
haben.  Immerhin  ist  als  Zeit  der  Ausführung  die  Zeit  von  1264 — 1270 
mit  ziemlicher  Gewißheit  zu  nehmen,  alle  früheren  Angaben  jedenfalls 
als  falsch  zu  verwerfen,  und  das  Werk  als  Arbeit  eines  talentierten 
Nachahmers  Niccolo  Pisanos,  nicht  als  das  des  Meisters  zu  betrachten. 

Mit  der  Beachtung  des  reichen  Natursinnes  bei  Niccolo  Pisano 
wird  auch  der  Weg  zum  Verständnis  seiner  Herkunft  nicht  mehr  zweifel- 
haft sein  können.  Die  byzantinische  Ausdruckslosigkeit  der  südlichen 
Kunst  kann  nicht  Pathe  bei  seinen  Werken  gestanden  haben.  Die  Ver- 
schiedenheit zwischen  den  antiken  Arbeiten  aus  Apulien  mit  seinen  Ge- 
stalten erscheint  nicht  mehr  verwunderlich.  37)  Im  Norden  aber,  wo  ein 
Benedetto  Antelami  schuf,  finden  sich  reiche  Vorbereitungen  auf  die 
ausdrucksvolle  Darstellung,  die  Niccolo  Pisanos  Werke  dem  unbefangenen 
Auge  zeigen.  Seine  künstlerische  Heimat  war  Toskana.  Seine  wirkliche 
zu  finden,  mag  dem  Historiker  reizvoll  sein.  Dem  Kunsthistoriker  wird 
es  genügen,  die  erstere  zu  erkennen  und  nachzuweisen. 


37)  Viel  eher  sind  antike  Gestalten  wie  die  sog.  Madonna  Chinsica  in  Pisa  (bei 
Schubring,  a.  a.  O.  Abb.  5)  in  ihrer  Verwandtschaft  zu  seinen  Typen  zu  beachten. 


Der  Meister  des  Paradiesesgartens. 

Von  Carl  Gebhardt. 

Wer  sich  in  der  Einsamkeit  jenes  kleinen  schwäbischen  Dorfes  in 
die  gemütvolle  und  naturfreudige  Kunst  des  Lucas  Moser  liebevoll 
versenkte,  in  dem  mußte  mit  Notwendigkeit  die  Frage  entstehen,  woher 
denn  diese  Kunst  ihren  Ursprung  genommen  habe.  Sollte  man  mit 
Janitschek  (Geschichte  der  deutschen  Malerei  S.  245)  annehmen,  daß 
Lucas  Moser  auf  seiner  Wanderung  auch  nach  Köln  gekommen  sei 
und  von  der  Schule  Meister  Wilhelms  die  bestimmenden  Eindrücke  emp- 
fangen habe?  Dagegen  spricht,  daß  der  Zusammenhang  mit  kölnischer 
Art  durchaus  nicht  ein  so  inniger  ist,  wie  Janitschek  meinte.  Sollte 
man  gar  mit  Schmarsow  (Die  oberrheinische  Malerei  und  ihre  Nach- 
barn um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts)  die  Datierung  des  Tiefenbronner 
Altars  1451  statt  1431  lesen  und  in  Moser  einen  Schüler  der  Nieder- 
länder und  zwar  des  Meisters  von  Fl  e malle  erblicken?  Dagegen 
spricht  wieder,  abgesehen  von  der  meines  Erachtens  ganz  unzweideutigen 
Jahreszahl  1431,  daß  sich  Beziehungen  zu  den  Niederländern  da,  wo 
man  sie  am  ehesten  erwarten  sollte,  in  der  Technik  gar  nicht  zeigen, 
und  daß  die  Landschaft  durchaus  von  der  niederländischen  verschieden 
ist.  So  scheint  es  denn  am  besten,  anzunehmen,  worauf  Reber  (Stil- 
entwicklung der  schwäbischen  Tafelmalerei  S.  368  — 370)  hinweist,  daß 
Moser  mit  der  Miniaturkunst  in  Beziehung  gestanden  sei  und  seine 
Schule  am  Oberrhein  durchgemacht  habe.  Dann  mag  er  als  ein  Künstler, 
der  bereits  seine  eigene  Sprache  besaß,  nach  Oberitalien  gekommen  sein 
und  aus  der  Werkstatt  Pisanellos  sich  seine  Technik  geholt  und  an 
den  Werken  dieses  Meisters  seinen  Sinn  für  die  Auffassung  der  Land- 
schaft gebildet  haben.  Welcher  Art  die  Kunst  war,  die  vor  der  Zeit, 
da  Lucas  Moser  seinen  Altar  schuf,  in  den  Gegenden  des  Oberrheins 
blühte,  darüber  können  uns  zwei  Werke  belehren,  in  denen  ich  die  Hand 
eines  und  desselben  und  zwar  eines  hochbedeutenden  Künstlers  zu  er- 
kennen glaube. 

Im  Städtischen  Museum  zu  Frankfurt  befindet  sich  ein  kleines, 
mit  feinem  Pinsel  in  leuchtenden  Farben  ausgeführtes  Bild,  der  sog. 


Der  Meister  des  Paradiesesgartens. 


29 


Paradiesesgarten.  In  der  traulichen  Stille  des  hortus  conclusus,  in- 
mitten der  herrlichsten  Blumen  aller  Art  sitzt  die  Madonna,  in  ihrem 
Gebetbuche  lesend;  zu  ihren  Füßen  läßt  sich  das  Christkind  von  der 
heiligen  Caecilia  im  Zitherspiele  unterrichten,  heilige  Jungfrauen  pflücken 
Kirschen  oder  schöpfen  Wasser  aus  dem  Brunnen,  während  unter  einem 
Baume  St.  Georg  und  St.  Michael,  denen  sich  ein  dritter  Ritter  gesellt, 
alle  in  feiner,  modischer  Tracht,  sich  niedergelassen  haben.  Dieses  Bild, 
das  neuerdings  wieder  auf  der  Düsseldorfer  Ausstellung  die  Aufmerksam- 
keit auf  sich  lenkte,  war  bezüglich  seiner  Herkunft  von  jeher  Gegenstand 
lebhafter  Kontroverse.  Janitschek  (Geschichte  der  deutschen  Malerei 
S.  212)  sieht  es  als  ein  kölnisches  Werk  aus  der  Schule  Meister  Wilhelms 
an,  in  Übereinstimmung  mit  den  älteren  Beurteilungen  von  Kugler,  Hotho, 
Schnaase  und  Woltmann -Woermann;  Aldenhoven  (Geschichte  der  Kölner 
Malerschule  S.  113  f.,  342)  verlegt  es  gar  nach  Westfalen,  während 
Reber  und  Bayersdorfer  (im  Klassischen  Bilderschatz  Bl.  1653)  es  der 
mittelrheinischen  Schule  zuschreiben. 

Das  zweite  Werk,  das  nach  meiner  Ansicht  die  Hand  und  den 
Geist  desselben  Künstlers  zeigt,  ist  die  Madonna  in  den  Erdbeeren 
im  Museum  der  Stadt  Solothurn.  Durch  die  kunsthistorische  Ge- 
sellschaft für  photographische  Publikationen  (1903,  Tafel  V)  der  Forschung 
zugänglich  gemacht,  ist  dieses  Gemälde  von  Schmarsow  (Die  ober- 
rheinische Malerei  etc.  S.  82  — 85)  ausführlich  besprochen  und  für  das 
Werk  eines  oberrheinischen  Meisters  nicht  vor  1440 — 1450  erklärt  wor- 
den. Burckhardt  dagegen  sah  darin  ein  Werk  der  alten  oberrheinischen 
Schule  aus  dem  Anfänge  des  15.  Jahrhunderts,1)  und  in  Übereinstimmung 
mit  dieser  Ansicht  datiert  es  der  Solothurner  Katalog  um  das  Jahr  1420. 
Es  zeigt  die  Madonna  auf  einem  Erdbeerbeete  sitzend,  auf  ihren  Knieen 
ein  aufgeschlagenes,  mit  hebräischen  Lettern  bedecktes  Gebetbuch  haltend, 
wie  sie  dem  ihr  zur  Seite  am  Boden  sitzenden  Kinde  mit  der  rechten 
Hand  eine  weiße  Rose  hinreicht.  Der  Knabe  hält  mit  der  Rechten 
einen  glasierten  Krug  an  sich,  in  dem  die  Beschreibung  des  Solothurner 
Katalogs  vielleicht  mit  Recht  ein  Tränenkrüglein  vermutet;  mit  der 
Linken  will  er  die  Gabe  der  Mutter  empfangen,  nach  der  er  Kopf  und 
Augen  hinwendet.  Rechts  unten  kniet  der  kleine  Stifter,  die  gefalteten 
Hände  wie  in  Bewunderung  des  lieblichen  Anblicks  öffnend.  In  reichster 
Fülle  blühen  allenthalben  Blumen,  und  ein  Spalier  mit  weißen  und  roten 
Rosen,  von  Vögeln  belebt,  gleich  einem  Vorbild  von  Schongauers 
Rosenhag,  bildet  den  Abschluß  nach  dem  Hintergrund. 


*)  Nach  der  Angabe  der  Festschrift  des  Kunst- Vereins  der  Stadt  Solothurn, 
1902,  S.  58. 


30 


Carl  Gebhardt: 


Stellen  wir  diese  beiden,  im  Formate  zwar  sehr  verschiedenen 
Werke  (das  Frankfurter  ist  24  X 31  cm  groß,  das  Solothurner  14 1 X 85  cm) 
nunmehr  vergleichend  gegeneinander,  so  spricht  zu  uns  aus  beiden  der- 
selbe Geist  lebendiger  Naturfreude,  wie  er  sich  gar  nicht  genugtun  kann 
in  der  liebevollsten  Schilderung  der  Pflanzen  und  Vögel,  derselbe  zarte, 
poetische  Sinn,  der  aber  durchaus  nicht  wie  in  der  frühen  kölnischen 
Malerei  der  Wirklichkeit  fremd  ist.  Aber  auch  derselbe  mystische  Geist, 
der  die  Heiligen  im  Paradiesesgarten  zusammengeführt  und  ihnen  ihre 
bedeutsamen  Handlungen  zugewiesen  hat,  er  hat  auch  auf  dem  anderen 
Bilde  der  Madonna  die  todverkündende  weiße  Rose  in  die  Hand  ge- 
geben und  dem  Kinde  das  Tränenkrüglein.  Auch  die  Formensprache 
scheint  mir  in  beiden  Werken  die  gleiche  zu  sein,  obschon  sie  im  Para- 
diesesgarten wohl  noch  etwas  altertümlicher  ist.  Der  Kopf  der  Madonnen 
zeigt  eine  sehr  breite  und  hohe  Stirn,  gerade  Nase,  kleinen,  feingeschwungenen 
Mund;  im  Gegensatz  zu  dem  mehr  ovalen  Kopftypus  Hermann  Wyn- 
richs  spitzt  der  Kopf  sich  hier  nach  dem  Kinne  zu.  Das  Kopftuch, 
das  die  Madonna  in  der  kölnischen  Kunst  getragen  hat,  ist  verschwunden, 
während  die  Krone,  am  reichsten  gebildet  auf  dem  Solothurner  Gemälde, 
noch  ganz  den  kölnischen  Typus  zeigt.  Das  Haar,  erst  nach  vorne 
gewunden,  dann  über  die  Ohren  zurückgelegt,  wallt  frei  über  den  Rücken 
herab  und  begleitet  die  Linie  des  Mantels.  Die  Zeichnung  des  Halses, 
die  Kleidung,  das  Buch,  die  übermäßig  mageren  Hände,  die  als  ein  Ru- 
diment älterer  Kunstübung  dem  Wirklichkeitssinne  des  Meisters  sehr 
widersprechen,  alles  stimmt  genau  überein.  Während  das  Kind  auf  den 
Bildern  Wynrichs  am  Oberkörper  unbekleidet  war,  ist  es  hier,  wo  es  als 
älter  dargestellt  und  vom  Schoße  der  Maria  gelöst  wird,  ganz  gewandet. 
Wiederum  stimmt  alles  überein:  die  Kopfbildung,  das  gelockte  Haar, 
das  Strahlenkreuz,  die  Art  des  Kleidchens,  ja  selbst  die  noch  etwas  ver- 
zeichnete  Art  des  Sitzens.  Auch  in  den  Farben  scheinen  die  Bilder 
in  gleicher  Weise  übereinzustimmen.2)  Auf  beiden  ist  das  Haar  der 
Madonna  und  des  Kindes  goldig  blond,  der  Mantel  der  Madonna  von 
leuchtendem  Blau,  der  Einband  des  Buches  in  hellem  Zinnoberrot,  das 
Röckchen  des  Kindes  weiß.  Ähnlich  ist  ferner  der  Aufbau  der  beiden 
Bilder  mit  der  blumenreichen  Wiese  im  Vordergründe,  an  die  sich  dann 
ein  erhöhtes,  von  Brettern  eingefaßtes  Beet  anschließt.  Im  Solothurner 
Bild  sitzt  die  Madonna  auf  diesem  mit  Erdbeeren  bestandenen  Beete,  im 
Paradiesesgarten  sitzt  sie  auf  einem  großen  Kissen  davor.  Auch  im 

*)  Ich  verdanke  die  Farbenangaben,  da  mir  das  Original  der  Madonna  in  den 
Erdbeeren  unbekannt  ist,  Herrn  F.  A.  Zetter-Collin,  Präsidenten  der  Kunstkommission 
des  städtischen  Museums  in  Solothurn,  der  mich  in  liebenswürdigster  Weise  mit  Material 
unterstützte. 


Der  Meister  des  Paradiesesgartens. 


31 


Detail  herrscht  eine  bis  ins  einzelne  gehende  Übereinstimmung,  wenn 
auch  die  Mannigfaltigkeit  der  botanisch  genau  zu  bestimmenden  Pflanzen 
auf  dem  Frankfurter  Bild  eine  größere  ist.  Alle  Blumen  des  Solothurner 
Bildes  blühen  auch  im  Paradiesesgarten,  die  Maiglöckchen  und  Schnee- 
glöckchen, die  Veilchen  und  Erdbeeren,  und  selbst  der  Rosenstrauch  des 
Hintergrundes  findet  hier  sein  Vorbild.  Dieselben  Vöglein,  die  dort  die 
Rosenlaube  beleben,  haben  sich  hier,  von  der  Weihe  des  Ortes  beschützt, 
in  die  Nähe  der  Heiligen  begeben.  Ein  entzückendes  Motiv  ist  beiden 
Bildern  gemeinsam:  ein  Vöglein,  das  gerade  den  Schnabel  öffnet,  um 
eine  vor  ihm  sitzende  Fliege  zu  verspeisen,  auf  dem  Frankfurter  Bild 
links  oberhalb  des  Kopfes  der  Madonna,  auf  dem  Solothurner  auf  der 
mittleren  Längsstange  des  Spaliers.  Auch  die  Form  der  hebräischen 
Buchstaben  in  den  beiden  Gebetbüchern,  unter  die  sich  in  dem  der  Solo- 
thurner Madonna  vereinzelte  gotische  Zeichen  mischen,  stimmt  genau 
überein;  ich  weise  namentlich  auf  die  auffällige  Form  des  hin,  die 
mehr  der  hebräischen  Kursivschrift  als  der  Quadratschrift  entspricht.  So 
ergibt  die  Vergleichung  der  beiden  Werke,  wie  ich  glaube,  mit  Bestimmt- 
heit, daß  wir  hier  einen  und  denselben  Künstler  vor  uns  haben  — der 
bedeutende  Geist,  der  beide  beseelt,  läßt  den  Gedanken,  daß  das  eine 
etwa  von  einem  Nachahmer  herrühre,  als  völlig  ausgeschlossen  erscheinen. 
Wir  werden  diesen  Künstler,  um  nicht  nur  sein  Werk,  sondern  auch 
seine  Art  zu  bedeuten,  am  besten  füglich  den  Meister  des  Paradieses- 
gartens nennen  dürfen. 

Fragen  wir  nun  nach  seiner  Heimat,  so  bietet  uns  das  Frank- 
furter Bild  zu  ihrer  Bestimmung  keinen  äußeren  Anhalt.  Das  Städtische 
Museum  erhielt  es  mit  der  Sammlung  des  kunstliebenden  Zuckerbäckers 
Prehn  in  Frankfurt,  der  im  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  allerlei  Bilder 
kleinen  Formates  sammelte.  Genauer  sind  wir  dagegen  über  die  Pro- 
venienz der  Madonna  in  den  Erdbeeren  unterrichtet.  Der  Kunstverein 
von  Solothurn  erwarb  das  Bild  1865  aus  dem  Besitz  der  Salesianernonnen 
des  dortigen  St.  Josephsklosters.  Nun  erzählt  die  Klostertradition  der 
Salesianerinnen,  die  die  Nachfolgerinnen  der  mittelalterlichen  Beghinen 
sind:  das  Gemälde  sei  während  des  Bildersturmes  zur  Reformationszeit 
mit  noch  anderem  Kirchenschmuck  die  Aare  herabgeschwommen,  heraus- 
gefischt und  den  Beghinen  zur  Aufbewahrung  übergeben  worden 3).  Ich 
bin  geneigt,  dieser  Tradition  wenigstens  insofern  Glauben  zu  schenken, 
als  ich  annehme,  daß  das  Gemälde  tatsächlich  zur  Zeit  des  Bildersturmes 
in  den  Besitz  des  Beghinenhauses  kam;  denn  vor  seiner  Restaurierung 
durch  den  Kgl.  Galeriekonservator  Andreas  Eigner  in  Augsburg  (1865) 


3)  Festschrift  des  Kunstvereins  etc.  S.  41. 


3 2 


Carl  Gebhardt: 


zeigte  es  an  Kopf  und  Brust  der  Madonna  Schußlöcher,  in  denen  noch 
die  Kugeln  staken;  auch  waren  die  Edelsteine  aus  der  Krone  ausge- 
brochen.4)  Wo  auch  das  Bild  vor  jener  Zeit  gewesen  sein  mag  — Herr 
Zetter-Collin  hält  es  für  wahrscheinlich,  daß  es  aus  dem  Vincentiusmünster 
zu  Bern  stamme  — , gewiß  ist  jedenfalls,  daß  wir  den  Wirkungskreis  des 
Meisters  des  Paradiesesgartens,  wenn  auch  nicht  ausschließlich,  im 
Gebiet  der  Aare  und  des  Oberrheins  zu  suchen  haben. 

Innere  Gründe,  die  dieser  Annahme  widerstreiten  würden,  vermag 
ich  nicht  zu  erblicken.  Wohl  sind  namentlich  auf  dem  Frankfurter  Bilde, 
das  ich  darum  auch  für  das  frühere  halten  möchte,  die  Beziehungen 
zu  der  Kunst  Hermann  Wynrichs  und  seiner  Schule  noch  ersichtlich, 
so  daß  man  es  sogar  dieser  zuschreiben  konnte.  Manche  Züge  scheinen 
geradezu  Kölnischen  Bildern  entnommen  zu  sein,  wie  beispielsweise  der 
Kopftypus  des  heiligen  Georg,  der  mit  dem  Kopf  des  Bettlers  neben  der 
heiligen  Elisabeth  auf  dem  Berliner  Flügelaltärchen  (Katalog  von  1883 
Nr.  1238)  in  Umriß  und  Ausdruck  genau  übereinstimmt,  welcher  seiner- 
seits wieder  zurückgeht  auf  Typen  wie  den  Bettler  des  Nürnberger  Bildes 
der  heiligen  Elisabeth  (Germanisches  Museum,  Katalog  von  1893  Nr.  89, 
dort  fälschlich  als  »Fränkisch  um  1400«  bezeichnet).  Aber  solche  Über- 
einstimmungen, die  sich  weiter  verfolgen  ließen,  können  doch  nicht  dar- 
über täuschen,  daß  die'  Kunst  unseres  Meisters  eine  ganz  anders  geartete 
ist  als  die  des  großen  Kölners.  Denn  ohne  die  Gefahr  allzu  großer 
Kühnheit  darf  man  wohl  behaupten:  der  Meister  des  Paradieses- 
gartens ist  der  erste  große  Künstler  in  Süddeutschland  auf  dem  Gebiet 
der  Tafelmalerei,  wenigstens  soweit  uns  bis  jetzt  bekannt  ist,  der  sich 
vollbewußt  dem  Studium  der  Natur  zuwendet  und  damit  eine  neue 
Phase  in  der  Kunst  seiner  Zeit  und  seines  Landes  eröffnet. 
Möglich,  daß  er  Anregungen  dazu  von  der  Miniaturmalerei  empfing. 
Jedenfalls  aber  weiß  er  mit  einer  bisher  noch  nie  erreichten  Glaubhaftig- 
keit, namentlich  im  Solothurner  Werk,  seine  Gestalten  vor  uns  hinzu- 
stellen. Mit  großer  Sicherheit  weiß  er  schon  den  Raum  zu  gestalten, 
und  ein  lebhafter  Wirklichkeitssinn  spricht  aus  der  Detaildarstellung. 
Mit  der  gleichen  Freude  am  Kleinen,  mit  welcher  er  den  Tisch  neben 
der  Madonna  im  Paradiesesgarten  malt  und  dabei  die  Schüssel  mit 
Äpfeln,  den  Becher  und  die  geschälte  Frucht  nicht  vergißt,  mit  der- 
selben Freude  hat  uns  auch  Lucas  Moser  die  Tafel  auf  seinem  Gast- 
mahl geschildert.  Und  bei  allem  Sinne  für  das  Reale  verleugnet  er 
doch  nicht  ein  hohes  Schönheitsgefühl  in  den  Formen  und  in  den  zarten, 
graziösen  Bewegungen. 


i)  Ebend.  S.  58  f. 


Der  Meister  des  Paradiesesgartens. 


33 


Aber  haben  wir  wirklich  das  Recht,  den  Meister  des  Para- 
diesesgartens an  den  Anfang  einer  ganzen  Kunstentwicklung  zu  stellen? 
Müssen  wir  nicht  vielmehr,  wie  Schmarsow  es  tut,  wenn  er  das  Solo- 
thurner  Gemälde  nicht  vor  1440 — 145°  datiert,  in  ihm  nur  eine  Er- 
scheinung unter  so  manchen  gleichartigen  gewahren?  Meines  Erachtens 
haben  wir,  um  seine  Zeit  zu  bestimmen,  einen  terminus  a quo  in  den 
Werken  des  Meisters  der  Madonna  mit  der  Bohnenblüte  (Hermann 
Wynrich),  von  denen  er  seinen  Ausgang  genommen  hat,  und  einen 
terminus  ante  quem  in  dem  Tiefenbronner  Altar  Lucas  Mosers,  der 
einen  unzweifelhaft  weiter  entwickelten  Stil  aufweist.  Da  nun  einer- 
seits Hermann  Wynrich  im  Winter  1413  auf  1414  gestorben  ist, 
und  wir  keinen  Grund  haben,  solche  Werke  wie  die  Madonna  mit 
der  Bohnenblüte  oder  die  Madonna  mit  der  Erbsenblüte,  auch  wenn 
sie  nicht  von  ihm  selbst  herrührten,  in  eine  spätere  Zeit  zu  ver- 

legen, und  da  wir  andererseits,  bis  zwingendere  Gründe  dagegen  er- 
bracht werden,  an  der  Datierung  des  Tiefenbronner  Altars  von  1431 
festhalten  müssen,  so  ergibt  sich  für  die  Zeit  des  Meisters  des 

Paradiesesgartens  ungefähr  das  Jahr  1420,  in  welcher  Bestimmung 
sowohl  der  Düsseldorfer  Katalog  bezüglich  des  Paradiesesgartens  als 
auch  Burckhardt  bezüglich  der  Madonna  in  den  Erdbeeren  mit  mir 
übereinstimmen. 

Weitere  Werke  des  Meisters  vermag  ich  zurzeit  noch  nicht  anzu- 
geben. Nun  weist  der  Paradiesesgarten  in  seinem  Stoff  und  in  der  Aus- 
führung darauf  hin,  daß  der  Meister  aus  der  Miniaturmalerei  hervor- 
gegangen ist,  und  auch  die  Madonna  in  den  Erdbeeren  widerspricht  in 
der  minutiösen  Durchführung  des  Details  nicht  dieser  Annahme.  Will  man 
das  Werk  des  Meisters  weiter  verfolgen,  so  wird  man  gut  tun,  auch 

unter  den  Miniaturen  Umschau  zu  halten.  Ob  es  freilich  gelingen  wird, 

noch  andere  Tafelbilder  von  ihm  zu  finden,  kann  fraglich  erscheinen; 
denn  nirgends  hat  ja  der  Bildersturm  der  Reformationszeit  so  gründlich 
sein  Werk  verrichtet  wie  gerade  in  der  Schweiz  und  am  Oberrhein. 
Ebensowenig  ist  es  bis  jetzt  möglich,  dem  Meister  einen  bestimmten 
Künstlernamen  zuzuweisen,  solange  die  uns  überlieferten  wie  etwa  Jo- 
hann Hirtz,  Hans  Tieffenthal,  Meister  Lauwlin  eben  bloß  Namen  sind. 
Immerhin  sei  beiläufig  darauf  hingewiesen,  daß  von  einem  der  älteren 
Künstler,  dem  »Maler  und  Goldarbeiter«  Hans  Tieffenthal,  berichtet 
wird,  daß  er,  ehedenn  er  sich  1433  in  Straßburg  niederließ,  vielfach 
außerhalb  des  Elsaß  und  besonders  auch  in  der  Schweiz  tätig  gewesen 
sei;  ferner  wissen  wir  von  ihm,  daß  er  mit  einem  kölnischen  Künstler, 
dem  1402  in  der  Karthause  von  Dijon  tätigen  Meister  Hermann  de  Cou- 
logne  (Hermann  Wynrich?)  in  irgend  welchen  Beziehungen  gestanden 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  3 


34 


Carl  Gebhardt:  Der  Meister  des  Paradiesesgartens. 


ist.  5)  Aber  selbst  wenn  es  einstweilen  nicht  gelingen  sollte,  diese  höchst 
bedeutende  Künstlerpersönlichkeit  aus  dem  Dunkel,  das  sie  noch  umgibt, 
hervortreten  zu  lassen,  so  werden  sich  doch  schon  organische  Zusammen- 
hänge innerhalb  der  deutschen  Kunst  da  vermuten  lassen,  wo  uns  bis- 
lang nur  abrupte  Erscheinungen  entgegentraten,  wenn  anders  diese  An- 
nahme eines  großen,  aus  der  Miniaturkunst  hervorgegangenen, 
von  der  kölnischen  Malerei  beeinflußten  und  am  Oberrhein 
wirkenden  Meisters  zu  Recht  besteht.  Dann  wird  nicht  nur  die  bisher 
so  unerklärbare  Kunst  Lucas  Mosers  in  ihren  Wurzeln  klar  vor  uns 
liegen,  sondern  es  wird  auch  möglich  sein,  die  immer  noch  offene  Frage 
zu  entscheiden,  »ob  Meister  Stephan  Lochner  die  Wege  der  alten 
kölnischen  Schule  fortsetzt,  oder  ob  er  nicht  vielmehr  neue  Elemente 
(schwäbische?)  ihr  zugegeführt  und  dadurch  sie  umgestaltet  hat«  (Springer 
im  Repert.  f.  Kunstw.  XIII,  S.  318).5 6)  Und  nicht  zum  letzten  wird  auch 
die  große  Kunst  Martin  Schongauers,  die  wir  gewohnt  sind,  in  ihren 
niederländischen  Beziehungen  zu  betrachten,  dann  auch  in  ihrem  deutschen 
Bestände  uns  klarer  entgegentreten. 

5)  Vgl.  Bruck,  die  Elsässische  Glasmalerei  S.  99  f.,  woselbst  der  Versuch  gemacht 
wird,  dem  Tieffenthal  Glasmalereien  in  Schlettstadt,  die  burgundischen  Einfluß  zeigen 
und  dem  Moser  verwandt  sind,  zuzuschreiben. 

6)  Mit  Recht  sagt  Burckhardt  (Basels  Bedeutung  für  Wissenschaft  und  Kunst 
im  15.  Jahrhundert,  Malerei,  1901,  S.  3°7):  »Stephan  Lochner,  der  aus  Meersburg 
bei  Konstanz  gebürtige,  zu  Ende  der  1430er  Jahre  in  Köln  eingewanderte  Meister,  läßt 
selbst  in  seinem  Hauptwerk,  dem  Dombilde,  noch  erkennen,  daß  er  einst  von  einem 
oberdeutschen  Realisten  in  der  Art  des  Witz  geschult  worden  war,  bevor  er  der 
Einwirkung  des  anmutigen  altkölnischen  Archaismus  unterlag.« 


Die  deutsche  Passionsbühne 
und  die  deutsche  Malerei  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
in  ihren  Wechselbeziehungen. 

Von  K.  Tscheuschner-Bern. 

(Schluß.) 

In  der  Brixener  Passion  treten  zwischen  den  einzelnen  Leidens- 
szenen Christi  abwechselnd  David,  Jesaias  und  Jeremias  auf  und  teilen 
dem  Publikum  mit,  unter  genauer  Namhaftmachung  der  betreffenden 
Stellen,  daß  sie  das  Leiden  Christi  ganz  genau  so,  wie  es  sich  hier  ab- 
gespielt, ihrer  Zeit  bereits  vorausgesagt  haben.  So  sagt  etwa  Jeremias 
nach  der  Geißelung: 

(v.  1952)  Ich  hab  zuvor  am  52.  Capitl  geschriben, 

Das  Cristum  sein  leyden  nit  ist  ausbeliben  etc.  . . . 

Bisher  waren  derartige  Intermezzi  nur  am  Schluß  oder  zu  Beginn 
einer  Szene  eingeschoben,  die  Verfasser  geistlicher  Spiele  scheuen  sich 
jedoch  auch  nicht,  gelegentlich  eine  Handlung  durch  eine  derartig  er- 
bauliche Ansprache  an  das  Publikum  mitten  auseinander  reißen  zu  lassen. 
Am  weitesten  geht  hierin  wohl  das  Augsburger  Passionsspiel  bei  der  Vor- 
führung der  Gefangennahme  Christi,  wo  das  Auftreten  des  Proklamators 
direkt  komisch  gewirkt  haben  muß.  Ich  lasse  die  Szene  folgen: 

Als  ihesus  das  spricht,  so  vallend  die  iuden  all  nider  zu  rugk  vnd 
Judas  jnit  in.  Vnd  als  sy  ain  weil  ligen,  so  stand  die  iudem  widerumb 
auf.  So  spricht  der  herr  Salvator  wie  vor: 

(v.  613)  Ir  iuden,  sagt:  wen  suchend  ir? 
das  solt  ir  yetz  sagen  mir! 

Antwurt  jud  Nathan  wie  vor: 

Wir  suchen  hie  zu  diser  frist 
von  nazareth  den  ihesum  crist. 

Saluator  antwurt: 

Ich  bin  der  selb,  den  ir  da  sucht; 
ich  will  leiden,  was  ir  gerucht. 

Darnach  vallend  die  iuden  aber  all  zu  rugk  nider  vnd  ligend  still, 
bis  der  proclamator  sein  reim  auß  spricht.  (!) 


3 


36 


K.  Tscheuschner: 


Proklamator: 

Secht,  wie  der  iuden  gesellschaft 
traissam  wäpner  vnd  ritterschaft  i 
Ain  claine  stimm  der  iuden  schar 
hat  geschlagen,  vnd  zerstrayet  gar. 

Si  ligend  da,  im  schaden  nit: 

doch  pfligt  der  herr  nit  weychens  sytt. 

Er  will  sich  willig  gen  in  tod, 
vns  ledigen  auß  aller  nott. 

Das  nempt  zu  hertzen  ir  cristen  leut 
vnd  merkend  was  ferrer  werd  bedeut! 

Judas  stat  auf  vnder  der  schar  der  iuden,  vnd  bleibt  mitten  vnder 
der  schar  stan  vnd  spricht  also: 

Wolauf,  ir  herren,  schnall  und  bald! 
ey,  das  auch  sein  der  teufel  walt! 

Wölt  ir  an  im  also  verzagen? 
ich  wen,  ir  sölt  euch  wol  behagen. 

Nun  trett  ain  wenig  bas  her  zu ! 
laßt  vns  schawen,  wie  man  im  thu! 

Saluator  spricht  zu  den  iuden,  so  sy  widerumb  aufgestanden  sind: 
Sagend  mir;  wen  sucht  ihr  noch? 
so  will  ich  in  euch  zaigen  doch. 

Da  schreyen  All  iuden  in  der  gemain: 

Ihesum  genant  von  nazareth 
sucken  wir  doch  an  diser  stet  . . . 

Es  liegt  meines  Erachtens  nur  zu  nahe,  daß  die  bildenden  Künstler 
von  diesen  Freiheiten,  oder,  besser  gesagt,  Ungehörigkeiten,  an  die  sie 
von  den  Vorführungen  def'  Passionsspiele  her  gewöhnt  waren,  nun  ge- 
legentlich der  Abfassung  ihrer  eigenen  Kompositionen  ebenfalls  leichter, 
als  dies  wohl  sonst  geschehen  wäre,  einmal  Gebrauch  machten.  Im 
übrigen  hat  nicht  nur  Dürer  sich  dieser  Intermezzotechnik  bedient,  wir 
finden  dieselbe  auch  bei  anderen  Künstlern,  so  beispielsweise  bei  Burgk- 
mair,  in  dessen  schon  oft  genannten  Leben  und  Leiden  Christi,  wo  nicht 
weniger  als  vier  derartige  Intermezzi,  nämlich  ein  Blatt  mit  dem  Mono- 
gramm Christi,  die  Tafel  mit  der  in  drei  Sprachen  abgefaßten  Aufschrift 
des  Kreuzes,  die  Gestalt  der  Mater  dolorosa  und  endlich  ein  Blatt  mit 
der  Darstellung  der  fünf  Wundmale,  den  ruhigen  Fortgang  der  Handlung 
unterbrechen. 

Sowie  der  Zug  der  Kreuztragung  auf  Golgatha  angekommen  ist, 
wird  Christus  von  den  Kriegsknechten  entkleidet.  Im  Passions- 
spiel wird  auch  dieser  Akt  mit  der  üblichen  Roheit  vollzogen;  im 
Brixener  Spiele  sagt  der  fünfte  Ritter  zu  Jesus: 

(v.  2449)  Ich  wil  dier  so  grausam  dein  Rockh  ab  ziechen, 

Das  sich  das  pluet  aus  den  wunden  mues  schmiegen. 


Die  deutsche  Passionsbuhne  usw. 


37 


Bonaventura  hat  dieses  Motiv  der  Entkleidung  des  Heilandes  durch 
die  Kriegsknechte  wieder  etwas  weiter  ausgesponnen;  er  sagt  im  67.  Ka- 
pitel seiner  Vita  Christi:  Spoliatus  autem  et  nudus  est  coram  tota  mul- 
titudine  etiam  nunc  tertia  vice.  Renovantur  fracturae,  propter  pannos 
ad  carnem  applicatos  et  adhaerentes.37)  Nunc  respicit  mater  filii  sui  sic 
corpus  tractari:  dolore  mentis  aff ligitur : et  supra  modum  tristatur  cum 
rubore:  quod  eum  videt  totaliter  nudum:  quod  nec  femoralia  dimiserunt 
ei.  Accelerat  mater  et  approximat  filio  et  amplexatur  et  cingit  eum 
velo  capitis  sui 

Einzelne  Passionspiele  haben  dieses  Motiv  verwertet.  Im  Ais- 
felder Spiele  heißt  es  nur  ganz  kurz  (v.  6089):  Hic  Maria  portat  pannum 
Salvatori  ipsum  cooperiendo.  Ausführlicher  gibt  die  Szene  das  Heidel- 
berger Spiel.  Dort  heißt  es: 

Darnach  zcygennt  sie  Ihesum  nacket  vß.  Maria  gett  für  Ihesum 
vnnd  sprichtt: 

(v.  5221)  O we,  o we  mir  armenn  mit  wehe! 

O we,  o we  mir  itzundt  vnnd  ymmer  mehe ! 

Was  sehenn  jch  herczleides  nun? 

O we,  o we,  liebes  kindtt,  wie  siezest  du 
Sünder  cleyder,  nackett  vnnd  bloß? 

Ach,  ymmer  we,  wye  jst  alßo  groyß 
Mein  herczleydtt  kencktt  mich  sere. 

O we,  o we  mir  hewdt  vnnd  ymmer  mere ! 

Maria  bindt  Ihesu  einn  duch  vmb  vnd  seeztt  sich  vndenn  ann  das 
creücze. 

Das  Egerer  Spiel  gibt  die  Szene  wieder  in  anderer  Auffassung.  — 
Maria  tritt  hier  zu  einem  der  Kriegsknechte  heran  und  sagt  zu  ihm: 

(v.  6208)  Ich  pit  dich,  lieber  freünt  mein, 

Nim  von  mir  das  klein  schläirlein 
Und  pindt  im  das  umb  sein  schoß, 

Das  er  nit  so  jemerlich  blos 
Stee  so  gar  an  alles  kleidt. 

O we  meins  großen  herzen  leitl 

Octavus  miles  Tritinklee  summit  peplum  dicens: 

Leich  her  den  schleir,  du  altes  weib, 

Ich  wil  im  verpintten  seinen  leib  . . . 

Auch  die  bildende  Kunst  hat  diese  Szene  der  Entkleidung,  wenn 
auch  nur  höchst  selten,  dargestellt.  Auf  der  27.  Figur  der  Holzschnitt- 
illustrationen Heinrich  Vogthers  zu  dem  bei  Johann  Grüninger  in  Straß- 
burg 1527  erschienenen  Neuen  Testament  sehen  wir  Christus  gänzlich 


37)  Wir  sehen  also,  daß  auch  die  eben  zitierte  Stelle  des  Brixener  Passionsspiels 
auf  den  Bericht  des  Bonaventura  zurückgeht. 


38 


K.  Tscheuschner: 


nackt  (auch  ohne  Lendenschurz)  in  der  Mitte  der  ihn  verspottenden 
Knechte  sitzen.  — Auf  einem  Blatte  des  Urs  Graf,  Postilla  Guillermi, 
Ausg.  v.  1509,  ist  der  Moment  dargestellt,  wie  einer  der  Kriegsknechte 
Christus  das  Gewand  auszieht  (Christus  trägt  hier  unter  dem  Gewände 
einen  Lendenschurz).  — Auf  einem  Blatte  des  vom  Meister  E.  S.  beein- 
flußten unbekannten  Meisters,  den  Lehrs  in  seinem  Katalog  der  im  Ger- 
manischen Museum  befindlichen  deutschen  Kupferstiche  des  XV.  Jahr- 
hunderts unter  Nr.  285  aufführt  (ebendort  auch  abgebildet),  sehen  wir 
endlich  dargestellt  einmal  die  Kriegsknechte,  die  Christus  das  Gewand 
ausziehen  und  zu  gleicher  Zeit  Maria,  die  ihrem  Sohne  den  Lendenschurz 
umbindef. 

In  der  Regel  werden  im  geistlichen  Spiele  die  beiden  Schächer 
zuerst  gekreuzigt.  Offenbar  sparte  man  sich  aus  Gründen  der  drama- 
tischen Steigerung  die  Kreuzigung  Christi  bis  zuletzt  auf.  Es  kommt 
allerdings  zuweilen  das  umgekehrte  vor,  so  im  Heidelberger  und  Ais- 
felder Passionsspiel.  — Mag  die  Reihenfolge  der  Kreuzigung  nun  aber 
sein,  welche  sie  will,  stets  wird  im  Gegensatz  zu  der  Kreuzigung  Christi, 
die,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  immer  mit  größter  Ausführlich 
keit  gegeben  wird,  die  Kreuzigung  der  Schächer  mit  möglichster  Kürze 
behandelt  und  zwar  wohl  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  die  Aufmerk- 
samkeit der  Zuschauer  möglichst  wenig  vom  Hauptgegenstand  der  Dar- 
stellung abzulenken,  und,  wie  schon  eben  erwähnt,  überall  da,  wo  die 
Kreuzigung  Christi  an  zweiter  Stelle  erfolgt,  in  der  Absicht,  sich  den 
Hauptclou  bis  zum  Schlüsse  aufzusparen.  In  einzelnen  Spielen  erfolgt 
die  Kreuzigung  der  Schächer  ohne  jedes  Wort  förmlich  in  einem  Augen- 
blick. So  etwa  im  Frankfurter  Spiel,  wo  dieselbe  mit  der  kurzen  Be- 
merkung abgetan  wird  (v.  3694):  Interim  quod  deponatur  Christi  tunica, 
debent  duo  latrones  crucifigi  ab  uno  milite  Beckart.  — Zuweilen  sind, 
um  Zeit  zu  sparen,  die  Kreuze  der  beiden  Schächer  bereits  aufgerichtet. 
Die  Verurteilten  müssen  dann  auf  Leitern  hinaufsteigen.  Diese  Auffassung 
zeigt  die  Donaueschinger  und  die  Heidelberger  Passion.  In  der  ersteren 
heißt  es  (v.  3214):  Nu  louft  Boos  und  recht  leitern,  die  stützt  er  an  die 
schächercrütz,  und  bringt  Barrabas  die  zwen  Schacher  . . . . ; in  der 
letzteren  ist  dies  noch  deutlicher  ausgesprochen: 

Der  erst  Jude  spricht  zcum  erstenn  schecher: 

(v.  537 1)  Geselle,  sey  nitt  verdrossenn, 

Steige  mir  noch  dysse  sprossenn, 

Loyß  dich  nach  keinem  lebenn  verlangen, 

Wann  an  diessem  creücze  mustu  hangen. 

Der  erst  schecher  spricht  vff  der  leytternn: 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


39 


Darnach  spricht  der  erste  Judde  zcum  anderen  schecher: 

(v.  5379)  Geselle,  rüst  dich  willig  vff  die  bann, 

Wann  du  must  auch  her  ann. 

Kom  her  vnnd  steyge  mir  noch, 

Zcu  dem  galgenn  sey  dir  joch. 

Der  ander  schecher  sprichtt  uff  der  leittern: 

Ferner  wurden  durchgängig  aus  gleichen  Gründen  der  Zeitersparnis 
(und  ebenfalls  im  Sinne  der  dramatischen  Steigerung)  die  Schächer  nicht 
wie  Christus  mit  Nägeln  an  das  Kreuz  geschlagen,  sondern  nur  mit 
Stricken  in  aller  Eile  daran  gebunden.  Diese  Abweichung  muß  um  so 
sonderbarer  erscheinen,  als  ja  Christus  und  die  beiden  Schächer  aus- 
drücklich zum  gleichen  Tode  verurteilt  sind.  Der  Verfasser  der  Ster- 
zinger  Passion  war  sich  dieser  Ungehörigkeit  auch  bewußt;  er  stellt  die 
Szene  deshalb  so  dar,  als  ob  die  verschiedene  Art  und  Weise  der  Kreu- 
zigung von  der  augenblicklichen  Laune  der  Kriegsknechte,  ja  von  einem 
gewissen  Bedürfnis  derselben  nach  Abwechslung  bei  Ausübung  ihres  Ge- 
schäftes abhängig  gewesen  sei.  Nachdem  nämlich  die  beiden  Schächer 
angebunden  sind,  läßt  er  den  zweiten  Kriegsknecht  im  Hinblick  auf 
Christus  sagen: 

(v.  2094)  Nempt  auch  den  pöswicht  hin 
Und  versuecht  ain  anderen  syn, 

Last  in  sein  sündt  also  püessen: 

Hefftet  in  mit  henden  und  mit  füssen 
Grawsamlich  an  das  krewtz, 

Das  aller  weit  ab  im  schewtz. 

Werden  die  beiden  Schächer  nur  an  das  Kreuz  gebunden,  so 
mußte  ihr  Tod  in  anderer  Weise  herbeigeführt  werden,  als  bei  Christus, 
wo  derselbe  infolge  des  großen  Blutverlustes  eintrat;  ihre  Leiber  wurden 
zu  diesem  Zwecke  gewaltsam  verrenkt.  Am  anschaulichsten  (und  zugleich 
auch  am  brutalsten)  ist  dieser  Vorgang  wieder  in  der  Sterzinger  Passion 
geschildert,  wo  es  heißt: 

Primus  miles  dicit  ad  latrones: 

(v.  2076)  Ich  wil  die  pöswicht  plenten 

Und  wil  sy  offenlich  schentten : 

Ich  wil  in  ir  gesicht  verpintten 

Und  wil  sy  darnach  über  die  krewtz  winten 

Und  dar  ein  lierttikleych  flechten, 

Das  genueg  geschech  dem  rechten. 

Darumb  leicht  her  den  tzewg, 

Das  ich  den  tzwm  ersten  pewg. 

Ich  wil  in  wol  pald  machen, 

Das  im  alle  seine  gelider  krachen. 


40 


K.  Tscheuschner.: 


Tune  apponit  illum  cruci. 

Et  clicit  secundo  latroni  idem  miles: 


VVol  her  auch  dw,  mörder, 

Dich  sol  an  heben  dein  schwär! 

Ich  wil  dir  das  versprechen, 

Das  ich  dir  dein  ripp  wil  prechen; 

Dir  sol  auch  noch  dein  pauch 
Als  ain  platter  werden  gelaucli; 

Dungel  und  leber  mues  dir  zw  varen 
Das  mag  ich  dir  nit  lenger  sparen. 

Die  bildende  Kunst  hatte  keinerlei  Veranlassung,  bei  der  Dar- 
stellung der  Kreuzigung  einen  Unterschied  zwischen  der  Kreuzigung 
Christi  und  der  der  Schächer  zu  machen;  wenn  sie  dies  trotzdem  tat  — 
überaus  häufig  sehen  wir  im  Bilde,  genau  wie  im  Passionsspiel,  die 
Schächer  nur  mit  Stricken  an  die  Kreuze  gebunden,  während  Christus 
regelrecht  gekreuzigt  ist  — so  zeigt  dies  nur  von  neuem,  wie  weit  die 
bildende  Kunst  zuweilen  in  ihrer  Anlehnung  an  die  Passionsbühne  ging. 
— Daß  die  Künstler  von  dem  andern  Motiv  der  Passionsbühne,  die 
Körper  der  Schächer  an  den  Kreuzen  nach  Möglichkeit  gewaltsam  zu 
verrenken  und  zu  verzerren,  nur  zu  gern  Gebrauch  machten,  ist  begreif- 
lich, gab  dasselbe  ihnen  ja  doch  Gelegenheit,  sich  nach  Herzenslust  in 
anatomischen  Bravourstücken  zu  ergehen.  Nur  zu  oft  sind  die  Künstler 
hier  allerdings  zu  weit  gegangen,  indem  sie  sich  im  Übereifer,  ihre  ana- 
tomischen Kenntnisse  zu  zeigen,  bis  zur  Darstellung  des  direkt  Ab- 
stoßenden hinreißen  ließen.  So  liebt  es  beispielsweise  Baidung  Grien, 
die  Stricke,  die  um  Arme  und  Beine,  vor  allem  aber  um  den  Leib  der 
Schächer  geschlungen  sind,  so  straff  anzuziehen,  daß  sie  sich  tief  in  den 
Körper  einschneiden,  resp.  da,  wo  zwei  Stricke  nebeneinander  zu  liegen 
kommen,  dicke  Fleischwülste  herauspressen.  Grien  ist  überhaupt  beson- 
ders groß  in  allen  möglichen  Verrenkungskünsten  und  qualvollen  Auf- 
hängungsarten der  beiden  Schächer,  mit  denen  er  das  von  ihm  so  bevor- 
zugte Thema  der  Kreuzigung  zu  variieren  weiß.  Als  Belege  hierfür  seien 
genannt  seine  Darstellungen  der  Kreuzigung  im  Berliner  Museum,  im 
Museum  zu  Basel,  im  Freiburger  Münster  und  im  Kgl.  Schloß  zu  Aschafifen- 
burg.  Im  letzteren  Gemälde  ist  der  eine  Schächer  mit  den  Armen  gar 
nicht  an  das  Querholz  des  Kreuzes  gebunden,  sondern  baumelt  an 
Stricken,  die  zu  beiden  Seiten  vom  Querholz  herabhängen  und  tief  ins 
Fleisch  einschneiden,  frei  in  der  Luft.  — Weit  übertroffen  werden  jedoch 
alle  diese  Darstellungen  Griens  durch  ein  Blatt  des  Monogrammisten 


lüW  höl 


den  Passavant  Bd.  IV,  p.  40,  Nr.  2 anführt  und 


hier  der  Schule  des  älteren  Cranach  zuweist;  auf  diesem  Blatte  ist  der  eine 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


41 


der  Schächer  mit  den  Füßen  hoch  oben  am  Stamm  des  Kreuzes  angenagelt 
sein  Körper  ist  sodann  rückwärts  über  das  Querholz  des  Kreuzes  her- 
übergebogen, die  Hände  an  das  Querholz  oben  angenagelt  und  der  Ober- 
körper auf  der  anderen  Seite  gewaltsam  wieder  so  heruntergezogen  und 
mit  einem  Strick  fest  an  den  Längsstamm  des  Kreuzes  gebunden,  so 
daß  der  Kopf  tiefer  als  die  Fußspitzen  gegenüber  zu  liegen  kommt.  Es 
ist  dies  eine  der  ungeheuerlichsten  Verrenkungen  des  menschlichen  Körpers, 
die  man  sich  überhaupt  nur  denken  kann. 

Daß  den  Schächern  bei  ihrer  Hinrichtung  mit  einem  Tuch  die 
Augen  verbunden  werden,  wie  dies  in  der  oben  angeführten  Stelle  aus 
der  Sterzinger  Passion  angegeben  ist,  kommt  im  Bilde  ebenfalls  öfters 
vor;  so  beispielsweise  zweimal  bei  Israel  von  Meckenem  (B.  18  und  19) 
und  in  der  Kreuzigung  des  Viktor  und  Heinrich  Dünwegge,  Münchener 
Pinakothek  Nr.  63  (allerdings  ist  hier  nur  der  eine  der  beiden  Schächer 
mit  verbundenen  Augen  dargestellt). 

Auch  noch  in  anderen  Punkten  ist  analog  der  Auffassung  der 
Passionsbühne  in  der  bildlichen  Darstellung  der  Kreuzigungsszene  ein 
Unterschied  zwischen  der  Kreuzigung  Christi  und  der  der  Schächer  ge- 
macht, wir  wollen  hierauf  jedoch  erst  etwas  weiter  unten  ausführlicher 
zu  sprechen  kommen. 

Die  Kreuzigung  Christi  wird,  wie  bereits  bemerkt,  im  geist- 
lichen Schauspiel  ungemein  breit  mit  Vorführung  aller  Einzelheiten  und 
mit  grausamstem  Realismus  vorgeführt.  — Zunächst  werden  mit  einem 
Bohrer  Löcher  in  das  Kreuz  gebohrt.  In  der  Donaueschinger  Passion 
heißt  es  hierauf  bezüglich : 

Israel  facht  an  und  spricht  zu  Malcho: 

(v.  3239)  Was  fulen  knechten  sind  ir  doch? 

Malche,  nim  ein  nepper  und  bor  ein  loch. 

. . . und  erwüscht  Malchus  ein  nepper  und  facht  an  ein  arm  in  boren 
und  spricht  zu  Mosse: 

(v.  3245)  Das  wil  ich  tun,  von  hertzen  gern, 

Mosse,  du  solt  ouch  nit  enbern, 
sunder  uff  der  ander  siten  born. 
kein  Unglück  ist  an  im  verlorn, 
bor  die  löcher  ungemessen, 
wir  wend  dem  lugner  nit  vergessen. 

Nu  stat  Mosse  uff  den  andern  arm  und  boret  und  spricht  zu  Jesse: 

Yesse,  mach  dich  zu  den  füssen, 
das  wir  din  nit  warten  müssen, 
bor  das  loch  mitem  füg 
das  es  werde  nider  gnüg. 


42 


K.  Tscheuschner: 


wir  wend  uns  mit  im  wol  ergeilen 
und  in  zerstrecken  mit  den  seilen. 

Christus  wird  sodann  gewaltsam  aufs  Kreuz  geworfen.  Das  Als- 
felder  Passionsspiel  schreibt  vor  (v.  5593):  Hic  iactant  eum  super  crucem; 
— genau  so  das  Donaueschinger  Spiel  (v.  3272).  — Im  Aisfelder  Spiele 
haben  die  Kriegsknechte,  bevor  es  an  die  eigentliche  Kreuzigung  geht, 
noch  eine  ganz  besondere  Marter  ersonnen,  sie  heben  das  Kreuz  mit  dem 
Heilande  auf  und  lassen  dasselbe  dann  mehrere  Male  hintereinander  mit 
ihm  wieder  zur  Erde  fallen: 

Malchus  dicit: 

(v.  5574)  Ir  herren,  raidet,  wie  griffen  merß  nu  an, 
das  mer  getoden  disßen  man? 
darzu  soln  mer  gedancken  fynden : 
ab  ymmant  zu  synem  sinnen 
konde  fynden  dotlicher  martel  viel, 
die  solde  hie  lyden  an  ziel  I 

Annas  dicit: 

Den  raid  kan  ich  fynden  woil: 
uff  das  crucz  man  en  legen  sail 
hie  an  disser  erden! 
darnach  mer  zu  raide  werden: 
mer  heben  uff  das  crucze  widder 
und  loisßen  en  fallen  donidder! 
ßo  ernuwen  sich  die  wonden  synn: 
ßo  wird  gemeret  auch  syn  pynn ! 

Um  seine  Qualen  zu  vermehren,  wird  er  mit  stumpfen  Nägeln  an 
das  Kreuz  geschlagen.  Im  Donaueschinger  Spiele  werden  die  Nägel  auf 
offener  Bühne  erst  direkt  bei  der  Kreuzigung  stumpf  gemacht. 

Israhel  sagt  zu  Malchus: 

(v.  3242)  dis  nagel  sind  doch  vil  zc  spitz, 
ich  wil  sv  etwas  stumpfer  machen, 
des  selb  mag  Ihesus  nit  gelächen. 

Nu  nimpt  Israhel  die  negel  und  schmidet  dar  an.  — — — — 

In  der  Egerer  Passion  wird  Christus  auf  den  Befehl  des  Pilatus 
hin  mit  stumpfen  Nägeln  gekreuzigt;  Pilatus  sagt  daselbst  in  seinem 
Urteilsspruch: 

(v.  5602)  An  ein  creuz  sol  man  dich  liencken, 

Drei  stump  nagel  durch  hendt  und  fueß  sencken  . . . 

Jeder  einzelne  Nagel  wird  nun  mit  großem  Geschrei  und  Getöse 
eingeschlagen ; die  Kriegsknechte  haben  die  Löcher  in  zu  weitem  Ab- 
stande voneinander  gebohrt,  sie  zerren  deshalb  mit  Seilen  den  Körper 
des  Heilandes  gewaltsam  in  die  Länge,  um  nicht  frische  Löcher  bohren 
zu  müssen;  dazu  kommen  die  unflätigen  Scherze  und  Hohnworte,  mit 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


43 


denen  sie  alles,  was  sie  tun,  begleiten.  — Ich  führe  hier  die  betreffende 
Szene  aus  dem  Donaueschinger  Spiel  an,  die  uns  die  ganze  ungeheuer- 
liche Roheit,  mit  der  die  Kreuzigung  des  Heilandes  auf  der  Bühne  dar- 
gestellt wurde,  am  besten  vor  Augen  führt: 

In  dem  erwüschend  sy  den  Salvator  und  werfent  in  uff  daz  crütz 
und  zertün  im  die  arm  und  facht  Malcho  an  und  spricht: 

(v.  3273)  Wir  hand  die  locher  gehöret  ze  wit, 
doch  an  dem  selben  nit  vil  lit. 

Mosse,  gedenck  an  dise  schand, 
nim  in  by  der  rechten  hand, 
so  bringt  dir  Israhel  ein  nagel, 
den  müstu  mit  kreften  dur  hin  slahen. 

Dar  uff  erwüscht  Mosse  den  Salvator  die  rechte  hand  und  (legt) 
ims  uff  das  loch  und  spricht  zu  Israhel:  ■ 

Israhel,  bring  ein  nagel  har 
und  nim  des  lochs  wol  eben  war, 
trib  in  mit  dem  grossen  hamer, 
das  er  wirt  schreven  ach  und  jamer, 
des  acht  ich  nit  als  umb  ein  har, 
streck  din  arm  wol  frischlich  dar! 

Nu  kumpt  Israhel  und  bringt  ein  nagel  und  hamer  und  facht  an 
slachen  und  spricht: 

Mosse,  heb  redlich,  lieber  gesell, 
lüg,  ob  er  sich  rümpfen  well, 
die  nagel  sind  erst  worden  recht. 

Jesse,  du  bist  ein  fuler  knecht, 
setz  dich  an  den  linggen  arm, 
streck  in,  das  dir  werde  warm, 
da  mit  du  mögest  daz  loch  erholen, 

Pilatus  hat  uns  daz  enpfolen. 

Nu  kumpt  Jesse  zu  dem  lincken  arm  und  streckt  den  mit  der 
hand  zum  loch  und  spricht: 

Manasses,  büt  mir  bald  ein  zangen, 
ich  mag  das  loch  hie  nit  erlangen 
und  bring  ein  seil,  ich  muß  in  strecken, 
da  mit  die  hand  daz  loch  müg  decken; 
so  muß  im  Israhel  ein  nagel  schlahen, 
daz  in  das  crütz  dest  bas  mag  tragen. 

Jecz  kumpt  Manasses  und  bringt  zangen,  hamer  und  seil,  wirft  die 
Jesse  dar  und  spricht: 

Ich  bring  dir  zang  und  seil, 

ob  mir  der  büt  wurd  ouch  ein  teil. 

mag  ich  niena  körnen  dar  zü, 

da  mit  ich  ouch  ein  Zeichen  tü 

mit  minem  hamer?  der  ist  groß 

ich  muß  im  dennocht  geben  ein  stoß ! 


44 


K.  Tscheuschner: 


Hie  mit  stost  Manasses  den  Salvator  mit  eim  fuß  und  leit  im  Jesse 
das  seil  an  arm  und  streckt,  den  kumpt  Israhel  mit  nagel  und  hamer 
aber  in  ze  schlachen  und  spricht: 

Heb  fast  Yesse,  du  tust  im  recht, 
du  bist  ein  ümer  stolzer  knecht. 
disen  nagel  wil  ich  hin  in  triben, 
das  kein  fleich  alda  muß  beliben. 

Malchus  bistu  yecz  erstochen, 
hestu  dich  gnug  an  im  gerochen? 
leg  im  an  die  fuß  ein  seil 
verdien  ouch  an  dem  rock  ein  teil. 

Hie  mit  louft  Malchus  knüwt  zu  den  füssen  und  spricht: 

Wol  har  so  wil  ich  zu  den  fussen 
da  mit  wir  im  sin  hoffart  bSssen, 
er  hatz  getrieben  lange  zit. 
nu  ist  dis  loch  hie  ouch  ze  wit, 
doch  wil  ich  in  hie  machen  heil. 

Mosse,  nimm  dis  lang  seil, 

so  wend  wir  in  ussem  andern  ziehen, 

ich  mein,  er  mog  nu  nit  me  fliehen. 

Ufif  daz  louft  Mosse  und  Yesse  beid  hin  zu  und  erwüschend  das 
seil  und  ziechent  fast,  den  facht  Mose  an  und  spricht: 

Bis  frisch,  wir  wellen  redlich  strecken» 
und  im  sin  wunden  all  erwecken, 
wir  achtend  nit,  tut  es  im  we. 
wiltu  gern,  so  ziechen  wir  me; 
ist  es  gnug,  so  laß  das  bliben. 

Israhel,  du  solt  den  nagel  in  triben. 

Nu  kümpt  aber  Israhel  mit  dem  dritten  nagel  und  gat  hin  zu  den 
in  zeschlachen  und  spricht: 

Ich  loben  üch  ir  stoltzen  man 

hebent  vast  und  land  nit  gan. 

die  warheit  wil  ich  in  leren  gigen, 

ich  mein,  er  werd  nu  schwigen; 

der  nagel  schlecht  im  die  fuß  zu  rump, 

er  ist  da  vornan  groß  und  stump. 

Hie  mit  schlecht  Israel  den  nagel  in 

Die  Frankfurter  Passion  leistet  sich  noch  etwas  ganz  Besonderes, 
indem  sie  mitten  in  die  Kreuzigung  eine  Trinkszene  einschiebt. 

Die  bildliche  Darstellung  hält  sich  bei  der  Schilderung  der 
Kreuzigungsszene  wiederum  Zug  um  Zug  an  das  Vorbild  der  Passions- 
bühne: ja,  wir  werden  Darstellungen  der  Kreuzigung,  wie  wir  sie  etwa 
bei  Dürer,  Kleine  Passion  und  Grüne  Passion,  Altdorfer,  Sündenfall  und 
Erlösung  des  Menschengeschlechts  und  Israel  von  Meckenem  (B.  18) 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


45 


finden,  nur  dann  voll  und  ganz  in  ihrer  unendlichen  Roheit  begreifen 
können,  wenn  wir  mit  den  parallel  laufenden  Szenen  der  Passionsspiel- 
literatur vertraut  sind. 

Im  Übrigen  darf  man  nicht  ungerecht  sein  und  alles  das,  was  einem 
an  unmenschlich  grausamen  Zügen  gerade  bei  der  Darstellung  der  Kreuzi- 
gung in  so  besonders  hohem  Maße  begegnet,  ohne  weiteres  allein  der 
blutrünstigen  Phantasie  der  Verfasser  der  Passionsspiele  zur  Last  legen. 
So  findet  sich  beispielsweise  dasjenige  Motiv,  das  uns  als  das  ver- 
abscheuungswürdigste erscheint,  nämlich  das  gewaltsame  Ausrenken  des 
Körpers  Christi  (sowie  auch  einige  andere  rohe  Details,  die  wir  auf  der 
Passionsbühne  angetroffen  haben)  bereits  bei  Bonaventura  im  67.  Kapitel 
seiner  »Vita  Christi«.  Im  Hinblick  auf  diese  Tatsache  möchte  ich  meine 
bereits  früher  gemachte  Bemerkung  noch  einmal  aufnehmen,  die  dahin 
lautete,  daß  wir  nämlich  wohl  richtiger  gehen,  wenn  wir  alles  das,  was 
wir  sowohl  auf  der  Passionsbühne  als  auch  in  den  Darstellungen  der 
bildenden  Kunst,  an  brutalen  Zügen  antrefifen,  nicht  so  sehr  auf  die 
Gemütsroheit  der  damaligen  Zeit  zurückzuführen  suchen,  als  vielmehr  aut 
das  Bestreben,  das  Leiden  des  Heilandes  und  die  Pflicht  der  Dankbarkeit, 
die  wir  ihm  dieserhalb  schulden,  dem  Beschauer  möglichst  anschaulich 
vor  Augen  zu  stellen. 

Die  Aufrichtung  des  Kreuzes,  die  im  Bilde  äußerst  selten  dar- 
gestellt ist  (beispielsweise  bei  Altdorfer,  Sündenfall  und  Erlösung  des 
Menschengeschlechts),  hält  sich  wieder  ganz  und  gar  an  das  Vorbild  der 
Passionsbühne.  Im  Aisfelder  Spiele  heißt  es: 

(v.  5658)  nu  kommet  her  alle 

und  rieht  das  crucz  uff  myt  schalle ! 
seczet  an  spere  und  Stangen 
und  beydet  des  nit  lange! 

Ganz  ähnlich  ist  die  Szene  im  Donaueschinger  Spiel  gegeben 
(v.  3340  ff.). 

Ich  hatte  schon  zuvor  betont,  daß  ähnlich  wie  im  Passionsspiel 
auch  in  der  bildlichen  Darstellung  ein  durchgreifender  Unterschied  zwischen 
der  Kreuzigung  der  Schächer  und  der  Kreuzigung  Christi  gemacht  wird. 
Während  nun  aber  im  geistlichen  Spiele  dieser  Unterschied  sich  mehr 
auf  den  Akt  des  Gekreuzigtwerdens  bezog,  betrifft  derselbe  in  den 
Darstellungen  der  bildenden  Kunst  mehr  die  bereits  vollzogene  Kreuzi- 
gung, und  während  dieser  Unterschied  im  Passionsspiel  mehr  nach  der 
Richtung  hin  zum  Ausdruck  gebracht  wurde,  daß  uns  im  Gegensatz  zu 
den  Schächern  das  Leiden  und  die  Marter  Christi  recht  nachdrücklich 
vor  Augen  geführt  wurde,  legt  die  bildliche  Darstellung  Wert  darauf, 
diesen  Unterschied  in  der  Art  zu  formulieren,  daß  sie  die  Gestalt  Christi 


46 


K.  Tscheuschner: 


sich  in  jeder  Weise  an  Hoheit  und  Würde  von  den  Gestalten  der  beiden 
Schächer  neben  ihm  abheben  läßt.  Fast  immer  ist  so  Christus  im 
Bilde  bei  der  Kreuzigung  eine  besondere  Rolle  zugeteilt;  bald  sind  die 
Schächer  ihm  zur  Seite  mit  verrenkten  Gliedern  dargestellt  (vergl.  die  oben 
namhaft  gemachten  Beispiele),  bald  tragen  die  Schächer  gemeine  unan- 
sehnliche Gewänder,  während  er  in  edler  Nacktheit  dargestellt  ist  (Lukas 
van  Leyden  B.  74),  bald  sind  ihnen  die  Augen  verbunden,  während  sein 
schmerzerfülltes  Antlitz  unverhüllt  auf  uns  herniederblickt  (Israel  von 
Meckenem,  B.  18),  bald  ist  das  Kreuz  Christi  über  die  Kreuze  der 
Schächer  erhöht  (Urs  Graf,  Text  des  passions  oder  leidens  Christi  usw., 
Blatt  20)  usw.  ...  — Verhältnismäßig  sehr  selten  kommt  es  vor,  daß 
abgesehen  nur  etwa  von  dem  verschiedenartigen  Ausdruck  der  Gesichter 
zwischen  den  drei  Gekreuzigten  sonst  keinerlei  Unterschied  gemacht 
wird.  Lukas  Cranach  hat  dies  zuweilen  getan,  so  z.  B.  auf  seiner 
Kreuzigung  in  der  Münchener  Pinakothek  (Nr.  280)  und  seinem  Kreu- 
zigungsbilde in  Frankfurt  a.  Main,  ferner  auf  einem  Blatte  seiner 
Passionsfolge  (B.  6 — 20).  Man  sieht,  daß  der  Künstler  bei  diesen  Dar- 
stellungen sich  die  Gelegenheit  nicht  wollte  entgehen  lassen,  drei  schöne 
Akte  darzustellen. 

Wenn  wir  zuweilen  im  Bilde  neben  den  Nägeln,  mit  denen  Hände 
und  Füße  Christi,  resp.  der  Schächer,  an  das  Kreuz  geschlagen  sind, 
außerdem  die  betreffenden  Stellen  noch  mit  Stricken  umbunden  sehen  — 
ein  Motiv,  das  stets  höchst  unschön  wirkt  — , so  zeigt  dies  nur,  wie 
sklavisch  viele  Künstler  in  ihren  Bildern  einfach  das  nachzeichneten,  was 
sie  auf  der  Passionsbühne  vor  sich  sahen.  Auf  der  Bühne  waren  diese 
Stricke  unvermeidlich ; das  Einschlagen  der  Nägel  konnte  hier  ja  natür- 
lich immer  nur  fingiert  werden  und  so  bediente  man  sich  denn  not- 
gedrungen noch  obendrein  der  Stricke,  um  die  Körper  der  Verurteilten 
überhaupt  an  den  Kreuzen  befestigen  zu  können.  Für  den  bildenden 
Künstler  existierte,  wie  gesagt,  eine  derartige  Nötigung  nicht,  und  wenn 
er  also  trotzdem  in  seiner  Darstellung  außer  den  Nägeln  noch  die 
unschönen  Stricke  anbrachte,  so  dokumentierte  dies  eben  nur  seine 
Gedankenlosigkeit. 

Über  die  nun  folgenden  einzelnen  Episoden  der  Kreuzigungsszene, 
sowie  die  Auferstehung,  die  Befreiung  der  Voreltern  usw.  glaube  ich  hier 
kürzer  hinweggehen  zu  dürfen,  da  C.  Meyer  gerade  über  diese  Szenen 
ausführlicher  gehandelt  hat.  38)  Ich  führe  hier  nur  das  an,  was  ich  in 
Meyers  Abhandlungen  vermißt  habe. 


38)  Vergl.  C.  Meyer,  Geistliches  Schauspiel  und  kirchliche  Kunst  S.  370  ff.  — in 
L.  Geigers  Vierteljahrsschrift  flir  Kultur  und  Literatur  der  Renaissance,  Jahrg.  1886. 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


47 


In  Dürers  Kleiner  Passion  sehen  wir  Maria  mit  den  heiligen  Frauen 
und  Johannes  bald  dicht  unter  dem  Kreuze  stehen,  bald  mehr  nach  dem 
Hintergründe  zu.  Auch  dieses  Motiv,  das  sich  für  den  bildenden  Künstler 
besonders  fruchtbar  erwies,  indem  es  die  wünschenswerte  Abwechslung 
in  den  Gruppenaufbau  brachte,  geht  ebenfalls  auf  das  Vorbild  der  Passions- 
bühne zurück.  Im  Aisfelder  Passionsspiel  lautet  die  betreffende  Szene: 

Johannes  dicit: 

(v.  6138)  Maria,  liebe  mutter  myn, 

nu  swig  und  loiß  dyn  schreyen  syn! 
din  schreyen  und  dyn  weynen 
das  hilfft  dich  gar  cleyne! 
ach  Maria,  des  gang  mit  mer! 
nicht  lenger  wol  mer  bliben  hyer, 
wan  mer  syn  hie  zu  elende! 
des  loiß  uns  gehen  uff  eyn  ende ! 
von  dissem  gedrenge  wirdestu  krangk, 
want  das  jamer  ist  leyder  langk! 
des  stant  uff,  Maria  woil  gethan! 
mer  woln  eyn  wyle  von  hynnen  gan, 
bys  das  mer  gesehen,  liebe  mutter  myn, 
wie  eß  ergehe  dem  kynde  dyn! 

Maria  et  Johannes  parum  procedunt  ....  Post  hoc  Maria  stat 
modicum.  Salvator  cantat: 

Helv,  hely,  lamazabathani  .... 

Maria  audita  voce  Christi  plangit  acuta  voce  ....  et  dicit: 

(v.  6175)  O we!  ich  hört  eyn  ruff: 

das  was  myn  kynt  Ihesus,  das  mich  geschuff! 

eynen  ruff  alßo  krenglich! 

ach,  liebe  Johannes,  ich  bidden  dich, 

das  du  uns  widder  losßest  gehen 

mit  jamer  vor  das  crucze  stehen 

zu  mynem  lieben  kynde, 

ab  ich  eß  möge  lebendigk  fynden? 

Et  sic  appropinquat  cruci  .... 

Wir  finden  im  Bilde  bei  der  Kreuzigung  zuweilen  Maria  dargestellt 
mit  einem  großen  Schwert,  das  ihr  ins  Herz  dringt  (beispielsweise 
Schäuffelin,  Nr.  260  a,  Münchener  Pinakothek).  Es  ist  ja  nun  ohne 

weiteres  klar,  daß  diese  Darstellung  zurückgeht  auf  die  Worte,  die  im 
Lukasevangelium  der  greise  Simeon  bei  der  Darstellung  Christi  im 
Tempel  an  Maria  richtet:  Et  tuam  ipsius  animam  pertransibit  gladius.39) 
Daß  nun  aber  einzelne  bildende  Künstler  kein  Bedenken  trugen,  diese 
köstliche  symbolisierende  Redewendung  des  Evangelientextes  sich  ins 


39)  Luk.  2,  35. 


48 


K.  Tscheuschner: 


Grobsinnliche  umzudeuten  — die  Darstellung  der  Maria  mit  dem 
Schwert  im  Herzen  gehört  in  ihrer  unglaublichen  Plumpheit  mit  zu  dem 
Unkünstlerischesten,  was  mir  je  begegnet  ist  — diese  Tatsache  zeigt 
wieder  einmal  so  recht  den  ungünstigen  Einfluß,  den  die  Vorführungen 
der  Passionsspiele  in  so  mancherlei  Beziehung  auf  die  bildende  Kunst 
ausübten.  Die  Künstler  hätten  sich  wohl  kaum  je  aus  eigenem  Antriebe 
zu  einer  derartig  banalen,  vor  allem  aber,  wie  schon  eben  betont,  auch 
so  durch  und  durch  unkünstlerischen  Ausdeutung  dieses  Motives  ver- 
leiten lassen,  wären  sie  dieselbe  nicht  bereits  von  den  Aufführungen  der 
Passionsspiele  her  gewohnt  gewesen.  Das  Alsfelder  Spiel  hält  sich  noch 
im  Anfang  auf  der  Grenze;  das  Schwert  wird  hier  noch  nicht  in  natura 
vorgeführt,  aber  es  wird  bereits  in  so  sinnfälliger  Weise  von  demselben 
gesprochen,  daß  wir  uns  gar  nicht  wundern  würden,  wenn  wir  dasselbe 
plötzlich  zu  sehen  bekämen.  Maria  sagt  mitten  in  ihren  Klagen: 

(v.  6088)  des  stichet  mich  zu  disser  stund 

eyn  swert  durch  mynes  herczen  grünt  I 
und  gleich  darauf  noch  einmal: 

(v.  6090)  Symeonis  grymmig  swert 

das  hot  mich  wol  befunden  .... 

Etwas  später,  wie  die  Marienklage  nach  der  Longinusszene  noch 
einmal  einsetzt,  erscheint  nun  aber  wirklich  Johannes  mit  einem  Schwert, 
das  er  der  Maria  ans  Herz  setzt:  Hic  Johannes  ponit  ei  gladium  ad 
pectus  et  Maria  plangit: 

Hercze  brich,  swert  nu  stich  vnnd  loiß  mich  myt  em  sterben! 
ader  ich  muß  hie  under  eine  ßo  jemmerlichen  vorterben  .... 

Noch  weiter  geht  die  Haller  Passion,  diese  läßt  nämlich  an  die 
Stelle  des  Johannes  den  alten  Simeon  selbst  treten,  von  dem,  wie  oben 
bemerkt,  die  Prophezeiung  von  dem  Schwert,  das  Maria  durch  die  Seele 
gehen  wird,  herrührt.  Die  Bühnenbemerkung  an  der  in  Frage  kommenden 
Stelle  lautet  (v.  1119):  Simeon  venit  cum  evaginato  gladio  et  ponit  ad 
pectus  Marie.  Das  persönliche  Erscheinen  des  längst  verstorbenen  Si- 
meon, das  uns  anfänglich  höchst  sonderbar  berührt,  wird  uns  erklärlich, 
wenn  wir  erfahren,  daß  nach  dem  Bericht  des  Nikodemusevangeliums 
Simeon  unter  der  Zahl  derjenigen  war,  die  beim  Tode  Christi  den 
Gräbern  entstiegen.  4°)  Einen  Irrtum  hat  der  Verfasser  dieses  Spieles 
sich  dennoch  zu  schulden  kommen  lassen,  indem  er  nämlich  Simeon 
mit  dem  Schwert  unter  das  Kreuz  treten  läßt,  schon  bevor  Christus  ge- 
storben ist.  — 

Im  Bilde  sehen  wir  dann  auch  zuweilen  Maria  mit  mehreren 
Schwertern  dargestellt  (in  diesem  Falle  allerdings  wohl  stets  allein),  so 


4°)  Ev.  Nikod.  cap.  XVII  ed.  Tischendorf  S.  368. 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


49 


etwa  in  Schäuffelins  Via  felicitatis  (Augsburg  1513),  wo  wir  sie  sitzend 
dargestellt  finden,  das  Haupt  von  fünf  Schwertern  umgeben,  oder  bei 
Burgkmair,  Leben  und  Leiden  Christi,  wo  sieben  Schwerter  ihr  das  Herz 
durchdringen.  Für  diese  Darstellungen  ist  das  Passionsspiel  nicht  vor- 
bildlich. Im  ersteren  Fall  schwebten  dem  Künstler  offenbar  die  fünf 
Wundmale  Christi  vor  Augen  und  im  letzteren  Falle  war  es  ihm  darum 
zu  tun,  mit  seiner  Darstellung  auf  die  bekannten  sieben  Schmerzen  der 
Maria:  die  Beschneidung,  Flucht  nach  Ägypten,  Christus  unter  den  Schrift- 
gelehrten im  Tempel,  Kreuztragung,  Kreuzigung,  Kreuzabnahme  und  Grab- 
legung, hinzuweisen. 

Wie  dies  zu  erwarten  ist,  läßt  sich  das  geistliche  Schauspiel  die 
Gelegenheit  nicht  entgehen,  Freunde  und  Feinde  Christi  unter  dem 
Kreuze  aneinander  geraten  zu  lassen.  Bald  sind  es  nur  die  Kriegsknechte, 
die  Johannes  und  die  Frauen  vom  Kreuze  gewaltsam  vertreiben  wollen 
— im  Frankfurter  Spiel  nimmt  der  Jude  Joselin  dem  Johannes  seinen 
Mantel  weg,  gibt  ihm  denselben  auf  den  Rat  seiner  Gefährten  jedoch  bald 
wieder  zurück,  um  nicht  bei  Hannas  als  Räuber  verklagt  zu  werden  — , 
bald  ist  es  Kaiphas  selbst,  der  sie  vertreibt  und  der  sich  auch  hier 
wiederum  in  ganz  besonders  ungünstigem  Lichte  zeigt.  Im  Egerer 
Passionsspiel  unterbricht  er  beispielsweise  die  herzzerreißenden  Klagen 
der  Maria  mit  den  groben  Worten: 

(v.  6877)  Joannes,  du  vil  teretter  man, 

Wan  wiltu  doch  dein  klaffen  lan? 

Du  schreist  und  klaffest  also  vil, 

Das  michs  die  leng  verdriessen  wil: 

Ich  mags  von  dir  nicht  mer  h8rn, 

Ich  wil  dein  redt  zu  storn. 

Heb  dich  nun  dar  van  gar  schir 
Und  nimb  auch  das  weib  mit  dir, 

Oder  ich  gib  dir  einen  schlag 

Das  du  nit  über  lebst  den  heutigen  tag. 

Derartige  Versuche,  die  Freunde  Christi  vom  Kreuze  mit  Gewalt 
zu  vertreiben,  finden  wir  im  Bilde  ziemlich  häufig  dargestellt;  ein  anderes 
Motiv,  das  das  Aisfelder  Spiel  gibt,  — die  Juden  umtanzen  hier  singend 
und  johlend  das  Kreuz  — , habe  ich  in  der  bildlichen  Darstellung  hin- 
gegen nirgends  angetroffen.  — 

Im  Donaueschinger  Passionsspiel  treten  unten  den  Personen,  . die 
sich  um  den  Stamm  des  Kreuzes  scharen,  zum  Schluß  auch  Christiania 
und  Judea  als  die  allegorischen  Repräsentanten  des  Christentums  und 
des  Judentums  auf  (v.  3545  ff.).  Das  geistliche  Spiel  verwendet  derartige 
allegorische  Gestalten,  die  redend  und  handelnd  in  den  Gang  des  Spieles 
eingreifen,  nicht  selten.  Die  Frankfurter  Dirigierrolle  läßt  Ecclesia  und 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  4 


5o 


K.  Tscheuschner: 


Synagoga  als  Vertreterinnen  der  beiden  feindlichen  Religionen  auftreten. 
Im  Alsfeld  er  Spiele  erscheint  bei  der  Auferweckung  des  Lazarus  der  Tod 
und  beim  Tode  Christi  treten  in  dem  nämlichen  Spiele  der  Mond  und  die 
Sterne  auf,  die  den  Heiland  mit  wohlgesetzten  Worten  anreden.  So 
häufig  in  der  Plastik  derartig  allegorische  Gestalten  — die  beliebtesten  sind 
Ecclesia  und  Synagoga  — auftreten,  ebenso  selten  sind  dieselben  in  der 
Malerei.  Vollends  gehören  aber  Darstellungen,  in  denen  analog  der 
Auffassung  der  Passionsbühne,  allegorische  Gestalten  in  eine  Szene  der 
Passionshandlung  selbst  verwickelt  auftreten,  zu  den  größten  Seltenheiten. 
Mir  ist  überhaupt  nur  ein  einziger  derartiger  Fall  bekannt,  es  ist  dies 
ein  Blatt  des  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  angehörigen  Mono- 


mit  der  Siegesfahne  als  der  Überwinder  des  Todes  und  des  Teufels  dar- 
gestellt. Er  steht  vor  dem  geschlossenen  Grabe  und  setzt  den  einen 
Fuß  auf  ein  Totengerippe,  den  anderen  auf  eine  sich  krümmende  Teufels- 
gestalt. 

Um  zu  zeigen,  wie  eng  sich  die  bildenden  Künstler  bei  der  Dar- 
stellung der  Longinusszene  an  das,  was  sie  auf  der  Bühne  sahen, 
hielten,  zitiere  ich  den  betreffenden  Passus  der  Augsburger  Passion,  der 
in  fast  allen  Spielen  wiederkehrt: 

Longinus  kompt  vnd  spricht: 

(v.  1845)  Ich  bin  ain  blinder  armer  man. 


Yetz  sticht  Longinus  ihesum  am  creitz,  vnd  so  das  blut  herab 
rinnt,  bestreicht  sich  damit  . . . 


grammisten 


(Nagler  I,  i486  Nr.  18).  Hier  ist  Christus 


möchte  ich  ain  knecht  gehan, 

Der  mich  weißte  zu  ihesu  leben, 
ich  w8lt  seiner  marter  end  geben. 


Ich  will  dir  gutten  Ion  geben, 
weis  mich  nun  recht  vnd  eben, 


Das  ich  im  treff  das  hertze  sein  1 


ich  h8r  in  leiden  grosse  pein, 
Das  ich  im  danon  helffen  will 
vnd  richten  auf  des  todes  zil. 


Solan  zu  longino: 


Herr,  ich  will  euch  eben  weisen. 


naigend  den  spieß  mit  dem  eysenl 


An  sein  hertz  will  ich  in  setzen, 
das  ir  in  wol  mugend  letzen 


Vnd  in  in  die  seyten  stechen 
vnd  im  also  sein  hertz  brechen. 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


51 


Wenn  wir  neben  diese  Szene  beispielsweise  die  Darstellung  der 
Longinusepisode  in  Burgkmairs  Leben  und  Leiden  Christi  halten,  so  sehen 
wir,  daß  beide  Zug  um  Zug  übereinstimmen. 

Den  Schächern  werden  im  Passionsspiel  regelmäßig  Arme  und 
Beine  gebrochen,  um  ihren  Tod  zu  beschleunigen.  Im  Bilde  finden  wir 
dieselben  nie  mit  gebrochenen  Gliedern  dargestellt  und  zwar  wohl  aus 
ästhetischen  Gründen.  Zuweilen  bringen  die  bildenden  Künstler  an 
Armen  und  Schenkeln  klaffende  Wunden  an,  die  jedoch  höchstens  durch 
einen  Schwerthieb,  nie  aber  durch  einen  Keulenschlag  entstanden  sein 
können. 

Die  Regel  ist  dann  ferner  im  geistlichen  Spiel,  daß  beim  Tode 
der  Schächer  ein  Engel  die  Seele  des  guten  Schächers,  ein  Teufel  die 
des  bösen  in  Empfang  nimmt  und  in  den  Himmel  resp.  in  die  Hölle 
entführt.  Die  Seelen  wurden  als  kleine  menschliche  Figuren  dargestellt. 
Die  Art  und  Weise,  in  der  diese  ganze  Szene  auf  der  Bühne  vorgeführt 
wurde,  veranschaulicht  die  folgende  szenarische  Bemerkung  aus  dem 
Donaueschinger  Passionspiel : 

(v.  3454)  In  dissem  sol  jeglicher  Schacher  ein  bildly  im  mull  han, 
als  ob  es  ein  sei  were.  den  nimpt  der  engel  des  güten  Schachers  sei  und 
gat  in  himel,  und  der  tüfifel  des  andern  sei  und  loufft  mit  grossem  geschrey 
in  die  hell.  — Es  kommen  indessen  in  der  Passionsspielliteratur  auch 
andere  Auffassungen  dieser  Szene  vor.  So  läßt  etwa  die  Brixener  Passion 
schon  vor  dem  Tode  der  Schächer  Engel  und  Teufel  an  die  Kreuze 
herantreten;  der  Engel  lobt  den  guten  Schächer  für  seinen  Glauben  und 
verheißt  ihm  die  ewige  Seligkeit,  und  der  Teufel  redet  seinerseits  auf 
den  bösen  Schächer  ein,  damit  dieser  sich  nicht  . etwa  noch  im  letzten 
Augenblick  bekehren  lasse  und  ihm  so  verloren  gehe  (v.  2627  ff.).  — 
Eine  ganz  und  gar  abweichende  Darstellung  dieser  Szene  gibt  das  Egerer 
Passionsspiel  (v.  7045  ff.).  Hier  werden  nämlich  nicht  nur  die  Seelen 
der  Schächer  entführt,  sondern  ihre  Leichname  werden  von  den  Engeln, 
resp.  Teufeln  von  den  Kreuzen  abgenommen  und  sie  müssen  nun,  ob- 
gleich man  ihnen  schon  zuvor  die  Beine  gebrochen  hat  (v.  6934), 
selbst  nach  ihrem  Bestimmungsort  im  Jenseits  laufen.  Noch  sonderbarer 
gestaltet  sich  die  Wirkung  der  Szene  dadurch,  daß  nämlich  beide  Schächer, 
nachdem  sie  vom  Kreuz  abgenommen  sind,  eine  längere  Rede  halten.  — 

Im  Bilde  finden  wir  die  erstere  der  hier  beschriebenen  Darstellungs- 
arten sehr  häufig;  Engel  und  Teufel  nehmen  die  Seelen  der  Schächer, 
die  als  kleine  menschliche  Figuren  gebildet  sind  und  aus  dem  Munde 
der  Sterbenden  hervortauchen,  in  Empfang.  — Urs  Graf  läßt  auf  dem 
22.  Blatt  seines  »Text  des  passions  oder  leidens  Christi  etc.«  die  Qualen 
des  bösen  Schächers  bereits  hier  beginnen ; er  zeigt  uns  den  Teufel,  der 


4 


52 


K.  Tscheuschner: 


auf  dem  Querbalken  des  Kreuzes  steht,  die  Seele  des  ungläubigen 
Schächers  am  Schopfe  hält  und  dieselbe  mit  einer  stacheligen  Rute 
durchpeitscht. 

Bezüglich  der  Darstellung  des  Todes  Christi  möchte  ich  zudem 
bereits  von  Meyer  Gesagten  noch  folgendes  hinzufügen.  In  den  Spielen 
der  Frankfurter  Gruppe  (dem  Frankfurter,  Alsfelder  und  Heidelberger 
Spiel)  tritt  beim  Tode  Christi  der  Teufel  auf,  in  der  Hoffnung,  die  Seele 
des  Herrn  für  die  Hölle  gewinnen  zu  können.  Ich  führe  die  betreffende 
Stelle  des  Alsfelder  Spieles  an: 

(v.  6267)  Tune  Sathanas  successive  ascendit  crucem  ad  sinistram 
et  angelus  secundus  ad  dexteram  manum  etc. 

Salvator  canit: 

Consummatum  estl 


Tune  Ihesus  inclinat  caput  (Et  fit  motus  terre  personum  terribi- 
lem).  Angelus  secundus  stat  in  cruce  a dextris  et  mittit  columbam  albam 
volare.  Dyabolus  etiam  stat  in  cruce  a sinistris,  scilicet  Sathanas,  et 
Luciper  infra  crucem  venit  respiciendo  sursum  et  dicit  ad  Sathanam : 
Wer  ist  dit?  wer  ist  das? 

Sathanas  respondit: 

Herre  Luciper,  ich  byn  dyn  knecht  Sathanas  ! 

Lucifer  dicit: 

Was  gehestu  dar  stan! 

Sathanas: 

Herre  Luciper,  ich  wel  disßes  mentsclien  scle  han ! 

Luciper : 

Hoistu  dan  auch  deyl  daran? 

Sathanas : 

Ich  hoffe,  hie  solle  mer  nit  entgan! 

etc.  etc.  . . . 

Es  ist  mir  gelungen,  dieses  Motiv  auch  in  der  bildlichen  Dar- 
stellung aufzufinden  und  zwar  auf  dem  Crucifixus  des  Daniel  Hopfer 
(B.  12).  Maria  und  Johannes  stehen  unter  dem  Kreuz,  das  zahlreiche 
Cherubim  im  Kreis  umflattern;  oben  am  Querholz  des  Kreuzes  rechts 
hat  sich  ein  Teufel  festgekrallt  und  lauert  mit  gierigen  Blicken  auf  die 
Seele  des  Heilandes. 

Die  Kreuzabnahme,  wie  wir  sie  im  Bilde  dargestellt  finden, 
schließt  sich  wieder  bis  zu  den  kleinsten  Details  hinab  der  Auffassung 
der  Passionsbühne  an.  Es  zeigt  sich  dies  sofort,  wenn  wir  etwa  an  die 
Luzerner  Grablegung  von  Matthias  Gundelfinger  zurückdenken: 

Joseph  ad  Nicodemum: 

(v.  125)  Nicodeme,  diner  hilf  ich  beger, 
hais  uns  bringen  zu  laiter  her, 


Die  deutsche  Passionsbuhne  usw. 


53 


dar  zu  ain  hamer  und  ain  zangen, 
das  wirn  vom  crütz  herab  langen. 

Nicodemus  ad  servos: 

Ihr  lieben  brieder,  nu  bytent  nit  lang, 
bringt  uns  ain,  hamer  und  ain  zang, 
dar  zu  zwü  laitern  in  rechter  leng, 
da  mit  mir  raichent  die  hend, 
und  auch  die  fieß  des  wauren  Crist, 
der  an  dem  crütz  gestorben  ist. 

Unus  ex  servis  ad  Nicodemum : 

Nicodeme,  das  wöll  wir  gern  thon, 
wir  wollen  auch  helfen  darzü  schon, 
das  Jesus  kom  vom  creütz  herab 
und  werd  gelegt  in  das  grab. 

(v.  155)  Tune  applicent  servi  scalas  et  linteum  sternant,  et  ascen- 
dat  Nicodemus  a tergo  crucis  et  in  sumitate  crucis  intuens  corpus  cru- 
cifixi moveat  caput  alta  et  lamentabili  voce  dicens.  . . . 

v.  172)  Deinde  corpus  crucifixi  circumdet  et  liget  mappa  et  cla- 
vos  extrahens  de  manibus  dicat  Nicodemus. 

Joseph,  getrüwer  geselle  min, 
lauß  dir  Jesum  empfolchen  sin, 
zuich  den  nagel  aus  den  fußen, 
und  thü  in  in  die  arm  schließen, 
biß  das  ich  stig  zu  dir  hinab, 
so  wöl  wir  legen  in  ain  grab. 

Interim  cum  Nicodemus  legit  praescriptum  rigmum,  Joseph  scalam 
ex  opposito  locatam  ascendant  et  clavos  extrahat  de  pedibus,  et  corpore 
suscepto  ab  ambobus  dicat  Joseph  etc.  etc. 

Eine  sehr  eigentümliche  und  in  ihrer  Art  wohl  auch  völlig  einzig 
dastehende  Abweichung  bei  der  Kreuzabnahme  bringt  die  Sterzinger 
Passion,  die  (v.  2687)  vorschreibt:  et  hic  inclinatur  crux,  — also  das 
Kreuz  zum  Zwecke  der  Abnahme  des  Leichnams  Christi  umlegen  läßt. 

In  einzelnen  Spielen  wird  die  Grablegung  so  dargestellt,  daß  man, 
offenbar  in  Anlehnung  an  die  damals  üblichen  Begräbnisgebräuche,  den 
Leichnam  Christi  in  feierlicher  Prozession  zu  Grabe  trägt.  Diese  Auf- 
fassung zeigt  die  Frankfurter  Passion  (v.  4408)  und  noch  ausführlicher 
die  Luzerner  Grablegung  von  Matthias  Gundelfinger,  die  die  folgende 
Anweisung  enthält  (v.  261):  Fiat  processio.  primo  procedens  unus  mas- 
culus  bajulans  crucem,  deinde  quatuor  angeli  portantes  tres  clavos  et  coro- 
nam,  deinde  quatuor  cum  cereis,  deinde  Joseph  et  Nicodemus  et  duo  servi 
bajulantes  corpus  crucifixi,  deinde  iterum  quatuor  angeli  cum  cereis, 
deinde  Maria  virgo  cum  Johanne  deinde  tres  Mariae  et  ultimo  duo  servi 
portantes  unguentum,  et  in  circuitu  pergant  ad  sepulcrum  etc,  . , , 


54 


K.  Tscheusclincr: 


Die  deutsche  bildende  Kunst  bevorzugt  bei  der  Darstellung  der 
Grablegung  den  Moment,  in  dem  der  Leichnam  Christi  in  den  Sarkophag 
hinein  versenkt  wird,  die  Darstellung  des  Zu-Grabe-Getragen-Werdens 
findet  sich  bedeutend  seltener  (etwa  einmal  auf  der  bekannten  Hand- 
zeichnung Dürers  im  Besitze  William  Mitchels,  Ephrussi  311). 

Die  Zahl  der  Wächter  am  Grabe  Christi  ist  durchaus  nicht  immer 
vier;  die  Sterzinger  Passion  führt  sechs  Wächter  an,  die  Egerer  Passion 
acht  und  Dürer  hat  in  seiner  Großen  Passion  deren  sogar  nicht  weniger 
als  zwölf.  — 

Die  Wächter  placieren  sich  im  Spiel  dann  gewöhnlich  an  die  vier 
Seiten  des  Grabes.  Im  Augsburger  Passionsspiel  heißt  es  beispielsweise: 

Der  vierd  scherg  Pylati: 

(v.  2117)  Ich  leg  mich  zu  den  fassen  sein.; 

Der  erst  scherg  Pylati: 

(v.  21x9)  So  leg  ich  mich  oben  zu  dem  grab. 

Der  ander  scherg  Pylati: 

(v.  2123)  Ich  will  mich  an  die  seytten  legen. 

Der  drit  scherg  Pylati: 

(v.  2127)  So  schmu  ich  mich  her  an  den  ort. 

Im  Redentiner  Osterspiel  (v.  125  ff.)  weist  Pilatus  den  Wächtern 
ihre  Plätze  nach  den  vier  Himmelsrichtungen  an.  — Die  bildende  Kunst 
hat  wohl  zumeist  absichtlich  von  dieser  starren  symmetrischen  Anordnung 
Abstand  genommen. 

Daß  die  Grabwächter  nun  so  bald  einschlafen,  wird  in  den  Passions- 
spielen in  verschiedener  Weise  motiviert.  In  der  Donaueschinger  Passion 
trinken  sie  Wein,  in  Sebastian  Wilds  Passionsspiel  ist  es,  wie  schon  früher 
erwähnt,  die  schwüle  Abendstimmung,  die  sie  müde  macht.  Zuweilen 
schlafen  sie  aber  überhaupt  nicht  von  selbst  ein,  sondern  werden  erst 
durch  den  Engel,  der  kommt,  um  Christus  aus  dem  Schlaf  zu  rufen,  in 
Schlaf  versenkt.  Dieses  letztere  Motiv  leitet  dann  bereits  zur  Auf- 
erstehungsszene über. 

In  der  Wiener,  St.  Galler  und  Sterzinger  Passion  streckt  der  Engel 
die  Wächter  mit  dem  Schwerte  nieder.  Hierbei  scheint  man  sich  dann 
zuweilen  auf  der  Bühne  eines  Feuerwerkeffektes  bedient  zu  haben.  In 
der  Sterzinger  Passion  heißt  es  nämlich  (v.  3143):  Tune  venit  angelus 
percutiens  cum  gladeo  igneo,  und  eine  Bühnenanweisung  der  Egerer  Passion 
spricht  sich  noch  deutlicher  hierüber  aus  (v.  7397):  sub  illo  venit  angelus 
cantans  Gabriel,  tenens  gladium  in  manu  plenum  parvis  cornis  ardentibus.  — 


Die  deutsche  Passionsbühne  usw. 


55 


Die  Auferstehung  selbst  geht  im  Spiele  auf  zweierlei  Art  vor  sich. 
Ich  führe  als  typische  Beispiele  für  beide  Auffassungen  die  Donau- 
eschinger  Passion  und  Sebastian  Wilds  Passionsspiel  an.  Die  Donau- 
eschinger  Passion  schreibt  vor  (v.  3858):  Und  in  dissem  sol  ein  tonnerklapf 
mit  buchsen  gemacht  werden,  und  in  dem  stost  der  Salvator  das  grab 
uff;  und  in  Wilds  Passionsspiel  heißt  es  (v.  1327):  Zwen  Engel  kommen, 
decken  das  Grab  auff,  gehn  wider  ab.  — Die  erstere  Auffassung,  daß 
Christus  selbst  das  Grab  aufstößt,  findet  sich  begreiflicherweise  in  der 
bildlichen  Darstellung  nicht,  um  so  häufiger  jedoch  die  letztere.  Wir 
sehen  Engel,  die  den  Stein  vom  Grabe  schieben  u.  a.  bei  Martin  Schon- 
gauer  (B.  20),  Albrecht  Glockenton  (B.  17),  Wenzel  von  Olmütz  (B.  15) 
und  Israel  von  Meckenem  (B.  20). 

Bei  einzelnen  Künstlern,  wie  etwa  Martin  Schongau  er  (B.  20)  und 
Israel  von  Meckenem  (B.  20),  ist  die  Auferstehungsszene  so  gegeben,  daß 
Christus  soeben  aus  dem  Grabe  steigt  und  zwar  mit  dem  einen  Fuß 
bereits  draußen  steht  und  den  andern  soeben  nachzuziehen  im  Begriffe 
ist.  Dieses  Motiv,  das  im  Bilde  im  höchsten  Grade  ungeschickt  wirkt, 
geht  auf  das  Passionsspiel  zurück,  das  diese  Stellung  des  Heilandes  bei 
der  Auferstehung  wiederholentlich  ganz  ausdrücklich  vorschreibt.  In  der 
Donaueschinger  Passion  heißt  es  (v.  3858):  und  in  dem  stost  der  Salvator 
das  grab  uff  und  stat  uffrecht  mit  einem  föß  uß  her  ze  stigen;  und 
noch  deutlicher  ist  Sebastian  Wilds  Passionsspiel,  wenn  es  vorschreibt 
(v.  1327):  Christus  ersteht  vnd  spricht,  weyl  er  den  einen  Fuß  noch  im 
Grab  hat  vnd  mit  dem  anderen  heraussen  steht 

Noch  geschmackloser  wirkt  es  allerdings  im  Bilde,  wenn  Christus 
wie  bei  Altdorfer,  Sündenfall  und  Erlösung  des  Menschengeschlechts,  auf 
der  schmalen  oberen  Kante  des  Grabes  balanciert,  oder  gar  nach  seiner 
Auferstehung  zwischen  den  schlafenden  Wächtern  gemächlich  auf  der 
Grabplatte  sitzt,  wie  wir  dies  auf  Hans  Multschers  Altar  von  1437  im 
Berliner  Museum  zu  sehen  bekommen.  Für  diese  beiden  letzteren 
Geschmacklosigkeiten  glaube  ich  nun  allerdings  die  Passionsbühne  nicht 
verantwortlich  machen  zu  können. 

Endlich  ist  noch  ein  letztes  Moment  zu  erwähnen.  Zumeist  macht 
die  Gestalt  des  Auferstandenen  im  Bilde  auf  uns  den  Eindruck  (vor 
allem  weist  die  gestikulierende  Rechte  darauf  hin),  als  habe  der  Künstler 
denselben  sprechend  darstellen  wollen.  Auch  dieses  Motiv  geht  auf  die 
Passionsbühne  zurück,  wo  der  Heiland  regelmäßig  im  Augenblick  der 
Auferstehung  sein  »Resurexi«  singt  und  dann  meistens  auch  noch  ein 
weiteres  in  gebundener  Rede  hinzufügt. 

Die  Szene,  wie  Christus  nach  seiner  Auferstehung  seiner  Mutter 
erscheint,  findet  sich  im  Bilde  (beispielsweise  in  Dürers  Kleiner  Passion 


56 


K.  Tscheuschner: 


und  in  Hans  Wechtlins  Leben  und  Leiden  Christi  (P.  46)  öfters  so  dar- 
gestellt, daß  in  dem  Augenblick,  in  dem  Christus  an  sie  herantritt,  Maria 
in  ihrer  Kammer  unter  dem  Baldachin  vor  ihrem  Betpuite  kniet.  Die 
Darstellung  erinnert  in  dieser  Auffassung  ganz  auffällig  an  die  Ver- 
kündigungsszene. — Auch  hier  scheint  die  Passionsbühne  mir  die  Erklärung 
für  die  Tatsache  dieser  sonderbaren  Übereinstimmung  beider  Darstellungen 
zu  bieten.  Im  Alsfelder  Passionsspiel  sagt  nämlich  Christus,  bevor  er  seiner 
Mutter  erscheint,  zu  Gabriel: 

(v.  7706)  Ein  engel  lobesam  Gabriell, 

zu  myner  mutter  gangk  gar  snell: 

myne  frolich  ufferstehunge  thu  ir  uffinbar, 

der  du  er  vorkyndigest  myn  mentschwerdunge  zcwar! 

Hier  ist  in  zweifacher  Weise  — einmal  dadurch,  daß  gerade  Gabriel 
an  Maria  abgesandt  wird  und  zweitens  durch  die  Worte  des  Heilandes 
selbst  — mit  solcher  Bestimmtheit  auf  die  Verkündigungsszene  hinge- 
wiesen, daß  man  nur  zu  leicht  begreifen  kann,  wie  dem  bildenden 
Künstler,  dem  diese  Szene  von  den  Aufführungen  der  Passionsbühne  her 
bekannt  war,  bei  der  Abfassung  seiner  Komposition  ganz  unwillkürlich 
das  Kompositionsschema  der  Verkündigungsszene  vor  Augen  trat. 

Über  die  Erscheinung  Christi  vor  Mafia  Magdalena  sagt 
das  Johannesevangelium:  Una  autem  sabbati  Maria  Magdalene  venit 

mane,  quum  adhuc  tenebrae  essent,  ad  monumentum.4i)  Das  Passions- 
spiel spinnt  die  Bemerkung,  daß  es  noch  früh  am  Morgen  ist,  gern 
weiter  aus.  Im  Alsfelder  Spiele  sagt  beispielsweise  Christus  zu  Maria 
Magdalena: 

(v.  7736)  Was  suchestu  in  dissem  garten 
ader  was  wyltu  warten 
ßo  frue  ane  disßer  Stadt? 
gangk  heyme!  das  ist  myn  raidt. 
eß  ist  nicht  recht,  das  frauwen 
ßo  frue  gehen  in  dem  tauwe ! 

Dürer  hat  in  seiner  Kleinen  Passion  durch  das  Anbringen  der  auf- 
gehenden Sonne  im  Hintergründe  eine  köstliche  Wirkung  erzielt. 

Das  Johannes-Evangelium  sagt  dann  weiter  (v.  15):  Dicit  ei  Jesus: 
Mulier,  quid  ploras?  quem  quaeris?  Ula,  existimans  quia  hortulanus 
esset,  dicit  ei:  Domine,  si  tu  sustulisti  eum,  dicito  mihi,  ubi  posuisti  eum, 
et  ego  eum  tollam.  — Magdalena  glaubt  also  nur  einen  Augenblick, 
daß  er  der  Gärtner  sei,  der  ihr  begegnet.  Das  Passionsspiel  läßt  sich 
natürlich  die  Gelegenheit  nicht  entgehen,  aus  dieser  Andeutung  eine 
ganze  realistisch  ausgeführte  Gärtnerrolle  zu  entwickeln.  Im  Wiener 


41)  Joh.  cap.  20,  1. 


Die  deutsche  Passionsbühnc  usw. 


57 


Osterspiel  sagt  Christus  zu  Maria  Magdalena  (Hoffmann  von  Fallersleben, 
Fundgruben  II,  S.  327,  v.  7 ff.): 

Ich  kan  dein  ja  nicht  gewarten, 

Ich  muß  graben  meinen  garten; 

Ich  bereite  meinen  pastarnack, 

Und  stopfe  den  in  meinen  sack 
Und  wil  damite  zu  markte  laufen 
Und  mir  des  brotes  kaufen, 

Das  ich  ernere  meinen  leip 
Gein  diser  österlichen  zeit. 

Das  Egerer  Passionsspiel  ist  noch  viel  derber;  hier  sagt  Christus: 
(v*  7985)  Du  verderbst  mir  das  gras: 

Ich  sag  dir  das  an  allen  has, 

Du  hast  mirs  an  allen  Stetten 
In  die  erdt  nider  getretten; 

Darumb  las  dirs  nit  wider  farn, 

Oder  ich  wolt  dir  die  streich  nit  sparn. 

Auf  diese  breite  realistische  Ausgestaltung  der  Gärtnerszene  in  den 
Passionsspielen  haben  wir  es  wohl  zurückzuführen,  daß  Christus  im  Bilde 
so  häufig  mit  Gärtnerhut  und  Grabscheit  dargestellt  wird. 

Christi  Himmelfahrt  wurde  auf  der  Bühne  zumeist  in  der  Weise 
veranschaulicht,  daß  Christus  mit  den  Aposteln  an  den  erhöhten  Ort 
ging,  der  den  Himmel  vorstellte  und  sodann  zu  demselben  hinaufstieg. 
Genauere  Angaben  über  die  Art  und  Weise,  in  der  dies  geschah,  sind 
nicht  erhalten.  — In  späterer  Zeit  hat  man  sich  dann  auch  zuweilen 
einer  Flugmaschine  bedient,  so  beispielsweise  bei  den  Passionsaufführungen 
in  Bozen,  wo  die  Rechnungsbücher  der  Kirchenpröpste  uns  hierüber 
Aufschluß  geben.  In  der  Rechnung  vom  Jahre  1494  heißt  es:  Dem 
Wagenrieder,  maler  ....  die  sprewsl  körb,  dar  inn  der  Salvator  unnd 
die  enngl  auff  sein  gefarn  ....  42);  ganz  ähnlich  lautet  die  Notiz  vom 
folgenden  Jahre.  — Die  bildenden  Künstler  konnten  sich  im  Gegensatz 
zur  Bühne  hier  natürlich  ganz  und  gar  frei  bewegen  und  haben  wohl 
auch  immer  von  dieser  Freiheit  Gebrauch  gemacht. 

Im  Alsfelder  Spiele  wird  Christus  von  Gott-Yater  im  Himmel  emp- 
fangen. Pater  in  divinis  suscipit  eum  (Jesum): 

(v.  7892)  Bis  wilkomme,  lieber  sone, 
inne  dynes  hymmels  trone! 
du  hoist  dyne  noit  uberwunden 
und  den  thufel  gebunden 
und  erleßet  von  helleqwal 
alle  mentschen  uberalle, 
die  dienen  willen  thunl 
bys  wilkomme,  lieber  sonel 


41)  Vergl.  J.  E.  Wackerncll.  Altdeutsche  Passionsspiele  aus  Tirol.  S.  XLVIII. 


58 


K.  Tsclieusckner:  Die  deutsche  Passionsbüknc  usw. 


Das  gleiche  Motiv  findet  sich  auf  dem  Titelblatt  des  »Schatzbehalters 
oder  Schreins  der  wahren  Reichtümer  des  Heils  und  ewiger  Seeligkeit«, 
Nürnberg,  Anton  Koburger.  Gott-Vater  sitzt  hier  unter  einem  Baldachin 
und  hat  eine  Krone  in  der  Linken,  die  er  soeben  im  Begriff  ist,  seinem 
vor  ihm  knienden  Sohne  aufzusetzen;  neben  Christus  am  Boden  liegen 
das  Kreuz  mit  der  Dornenkrone,  Rute  und  Geißel,  auf  die  derselbe  mit 
der  Rechten  hinweist. 

Bei  der  bildlichen  Darstellung  des  Jüngsten  Gerichtes  sehen 
wir  in  der  Regel  Maria  und  Johannes  mit  bittend  erhobenen  Händen 
vor  dem  Heiland  knien.  — Näheren  Aufschluß  über  den  Sinn  dieser 
Darstellung  gibt  uns  das  Rheinauer  Spiel  vom  Jüngsten  Tage.  Christus 
ruft  hier,  nachdem  auf  den  Schall  der  vier  Posaune  blasenden  Engel  die 
Toten  sich  aus  ihren  Gräbern  erhoben  haben,  Maria  und  die  zwölf 
Apostel  an  seine  Seite,  um  ihm  richten  zu  helfen.  Er  verflucht  die 
Bösen;  die  Verdammten  bitten  fünfmal  um  Gnade,  jedoch  vergebens; 
Christus  befiehlt  Lucifer,  sie  in  die  Hölle  zu  führen.  Nun  heißt  es  weiter 
(v.  686):  Denn  wirt  unser  liebe  frow  bewegt  mit  erbermd  und  stät  uf, 
und  nimpt  die  helgen  12  potten,  und  stät  für  unseren  heren  und  spricht 
zu  irem  vil  lieben  kind,  und  bitt  für  den  sunder,  also  hie  nach  staut  . . . 
Das  gleiche  tut  etwas  später  Johannes  (v.  724):  Dar  nach  bitt  s.  Johans 
and  spricht  denn  also  zu  gott  .... 

Daß,  wie  hier,  Maria,  Johannes  und  die  zwölf  Apostel  um  Gnade 
für  die  Sünder  bitten,  findet  sich  im  Bilde  verhältnismäßig  selten  (bei- 
spielsweise einmal  bei  Altdorfer,  Sündenfall  und  Erlösung  des  Menschen- 
geschlechts), um  so  häufiger  ist  jedoch  die  Darstellung  mit  Maria  und 
Johannes  allein  als  Fürbittenden.  Diese  findet  sich  u.  a.  im  Seelen- 
wurzgarten, Ulm,  Conrad  Dinkmuth  1483;  in  Hartmann  Schedels  Neuer 
Weltchronik,  Nürnberg,  Anton  Koburger  1493;  in  Schäuffelins  Via  feli- 
citatis,  Augsburg  1513,  und  in  Dürers  Kleiner  Passion.  — Aber  auch 
die  Darstellung  des  Weltgerichtes  ohne  Maria  und  Johannes  als  Für- 
bittende findet  sich  in  der  bildenden  Kunst,  so  beispielsweise  in  Hans 
Wächtlins  »Leben  Jesu  Christi«. 


Augsburger  Urkunden. 

Von  Wilhelm  R.  Valentiner. 

Die  folgenden  Urkunden  aus  den  im  Stadtarchiv  in  Augsburg  be- 
findlichen Gerichts-  und  Einigungsbüchern  sind  von  Dr.  E.  Gritzner  in 
Weimar  aufgefunden  und  mir  freundlichst  zur  Veröffentlichung  übergeben 
worden.  Die  auf  Hans  Holbein  d.  Ä.  bezüglichen  wurden  schon  zum 
Teil  von  Chr.  Meyer  in  der  Augsburger  Allg.  Ztg.  No.  226  vom  14.  Aug.  1871 
(Wiederabdruck  in  Zahn’s  Jahrbüchern  f.  Kunstw.  IV,  267  ff.)  publiziert, 
und  zwar  die  vom  12.  Januar  1517,  vom  20.  Januar  und  letzten  Februar 
1521  (diese  mit  einer  kleinen  Abweichung)  im  Wortlaut,  während  auf 
die  vom  »aftermontag  post  Anthony,  20.  Jan.  1517«  kurz  hingewiesen 
wird.  Sie  ergeben  die  zerrütteten  Vermögensverhältnisse  des  Künstlers, 
einen  Streit  mit  seinem  Bruder  Sigismund,  einen  Hinweis  auf  die  Wan- 
derung nach  Issenheim  im  Elsaß  (»Eyßnen«),  in  dessen  Kloster  er  nach 
einer  späteren  Baseler  Urkunde  eine  Altartafel  ausführte.  Der  seiner  Zeit 
gegebenen  Besprechung  W.  Schmidts  in  den  Holbeiniana,  Zahns  Jahr- 
bücher V.  S.  54  ff.,  ist  nichts  weiter  hinzuzufügen,  da  die  bisher  noch  un- 
bekannte Gerichtsverhandlung  vom  28.  Juni  1515  nichts  wesentlich 
Neues  lehrt.  Der  Vollständigkeit  wegen  werden  die  in  der  vorliegenden 
Abschrift  nicht  vorhandenen  Urkunden  vom  Jahre  1503,  vom  10.  Mai  1515, 
Februar  und  November  1516  noch  einmal  nach  dem  Text  Chr.  Meyers 
und  W.  Schmidts  abgedruckt.  — Auf  die  Notizen  über  Holbein  d.  Ä. 
folgen  in  chronologischer  Anordnung  einige  wenige  über  andere  Augs- 
burger Künstler  aus  der  Zeit  von  1504 — 1553» 

1503.  »uff  mitwoch  post  Felicii: • Item  der  Holbain  maler  ist  zu 
Paulsen  Mair  geschlachtgwannder,  wie  daz  er  sich  unterstanden  und  im 
durch  sein  eigen  gewalt  und  furnemen  ein  prett  naher  grissen  und  im 
sein  hus  in  sein  abwesen  geöffnet  hab  mit  . . . .«  (das  Folgende  un- 
leserlich). 

1515.  10.  Mai:  »Ludwig  Smid  metzger  hat  alle  recht  erlangt  ann 
Holbain  maler  pro  1 fl.« 

1515.  Actum  28.  Juni  [fol.  88b] : »Item  Hanns  Lutz,  goldschlager, 
geit  seinen  vollen  gewallt  Hannsen  Staucher  wider  und  gegen  Hanns 


6o 


Wilhelm  R.  Valentiner: 


Holbain  um  sein  clag  furaußhin  im  rechten  zu  hanndien  und  sonst 
gegen  allen  und  yeden  seinen  gelltern  und  Schuldnern  clag  zu  tun,  gegen- 
clag  zu  antwurten  den  aid  für  geverde  und  ein  yeden  zimblichen  aid  in 
sein  sei  zu  sweren  und  sonst  alles  ander  in  Sachen  nach  der  bestimmten 
form  fürzunemen,  zu  tun  und  zu  lassen,  was  not  ist  oder  sein  wirtt  zu 
gewin,  zu  Verlust  und  allen  rechten  vor  des  vogtz  gewalthaber«. 

i5i6-  19.  Febr. : »Item  Hr.  Jörg  Langenmantel  vnnd  Hr.  Jheronimus 
Imhoft  als  Pfleger  Warmundt  Illsungs  geben  jr  volmacht  Hr.  Zimbrecht 
breyher,  das  Holbain  maler  über  verfallen  Zinss  zurechtuertigen  nach  der 
stat  recht  jn  der  besten  Form  jngemain  verlust  vnd  zu  allem  Recht«. 

1516.  12.  Nov.  »Item  Jörg  Lotter  lederer  hatt  Alle  Recht  Erlangt 
an  Holbain  maler  32  kr.« 

1517.  »Montag  post  Erhardi  episcopi«  [12.  Jan.,  fol.  2 a]  »Item  auf 
obgenannten  tag  ist  Sigmund  Holbain  vor  gericht  erschinen  und  im 
auf  sein  begeren  und  anruff  ain  erber  gericht  disen  underschid  geben, 
erstlich  das  Sigmund  Holbain  eingeschrieben  werde,  das  in  4 wuchen 
den  nechsten  Hanns  Holbain,  sein  bruder,  an  Sigmunden,  als 
er  furhielt,  nit  begert  hat,  mit  im  gen  Eyßnen  zu  tz*iehen  laut  der 
urtl,  für  aims.  — Fürs  andere,  dieweil  die  34  fl.  verrechnetz  geltz  laut  der 
handtschrift  ain  verwetete  bekantliche  schuld  ist,  so  latz  ain  erber  gericht 
mit  dem  nach  gewetz  bietten  bey  dem  alten  gerichtzbrauch,  wie  es  von 
alt  herkomen  ist,  beleyben.  — Fürs  3.  gibt  ein  erber  gericht  Sigmund 
Holbain  zu  underschid  der  dreyer  fl.  gewettete  schuld  hab,  die  er  muge 
mit  dem  burggraven  erkunden  auch  nach  diser  stat  recht«. 

1517.  »afftermontag  post  Anthony  20.  Januarius«  [fol.  3a].  »Item 
Sigmund  Holbain  hat  alle  recht  erlangt  an  Hanßen  Holbain,  sein 
Bruder  per  3 fl.  verwetet«. 

1517.  »afftermontag  post  purificationis  Marie  den  3.  tag  February« 
[fol.  16].  »Sigmund  Holbain  hat  alle  recht  erlangt  an  Hanns  Holbain, 
seinen  bruder«. 

1521.  »Actum  afftermontag  post  Conversionis  Pauli  den  29.  tag 
January«  [fol.  14a]:  »Item  Hanns  Kemlin  vischer  clagt  Holbain  maler 
per  40  creutzer«. 

1521.  »Donnerstag  post  Reminiscere  den  letzten  tag  February« 
[fol.  32a]:  »Item  Hanns  Kemlin  hatt  alle  recht  erlangt  an  Hanns  Holbain 
maler  per  2 fl.  — (Zusatz)  nit  geantwurt«. 

I5°3  [f°l*  242b]:  »Item  Conrat  Burckmair,  waibel,1)  hatt  uff 
heut  den  erpettenen  beruflf  getan  über  sein  eeliche  hußfrau,  wie  daz  sy  on 

x)  Dieser  Waibel  Conrat  Burckmair  kommt  mit  seiner  Frau  noch  im  Gerichtsbuch 
1505  fol.  in  und  allein  in  dem  von  1506  vor. 


Augsburger  Urkunden. 


61 


sein  worden  vnd  wissen  schulden  mache  vnd  im  zu  verderben  reichte, 
das  ir  fernerhin  niemands  niht  borge  noch  ankauf  geben,  dan  er  des 
on  entgelt  vertruß  gein  wolle«. 

1504  [fol.  17a]:  »Item  Han  ns  Burckmair  der  junger  geyt  gewalt 
Conraten  Burckmair  dem  elltern  seinem  vatter  wider  maister 
Jorgen  Statt,  Wundarzt  omb  sein  clag  vnd  worden  zu  rechtvertigung  nach 
dem  stattrecht  vor  des  vogtz  boten  zu  gewin,  zu  Verlust  vnd  allem  recht«. 

— [fol.  109b]:  »Uff  afftermontag  post  Cantate  [Mai  7.]  Item  Oswald 
Göldner  hatt  verganntett  nach  dem  stattrecht  mit  namen  ain  hauß,  hof- 
sach  vnd  geseß  hie  zu  Augspurg  an  der  Schmidtgassen  gelegen, 
stoßt  ein  halb  an  Hansen  Burgmayrs  des  malers  hauß,  ein  halb  . . .« 

— [fol.  192b]:  »Item  Hanns  Burckmayr  der  maler  geit  seinen 

vollen  gewalt  Jörigen  Gessler  wider  vnd  gegen  ainen  genannt  Ells  bj 
der  Lechnerin  von  wegen  ains  haußzins  zu  verhandlen  vnd  ze  tryben, 
nach  dem  stattrecht  vor  des  vogtz  anwalt  zu  gewin,  zu  verlust  vnd  zu 
allem  recht.« 

1522  [Fol.  35]  zum  März  17.  wird  genannt  Leonhartt  Beck, 
maler. 

1523  [fol.  67]  zum  Juli  6.  wird  genannt  Leonhartt  Beck,  maler, 
der  Vollmachtsbrief  ausstellt.  — [fol.  108]:  zum  December  11.  Schuld- 
brief des  »Jorg  Lutz,  maler,  und  Ottilia  sein  eeliche  wirtin«. 

1527.  [fol.  85]  Aug.  5.  ein  Vollmachtbrief  von  »Lienhart  Peckh 
maler«. 

1545.  [fol.  6b]:  »Actum  dornstag  den  i2tag  February  Anno  etc.  45.« 
»Item  Hanns  Sieß,  Malergesell  von  Nürnberg,  bekennt  in  diß 
Gerichtsbuch,  das  er  recht  und  redlich  schuldig  sey  und  gelten  soll  dem 
erbern  Hannsen  Burckhmayr  maler,  burger  alhie,  fünff  guldin, 
die  soll  und  will  er  ime  bezahlen  auff  Ostern  schiristkünftig  und  darumb 
ist  bürg  Jacob  Lindenmair  bildhauer  auch  burger  alhie  ob- 
genannts  Hannß  Sießen  Schwager,  der  sich  dann  seiner  gethonen 
burgschafft  hieneben  auch  in  das  gerichtsbuch  bekennt.  Und  sind  all 
drey  obgenannt  personen  beym  einschreyben  geweßt. 

1546.  [fol.  57b]  4.  September.  Schuldbrief  von  »Jerg  Schlecht, 
maler,  burger  alhie  und  Susanna  sein  eewirtin«. 

Die  folgenden  Urkunden  stammen  aus  den  Augsburger  Einigungs- 
büchern. 

1546 — 1549-  [iol.  165b]:  »Actum  sambstag  22.  January  Ao.  1547. 
Otilia,  Hansen  Burckmairs  malers  eewirtin,  hat  globt  Hansen 
Zeiler  3 fl.  20  kr.,  dergestalt  zu  betzalen  nemlich  auf  Lichtmeß  jungst 
1 fl.,  volgends  auf  Ostern  1 fl.  und  den  rest  auf  pfingsten  zu  entrichten, 
verfellt  nach  der  Ordnung«. 


6 2 


Wilhelm  R.  Valentinen  Augsburger  Urkunden. 


1551  — 1553*  [fol.  151b]:  »Actum  sambstag  den  17.  Septembris 
Anno  1552.  Jörg  Lutz  maler  bekent  schuldig  sein  Georgen  Prech- 
eisen,  schmid  zu  Vischach  i4I/z  patzen,  die  verspricht  er  einehalb  in 
14  Tagen  den  nechsten  und  den  andern  halben  tail  über  14  Tag  dar- 
nach zu  bezalen  vermug  der  Ordnung«.  — [fol.  152b]  (am  selben  Tag): 
»Hanns  Burckmair  maler  hat  globt  N.,  Hansen  Aigners  Schneiders 
seligen  nachgelassen  wittib  an  den  5 fl.  per  resto  umb  etlich  Faß- 
nachtkleider herruerend,  all  monat  bis  zu  völliger  bezalung  30  kr. 
zu  entrichten  laut  der  Ordnung«.  — »Nota:  Hanns  Burckmair  hat 
an  diser  summa  die  ersten  2 fristen,  nemlich  1 fl.  erlegt  und  ist  ime  uff 
heuer  17.  Januar  Ao.  53  umb  die  andern  2 fristen  mittagzahlung  ver- 
schafft worden  per  Keler«.  — [fol.  205b]  »Actum  Dornstag,  den  26.  Ja- 
nuary  Ao.  53.  Wolff  Neumair  hat  globt  Hansen  Burckmair  malern 
24.  oder  26.  fl.  schuld  ungefarlich,  in  14  tagen  zu  bezalen  vermug  der 
Ordnung. 


Kurfürst  Ottheinrich 

und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses. 

Von  Friedrich  H.  Hofmann. 

Noch  immer  ist  das  Schicksal  des  Heidelberger  Schlosses,  vor  allem 
des  Ottheinrichsbaues  nicht  entschieden.  Und  wie  die  Zukunft  des 
Gebäudes,  so  liegt  auch  seine  Vergangenheit  noch  immer  im  Unklaren. 
Was  auch  schon  über  die  Baugeschichte  und  die  Ableitung  des  Stil- 
charakters des  Schlosses  geschrieben  worden  ist  — ein  abschließendes, 
einwandfreies  Endresultat  ist  bis  heute  noch  nicht  erzielt  worden. 

Auch  die  neueste  Veröffentlichung  über  die  »schwebenden  Fragen« 
von  B.  Kossmann  »Der  Ostpalast,  sog.  »Otto  Heinrichs-Bau«  zu  Heidel- 
berg«, in  dem  rührigen  Verlag  von  J.  H.  Ed.  Heitz  (Heitz  & Mündel)  in 
Straßburg  erschienen  (1904),  kann  kaum  geeignet  sein,  Licht  und  Aufklärung 
und  die  erhoffte,  endgültige  Entscheidung  zu  bringen;  im  Gegenteil,  sie 
wird  die  Verwirrung,  die  bis  jetzt  schon  angerichtet  ist,  voraussichtlich 
nur  noch  um  ein  gut  Teil  vergrößern.  Schon  aus  diesem  Grunde  dürfen 
m.  E.  diese  neuen  Behauptungen  nicht  unwidersprochen  bleiben. 

Am  Schlüsse  seines  Buches  (S.  49)  stellt  K.  zehn  Sätze  als  »Er- 
gebnisse« seiner  Untersuchungen  zusammen.  Vorläufig  soll  jedoch  hier 
nur  die  Widerlegung  der  ersten  dieser  Behauptungen  versucht  werden; 
anderweitigen  Ausführungen  mag  es  Vorbehalten  bleiben,  der  oft  disku- 
tierten Frage  der  Baugeschichte  des  Ottheinrichsbaues  — mit  neuem 
wissenschaftlichen  Material  — neue  Seiten  abzugewinnen! 

Als  erstes  und  für  die  Allgemeinheit  wohl  überraschendstes  »Er- 
gebnis« wird  der  Satz  aufgestellt:1) 

*)  Kossmann  führt  da  einen  Gedanken  weiter  aus,  zu  dem  vor  allem  Haupt 
(Zur  Baugeschichte  des  Heidelberger  Schlosses,  Frankfurt  a.  M.  1902)  die  Anregung 
gegeben.  ' Nachdem  mein  Versuch  einer  Widerlegung  dieser  Ansicht  K.s  längst  abge- 
schlossen war,  ist  soeben  eine  neue  Publikation  von  Haupt  erschienen  (Peter  Flettner, 
der  erste  Meister  des  Otto  Heinrichs-Baues  zu  Heidelberg;  Leipzig  1904;  Kunst- 
geschichtliche Monographien  I),  in  der  die  ursprünglich  schüchterne  Vermutung  bereits 
als  vollendete  Tatsache  — der  »Flettner«-Theorie  zuliebe  — ausgegeben  wird.  Ich 
werde  auf  Haupts  Arbeit  an  anderer  Stelle  eingehend  zurückkommen. 


6 4 


Friedrich  H.  Hofmann : 


»Der  Heidelberger  Schloß-Ostpalast  (sog.  Otto  Heinrichs- 
Bau)  ist  eine  Schöpfung  des  Kurfürsten  Friedrich  II.,  der 
jedoch  die  Vollendung  desselben  nicht  erlebte.« 

Als  Beweisgründe  für  diese  These  werden  (S.  6 ff.)  angegeben: 

a)  Carl  Neumanns  Hinweis,  daß  sich  zwei  Porträts,  bezeichnet 
»Albertus  Rom:  1554«  und  »Caspar  Fischer:  1556«,  im  Jahre  1685 
in  der  Heidelberger  Schloßgalerie  befanden.2) 

b)  Die  Andeutungen  des  Heidelberger  Architekten  und  Professors 
Thoms  Allfried  Leger,  der  im  Jahre  1815  einen  »Führer  für  Fremde  durch 
die  Ruinen  des  Heidelberger  Schlosses«  herausgab, 3)  über  die  Absicht 
Friedrichs  II.,  den  jetzt  sog.  Gläsernen  Saalbau  und  den  Trakt  Ludwigs  V. 
durch  einen  »Hauptflügel«  zu  verbinden.  Die  betreffende  Stelle  bei 
Leger,  auf  die  K.  vor  allem  seine  Behauptung  gründet,  lautet  wörtlich: 
»Nächst  seinem  Eingänge  (sc.  des  sog.  neuen  Hofes,  jetzt  Gläsernen  Saal- 
baues) im  Schloßhofe  ließ  Friedrich  ein  kleines,  achteckiges  Treppen- 
thürmchen  dem  Treppenthürmchen  an  dem  östlichen  Palaste  Ludwigs  V. 
gegenüber  errichten,  in  der  Absicht,  beide  Werke  durch  einen  Haupt- 
flügel gegenseitig  zu  verbinden.  Zu  welchem  Ende  er  auch  hinter  diesem 
Pallaste  den  runden  Thurm  mit  vielen  Fenstern  erbaute,  die  Bibliothek 
darin  aufstellte  und  bereits  die  Verbindung  durch  Gründung  dieses 
Hauptflügels  bewirkte«. 

c)  Der  Satz  desselben  Leger:  »Die  zarten  Bildnereyen,  die  schon 
Friedrich  II.,  Ottheinrichs  Oheim,  aus  dem  Süden  Europas  herbeirief,  ließ 
er  (sc.  Ottheinrich)  gleich  Blumen  des  Frühlings  in  üppiger  Fülle  auf 
Heidelbergs  Boden  hervorsprossen«. 

d)  Ein  von  Leger  in  der  2.  Auflage  seines  »Führers«  (1819)  mit- 
geteilter Brief  Friedrichs  II.  vom  Jahre  1555,  aus  dem  hervorgeht,  daß 
es  damals  für  den  Kurfürsten  »eine  große  Angelegenheit  war,  die  ange- 
fangenen Gebäude  baldmöglichst  vollendet  zu  sehen«. 

e)  Die  Bemerkung  Legers,  die  »Hinterseite  von  Otto  Heinrichs 
schöner  Pfalz«  sei  noch  »von  den  Werken  seines  (d.  h.  Ottheinrichs) 
Vorfahrers  übrig«. 

f)  Die  Tatsache,  daß  die  Südmauer  des  »Ostpalastes«  im  Keller- 
und Erdgeschoß  nicht  in  einer  Flucht  läuft,  sondern  einmal  geknickt 
und  dadurch  auf  einer  Seite  um  ein  Stückchen  weiter  hinausgerückt  ist. 

Schon  beim  Überlesen  dieser  Beweise  wird  man  finden,  daß  sie 
keineswegs  so  sicher  und  schlagend  sind,  um  ohne  weiteres  im  stände 

*)  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Heidelberger  Schlosses,  IV,  158. 

3)  Führer  für  Fremde  durch  die  Ruinen  des  Heidelberger  Schlosses,  Heidelberg 
1815,  S.  35.  Im  folgenden  ist,  wenn  nicht  ausdrücklich  anders  bemerkt,  diese  1.  Auf- 
lage zitiert. 


Kurfürst  Ottheinrich  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses. 


65 

zu  sein,  jahrhundertealte  Traditionen  plötzlich  über  den  Haufen  zu 
werfen. 

Was  zunächst  das  Vorhandensein  der  beiden  Porträts,  des  »Albertus 
Rom:«  vom  Jahre  1554  und  des  Caspar  Fischer  von  1556,  in  der  fürst- 
lichen Galerie  im  Jahre  1685  betrifft,  so  leuchtet  wohl  ein,  daß  diese 
Tatsache  nichts  weniger  als  eine  Grundlage  sein  kann  für  die  Idee,  daraus 
eine  rege  Bautätigkeit  unter  Kurfürst  Friedrich  II.  zu  folgern.  Denn 
einmal  müssen  die  Bilder,  die  1685  in  der  Heidelberger  Galerie  vor- 
handen waren,  nicht  zwingend  auch  schon  unter  Kurfürst  Friedrich  II. 
dort  gewesen  sein.  Ferner  ist  durch  absolut  gar  nichts  erwiesen, 
oder  auch  nur  angedeutet,  daß  dieser  Albertus  ein  Architekt  oder  über- 
haupt ein  Künstler  gewesen  sein  muß.  Es  ist  sogar  eher  wohl  das  Gegen- 
teil anzunehmen! 

Denn  wenn  dieser  schemenhafte  Albertus  Romanus  — das  abge- 
kürzte Wort  »Rom:«  ist  wohl  sicher  mit  Romanus  aufzulösen  — tat- 
sächlich ein  Künstler  gewesen  sein  sollte,  so  müßte  es  wohl  ein  be- 
deutenderer Meister  gewesen  sein  und  als  solcher  käme  für  diese  Zeit 
wohl  nur  der  bekannte  Albertvs  Alberti  von  San  Sepolcro  in  Rom 
(geb. *  I525>  gest-  i598)  in  Betracht.  Die  Existenz  dieses  Meisters  scheint 
K.  allerdings  entgangen  zu  sein.  Es  ist  jedoch  auch  nicht  anzunehmen, 
daß  Alberti  für  Kurfürst  Friedrich  tätig  war,  geschweige  denn,  daß  er 
der  Architekt  des  sog.  Ostpalastes  in  Heidelberg  gewesen.  Dagegen 
sprechen  schon  längst  klargelegte  stilistische  Gründe  überzeugend  genug. 
Daß  der  sog.  Ostpalast  ganz  und  gar  nichts  mit  römischer  Hochrenaissance 
zu  tun  hat,  ist  so  einleuchtend,  daß  hier  kein  Wort  mehr  darüber  ver- 
loren werden  soll.  Da  könnte  man  ja  ebensogut  wieder  auf  die  alte 
Sage  zurückkommen,  die  Michelangelo  den  Entwurf  der  Fassade  zu- 
schreibt! Übrigens  war  ja  Alberto  Alberti  auch  vornehmlich  Festungsbau- 
meister. Was  jedoch  gegen  eine  Beschäftigung  dieses  Meisters  in  Diensten 
Friedrichs  II.  überhaupt  spricht,  ist  vor  allem  die  Tatsache,  daß  Alberti 
selbst  ein  Verzeichnis  seiner  Bauten  und  sonstigen  Arbeiten  zusammen- 
gestellt hat.  4)  Daß  der  Italiener  dabei  eine  etwaige  Arbeit  für  den 
deutschen  Kurfürsten,  und  sei  sie  auch  noch  so  geringfügig  gewesen, 
nicht  vergessen  hätte  zu  erwähnen,  bedarf  doch  wohl  kaum  eingehender 
Begründung!  In  Alberto  Alberti’s  »Memorie«  jedoch  ist  davon  kein  Wort 
zu  finden! 

Oder  soll  man  bei  dem  »Albertus  Rom.«  am  Ende  gar  an  den 
jüngeren  Bruder  eben  dieses  Architekten  Alberto  Alberti,  den  Maler 


4)  Gualandi,  Memorie  originali  Italiane,  risguardanti  le  belle  arti,  VI,  Bologna 

i845,  p.  50 ff. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


5 


66 


Friedrich  H.  Hofmann  : 


Romano  Alberti  denken,  denselben,  dem  wir  den  bekannten  »Trattato 
sopra-  la  nobilitä  della  pittura«  (Roma  1585)  verdanken?  Mit  Kurfürst 
Friedrich  II.  bezw.  dessen  angeblichem  Ostpalast  allerdings  hätte  der  Mann 
dann  wohl  ebenfalls  nichts  zu  tun.  Auch  würden  hier  die  zeitlichen 
Verhältnisse  nicht  mehr  stimmen. 

Und  selbst  wenn  man  als  erwiesen  erachten  würde,  das  der  rätsel- 
hafte Albertus  Romanus  ein  Künstler  gewesen  ist,  daß  weiterhin  das 
Porträt  desselben  bereits  zur  Entstehungszeit  1554  in  der  Heidelberger 
Galerie  vorhanden  war,  und  daß  es  — was  auch  dann  nicht  absolut  not- 
wendig ist  — auf  Veranlassung  des  damaligen  Kurfürsten  Friedrich  II. 
gemalt  worden,  selbst  dann  dürfte  noch  nicht  ohne  weiteres  Beweis- 
material auf  eine  Beteiligung  dieses  Künstlers  an  einer  Bautätigkeit 
Friedrichs  II.  geschlossen  werden. 

Das  mit  »Caspar  Fischer:  1556«  bezeichnete  Porträt  vollends  ist 
wieder  ein  Beweis  gegen  die  neue  Theorie.  Auch  ich  akzeptiere  gerne 
Neumanns  naheliegende  Vermutung,  in  diesem  Porträt  ein  Bildnis  des  in 
dem  bekannten  Heidelberger  Kontrakt  von  1558  genannten  Baumeisters 
Caspar  Vischer  (Fischer)  zu  sehen.  5) 

Wenn  das  Bild  aber,  wie  aus  der  Inschrift  hervorgeht,  1556  ent- 
standen ist,  so  dürfte  weit  eher  anzunehmen  sein,  es  sei  unter  Ottheinrich 
als  unter  Friedrich  II.  gemalt  worden.  Denn  bereits  am  26.  Februar  1556 
kommt  Ottheinrich  in  Heidelberg  zur  Regierung;  es  sprechen  also  zehn 
Monate  gegen  zwei.  Was  ist  hier  übrigens  näher  liegend  als  die  An- 
nahme, Vischer  sei  eben  als  Ottheinrichs  Architekt  1556  mit  diesem  nach 
Heidelberg  gekommen?  Noch  im  gleichen  Jahre  wäre  dann  sein  Porträt 
für  die  fürstliche  Galerie  (nebenbei  bemerkt  wohl  von  dem  damaligen 
Hofmaler  Hans  Besser)  gemalt  worden.  Mit  Friedrich  II.  hat  also 
auch  wohl  Caspar  Vischer  — wenigstens  in  diesem  Zusammenhänge 
nichts  zu  tun. 

Zum  zweiten  Beweis  gegen  Ottheinrich  (b)!  Es  ist  richtig,  Legers 
Darstellung  ist  derart,  daß  aus  ihr  ganz  logisch  gefolgert  werden  muß, 
er  sei  »persönlich  überzeugt«  gewesen,  Ottheinrich  habe  bei  seinem 
Regierungsantritt  »einen  Plan  für  ein  Gebäude  in  der  ganzen  Ausdehnung, 
welche  der  gegenwärtige  Ostpalast  hat«,  sowie  »die  bereits  angefangene 
Ausführung  dieses  Bauplanes«  vorgefunden.  Was  in  aller  Welt  aber  ist 

5)  Eine  Anfrage  über  das  Porträt  in  der  »Kunstchronik«,  1904,  Nr.  19,  Sp.  319 
blieb  leider  bis  heute  ohne  Resultat.  Über  Caspar  Vischer  und  seine  Identität  mit 
dem  gleichnamigen  Erbauer  der  Plassenburg  bei  Kulmbach,  einer  der  bedeutendsten 
Schöpfungen  der  deutschen  Renaissance,  habe  ich  eingehend  gehandelt  in  meiner 
Schrift:  Die  Kunst  am  Hofe  der  Markgrafen  von  Brandenburg,  fränkische  Linie;  Studien 
zur  deutschen  Kunstgeschichte,  Bd.  32,  Straßburg  1901,  S.  15  ff. 


Kurfürst  Ottheinrich  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses. 


67 


damit  nun  gewonnen?  In  erster  Linie  frägt  es  sich  doch:  Woher  hat 
Leger  diese  Behauptung,  wie  begründet  er  sie  und  inwieweit  verdient  er, 
bezw.  seine  Darstellung  Glaubwürdigkeit?  Die  erste  Frage  zu  beant- 
worten wird  schwer  oder  wohl  gar  unmöglich  sein,  denn  einmal  gibt 
Leger  selbst  keine  Quelle  an,  andererseits  läßt  sich  auch  sonst  nirgends 
in  der  Literatur  ein  Beweis  dafür  auffinden,  denn  Leger  ist  der  erste, 
der  diese  Behauptung  aufstellt.  Auch  ist  nicht  anzunehmen,  daß  Leger 
aus  Archivalien  geschöpft  hat,  denn  das  einzigemal,  wo  er  es  tut  (in  der 
2.  Auflage  von  1819),  verkündet  er  es  mit  einer  gewissen  breitspurigen 
Genugtuung.  Da  also  aus  dem  vorhandenen  wissenschaftlich  brauchbaren 
Material,  das  Leger  sicher  noch  viel  weniger  kannte  als  wir  heute  nach 
fast  100  Jahren  eifriger  historischer  Forschung,  absolut  garnichts  als 
Quelle  oder  Beleg  für  Legers  Behauptung  sich  nachweisen  läßt,  da  weiter- 
hin weder  wahrscheinlich,  noch  kaum  möglich  ist,  noch  aus  dem  Text 
Legers  hervorgeht,  daß  ihm  tatsächlich  uns  unbekanntes  Material  Vor- 
gelegen habe,  so  bleibt  kaum  etwas  anderes  übrig  als  der  Schluß,  Leger 
habe  seine  Idee  von  der  »Planung«  Friedrichs  II.  schlechthin  aus  der  Luft 
gegriffen.  Beweis  wenigstens  für  dieselbe  hat  er  nicht  erbracht.  Sei  dem 
übrigens  wie  ihm  wolle,  so  viel  steht  auf  jeden  Fall  fest,  die  moderne 
Forschung  darf  unter  keinen  Umständen  Schlüsse  und  Behauptungen, 
»Ergebnisse«,  auf  dergleichen  vagen  Äußerungen  aufbauen,  die  noch  dazu 
nicht  etwa  im  Verlaufe  gründlicher  wissenschaftlicher  Untersuchungen 
gemacht  wurden,  sondern  lediglich  in  einem  »Führer  für  Fremde«  zum 
besten  gegeben  werden.  Welche  Ansprüche  an  derartige  Arbeiten  im 
allgemeinen  gemacht  werden  dürfen,  ist  ja  zur  Genüge  bekannt! 

So  ist  auch  Leger  an  anderen  Stellen  keineswegs  frei  von  Irr- 
tümern.  Er  sagt  z.  B.  in  eben  dem  Absatz,  dem  einzigen,  aus  dem  K. 
die  Beweise  für  seine  Behauptung  schöpft,  daß  Friedrich  II.  hinter  dem 
Ludwigsbau  »den  runden  Turm  mit  vielen  Fenstern  erbaute  und  die 
Bibliothek  darin  aufstellte«.  Nun  ist  aber  augenscheinlich,  und  das  hätte 
auch  der  Architekt  Leger  erkennen  müssen,  daß  dieser  Turm  — später 
Apothekerturm  genannt  — anderen  Bauperioden  angehört.  Er  ist  noch  im 
15.  Jahrhundert  entstanden6 7)  und  nachmals  unter  Kurfürst  Friedrich  IV. 
(r583 — 1610)  von  Grund  aus  umgestaltet  worden. 7)  Friedrich  II.  hat 
hier  nichts  gebaut.  Auch  über  die  Aufstellung  der  Bibliothek  ist  sich 
Leger  durchaus  nicht  im  klaren;  er  verwechselt  zudem  hier  immer  den 
Glockenturm  mit  dem  Apothekerturm.  Weiterhin  hält  er  auch,  um  nur 
noch  dies  hier  anzuführen,  die  Buchstaben  D.C.V.,  die  sich  an  ver- 


6)  Koch  und  Seitz,  Das  Heidelberger  Schloß,  Darmstadt  1891,  S.  23. 

7)  Ebenda  S.  12 1.  Vgl.  dazu  Mitteilungen  III,  157. 


5 


68 


Friedrich  H.  Hofmann : 


schiedenen  plastischen  Arbeiten  im  Heidelberger  Schlosse  finden,  für 
den  »Namen«  eines  Bildhauers,  während  sie  doch  den  bekannten  Wahl- 
spruch  Friedrichs  II.  »De  coelo  victoria«  darstellen.  Andererseits  ist 
ihm  das  Künstlermonogramm  C.  F.  der  Name  des  Kurfürsten  Friedrich  II., 
ein  Irrtum,  den  er  übrigens  mit  vielen  anderen  Autoren  teilt.  Der- 
artige Versehen  und  Fehler  hätten  doch  wenigstens  an  der  absoluten 
Glaubwürdigkeit  und  Zuverlässigkeit  Legers  Bedenken  aufkommen  lassen 
sollen ! — 

Der  Beweis  c stützt  sich  wiederum  auf  eine  Behauptung  Legers. 
Hier  ist  die  Beiziehung  eines  solchen  Gewährsmannes  noch  unverständ- 
licher als  in  den  übrigen  Fällen.  Die  Phrase  Legers  — und  »die  zarten 
Bildnereyen,  die  gleich  Blumen  des  Frühlings  auf  Heidelbergs  Boden  her- 
vorsproßen«, sind  weiter  nichts  als  eine  Phrase!  — findet  doch  ihre  ein- 
fache Erklärung  in  der  Tatsache,  daß  bei  Arbeiten,  die  unter  Friedrich  II. 
ausgeführt  wurden  (z.  B.  Gläserner  Saalbau,  Kamin  im  Ruprechtsbau) 
eben  Renaissanceformen  Verwendung  fanden.  K.  allerdings  folgert  daraus: 
»ferner  wußte  Leger  (mindestens  nahm  er  solches  an),  daß  Friedrich  II. 
in  künstlerischer  Hinsicht  Beziehungen  mit  dem  Süden  hatte«  (S.  9). 
Und  aus  diesem  Satz  werden  dann  schließlich  wieder  direkte  Verbin- 
dungen Friedrichs  II.  mit  italienischen  Architekten,  speziell  mit  dem  sagen- 
haften Albertus  Romanus  konstruiert. 

Der  vierte  Beweis  (d)  endlich  ist  ein  Brief  des  Kurfürsten  Fried- 
rich II.  an  die  Straßburger  Bauhütte  vom  23.  September  1555,  den  bereits 
Leger  in  der  2.  Auflage  seines  Führers  erwähnt  und  den  K.  »zum  ersten 
Male  in  extenso«  abdruckt  (S.  53).  Auch  dieser  angebliche  Beweis  läßt 
sich  wieder  als  Gegenbeweis  verwenden.  Der  Brief  hat  an  der  einzigen 
hier  wichtigen  Stelle  folgenden  Wortlaut:  ».  . . . unsere  gebeuw,  die  wir 
ihme  (sc.  dem  Werkmeister  Jakob  Heider)  noch  bey  dissen  wettertagen, 
so  lang  die  wneren,  auszufhueren  und  one  Verzug  zuverrichten  . . • •« 
Aus  dem  Text  dieses  Schreibens  ergibt  sich  nun  meines  Erachtens  klipp 
und  klar,  daß  damals  nicht  am  sog.  Ostpalast  gebaut  worden  sein  kann, 
denn  dieser  ist  ja  — wie  durch  den  bekannten  Kontrakt  mit  Colins  un- 
antastbar feststeht  — im  Jahre  1558  noch  nicht  viel  über  das  Erd- 
geschoß hinaus  gediehen.8)  Man  konnte  also  drei  Jahre  vorher  (15 5 5) 
ganz  unmöglich  daran  denken,  gerade  dieses  Gebäude  »noch  bey  dissen 
wettertagen«  d.  h.  bei  dem  eben  herrschenden  günstigen  Herbstwetter  zu 
vollenden.  Daraus  ergibt  sich  der  einfache  Schluß,  daß  eben  1555  etwas 
anderes  gebaut  worden  sein  muß,  als  der  sog.  Ostpalast. 


8)  Vgl.  auch  Haupt,  Zur  Baugeschichte  des  Heidelberger  Schlosses,  Frankfurt  a.  M. 
1902,  S.  16.  Dazu  Mitteilungen  III,  140. 


Kurfürst  Ottheinrich  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses.  69 

Was  gegen  die  unter  b angeführte  Behauptung  Legers  gesagt  wurde, 
kann  in  gleicher  Weise  gegen  die  mit  e bezeichnete  Aufstellung  des- 
selben Autors,  daß  nämlich  »die  Hinterseite  von  Otto  Heinrichs  schöner 
Pfalz  noch  von  den  Werken  seines  Vorfahrers  übrig«  sei,  geltend  gemacht 
werden.  Vor  allem  liegt  hier  ein  Widerspruch,  der  bis  jetzt  allerdings 
anscheinend  gar  nicht  bemerkt  wurde.  Ist  nämlich  tatsächlich  die  Hinter- 
seite des  sog.  Ostpalastes  — also  doch  wohl  die  ganze  Ostmauer  — 
noch  von  einem  Bau  Friedrichs  II.  »übrig«,  wie  kann  Leger  dann  über- 
haupt von  »Otto  Heinrichs  Pfalz«  reden?  Um  das  zu  erklären,  müßte 
man  entweder  annehmen,  der  ganze  Bau,  also  auch  die  Westfassade  (Hof- 
seite) sei  von  Friedrich  II.  analog  und  zugleich  mit  der  Ostmauer  (»Hinter- 
seite«) errichtet  worden  und  Ottheinrich  habe  von  diesem  durch  seinen 
Vorgänger  errichteten  Gebäude  die  Westmauer  niederreißen  lassen  und 
durch  eine  neue  Fassade  nach  seinem  Geschmacke  ersetzt,  oder  aber 
man  muß  gar  auf  den  Gedanken  kommen,  in  Heidelberg  habe  man  damals 
so  geschickt  gebaut,  daß  der  eine  Bauherr  die  Rückwand  eines  Palastes 
errichtet,  der  andere  das  noch  fehlende  auf  den  übrigen  Seiten  hinzu- 
gebaut habe! 

Legers  Behauptung  — das  wird  dem,  der  unbefangen  die  Dinge 
ansieht,  sofort  klar  werden  — ist  weiter  nichts  als  eine  leichthin  gesagte 
Spezialisierung  der  Tatsache,  daß  die  Ostmauer  des  Ottheinrichsbaues  auf 
älteren  Substruktionen  aufsitzt,  d.  h.  auf  der  äußeren  Wallmauer,  deren 
Überreste  bis  etwa  zur  Brüstungshöhe  der  Fenster  im  Erdgeschoß  gehen.9) 
Auch  damit  ist  also  wenig  genug  anzufangen! 

Seinen  letzten  Beweis  (f)  schöpft  K.  aus  dem  Gebäude  selbst.  Aber 
auch  hier  wird  man  ihm  nur  schwer  folgen  können.  An  der  Südmauer 
des  vielumstrittenen  Baues  ist  im  Erdgeschoß  ein  Stück  etwas  weiter 
hinausgerückt,  zweifellos  um  eine  Verbindung  mit  dem  sogenannten 
Apothekerturm  zu  ermöglichen.  Wie  man  aber  diese  Tatsache  als  Beweis 
für  Legers  Behauptung,  Friedrich  II.  habe  bereits  die  Verbindung  dieses 
Turmes  mit  dem  sogenannten  Gläsernen  Saalbau  »durch  Gründung  dieses 
Hauptflügels  (sc.  des  sog.  Ostpalastes)  bewirkt«,  ist  schlechterdings  un- 
verständlich. Denn  diese  Absicht  kann  doch  gerade  so  gut  Ottheinrich 
bei  der  Erbauung  seines  Palastes  gehabt  haben.  Inwiefern  sich  da 
»Bericht  und  Gebäude  ergänzen  sollen«,  wie  Iv.  gemeint  hat,  ist  nicht 
einzusehen,  wenigstens  nicht  in  bezug  auf  die  versuchte  Beweisführung. 
Gewiß,  mit  der  Tatsache  der  zwischen  Turm  und  Palast  hergestellten 
Verbindung  stimmt  Legers  Bericht  vollständig  überein,  aber  dadurch  ist 
doch,  wie  gesagt,  noch  nicht  im  geringsten  bewiesen,  daß  auch  Friedrich  II. 


9)  Koch  und  Seitz,  S.  70. 


7o 


Friedrich  H.  Hofmann  : 


und  nicht  Ottheinrich  diese  Verbindung  hergestellt  hat.  Und  gerade 
das  war  doch  zu  beweisen!  Daß  diese  Verbindung  tatsächlich  vorhanden 
ist,  wird  ja  Niemand  einfallen  in  Abrede  zu  stellen!  K.  jedoch 
meint,  nachdem  sich  so  »Bericht  und  Gebäude  ergänzen«,  sei  an  der 
»Planung  und  Begründung  des  Ottheinrichsbaues  durch  Kurfürst  Friedrich  II. 
nicht  mehr  zu  zweifeln«.  Ich  muß  gestehen,  die  Logik  dieser  Beweis- 
führung ist  mir  bis  heute  noch  nicht  aufgegangen!  Gerade  umgekehrt, 
wie  K.  zu  glauben  scheint,  wird  sich  die  Sache  verhalten!  Nicht  aus 
Archivalien  und  anderen  geheimnisvollen  Dokumenten,  die  jetzt  ver- 
schollen sein  sollen,  hat  der  Autor  des  »Führers«  seine  Angaben  über 
die  »Verbindung«  gewonnen,  die  jetzt  durch  den  Befund  am  Gebäude 
bestätigt  werden  soll.  Dem  unbefangenen  Urteil  dürfte  viel  einleuchtender 
sein,  daß  der  Architekt  Leger  eben  das  Vorhandensein  dieser  Verbindung 
am  Gebäude  selbst  erkannt  hat  — wozu  übrigens  kein  besonderer  Scharf- 
sinn nötig  war  — und  diese  Tatsache  dann  kurzerhand  durch  nichts 
berechtigt  mit  seiner  durch  nichts  bewiesenen  Idee  von  der  »Planung 
und  Gründung  des  Hauptflügels«  durch  Friedrich  II.  in  Zusammenhang 
gebracht  hat. 

Was  »das  Gebäude  uns  aber  sonst  noch  mehr  sagt«,  spricht  gerade 
wieder  gegen  K.s  Annahme.  Die  Tatsache,  daß  die  Ostmauer  des  Ott- 
heinrichsbaues (über  der  äußeren  Wallmauer)  deutlich  ungefähr  in  der 
Mitte  — entsprechend  der  Ausdehnung  des  Kaisersaales  — eine  Mauer- 
ecke zeigt,10)  daß  ferner,  wie  längst  festgestellt,  der  nördliche  Unterbau 
der  Hoffassade  ältere  Hausteine  mit  gleichen  Steinmetzzeichen  wie  am 
Gläsernen  Saalbau  (bzw.  aus  der  Zeit  Ludwigs  V.)  enthält,  daß  weiterhin 
die  Freitreppe  »offensichtlich«  erst  nachträglich  dieser  Mauer  angeklebt 
ist,  daß  endlich  die  Fassadenfenster  des  Kaisersaales  — und  nur  diese ! 
— im  Innern  genau  dieselbe  Profilierung  aufweisen  wie  das  Sockelfenster 
der  Hoffassade  oder  wie  die  zweiteiligen  Fenster  der  Ostmauer  des  Kaiser- 
saales — aus  allen  diesen  Feststellungen,  meine  ich,  folgt  fast  bis  zur 
Gewißheit  gerade  das  Gegenteil  von  dem,  was  K.  beweisen  will.  Daraus 
ist  wohl  mit  Sicherheit  zu  entnehmen,  daß  Friedrich  II.  nichts  weniger 
als  die  Absicht  hatte,  ein  großes  Gebäude  mit  einer  einheitlichen  Fassade 
in  der  Ausdehnung  des  heutigen  Ostpalastes  zwischen  den  beiden  Treppen, 
türmen  zu  schaffen.  Er  hat  vielmehr  lediglich  einen  Bau  errichten  wollen 
bezw.  errichtet,  der  den  Platz  zwischen  den  beiden  Türmen  nur  zum 
'1  eil  ausfüllte,  der  also  im  Grundriß  etwa  dem  heutigen  Kaisersaal  ent- 
sprach. Hier  scheint  nämlich  ehemals  in  der  Tat  ein  selbständiges  Ge- 

,0)  Kossmann,  S.  14 ff.  K.  erkennt  wohl  hier  ebenfalls  das  Vorhandensein  eines 
selbständigen  Gebäudes,  zieht  jedoch  durchaus  keine  Konsequenzen  aus  dieser  Fest- 
stellung für  die  Baugeschichte  des  »Ostpalastes«. 


Kurfürst  Ottheinrich  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses.  7 1 

bäude  gestanden  zu  haben,  das  in  letztem  Betracht  dann  Ottheinrich 
den  Gedanken  zur  Errichtung  seines  Schlosses  eingegeben  haben  mag. 
Die  Umfassungsmauern  von  dem  Bau  Friedrichs  II.  wurden  dann  selbst- 
verständlich, soweit  sie  sich  verwerten  ließen,  in  den  Neubau  einbezogen. 

Es  wäre  an  Ort  und  Stelle  durch  genaue  Untersuchungen,  die 
mir  leider  augenblicklich  unmöglich  sind,  festzustellen,  ob  die  Vermutung, 
auf  dem  Platze  des  heutigen  Kaisersaales  einen  selbständigen  Bau 
Friedrichs  II.  zu  suchen,  auch  nach  allen  Richtungen  hin  durch  das 
Gebäude  bestätigt  wird.  Die  Tatsache,  die  aus  dem  Vertrag  von  1558 
hervorgeht,  daß  damals  der  Kaisersaal  noch  nicht  eingewölbt  ist,  spricht 
nicht  gegen  meine  Annahme;  denn  dieser  Raum  kann  sehr  wohl  ur- 
sprünglich flach  gedeckt  gewesen  sein,  mit  Holzgebälk,  das  auf  steinernen 
Trägern  auflag,  genau  so  wie  es  sich  bis  heute  im  Gläsernen  Saalbau 
erhalten  hat.11)  Meine  Vermutung  erklärt  vielleicht  auch  die  »auffallende 
Vernachlässigung«  der  östlich  vom  Treppenturm  gelegenen  Südfassade 
des  Gläsernen  Saalbaues,  sowie  die  gleichfalls  „unklare“  Erscheinung, 
daß  eben  dieser  Treppenturm  erst  in  bedeutender  Höhe  die  Achtecks- 
seiten zeigt.12) 

Mit  der  Annahme,  Friedrich  II.  habe  hier,  lange  bevor  man  an 
den  jetzigen  Ostpalast  dachte,  ein  kleineres  selbständiges  Gebäude  er- 
richtet, läßt  sich  auch  eine  gesicherte,  aber  bis  jetzt  durchwegs  falsch 
gedeutete  Baunachricht  in  Verbindung  bringen.  Leodius,  der  getreue 
Sekretär  und  Biograph  Ottheinrichs,  berichtet  von  den  Bauten  seines 
Herrn  u.  a.  folgendest):  »Et  in  bibliothecae  usum  elegantem  et  maximam 
cameram  aedificare  fecit;  summitatem  vicinae  turris  a fratre  dudum  con- 
structam  demoliri  fecit.t)  Quod  aedificium  postquam  consumavit,  mutata 
sententia  de  bibliotheca  in  usum  computationum  convertit  et  maximam 
campanam  in  praedicta  turri  appendere  fecit«. 

Wo  diese  »elegans  et  maxima  camera  in  bibliothecae  usum«  ge- 
legen, ist  noch  nicht  festgestellt;  man  scheint  sich  bisher  überhaupt  nicht 
sonderlich  viel  um  diesen  Bau  gekümmert  zu  haben.  Legers  Auffassung, 

")  Vgl.  dazu  Koch  und  Seitz,  S.  62. 

J1)  Ebenda  S.  66. 

*3)  Annalium  de  vita  ct  rebus  gestis  illustrissimi  principis  Friderici  II.,  electoris 
palatini,  libri  XIV,  Frankfurt  a.  M.  1624,  p.  294.  — Der  Autor  hieß  eigentlich  Hubert 
Thomas  aus  Lüttich  (Leodius).  Ich  folge  jedoch  dem  allgemeinen  Gebrauch  und  schreibe 
ebenfalls  Leodius,  wennschon  Mays  ausdrücklich  das  ungenaue  dieser  Bezeichnung 
tadelt.  Vgl.  Mays,  Erklärendes  Verzeichnis  der  städtischen  Kunst-  und  Altertümer- 
Sammlung  in  Heidelberg,  Heidelberg  1892,  S.  37. 

14)  Dieser  von  Ludwig  V.  (1508—1544)  erbaute,  von  Friedrich  II.  umgebaute 
Turm  ist  der  heute  sog.  Glockenturm  hinter  dem  Gläsernen  Saalbau,  den  Leger,  wie 
oben  erwähnt,  immer  mit  dem  Apothekerturm  hinter  dem  Ludwigsbau  verwechselt. 


72 


Friedrich  H.  Hofmann: 


»Friedrich  II.  richtete  in  dem  sog.  neuen  Hof  einen  großen  Saal  zur 
Aufstellung  der  Büchersammlung  ein«*  läuft  dem  Text  des  Leodius,  der 
doch  die  Quelle  bildet,  schnurstracks  zuwider.  Ohne  weiteres  dürfte  klar 
sein,  daß  hier  mit  der  Bibliothek  ein  selbständiges  Gebäude  gemeint 
sein  muß,  denn  den  »neuen  Hof«,  jetzt  Gläsernen  Saalbau,  behandelt 
Leodius  vollständig  gesondert  von  der  »Bibliothek «.J5)  Die  Art,  wie 

Leger  hier  und  an  anderen  Stellen  mit  dem  Text  seiner  Quelle  um- 
springt, hätte  wohl  ebenfalls  zur  Vorsicht  mahnen  sollen  der  absoluten 
Zuverlässigkeit  und  Glaubwürdigkeit  seiner  weiteren  Angaben  gegenüber. 

Auch  die  Erklärung  von  Koch  und  Seitz,  »die  elegante  und  sehr 
große  Kammer  für  die  Bibliothek  ist  das  unterste  Geschoß  des  acht- 
eckigen Teiles  im  Glockenturm«,  trifft  durchaus  nicht  das  Richtige. 
Denn  es  geht  ja  aus  der  Mitteilung  des  Leodius  unzweideutig  hervor, 
daß  auch  der  Glockenturm  und  die  Bibliothek  zwei  verschiedene  Ge- 
bäude waren. 

Ich  halte  nun  dafür,  daß  wir  diese  »elegans  et  maxima  camera« 
in  dem  Bau  sehen  dürfen,  der  die  Stelle  des  jetzigen  Kaisersaales  ein- 
nahm, bezw.  der  hier  in  den  Neubau  Ottheinrichs  einbezogen  wurde. 
Und  dies  kann  schließlich  auch  recht  gut  das  Gebäude  sein,  das 
Friedrich  II.  im  Jahre  1555  »noch  bey  dissen  wettertagen  auszufhueren 
und  one  Verzug  zuverrichten«  bemüht  war.  K.  übersetzt  »camera«  allerdings 
mit  Gewölbebau;  ein  solcher  würde  dem  Wortlaut  des  Vertrags  von 
1558  nicht  entsprechen,  da  damals  erst  von  der  Herstellung  der  Ge- 
wölbeträger im  Kaisersaal  dje  Rede  ist.  Aber  einerseits  muß  nach  den 
Sprachgepflogenheiten  des  mittelalterlichen  Latein  camera  noch  nicht 
zwingend  gerade  einen  gewölbten  Raum  bedeuten,16)  andererseits  könnten 
ja  bei  dem  Umbau  dieser  camera  durch  Ottheinrich  neue  Gewölbe 
eingezogen  worden  sein.J7) 

Es  scheint  mir,  daß  durch  die  vorstehenden  Ausführungen  genugsam 
dargetan  sein  dürfte,  auf  wie  schwachen  Füßen  die  Behauptung  von  der 
»Planung«  und  teilweisen  Ausführung  des  Ostpalastes  durch  Kurfürst 
Friedrich  II.  steht,  und  daß  die  beigebrachten  Gründe  nichts  weniger 
als  geeignet  sind,  die  bisherige  Annahme  auf  einmal  umzustoßen.  Schon 
allein  also  durch  die  kritische  Würdigung  der  sogenannten  Beweise,  die 
K.  ins  Feld  führt,  muß  seine  Theorie  wankend  werden.  Fallen  vollends 
muß  sie,  wenn  sich  auch  noch  anderweitige,  gewichtige  Gründe  gegen 
sie  geltend  machen  lassen.  Und  solcher  gibt  es  mehrere! 

x5)  Übersetzung  der  hier  wichtigen  Stelle  des  Leodius  bei  Kossmann  S.  52. 

l6)  Vgl.  z.  B.  Du  Cange,  Glossarium,  I,  699. 

!7)  Für  meine  Hypothese  finde  ich  auch  in  der  obenerwähnten  neuesten  Schrift 
Haupts  S.  19  mehrfache  Unterstützung. 


Kurfürst  Ottheinricli  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses. 


73 


Da  ist  in  erster  Linie  der  bereits  genannte  Leodius ! Bei  ihm 
suchen  wir  vergeblich  nach  einer  Mitteilung  oder  nur  Andeutung  über 
die  großartige  »Planung«.  Kann  man  im  Ernste  glauben,  der  gewissenhafte 
Sekretär  und  Biograph  seines  Fürsten,  der  in  dem  Kapitel  über  die 
Baulust  Friedrichs  IL  keines  der  zahlreichen  kleinen  Lustschlößchen  von 
nur  ephemerer  Bedeutung,  die  der  Kurfürst  errichtet,  wie  Fürstenwald, 
Heinsburg,  Hirschwald  usw.,  zu  erwähnen  vergißt,  habe  es  unterlassen, 
der  Nachwelt  auch  Kunde  von  dem  großartigen  Bauplan  Friedrichs  II. 
zu  geben  und  seinem  Bedauern  Ausdruck  zu  verleihen,  daß  es  seinem 
Herrn  nicht  vergönnt  war,  den  großen  Gedanken  auch  vollständig  zur 
Ausführung  zu  bringen?  Wäre  die  Errichtung  des  »Ostpalastes«  doch 
eine  künstlerische  Tat  gewesen,  die  alle  übrigen  Bauunternehmungen 
Friedrichs  II.  weit  in  den  Schatten  gestellt  hätte.  So  aber  schweigt 
Leodius!  Und  dieses  Schweigen  des  Zeitgenossen,  sollte  man  meinen, 
spricht  lauter  und  eindringlicher  als  die  scharfsinnigste  Deduktion  oder 
vage  Behauptungen  eines  unkritischen  Epigonen,  wie  Leger  es  war! 

Vollends  unhaltbar  aber  wird  K.s  Aufstellung  durch  die  Tatsache, 
daß  vollständig  einwandfreie  gleichzeiti ge  Quellen  vorliegen,  die  klipp 
und  klar  aussprechen,  daß  Ottheinrich  den  Bau  begonnen  bezw.  aus- 
geführt hat.  Am  28.  Juni  1559,  also  wenige  Monate  nach  dem  Tode 
Ottheinrichs,  richtet  der  englische  Gesandte  Dr.  Mundt  an  Sir  William 
Cecil  einen  offiziellen  Bericht  über  die  Ankunft  des  Kurfürsten  Friedrich  III. 
in  Augsburg,  in  dem  es  u.  a.  heißt:  »Otto  Henry  had  begun  at  Heidel- 
berg a magnificent  and  sumptuous  building,  for  which  he  assembled  from 
all  parts  the  most  renowned  artists,  builders,  sculptors  and  painters.«18) 
Damit,  daß  nach  K.s  Ansicht  (S.  32)  »der  Herr  Kavalier,  der  so  turm- 
hoch über  dem  fahrenden  Volk  der  Künstler  stand,  in  diesem  für  ihn 
nebensächlichsten  Punkt  eben  nicht  gut  unterrichtet  war«,  läßt  sich  die 
klare  Fassung  des  Berichts,  bezw.  ihre  einzig  mögliche  Deutung  doch 
wohl  nicht  hinwegdisputieren!  Zudem  kennt  auch  Colins  Sohn  selbst 
in  seinem  Bericht  über  die  Tätigkeit  seines  Vaters  in  Heidelberg  nur 
Ottheinrich  als  Bauherrn. O) 

Weiterhin  schreibt  am  3.  Dezember  1562  die  Gemahlin  Maria  des 
Kurfürsten  Friedrich  III.,  des  Nachfolgers  von  Ottheinrich,  daß  der 
römische  König,  der  zu  Besuch  nach  Heidelberg  kommt,  »in  dem  neuen 
Bau  wohnen  soll,  den  der  Stiefvater  (also  Ottheinrich)  gemacht  hat«. 
Auch  diese  gleichzeitige  Mitteilung  von  einem  Mitglied  des  pfälzischen 
Fürstenhauses  selbst  läßt  an  Klarheit  und  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen 

l8)  Huffschmid,  Zur  Geschichte  des  Heidelberger  Schlosses;  Neues  Archiv  für 
Geschichte  der  Stadt  Heidelberg,  III,  30. 

J9)  Mitteilungen  II,  60.  Anm. 


74 


Friedrich  H.  Hofmann : 


übrig.20)  Man  hat  jedoch  beliebt,  sie  — wenigstens  in  diesem  Zusammen- 
hänge — mit  Stillschweigen  zu  übergehen! 

Eine  derartige  Behandlung  gleichzeitiger  Quellen,  die  noch  dazu 
in  so  innigem  Zusammenhänge  mit  den  handelnden  Persönlichkeiten 
selbst  stehen,  schlägt  doch  jeder  historischen  Methode  geradezu  ins 
Gesicht!  Ja,  wenn  authentische  spätere  Nachrichten  mit  aller  Gewißheit 
und  Entschiedenheit  gegen  die  gleichzeitigen  Berichte  sprächen,21)  dann 
wäre  es  vielleicht  gestattet,  gegebenen  Falles  diese  gleichzeitigen  Mit- 
teilungen in  Zweifel  zu  ziehen  bezw.  als  irrtümlich  abzuweisen.  Wenn 
aber  die  sekundären  Quellen  so  trüb  und  träge  fließen,  wie  hier  Legers 
unsichere  und  unbewiesene  Äußerungen,  dann  kann  es  schlechterdings 
nicht  gestattet  sein,  zugunsten  derselben  die  primären,  gleichzeitigen, 
offiziellen  Berichte  mit  ein  paar  kurzen  Worten  abzumachen  oder  gar 
vollständig  zu  ignorieren! 

Nach  dieser  mehr  historischen  Deduktion  noch  ein  — ich  möchte 
sagen  — praktischer  Beweis!  Gegen  einen  Baubeginn  unter  Friedrich  II. 
spricht,  ebenso  wie  das  geschichtliche  Quellenmaterial  und  die  Tradition, 
auch  die  gesamte  zeitliche  und  technische  Ökonomie  des  Baues.  Nehmen 
wir  einmal  mit  K.  (S.  31)  dem  Albertus  Romanus  von  1554  zuliebe  an, 
der  Plan  zu  dem  neuen  Schloß  wäre  tatsächlich  bereits  1554  entstanden. 
Was  soll  dann  bis  1558,  wo  wir,  wie  erwähnt,  so  ziemlich  über  den 
Zustand  des  Gebäudetorsos  unterrichtet  sind,  gebaut  worden  sein?  Nichts 
als  höchstens  das  Erdgeschoß?  Das  ist  selbst  dann  nicht  recht  glaublich, 
wenn  wir  voraussetzen,  diq  Störung  durch  die  Bauhütte  in  Straßburg  im 
September  1555  wäre  so  bedeutend  gewesen,  daß  Friedrich  II.  auf  einmal 
alle  Arbeiten  hätte  einstellen  müssen.  Aber  das  war  ja  keineswegs  der 
Fall,  denn  spätestens  im  Januar  1556  war  die  Irrung,  wie  feststeht, 
schon  wieder  beigelegt.22) 

Es  ist  also  wohl  anzunehmen,  daß  bis  März  1558  mehr  als  das 
Erdgeschoß  des  Gebäudes  errichtet  gewesen  sein  müßte,  einen  Baubeginn 
im  Jahre  1554  vorausgesetzt.  Besonders  wenn  noch,  wie  oben  aus- 
geführt, bereits  stehende  Bauteile  mit  eingebaut  werden  konnten. 

Und  weiter!  Was  hätte  dann  wiederum  Ottheinrich  gebaut  von 
seinem  Regierungsantritt  im  Februar  1556  bis  März  1558,  dem  Zeitpunkt 
des  Colinsschen  Vertrags?  Wenn  K..  Recht  behalten  soll,  gar  nichts! 


IO)  Huffschmid  S.  31. 

2I)  Zwei  neuere  Angaben,  die  auch  für  einen  Baubeginn  unter  Friedrich  II.  zu 
sprechen  schienen,  sind  in  meinem  Aufsatz  »Vom  Ottheinrichsbau«  (Mitteilungen  IV, 
144)  verzeichnet.  K.  hat  sie  wohl  nicht  der  Erwähnung  wert  erachtet;  sie  dürften 
allerdings  auch  nicht  imstande  sein,  stichhaltiges  Beweismaterial  abzugeben. 

2I)  Mitteilungen  III,  187. 


Kurfürst  Ottheinrich  und  der  »Ostpalast«  des  Heidelberger  Schlosses. 


75 


Denn  damals  (1558)  ist,  wie  gesagt,  kaum  mehr  als  das  Erdgeschoß 
gebaut.  Dieses  wäre  aber  dann  schon  vier  Jahre  vorher  begonnen  worden ! 
Dabei  ist  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich,  wenn  nicht  überhaupt 
undenkbar,  daß  Ottheinrich  die  Ruine  des  angefangenen  Gebäudes  zwei 
volle  Jahre  — von  seinem  Regierungsantritte  bis  zum  Vertrage  mit 
Colins  — unberührt  habe  liegen  lassen,  daß  er  die  Bauhütte  und  alle 
die  Unbequemlichkeiten  und  Unzuträglichkeiten  des  Bauplatzes  zwei  volle 
Jahre  mitten  in  seinem  Schloßhof,  unmittelbar  vor  den  Fenstern  seiner 
Residenz  geduldet  habe,  ohne  nur  daran  zu  gehen,  dem  unhaltbaren 
Zustande  ein  Ende  zu  machen. 

Nimmt  man  dagegen  an,  Ottheinrich  habe  unmittelbar,  nachdem 
er  im  Februar  1556  die  Regierung  übernommen,  im  gleichen  Frühjahr 
noch  begonnen,  nach  einem  neuen  Plan  Friedrichs  II.  Bibliotheksbau 
umzubauen  und  die  beiden  Treppentürme  durch  eine  einheitlich  ange- 
legte Fassade  zu  verbinden,  so  ergibt  sich  ganz  natürlich  nicht  nur  die 
Möglichkeit,  sondern  wohl  auch  die  Notwendigkeit,  daß  bis  zum  Früh- 
jahre 1558,  also  in  genau  zwei  Jahren,  der  Neubau  ungefähr  bis  zum 
Abschlußgesims  des  Erdgeschosses  gediehen  war.  Bis  zum  Tode  Ott- 
heinrichs  am  12.  Februar  1559,  also  in  einem  weiteren  Jahre,  wird  das 
Gebäude  im  Rohbau  so  ziemlich  fertiggestellt  gewesen  sein  können. 
Wenn,  wie  feststeht,  der  Bildhauer  Colins  schon  mit  zwölf  Gesellen, 
zweifellos  Landsleuten,  arbeitete,1  23)  so  darf  auch  eine  ziemliche  Anzahl 
anderer  Arbeitskräfte  angenommen  werden.  Dies  geht  ja  auch  schon  aus 
der  großen  Zahl  an  Steinmetzzeichen  hervor,  die  sich  an  dem  Gebäude 
finden.  Man  dürfte  an  die  30  verschiedene  Zeichen  feststellen  können,  muß 
also  auf  ebensoviele  deutsche  Steinmetze  schließen.  Die  eigentlichen  Maurer 
und  die  sonstigen  Arbeiter  sind  dabei  natürlich  noch  nicht  eingerechnet. 
Da  ist  denn  doch  die  Fertigstellung  des  Gebäudes  in  drei  Jahren  gewiß 
keine  außergewöhnliche  Leistung,  sondern  eine  ganz  normale  Lösung. 

Übrigens  liegt  bereits  für  das  Frühjahr  1560  wieder  ein  gleich- 
zeitiger Bericht  vor,  aus  dem  hervorgeht,  daß  mindestens  damals  das 
Schloß  im  Rohbau  vollendet  war.  Am  16.  März  1560  schreibt  Kur- 
fürst Friedrich  III.,  daß  er  gern  die  Hochzeit  seines  Sohnes  in  Heidel- 
berg abgehalten  hätte,  aber  »das  neue  Haus  ist  noch  nicht  ausgemacht«. 2-t) 
Das  Wort  »ausmachen«  hat  nun  nicht,  wie  man  wohl  geglaubt  hat,  die 
Bedeutung  von  »ausbauen«,  »zu  Ende  bauen«,  sondern  es  bedeutet 
lediglich  »ausschmücken»,  »auszieren«, 25)  bezieht  sich  also  nur  auf  die 

13)  Mitteilungen  II,  60. 

M)  Mitteilungen  III,  31. 

2 5)  Grimm,  Deutsches  Wörterbuch,  wo  z.  B.  der  Ausdruck  »schön  ausgemachte 
Zimmer«. 


76 


Friedrich  H.  Hofniann:  Kurfürst  Ottlieinricli  usw. 


Innenausstattung.  Auch  die  Jahreszahl  1563,  die  man  an  einer  Tür- 
laibung zusammen  mit  den  Initialen  0.  H.  P.  C.26)  (Otto  Henricus  Palatinus 
Comes;  Ottheinrich  starb  1559!)  gelesen  haben  will27),  beruht  auf  einem 
Versehen.  Die  angebliche  3,  aus  der  dann  1563  konstruiert  wurde, 
hat  sich  als  ein  in  der  Form  einer  3 auslaufendes  Band  herausgestellt!28) 

Soviel  also  über  das  erste  der  zehn  »Ergebnisse«!  Über  die  übrigen 
ist  auch  das  letzte  Wort  noch  nicht  gesprochen.*  2 * * *9)  Eines  aber  will  mir 
jetzt  bereits  scheinen,  daß  es  nicht  notwendig  ist,  in  die  zwar  dürftigen, 
aber  klaren  historischen  Quellen  allerlei  Erklärungen  und  Auslegungen 
»hineinzugeheimnissen»  ; vielmehr  dürfte  einleuchtend  sein,  daß  sie,  ohne 
Vorurteil  gewürdigt,  sich  alle  ungezwungen  und  harmonisch  in  einen 
unzweideutigen  Beweis  zusammenschließen  für  den  Satz:  Der  soge- 

genannte Ostpalast  des  Heidelberger  Schlosses  ist  keineswegs 
ein  Werk  des  Kurfürsten  Friedrich  II.,  sondern  eine  Tat  seines 
Nachfolgers  Otto  Heinrich;  das  Gebäude  trägt  also  auch  nicht 
zu  Unrecht  den  Namen  »Ottheinrichsbau «. 


l6)  Nicht  »Otto  Heinrich,  Pfalzgraf  Churfürst«,  wie  man  meist  lesen  kann. 

*7)  Haupt,  Zur  Baugeschichte,  S.  30.  Für  das  auffallende  Datflm  wird  die  Er- 
klärung gegeben : „ 1 563  that  hier  der  letzte  dänische  Bildhauer  den  letzten  Meisselschlag 
zu  Ehren  seines  todtcn  Bauherrn  Otto  Heinrich“ ! 

*8)  Mitteilungen  III,  141.  Vgl.  auch  Kossmann  S.  33. 

29 ) Nach  Abschluß  der  Arbeit  finde  ich  einige  archivalischc  Notizen  über  die 

Baugeschichte  des  Ottheinrichsbaues,  die  mit  der  oben  angedeuteten  Schilderung  des 

Baubetriebs  aufs  befriedigendste  Ubereinstimmen;  sie  sollen  nächstens  an  gleicher  Stelle 

veröffentlicht  werden. 


Literaturbericht. 


Kunstgeschichte. 

L es  Tresors  d’ArtenRussie  (Chudöshestwennyja  Ssokröwistscha  Rossli). 
Publication  mensuelle  de  la  Societe  Imperiale  de  l’encouragement  des 
Beaux-Arts  en  Russie.  Anne'es  Ille  etIVe.  Directeur:  Adrien  Prachow. 
Saint-Petersbourg  1903  et  1904.  in-4. 

Seit  die  beiden  ersten  Jahrgänge  der  Tre'sors  d’Art  en  Russie  hier 
besprochen  wurden  (1903,  S.  239 ff.),  ist  in  der  Leitung  der  Publikation 
Alexandre  Benois  durch  Prof.  A.  Prachow  abgelöst  worden.  Der  Inhalt 
der  neuen  Bände  ist,  soweit  er  allgemein  wissenschaftliches  Interesse  be- 
sitzt, nicht  so  mannigfaltig,  wie  der  der  beiden  ersten;  dieses  beruht  auf 
der  größeren  Geschlossenheit  der  einzelnen  Hefte,  die  durchgehends  an- 
gestrebt, aber  leider  nicht  konsequent  durchgeführt  wird.  Im  Prinzip 
soll  wohl  jedes  Heft  eine  geschlossene  Gruppe  von  Denkmälern  bringen; 
nun  finden  wir  aber  häufig  nicht  das  ganze  einschlägige  Abbildungsmaterial 
in  einem  solchen  Hefte  beisammen,  denn  Nachzügler  folgen  oft  erst  nach 
Monaten,  und  andrerseits  werden  als  Lückenbüßer  in  die  Nummernfolge 
des  Hauptteils  Tafeln  eingeschoben,  die  mit  dem  Titel  des  betreffenden 
Heftes  nichts  zu  tun  haben.  Würden  die  einzelnen  Sammlungen 
gleichmäßiger  auf  die  Hefte  verteilt,  so  würde  die  Zusammenfassung 
mehrerer  (bis  zu  fünf)  Lieferungen  in  einem  Hefte  besser  motiviert 
erscheinen  und  die  großen  Abstände  der  Termine  des  Erscheinens  er- 
träglicher sein,  die  gegenwärtig  die  Berechtigung  des  Untertitels  »publi- 
cation mensuelle«  ziemlich  problematisch  erscheinen  lassen.  Der  Text 
ist  im  Verhältnis  zu  den  früheren  Jahrgängen  gewachsen;  er  würde  ge- 
winnen, wenn  in  ihm  die  ästhetische  Würdigung  des  Materials  stärker 
hervorträte  und  weniger  die  archäologische  und  biographische  Seite  der 
Erläuterung  betont  würde.  Gegen  die  Aufnahme  von  ganzen  Aufsätzen, 
die  von  dem  Bildermaterial  unabhängig  sind,  können  manche  Bedenken 
geäußert  werden,  wenn  es  sich  auch  um  einen  so  bemerkenswerten  Bei- 
trag zur  Kunstpsychologie  handelt,  wie  Prachows  Artikel:  Ȇber  die 
Stellung  der  Kunst  im  allgemeinen  Lebenshaushalte  und  den  Zweck  von 


78 


Literaturbericht. 


Kunstsammlungen«.  Leider  Hegt  dieser  Aufsatz  nur  im  russischen  Ori- 
ginale vor  und  ist  nicht  mit  einer  französischen  Übersetzung  versehen, 
wie  sie  nunmehr  auch  dem  Hauptteil  des  Textes  beigegeben  wird,  während 
sie  früher  nur  für  die  kurzen  Erläuterungen  zu  den  Abbildungen  üblich 
war.  Diese  Neuerung  wird  die  Brauchbarkeit  der  Publikation  für  das 
Ausland  erhöhen,  doch  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  seitens  der 
Redaktion  nicht  genügend  auf  eine  korrekte  Übertragung  aus  dem  Rus- 
sischen geachtet  wird.  Auch  eine  größere  Aufmerksamkeit  bei  der  Durch- 
sicht der  Unterschriften  ist  dringend  zu  wünschen:  Verkehrungen  wie 
holländisch  in  flämisch,  Pordenone  in  Giorgione  und  Verwechselungen 
von  Kirchen  des  15.  und  des  17.  Jahrhunderts  werden  in  Zukunft  hoffent- 
lich nicht  mehr  anzutreffen  sein.  Die  Erläuterungen  zu  den  einzelnen 
Tafeln  werden,  wie  es  früher  auch  üblich  war,  besser  von  den  Bearbeitern 
der  Haupttexte  abzufassen  und  zu  signieren  sein;  dadurch  würde  eine 
strikte  Kongruenz  von  Text  und  Erläuterung  gewährleistet  und  gelegent- 
lich der  Anschein  vermieden  werden,  als  spräche  derselbe  Autor  an  ver- 
schiedenen Stellen  ganz  divergente  Ansichten  aus.  Für  die  Chronik,  die 
jedem  Hefte  beigegeben  wird,  scheint  das  Muster  der  Chronique  des 
Beaux-Arts  immer  mehr  maßgebend  zu  werden;  es  bleibe  dahingestellt, 
wie  weit  eine  solche  Beilage  dem  Charakter  eines  Tafelwerkes  entspricht, 
wie  es  die  Tre'sors  d’Art  laut  Programm  sein  sollten. 

Der  dritte  Jahrgang  begann,  noch  unter  Benois’  Leitung,  mit  zwei 
dem  Zeitalter  Peters  d.  Gr.  gewidmeten  Heften  (Lief.  1 — 3).  Sehr  vieles 
von  ihrem  Inhalte  hat  nur  lokales  Interesse,  manches  nur  den  Wert 
historischer  Kuriosität.  Unter  den  Porträts  sind  das  Doppelbildnis  der 
Prinzessinnen  Anna  und  Elisabeth  (S.  17)  und  ein  weiteres  Jugendbildnis 
der  letzteren  (S.  50)  von  Louis  Caravacque  bemerkenswert,  besonders 
aber  ein  1717  von  J.  M.  Nattier  d J.  im  Haag  gemaltes  Bildnis  der 
Kaiserin  Katharina  I.  (T.  15).  Der  älteste  Repräsentant  russischer  Porträt- 
malerei Andreas  Matwejew  (f  1758),  ein  Schüler  von  Karel  de  Moor, 
ist  durch  zwei  Bildnisse  eines  fürstlich  Golfzynschen  Ehepaares  vertreten 
(S.  25).  Unter  den  von  Peter  d.  Gr.  erbauten  Schlössern  in  der  Umgebung 
von  Petersburg  zeichnen  sich  Katharinenhof  (T.  12;  S.  xo),  und  die 
Pavillons  Ermitage  und  Marly  in  Peterhof  (T.  4,  5,  xo,  21;  S.  9,  10) x) 
durch  große  Anspruchslosigkeit  aus.  Prächtiger,  wenn  auch  von  über- 
ladenem Prunke  weit  entfernt,  ist  Schloß  Katharinental  bei  Reval  (T.  28  — 3 1 ; 
S.  51,  53,  63).  Von  den  verschwundenen  Schlössern  Dälnije  Dubki  und 
Podsörny  in  der  Nähe  von  Petersburg,  das  erste  von  des  Wael,  das  zweite 
von  demselben  und  van  Zuyten  erbaut,  geben  uns  nur  einige  Abbil- 


x)  Für  die  Bauten  in  Peterhof  vgl.  auch  Jahrg.  II. 


Literaturbericht. 


79 


düngen  Kunde  (T.  25;  S.  51).  Das  Sommerpalais  Peters  ist  glücklicher- 
weise mit  seiner  ganzen  gut  bürgerlichen  Einrichtung  erhalten  (T.  19, 
20;  S.  7,  43,  47,  52,  65,  67);  dieser  kleine  Bau  kann  gegenwärtig  umso- 
mehr Interesse  beanspruchen,  als  P.  Walle  keinen  geringeren  als  Andreas 
Schlüter  für  seinen  Schöpfer  erklärt  hat;  ob  mit  Recht,  bleibt  noch  frag- 
lich. Mit  größerer  Sicherheit  wäre  an  eine  Verbindung  mit  Schlüter  bei 
den  Holzschnitzereien  im  Treppenhause  des  Palais  zu  denken,  die  hier 
recht  unwahrscheinlich  als  Arbeit  N.  Pineaus  bezeichnet  werden  (S.  53). 
Das  Aussehen  des  Sommergartens,  in  dem  das  Palais  steht,  zur  Zeit  Peters 
veranschaulicht  ein  Plan  auf  S.  65.  Der  damalige  Garten  war  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  von  J.  B.  Al.  Leblond  angelegt;  seine  heutige  Gestalt 
erhielt  er  unter  Katharina  II. 

Das  folgende  Heft  (Lief.  4 — 8)  schildert  Kaiser  Alexander  III.  als 
Förderer  russischer  Nationalkunst.  Die  Abbildungen  geben  zum  größten 
Teile  Werke  des  19.  Jahrhunderts  wieder,  die  hier  nicht  in  Betracht 
kommen.  Von  älteren  Gemälden  finden  wir  eine  Giov.  Bellini  benannte 
Madonna,  ein  auf  N.  Maes  getauftes  Frauenporträt,  zwei  Bilder  von 
Platzer  und  drei  Veduten  von  Hubert  Robert  (T.  55 — 58;  S.  136,  138), 
an  kunstgewerblichen  Gegenständen  vier  Gobelins  (T.  75  — 80),  zwei 
japanische  und  eine  persische  Bronzevase  (T.  81;  S.  155,  195).  Sehr 
beachtenswert  ist  das  Gebäude  des  Alexander-Museums  in  Petersburg, 
das  in  reinstem  Empire  unter  de  Rossis  Leitung  erbaut  wurde.  Leider 
ist  der  prächtige  Bau  in  allerjüngster  Zeit  durch  Niederlegung  eines  Flügels 
verunstaltet  worden;  die  ursprüngliche  Ansicht  ist  auf  T.  82  zu  sehen, 
Interieurs  finden  wir  auf  T.  83  und  S.  158,  161,  196,  197.  Den  Schluß 
des  Heftes  bildet  ein  Artikel  von  A.  Spiliotti  über  die  1716  von  Peter 
d.  Gr.  gegründete  Teppichmanufaktur,  der  durch  einige  Proben  aus  den 
Anfangszeiten  des  Betriebes  illustriert  wird  (T.  74,  100 — 102;  vgl.  auch 
T.  2 1 u.  99). 

Das  letzte  Heft  des  dritten  Jahrganges  (Lief.  8 — 12)  brachte  den 
.herrlichen  Lieblingssitz  Kaiser  Pauls:  Schloß  Pawlowsk,  ein  Musterbeispiel 
für  die  strenge  Pracht  des  Klassizismus.  Es  beherbergt  eine  solche 
Menge  erstklassiger  Stücke  an  Möbeln  und  Dekoration,  daß  es  zu  weit 
führen  würde  auch  nur  das  Beste  vom  Guten  in  der  Auswahl  der  Tresors 
d’Art  aufzuzählen.  Im  Texte  ist  eine  wichtige  Quelle  für  die  Geschichte 
des  Schlosses  abgedruckt:  die  französische  Beschreibung  der  Haupträume, 
die  die  Kaiserin  Maria,  Gemahlin  Kaiser  Pauls,  1783  niedergeschrieben 
hat.  Eine  ganze  Reihe  von  ergänzenden  Tafeln  folgten  erst  im  vierten 
Bande,  obgleich  in  dem  Hefte  selbst  doch  noch  Platz  für  die  Gemälde 
des  Grafen  Golem'schtschew  - Kutüsow  vorhanden  war.  Unter  diesen 
war  eine  Enthauptung  der  hl.  Katharina  von  einem  Niederländer  des 


8o 


Literaturbericht. 


16.  Jahrhunderts  das  interessanteste;  für  eine  Paradiesszene  war  die  Be- 
stimmung des  Textes  »Nachahmer  des  Roelant  Savery  und  des  Sämmet- 
brueghel«  im  zweiten  Teile  anscheinend  gerechtfertigt;  sie  ist  Ph.  M. 
signiert  und  angeblich  unleserlich  datiert.  Vom  Reste  sind  eine  Grisaille 
und  eine  »lombardische«  Madonna  so  verdorben,  daß  ihre  Wiedergabe 
überflüssig  war;  zwei  weitere  Bilder  haben  mit  Cranach  und  dem  »Meister 
des  Todes  Mariae«  nichts  zu  tun;  das  Opfer  Abrahams  gehört  schwerlich 
Patinier  und  eine  Zeichnung  sicher  nicht  Dürer;  ob  eine  kleine  Land- 
schaft mit  Recht  Sal.  Ruisdael  heißt,  kann  nach  der  Abbildung  nicht 
ermittelt  werden. 

Der  vierte  Jahrgang  begann  mit  der  von  Alexander  Neuströjew 
bearbeiteten  Galerie  des  Herzogs  Georg  von  Leuchtenberg.  Leider  wurde 
sie  in  zwei  ungleiche  Teile  zerrissen,  indem  die  wenig  zahlreichen  Nieder- 
länder im  ersten  Hefte  (Lief,  i)  gesondert  erschienen.  Unter  die  Italiener 
im  zweiten  Hefte  (Lief.  2 — 4)  sind  nicht'  weniger  als  vier  Ansichten  einer 
herzlich  langweiligen  Vestalin  von  Clodion  eingestellt,  der  eine  mit  ihr 
nur  durch  den  Gegenstand  zusammenhängende  Vestalin  der  Brüder  Collini 
aus  Schloß  Pawlowsk  folgt;  ebendort  befindet  sich  das  Porträt  der  Kaiserin 
Maria  von  Roslin,  das  erst  hier  als  farbige  Beilage  zum  dritten  Jahr- 
gange erschien.  Über  die  italienischen  Bilder  der  Galerie  hat  Neuströjew 
eine  kritische  Studie  in  der  Arte  (1903,  p.  329  — 346)  veröffentlicht  und 
dort  auch  den  größten  Teil  des  Abbildungsmaterials  publiziert.  Die  Tafeln 
der  Tresors  d’Art  sind  den  Reproduktionen  der  Arte  ihres  größeren  For- 
mates und  gelegentlich  größerer  Exaktheit  wegen  vorzuziehen;  neu  sind 
unter  ihnen  eine  heilige  Familie  eines  Ferraresen  des  16.  Jahrhunderts 
und  das  italienische  Männerbildnis,  das  in  der  Sammlung  als  Velasquez 
zählt.  Tafel  31  bringt  die  Herodias,  die  E.  Modigliani  in  der  Arte  (1903, 
p.  380  s.)  für  B.  Pordenone  in  Anspruch  genommen  hat.  Auf  derselben 
Tafel  figuriert  ein  sehr  mittelmäßiger  holländischer  Hühnerhof,  dessen  Er- 
scheinen mitten  unter  Werken  von  Bordone,  L.  Lotto,  B.  Pordenone,  Moretto 
um  so  verwunderlicher  ist,  als  Neuströjews  Text  seiner  nirgends,  auch 
nicht  unter  den  Niederländern,  erwähnt.  Wo  sonst  nur  Bilder  alter  Meister 
gegeben  wurden,  erscheint  Karl  Brüllows  stark  erotisch  angehauchte 
Endymionszene  wenig  in  den  Rahmen  der  Lieferung  passend.  Es  ist  zu 
hoffen,  daß  Neuströjew  auch  die  niederländischen  Gemälde  der  Galerie  in 
ähnlicher  Weise  kritisch  bearbeiten  wird,  wie  er  es  mit  den  italienischen 
bereits  getan  hat.  Unter  ihnen  sind  die  interessantesten  Stücke  »Christus 
und  Johannes  d.  T.  mit  dem  Stifter«  von  Dirk  Bouts  und  ein  Spinola- 
porträt  von  Rubens;  ihnen  reihen  sich  an  ein  guter  Teniers,  ein  mäßiger 
Jan  Steen,  ein  ebensolcher  Pieter  de  Hoogh,  ein  vorzüglicher  Metsu, 
ferner  Bilder  von  W.  v.  Mieris,  P.  Codde,  J.  v.  Ruysdael,  J.  v.  Ostade, 


Literaturbericht. 


81 


L.  van  Valckenborch,  G.  B.  Weenix,  CI.  Berchem,  Ph.  Wouverman, 
Hondecoeter  und  Huysum.  Den  Niederländern  folgen  ein  französisches 
Frauenbildnis  aus  dem  15.  Jahrhundert  und  ein  Männerporträt  aus  der 
Schule  Holbeins. 

Auf  ein  ganz  anderes  Gebiet  führt  uns  Lieferung  5,  die  das  Kloster 
St.  Sabas  von  Storoshy  bei  Swenigorod  (in  der  Nähe  von  Moskau)  bringt. 
Leider  hat  eine  Verwechselung  von  Unterschriften,  die  erst  im  folgenden 
Hefte  korrigiert  wurde,  viel  Verwirrung  in  die  Lieferung  gebracht.  Die 
im  Wladimirschen  Stile  um  die  Wende  des  14.  Jahrhunderts  erbaute 
Kathedrale  von  Swenigorod  ist  irrtümlich  als  die  Klosterkathedrale  zur 
Verklärung  Christi  von  1693  bezeichnet.  Diese,  von  der  Schwester 
Peters  d.  Gr.  Sophia  (Reichsregentin  1682  — 1689)  erbaut,  ist  auf  S.  95 
zu  sehen  und  als  späteres  Erzeugnis  ohne  weiteres  kenntlich;  die  Unter- 
schrift dieser  Abbildung  »palais  du  tzar  Alexis  Mikhailovitch«  gehört  zur 
Abbildung  S.  94,  wo  neben  der  alten  Klosterkathedrale  zur  Geburt  der 
Mutter  Gottes  vom  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  der  Palast  des  Zaren 
Alexei  (1645  — 1676)  zu  sehen  ist,  den  er  sich  am  Ziele  häufiger  Pilger- 
fahrten erbauen  ließ.  Das  lebhafte  Interesse  des  Zaren  für  das  Kloster 
bezeugen  außerdem  noch  das  Zaren-  oder  Schöne  Tor  in  der  Umfassungs- 
mauer, der  Ikonostas  der  Kathedrale  zur  Geburt  Mariae  und  zahlreiche 
Paramenten  und  Kirchengeräte.  Ihnen  fügte  sein  ältester  Sohn  und 
Nachfolger  Zar  Feodor  III.  (1676  — 1.682)  den  Schrein  des  heiligen 
Sabas  hinzu. 

Mit  der  sechsten  Lieferung,  die  auch  einige  Lückenbüßer,  wie  eine 
römische  Frauenbüste  und  Zeichnungen  von  Claude  Lorrain  und  Prima- 
ticcio  aus  der  Ermitage  enthält,  begann  die  Publikation  der  kunst- 
gewerblichen Schätze,  die  auf  der  großen  historischen  Ausstellung  des 
vorigen  Frühjahres  in  Petersburg  zu  sehen  waren.  Auf  sie  des  Näheren 
hier  einzugehen  verbietet  sich  und  so  darf  denn  dieser  Bericht  schon 
mit  der  fünften  Lieferung  des  laufenden  Jahrgangs  schließen. 

James  v.  Schmidt. 


Architektur. 

Albrecht  Haupt.  Peter  Flettner  der  erste  Meister  des  Otto- 
Heinrichsbaus  zu  Heidelberg.  Leipzig,  Karl  W.  Hiersemann  1904. 
Kunstgeschichtliche  Monographien  I.  Mit  15  Tafeln  und  33  Abb.  im 
im  Text.  99  S. 

Der  Kampf  um  das  Heidelberger  Schloß,  wie  er  auch  ausgehen 
möge,  scheint  mittelbar  Gutes  zu  stiften,  indem  er  die  historische  Er- 
kenntnis fördert.  Mancher,  der  sich  über  die  Restaurierungsfrage  ein 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  6 


82 


Literaturbericht. 


Urteil  bilden  will,  betrachtet  vielleicht  zum  ersten  Male  mit  kritischem 
Blick  das  öfter  besungene  als  studierte  Gebäude.  Die  Kontroverse  über 
die  Restaurierung  ist  schließlich  ein  Streit  um  historische  Dinge,  und  die 
Parteien  wafifnen  sich  mit  Kenntnis  von  dem  Gewordenen. 

Etwas  vom  Geräusch  des  Tages  klingt  hinein  in  die  inhaltreiche 
Schrift  Haupts  mit  dem  überraschenden  Titel.  Flettnef  ist  der  als  Flötner 
bekannte  Nürnberger  Kleinmeister,  dessen  Person  neuerdings  gewaltig 
anschwillt.  Die  Arbeit  Haupts  ist  lebhaft  und  mit  viel  Beredsamkeit 
geschrieben,  von  dem  begreiflichen  Wunsch  angetrieben,  eine  neue  These 
möglichst  rasch  bekanntzumachen.  Der  Text  ist  reich  an  Pleonasmen  und 
übertreibenden  Wendungen. 

H.  analysiert  den  sog.  Otto -Heinrichsbau,  um  festzustellen,  was 
im  Jahre  15  58  fertig  gewesen  sei.  Aus  diesem  Jahre  besitzen  wir  als 
wichtiges  Dokument  den  Vertrag  mit  Alexander  Colins,  dem  Bildhauer 
aus  Mecheln.  Die  Dekorationsstücke  niederländischen  Charakters,  die  der 
Verf.  als  Arbeit  des  Colins  aussondert,  sind  ihm  unorganische  Zutaten 
zu  dem  vorher  Geplanten  und  teilweise  Ausgeführten.  Eine  Rekonstruktion 
des  ursprünglichen  Planes  wird  versucht,  wobei  sich  ein  einheitliches 
geistreiches  Fassadensystem  im  Stile  der  oberitalienischen  Frührenaissance 
ergibt.  Otto-Heinrich,  nach  dem  der  berühmte  Bau  benannt  ist,  wäre 
nach  H.s  Auffassung  als  der  erste  Zerstörer  der  Fassade  anzusehen.  Unter 
der  Herrschaft  seines  Vorgängers  Friedrichs  II.,  der  1544  auf  den  Thron 
kam,  wäre  der  Plan  festgestellt  und  in  der  Hauptsache  auch  schon  aus- 
geführt worden.  Peter  Flettner  starb  am  23.  Februar  1546,  kann  also 
unter  Friedrich  II.,  nicht  aber  unter  Otto-Heinrich,  der  1556  zur  Herr- 
schaft gelangte,  als  Zeichner  der  Fassade  in  Betracht  kommen.  So  hängen 
die  beiden  Thesen  des  Verfassers  zusammen.  Und  die  temperamentvolle 
Argumentation  über  das  Datum  ist  eingegeben  von  dem  Wunsche,  die 
berühmteste  deutsche  Renaissancefassade  in  das  unglaublich  buntscheckige 
»Werk«  des  Nürnberger  Meisters  einzuschieben. 

Der  von  Zusätzen  gereinigte  Palast,  wie  H.  ihn  rekonstruiert,  unter- 
scheidet sich  von  dem  vorhandenen  hauptsächlich  durch  die  Fenster- 
gliederung und  sieht  aus  wie  ein  konsequent  durchgeführter  oberitalienischer 
Backsteinbau.  Man  erwartet  die  Vermutung,  Friedrich  II.  habe  sich  eines 
italienischen  Bauleiters  bedient,  dessen  Absichten  deutsche  und  niederlän- 
dische Werkmeister  mit  halbem  Erfolge  verwirklicht  hätten,  und  ist  einiger- 
maßen erstaunt,  Peter  Flötner  als  den  Zeichner  präsentiert  zu  bekommen. 

Was  H.  nach  Reimers  und  Lange  über  Flötner  mitteilt,  ist  skizzen- 
haft, enthält  aber  aufregende  Andeutungen  von  neuen  Funden  und 
Studienergebnissen,  die,  wie  wir  hören,  bald  im  Jahrbuch  der  kgl.  preu- 
ßischen Kunstsammlungen,  erscheinen  werden. 


Literaturbericht. 


83 


Die  neue  Datierung  des  Otto-Heinrichsbaus  hat  H.  bereits  1902 
in  seiner  Schrift  zur  Baugeschichte  des  Heidelberger  Schlosses  (Frank- 
furt a M.)  zu  begründen  versucht.  Koßmann  hat  diese  Umdatierung  mit 
anderen  Argumenten  befürwortet  (1903,  Der  Ostpalast  zu  Heidelberg, 
Straßburg,  Hertz).  Bestritten  wird  die  These  von  Friedrich  H.  Hofmann 
in  diesem  Hefte  (S.  63  ff.). 

Beim  Aufbau  seiner  Hypothese,  die  den  Erfinder  der  ursprünglichen 
Fassade  betrifft,  stützt  sich  H.  namentlich  auf  eine  Vergleichung  der  Orna- 
mentstücke mit  Zeichnungen  und  Holzschnitten  Flötners,  im  besonderen 
mit  den  Abbildungen  in  der  Nürnberger  Vitruv-Ausgabe  von  1548. 

Friedländer. 


Skulptur. 

Maad  Cruttwell.  Luca  and  Andrea  deila  Robbia  and  their  suc- 
cessors.  With  over  150  illustrations.  London,  J.  M.  Dent.  New- 
york,  E.  P.  Dutton.  1902.  Gr.  40.  362  S. 

Die  Verfasserin  dieser  breit  angelegten  Robbia-Monographie  hat  mit 
großem  Fleiß  die  Resultate  der  Forschung  aufgearbeitet,  die  durch  W. 
Bode,  A.  Marquand,  Cavalucci,  Molinier,  Perkins,  Carocci  und  Reymond 
gefunden  sind;  sie  hat  ferner  eine  die  Vorarbeiten  überbietende,  voll- 
ständige Zusammenstellung  aller  Dokumente,  die  hier  in  Frage  kommen 
und  von  1427  — 1566  (45  Nummern)  reichen,  gegeben  und  mit  pein- 
licher Gewissenhaftigkeit  eine  Liste  aller  heute  noch  vorhandenen  und 
zum  Teil  so  stark  versprengten  Robbiastiicke  (es  sind  immerhin  noch 
1170!)  aufgestellt.  Durch  diese  Liste,  die  freilich  in  der  Verteilung  der 
einzelnen  Nummern  auf  die  verschiedenen  Robbiameister  nicht  allseitigen 
Beifall  finden  wird,  ist  unser  Robbiainventar  wohl  definitiv  festgelegt; 
die  Zusammenstellung  geht  über  die  Angaben  bei  Cavalucci  und  dem 
Cicerone  und  namentlich  über  die  rührende  Liste  der  Marchesa  Burla- 
macchi  weit  hinaus.  Wer  selbst  einmal  im  Getümmel  der  Alinarischen 
Robbiaphotographien  gestanden  hat,  weiß,  wie  schwer  eine  Scheidung 
dieser  Scharen  zu  erreichen  ist,  die  selbst  vor  den  Originalen  nicht  immer 
gelingt.  Freilich  sollten  wir  jetzt  bei  Luca  allmählich  zu  einer  Über- 
einstimmung kommen;  mögen  Datierungsfragen  offen  bleiben,  die  Attri- 
butionen können,  nachdem  Bode  die  Merkmale  so  klar  bestimmt  hat, 
nicht  mehr  fraglich  bleiben.  Der  Rückgang,  den  die.  Forschung  über  die 
Robbia  erlebt  hat,  ist  durch  Marcel  Reymond  verschuldet,  der  sich  dog- 
matisch an  einige  Sätze  gebunden  hat,  die  leider  Gottes  falsch  sind. 

In  bezug  auf  die  Marmor-  und  Bronzearbeiten  Lucas  herrscht  jetzt 
wol  allgemeine  Übereinsiimmung,  bis  auf  das  von  M.  Cr.  um  1520  da- 

6* 


84 


Literaturbericht. 


tierte  Oxford-Tondo,  das  die  Verfasserin  nur  dem  Atelier  geben  will  und 
daher  aus  der  kleinen  Zahl  der  Frühwerke  Lucas  streichen  muß.  Dagegen 
setzt  bei  der  Glasur  die  Differenz  der  Forscher  schroff  ein;  in  dem  Be- 
streben, die  Jugendzeit  Lucas,  die  seine  ersten  dreißig  Jahre  umspannt, 
mit  Arbeiten  zu  schmücken,  möchte  M.  C.  die  Madonna  im  Rosenhag, 
(Bargello),  die  Madonna  Frescobaldi  (Berlin)  und  die  Innocenti-Madonna 
in  die  Zeit  zwischen  1420  — 30  rücken.  Ich  habe  an  anderer  Stelle  nach- 
zuweisen versucht,  daß  die  ganze  Glasurtechnik  Lucas  eist  nach  144® 
einsetzt ; aber  auch  wenn  wir  dies  nicht  wüßten,  wäre  es  sehr  verwegen, 
aus  den  gotisierenden  Formen  der  Madonna  bei  Luca  auf  eine  so  frühe 
Entstehung  zu  schließen.  Denn  Luca  bleibt  überhaupt  in  gewissem  Sinne 
gotisch  bis  in  die  späteste  Zeit;  und  dann  ist  geiade  das  lhema  dei 
Madonna  nicht  geeignet,  um  Datierungsfragen  an  ihm  zu  diskutieren, 
weil  es  das  konservativste  aller  Quattrocentothemen  ist.  Fällt  aber  die 
frühe  Ansetzung  dieser  drei  Madonnen,  so  muß  die  ganze  Reihe  dei 
Madonnen  revidiert  werden.  Richtig  erscheint  es  mir,  mit  d.  Vf.  die  zeitliche 
Einheit  der  drei  Wappen  an  Or  San  Michele  anzunehmen,  so  daß  also 
auch  das  Wappen  der  medici  e speciali  (mit  der  Madonna  im  Taber- 
nakel) erst  um  1463  entstanden  wäre.  Weder  die  gotisierenden  können 
noch  die  Polychromie  (die  übrigens  auch  bei  der  von  Reymond  kürzlich 
aufgefundenen  Madonna  Corsini  wiederkehrt)  zwingen  zu  früherem  Datum, 
da  es  sich  hier  nicht  um  eine  freie  Komposition,  sondern  um  Heraldik 
handelt.  Endlich  ist  der  Glasur  die  absichtlich  breite  Faltengebung,  die 
Betonung  der  Lagen  und  die  hohe  Giirtung  der  Kleider,  wie  sie  die 
Gotik  liebt,  so  sehr  willkommen,  daß  es  auch  hieraus  sich  erklärt,  warum 
Luca  auch  in  den  Arbeiten  der  sechziger  Jahre  nicht  zu  den  Fort- 
geschrittenen gehört.  Die  Verfasserin  hat  mit  Recht  die  lonskizze  dei 
Thomasgruppe  bei  Herrn  von  Beckerath  in  Berlin  für  Luca  in  Anspruch 
genommen.  Diese  kann  erst  nach  1459  entstanden  sein  und  verrät  doch 
noch  viel  Gotik. 

Es  gilt  heut  in  gewissen  Kreisen  für  kritisch,  den  Berliner  Stücken 
Lucas  gegenüber  die  Bedenken  zu  teilen,  die  M.  Reymond  zuerst  formu- 
liert hat;  so  läßt  auch  M.  C.  der  Berliner  Sammlung  nur  zwei  Arbeiten 
des  Meisters:  die  Madonna  Frescobaldi  und  den  Jünglingskopf.  Weder 
die  bemalte  Stucco-Madonna,  die  der  glasierten  in  den  Innocenti  so  nahe 
steht,  noch  die  glasierte  Apfelmadonna  finden  Gnade  vor  ihren  Augen, 
von  all  den  andern  Reliefs  zu  schweigen.  Ob  die  Verfasserin  durch 
solche  Zweifel  sich  den  Beifall  der  kompetenten  Beurteiler  zuziehen  wird, 
bezweifle  ich;  es  gibt  eine  Vorsicht,  die  dielochter  der  Unkenntnis  ist. 
Viele  von  uns,  die  seit  Jahren  die  Berliner  Sammlung  studieren,  haben 
anfangs  manche  Zuschreibung  nicht  verstanden;  aber  mit  der  Zeit  ver- 


Literaturb  ericht.  85 

deutlichte  sich  vieles  und  wir  empfanden  beschämt,  daß  unser  Zweifel 
töricht  war. 

Es  darf  sich  bei  diesen  Fragen  nicht  länger  um  »Hie  Welf,  hie 
Waibling«  handeln;  wir  müssen  unbekümmert  auf  die  Objekte  losgehen 
und  hier  zu  einer  Übereinstimmung  zu  kommen  suchen.  Die  Kontrolle 
technischer  Besonderheiten,  die  Güte  der  Vitrine,  die  Augen-  und 
Brauenbehandlung,  auf  welche  Dinge  A.  Marquand  immer  wieder  als  Unter- 
scheidungsmerkmale hingewiesen  hat,  führt  leider  nicht  zu  definitiven  Er- 
kennnungszeichen ; ich  habe  mich  wenigstens  zwei  Jahre  lang  vergeblich 
daran  abgemüht.  Auch  ist  A.  Marquands  These,  Luca  setze  das  Kind 
stets  rechts,  Andrea  links,  nur  in  der  zweiten  Hälfte  richtig  (bis  auf  den 
auch  sonst  so  widerspruchsreichen  Altar  der  Medicikapelle  in  Sa  Croce); 
bei  Luca  lassen  sich  immerhin  neun  Ausnahmen  nachweisen.  Die  viel 
diskutierte  Madonna  Bertello  in  San  Gaetano  in  Florenz  gibt  M.  Cr. 
Andrea,  wie  mir  scheint  mit  Recht.  Sie  stimmt  mit  Andreas  Kissen- 
Madonnen  (Bargello,  Palermo,  Hamburg)  leidlich  überein,  bis  auf  den 
sonst  bei  Andrea  nie  fehlenden  Heiligenteller,  wenn  sie  auch  strenger 
und  herber  ist.  Andrea  nähert  sich  hier  (etwa  um  1470)  auffallend  An- 
tonio Rossellino. 

Die  große  Gruppe  der  Visitazione  in  Pistoia  hat  M.  Cr.  Luca  ge- 
lassen. Darin  herrscht  heute  wohl  Übereinstimmung,  daß  Andrea  sie 
nicht  gemacht  haben  kann.  Sie  muß  entweder  von  Luca  sein  oder  aus 
dem  Cinquecento  stammen,  auf  das  auch  der  alte  Name  Fra  Paolino 
hinwies.  Ich  glaube  einen  Beweis  für  Lucas  Autorschaft  darin  gefunden 
zu  haben,  daß  ein  Altar  in  Lamporeggio  aus  der  Spätzeit  diese  Gruppe 
im  Mittelteil  wiederholt  und  verrät,  wie  man  im  Cinquecento  das  "Vorbild 
umgeformt  hat.  Die  Großzügigkeit  und  Freiheit  der  Faltenbehandlung  bei 
der  Pistojeser  Gruppe  erklärt  sich  aus  den  Dimensionen  der  überlebens- 
großen Figuren;  für  das  viel  diskutierte  Kopftuch  Marias  bildetdas  Frauen- 
porträt P.  Pollaiuolos  bei  Frau  Heinauer  in  Berlin  ein  Vergleichstück. 

Der  Oxfordtondo,  welcher  auf  der  Rückseite  bekanntlich  das  Datum 
17.  Januar  1428  trägt,  ist  so  leidenschaftlich  diskutiert  worden,  daß  man 
meinen  sollte,  ein  Resultat  müßte  jetzt  gefunden  sein.  M.  Cr.  wiederholt 
hartnäckig  Reymonds  Behauptungen  und  stößt  das  Stück  in  das  begin- 
nende Cinquecento,  »more  Raffaellesque  than  early  quattrocento  in  type«. 
Die  Wiederholung  des  Tondo  im  Louvre  (Nr.  424)  ist  von  der  Verfasserin 
nicht  als  modern  erkannt.  Natürlich  werden  auch  die  nach  einer  Bronze 
geformten  Tondi  des  Louvre  und  der  Sammlungen  Beckerath  und  Mond 
Luca  abgesprochen.  Paris  besitzt  nach  M.  Cr.  nur  in  den  beiden  Tu- 
genden des  Musee  Cluny  eigenhändige  Arbeiten  Lucas  — diese  gerade 
aber  sind  Nachbildungen  nach  der  Decke  in  San  Miniato!  Die  Anbetung 


86 


Literaturbericht. 


des  Kindes  in  Crefeld,  bei  Foule  und  beim  Fürsten  Liechstenstein 
(letztere  nicht  erwähnt)  finden  sich  ebenfalls  in  diesem  Lucakatalog 
nicht,  das  Crefelder  Stück  wird  Andrea  gegeben.  — In  bezug  auf  die 
Evangelisten  der  Pazzikapelle  wird  der  Vorschlag  Ed.  von  Lipharts  wieder 
aufgenommen,  Brunelleschi  habe  sie  modelliert.  Ich  halte  diese  Stücke 
mit  Bode  für  das  Früheste,  was  Luca  für  die  Pazzikapelle  gearbeitet 
hat,  kann  aber  freilich  nicht  in  die  30er  Jahre  zurückgehen,  sondern 
datiere  diese  dondi  um  1444.  Reymond  bleibt  auch  neuerdings  (Ri- 
vista  d arte  III,  5)  wieder  bei  dem  alten  Trotz,  diese  Evangelisten  seien 
der  Polychromie  wegen  späte  Arbeiten  um  1470.  Solchen  Repetitionen 
gegenüber  muß  immer  wieder  versichert  werden,  daß  Luca  sich  nicht 
mehr  und  mehr  in  das  Farbenquintett  hineinarbeitet,  sondern  daß  er  aus 
der  Vielfarbigkeit  allmählich  in  das  blau-weiße  Duett  retiriert  — wo 
nicht,  wie  bei  der  Wappenmadonna,  andere  Gründe  mitsprechen. 

Mir  scheint  wenig  Aussicht  vorhanden,  daß  durch  archivalische 
lunde  die  oben  berührten  Streitfragen  geschlichtet  werden  könnten;  die 
Dokumente  der  Pazzikapelle,  des  Domes  etc.  sind  größtenteils  schon  auf- 
gearbeitet, in  Pistoia  hat  man  vergebens  gesucht,  das  Mediciinventar 
gab  keine  Aufschlüsse.  So  arbeitet  die  stilistische  Kritik. 

Andrea  ist  man  jetzt  geneigt  höher  einzuschätzen  als  früher;  schon 
quantitativ  ist  sein  CEuvre  eindrucksvoll.  Die  wichtige  Frage,  ob  Andrea 
auch  marmorarius  gewesen,  bejaht  M.  Cr.  mit  dem  alten  Hinweis  auf 
den  Altar  in  Sa  Maria  delle  Grazie  in  Arezzo.  Ich  halte  es  für  ganz 
unwahrscheinlich,  daß  wir  von  Andrea,  hätte  er  den  Stein  bearbeiten 
können,  nur  das  eine  Stück  besitzen  könnten.  Gewiß  hat  er  die  Guir- 
lande  in  Arezzo  gemacht;  das  andere  muß  von  Bened.  da  Maiano  oder 
einem  Genossen  desselben  stammen.  Die  Sache  liegt  hier  ähnlich  wie 
in  San  Giobbe  in  Venedig,  wo  Andrea  ebenfalls  die  Marmorarbeit  des 
Altars  einem  andern  (Francesco  di  Simone  oder  Ambrogio  da  Milano) 
überließ.  Man  bedenke,  daß  der  1436  geborene  Andrea  bei  dem  Onkel 
gerade  in  dem  Augenblick  in  die  Lehre  kam,  wo  dieser  dem  Marmor 
Valet  gesagt  hatte.  Zudem  hatte  die  Glasur  den  Vorzug  des  Monopols, 
sie  wird  in  Lucas  1 estament  nicht  ohne  Grund  ars  satis  superlucrativa 
genannt.  — Schwer  zu  erklären  bleibt  es  ja  allerdings,  weshalb  Andrea 
in  der  Lünette  des  Monte  di  Pieta  in  Florenz  den  Cristo  morto  des 
Altars  in  Arezzo  ohne  Umstände  kopiert  hat;  hier  mag  der  Wunsch  des 
Bestellers  maßgebend  gewesen  sein. 

Manches  Neue  und  Vervollständigende  bringen  die  Kapitel  über 
die  dritte  Robbiageneration;  namentlich  der  Abschnitt  über  Girolamos 
Arbeiten  in  Frankreich  und  der  über  Bened.  Buglione  ist  wichtig.  Die 
ins  Massenhafte  gehende  Herstellung  entzieht  sich  vielfach  dem  einzelnen 


Literaturbericht.  8 7 

Autorennachweis;  das  ist  aber  nicht  schmerzlich  bei  Arbeiten,  die  nicht 
mehr  individuelles  Gepräge  haben  und  nur  technisch  entwickelt  sind. 

Die  Illustrationen  sind  gut  ausgesucht  und  nicht  unklug  gehäuft. 
Hätten  aber  nicht  gerade  die  strittigen  Stücke  abgebildet  werden  sollen, 
wozu  das  IX.  Kapitel  (Works  attributed  to  Luca)  Gelegenheit  bot?  Eine 
Abbildung  von  Girolamos  Chateau  de  Madrid  nach  Ducerceau  hat  die 
Verfasserin  nachträglich  in  der  Gazette  d.  b.  a.  gegeben. 

Paul  Schubring. 


Malerei. 

Dürers  Dresdener  Altar.  Von  Ludwig  Justi.  Mit  7 Abbildungen. 

Leipzig.  Verlag  von  E.  A.  Seemann.  1904.  80.  41  S.  M.  1.50. 

Ich  habe  im  Jahrbuch  der  preuß.  Kunstsammlungen  (1904,  3.  Heft) 
auseinanderzusetzen  versucht,  wie  wenig  man  berechtigt  ist,  den  Dres- 
dener Altar  ohne  weiteres  dem  Werk  Dürers  einzureihen,  wie  das  Mittel- 
bild gar  keine  gesicherten  Analogien  hat,  und  wie  auch  die  Flügelfiguren, 
die  überzeugender  aussehen,  in  verdächtiger  Begleitung  erscheinen.  Auf 
diesen  Aufsatz  antwortet  Ludwig  Justi  in  eingehender,  von  warmem 
Sachinteresse  getragener  Antikritik.  Der  Dresdener  Altar  ist  ihm  nicht 
nur  ein  durchaus  sicheres  Stück  Dürers,  sondern  geradezu  das  wertvollste. 
Die  erhobenen  Schwierigkeiten  sucht  er  zu  beseitigen,  indem  er  sie  einer- 
seits aus  dem  jetzigen  Zustand  der  Bilder  erklärt,  andrerseits  sie  nicht 
anerkennt  und  Tugenden  aus  Mängeln  macht. 

Ein  entschiedenes  Verdienst  hat  sich  mein  geehrter  Gegner  von 
vornherein  erworben,  indem  er  zum  erstenmal  das  Triptychon  aus  Glas 
und  Rahmen  nehmen  ließ  und  dabei  die  wichtige  Tatsache  feststellte, 
daß  die  rahmenden  Pfeiler  des  Mittelbildes  nicht  nur  in  der  Farbe  auf- 
gefrischt sind,  sondern  als  Gesamtform  neu  sein  müssen,  da  sie  nur  bis 
zum  jetzigen  obern  Abschluß  des  Bildes  reichen  und  auf  dem  umge- 
schlagenen Rest  der  alten  (größeren)  Leinwand  keine  Fortsetzung  haben. 
Diese  Pfeiler  waren  aber  ein  wesentliches  Moment  gegen  die  Dürersche 
Autorschaft.  Die  Quadratur  des  Bodens  und  die  Deckenzeichnung  des 
Hinterraumes  hält  Justi  dann  ebenfalls  für  neu,  und  auch  das  Gebetbuch 
mit  dem  langweiligen  Tuch  darunter.  An  allem  andern  nimmt  er  keinen 
Anstoß.  Das  Mittelbild  sei  ein  Bild,  wie  Os  in  die  Zeit  nach  1495  voll- 
kommen passe,  und  die  Flügel,  die  unverkennbar  einen  späteren  Stil 
zeigen,  seien  »ausgezeichnet  erhaltene«  Werke  aus  der  Meisterzeit  von 
1508 — 1 5 1 5- 

Was  mir  am  Mittelbild  bedenklich  schien,  der  Mangel  der  tempera- 
mentvollen großen  Linie  Dürers,  die  Kahlheit  der  Flächenfüllung,  die 


88 


Literaturbericht. 


dekorative  Unsicherheit  in  der  Art,  wie  (in  auffallendem  Gegensatz  zu 
der  großen  Anlage  des  Hauptmotivs)  peinlich  ausgeführte  Details  ver- 
einzelt und  wirkungslos  vorgebracht  sind,  nimmt  Justi  nicht  schwer.  Auf 
die  Zeichnung  geht  er  wenig  ein,  die  auffallende  Flächenfüllung  möchte 
er  durch  ein  stoßweises,  nicht  von  Anfang  an  überlegtes  Arbeiten  Dürers 
annehmbar  machen  und  bezüglich  des  letzten  Einwands  meint  er  sogar, 
daß  ich  wohl  aus  cinquecentistischer  Voreingenommenheit  heraus  urteile. 
Ich  kann  aber  versichern,  daß  ich  nicht  mit  dem  Maßstab  des  Fra  Bar- 
tolommeo  gemessen  habe,  sondern  mit  dem  des  jungen  Dürer,  dessen 
Arbeiten  überall  den  ganz  überzeugenden  dekorativen  Zusammenhang 
haben,  auch  zusammengetragene  Kompositionen,  wie  der  Stich  der  sog. 
»Eifersucht«,  auf  den  sich  Justi  wiederholt  bezieht.  Es  ist  nicht  richtig, 
daß  Dürer  für  das  »Zusammen«  der  Figuren  hier  kein  Gefühl  gehabt  habe: 
sie  sind  in  derselben  strengen  Weise  dem  Dreieck  untergeordnet  wie  das 
im  »Männerbad«  und  in  den  Beweinungen  der  Münchener  Pinakothek 
und  in  der  großen  Passion  geschehen  ist. 

Daß  das  Motiv  eines  großen,  verkürzt  gesehenen  Kopfes  für  Dürer 
wohl  paßt,  gebe  ich  gerne  zu.  Sollte  am  Ende  das  Störende  alles  nur 
durch  Restauration  hineingekommen  sein?  In  der  Tat:  ich  habe  seit- 
her das  Bild  auch  außer  Glas  und  Rahmen  gesehen  und  mich  überzeugt, 
daß  die  Übermalungen  noch  einen  weiteren  Umfang  haben  als  Justi  wohl 
annimmt.  Es  ist  ja  an  sich  unwahrscheinlich,  daß  nur  die  Fußboden- 
quadratur hinzugemalt  worden  wäre  und  Einzeldinge  wie  die  Decken- 
balken des  Hinterraums : von  dem  undekorativen  Kleinzeug  ist  vieles  neu, 
die  Fensterbrüstung,  das  Beschlägwerk,  die  Türe,  die  Werkstatteinrich- 
tung usw. *)  und  auch  in  den  Hauptfiguren  ist  stellenweise  eine  spätere 
Hand  der  Zeichnung  nachgegangen  und  hat  sie  kleinlicher  gemacht.  Es 
bliebe  also  die  Frage,  ob  so  viel  abgeschält  werden  kann,  daß  der  Kern 
ohne  weiteres  mit  Diirerischer  Art  zusammenschießt?  Vielleicht,  aber  so 
wie  die  Dinge  sich  jetzt  geben,  geht  es  nicht.  Wer  kennt  denn  ein  Kind 
wie  dieses  Christuskind,  zusammengebacken  und  lahm  im  Umriß,  wo  doch 
Dürer  überall  die  Linie  gliedert  und  reich  macht.  Und  wie  das  Kind 
so  sind  die  betenden  Hände  der  Mutter,  Hände,  die  im  Motiv  nirgends 
eine  Analogie  haben,  so  umfangreich  das  Vergleichungsmaterial  ist.  Usw. 

Als  Dekoration  mag  die  Engelgarnitur  ursprünglich  (d.  h.  ohne  die 
Konkurrenz  großer  Architekturmotive)  weniger  schlecht  ausgesehen  haben. 

Ich  habe  gewiß  kein  besonderes  Interesse,  irgend  jemanden  in  seinem 
Glauben  irre  zu  machen,  nur  bitte  ich  um  das  Zugeständnis,  daß  die 


*)  Die  fatalen  reinemachenden  Engelchen  werden  von  kundiger  Seite  wiederholt 
für  den  alten  Bestand  in  Anspruch  genommen. 


Literaturbericht. 


89 


Dürerattribution  eine  Sache  ist,  die  erst  bewiesen  werden  muß.  Dieser 
Beweis  kann  nur  geführt  werden  durch  Aufzeigung  von  Analogien,  und 
nach  dem  bisher  vorgebrachten  will  es  mir  scheinen,  daß  es  immer  noch 
leichter  sein  möchte,  die  Unzugehörigkeit  als  die  Zugehörigkeit  der  Dres- 
dener Maria  zum  Werk  Dürers  wahrscheinlich  zu  machen.  — 

In  bezug  auf  die  Flügelbilder  möchte  eine  Einigung  leichter  zu 
gewinnen  sein.  Es  ist  nicht  wahr,  daß  sie  tadellos  erhalten  sind;  aber 
es  ist  nicht  schwer,  die  Zutaten  wegzudenken  und  dann  bleibt  ein  Rest, 
für  dessen  Originalität  auch  ich  ohne  weiteres  eintreten  könnte.  Daß 
die  Sachen  nicht  ganz  in  Ordnung  sind,  lehrt  schon  eine  genauere 
Analyse  des  Stofflichen:  der  Mantel  des  Sebastian  fällt  in  vertikalen 
Falten  über  die  Brüstung,  durch  das  Wasserglas  wird  die  Fläche  in  eine 
horizontale  umgedeutet,  das  eine  oder  das  andere  ist  also  falsch;  ein 
Engel  beim  Antonius  sticht  mit  einer  Lanze  in  der  linken  (!)  Hand  auf 
eine  unmögliche  Weise  über  einen  Kollegen  hinweg,  ein  andrer  drüber 
hat  die  Flügel  hinter  den  Ohren  und  einen  Federschopf  auf  dem  Kopf 
usw.  Die  »zahmen«  Ungeheuer  sind  sicher  größernteils  auch  in  der 
Form  neu,  nicht  nur  in  der  Farbe.  Auch  die  Hauptfiguren  sind  in 
wichtigen  Partien  alteriert. 

Für  die  Hände  des  Sebastian  hatte  ich  auf  eine  parallele  Zeich- 
nung hingewiesen,  die  Dürer  1508  bei  Anlaß  des  Heller -Altars  machte, 
und  ich  benutzte  das  als  einen  Grund  gegen  die  Dürersche  Herkunft 
des  Bildes.  Das  möchte  ich  zurücknehmen,  zumal  es  sich  doch  nicht 
um  eine  ganz  wörtliche  Wiederholung  handelt.  Und  damit  verliert  auch 
das  Datum  als  terminus  post  quem  seine  Verbindlichkeit,  und  wenn  die 
Flügelbilder  datiert  werden  sollen,  so  würde  ich  sie,  im  Gegensatz  zu 
Justi,  nicht  nach,  sondern  vor  1508  setzen,  noch  vor  die  große  italienische 
Reise.  Für  die  Meisterjahre  sind  sie  doch  zu  altertümlich. 

Damit  genug.  Es  erfährt  gewiß  selten  eine  These  eine  so  sorg- 
fältige Kritik,  wie  Justi  sie  der  meinigen  gewidmet  hat.  Merkwürdig, 
daß  trotzdem  nicht  mehr  Zwingendes  vorgebracht  worden  ist.  So  wenig 
ich  ihn  überzeugt  habe,  so  wenig  hat  er  mich  überzeugt.  Ist  das  kunst- 
kritischer Beweisführung  überhaupt  versagt?  »Den  viehischen  Gedanken 
nehmen  wir  nicht  an«,  antworte  ich  mit  Dürers  Worten.  Wer  sich  für 
die  Angelegenheit  näher  interessiert,  der  sei  auf  eine  ausführlichere  Dar- 
legung im  ersten  Bande  des  Dresdener  Jahrbuchs,  einer  demnächst  er- 
scheinenden neuen  Kunstpublikation,  verwiesen,  wo  mit  neuem  kritischen 
Material  die  Frage  einer  hoffentlich  endgültigen  Lösung  zugeführt  wer- 
den soll.  II  Wölßlin. 


9o 


Literaturbericht. 


Hand  Zeichnungen  schweizerischer  Meister  des  15. — 18.  Jahr- 
hunderts. Unter  Mitwirkung  von  Professor  D.  Burckhardt  und  Professor 
H.  A.  Schmid,  herausgegeben  von  Dr.  Paul  Ganz,  Konservator  der  öffentl. 
Kunstsammlung  zu  Basel.  — Basel,  Verlag  von  Helbing  & Lichtenhahn. 

In  dem  Moment,  wo  die  verbreitete  Albertina-Publikation  die  Geduld 
der  Abonnenten  durch  die  Dürftigkeit  ihrer  Gaben  auf  eine  harte  Probe 
stellt,  beginnen  die  Baseler  Kunsthistoriker,  unter  Führung  von  Paul  Ganz, 
ein  neues  Handzeichnungswerk,  das  sich  eine  viel  kleinere  Aufgabe  stellt, 
nur  die  allemannisch-schweizerische  Kunst  darstellen  will,  aber  jedenfalls 
den  Vorzug  hat,  aus  jungfräulichen  Schächten  schöpfen  zu  dürfen.  Die 
reichen  Bestände  der  Basler  Sammlung  sollen  publiziert  werden,  dazu 
was  sonst  in  der  Schweiz  ist  und  was  in  ausländischen  Kabinetten  dem 
Kreise  angehört.  Das  Format  ist  etwas  größer  als  das  der  Albertina- 
zeichnungen und  die  Technik  der  Reproduktion  wechselt  nach  Bedürfnis. 
Die  erste  Lieferung  mit  15  Blättern  macht  einen  vortrefflichen  Eindruck. 
Meister  E.  S.,  Urs  Graf,  Niclaus  Manuel,  Hans  Baidung,  Hans  Holbein 
geben  den  Ton  an.  Dazwischen  erscheint  ein  baslerischer  Anonymus  des 
15.  Jahrhunderts;  ein  Hans  Funk  von  Bern,  wahrscheinlich  der  Vater  des 
Monogrammisten  H F (signierte  Zeichnung  aus  München);  Hans  Leu; 
und  über  Tobias  Stimmer  geht  die  Linie  weiter  bis  ins  18.  Jahrhundert 
zu  Sigmund  Freudenberger.  Ein  bei  gelegter  Text  gibt  eine  sehr  genaue 
fachmännische  Orientierung.  Fast  sensationell  wirkt  die  Notiz  von  Ganz 
zu  Holbeins  großer  Schlachtzeichnung  (»1532«):  »der  Komposition  liegt 
eine  regelrechte  geometrische  Konstruktion  zugrunde,  über  welche  ich 
andern  Ortes  eingehend  belachten  werde«.  Es  scheinen  nicht  nur  Spuren 
der  Konstruktion  vorhanden  zu  sein,  sondern  es  hat  sich  noch  in  Kopie 
der  Rest  der  Zeichnung  gefunden,  der  das  Gesetz  erst  ganz  bestätigt. 
Daß  die  Bildtafeln  von  allem  Text  außer  den  Künstlernamen  befreit 
wurden,  läßt  sich  verstehen,  und  doch  möchte  man  etwas  immer  gleich 
mit  der  Anschauung  zusammen  erfahren:  wie  die  Reproduktion  in  der 
Größe  sich  zum  Original  verhält.  Der  Text  gibt  dann  wohl  die  Zahlen, 
aber  auch  noch  nicht  das  Verhältnis.  Man  muß  also  erst  einen  Maßstab 
holen  und  das  werden  wenige  tun.  Und  doch  ist  es  bei  einer  Zeich- 
nung von  primärer  Wichtigkeit,  zu  wissen,  ob  der  Strich  in  dieser  Größe 
gezogen  worden  ist  oder  nicht.  Stark  verkleinerte  Zeichnungen  haben 
überhaupt  nur  noch  ein  geringes  Stilinteresse.  Es  ist  höchst  wertvoll, 
daß  Holbeins  Schlacht  auf  einer  Doppeltafel  in  Originalgröße  reproduziert 
worden  ist.  Einmal  sollte  man  jedem  Zeichner  diese  Gunst  zuteil  werden 
lassen.  Warum  ist  bei  der  weiblichen  Halbfigur  des  Urs  Graf  (Taf.  4) 
das  Format  nicht  ausgenutzt  worden?  H.  IV. 


Literaturbericht. 


9 1 


Die  königliche  Gemäldegalerie  zu  Cassel.  Einleitung:  Zur  Ge- 
schichte der  Galerie  von  Dr.  O.  Eisenmann.  München.  Franz  Hanf- 
staengl.  M.  150. 

Die  schöne  Publikation,  die  72  nach  neuen  Aufnahmen  hergestellte 
ausgezeichnete  Photogravuren  in  der  Bildgröße  von  20X25  cm  enthält, 
reiht  sich  würdig  den  großen  Galeriewerken  Hanfstaengls  an.  Die  Aus- 
wahl ist  sehr  verständig  und  dem  Charakter  der  Sammlung,  in  der  die  Hol- 
länder und  Vlamen  des  17.  Jahrhunderts  vorherrschen,  entsprechend.  Zu 
bedauern  wäre  höchstens,  daß  von  den  21  Rembrandts  nur  12  aufgenommen 
wurden.  Sie  bilden  doch  den  Glanz  und  Ruhm  der  Casseler  Galerie. 
Eisenmanns  Einleitung  schildert  lebendig  die  Entstehung  der  Galerie  und 
deren  weitere  Schicksale,  die  bewegter  waren  als  die  irgend  einer  andern 
großen  höfischen  Sammlung.  Aus  den  mitgeteilten  Briefen  des  Gründers, 
Landgraf  Wilhelm  VIII.,  an  seinen  künstlerischen  Berater  Oberst  von  Häckel 
gewinnt  man  einen  unterhaltenden  Einblick  in  die  Leiden  und  Freuden 
eines  fürstlichen  Sammlers  und  die  dilettantische  Art  des  Kunsthandels 
im  18.  Jahrhundert.  Endlich  interessiert  es  zu  hören,  daß  es  bei  einem 
Betriebs-  und  Anschaffungsfonds  von  jährlich  nur  3000  M.  (!)  der  Ge- 
schicklichkeit und  Ausdauer  des  trefflichen  Direktors  geglückt  ist,  der 
Sammlung  noch  mehrere  wertvolle  Erwerbungen  zuzuführen. 


Ausstellungen. 

Die  Porzellanausstellungen  im  Jahre  1904. 

Das  Jahr  1904  wird  unzweifelhaft  für  die  kunstgewerbliche  For- 
schung als  das  der  Porzellanausstellungen  bestehen  bleiben:  nicht  weniger 
als  drei  größere  Ausstellungen  dieser  Art  sind  in  deutsch  redenden 
Ländern  veranstaltet  worden.  Das  ist  mehr,  als  in  der  ganzen  Zeit  vor- 
her, zugleich  ein  neuer  Beweis  für  die  Tatsache,  daß  das  Porzellan  des 
18.  Jahrhunderts  augenblicklich  im  Mittelpunkt  des  kunstgewerblichen 
Studiums  steht,  nachdem  es  freilich  lange  genug  als  ein  Aschenbrödel 
der  Kunstwissenschaft  behandelt  worden  ist.  Es  ist  zugleich  aber  auch 
ein  neuer  Beweis  für  das  wachsende  Interesse  des  Publikums  für  diese 
Kunst,  da  der  Besuch  dieser  Ausstellungen  und  überhaupt  das  für  sie 
bekundete  Interesse  zum  Teil  alle  Erwartungen  übertroffen  hat.  So  ist 
denn  auch  der  Nutzen  dieser  Ausstellungen  ein  doppelter  gewesen.  Sie 
haben  einerseits  durch  das  Zusammenbringen  eines  reichen,  sonst  völlig 
zerstreuten  und  zum  Teil  schwer  zugänglichen  Materials  an  einem  Punkte, 
dem  Forscher  ein  unübertreffliches  Vergleichsmaterial  zur  Hand  gegeben, 
das  überall  mit  Eifer  studiert  worden  ist  und  unser  Wissen  über  dies 
umfangreiche  Gebiet  stark  vermehrt  hat.  Sie  haben  anderseits  die  Nei- 
gung des  Publikums  für  diese  Kunst  stark  vermehrt  und  ihr  neue  Kreise 
gewonnen,  die  hoffentlich  nun  ihre  Ansprüche  auch  der  keramischen  Kunst 
der  Gegenwart  gegenüber  steigern  werden,  was  nur  der  jetzigen  kera- 
mischen Produktion  zum  Vorteil  gereichen  kann. 

Diejenige  Porzellanausstellung,  die  unzweifelhaft  unter  allen  dreien 
das  größte  Interesse  erregt  hat,  war  die  im  Frühjahre  im  Lichthof  des 
Berliner  Kunstgewerbemuseums  veranstaltete.  Sie  hatte  sich  das  größte 
und  schönste  Programm  gesetzt:  die  ganze  europäische  Porzellankunst 

des  18.  Jahrhunderts  in  mustergültigen  Beispielen  vorzuführen.  Sie  hat 
damit  ein  Gesamtbild  dieser  eigenartigen  Kunst  gegeben,  wie  es  bisher 
noch  nirgends  gezeigt  worden  war  und  sich  auch  so  "bald  nicht  wieder 
darbieten  wird.  Sie  ist  eine  völlige  Rehabilitation  dieser  Kunst  gewesen, 
für  den  wenigstens,  der  einer  solchen  noch  bedurfte.  Freilich  bot  sie 
in  erster  Linie  eine  Vorführung  jener  reizvollen  Kleinplastik,  die  zu 


Ausstellungen. 


93 


dem  Originellsten  gehört,  was  die  deutsche  Kunst  des  18.  Jahrhunderts 
geschaffen  hat,  bisher  aber  in  die  allgemeine  Kunstgeschichte  noch  kaum 
aufgenommen  worden  ist.  Dafür  war  die  Gefäßbildnerei  bedeutend 
schwächer  vertreten;  hier  ist  eine  Lücke  geblieben,  die  später  einmal 
ausgefüllt  werden  könnte.  Von  ganz  besonderer  Bedeutung  jedoch  war, 
daß  diese  umfangreiche  Ausstellung  nur  aus  Privatbesitz  zusammengebracht 
war  und  zwar,  wenn  man  absieht  von  einem  freilich  recht  bedeutenden 
Münchener  Sammler,  lediglich  aus  Berliner.  Das  ist  ein  weiteres  erfreu- 
liches Zeichen  für  das  große  Interesse,  das  man  dieser  Kunst  jetzt  ent- 
gegengebracht hat,  um  so  erfreulicher,  da  nun  dem  Ausland,  das  dies 
Interesse  viel  früher  gezeigt  und  uns  schon  seit  langem  fleißig  dieser 
heimischen  Kunstwerke  beraubt,  nun  wenigstens  an  einer  Stelle  mit 
allem  Nachdruck  Konkurrenz  gemacht  wird.  Schade  nur,  daß  diese 
Freude  durch  die  auf  dieser  Ausstellung  stark  zutage  getretene  Beob- 
achtung sehr  gedämpft  wird,  daß  das  Porzellan  dank  der  durch  seine 
augenblickliche  Hausse  stark  sich  mehrenden  Fälscher  ein  so  gefährliches 
Gebiet  geworden  ist,  daß  bloße  Liebhaberei  oder  ein  mehr  oder  weniger 
dilettantisches  Studium  vor  argen  Enttäuschungen  nicht  bewahrt.  Sind 
doch  einige  Gebiete  des  Porzellans  heute  in  dieser  Beziehung  bereits  so 
schwierig,  daß  selbst  berufsmäßige  Kenner  sich  auf  diesen  kaum  noch 
auskennen.  Dringend  kann  daher  nur  empfohlen  werden,  daß,  wer  ernst- 
haft Porzellan  sammeln  will,  engere  Fühlung  mit  den  Museen  gewinnt 
und  zugleich  sich  selbst  den  eifrigsten  Studien  hingibt.  Zusammenge- 
bracht war  die  Ausstellung  in  erster  Linie  vom  Direktorialassistenten  des 
Museums  Dr.  Brüning.  Dieses  hat  auch  soeben  eine  größere  Publika- 
tion darüber  herausgegeben,  die  die  gewonnenen  Eindrücke  und  Resul- 
tate dauernd  festhalten  soll. 

Die  zweite  Ausstellung  fand,  gleichfalls  im  Frühjahr,  im  öster- 
reichischen Museum  für  Kunst  und  Industrie  statt.  Sie  hatte  sich  ein 
weit  engeres  Thema  gestellt:  sie  wollte  nur  die  Entwicklung  einer  ein- 
zigen größeren  Porzellanmanufaktur,  die  von  Wien  selber,  vorführen,  aber 
so  umfassend  und  lückenlos  wie  möglich,  was  um  so  erwünschter  war, 
da  bisher  in  keinem  österreichischen  Museum  diese  Manufaktur  auch  nur 
einigermaßen  befriedigend  vertreten  war.  Der  Privatbesitz  mußte  daher 
auch  hier  aushelfen  und  er  konnte  es,  in  erster  Linie  dank  den  präch- 
tigen Beständen,  die  hier  in  Österreich  sich  noch  im  Besitz  des  damals 
das  Beste  dieser  Erzeugnisse  für  sich  gewinnenden  reichen  Adels  bis 
auf  den  heutigen  Tag  erhalten  haben,  und  die  zum  Teil  für  die  Aus- 
stellung gewonnen  werden  konnten.  Eine  Hauptfolge  dieser  Austeilung 
war  die  Hebung  des  Rufes  dieser  Manufaktur,  der  bisher  nicht  allzu 
hoch  stand:  die  Frühzeit,  das  Barock,  als  die  Manufaktur  noch  Privat- 


94 


Ausstellungen. 


unternehmen  war,  erwies  sich  als  weit  selbständiger,  das  Rokoko  als 
weit  höher  stehend  an  Qualität,  als  man  bisher  vermutet  hatte,  und  die 
Sorgenthalsche  Periode  der  Zopf-  und  Empirezeit  gab  sich  als  ein  Ab- 
schluß, wie  ihn  glänzender  keine  Porzellanmanufaktur  des  18.  Jahrhunderts 
erlebt  hat.  Nur  die  Figurenplastik  konnte,  von  einigen  bewundernswerten 
Ausnahmen  abgesehen,  kaum  höher  als  bisher  bewertet  werden.  Es  fehlte 
hier  fast  immer  schon  der  Farbengeschmack.  Diese  Ausstellung  war  das 
Werk  des  Kustos  der  keramischen  Abteilung  dieses  Museums,  des  Regie- 
rüngsrates  Folnesisc  und  des  Direktors  des  Troppauer  Museums  Dr.  Braun. 
Auch  sie  gedenken  eine  Publikation  dieser  Ausstellung  herauszugeben. 

Die  dritte  Porzellanausstellung  veranstaltete  das  Grassi-Museum  zu 
Leipzig,  um  gleichfalls  ein  dunkles,  ja  wohl  das  bisher  noch  dunkelste 
Gebiet  in  der  Geschichte  des  deutschen  Porzellans  aufzuhellen,  das  des 
Thüringer  Porzellans,  das  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  mit  so  kleinen, 
aber  zahlreichen  Anfängen  beginnt,  um  sich  im  folgenden  Jahrhundert 
zu  einer  der  bedeutendsten  keramischen  Industrien  der  Welt  auszuwachsen. 
Man  wußte  bisher  herzlich  wenig  Zusammenhängendes  über  die  Erzeug- 
nisse dieser  Thüringer  Fabriken  im  18.  Jahrhundert.  Man  traute  ihnen 
nicht  viel  zu,  und  in  der  Tat  hat  das  mit  ungewöhnlicher  Mühe  zu- 
sammengebrachte  Material  nur  bestätigt,  daß  hier  ein  mittleres  Kunst- 
niveau nur  selten  überschritten  worden  ist.  Dafür  jedoch  hat  sich  das 
künstlerische  Leben  weit  reger  erwiesen,  als  man  erwartet  hat.  Man 
hielt  zum  größten  Teil  auf  Qualität,  bewies  Selbständigkeit  und  Charakter 
und  warf  sich  mit  Eifer  auch  auf  die  Figurenplastik.  Freilich  setzt  hier 
in  Thüringen  daneben  zum  ersten  Male  das  Bestreben  ein,  das  Porzellan 
zu  demokratisieren,  indem  man  es  wohlfeiler,  aber  auch  schlechter  macht. 
Damit  wird  die  Porzellankunst  des  18.  Jahrhunderts  zur  Porzellanindustrie, 
die  nichts  mehr  mit  jener  zu  tun  hat,  ein  Los,  dem  bekanntlich  im  19.  Jahr- 
hundert so  ziemlich  das  ganze  Porzellan  erlegen  ist.  Auch  für  diese 
Ausstellung  ist  durch  Direktor  Graul  und  Dr.  Kurzwelly  eine  umfang- 
reiche Publikation  in  Arbeit,  die  die  gewonnenen  Resultate,  die  eine 
wirkliche  Lücke  ausgefüllt  haben,  dauernd  festhalten  soll.  Allen  drei 
Museen  ist  man  aber  zu  großem  Dank  verpflichtet,  daß  sie  die  Auf- 
merksamkeit auf  ein  Kunstgebiet  hingelenkt,  dessen  historische  Bedeu- 
tung wie  auch  künstlerischer  Wert  solches  durchaus  einmal  verlangte. 
Stellt  sich  doch  immer  mehr  heraus,  daß  das  Porzellan  des  18.  Jahrhunderts 
zu  dem  originellsten  und  schönsten  gehört,  was  dieses  Jahrhundert  hervor- 
gebracht hat,  und  daß  namentlich  wir  Deutsche  hier  eine  Erfindungsgabe 
und  einen  Geschmack  an  den  Tag  gelegt  haben,  den  auf  diesem  Gebiet 
damals  kaum  ein  anderes  Land  wieder  erreicht  hat.  Das  sollte  uns  diese 
Kunst  doppelt  wert  machen!  Ernst  Zimmermann. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 

Zu  Luciano  Laurana.  Im  Zusammenhang  mit  dem  Hinweis,  den 
v.  Fabriczy  in  B.  XXVII,  S.  189  des  Repertoriums  gegeben  hat,  wird  viel- 
leicht eine  kurze  Notiz  aus  den  urbinatischen  Papieren  des  Florentiner 
Staatsarchivs  nicht  ohne  Interesse  sein.  Etwa  zu  Anfang  des  siebzehnten 
Jahrhundert  wurden  von  den  »Erben  des  Velluti«  dem  Herzog  von  Urbino 
einige  Bilder  angeboten,  darunter  das  folgende  Stück : »Una  Prospettiua  in 
tauola  lunga  palmi  13  Incirca  et  alta  palmi  3.  di  mano  (di)  F.  Carnevale 
pittore  celebre  d’Urbino,  et  anticho  in  prospettiua.«*)  Das  Vorkommen 
eines  so  seltenen  Künstlernamens  in  einem  relativ  frühen  Inventar  läßt  ver- 
muten, daß  er  auf  guter  Tradition  beruhe.  So  würde  denn  für  die  er- 
haltenen Architekturbilder  (Urbino  und  Berlin)  neben  Piero  und  Laurana 
auch  Fra  Carnevales  Name  zur  Diskussion  gestellt  werden  müssen. 

G.  Gr. 

Zu  Tizians  Bildnis  einer  österreichischen  Prinzessin.  Im  B.  XXVII, 
S.  187  dieser  Zeitschrift  ist  über,  einen  Artikel  von  Diego  Sant’  Ambrogio 
referiert,  in  welchem  dieser  Autor  die  Entdeckung  eines  unbekannten  Bild- 
nisses von  Tizian  bekannt  gibt.  Mir  liegt  von  dem  Bild  eine  kleine  und 
matte  Reproduktion  vor,  die  ich  der  Güte  meines  Freundes  Dr.  G.  Frizzoni 
verdanke;  immerhin  aber  ist  sie  nicht  zu  schlecht,  um  nicht  darzutun, 
daß  das  Bild  weder  von  Tizian  selbst  noch  von  einem  seiner  Schüler 
oder  auch  Nachahmer,  ja  überhaupt  nicht  im  sechzehnten  Jahrhundert 
und  wahrscheinlich  nicht  in  Italien  gemalt  worden  ist.  Vielmehr  trägt 
das  Werk  vlämischen  Stilcharakter  und  möchte  zu  Beginn  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  entstanden  sein  (eventuell  wäre  ein  unter  vlämischem  Ein- 
fluß stehender  Italiener  als  Autor  möglich).  Aber  um  nicht  nur  zu  be- 
haupten: man  prüfe  die  Inschrift  des  Werks  »Ego  Titianus  Vecelli 

imaginem  hanc  de  supremo  Imperatoris  mandato  diebus  IX  perficere  debui. 
MDLIII«.  Ein  wahres  Monstrum  von  Inschrift,  für  das  man  bei  Tizian 
gewiß  kein  Seitenstück  wird  beibringen  können.  Nun  hat  ja  Tizian  in 
der  Tat  junge  Prinzessinnen  gemalt;  es  waren  die  Töchter  König  Ferdinands, 
die  in  Innsbruck  lebten;  nur  war  nicht  der  Kaiser  der  Auftraggeber, 
sondern  eben  sein  Bruder,  der  König  (s.  Jahrbuch  der  Sammlungen  d.  Kaiser- 


*)  Carte  d’  Urbino.  CI.  II  Div.  A.  Fa.  III. 


96 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


hauses  XI,  2,  Regest  6408).  Nicht  1553  hat  Tizian  sie  gemalt,  sondern 
1548,  als  er  von  Augsburg  heimkehrte,  nicht  neun  Tage  hat  er  gebraucht, 
sondern  vom  4.  bis  21.  Oktober  ist  er  zu  diesem  Zwecke  in  Innsbruck 
geblieben  und  hat  auch  dann  noch  die  Porträts  unvollendet  nach  Venedig 
mitgenommen,  um  daheim  das  Letzte  daran  zu  tun.  Nun  hat  wirklich 
Tizian  für  den  Mantuaner  Hof  das  Bildnis  eines  der  Prinzessinnen  — 
Katharina,  Braut  Francesco  Gonzagas  — wiederholt;  das  war  aber  bereits 
1549  (s.  Luzio  im  Archivio  storico  dell’  arte  III,  1890,  p.  209  fr.).  Diese 
Inschrift  erweist  sich  demnach  in  allen  Teilen  als  Fälschung,  wobei  der 
Verfertiger  von  dem  tatsächlich  Geschehenen  noch  unbestimmte  Kunde 
mag  gehabt  haben.  Ich  denke  nicht,  daß  man  mir  seriös  entgegensetzen 
wird,  daß  Tizian  noch  1553  Wiederholungen  der  Porträts  für  die  Königin 
Maria  von  Ungarn  zu  malen  gehabt  hat  (Jahrbuch  der  Sammlungen  des 
Kaiserhauses  XI,  2,  Regest  6459);  auch  damit  wird  die  Inschrift  mit  all’ 
ihren  Fehlern  nicht  besser.  Es  verhält  sich  aber  mit  diesem  Tizianfund 
des  Herrn  Sant’  Ambrogio  fast  noch  schlimmer  wie  mit  der  Madonna 
von  Afifori,  die  von  ihm  »urbi  et  orbi«  als  Original  Leonardos  verkündet 
worden  ist;  dieses  Bild  hat  doch  insofern  mit  Leonardo  etwas  zu  tun, 
als  es  Kopie  des  Londoner  Exemplars  der  »Vierge  aux  rochers«  ist, 
während  es  niemandem  gelingen  wird,  in  jenem  andern  den  entferntesten 
Stilzusammenhang  mit  Tizian  aufzufinden.  Ich  wäre  demnach  auch  gar 
nicht  auf  diese  Torheit  eingegangen,  wenn  nicht  eben  an  dieser  Stelle 
davon  die  Rede  gewesen  wäre  und  vermutlich  wenige  durch  Augenschein 
von  dem  wahren  Sachverhalt  sich  haben  eine  wahre  Vorstellung  bilden 
können.  G.  Gr. 


Giovanni  di  Bartolo,  il  Rosso  und  das  Portal  von  S.  Niccolö  zu 
Tolentino  in  den  Marken.  Dies  Werk  wird  dem  genannten  florentiner 
Bildhauer  auf  Grund  der  Inschrift  zugetheilt,  die  sich  an  den  Sockeln 
der  beiden  äußeren  Pilaster  desselben  befindet  und  wie  folgt  lautet: 

Am  linken  Sockel: 

Qui  Florentinos  Papamque  Ducemque  triumphis 
Reddidit  illustres  fieri  spectabile  jussit 
Hoc  opus  ille  ducum  ductor  Nicolaus  amenum 
Quem  Tholentinum  genuit  sub  menibus  altis. 

MCCCCXXXII. 

Am  rechten  Sockel: 

Sed  postquam  petiit  celum  mens  alma  potentis 
Hos  Baptista  memor  frater  quod  jusserat  olim 
Transferri  lapides  Veneto  de  climate  fecit. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


97 


Composuit  Rubeus  decus  hoc  lapicida  Johannes 
Quem  genuit  celsis  Florentia  nota  tropheis. 

MCCCCXXXV. 

Allein  die  Inschrift  besagt  nur,  daß  der  bekannte  Condottiere 
Niccolo  da  Tolentino  aus  der  Familie  Mauruzi  (den  die  Florentiner  in 
dem  Fresko  Andrea  Castagnos  in  S.  Maria  del  fiore  verewigten)  den 
Auftrag  zur  Herstellung  des  Portals  gab  (fieri  jussit),  daß  nach  seinem 
Tode  dessen  Bruder  die  Bestandteile  des  Portals  von  Venedig  herunter- 
bringen ließ  und  daß  Giovanni  Rosso  das  Monument  zusammenfügte. 
Dies  ist  nämlich  die  Bedeutung  von  »composuit«,  im  Gegensatz  zu 
»fecit«,  womit  in  den  Künstlerinschriften  der  Renaissance  der  Schöpfer 
eines  Werkes  stets  bezeichnet  wird.  In  der  Tat  gewinnen  wir  aus  der 
genaueren  Prüfung  des  in  Rede  stehenden  Denkmals  die  Überzeugung, 
daß  nur  ein  kleiner  Teil  davon  dem  Rosso  angehört,  während  es  in  der 
Hauptsache  ein  reiches  Prachtstück  der  venezianischen  dekorativen  Bildnerei 
vom  Beginn  des  Quattrocento  ist.  Am  nächsten  kommt  es,  in  der  Haupt- 
idee, den  auch  von  Venedig  beeinflußten  Portalen  von  S.  Domenico  (1390) 
und  S.  Agostino  (1412)  zu  Pesaro,  nur  daß  diese  im  Spitzbogen  ihrer 
Öffnung  und  den  Tabernakeln  der  seitlichen  Pilaster  durchaus  die  Gotik 
zur  Schau  tragen,  während  sie  im  Portal  von  Tolentino,  entsprechend 
seiner  späteren  Entstehung,  schon  mit  einzelnen  Elementen  der  Früh- 
renaissance gemischt  erscheint.  Diesem  sich  mit  Spiralsäulchen  und 
glatten  Halbpfeilern  nach  innen  vertiefenden,  rundbogig  geschlossenen 
eigentlichen  Portal  gab  nun  Rosso  seinen  seitlichen  Abschluß  durch  An- 
fügung von  zwei  breiten  Pilastern,  die  er  über  glattem  Sockel  (s.  oben) 
durch  je  drei  Flachnischen,  mit  Heiligengestalten  in  Halbrelief  darin, 
gliederte  und  oben  mit  einem  über  dem  Halbrund  der  Portalöffnung 
durchlaufenden  halb  gotischen,  halb  antikisierenden  Gesims  abschloß. 
Das  Gesims  krönte  er  über  den  beiden  Seitenpfeilern  mit  je  einer  jugend- 
lichen Heiligengestalt  und  — über  der  Portalöffnung  mit  einem  als 
gotische  Blattwerkkehle  gestalteten  Lünettenbogen,  in  dessen  vertieftem 
Felde  er  die  Statuen  der  Madonna  und  zweier  Heiligen  anbrachte. 
Namentlich  sie,  aber  auch  die  beiden  jugendlichen  Heiligen  über  den 
Seitenpilastern  verraten  in  den  schweren  Gewändern  den  Donatelloschüler 
und  gehen  mit  seinen  florentiner  Campanilestatuen  gut  zusammen.  Viel 
schwächer  sind  die  Halbrelieffiguren  an  den  Seitenpilastern;  zeigten  nicht 
einzelne  davon  die  gewissen  Gewandmotive,  — ihre  physiognomischen 
Typen  ließen  stark  an  ihrem  florentinischen  Ursprung  zweifeln.  — Über 
dem  Lünettenbogen  wurde  — kaum  mehr  von  Rosso  — eine  jetzt  nur 
noch  fragmentarisch  bestehende  Platte  mit  einem  in  Hochrelief  ge- 
arbeiteten S.  Georg,  der  über  den  Drachen  sprengt,  in  die  Wand  ein- 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


7 


98 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


gelassen  und  seitlich  durch  mit  Nischen  gegliederte  obeliskenartige  Pfeiler, 
nach  oben  aber  durch  einen  venezianischen  sogenannten  Eselsrückenbogen 
eingerahmt  bezw.  abgeschlossen.  Der  letztere  trug  auf  seiner  Spitze  die 
Statue  Gottvaters  (?),  die  jetzt  an  der  im  17.  Jahrhundert  neuerrichteten 
Fassade  über  dem  Gesims  steht,  das  ihre  beiden  Geschosse  bezw.  Haupt- 
teile scheidet.  — Das  ganze  Portal  macht  trotz  seinem  Synkretismus  in 
Aufbau  und  Verhältnissen  einen  nicht  unbedeutenden  Eindruck. 

C.  v.  F. 


Ein  neues  Werk  Fra  Ambrogios  und  Fra  Mattias  della  Robbia 

für  die  Marken  kommt  zu  den  von  ihnen  dort  seither  nachgewiesenen 
Arbeiten  (s.  Repertorium  XIII,  190;  XIV,  504,  XVIII,  407  und  XIX, 
393)  neuerdings  hinzu.  Es  handelt  sich  um  die  Errichtung  einer  Kapelle 
samt  Altar,  die  Fra  Mattia  im  Verein  mit  seinem  Bruder  Fra  Ambrogio  für  die 
angesehene  Familie  Ricci  in  der  Franziskanerkirche  zu  Macerata  auszu- 
führen unternahm.  Laut  dem  von  Carlo  Astolfi  (in  dem  Macerateser 
Wochenblatte  L’Unione  vom  27.  Mai  1903)  nach  dem  Original  im  Ar- 
chivio  Prioriale  des  genannten  Ortes  veröffentlichten  Vertrag  vom  7.  No- 
vember 1527  sollte  die  Kapelle  sein  »tota  sculta  de  lapidibus  coptis 
(coctis)  et  demum  colorata  et  aurata,  et  quod  sit  de  toto  relevo  et  cum 
coloribus  bonis  colorata  et  invitriata  et  ad  oleo,  et  figure  sint  magne  et 
perfecte  stature  in  locis  suis,  secundum  quod  designatum  est  in  carta 
quam  ideo  monstrat  dat  et  assignat«.  Die  Figuren  sollen  nach  der  folgenden 
Vorschrift  ausgeführt  werden:  »In  quatro  [quadro,  dem  Hauptfeld]  erunt 
infrascripte  figure:  In  primis  Beata  virgo  cum  puero  et  appareat  in  aerem 
cum  4 tor  angelis  eam  coronantibus.  Inferirus  sancta  Maria  Magdalena, 
sancta  Julia,  sanctus  Sebastianus,  sanctus  Joannes  Baptista,  sanctus  Fran- 
ciscus  et  sanctus  Amicus,  et  haec  predicta  Capelia  erit  ornata  cum  Om- 
nibus infrascriptis  ornamentis:  Cioe  uno  scabello  [predella]  storiato  con 
storie  corrispondenti  alli  soprascripti  Santi  con  le  sue  colonne  quadre 
storiate  de  tucta  la  vita  de  santa  maria  magdalena  come  appare  nel  de- 
segno.  Item  de  li  pedi  e li  stalli  siano  ornati  con  le  arme  del  patrone 
con  doi  spiritelli  [Engelputten]  e de  relevo  come  l’altro  lavoro.  Et  le 
colonne  quadre  con  le  sue  base  et  capitelli  et  de  sopra  col  suo  archi- 
travo  frisio  et  cornicione  intagliato  come  appare  nel  desegno:  de  sopra 
al  cornicione  uno  mezo  tondo  storiato  con  le  infrascripte  figure,  cioe 
santa  maria  magdalena  assumpta  da  diversi  angeli  in  cielo,  et  intorno  al 
detto  arco  un  coro  de  cherubini  con  li  archi  proporzionati : et  tucti 
questi  ornamenti  invetriati  ad  foco  secondo  la  qsuetudine  [sic]  de  decta 
arte,  et  dicte  figure  siano  colorite  ad  oleo.  Et  prenotata  cappella  pro- 
mette  farla  frate  Ambrosio  et  frate  Mactia  per  cento  sedici  ducati  doro 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


99 


larghi,  de  cui  fiorini  cinquanta  de  moneta  corrente  per  arra  et  parte  de 
pagamento  si  sborsano  loro  subito,  e l’altra  meza  parte  delli  denari  et 
pretio  predicto  se  pagera  quando  conducto  serrä  dicto  lavoro  in  S.  Fran- 
cesco de  Macerata,  et  l’ultimo  pagamento,  compito  decto  lavoro  et  finito 
de  tucto  punto.  Et  perche  in  simile  opera  & qsueto  [sic]  mettere  oro,  che 
dicto  oro  paghe  la  metade  dicto  Sebastiano  [Ricci,  der  Besteller]  et  l’altra 
metade  dicto  magistro  Ambrosio.  Per  la  securtä,  per  li  denari  cinquanta 
che  si  pagano  adesso,  decto  frate  Ambrosio  promette  et  dalli  securtä 
una  sua  casa  posta  in  Montesanto«.  Als  Zeitraum  für  die  Herstellung 
werden  1 Jahre  vom  Abschluß  des  Vertrages  gerechnet,  festgesetzt. 

Es  ist  das  erstemal,  daß  hier  die  beiden  wenigst  bekannten  Söhne 
Andreas  della  Robbia,  beide  Dominikaner  und  begeisterte  Anhänger  Sa- 
vonarolas,  urkundlich  an  einer  gemeinsamen  Arbeit  nachgewiesen  werden; 
Fra  Ambrogio  scheint  aber  dabei  in  erster  Reihe  gestanden  zu  haben. 
In  einem  Zahlungsvermerk  vom  16.  November  1527  heißt  es:  frater  Am- 
brosius de  Florentia  pictor  abuit  et  recepit  a Sebastiano  Amici  de  Ma- 
cerata florenos  quadraginta  duos  pro  parte  mercedis  capelle  per  fratrem 
Ambrosium  laborandam  et  construendam. 

Laut  einem  zweiten  Vermerk  vom  19.  September  1528  bezahlt  der 
Neffe  Pierantonio  des  inzwischen  verstorbenen  Bestellers  »volens  adim- 
plere  voluntatem  Sebastiani  sui  patrui«  neuerdings  42  Gulden  an  »Frater 
quondam  fratris  Ambrosij«  und  am  14.  Oktober  des  gleichen  Jahres  er- 
hält »frater  Mathias  florentinus  constructor  pro  parte  pretii  dicte  capelle« 
von  Pierantonio  10  weitere  Goldgulden.  Zu  der  gleichen  Zeit  arbeitete 
Fra  Mattia  am  Altar  für  Montecassiano  (er  erhält  urkundlich  am  24.  Mai 
und  4.  Juli  1528  Abschlagszahlungen  für  dieses  Werk,  und  ist  noch  im 
Februar  1529  daran  beschäftigt);  es  ist  somit  mehr  als  wahrschein- 
lich, daß  er  auch  die  Kapelle  für  Macerata  in  Montecassiano  verfertigt 
habe,  wo  ihm  »in  aedibus  Comunitatis  prope  macellum«  Werkstätte  und 
Brennofen  eingerichtet  worden  war.  Und  hier  ist  sein  Bruder  Ambrogio 
auch  laut  obigen  Zeugnissen  zwischen  dem  16.  November  1527  und 
19.  September  1528  verstorben. 

Leider  ist  dies  bedeutende  Werk  (das  nach  dem  Vertrag  16  rö- 
mische Fuß  breit  und  verhältnismäßig  hoch  sein  sollte)  1754  bei  einer 
völligen  Umrestaurierung  der  (übrigens  seit  1810  niedergelegten)  Kirche 
S.  Francesco  zugrunde  gegangen.  — Der  Verfasser  vermutet,  es  könnten 
drei  Predellenszenen,  von  denen  die  eine  (mit  der  Szene  der  Fußsal- 
bung durch  Maria  Magdalena)  sich  in  seinem  Besitze  befindet,  die  beiden 
andern  im  Museum  zu  Ripatransone  bewahrt  werden,  dem  in  Rede 
stehenden  Altar  angehört  haben.  C.  v.  Fabriczy. 


7 


Bei  der  Redaktion  eingegangene  Werke. 


Beissel,  Stephan,  S.  J.  Fra  Angelico  da  Fiesoie.  Sein  Leben  und 
seine  Werke.  Zweite  vermehrte  und  umgearbeitete  Auflage.  Mit 
5 Tafeln  und  89  Textbildern.  Freiburg  i.  B.  Herdersche  Verlags- 
handlung. M.  8.50. 

Burckhard,  Rudolf.  Cima  da  Conegliano.  Ein  venezianischer  Maler 
des  Übergangs  vom  Quattrocento  zum  Cinquecento.  Mit  31  Abbil- 
dungen. Leipzig.  Karl  W.  Hiersemann. 

Geisberg,  Dr.  Max.  Verzeichnis  der  Kupferstiche  Israhels  van 
Meckenem  f 1503.  Mit  3 Tafeln.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz. 
M.  22. 

Justi,  Ludwig.  Dürers  Dresdener  Altar.  Mit  7 Abbildungen.  Leipzig. 
E.  A.  Seemann. 

Prokop,  August.  Die  Markgrafschaft  Mähren  in  kunstgeschicht- 
licher Beziehung.  Grundzüge  einer  Kunstgeschichte  dieses 
Landes  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Baukunst.  4 Bände 
mit  einer  Karte,  über  1600  Textillustrationen,  genealogischen 
Tabellen,  chronologischen  Baudaten  etc.  Wien.  R.  Spies  & Co. 

Schapire,  Dr.  Rosa.  Johann  Ludwig  Ernst  Morgenstern.  Ein  Bei- 
trag zu  Frankfurts  Kunstgeschichte  im  18,  Jahrhundert.  Mit 
2 Tafeln.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  2.50. 


Zu  den  Nachrichten  über  die  Ecclesia  Portuensis 
in  Clermont-Ferrand  (Urbs  Arverna). 

Von  Felix  Witting. 

Die  Prüfung  der  Nachrichten,  welche  uns  über  die  ältere  Anlage 
der  Notre-Dame-du-Port  in  Clermont-Ferrand  erhalten  sind,  läßt  an  mehr 
als  einer  Stelle  Unklarheiten  empfinden,  deren  Beseitigung  für  unsere  Ein- 
sicht in  die  Geschichte  der  auvergnatischen  Kirchenbaukunst  nicht  ohne 
Belang  ist.  Der  anonyme  Autor  der  Nachrichtensammlung  De  sanctis, 
ecclesiis  et  monasteriis  Claramontanis1)  berichtet  mehrere  Male  über  eine 
durch  den  Bischof  Avitus  im  sechsten  Jahrhundert  gegründete  Marien- 
kirche. Sanctissimus  iterum  Avitus  ...  in  urbe  Averna,  .qua  .... 
domino  annente  Cathedram  Pontificalem  susceperat,  in  locum,  qui  ab 
antiquis  Portus  vocabatur,  in  bonore  S.  Dei  Genetricis  et  Virginis  Mariae 
Ecclesiam  eleganter  construxit,  quam  et  multis  Sanctorum  reliquiis  dili- 
genter  adornavit,  lautet  der  ausführlichste  Bericht.2)  Weiterhin  spricht 
er  von  einer  Ecclesia  S.  Mariae  principalis,  quam  Avitus  Pontifex-Clara- 
montensis  condidit,  wobei  er  sich  auf  eine  betus  Historia  S.  Aviti  (mscc. 
ex  vet.  lib.  Portuensis  Ecclesiae)  beruft, 3)  und  zitiert  aus  einem  andern 
Manuskript  die  Verse:  Hoc  templum  sanctus  primo  fundavit  Avitus  j 
Inclytus  antistes  nobilis  et  genere.  Diese  von  Avitus  erbaute  ecclesia 
in  locum  constructa,  qui  ab  antiquis  Portus  vocabatur,  ist  offenbar  die- 
selbe, welche  nach  dem  Kompilator  der  Bischof  Sigo  (8 Ö3[?]  868)  re- 
staurierte: S.  Sigo qui  Portuensem  Ecclesiam  a Normannis  primum 

eversam  reparavit,  und  welche  a.  959  der  Bischof  Stephanus  in  einem 
Scriptum  beneficiale  als  ecclesia  S.  Mariae,  quae  dicitur  principalis  be- 
zeichnet.* *) Eine  Kirche  ähnlichen  Titels  in  Clermont-Ferrand  begegnet 
weiterhin  bei  Helgaldus  Floriacensis  (ii.  Jahrh.),  dessen  Vita  Roberti 
Regis 5)  den  Passus  enthält:  Caput  autem  ipsius  Monasterii  (d.  h.  von 

*)  De  sanctis,  ecclesiis  et  monesteriis  Claramontanis  libelli  duo,  auct.  anonym!, 
qui  vixit  circa  annuni  DCCCL,  bei  Labbe  bibl.  nova  mscr.  ed.  Paris.  MDCLVII,  vol.  II, 
p.  707  sqq.,  wo  eine  ältere  durch  Notizen  erweiterte  Ausgabe  durch  Jo.  Savero  (1608) 
erwähnt  wird,  die  dem  Text  bei  Labbe  zugrunde  liegt. 

*)  1.  C.  p.  71 1.  — 3)  1.  c.  — 4)  1.  c. 

5)  Epitoma  vitae  Roberti  regis,  ex  alte'rius  monachi  scriptis  (Pithou,  SS.  XI, 
59 — 79,  Migne  CXLI,  903 — 936,  Labbe,  1.  c.  p.  710). 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  8 


102 


Felix  Witting: 


Saint-Aiguan  in  Orleans)  fecit  (sc.  Robertus  rex)  miro  opere  in  similitu- 
dinem  Monasterii  S.  Mariae  Matris  Domini  et  SS.  Agricolae  et  Vitalis  in 
Claramonte  constituti.  Hier  finden  wir  indes,  im  Titel  neben  der  Gottes- 
mutter die  hl.  Agricola  und  Vitalis  genannt,  von  denen  der  Kompilator 
hinsichtlich  des  Avitusbaues  nichts  weiß.  Er  berichtet  nur  kurz,  daß  die 
Reliquien  der  genannten  beiden  Heiligen  von  Bischof  Namatius  (446 — 462) 
aus  Bologna  nach  der  Stadt  der  Arverner  kommen  gelassen  seien,  ohne 
anzugeben,  für  welche  Kirche.  Das  führt  uns  weiter  auf  Überlieferungen 
älterer  Zeit,  welche  uns  bei  Gregor  von  Tours  erhalten  sind.  Dieser 
berichtet  Hist,  eccles.  Francorum  lib.  II,  cap.  16:6)  Sanctus  vero  Namatius 
post  obitum  Rustici  episcopi  apud  Arvernus  in  diebus  illis  VIII  erat 
episcopus.  Hic  ecclesiam,  qui  nunc  constat  et  senior  intra  murus  civitatis 

habetur,  suo  studio  fabricavit Exactum  ergo  in  XII  ° anno  beatus 

pontifex  edificium,  Bononiae  civitatum  Italiae  sacerdotes  dirigit,  ut  ei 
reliquias  SS.  Agricolae  et  Vitalis  exhibeant,  — und  In  gloria  Martyrum 
c.  43:7)  Horum  (SS.  Agricolae  et  Vitalis)  reliquias  Namacius  Arvernorum 
episcopus  devota  expetiit,  ut  scilicet  eas  in  ecclesia,  quam  ipse  construxerat, 

colloceret Congregatis  vero  civibus  cum  magus  gaudio  atque 

devotione  sanctam  ecclesiam  bis  inlustratam  pignoribus  dedicavit.  Hier 
erfahren  wir  also  von  einer  Ecclesia  des  Bischofs  Namatius,  in  welche 
dieser  die  Reliquien  der  hl.  Agricola  und  Vitalis  aufnahm. 

Überschauen  wir  diese  Berichte,  so  ergibt  sich  zunächst,  daß  die 
bei  dem  Kompilator  vorkommenden  Titel:  Ecclesia  S.  Dei  Genetricis  et 
Virginis  Mariae,  Ecclesia  S.  Mariae  principalis  (quae  dicitur  principalis), 
Ecclesia  Portuensis  sich  auf  eine  und  dieselbe  Anlage  beziehen.  Die 
Notiz  des  Helgaud  de  Fleury  muß  für  sich  allein  genommen  werden,  da 
sie  auf  einen  Neubau  des  11.  Jahrhunderts  geht.  Hier  ist  nur  eine  teil- 
weise Gemeinsamkeit  des  Titels  mit  dem  des  Avitusbaues  vorhanden.  Ist 
nun  aber  die  von  Bischof  Namatius  erbaute  Ecclesia  der  hl.  Agricola 
und  Vitalis,  welche  der  genannte  Helgaud  de  Fleury  in  den  Titel  mit 
einbezieht,  identisch  mit  der  Marienkirche  des  Avitus?  Was  der  Chronist 
des  11.  Jahrhunderts,  Helgaud,  berichtet,  ist  noch  nicht  maßgebend  für 
frühere  Zeiten.  Es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß  die  Verschmelzung  der 
beiden  Titel  erst  für  den  Neubau  des  1 1.  Jahrhunderts  vollzogen  wurde. 
Zunächst  weist  nichts  darauf  hin,  daß  der  Namatiusbau  und  der  Avitus- 
bau  identisch  waren.  Und  selbst  wenn  der  Kompilator  berichtet,  daß 
Avitus  seine  Anlage  mit  den  Reliquien  von  Heiligen  schmückte,  so 
kann  das  mit  der  Nachricht  von  der  Sendung  von  Reliquien  auf  Antrieb 
des  Namatius  nicht  zusammengebracht  werden:  der  Kompilator  spricht 


6)  Mon.  Germaniae,  SS.  Mer.  I,  p.  82.  — 7)  1.  c.  p.  517. 


Zu  den  Nachrichten  Uber  die  Ecclesia  Portuensis. 


103 

von  multae  sanctorum  reliquiae,  Gregor  von  Tours  nur  von  zwei  Heiligen. 
Die  Marienkirche  des  Avitus  war  eine  neue  Anlage  zu  den  bereits  vor- 
handenen Kirchen  in  der  Arvernerstadt.  Auffallen  muß  hier  nun  aller- 
dings, daß  Gregor  von  Tours  nirgends  von  dieser  Gründung  Notiz  nimmt. 
Da  Avitus  der  Lehrer  Gregors  von  Tours  gewesen  war  und  Gregor  sich 
sonst  auf  Grund  seiner  Familienbeziehungen  schon  über  die  Vorgänge  in 
der  Stadt  der  Arverner  recht  gut  unterrichtet  zeigt,  so  dürfte  man  er- 
warten, daß  er  ein  gewiß  bedeutsames  Ereignis  wie  die  Gründung  einer 
Kirche  durch  den  571  zum  Bischof  der  Arverner  erhobenen  Avitus  nicht 
übergangen  haben  würde.  Statt  dessen  berichtet  er8 *)  nur,  daß  Avitus 
bei  dem  Einsturz  der  Antolianuskirche  in  Arvern  sich  um  Anordnung 
von  Vorsichtsmaßregeln  verdient  gemacht  habe,  und  erwähnt  dagegen 
eine  Kirchengründung  desselben  in  Thiers.  9)  Das  auffallende  Schweigen 
Gregors  könnte  vielleicht  dadurch  motiviert  werden,  daß  man  auf  die 
Überarbeitung  der  Historia  Francorum  nach  erstem  vorläufigen  Schlüsse 
seitens  Gregor  hinwiese,  wobei  die  Erwähnung  des  Avitusbaues  in  Arvern 
keine  Aufnahme  mehr  fand.  Aus  welchem  tiefem  Grunde  sonst  etwa, 
könnte  nur  eine  eingehendste  Untersuchung  der  Gesamtverhältnisse  klar- 
legen. Auf  der  andern  Seite  ist  an  der  Glaubwürdigkeit  des  Kompilators 
nicht  ohne  weiteres  zu  zweifeln.10)  Nach  unserer  jetzigen  Kenntnis  wäre 
das  Bestehen  eines  Namatiusbaues  und  eines  Avitusbaues  das  durchaus 
Glaubhafte.  Eine  Verschmelzung  der  beiden  Anlagen  fand,  so  läßt  die 
Notiz  des  Helgaldus  erkennen,  wohl  im  11.  Jahrhundert  erst  statt,  und 
auf  dem  Platze  welcher  der  beiden  ältern  Kirchen  aus  dem  5.  bezw. 
6.  Jahrhundert  der  Neubau  errichtet  wurde,  dürften  die  Nachrichten  klar 
erkennen  lassen.  Daß  dabei  wie  im  Titel  so  auch  in  der  baukünstlerischen 
Konzeption  eine  Beziehung  zum  Namatiusbau  gewahrt  wurde,  ist  nach 
Ausweis  der  Überlieferung  wie  des  noch  heute  bestehenden  Baues  aus 
dem  11.  Jahrhundert  wohl  durchaus  einleuchtend. 


8)  In  Gloria  Martyrum  c.  64  (M.  G.  SS.  Merov.  I.  p.  532). 

9)  1.  c.  cap.  66  (bezw.  p.  533). 

10)  Auffallende  Bestandteile  in  dem  bei  Labbe  zum  Abdruck  gebrachten  Texte 
wie  z.  B.  die  Anführung  der  oben  herbeigezogenen  Notiz  des  Helgaldus  Floriacensis 
aus  dem  n.  Jahrhundert  sind  wohl  Einschiebsel  des  ersten  Herausgebers  der  Sammlung. 
Einzelne  Nachrichten,  wie  z.  B.  die  über  eine  dem  hl.  Michael  geweihte  vetus  ecclesia 
(bei  Labbe  1.  c.  p.  7ioi),  deuten  darauf  hin,  daß  der  Kompilator  in  der  Tat  Über- 
lieferungen alter  Zeit  benutzte.  Er  selbst  macht,  wie  oben  erwähnt,  eine  historia  mscr. 
S.  Aviti  und  einen  andern  über,  mscr.,  wie  es  scheint,  metrischer  Form,  namhaft.  Viel- 
leicht lagen  ihm  auch  auvergnatische  Annalen  vor,  wie  sie  Arndt  als  teilweise  Grund- 
lage für  Gregors  von  Tours  Schriften  vermutet. 


8* 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler 
im  königl.  Kupferstichkabinett  in  Berlin. 

Von  A.  v.  Beckerath. 

In  dem  vor  kurzem  herausgekommenen  Werke  »The  drawings  of 
the  Florentine  painters«  hat  der  Verfasser,  Herr  Bernhard  Berenson,  auch 
Zeichnungen  im  Königl.  Kupferstichkabinett  in  Berlin  seiner  Beurteilung 
unterzogen. 

Da  ich  in  vielen  Fällen  mit  Herrn  Berenson  nicht  übereinstimmen 
kann,  will  ich  versuchen,  in  folgendem  meine  abweichende  Meinung  dar- 
zulegen und  zu  motivieren. 

Ich  führe  die  Zeichnungen  unter  den  Namen  der  Künstler  auf, 
denen  sie  im  Königl.  Kabinett  zugeschrieben  sind  und  lasse  im  Anschluß 
daran  die  veränderte  Attribution  des  Katalogs  Berenson  folgen. 

Sandro  Botticelli.  I.  Studie  zu  einem  Gottvater.  I91/*  X 26lj2> 
Silberstiftzeichnung.  Berenson:  Compagno  di  Pesellino.  Plate  39. 

B.  bringt  diese  Zeichnung  in  Verbindung  mit  dem  Gottvater  in 
dem  Bilde  der  Trinität  von  Pesellino  in  der  Nationalgallery  und  sagt 
»now  if  this  Trinity  were  by  Pesellino,  this  sketch  would  be  by  him 
also«.  Nach  seiner  Ansicht  ist  aber  die  Trinität  von  einem  Nachfolger 
Pesellinos,  den  Frau  Mary  Logan  im  Juli-  und  Oktoberheft  der  Gazette 
des  beaux  arts  1901  als  Compagno  di  Pesellino  konstruiert  hat  und  so 
wird  diesem  die  Zeichnung  gegeben.  Bisher  schon  war  die  Autorschaft 
keines  Bildes  des  Quattrocento  besser  durch  Dokumente  beglaubigt,  als  die 
dieser  Trinität;  nach  den  nun  neuerdings  in  der  Rivista  d’Arte  von 
Peleo  Bacci  publizierten  Dokumenten  ist  gar  kein  Zweifel  mehr  möglich, 
daß  Pesellino  der  Autor  des  Bildes  ist.  Logischerweise  muß  B.  nun 
die  Zeichnung  Pesellino  geben,  was  amüsant  ist  und  Frau  Logan  fühlt 
sich  vielleicht  veranlaßt,  ihre  radikalen  Ansichten  über  die  Trinität  zu 
modifizieren;  in  ihrem  Artikel  über  den  Compagno  hatte  sie  den  Mut,  das 
noble  Bild  bete  und  ennuyeux  zu  nennen!  Beim  Vergleich  der  beiden 
alten  gekrönten  Männer  in  der  Trinität  und  in  der  Zeichnung  ist  eine 
gewisse  äußerliche  Ähnlichkeit  vorhanden,  aber  ebenso  klar  ist  es,  daß 
die  Zeichnung  nur  einer  ca.  25  Jahre  späteren  Epoche  angehören  kann, 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw.  105 

als  das  Bild.  (Pesellino  starb  am  29.  Juli  1457).  In  der  Zeichnung  läßt 
die  Gewandung  alle  wesentlichen  Teile  des  Körpers  hervortreten,  den 
sie  in  freien  und  schwungvollen  Falten  umgibt.  In  dem  Bilde  bedeckt 
die  Gewandung  mit  ihren  eckigen  Falten  und  tiefen  Brüchen  die  Formen 
des  Körpers  und  läßt  sie  kaum  erraten.  B.  wird  eine  Zeichnung  in 
gleicher  Technik  und  Entwicklung  der  Gewandung,  wie  die  Berliner,  die 
um  1457  ca.  sicher  zu  datieren  ist,  nicht  nachweisen  können.  Die  schöne 
Zeichnung  einer  Mater  dolorosa,  British  Museum,  plate  35,  ist  nicht  von 
Fra  Filippo,  sondern  von  einem  späteren  Meister;  wie  Fra  Filippo  in 
seinen  letzten  Jahren  zeichnete  (um  1463  begann  er  die  Stefano -Ge- 
schichten in  Prato  zu  malen),  sehen  wir  an  der  Zeichnung  in  Hamburg, 
plate  34,  sie  ist  weit  altertümlicher  in  Technik  und  Gewandung,  wie  die 
Londoner  und  Berliner  Zeichnungen.  Letztere  bitte  ich  nun  mit  den 
alten  bärtigen  Männern  auf  den  Bildern  Botticellis:  Madonna  mit  den 
beiden  Johannes,  Berlin,  und  den  beiden  großen  Nr.  85  und  73  in  der 
Akademie  in  Florenz,  vergleichen  zu  wollen  und  man  wird  Übereinstim- 
mung in  Typen,  Extremitäten  und  Gewandung  finden.  Haare  und  Bart 
sind  mit  der  Botticelli  eigentümlichen  Meisterschaft  gegeben.  Die  Technik 
ist  die  des  Meisters,  in  Qualität  steht  die  Zeichnung  auf  der  Höhe  seiner 
Kunst.  Von  Compagno,  einem  geringen  Nachahmer  Pesellinos,  existieren 
überhaupt  keine  Zeichnungen,  um  so  verwegener  war  es,  demselben  eine 
solche  Meisterzeichnung  zuschreiben  zu  wollen. 

Sandro  Botticelli.  II.  Das  kanaanitische  Weib  und  die  Apostel. 
143/4  X iö1/^  Federzeichnung.  Berenson : Amico  die  Sandro.  Reprodu- 
ziert f’50,  Berliner  Renaissance-Ausstellung  1898. 

Ich  kann  in  dieser  Zeichnung  nur  Botticelli  sehen.  Die  überaus 
leidenschaftlich  bewegte  Frau,  die  lebhaft  gestikulierenden  Apostel,  deren 
Typen,  die  schwungvoll  hart  und  scharf  gebrochenen  Draperien,  kommen 
übereinstimmend  mit  den  Bildern  des  Meisters  um  1490  vor.  Die  Studie 
zu  einem  hl.  Thomas  in  der  Ambrosiana,  die  B.  unter  Nr.  569  als  echte 
Botticelli-Zeichnung  beschreibt,  stimmt  in  jeder  Beziehung  mit  der  Ber- 
liner Zeichnung. 

Die  Zeichnung  in  Florenz,  Auferweckung  eines  Jünglings,  die  B. 
auf  f.  7 1 in  Beziehung  zur  Berliner  Zeichnung  bespricht,  mag  von  seinem 
Amico  sein,  von  Botticelli  ist  sie  nicht.  Es  ist  ein  Irrtum,  wenn  B.  sie 
für  ein  Pendant  der  Berliner  Zeichnung  hält. 

Benozzo  Gozzoli.  Studie  zu  Engelköpfen.  i43/4  X 24.  Federzeich- 
nung in  Bister.  Berenson:  Schule  Benozzos. 

Herr  Berenson  gibt  keinen  Grund  an,  weshalb  er  diese  Zeichnung 
nicht  anerkennt  und  der  Schule  zuschreibt.  Ich  halte  die  Zeichnung  für 


io6 


A.  v.  Beckerath: 


eine  Originalzeichnung.  Die  Übereinstimmung  in  den  Typen  mit  den 
Engeln  in  der  Kapelle  des  Palazzos  Riccardi  ist  schlagend. 

Ich  benutze  die  Gelegenheit,  um  einige  Worte  über  die  Zeichnung 
in  Windsor  zu  sagen,  welche  Herr  Berenson  auf  plate  3 gibt  und  welche 
er  Fra  Angelico  läßt.  Der  unwiderstehliche  Drang,  von  dem  Herr 
Berenson  beseelt  ist,  alle  traditionellen  Werte  umzuwerten,  hat  vor  der 
Schönheit  dieser  Zeichnung,  mit  Unrecht,  Halt  gemacht.  Diese  Zeich- 
nung nach  dem  Typus  und  nach  der  vorgeschrittenen  Technik,  ist  von 
Benozzo  und  nicht  von  Angelico. 

Schlimmer  ist,  was  Herr  Berenson  über  die  Federzeichnungen  auf 
der  Rückseite  dieses  Blattes  (plate  4)  sagt.  Er  hält  sie  für  Originalskizzen 
Angelicos  für  die  Fresken  in  der  St.  Nikolauskapelle  im  Vatikan. 

Das  ist  nicht  möglich,  denn  die  drei  Figuren  kommen  in  zwei  ver- 
schiedenen Fresken  tale  quäle  wieder.  Nach  aller  Logik  können  sie  nur 
nach  den  Fresken,  nicht  für  dieselben  gemacht  worden  sein.  Auch 
diese  Federzeichnungen  sind  von  Benozzo,  die  Hand  ist  dieselbe  wie 
auf  den  auf  plate  7 und  8 wiedergegebenen  Zeichnungen  desselben. 

Noch  bedenklicher  erscheint  mir  der  lange  Exkurs  über  Form  und 
Linie  in  seiner  bekannten  geistreichen  Weise  (auf  plate  4 und  5),  zu 
dem  sich  Herr  Berenson  durch  diese  Zeichnungen  veranlaßt  findet. 

Da  die  Zeichnungen  nicht  von  Fra  Angelico . sind,  nicht  von  ihm 
sein  können,  so  fällt  das  Kartenhaus  zusammen. 

Die  Zeichnung  des  Propheten  David  auf  plate  2 ist  viel  zu  schwach 
für  einen  so  großen  Künstler,  wie  Fra  Fra  Angelico,  sie  ermangelt  durch- 
aus seines  unfehlbaren  Liniengefühls.  Der  Prophet  sitzt  gar  nicht  ordent- 
lich, die  Draperien  sind  zu  gering  für  Angelico.  Diese  Zeichnung  wird 
von  irgend  einem  Miniaturmaler  sein. 

Fra  Bartolommeo.  Heilige  Familie  mit  Johannes.  Kohlenzeichnung. 
39  X 2 7 1(z.  Berenson:  Fra  Paolino.  Lippmann,  Zeichnungen  alter 
Meister. 

Bei  der  ausgesprochenen  Antipathie  Herrn  Berensons  gegen  Fra 
Bartolommeo  wird  es  ihm  schwer,  das  Zeichnungswerk  des  Künstlers  ge- 
recht beurteilen  zu  können.  Er  ist  sogar  geneigt,  Fra  Paolino  auf  Kosten 
Fra  Bartolommeos  zu  überschätzen.  Schließlich  wird  er  aber  doch  zu- 
gestehen müssen,  daß  Fra  Bartolommeo  der  große  Meister  bleibt,  und 
daß  Fra  Paolino,  als  »a  painstaking  pupil,  a slavish  imitator«  richtig  von 
ihm  charakterisiert  worden  ist. 

Bei  Gemälden  wird  man  bezüglich  der  Autorschaft  dieser  beiden 
Künstler  heute  keine  Zweifel  mehr  haben;  dasselbe  muß  aber  auch  bei 
Zeichnungen  der  Fall  sein.  Die  Qualitätsunterschiede  des  Meisters  und 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


107 


des  Schülers  müssen  sich  auch  in  ihren  Zeichnungen  mit  Leichtigkeit 
herausfinden  lassen. 

Herr  Berenson  will  das  allerdings  nicht  zugeben,  er  gesteht,  daß 
es  ein  Problem  sei,  eine  sorglos  und  skizzenhaft  gemachte  Zeichnung  des 
Meisters  von  der  des  Schülers  zu  unterscheiden,  f.  143  sagt  er:  »that  is 
not  to  besettled  easily,  I have  done,  what  I could  to  decide,  but  I feel  no 
great  confidence  in  my  conclusions.«  Herr  Berenson  irrt  sich  nun  nicht 
allein  bei  sorglos  und  skizzenhaft  gemachten  Kohlenzeichnungen,  sondern 
gerade  bei  ausgeführten  Kohlenzeichnungen.  Bei  jeder  ausgeführten  Kohlen- 
zeichnung ist  ihm  die  Autorschaft  Fra  Bartolommeos  verdächtig  und  er 
ist  geneigt,  sie  Fra  Paolino  zu  geben,  so  bei  vielen  Zeichnungen  in  den 
Uffizien,  die  bisher  immer  und  mit  Recht  Fra  Bartolommeo  zugeschrieben 
waren  und  bei  der  prächtigen  großen  Kohlenzeichnung  des  Berliner  Ka- 
binetts. Zeichnungen,  die  Fra  Paolino  »on  his  own  account«  gemacht  hat, 
findet  Berenson  »in  every  way  of  very  good  quality.«  Zu  diesen  rechnet 
er  die  Studie  in  den  Uffizien,  für  die  Anbetung  der  Magier,  die  Paolino 
1526  für  S.  Domenico  in  Pistoja  gemacht  hat,  »Paolinos  masterpiece«. 
Der  Typus  der  Madonna  in  dieser  Zeichnung  gibt  ihm  genügenden  Be- 
weis, um  zu  behaupten,  daß  die  große  Zeichnung  in  Berlin  von  Paolino 
und  nicht  von  Fra  Bartolommeo  ist! 

Wie  kann  man  zwei  Zeichnungen,  die  in  künstlerischer  Qualität  so 
verschieden  sind  wie  diese,  auf  eine  und  dieselbe  Künstlerhand  zurück- 
führen? In  der  Komposition  geht  die  Berliner  Zeichnung  mit  den  Meister- 
werken Fra  Bartolommeos,  den  hl.  Familien  bei  Lord  Cowper  und  in  der 
Corsiniana  zusammen. 

In  technischer  Beziehung,  im  Ausdruck,  in  Bestimmtheit  der  Kon- 
turen zeigt  sie  den  Meister  at  his  best. 

Das  »masterpiece«  Paolinos  offenbart  dagegen  in  allem  den  »pains- 
taking  pupil«,  den  »slavisch  imitator«  Fra  Bartolommeos,  ohne  jede 
Freiheit  und  Bestimmtheit  in  den  Konturen. 

Domenico  Ghirlandajo.  Unter  den  unbekannten  Zeichnungen  im 
Königl.  Kupferstichkabinett  entdeckte  Herr  Berenson  eine  Zeichnung  von 
D.  Ghirlandajo,  die  er  unter  Nr.  864  (16  x 13)  seines  Katalogs,  als  eine 
der  charakteristischsten  Skizzen  des  Meisters  mit  Triumph  beschreibt. 

Diese  Zeichnung  ist  nicht  von  Ghirlandajo,  sondern  von  einem  unbe- 
kannten bolognesischen  Künstler,  von  dessen  Hand  noch  vier  andere 
Zeichnungen  mit  der  von  Berenson  entdeckten  Ghirlandajo-Zeichnung 
zusammenlagen  und  zusammenliegen.  Aus  meiner  Sammlung  sind 
seitdem  noch  zehn  Zeichnungen  dieses  Künstlers  in  das  Kabinett  ge- 
kommen. Wären  alle  diese  Zeichnungen  von  D.  Ghirlandajo,  so  würde 


io8 


A.  v.  Beckerath: 


Berlin  der  erste  Ort  in  der  ganzen  Welt  für  Ghirlandajos  Zeichnungen 
geworden  sein!  Im  Besitz  von  Herrn  Carlo  Prayer  in  Mailand  befanden 
sich  40  — 50  Zeichnungen  dieser  Hand,  die,  wenn  auch  aus  verschiedenen 
Epochen  stammend,  alle  auf  ein  und  denselben  Künstler  zurückgingen. 
In  der  Ausstellung  alter  Zeichnungen  in  Mailand  1880  waren  viele  dieser 
Zeichnungen  ausgestellt;  bald  darauf  kamen  sie  in  den  Handel.  Daß  der 
von  Berenson  neu  entdeckte  Ghirlandajo  nicht  von  diesem  Meister  sein 
kann,  sieht  jeder  Sachverständige  auf  den  ersten  Blick,  wie  konnte  einem 
Kenner  wie  Berenson  dieser  große  Irrtum  passieren?  Der  Autor  dieser  Zeich- 
nung steht  im  Bann  von  Costa  und  Francia  und  gehört  zur  bolognesischen 
Schule.  Die  überlangen,  hageren  Figuren,  deren  Physiognomien  und  Ex- 
tremitäten, die  Draperien  haben  absolut  nichts  mit  Ghirlandajo  zu  tun. 

Die  langen  Betrachtungen,  die  Berenson  an  die  echte  Gewandstudie 
Domenicos,  welche  das  Königl.  Kabinett  besitzt,  knüpft  (ich  habe  die- 
selbe vor  vielen  Jahren  in  einem  Konvolut  gefunden),  kann  ich  nicht  für 
zutreffend  erachten.  Er  hält  dieselbe  für  eine  Studie  zu  der  Madonna 
in  der  Anbetung  der  Hirten  in  der  Akademie  Florenz. 

Sehr  unglücklich  ist  Berenson  mit  Zuweisung  der  auf  plate  67  und 
68  publizierten  Porträtstudien  an  Ghirlandajo. 

Der  vortreffliche,  energische  Kopf,  plate  68,  ist  sicher  nicht  vOn 
Ghirlandajo,  er  weicht  in  Auffassung,  Form  und  Technik  vollständig  von 
ihm  ab;  irgend  eine  Ähnlichkeit  mit  den  Köpfen  der  älteren  Männer  auf 
dem  Fresko  in  S.  Gimignano,  wie  Herr  Berenson  meint,  vermag  ich  nicht 
zu  entdecken. 

Ich  glaube  nicht,  daß  diese  schöne  Zeichnung  von  einem  Floren- 
tiner gemacht  worden  ist,  ich  halte  sie  für  norditalienisch,  wahrscheinlich 
ist  sie  venetianisch. 

Die  Bemerkung  auf  f.  114  über  diese  Zeichnung  ist  sehr  bezeich- 
nend für  des  Autors  Selbstgefühl  und  Überhebung. 

Zu  der  Frau,  zu  äußerst  links,  auf  dem  Fresko  der  Geburt  der 
Jungfrau  von  Domenico  in  S.  Maria  Novella,  gibt  es  eine  Studie  in 
Chatsworth,  die  zu  den  kapitalsten  Leistungen  des  Meisters  gehört. 

Zu  der  Matrone  neben  dieser  Frau,  glaubt  Herr  Berenson  eine 
Studie  in  einem  Kopf  in  Windsor  plate  67  entdeckt  zu  haben.  Ich  will 
darüber  hinweggehen,  daß  man  im  Zweifel  sein  kann,  ob  in  diesem  Kopf 
eine  Frau  oder  ein  Mann  dargestellt  ist  — ich  denke,  es  ist  ein  Mann  — 
jedenfalls  handelt  es  sich  um  eine  junge  Persönlichkeit,  die  mit  der  Ma- 
trone auf  dem  Fresko  auch  nicht  die  entfernteste  Ähnlichkeit  hat.  Zu- 
dem ist  die  Zeichnung  in  Windsor  ganz  verschieden  von  Domenicos 
Art  und  Weise,  die  sich  in  der  schönen  Zeichnung  in  Chatsworth  in 
normalster  Qualität  manifestieren. 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw.  109 

Die  Windsorzeichnung  steht  Lorenzo  di  Credi  nahe  und  ist  wahr- 
scheinlich von  ihm. 

Daß  Ghirlandajo  in  den  Fresken  in  S.  Maria  Novella  die  Herren  und 
Damen  von  Florenz  (seine  Zeitgenossen)  dargestellt  hat,  melden  die  alten 
Autoren.  Die  Damen,  in  dem  Fresko  der  Geburt  der  Jungfrau,  welche 
gratulieren  kommen,  sind  augenscheinlich  nach  dem  Leben  porträtiert.  Die 
Matrone,  die  zweite  zu  äußerst  links,  wird  davon  keine  Ausnahme  gemacht 
haben.  Hätte  aber  Ghirlandajo  sich  bei  ihr  des  verzwickten  Modus,  den 
Berenson  zugunsten  der  Verwertung  des  jugendlichen  Kopfs  in  Windsor 
erdichtet  hat,  bedient,  so  wäre  die  Dame  eben  nicht  nach  dem  Leben 
porträtiert,  was  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Fall  sein  muß. 

Michel  Angelo  Buonarroti.  I.  Männlicher  Akt.  Federzeichnung  in 
Bister.  21  X 29.  Berenson:  Schule  M.  Angelos. 

Daß  Berenson  diese  Zeichnung  nicht  als  Originalzeichnung  Michel 
Angelos  anerkennen  will,  bedauere  ich  für  ihn,  bisher  ist  sie  meines 
Wissens  noch  von  keinem  Kenner  bezweifelt  worden. 

Von  Schattengebung  kann  ich  auf  der  Zeichnung  nichts  entdecken, 
Michel  Angelo  hat  die  Federzeichnung  über  eine  Vorzeichnung  in  Kohle 
gemacht,  welche  letztere  stehengeblieben  ist. 

Die  schön  aufgebauschte  Hypothese,  daß  R.  da  Montelupo  der 
Autor  der  Zeichnung  sei,  weil  die  Schatten  von  links  nach  rechts  gehen, 
fällt  mit  der  Schattenlosigkeit. 

Mir  erscheint  der  Rhytmus  in  der  Bewegung  allein  für  die  Autor- 
schaft Michel  Angelos  zu  sprechen. 

Seine  Art  und  Weise  zeigen  sich  darin,  wie  die  Figur  konstruiert 
und  balanziert  ist.  Die  momentane  Wendung  des  Kopfes  ist  vorzüglich 
mit  wenigen  Strichen  ausgedrückt. 

Auf  der  Rückseite  der  Zeichnung  sind  nicht  wenige  Worte  bloß, 
sondern  die  ganze  Seite  ist  voll  geschrieben. 

Es  handelt  sich,  nach  Milanesi,  um  ein  Ricordofragment  von  Aus- 
lagen, die  Michel  Angelo  1519  in  Carrara  für  die  Fassade  von  S.  Lorenzo 
gemacht  hat,  wahrscheinlich  von  der  Hand  seines  Gehilfen  Pietro  Urbano. 

Wenn  sich  Herr  Berenson  die  Zeichnungen,  die  er  beurteilt,  doch 
etwas  genauer  ansehen  wollte! 

Michel  Angelo  Buonarroti.  II.  Entwurf  zu  dem  Grabmal  Julius  II 
vom  Jahre  1513.  Federzeichnung.  41  X 56.  Auf  der  Rückseite 
Zeichnung  von  Beinen  und  Knien.  Berenson:  School  of  Michel 

Angelo. 

Auf  den  erbitterten  Vernichtungskampf  gegen  den  Entwurf  zu  dem 
Grabmal  Julius  II.,  den  Herr  Berenson  auf  sieben  Seiten  seines  volumi- 


I IO 


A.  v.  Beckerath: 


nösen  Werkes,  in  der  ihm  eigentümlichen  extremen,  nervösen  Ausdrucks- 
weise und  in  ermüdendster  Länge  führt,  gehe  ich  nicht  weiter  ein. 

Seitdem  Herr  Professor  Schmarsow  1884  in  einer  vorzüglichen  Ab- 
handlung im  Jahrbuch  der  Königl.  Preußischen  Kunstsammlungen  diesen 
Entwurf  bekannt  gemacht  hat,  sind  nun  zwanzig  Jahre  verflossen. 

In  dieser  langen  Zeit  ist  der  Entwurf  von  den  ersten  Kunstkennern 
und  Kunstschriftstellern  des  In-  und  Auslandes  als  authentisches  Werk 
Michel  Angelos  anerkannt  worden,  was  Berenson  zu  seinem  Schmerz  zu- 
gestehen muß. 

Wenn  Berenson  die  Zeichnung  ein  tattered  and  forlorn  sheet  nennt, 
so  stimme  ich  dem  zu,  die  Zeichnung  ist  in  der  Tat  in  einem  traurigen 
Zustand  der  Erhaltung. 

Was  kann  aber  mehr  für  diesen  Entwurf  sprechen,  als  daß,  trotz 
der  mangelhaften  Erhaltung,  die  darin  zur  Darstellung  gekommene  Idee 
des  Grabmals,  als  diejenige  Michel  Angelos  vom  Jahre  1513,  allgemeine  An- 
erkennung gefunden  hat.  Die  Zeit  wird  lehren,  ob  Herr  Berenson  daran 
etwas  ändern  wird. 

Ich  beschränke  mich  auf  einige  Bemerkungen.  Die  Zeichnung 
stammt  angeblich  aus  dem  Besitz  Papst  Paul  IV.  Carafifa.  Dessen  Samm- 
lung wurde  von  seinen  Nachkommen,  Anfang  der  achtziger  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts,  an  einen  römischen  Kunsthändler  verkauft. 

Einige  meiner  schönsten  und  wertvollsten  italienischen  Zeichnungen 
stammen  aus  dieser  Sammlung. 

Die  dem  Originalentwurf  des  Grabmals  beiliegende  Kopie  desselben 
ist  jedenfalls  im  Cinquecento  gemacht  worden.  (Wahrscheinlich  wegen  des 
damals  schon  schlechten  Zustandes  des  Originals.) 

Diese  Kopie  hat  folgende  Unterschrift: 

»questo  disegno  e di  mano  di  Michel  Angelo  Buonarota  havuto  da 
M.  Jacomo  Ronchetti  pittore  suo  discepolo.« 

Jacomo  Ronchetti  war  ein  römischer  Maler  des  Cinquecento. 

Die  Federzeichnungen  von  Beinen  und  Knien  auf  der  Rückseite 
der  Zeichnung  haben  auch  gelitten,  aber  viel  weniger,  als  die  Zeichnung 
auf  der  Vorderseite. 

Daß  diese  Federzeichnungen  der  Rückseite  Originalzeichnungen 
Michel  Angelos  sind,  kann  durch  Konfrontation  mit  anderen  echten  Zeich- 
nungen vollkommen  bewiesen  werden,  vorausgesetzt,  daß  man  sehen  kann 
und  sehen  will. 

Auf  Seite  192  rühmt  Berenson  von  sich,  daß  er  sich  zwölf  Jahre 
lang  mit  dem  Studium  Michel  Angelos  beschäftigt  habe.  (Ich  bitte  den 
Passus  nachzulesen,  er  ist  für  den  Autor  sehr  charakteristisch.) 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


III 


Ja,  wenn  man  mit  Fleiß  und  Eifer  ein  unfehlbarer  Beurteiler  in 
Sachen  Michel  Angelos  werden  könnte!  Dazu  gehören  aber  noch  viele 
andere  Eigenschaften,  die  Herr  Berenson  augenscheinlich  nicht  besitzt. 

Daß  Berenson  nicht  fähig  ist,  den  wirklichen  Michel  Angelo  zu 
begreifen,  sondern  nur  seinen  eigenen  (after  his  own  feeling),  dafür  möge 
das  Folgende  vorläufig  als  Beispiel  dienen. 

Die  endlosen,  langatmigen  Auseinandersetzungen  über  die  Berliner 
Zeichnung  unterbricht  Berenson  ex  abrupto,  durch  einen  Angriff  auf  den 
Giovannino,  diesen  Schatz  der  Königl.  Museen  in  Berlin,  den  er  für 
nur  Michelangelesque  erklärt. 

Ich  dächte,  die  Akten  über  den  Giovannino  seien  längst  geschlossen 
und  kein  Sachverständiger  zweifele  mehr  an  der  Authentizität  dieser  herr- 
lichen Statue. 

Nun  kommt  Berenson,  post  festum,  noch  mit  seinem  Zweifel! 

Gegen  die  pilasterartig  fungierenden  Termini  an  der  Außenwand 
des  Grabmals  Julius  II.,  vor  denen  die  Sklaven  gefesselt  stehen,  hat 
Berenson  eine  wahre  Idiosynkrasie,  er  nennt  sie  a Hindu  contrivance. 
Daß  dieses  eigentümliche  Motiv  auf  Michel  Angelo  zurückgehen  soll, 
sind  ihm  stupid  assumptions!  (Immer  diese  extremen  Kraftausdrücke!) 

Nach  den  Nachrichten,  die  über  das  Grabmal  auf  uns  gekommen 
sind,  kann  gar  kein  Zweifel  obwalten,  daß  dieses  absonderliche  Motiv 
Michel  Angelos  eigenste  Schöpfung  ist. 

Justi  nennt  es  »ganz  aus  Michel  Angelos  Kopf  entsprungen«. 

Yol.  II  S.  97  schreibt  Berenson:  All  Contemporary  accounts  speak 
of  the  slaves  as  Standing  against  pilasters  crowned  with  hermae. 

Wer  möchte  zweifeln,  daß  in  den  Sklaven  im  Louvre,  im  Boboligarten, 
in  den  6 prigioni  auf  der  Zeichnung  in  Oxford*  dieses  Motiv  vorausgesetzt  ist? 

Berenson  bemerkt:  Michel  Angelo  was  appearently  capable  of  much 
that  shocks  our  taste  and  sense  of  fittness. 

In  diesem  vorliegenden  Fall  hat  sich  Michel  Angelo  augenschein- 
lich nicht  nach  dem  taste  und  sense  of  fittness  des  Herrn  Bernhard 
Berenson  gerichtet! 

Warum  hat  Berenson  das  vorzügliche,  höchst  anregende  Buch  von 
Justi  über  Michel  Angelo  nicht  gelesen,  das  ihm  ein  vortrefflicher  Pfad- 
führer in  Sachen  des  divino  maestro  gewesen  wäre? 

Auf  Seite  223/224  dieses  Buches  findet  er  eine  ausführliche  Er- 
klärung dieser  Termini  bei  Michel  Angelo. 

Die  Termini  sind  aus  antiken  Reminiszenzen,  trotz  ihrer  nicht  an- 
tiken Anwendung,  zu  erklären. 

»Durch  die  Hermen  wird  den  übermütigen  Triumphator  — Sym- 
bolen am  Grabmal,  das  »Memento  mori«  zugefügt.« 


I I 2 


A.  v.  Beckerath: 


Gegenüber  der  großartigen  umfassenden  Darstellung  der  Tragödie 
des  Grabmals  Julius  II.,  die  Justi  in  seinem  Michel  Angelo  gibt,  erscheint 
recht  dilettantisch,  was  Berenson  darüber  sagt. 

Und  nun  das  schlimmste  Beispiel  der  Verkennung  Michel  Angelos, 
die  Degradierung  des  herrlichen  Kartons  der  Madonna  mit  dem  säugen- 
den Kinde  in  der  Galleria  Buonarroti!  Dieses  bewundernswerte  Kunst- 
werk soll  nach  Berenson  — horribile  dictu  — von  dem  Simpel  Bugiar- 
dini  sein!  (Die  Abbildung  dieser  Madonna  auf  plate  15 1.) 

Für  Berensons  Autorität  in  Sachen  Michel  Angelos  ist  das  ein 
schwerer  Schlag! 

Wie  soll  man  sich  mit  ihm  verständigen,  wenn  er  höchste  Leistungen 
der  Kunst  so  verkennen  kann. 

Berenson  schreibt:  This  drawing  is  of  course  ascribed  to  Michel 
Angelo  and  this  attribudon  has  never  been  disputed,  nor  indeed  has  the 
drawing  ever  received  much  attention. 

Aber  ich  bitte,  in  der  Casa  Buonarroti,  die  jeden  Tag  geöffnet  ist 
und  Tausende  von  Besuchern  im  Jahre  empfängt,  ist  diese  Zeichnung  an 
hervorragender  Stelle  aufgehängt,  im  Gsell  Fels  und  im  Bädecker  steht 
sie  mit  einem  Stern  bezeichnet! 

Und  da  soll  diese  Zeichnung  bisher  wenig  beachtet  worden  sein? 

Dringt  denn  der  Menschheit  Stimme  nicht  zu  Herrn  Berenson,  ob- 
gleich er  in  Florenz  wohnt! 

Wie  oft  habe  ich  in  den  letzten  dreißig  Jahren  allein  und  mit 
Fachgenossen  bewundernd  vor  dieser  Zeichnung  gestanden! 

Ich  beginne  mit  den  äußerlichen  Gründen,  die  Berenson  gegen  die 
Zeichnung  ausführt: 

certainly  the  drawing  is  not  by  Michel  Angelo.  It  is  not  only  in 
quality  altogether  unworthy  of  him,  but  the  materials,  black  and  red 
chalk  with  much  white,  are  to  my  knowledge  never  again  found  in 
any  existing  work  of  that  master  and  the  Child  besides  being  modelled 
in  a way  that  is  not  Michel  Angelos  not  even  of  his  type. 

Auch  ich  kenne  keine  Zeichnung  Michel  Angelos,  die  mit  denselben 
Materialien,  wie  hier  bei  dem  Kinde,  ausgeführt  worden  ist,  aber  ist  dies 
ein  hinreichender  Grund,  die  Autorschaft  Michel  Angelos  zu  bestreiten, 
wenn  sonst  alles  unzweifelhaft  auf  ihn  hinweist? 

Der  Karton  wird  für  ein  Mamorrelief  bestimmt  gewesen  sein  und 
es  hat  dem  Meister  gefallen,  daraufhin  das  Kind  in  besonderer  Weise 
zu  behandeln. 

Da  alle  Kartons  Michel  Angelos,  bis  auf  den  im  British  Museum, 
verloren  gegangen  sind,  können  wir  uns  freuen,  daß  dieser  uns  erhalten 
geblieben  ist.  Die  Behandlung  des  Kindes,  abgesehen  von  dem  Unter- 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


113 

schied  in  den  Materialien,  ist  nun  genau  so,  wie  die  der  Körper  im 
Bargello-Tondo  und  im  Doni-Tondo.  Die  Konturen  sind  hart,  dick,  fast 
brutal,  das  Fleisch  erscheint  dadurch  wie  eingedämmt  und  quillt  quasi 
hervor,  es  ist  weich  und  zart,  wie  wirkliches  Fleisch,  die  Rundung  des 
Körpers  ist  vollkommen  gelungen. 

Licht,  Schatten,  Halbschatten  sind  so,  wie  auf  den  obenerwähnten 
Tondi. 

Neben  der  Madonna  in  Casa  Buonarroti  hängt  (Nr.  73  in  Cart.  16) 
eine  frühe,  herrliche  Federzeichnung,  »ein  junger  Mann  vom  Rücken  ge- 
sehen«, zu  dem  Karton  von  Pisa  gehörig. 

Von  der  Verschiedenheit  des  Materials  abgesehen,  ist  auch  hier  die 
Behandlung  dieselbe. 

Die  roten  Schraffierungen  rechts  am  Körper  des  Kindes,  um  den 
Kontur  hervorzuheben,  finden  sich  auf  dem  Bargello-Tondo,  ganz  analog 
im  Marmor. 

Berenson  schreibt  weiter:  The  Virgins  right  hand  resting  on  the 
Childs  shoulder  is  peculiar  in  that  the  index  finger  is  drawn  away  as 
lar,  as  it  will  go  from  the  others. 

Berenson  findet  diesen  singulär  mannerism  in  this  exact  degree,  bei 
Bugiardini  und  Franciabigio  und  schließlich  findet  er,  daß  wegen  der 
nahen  Verbindung  Bugiardinis  mit  Michel  Angelo  Bugiardini  der  Autor 
des  Kartons  in  Casa  Buonarroti  ist!!! 

Atmen  wir  auf! 

Merkwürdigerweise  hat  Berenson  ganz  übersehen,  daß  dieser  sin- 
gulär mannerism  bei  Michel  Angelo  selber  sehr  häufig  vorkommt,  z.  B. 
bei  den  Madonnen  in  der  Pietä  und  im  Londoner  Tondo,  bei  dem 
Sklaven  in  Paris,  bei  dem  Christus  in  der  Minerva,  bei  dem  Jeremias 
in  der  Sistina,  also  kann  dieser  mannerism  bei  der  Madonna  in  Casa 
Buonarroti,  nicht  gegen  Michel  Angelo  sprechen,  sondern  spricht  gerade 
für  ihn ! 1 

Das  einzige  Beispiel  für  Bugiardinis  peculiar  hand,  welches 
Berenson  anführt  (in  dem  Bilde  des  Täufers  in  Bologna)  paßt  nun’  un- 
glücklicherweise und  merkwürdigerweise  gar  nicht,  denn  hier  um- 
faßt die  Hand  die  Trinkschale  und  hält  sie  naturgemäß  mit  den  ausge- 
streckten Fingern. 

Die  Pointe  ist  aber,  daß  die  Hand  mit  den  ausgestreckten  Fingern 
aufliegt,  wie  in  der  rechten  Hand  der  Madonna  in  Casa  Buonarroti,  von 
der  Herr  Berenson  ausgegangen  ist. 

In  der  Modellierung  kann  ich  zwischen  dem  Kinde  auf  dem  Karton 
und  dem  auf  dem  Altarbild  Bugiardinis  in  Bologna  nicht  die  entfern- 
teste Ähnlichkeit  entdecken. 


A.  v.  Beckeratli: 


114 


Herr  Berenson  kennt  nur  zwei  Zeichnungen  von  Bugiardini. 

Derjenigen  bei  Herrn  Loeser  kann  ich  mich  nicht  mehr  entsinnen; 
dagegen  habe  ich  die  in  den  Uffizien  genau  geprüft.  Diese  Zeichnung  ist 
gering,  ich  halte  sie  nicht  für  eine  Originalzeichnung,  die  Aufschrift  des 
Künstlernamens  rührt  aus  späterer  Zeit. 

Diesem  brillanten  Zeichnungsoeuvre  Bugiardinis  wird  nun  der 
Karton  in  Casa  Buonarroti  beigefügt! 

Was  Herr  Berenson  über  diesen  Karton  sagt,  möge  der  geneigte 
Leser  auf  Seite  250  nachlesen.  Alles  scheint  mir  total  verkehrt,  a rovescio 
wie  der  Italiener  sagt. 

Wegen  des  wichtigen  Falles  und  in  Anbetracht  des  bedeutenden 
Kunstwerks,  um  das  es  sich  handelt,  will  ich  meine  Beurteilung  dagegen 
geben. 

Der  Karton  in  der  Galleria  Buonarroti  ist  für  die  Ausführung  in 
Marmor  gemacht,  er  soll  für  die  Madonna  Medici  bestimmt  gewesen  sein. 
Das  Kind  ist  ja  gewissermaßen  schon  ein  Vorgedanke  des  Kindes  dort, 
aber  die  Komposition  tut  der  Natur  viel  weniger  Zwang  an  und  ist  an- 
spruchsloser. 

Die  Art,  wie  das  Kind  von  der  Mutter  umfaßt  wird,  erinnert  an 
ähnliche  Kompositionen  unter  den  Vorfahren  Christi  in  den  Lünetten  der 
Sistina. 

Es  wird  wohl  erlaubt  sein,  anzunehmen,  daß  der  Karton  um  diese 
Zeit  zu  datieren  ist. 

Die  Madonna  sitzt  nach  rechts;  dadurch,  daß  die  rechte  Schulter 
zurücksteht,  während  die  linke  Schulter  vorsteht,  wird  die  räumliche 
Tiefe  akzentuiert,  ähnlich  wie  beim  h.  Mathäus,  aber  dort  umgekehrt. 

Ihr  Haupt  ist  nach  links  gewandt,  der  Blick  scheint  durch  etwas 
außerhalb  der  Komposition  gefesselt,  ebenso  blicken  die  Madonnen  im 
Bargello-Tondo  und  die  »an  der  Mauer«  in  die  Weite. 

Der  linke  Arm,  die  linke  Hand  sind  Wunder  der  Zeichenkunst. 
Die  Überschneidung  des  rechten  Armes  ist  von  erstaunlicher  Genauigkeit. 
Von  besonderer  Schönheit  und  zarter  Empfindung  ist,  wie  die  rechte 
Hand  herauskommt  und  das  Kind  umfaßt. 

Gegenüber  der  gelassenen  Passivität  der  Madonna,  steht  im  wir- 
kungsvollsten Kontrast  die  stürmische  Wucht  und  Gewalt,  mit  der  sich 
das  Kind  an  die  Brust  der  Mutter  wirft;  der  Körper  des  Kindes  ist  ganz 
von  diesem  Bewegungsmotiv  durchzittert. 

Und  nun  die  Formen  des  Kindes,  die  Modellierung  desselben! 
Man  betrachte  die  Hüften,  die  Bauchpartien,  den  großen  Bauchmuskel, 
den  rechten  Arm  mit  dem  vorzüglich  verkürzten  Oberarm,  das  ausge- 
streckte Bein  mit  dem  zierlichen  kleinen  Fuß! 


Uber  einige  Zeichnungen  florentinisch'er  Maler  usw.  115 

Wo  soll  man  aufhören  zu  bewundern!  Wie  fest  sitzt  das  Kind 
auf  dem  Knie  der  Mutter,  wie  liebevoll  wird  es  von  ihr  umfaßt,  wie 
geschlossen  ist  die  Gruppe  von  Mutter  und  Kind,  welchen  Rhythmus 
hat  sie! 

Michel  Angelo  ist  es  selten  wieder  gelungen,  das  intime  Verhältnis 
von  Mutter  und  Kind  in  kunstvoller  Komposition  so  rein  und  natürlich 
zu  gestalten. 

Antonio  Pollajuolo.  I.  Herkules  den  Bogen  spannend.  Bisterzeich- 
nung. 26,5,  x 39.  Berenson:  School  of  A.  Pollajuolo.  Copy 

with  shlight  variations  after  the  Herkules  only,  in  Antonios  Her- 
kules & Nessus  of  the  Jarves  Collection  at  New  Haven.  That  this  is 
a copy  treated  in  an  almost  frivolous,  decorative  spirit,  will  have  to 
be  admitted,  by  all  who  know  Antonio  in  general,  who  know  the 
painting  in  question  and  who  have  a feeling  for  line  both  as  function 
and  as  rhytm! 

Diese  Zeichnung  ist  ein  hervorragendes  Meisterwerk  und  eine  der 
vorzüglichsten  Zeichnungen  Antonios,  die  auf  uns  gekommen  sind,  sie 
läßt  das  außerordentliche  Vermögen  des  Künstlers  in  der  Darstellung 
körperlicher  Kraftanstrengung  erkennen.  Die  Präzision  in  der  Wieder- 
gabe der  einzelnen  Körperteile  kann  nicht  übertroffen  werden. 

Vor  allem  hebe  ich  hervor  den  Rhythmus  der  Figur,  die  volle 
Lebendigkeit  des  Körpers,  die  anatomische  Durchführung  und  doch  ma- 
lerische Behandlung  des  Rückens,  dessen  Fleischigkeit  man  vor  Augen 
zu  haben  glaubt. 

Auf  meine  Veranlassung  schickte  das  Königl.  Kupferstichkabinett 
eine  Photographie  dieser  Zeichung  an  den  Direktor  der  Jarves-Collection 
in  New  Haven,  mit  der  Bitte,  ihm  eine  Photographie  des  in  deren  Besitz 
befindlichen  Bildes  von  Antonio  Pollajuolo  Herkules  und  Nessus,  einzu- 
senden. 

Der  Direktor,  Herr  John  F.  Weir,  hatte  die  Freundlichkeit,  diese 
Bitte  zu  erfüllen,  und  ich  bin  dadurch  imstande,  anbei  mit  der  Abbildung 
der  Berliner  Zeichnung  eine  Abbildung  des  resp.  Gemäldes  geben  zu 
können. 

Herr  Direktor  Weir  wird  mir  erlauben,  den  wichtigsten  Inhalt  seines 
Briefes  hier  wiederzugeben,  da  das  Verhältnis  der  Zeichnung  zu  dem  Bilde 
nicht  schlagender  geschildert  werden  kann: 

It  is  quite  evident,  that  the  sketch  of  Herkules  (in  the  act  of  killing 
Nessus)  is  by  the  same  hand  that  pruduced  the  painting.  The  figure 
of  Herkules  is  identical  whith  the  exception  of  some  slight  changes 
in  the  accessories  of  drapery  and  the  placing  of  the  quiver  which  slight  va- 


1 16 


A.  v.  Beckerath: 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


117 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


9 


1 18 


A.  v.  Beckerath: 


riations  to  the  end  to  identify  the  sketch  as  being  of  the  same  hand. 
The  touch  and  handling  is  likewise  the  same  while  the  figures  are  of 
exactly  the  same  size.  Doubt-less  the  sketch  was  used  as  a study  for 
the  painting. 

Da  die  Figur  des  Herkules  in  dem  Gemälde  dieselbe  Größe  wie 
in  der  Zeichnung  hat,  ist  letztere,  deren  Umrisse  für  die  Übertragung 
durchstochen  sind,  also  der  Karton  für  das  Gemälde. 

Besser  kann  die  Authentizität  einer  Quattrocentozeichnung  nicht 
bewiesen  werden,  als  in  diesem  Fall. 

Die  Berliner  Zeichnung  ist  von  außergewöhnlicher  Grösse;  kann 
mir  Herr  Berenson  eine  Quattrocentokopie  nach  einer  Quattrocento- 
zeichnung in  dieser  Größe  nachweisen?  Mir  ist  niemals  eine  solche  vor- 
gekommen. 

Das  Wasserzeichen  des  Blattes  ist  eine  Glockenblume  mit  zackigen 
Rändern  zwischen  zwei  stilisierten  Blättern. 

Seite  24  erklärt  Herr  Berenson  das  Bild  in  der  Jarves-Collection 
für  ein  authentisches  Bild  Pollajuolos  »a  gern  of  Florentine  painting,  the 
structure  and  the  action  of  the  Herkules  as  he  draws  his  bow  are  not 
surpassed  eise  where  in  Antonios  best  work«. 

In  seinem  Katalog  der  School  of  Pollajuolo,  führt  Herr  Berenson 
unter  1916,  1938  — 1940  Zeichnungen  in  Florenz  auf,  as  perhaps  or 
probably  of  the  same  hand  as  die  Berliner  Zeichnung. 

Es  sind  dies  Zeichnungen  von  dem  bekannten  Quattrocentokopisten 
aus  der  Schule  Pollajuolos,  von  denen  so  viele  sich  in  Florenz  und  auch 
in  anderen  Sammlungen  befinden. 

Daß  Herrn  Berensons  Kenntnis  der  Zeichenkunst  alter  Meister,  sein 
künstlerisches  Empfinden,  selbst  gegenüber  dieser  Meisterzeichnung  ver- 
sagen würden,  nimmt  mich  nicht  wunder,  nachdem  ich  weitere  Studien 
in  seinem  neuen  Werk  gemacht  habe. 

Antonio  Pollajuolo.  II. 

Mit-  und  Nachwelt  haben  Antonio  Pollajuolo  als  ersten  Zeichner 
seiner  Zeit  gerühmt. 

B.  Cellini  schließt  sein  Lob  des  großen  disegnatore  mit  den  Worten: 
»questo  uomo  fece  poche  altre  cose,  ma  solo  disegnö  mirabilmente  ed 
a quel  gran  disegno  sempre  attese.« 

Gegenüber  diesem  Ruhm  sind  wir  in  großer  Verlegenheit,  wenn 
wir  die  wenigen  echten  Zeichnungen  des  Meisters,  die  auf  uns  gekommen 
sind,  betrachten. 

Die  eigenhändigen  Malereien  Antonios  und  gewiß  auch  seine  Skulp- 
turen, bestätigen  seine  Superiorität  als  gran  disegnatore. 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


119 


Ich  bin  aber  geneigt,  anzunehmen,  daß  sein  Ruhm  in  dieser  Be- 
ziehung, vor  seinen  Zeitgenossen,  durch  seine  Kupferstiche  entstanden 
ist.  Der  von  ihm  bezeichnete  Kupferstich  »Der  Kampf  der  nackten 
Männer«  und  das  nach  seiner  Komposition  gestochene  Blatt  »Herkules 
im  Kampf  mit  den  Giganten«,  verschafften  seiner  Zeichenkunst  andauernd 
allgemeine  Anerkennung  und  weiteste  Verbreitung. 

Diese  Kupferstiche  sind  wahre  Meister-  und  Bravourstücke  und 
zeigen  die  Kunst  Antonios  in  ihrer  Quintessenz  und  in  ihrer  ganzen 
Eigentümlichkeit.  Sein  außerordentliches  Vermögen,  die  menschlichen 
Körper  in  ihrer  Struktur  und  Muskulatur  in  größter  Bewegung,  An- 
strengung und  Leidenschaft  exakt  und  geistreich  darzustellen,  in  kompli- 
zierten, aber  vorzüglich  abgerundeten  Kompositionen. 

Etwas  von  diesem  großen  Zug,  dieser  außerordentlichen  Kraft, 
diesem  souveränen  Können,  muß  sich  in  einer  echten  Zeichnung  Antonios 
wiederfinden. 

Ich  will  hiernach  die  Zeichnungen,  die  Herr  Berenson  in  seinem 
Katalog  als  echte  Zeichnungen  Antonios  aufführt,  einer  kurzen  Kritik 
unterwerfen.  Echt  sind : 

Florenz:  Der  Karton  der  Caritas,  plate  15. 

„ Die  Zeichnung  eines  Weihrauchgefäßes. 

London:  Die  Zeichnung  des  Herkules  und  der  Hydra,  plate  13. 

Letztere  Zeichnung  ist  vortrefflich  im  Ausdruck  des  spontanen 
Lebens,  der  rapiden  Bewegung.  Das  Lob,  welches  Herr  Berenson  dieser 
Zeichnung  spendet,  scheint  mir  aber  doch  übertrieben,  von  Rembrandt 
gibt  es  viele  gleichwertige  Zeichnungen  dieser  Art. 

Die  Studie  zu  dem  Monument  Fr.  Forzas,  in  München,  befindet  sich 
in  schlechtem  Zustand,  wird  aber  echt  sein. 

Die  übrigen  Zeichnungen,  die  Herr  Berenson  aufführt,  kann  ich 
nicht  als  echte  Zeichnungen  Antonios  gelten  lassen. 

Lege  ich  die  fragmentierte  Zeichnung  in  Wilton  Höuse  (Publikation 
Wilton  House  durch  Herrn  Strong)  neben  den  Stich  »Herkules  und  die 
Giganten«,  so  wird  es  sofort  klar,  daß  diese  Zeichnung  nur  Kopie  sein 
kann.  Den  Körpern  der  Männer  fehlt  jede  Muskulatur-  und  Struktur- 
angabe, wie  sie  im  Stich  gegeben  ist,  wie  der  Gegenstand  sie  erfordert. 
Die  Umrißlinien  sind  dünn  und  timide,  die  Zeichnung  der  Körper  und 
Extremitäten  unsicher  und  fehlerhaft.  Hier  ist  nichts  von  dem  großen 
Zug  und  der  Leidenschaft  im  Stich. 

Ich  bemerke  noch,  daß  im  Stich  der  Körper  des  äußersten  Mannes 
rechts  durch  den  Rand  des  Stiches  halbiert  ist;  in  der  Zeichnung  ist 
ein  Zwischenraum  zwischen  dem  vollständigen  Körper  dieses  Mannes 
und  dem  Rand. 


9 


I 20 


A.  v.  Beckerath: 


Herr  Berenson  nennt  diese  Zeichnung  »a  perfect  companion  to  the 
magnificent  drawing  in  the  British  Museum«. 

Dieses  große  Blatt  »a  prisoner  brought  before  a judge«  ist  nun 
gewiß  keine  echte  Zeichnung  Antonios,  plate,  18. 

Die  gleichmäßigen  dürftigen  Umrißlinien,  ohne  Rücksicht  auf  Licht 
und  Schatten,  der  Mangel  an  jeder  Andeutung  von  Muskulatur  und 
Struktur,  nehmen  den  Männern  jede  Körperlichkeit,  jedes  eigentliche 
Lebensgefühl,  ganz  entgegen  der  Art  des  Meisters  und  lassen  sie  wie 
Gespenster  oder  Schemen  erscheinen,  wofür  der  dargestellte  Gegenstand, 
die  stark  bewegte  Männergruppe  hinter  dem  Gefangenen,  doch  keinen 
Grund  abgibt. 

Auffällig  ist  auch  die  Schlankheit  der  Körper,  die  sonst  nicht  vorkommt. 

Die  fast  gleiche  Komposition  befindet  sich  bekanntlich  in  einem 
Rund,  am  Triumphbogen  im  Sebastiansbild  Pollajuolos  in  der  National- 
gallery und  ist  dort  als  Relief  ausgeführt  und  nicht  als  Schattenspiel. 

Dazu  kommen  die  offenbaren  Verzeichnungen  resp.  Zeichenfehler, 
die  nur  auf  Rechnung  des  Kopisten  oder  Imitators  zu  setzen  sind. 

Der  Körper  des  zweiten  Mannes  rechts  mit  ausgebreiteten  Armen  ist 
von  hinten  dargestellt,  trotzdem  dreht  er  seinen  Kopf  nach  vorne,  als 
wenn  er  von  vorn  dargestellt  wäre.  Diese  Kopfwendung  nach  vorn, 
während  der  Körper  von  hinten  gesehen  ist,  ist  unmöglich. 

Der  rechte  Arm  des  Mannes  neben  dem  Gefangenen  ist  viel  zu 
tief  angesetzt,  was  faktisch  nicht  richtig  ist. 

Daß  Herr  Berenson  die  Studie  zu  einem  hl.  Sebastian  bei  Herrn 
Frizzoni  (durch  den  letzteren  als  im  Besitz  Morellis  publiziert)  als  echte 
Zeichnung  Antonios  aufführt,  kann  ich  nur  als  sacrifizio  d’inteletto  aus 
Pietät  gegen  den  von  ihm  so  hochgeschätzten  Senator  Morelli  ansehen, 
der  die  Zeichnung  als  von  Antonio  Pollajuolo  kreierte. 

Die  Zeichnung  ist  ganz  geringes  Machwerk,  ich  kritisiere  sie  mit 
dem  von  Herrn  Morelli  so  oft  und  mit  Vorliebe  gebrauchten  Lapidar- 
ausdruck »wertlos«. 

Die  Zeichnung  in  der  Albertina  (abgebildet  in  Wickhoffs  Katalog 
der  Albertina)  »two  men  conversing«,  ist  zu  gering  für  Antonio. 

Die  Figuren  haben  nicht  die  lebensvollen  Umrisse  Antonios.  Die 
Gewandung  ist  zu  unruhig,  roh  und  primitiv,  ganz  entfernt  von  der  sorg- 
sam intentionierten,  gezirkelten  Art  (an  den  Goldschmied  erinnernd),  wie 
die  Draperien  z.  B.  an  den  Figuren  in  den  Stickereien  in  der  Opera  del 
Duomo  zu  Florenz  disponiert  sind. 

Die  Umrißlinien  werden  fortwährend  unterbrochen,  das  Körperliche 
der  Männer  kommt  nur  unvollkommen  heraus.  Die  ganze  Behandlung 
ist  mehr  malerisch,  als  plastisch. 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


12  I 


Herr  Professor  Wickhoff  hat  diese  Zeichnungen  Andrea  Castagno 
zugeschrieben.  Für  diesen  Meister  sind  die  Körper  der  Männer  nicht  ge- 
streckt genug  und  zu  gedrückt.  Die  Gewandfalten  und  deren  Brüche 
setzen  bei  Castagno  immer  einen  dicken  Wollstoff  voraus  und  sind  nie- 
mals scharfkantig  und  eckig  gebrochen,  wie  hier. 

Adam  und  Eva  in  den  Uffizien,  plate  16  und  17. 

Diese  beiden  Zeichnungen  waren  unter  dem  Konservator,  Herrn 
Carlo  Pini  gesegneten  Angedenkens,  nicht  ausgestellt.  Bei  der  Neuordnung 
der  ausgestellten  Zeichnungen  1893,  hat  sie  der  jetzige  verdienstvolle 
Inspektor  Herr  P.  Nerino  Ferri  aus  dem  Depot  heraufgeholt  und  ausge- 
stellt. Die  ursprüngliche  Attribution  war  Signorelli,  die  durch  Morelli 
in  Antonio  Pollajuolo  umgeändert  wurde. 

Ich  glaube,  daß  diese  Zeichnungen  auf  Antonio  zurückgehen,  kann 
sie  aber  nur  als  Kopien  nach  ihm,  keineswegs  als  Originalzeichnungen 
gelten  lassen.  (Eine  zweite  Kopie  des  Adam  ist  im  Depot  der  Uffizien.) 

Die  Manieriertheit  der  Formgebung  hat  mich  immer  an  den  Stecher 
Robetta  erinnert,  der  ja  mehrere  Kompositionen  Antonios  zu  seinen 
Stichen  benutzt  hat.  Er  könnte  diese  Kopien  gemacht  haben. 

In  Qualität  sind  diese  Zeichnungen  weit  unter  Antonio.  Die  ma- 
geren Umrißlinien,  die  dürftigen  Angaben  der  Muskulatur  und  der 
Struktur  geben  keinen  Eindruck  einer  plastischen  Körperlichkeit. 

Man  vergleiche  den  kleinen  Esau,  ein  wahres  Monstrum,  mit  dem 
Kinde  im  Arme  der  Caritas.  Die  Hände  der  beiden  Figuren  mit  den 
Händen  der  Caritas,  und  man  wird  den  Abgrund  ermessen  können,  der 
diese  Zeichnungen  von  einer  echten  Antonios  trennt. 

Die  Landschaften  sind  mit  dem  Kohlenstift  angelegt,  schattiert  und 
laviert,  das  kommt  sonst  bei  Antonio  nicht  vor. 

Bei  der  Überschlagung  der  Beine  des  Adams,  sind  die  Konturen 
des  verdeckten  linken  Unterbeines  stehen  geblieben,  ich  habe  niemals 
eine  Quattrocentooriginalzeichnung  gesehen,  wo  das  der  Fall  gewesen  wäre. 

Dieser  Umstand  allein  spricht  dafür,  daß  diese  Zeichnung  Kopie  ist. 

Der  Kopf  eines  alten  Mannes,  der  in  Chantilly  als  Mantegna  gilt 
und  der  Morelli  s.  Z.  als  Kopie  erschien,  ist  eine  geringe  Zeichnung 
eines  Oberitalieners.  Es  ist . mir  unbegreiflich,  wie  Herr  Berenson  diese 
Zeichnung  für  eine  Originalzeichnung  Antonios  halten  kann. 

Der  Täufer  in  den  Uffizien,  plate  14,  wurde  früher  Giorgione  zu- 
geschrieben, dann  auf  Veranlassung  von  Morelli  und  Frizzoni,  A.  Pollajuolo 
gegeben. 

Der  Hauptgrund,  wenn  nicht  der  einzige  Grund  dafür,  waren  die 
Hände.  Die  kralligen  Hände  auf . der  Zeichnung  haben  allerdings  Ähn- 
lichkeit mit  den  Händen  Antonios,  es  sind  aber  trotzdem  nicht  dieselben. 


122 


A.  v.  Beckerath: 


Ich  bitte,  die  Hände  des  Täufers  mit  den  Händen  der  Caritas 
und  mit  denen  des  rechts  am  Boden  liegenden  verwundeten  Mannes  in 
dem  Stich  des  Kampfes  der  nackten  Männer  zu  vergleichen  und  man 
wird  sich  des  Unterschiedes  bewußt  werden. 

Die  Zwischenräume  der  Finger  bei  Antonio  sind  niemals  so  stark 
beschattet,  wie  auf  der  vorliegenden  Zeichnung. 

Daß  ein  Zeichner,  wie  Antonio,  auf  einem  Blatt  wie  hier,  dreimal 
die  rechte,  dreimal  die  linke  Hand  und  zweimal  die  Beine  zeichnet,  ist 
gewiß  auffallend. 

Allein  die  Unsicherheit  in  den  Konturen  der  Schultern  und  der 
Arme  des  Täufers  hätte  vor  der  Zuschreibung  der  Zeichnung  an  Antonio 
bewahren  sollen. 

Da  ist  nichts  von  dem  genauen,  bestimmten  Formgefühl  Antonios, 
das  ohne  Umschweife  sofort  das  richtige  trifft,  sondern  ein  ängstliches 
Suchen  und  Tasten. 

Die  vorliegende  Zeichnung,  sicher  eine  Originalzeichnung,  hat  in- 
dessen ihre  Qualitäten,  die  aber  mehr  nach  Seiten  des  Malerischen  und 
des  Ausdrucks,  als  nach  Seiten  der  Formgebung  gravitieren. 

Ich  halte  daher  die  Zeichnung  für  norditalienisch,  selbst  venetianisch 
und  glaube  nicht  an  ihren  florentinischen  Ursprung. 

Der  Täufer  stützt  sich  auf  den  linken  Arm  und  auf  das  ausgestreckte 
rechte  Bein,  dadurch  wird  das  linke  Bein  entlastet,  diese  Entlastung  wird 
aber  durch  das  Anhaften  des  linken  Fußes  am  Boden  nicht  anschaulich  ge- 
macht. Die  Folge  ist,  daß  der  Täufer  nicht  recht  im  Gleichgewicht  steht. 
Das  ist  nicht  florentinisch  konstruiert.  Ich  bitte,  mit  diesem  Täufer  die 
vielen  Täufer  auf  den  Stickereien  in  der  Opera  del  Duomo  in  Florenz  zu 
vergleichen,  wie  leicht  und  fest  und  im  Gleichgewicht  stehen  die  letzteren ! 

Daß  die  Schrift  auf  dieser  Zeichnung  Autograph  Antonios  sein  soll, 
ist  eine  äußerst  kühne  Behauptung;  würde  Herr  Berenson  nicht  in  Ver- 
legenheit geraten,  wenn  ich  um  den  Beweis  für  diese  Behauptung  ersuchte  ? 

Links  steht  »Giovanni«,  unten  »Ser  Salvestro  di  Jachopo«.  Die 
echte  Schrift  Antonios  auf  dem  Blatt  mit  dem  Weihrauchgefäß  (diese 
Zeichnung  liegt  neben  der  des  Täufers)  sieht  ganz  anders  aus. 

Stelle  ich  diese  zwölf  Zeichnungen,  die  Herr  Berenson  in  seinem 
Katalog  als  echte  aufführt,  zusammen,  so  ergibt  sich  ein  krauses  Durch- 
einander der  verschiedensten  Hände  und  der  verschiedensten  Fähigkeiten. 

Ob  sich  Herr  Berenson  dessen  bewußt  gewesen  ist? 

Filippino  Lippi  I.  Studie  zu  dem  Kopf  der  großen  Madonna  mit 
vier  Heiligen,  1485,  in  den  Uffizien  i83/4  x 22x/a.  Bisterzeichnung. 
Berenson  R.  del  Garbo. 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


123 


Herr  Berenson  glaubt,  daß  diese  Studie  eine  Kopie  Garbos  nach 
dem  Kopf  der  obenerwähnten  Madonna  Filippinos  sei,  den  Garbo  zu 
seiner  Madonna  in  der  Pietä  in  München  benutzt  habe,  was  mir  ge- 
sucht und  kompliziert  erscheint.  Bei  dem  Vergleich  des  Berliner  Kopfes, 
mit  dem  Filippinos  in  den  Uffizien,  plate  54,  wird  man  nicht  bezweifeln 
können,  daß  beide  auf  denselben  Meister  zurückgehen.  Die  Umschrei- 
bung der  äußeren  Form  ist  scharf  und  charaktervoll,  hat  echt  quattro- 
centistisches  Sentiment.  Die  weißen  Schraffierungen  akzentuieren  die  innern 
Formen  auf  das  Genaueste,  die  Technik  in  beiden  Zeichnungen  ist 
dieselbe.  Konfrontiere  ich  nun  diese  Zeichnung  mit  den  von  Berenson 
auf  plate  60  und  61  wiedergegebenen  Zeichnungen  Garbos,  so  finde  ich 
bei  letzteren  eine  viel  weichere,  unsichere,  verschwommene  Umschrei- 
bung der  Formen,  die  Schraffierungen  sind  ganz  malerisch  und  gehen 
der  Form  nicht  nach. 

Die  Kopfform  der  Madonna  Garbos  auf  pla.te  61,  auf  dem  Berliner 
Tondo,  in  der  Pietä  München,  sind  total  verschieden  von  derjenigen  der 
Madonnen  Filippinos.  Der  kleine  Mund  und  die  vollem  Lippen  der  Berliner 
Studie,  die  Berenson  an  der  Madonna  Filippinos  von  1485  vermißt,  fin- 
den sich  genau  so  bei  den  Madonnen  des  Künstlers  in  der  Anbetung 
in  den  Uffizien  1496  und  in  der  Madonna  mit  zwei  Heiligen,  London. 
Gerade  zu  diesem  letzten  Bilde  paßt  die  Berliner  Zeichnung  vorzüglich, 
namentlich  im  Arrangement  der  Haare  und  des  Kopfputzes;  im  Ausdruck 
ist  diese  Madonna  allerdings  älter  und  leidvoller. 

Filippino  Lippi  II.  Kopf  eines  Jünglings.  Silberstiftzeichnung. 

12,2  x i8r/2.  Berenson:  Amico  di  Sandro. 

Es  tut  mir  leid,  auch  hier  Herrn  Berenson  widersprechen  zu  müssen. 
Die  Zeichnung  hat  gewiß  viel  von  der  Anmut  seines  Amico,  trotzdem 
muß  ich  an  der  Attribution  an  Filippino  festhalten.  Ich  kann  nicht 
finden,  daß  die  Eigentümlichkeit  Amicos,  bei  der  Darstellung  junger 
Leute  die  dicht  gekräuselten,  lockigen  Haare,  die  perückenartig  das 
Haupt  bis  in  die  Stirn  hinein  bedecken  und  hinten  bis  über  den  Hals 
hinuntergehen,  der  große  Mund,  die  heruntergezogenen  Mundwinkel, 
sich  auf  dieser  Zeichnung  wiederfinden.  Ich  verweise  auf  Konfrontierung 
mit  den  jungen  Leuten  auf  Amicos  Anbetung  der  Könige  in  London. 

Zu  dem  von  Herrn  Berenson  mit  Passion  kreierten  Zeichnungsoeuvre 
seines  Amicos  habe  ich  folgendes  zu  bemerken.  Der  auf  plate  49  publi- 
zierte Kopf  einer  Frau  im  Louvre,  ist  zweifellos  eine  Fälschung,  als 
solche  ist  mir  diese  Zeichnung  schon  vor  20  Jahren  erschienen  und  seit- 
dem immer,  so  oft  ich  sie  wiedergesehen  habe.  Eine  Quattrocentopinsel- 
zeichnung in  dieser  Mache  und  mit  so  rohen  Konturen,  ist  mir  niemals 


124 


A.  v.  Beckerath: 


in  meiner  langjährigen  Praxis  vorgekommen.  Die  Zeichnung,  welche 
nach  dem  Stempel  aus  der  Sammlung  des  j Ungern  Vullardo  stammt, 
wird  eine  Fälschung  des  vorigen  Jahrhunderts  sein. 

Herr  Berenson  wird  sich  noch  des  weiblichen  Profils  erinnern,  das 
der  Senator  Morelli  in  Florenz  kaufte  und  für  ein  Werk  Leonardos  hielt. 
So  viel  mir  bekannt  ist,  weilt  der  Autor  dieser  hübschen  Fälschung  heute 
noch  unter  den  Lebenden  in  Florenz! 

Die  auf  plate  50  wiedergegebene  Zeichnung  des  Tobias  mit  den 
Engeln,  steht  in  Beziehung  zu  dem  Bilde  in  Turin,  ein  Original  ist  sie 
aber  sicher  nicht,  sondern  nur  ein  Ricordo  oder  eine  Kopie;  sie  kann  nur 
nach  dem  Bilde  nicht  für  das  Bild  gemacht  worden  sein;  so  zeichnet 
ein  Künstler  wie  Amico  nicht,  den  Berenson  mit  Recht  »in  his  paintings 
prompt,  vivacious,  charming«  findet.  Leider  nennt  Berenson  diese  geringe 
Zeichnung  »Amicos  perhaps  finest,  certainly  most  interesting  drawing«! 

Ich  bedauere,  gerade  zwei  Zeichnungen  aus  der  Sammlung  His 
Lassalle  so  ungünstig  beurteilen  zu  müssen.  Diese  Sammlung  ist  bezüglich 
italienischer  Zeichnungen  eine  der  ersten  und  reichsten,  die  im  vorigen 
Jahrhundert  geschaffen  worden  sind. 

Paollo  Uccello.  Skizzenblatt  auf  grauem  > Papier,  Bisterzeichnung. 

31  X 20.  Berenson:  School  of  Uccello. 

Dieser  Zeichnung  und  vier  anderen  in  den  Uffizien,  von  derselben 
Hand  und  identisch  in  Technik  und  Qualität,  hat  Herr  Berenson  die 
traditionelle  Zuschreibung  an  P.  Uccello,  nach  meinem  Dafürhalten  ohne 
Grund,  genommen. 

Diese  vorzüglichen  Zeichnungen  sind  zweifellos  Originalzeichnungen. 
Nach  dem  uns  zu  Gebote  stehenden  Vergleichsmaterial,  wie  spärlich  es 
auch  ist,  halte  ich  die  Autorschaft  Paolo  Uccellos  für  möglich. 

Florentinische  Zeichnungen,  deren  Entstehung  mit  Wahrscheinlich- 
keit in  die  erste  Hälfte  des  Quattrocento  zu  setzen  ist,  sollten  wegen  ihrer 
großen  Seltenheit  mit  besonderer  Rücksicht  behandelt  und  ihnen  die 
traditionelle  Bezeichnung  ohne  schwerwiegende  Gründe,  bis  auf  weiteres, 
nicht  genommen  werden. 

Luca  Signorelli.  Kopf  eines  älteren  Mannes.  Kohlenzeichnung. 

1 5 V2  X 2 3 1 /s»,.  Berenson:  Pier  di  Cosimo. 

Berenson  schreibt  diese  Studie,  sowie  die  vortreffliche  Kopfstudie 
in  den  Uffizien,  Nr.  1850  seines  Katalogs,  welche  bisher  unbestritten 
Signorelli  attribuiert  waren,  Pier  di  Cosimo  zu.  Diese  neuen  Attributionen 
involvieren,  weil  es  sich  um  Meisterzeichnungen  handelt,  welche  die 
Qualitäten  des  resp.  Meisters,  des  Luca  Signorelli,  auf  das  ausgiebigste 
repräsentieren,  einen  Mangel  an  Unterscheidungsvermögen.  Die  Leben- 


Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 


125 


digkeit,  die  Natürlichkeit,  die  Frische,  die  Formauffassung  des  großen 
Cortonesen,  haben  wir  in  diesen  Köpfen  unmittelbar  vor  uns. 

»Queste  teste  traspirano  l’intensa  vitalitä  e spontaneitä  del  sommo 
artista«  urteilte  ein  bekannter  Italiener,  dem  ich  sie  zeigte.  Pier  di 
Cosimo  war  eine  Individualität  und  ein  bedeutender  Maler,  es  wird  ihn  aber 
niemand  zu  den  großen  Zeichnern  des  Quattrocento  rechnen.  Beide  Zeich- 
nungen in  der  gewöhnlichen  Technik  Signorellis  ausgeführt,  sind  in  allen 
Teilen  durch  Konfrontation  mit  dessen  Bildern  und  Fresken  zu  belegen. 

Auch  die  zwei  Köpfe  in  der  Corsiniana,  von  denen  er  einen  auf 
plate  82  produziert,  gibt  Berenson  dem  Piero  di  Cosimo.  Diese  Zeich- 
nungen waren  zuerst  Melozzo,  dann  Signorelli  und  sind  jetzt  B.  della  Gatta 
zugeschrieben;  es  war  Herrn  Berenson  Vorbehalten,  deren  florentinischen 
Ursprung  zu  entdecken,  woran  bisher  mit  Recht  noch  niemand  gedacht 
hatte.  Ebenso  gibt  Berenson  die  Kopfstudie  plate  83  dem  Piero  di 
Cosimo,  obgleich  Morelli  schon  nachgewiesen  hat,  daß  diese  Zeichnung 
von  Lorenzo  di  Credi  ist. 

Herr  Berenson,  der  den  Senator  Morelli  anscheinend  aufs  glühendste 
verehrt,  hat  demselben  in  seinem  Buch  ein  ganzes  Sündenregister  von 
falschen  Zeichnungsbestimmungen  mit  rührender  Sorgfalt  zusammengestellt. 

Mit  Unrecht  schreibt  Herr  Berenson  dem  Piero  di  Cosimo  fünf  Feder- 
zeichnungen zu,  es  sind  nach  seinem  Katalog: 

1859b  Studienblatt  im  British  Museum  Lorenzo  di  Credi  zuge- 
schrieben; 

1859a  Joachim  im  Tempel  in  Lille  D.  Ghirlandajo  zugeschrieben; 


Diese  fünf  Federzeichnungen  von  ein  und  derselben  Hand,  sind  von 
Lorenzo  di  Credi,  dem  das  Londoner  Blatt  immer  zugeschrieben  war. 

Die  Typen,  die  Kompositionsart  in  diesen  Blättern  ist  die  Lorenzos. 
Ausschlaggebend  sind  aber  die  architektonischen  Hintergründe,  die  nur 
bei  ihm  so  und  ähnlich,  wiederholt  Vorkommen,  aber  keineswegs  bei 
Piero  di  Cosimo  oder  Filippino.  Der  Hintergrund  ist  meistens  dreigeteilt, 
drei  Türen  oder  eine  Türe  zwischen  zwei  Fenstern,  darüber  runde  Ober- 
lichter. In  den  Bildern  in  London,  Paris,  Dresden,  eine  Nische  zwischen 
zwei  Fenstern,  gleich  groß,  oben  abgerundet. 

Andrea  del  Verrochio.  Zwei  Engelsköpfe.  16  X t.8.  Silberstiftzeich- 
nung. Berenson:  Verrochio-Schule. 

Was  Berenson  auf  den  Seiten  37  und  38  seines  Werkes  über  diese 
Zeichnungen  sagt,  scheint  mir  widersprechend  und  nicht  ganz  klar. 


1850a  Joachim  im  Tempel 

1851  Joachim  im  Tempel 

1852  Anbetung  der  Hirten 


den  Uffizien  Filippino  zuge- 
schrieben. 


12 6 A.  v.  Beckerath:  Über  einige  Zeichnungen  florentinischer  Maler  usw. 

Berenson  gibt  vollständig  zu,  daß  diese  Zeichnungen  in  engster  Verbin- 
dung stehen  mit  dem  schönen  Bilde  der  Nationalgallery  Nr.  276,  Ma- 
donna und  zwei  Engel,  von  dem  die  neuere  Kritik  annimmt,  daß  es 
unter  Beihülfe  von  Verrochio  entstanden  ist,  was  auch  Berensons  An- 
sicht ist. 

Er  sagt,  abgesehen  von  den  unvermeidlichen  Differenzen  zwischen 
einer  flüchtigen  Kohlenskizze  und  der  Ausführung  im  Bilde,  sind  die 
Engel  in  diesem  und  in  der  Zeichnung  identisch.  Das  Bild  ist  aber  von 
so  viel  besserer  Qualität  und  zeigt  einen  solchen  Fortschritt  im  Ausdruck, 
daß  wir  schließen  können,  daß  die  Zeichnungen  früher  gemacht  worden 
sind,  als  der  resp.  Maler  seine  Vollkraft  noch  nicht  erreicht  hatte. 

Was  hat  denn  nun  Verrochio  an  dem  Londoner  Bilde  gemacht, 
was  der  Gehülfe  ? warum  ist  der  Gehülfe  der  Autor  der  Zeichnungen, 
warum  ist  es  Verrochio  nicht?  Wem  anders,  als  Verrochio,  sind  die 
höhere  Qualität,  der  Fortschritt  im  Ausdruck,  die  Typen  in  diesem  Bilde 
zu  verdanken?  Wird  das  geleugnet,  warum  wäre  man  dann  auf  Verrochio 
gekommen?  Was  der  Gehülfe  »ohne  Verrochio«  leistet,  sehen  wir  an 
dem  Tobiasbilde  in  der  Nationalgallery,  welches  ja  neben  dem  Madonnen- 
bilde hängt.  Beim  Vergleich  der  beiden  Bilder  sagt  Berenson  »leave 
quality  out  of  consideration  and  they  almost  are  identical«. 

Die  Berliner  Zeichnungen  können  nicht  von  einem  unbekannten 
Gehülfen  sein,  in  Qualität  und  in  Originalität  sind  sie  durchaus  würdig 
als  echte  Zeichnungen  Verrochios  angesehen  zu  werden.  Durch  ihre 
Verbindung  mit  dem  vorzüglichen  Londoner  Bilde,  werden  sie  doppelt 
interessant,  sie  manifestieren  trotz  ihrer  Flüchtigkeit,  die  jugendliche 
Holdseligkeit  ebenso,  wie  sie  Verrochio  in  seinen  Bronzearbeiten,  dem 
Knaben  mit  dem  Fisch  und  dem  David,  wiedergegeben  hat. 

Die  viel  umstrittene  Zeichnung  eines  Engelkopfes  in  den  Uffizien 
wird  Verrochio  wohl  nicht  länger  zugeschrieben  werden  können.  Wahr- 
scheinlich ist  diese  Zeihnung  von  Botticini. 


Donato  Veneziano. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  venezianischen  Malerei. 

Von  Hans  Ankwicz. 

In  der  Gemäldegalerie  der  Akademie  der  bildenden  Künste  in  Wien 
befindet  sich  ein  großes  Ölgemälde,  die  Kreuzigung  Christi  darstellend, 
das  noch  im  letzten  Galeriekatalog1)  einem  Maler  des  venezianischen 
Quattrocento,  dem  Donato  Veneziano,  zugeschrieben  wurde.  Diese  Zu- 
schreibung2 3) erfolgte  auf  Grund  einer  Erwähnung  des  Bildes  bei  Boschini3), 
wo  es  folgendermaßen  beschrieben  ist:  »Isola  di  S.  Giorgio  in  Alga, 
Refettorio:  La  passione  di  Christo,  con  le  Marie,  soldatesche,  e molto 
numero  di  astanti,  quadro  grande,  £ opera  con  tutta  diligenza  fatta  da 
Donato  Veneziano.«  Daß  unser  Bild  mit  dem  von  Boschini  beschriebenen 
identisch  ist,  unterliegt  keinem  Zweifel,  da  man  die  Geschichte  des 
Gemäldes  bis  nach  S.  Giorgio  in  Alga  (einer  der  Laguneninseln  bei 
Venedig),  zurückverfolgen  kann.  Ungewiß  ist  es  dagegen,  ob  es  ursprüng- 
lich für  S.  Giorgio  gemalt  worden  sei.  Da  Boschini  im  selben  Werke 
noch  drei  andere  Bilder  des  Donato  Veneziano  verzeichnet,  von  denen 
das  eine  das  Datum  1459  trug,  so  war  es  naheliegend  auch  für  das 
Wiener  Bild  ungefähr  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  als  Entstehungszeit 
anzunehmen. 

Nun  ist  aber  die  Forschung  auf  Grund  stilkritischer  Untersuchung 
der  unter  dem  Namen  des  Donato  Veneziano  bekannten  Werke  zu  neuen 
Resultaten  über  diesen  Meister  gelangt,  und  so  wäre  es,  bevor  wir  näher 
auf  das  Wiener  Bild  eingehen,  vielleicht  am  Platze,  die  einschlägigen 
Fragen  zu  erörtern.  Eine  übersichtliche,  aber  nicht  ganz  vollständige 
Zusammenstellung  der  Werke  Donatos  findet  sich  bei  Crowe  und  Caval- 

1)  Katalog  der  Gemäldegalerie  der  k.  k.  Akademie  der  bildenden  Künste  in 
Wien.  Herausgegeben  von  J.  Dernjac  und  E.  Gerisch,  Wien  1900.  Unter  Nr.  90 
(Kreuzigung):  »Donato  Veneziano.  In  Bildern  aus  den  Jahren  1438 — 1460  nachweisbar; 
mutmaßlich  Gehilfe  des  Jacobello  del  Fiore.« 

*)  Das  Gemälde  selbst  trägt  weder  den  Malernamen  noch  das  Datum. 

3)  Boschini,  Rieche  Minere  della  pittura  Veneziana  2.  A.  1674,  Sestier  della 
Croce  S.  62. 


128 


Hans  Ankwicz: 


caselle4);  im  folgenden  gebe  ich  eine  Aufzählung,  die,  wenn  sie  auch 
vielleicht  keinen  Anspruch  auf  Vollständigkeit  erheben  kann,  doch  die 
Crowesche  Zusammenstellung,  sowie  die  übrigen  bisher  gebotenen,  noch 
um  einige  Werke  übertrifft.  Da  die  wenigsten  Gemälde  datiert  sind,  so 
konnte  eine  chronologische  Reihenfolge  nicht  durchaus  eingehalten  werden. 

1.  Taufe  Christi,  in  S.  Marina  im  Sestier  di  Castello,  Venedig.  1438 
entstanden,  gegenwärtig  nicht  mehr  nachweisbar.  5) 

2.  Madonna,  1452  für  die  Padri  in  S.  Elena  (Sestier  della  Croce, 
Venedig)  gemalt,  jetzt  verloren.4 5 6 7) 

3.  Der  Löwe  von  S.  Marco,  rechts  und  links  davon  der  hl.  Augustinus 
und  der  hl.  Hieronymus,  bezeichnet  mit:  »Donat.  Venetus  depi...a.. 
(1459);  auf  Leinwand  in  Tempera  gemalt,  zeigt  jetzt  Ölübermalung. 
Ursprünglich  für  die  Avogaria  bestimmt,  nach  der  Wiederherstellung  der 
Avogaria  wieder  am  alten  Platze. 7) 

4.  Die  Madonna  mit  dem  hl.  Jacob,  Hieronymus,  Victor  und 
Nicolaus.  1460  für  S.  Samuelle  in  Venedig  (Sestier  di  S.  Marco)  gemalt, 
nicht  mehr  auffindbar.8 9) 

5.  St.  Petrus  und  Nicolaus  als  Hüter  des  Wappens  der  Republik 
Venedig,  Leinwandgemälde;  früher  im  Magistrato  de’  Cattaveri,  dann  im 
Magazin  des  Dogenpalastes.  Dem  Stile  nach  ähnelt  es  den  Bildern 
Donatos,  ist  aber  durch  Übermalung  verändert.  Die  Jahreszahl  1504  von 
späterer  Hand  hinzugefügt.  9) 

4)  Crowe  und  Cavalcaselle,  Gesch.  der  italien.  Malerei,  1873,  V.  Bd.  S.  11,  12. 

5)  Erwähnt  bei  Sansovino,  Venezia  descritta  1581  S.  12a;  Crowe  und  Cavalcaselle 
1.  c. ; Frimmel,  Geschichte  der  Wiener  Gemäldesammlungen  IV  (Akademie). 

6)  Sansovino  1.  c.  S.  78a:  »Vi  dipinse  anco  nel  Refettorio  una  Madonna,  Donato 
Vinitiano,  che  fu  l’anno  1452«;  Ridolfi,  Maraviglie  dell’ arte  I,  49,  2.  A.  1835;  Crowe 
u.  Cavalcaselle  1.  c. 

7)  Boschini  1.  c. ; Sestier  di  S.  Marco  S.  50:  »sopra  il  Tribunale  un  Leone  alato 
di  Donato  Veneziano.«  Zanetti,  della  pittura  Veneziana,  Venezia  1771  S.  23;  Zanotto, 
Pinacotheca  Veneta,  1834,  Nr.  8;  Crowe  u.  Cavalc.  1.  c. ; Frimmel  1.  c. ; G.  Ludwig, 
Jahrbuch  d.  preuß.  Kunstsammlungen  24.  Bd.  Beiheft  S.  23 ff.  »Archivalische  Beiträge 
zur  Geschichte  der  Venezian.  Malerei.«  Die  Jahreszahl  1459,  die  jetzt  nicht  mehr 
sichtbar  ist,  bei  Ridolfi,  Maraviglie  dell’  arte  I,  49,  daselbst  auch  genaue  Beschreibung 
des  Bildes.  Zanetti  konnte  bereits  1771  die  Zahl  nicht  mehr  sehen. 

8)  Sansovino  1.  c.  S.  46  a:  »In  questo  luogo  Donato  Vinitiano  l’anno  1460.  dipinse 
una  nostra  Donna  nella  nicchia  di  mezzo,  un  San  Jacomo  & San  Hieronimo  nella 
nicchia  alla  destra,  & un  San  Vittorio  & San  Nicolö  con  la  Nuntiata  di  sopra  nel 
sinistro  . . .«;  Zanotto  1.  c.;  Crowe  u.  C.  1.  c. ; Frimmel  1.  c. 

9)  Crowe  u,  Cavalcaselle  1.  c. ; Zanetti  1.  c.  S.  23  (Anmerkung)  berichtet:  »Altri 
quadri  simili  a quello  (der  Löwe  v.  S.  Marco,  Nr.  3 unserer  Reihe)  si  veggono  in  alcuni 
Magistrati,  che  si  attribuiscono  ad  esso  Donato«.  Unter  diesen  »dem  Marcuslöwenbild 
ähnlichen«  Gemälden  mag  sich  wohl  auch  das  oben  erwähnte  Gemälde  mit  St.  Petrus 
und  Nicolaus  (Nr.  5)  befunden  haben. 


Donato  Veneziano. 


129 


6.  Stigmatisation  des  hl.  Franciscus,  früher  im  Refektorium  von 
S.  Niccolö  de’  Frari  (Sestier  di  S.  Polo)  in  Venedig,  verloren.10) 

7.  Hieronymus  in  der  Wüste,  auf  Holz,  in  der  Galerie  Manfrin  in 
Venedig;  roh  in  der  Ausführung  und  keinem  der  übrigen  Bilder  Donatos 
ähnlich.11) 

8.  Madonna  mit  dem  Christuskind,  hl.  Joseph  und  die  hl.  Katharina, 
in  der  Pinakothek  zu  Padua.12) 

9.  Kreuzigung.  Christus  am  Kreuz,  Maria,  Magdalena,  Johannes, 
Franz  v.  Assisi  und  Bernhard  v.  Siena,  aus  der  Kirche  S.  Niccolö  dei 
Frari  in  Venedig  (Sestier  di  S.  Polo),  jetzt  in  der  Akademie  zu  Venedig 
(Nr.  98).  i3) 

10.  Kreuzigung.  Christus  am  Kreuz  mit  den  beiden  Schächern, 
Maria,  Magdalena,  Johannes  ....  auf  Leinwand  in  Öl  gemalt,  aus 
dem  Kloster  S.  Giorgio  in  Alga  (Sestier  della  Croce)  bei  Venedig,  dann 
in  der  Commenda  di  Malta,  seit  1838  in  der  Akademiegalerie  in 
Wien,  ruhte  lange  Zeit  im  Magazin  der  Galerie, *  *4)  erst  in  neuerer  Zeit 
aufgestellt.  *5) 

11.  Pietä.  Der  Leichnam  Christi  von  Maria  und  Johannes  gestützt 
Leinwand,  Öl.  In  der  Akademie  zu  Venedig.  Ist  eine  Kopie  nach 
G.  Bellinis  Pietä  in  der  Berliner  Galerie  (Kaiser  Friedrichsmuseum, 
Kabinett  43  Nr.  28).16) 

,0)  Boschini  1.  c. ; Sestier  di  S.  Polo  S.  56.  S.  Niccolö  de’  Frari,  detta  della 
Latuca:  »Nell’  Antisala  del  Refettorio  San  Francesco,  che  riceve  le  Stimmate  pure  di 
Donato  Veneziano«.  Crowe  u.  Cavalcaselle  1.  c. 

")  Crowe  u.  Cavalcaselle  1.  c. 

n)  Basilio  Magni,  Storia  dell’  arte  Italiana,  Roma  1901,  II  250. 

>3)  Boschini  1.  c.  Sestier  di  S.  Polo,  Chiesa  S.  Niccolö  de’  Frari  S.  56:  »Nel 
Capitolo  de  detti  Padri,  una  Tavola,  con  nostro  Signore  in  Croce,  la  Beata  Vergine, 
Santa  Maria  Maddalena,  San  Giovanni,  San  Francesco,  San  Bernardino,  e un  bei  Paese, 
di  mano  di  Donato  Veneziano«;  Zanetti  1.  c.  S.  22;  Zanotto,  Pinacotheca  Veneta,  daselbst 
auch  Abbildung  (Nr.  8,  Tom.  I);  Zanotto,  Storia  della  Pittura  Veneziana  C.  II.  S.  70 
(Pinacoth.  Tom.  III);  Moschini,  Guida  di  Venezia  II  507;  Fil  de  Boni,  Biografia  degli 
artistici  1840;  Crowe  u.  Cavalcaselle  1.  c.;  Frimmel  1.  c.;  B.  Magni  1.  c. ; G.  Ludwig, 
Jahrb.  der  preuß.  Kunstsammlungen  24.  Bd.,  Beiheft  S.  23  ff. ; ebenderselbe  im  Jahrb. 
d.  Kunsts.  d.  allerh.  Kaiserh.  22.  Bd.  (1901),  II.  Teil,  XIV;  Katalog  der  Akademie  zu 
Venedig  von  Prof.  Paoletti,  1903  unter  Nr.  98. 

*4)  Daher  konnten  Crowe  u.  C.  1.  c.  das  Gemälde  für  verschollen  halten. 

>5)  Boschini  1.  c.  vgl.  Anm.  3;  Zanetti  1.  c.  S.  23;  Zanotto  1.  c.;  Victor  C^resole, 
La  v£rit6  sur  les  deprddations  autrichiennes  a Venise,  Venise  1867,  S.  96;  Frimmel  1.  c.; 
Demjac  u.  Gerisch,  Katalog  d.  Akademiegalerie,  Nr.  90;  G.  Ludwig,  Jahrbuch  der  Kunst- 
sammlungen des  allerhöchsten  Kaiserhauses  22.  Bd.,  II.  Teil:  Dokumente  über  Bilder- 
sendungen von  Venedig  nach  Wien  in  den  Jahren  1816  und  1838.  S.  XIV;  Jahrbuch  d. 
preuß.  Kunstsammlungen,  24.  Bd.,  Beiheft  S.  23  ff. 

l6)  Crowe  u.  C.  1.  c.  V.  Bd.  S.  11  u.  S.  146,  Anm.  17;  B.  Magni  1.  c. ; Frimmel  1.  c. 


130 


Hans  Ankwicz: 


12.  Pietä.  In  der  Galerie  zu  Padua.  Kopie  nach  dem  genannten 
Bilde  Giov.  Bellinis  in  Berlin.  Dicker  Farbenauftrag,  düstere  Schattierung.1?) 

13.  Pietä.  Im  Besitze  der  Frau  Baronin  Stummer -Tavarnok  in 
Wien.  Ebenfalls  Kopie  nach  der  Pietä  Bellinis  in  Berlin.18) 

Dies  also  sind  die  Werke,  die  den  Namen  Donato  Veneziano  tragen. 

Das  Beste  unter  den  uns  noch  erhaltenen  Bildern  dieser  Reihe  ist 
unstreitig  die  Kreuzigung  in  der  Akademie  zu  Venedig.  Als  Francesco 
Zanotto  in  den  dreißiger  Jahren  des  abgelaufenen  Jahrhunderts  in  seiner 
Pinacotheca  Veneta  eine  Abbildung  dieses  Gemäldes  veröffentlichte, 
unterzog  er  es  im  begleitenden  Text  einer  stilkritischen  Würdigung 
und  stellte  bei  dieser  Gelegenheit  alles  zusammen,  was  sich  in  der 
Literatur  über  Donato  Veneziano  finden  ließ.  Demzufolge  war  dieser 
als  Schüler  des  Jacobello  noch  ein  Vertreter  der  altertümlichen  Trecento- 
malerei.  Aber  diese  Angaben  stimmten  nicht  mit  dem  überein,  was  sich 
aus  dem  Bilde  selbst  über  den  Maler  ableiten  ließ.  Denn  diese  Kreuzi- 
gung mußte  ja,  nach  Zanottos  Urteil,  bereits  zu  Palmas  Zeiten  entstanden 
sein,  wenn  man  das  Kolorit  in  Betracht  zog.  Und  wie  kam  dieser  alte 
Donato,  fragte  Zanotto,  zu  einer  so  vorgeschrittenen  Öltechnik,  wie  sie 
das  genannte  Gemälde  aufweist?  Um  diese  Widersprüche  zu  lösen, 
schlug  er  vor,  einen  jüngeren  Donato  Veneziano,  der  bereits  der  Zeit 
Bellinis  angehört,  als  Maler  der  Kreuzigung  anzunehmen.  Die  spätere 
Forschung  hat  dann  dieser  Annahme  beigepflichtet.  Denn  indem  man 
die  einzelnen  Donatos  Namen  tragenden  Bilder  genauer  untersuchte  und 
miteinander  verglich,  fand  man,  daß  sie  nicht  alle  von  einer  Hand  her- 
rühren können,  da  sich  zu,  auffallende  Unterschiede  zwischen  den  ein- 
zelnen Werken  bemerkbar  machen. 

Während  z.  B.  das  als  Donato  Veneziano  sicher  beglaubigte  Bild 
von  1459  noch  steif  und  befangen  ist  und  deutlich  in  die  byzantini- 
sierenae  Richtung  des  Jacobello  weist,  zeugen  andere  Werke,  wie  die 
beiden  Kreuzigungen  in  Venedig  und  Wien,  bereits  von  einer  technischen 
Reife,  welche  die  Schule  des  Gian  Bellini  voraussetzt.  So  ist  denn, 
nach  dem  Vorgänge  Zanottos,  die  kunstgeschichtliche  Forschung  genötigt 
gewesen,  die  Werke  des  Donato  Veneziano  nach  zwei  zeitlich  verschiedenen 
Stilperioden  zu  scheiden  und,  wenn  man  schon  am  Namen  Donato  für 
die  Schöpfer  beider  Bilderkategorien  festhalten  wollte,  einen  älteren  und 
einen  jüngeren  Donato  anzunehmen.1 9) 

r7)  Crowe  u.  Cavalcaselle  1.  c. 

r®)  Theodor  v.  Frimmel:  Verzeichnis  der  Gemälde  im  Besitze  der  Baronin  Stummer 
Tavarnok  (Galerie  Winter),  Nr.  40.  Wien  1895. 

*9)  Nach  Naglers  Künstlerlexikon  3.  Bd.  S.  442  (München  1836)  wäre  noch  an 
einen  dritten  Donato  Veneziano  zu  denken,  der  um  1660  in  Venedig  gelebt  hätte. 


Donato  Veneziano. 


131 

D.er  ältere  Donato  gehört  noch  zu  den  Zöglingen  des  venezianischen 
Trecento,  steht  also  noch  im  Banne  der  byzantinischen  Traditionen;  in 
seinen  Werken  (soweit  sie  uns  erhalten  sind)  spricht  sich  noch  eine 
starke  Unfähigkeit  in  der  Behandlung  der  menschlichen  Gestalt  aus. 
Doch  läßt  sich  z.  B.  dem  Bilde  mit  dem  Markuslöwen  (nach  Crowe  u.  C.) 
ein  »Anflug  von  Großartigkeit«  nicht  absprechen. 

Die  Art  des  jüngeren  Donato  dagegen  ahmt,  wie  bereits  gesagt, 
die  koloristische  Manier  eines  Bellini  oder  Palma  Vecchio  nach.  Gustav 
Ludwig,  dem  wir  die  eingehendste  Charakteristik  dieses  jüngeren  Meisters 
verdanken,40)  leitet  ihn  seinem  Stile  nach  aus  der  Schule  des  Girolamo 
und  Francesco  da  Santa  Croce  her,  zu  deren  hervorstechendsten  Merk- 
malen es  gehört,  in  ihren  Bildern  Entlehnungen  aus  fremden,  besonders 
deutschen  Meistern  anzubringen.  So  weist  Ludwig  z.  B.  bei  der  Kreuzi- 
gung in  Venedig,  die  er  dem  jüngeren  Donato  Veneziano  zuschreibt, 
nach,  daß  der  Hintergrund  aus  Breydenbachs  Pilgerfahrt  nach  dem 
h.  Lande  (gedruckt:  Mainz  i486)  stamme,41)  daß  ferner  Entlehnungen  aus 
Bellini,  Bonifazio  und  Lucas  van  Leyden  in  dem  Werke  Vorkommen. 

Welche  der  angeführten  Werke  sind  nun  dem  älteren  Donato  zu- 
zuweisen und  welche  dem  jüngeren? 

Die  Teilung  würde  sich  ungefähr  in  folgender  Weise  durchführen 
lassen:  dem  älteren  Meister  kommt  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  das 
datierte  Bild  von  1459  (3)  und  das  denselben  Charakter  zeigende  Gemälde 
mit  dem  Wappen  der  Republik  und  den  zwei  Heiligen  (5)  zu;  über  die 
jetzt  verlorenen  Gemälde  (1,  2,  4,  6)  besitzen  wir  keine  näheren  An- 
gaben, welche  eine  sichere  Zuweisung  zuließen,  doch  mögen  sie,  da  uns 
bei  dreien  davon  das  Datum  überliefert  ist  (1:  1438,  2:  1452,  4:  1460), 
wenigstens  der  Entstehungszeit  nach  zu  schließen,  dem  älteren  Donato 
angehören;  bei  Nr.  6 (Stigmatisation  des  Franciscus)  entbehren  wir  auch 
dieses  Anhaltspunktes,  und  so  läßt  sich  über  dieses  Werk  kaum  etwas 
sagen.  Nr.  7 (Hieronymus  in  der  Wüste)  ist  nach  Crowes  Ansicht44) 
überhaupt  aus  der  Reihe  der  Donatobilder  auszuschalten,  da  es  weder 
mit  den  Werken  des  älteren  noch  des  jüngeren  Donato  irgendeine  Ver- 
wandtschaft aufweist.  Nr.  8 (Madonna  mit  Christuskind  etc.  in  Padua) 
würde,  wenn  man  aus  der  Beschreibung  bei  Magni43)  einen  Schluß  ziehen 
dürfte,  eher  dem  älteren  als  dem  jüngeren  Donato  zukommen.  Dagegen 
werden  die  beiden  Kreuzigungen  (Nr.  9 und  10)  bereits  mit  voller  Be- 

IO)  Im  Jahrbuch  der  kgl.  preuß.  Kunstsammlungen  an  der  erwähnten  Stelle,  vgl. 
Anm.  13  u.  15. 

ai)  Der  Hintergrund  (Jerusalem)  nach  der  Gesamtansicht  Jerusalems  beiBreydenbach. 

21)  Crowe  u.  Cavalcaselle  1.  c.  V.  Bd.  S.  1 1 unten. 

23)  B.  Magni,  Storia  dell’ arte  Italiana  1901. 


132 


Hans  Ankwicz: 


stimmtheit  für  den  jüngeren  Donato  in  Anspruch  genommen.  Die  drei 
Pietädarstellungen  schließlich  (n,  12,  13)  gehören  jedenfalls  der  jüngeren 
Periode  an,  wenn  es  auch  strittig  sein  mag,  ob  diese  drei  Kopien  wirk- 
lich alle  von  derselben  Hand  herrühren. 

Nun  noch  ein  Wort  über  die  Persönlichkeit  des  Donato  Veneziano 
des  Jüngeren.  Se  ien  Werken  nac.h24)  muß  er  in  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  tätig  gewesen  sein,  und  G.  Ludwig  hat  es  versucht,  ihn 
mit  einem  gewissen  Alvise  Donato  aus  Piazza  Brembana  im  Brembotal 
zu  identifizieren,  dessen  Name  in  der  Zeit  von  1528 — 15 50  in  den 
Akten  der  Republik  vorkommt.  Daß  er  der  Schule  der  Santa  Croce 
angehört  haben  dürfte,  wurde  bereits  erwähnt. 

Nach  diesen  Darlegungen,  die  »Donatofrage«  betreffend,  wollen 
wir  zum  eingangs  erwähnten  Wiener  Kreuzigungsgemälde  zurückkehren 
und  einige  bisher  unbekannte  Tatsachen  mitteil en,  welche  geeignet 
scheinen,  die  Kenntnis  des  Bildes  zu  erhöhen. 

Unser  Bild  ist  in  sehr  großen  Dimensionen  gehalten  (H.  4,  1 1 ; 
Br.  7,  66),  auf  Leinwand  mit  Ölfarben  gemalt.  In  der  Mitte  sehen  wir 
die  drei  Kreuze  aufgerichtet,  das  Kreuz  Christi  umklammert  Magdalena 
mit  leidenschaftlicher  Gebärde.  Unterhalb  der  Kreuze  die  gebräuchlichen 
Gruppen,  die  ohnmächtige  Maria  mit  Johannes  und  den  weinenden 
Frauen,  ferner  die  Gruppe  der  würfelnden  Soldaten,  eine  Anzahl  Reiter 
in  römischer,  türkischer  und  zeitgenössischer  Kleidung.  In  der  rechten 
und  linken  Ecke  weitere  Soldatengruppen;  unterhalb  des  rechten  Schächer- 
kreuzes ein  kleiner  Junge,  anscheinend  Christum  verspottend.  Im  Vorder- 
gründe rechts  liegt  ein  Löwe,  der  im  Verhältnis  zu  den  Figuren  des 
Bildes  viel  zu  klein  geraten  ist;  vorne  drei  weiße  Hasen,  zwei  be- 
schnuppern sich  gegenseitig,  der  dritte  schlüpft  eben  in  ein  Erdloch. 
Überall  im  Bilde  herrscht  ein  starker  Anachronismus:  so  hält  ein  Soldat 
eine  Fahne  mit  den  Buchstaben  S.  P.  Q.  R.  darauf  (übrigens  im  Spiegel- 
bild, also:  JI.  £).  H.  3.),  ein  anderer  aber  einen  Schild  mit  dem  Doppel- 
adler im  gelben  Feld.  Der  Hintergrund  zeigt  kulissenartig  rechts  und 
links  eine  Stadt  auf  einem  Berge,  in  der  Mitte  ist  eine  Stadt  mit  Kirche 
an  einem  Fluß  zu  sehen,  auf  dem  eine  venezianische  Gondel  ge- 
rudert wird. 

Die  Farbengebung  ist  recht  lebhaft  und  zeigt  in  den  Gewändern 
oft  den  Glanz,  der  nur  venezianischen  Gemälden  eigen  ist.  Der  Ein- 
druck des  Ganzen  ist  nicht  harmonisch.  Wiewohl  die  Komposition 
der  Landschaft  und  die  Disposition  der  Gruppen  ganz  geschickt  durch- 

»4)  Auf  dem  Kreuzigungsgemälde  in  Venedig  findet  sich  eine  Entlehnung  aus 
Bonifazios  »Nachtmahl  in  Emmaus«  (jetzt  in  der  Brera),  das  nach  G.  Ludwig  1534  zu 
datieren  ist. 


Donato  Veneziano. 


I33 


geführt  ist,  frappiert  den  Beschauer  doch  die  Ungleichmäßigkeit  in 
der  Gestaltung  der  einzelnen  Partien  des  Gemäldes.  Im  Vordergründe 
einige  recht  ausdrucksvolle  und  lebenswahre  Figuren,  andere  dagegen, 
besonders  im  Hintergründe  (die  den  'Berg  hinansprengenden  Reiter  etc.) 
zeugen  von  einem  ziemlich  mittelmäßig  zu  nennenden  Können.  Die  Er- 
klärung dieser  Erscheinung  aber  liegt,  wie  ich  gleich  zeigen  werde,  darin, 
daß  nicht  alle  Gestalten  des  Bildes  geistiges  Eigentum  Donatos  sind,  daß 
er  vielmehr  eine  ganze  Reihe  von  Figuren  und  Motiven,  und  zwar  gerade 
diejenigen,  die  uns  als  die  besten  erscheinen,  einem  anderen  und  größeren 
Meister  entlehnt  hat,  nämlich  Albrecht  Dürer. 

Als  ich  im  Herbste  1904  das  Bild  besichtigte,  fiel  mir  die  Ähn- 
lichkeit des  kleinen  Jungen  unterhalb  des  rechten  Schächers  mit  dem 
Jungen  auf  dem  Ecce  homo-Blatt  der  großen  Holzschnittpassion  Dürers 
auf.  Und  als  ich  das  nächste  Mal  mit  der  Dürerschen  Passion  in  der 
Hand  vor  das  Bild  trat,  entdeckte  ich,  daß  noch  eine  ganze  Anzahl  von 
Figuren  der  Dürerschen  Passion  entnommen  sind.  Freilich  ist  bei  Donato 
vieles  ins  Malerische  übersetzt,  die  Härten  der  Dürerschen  Zeichnung 
sind  verwischt,  der  krause  Dürersche  Faltenwurf  fehlt,  aber  sonst  ist  alles 
fast  vollkommen  getreu  kopiert  und  zwar  stets  im  Gegensinn  zu  Dürers 
Figuren;  wir  haben  also  deren  Spiegelbild  vor  uns. 

Von  der  rechten  Ecke  des  Bildes  ausgehend  ergeben  sich  folgende 
Entlehnungen : 

Der  schreitende  Soldat  rechts  im  Vordergrund  mit  der  Lanze  auf 
der  Schulter  stammt  aus  der  »Gefangennahme«  der  großen  Passion 
(Bartsch  7,  Retberg  177,  V.  Scherer,  Dürer 25)  Nr.  246),  nur  trägt  er 
bei  Dürer  ein  Beil  statt  einer  Lanze.  Der  erwähnte  spottende  Junge  ist 
eine  getreue  Kopie  des  Jungen  auf  dem  Ecce  homo-Blatt  der  gr.  Passion 
(B.  9,  Ret.  179,  Sch.  248).  In  der  Gruppe  der  ohnmächtigen  Maria 
rührt  die  Gestalt  der  Maria  selbst  aus  der  »Beweinung  Christi«  der  gr. 
Passion  (B.  12,  Ret.  182,  Sch.  251)  her,  die  Gestalt  des  Johannes  aus 
dem  Blatte  »Christus  am  Kreuz«  (B.  11,  Ret.  181,  Sch.  250),  die  weib- 
liche Gestalt,  die  Mariens  linke  Hand  in  der  ihrigen  hält,  aus  der  »Grab- 
legung« (B.  13,  Ret.  183,  Sch.  252).  Die  weinende  Frau,  die  sich  das 
Tuch  vor’s  Gesicht  hält,  erinnert  an  dasselbe  Motiv  in  der  »Kreuztra- 
gung«, ganz  links  (B.  10,  Ret.  180,  Sch  249)  oder  im  Blatte  »Christus 
am  Kreuz«  (B.  11,  Ret.  181,  Sch.  250).  Die  Magdalena,  die  das  Kreuz 
umklammert,  ist  ein  gewöhnliches  Motiv,  sodaß  man  nicht  gerade 
an  eine  Entlehnung  zu  denken  braucht.  Dagegen  begegnet  uns  der 


35)  Klassiker  der  Kunst  in  Gesamtausgaben  IV,  Dr.  Valent.  Scherer:  Dürer  (Ge- 
mälde, Stiche,  Holzschnitte). 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  IO 


134 


Hans  Ankwicz:  Donato  Veneziano. 


Reiter  in  ritterlicher  Kleidung,  dessen  Pferd  eine  rote  Kopfbedeckung 
trägt,  bis  auf  die  Haltung  des  rechten  Armes  im  Blatte  der  gr.  Passion 
»Christus  am  Kreuz«  (B.  n,  Ret.  181,  Sch.  250).  Die  Gruppe  der 
linken  Ecke  aber  mit  dem  dicken  alten  Mann2^)  und  dem  auf  seine 
Lanze  gestützten  Landsknecht  27)  ist  vollständig  dem  Ecce  homo-Blatt  der 
gr.  Passion  (B.  9,  Ret.  179,  Sch.  248)  entnommen.  Schließlich  glaube 
ich  noch  in  den  drei  Hasen  des  Vordergrundes  eine  Reminiszenz  an 
Dürers  Holzschnitt  »Die  hl.  Familie  mit  den  drei  Hasen«  (B.  102,  Ret.  26, 
Sch.  163)  erblicken  zu  dürfen;  es  ist  dieselbe  Anordnung:  zwei  spielende 
Häschen  und  ein  drittes,  das  eben  in  ein  Erdloch  schlüpfen  will. 

Aus  der  Benützung  der  Dürerschen  Holzschnittpassion  ergibt  sich 
ein  Anhaltspunkt  für  die  Datierung  des  Bildes.  Wenn  auch  nicht  ein 
bestimmtes  Datum,  so  doch  wenigstens  der  terminus  a quo:  nämlich 
15 11,  da  in  diesem  Jahre  die  erwähnte  Passion  gedruckt  wurde.  Unser 
Bild  muß  also  nach  1511  entstanden  sein. 

Donato  Venetiano  d.  J.  soll  aus  der  Schule  der  Santa  Croce  her- 
vorgegangen sein;  ein  Charakteristikum  derselben  aber  sind  die  Entleh- 
nungen aus  fremden  Meistern.  Was  wir  in  bezug  auf  das  Wiener  Bild 
Donatos  gefunden  haben,  scheint  also  die  Annahme  seiner  Zugehörigkeit 
zu  jener  Schule  zu  bekräftigen. 

l6)  Diese  Gestalt,  die  bei  Dürer  einen  Pharisäer  vorstellt,  hielt  Zanotto  1.  c.  für 
den  Maler  des  Bildes  selbst,  der  Galeriekatalog  von  Dernjac  u.  Gerisch  für  ein  Porträt. 

*7)  Damit  wird  die  Annahme  G.  Ludwigs  (Jahrb.  d.  preuß.  Kunstsammlg.  und 
Jahrb.  d.  Kunstsammlungen  d.  A.  H.  K.  1.  c.)  den  Landsknecht  betreffend  hinfällig. 
Ludwig  hält  ihn  nämlich  für  eine  Kopie  nach  dem  Dürerstich  »Die  3 Ritter«  (B.  88, 
Ret.  4,  Sch.  85). 


Peter  Strauss  (alias  Trünklein)  von  Nördlingen, 
der  Schnitzer  des  Peters-  und  Paulsaltars  in 
Kloster  Heilsbronn. 

Von  Albert  Gümbel. 

Von  den  überaus  zahlreichen  Altären,  mit  welchen  der  Kunstsinn 
der  Äbte  oder  fürstliche  Huld  die  Münsterkirche  des  Klosters  Heilsbronn, 
die  ehrwürdige  Begräbnisstätte  der  fränkischen  Hohenzollern,  der  Ahn- 
herren unseres  Kaiserhauses,  schmückten  — Stillfried1)  zählt  deren  nicht 
weniger  als  29  auf  — , haben  sich  nur  einige  wenige  bis  zur  Gegenwart 
erhalten,  unter  diesen  der  heute  an  der  östlichen  Abschlußwand  des  süd- 
lichen Seitenschiffes  der  Kirche  zur  Aufstellung  gelangte  St.  Peters-  und 
Paulsaltar,  errichtet  in  den  Jahren  1510 — 1518  von  dem  Abte  Sebald 
Bamberger.  Malerei  und  Schnitzkunst  haben  sich  zu  seinem  Schmucke 
vereinigt.  Die  beiden  feststehenden  Flügel,  sowie  die  Außenseiten  der 
zwei  beweglichen  Flügel  sind  bemalt2 3 4)  und  zeigen  Darstellungen  aus  dem 
Leben  der  beiden  Apostel  Petrus  und  Paulus,  dagegen  blieb  der  übrige 
Schmuck  des  Altares,  nämlich  die  Innenseiten  der  beiden  beweglichen 
Flügel,  Schrein  und  Reliquienschrein  der  Predella,  dem  Messer  des 
Schnitzers  Vorbehalten.  Da  es  sich  in  den  nachfolgenden  Mitteilungen 
ausschließlich  um  diese  Schnitzereien  handelt,  möge  zunächst  eine  nähere 
Beschreibung  gegeben  sein.  3) 

Den  durch  eine  Mittelsäule  und  Bogenöffnungen  in  zwei  Abteilungen 
gegliederten  Altarschrein  nehmen  die  Rundbilder  der  beiden  Apostel- 
fürsten, denen  der  Altar  gewidmet  war,  ein. 4)  Die  Schnitzereien  der 

>)  Stillfried,  Kloster  Heilsbronn.  Ein  Beitrag  zu  den  Hohenzollerischen  For- 
schungen. Berlin  1877. 

*)  Ebenso  die  Türchen  des  Predellaschreines.  Außen:  die  Verkündigung.  Innen: 
links  der  hl.  Otto,  rechts  der  Abt  Sebald  Bamberger. 

3)  Abbildung  des  Altares  bei  Stillfried  a.  a.  O.  Photographien  (20  : 25  cm)  sind 
entweder  durch  den  Photographen  Herbert  in  Rothenburg  a.  T.  oder  durch  Kirchner 
Beigel  in  Heilsbronn  zu  beziehen. 

4)  Höhe  der  beiden  Figuren  1,35  m.  Die  Altarflügel  sind  1,95  m hoch  und 
0,74  m breit. 


10 


136 


Albert  Gümbel: 


Innenseiten  der  beiden  beweglichen  Flügel  zeigen  links  oben  Petrus  im 
Gefängnis,  unten  dessen  Kreuzigung,  rechts  oben  Pauli  Enthauptung, 
unten  dessen  Bekehrung  vor  Damaskus;  das  Innere  des  Predellaschreines 
nimmt  eine  Darstellung  des  Fischzuges  Petri  ein,  in  dem  üppigen  Blätter- 
gerank und  Fialenschmuck  des  Aufsatzes  erscheinen  unter  Baldachinen 
die  Gestalten  des  Bischofs  Bernhard  in  der  Mitte,  des  Bischofs  Otto  von 
Bamberg  (?)  rechts  und  des  hl.  Benedikt  (?)  links. 

Über  den  Meister  dieser  Schnitzereien  besitzen  wir  bei  Stillfried 
und  Muck  eine  übereinstimmende,  aus  den  Rechnungsbüchern  des  Klosters, 
den  sog.  libri  computationum,  geschöpfte  Angabe,  welche  besagt,  daß 
ein  gewisser  »Petrus  pildsnitzer  in  Nordlingen«  im  J.  1510  für  die  Fer- 
tigung des  Altares  neben  dem  Schreiner  26  fl.  erhielt.  5)  Stillfried  macht 
keine  weitere  Anmerkung  über  die  Person  dieses  Schnitzers;  Muck  sagt:5 6) 
Dieser  [Bildschnitzer]  ist  vielleicht  der  auch  anderwärts  genannte  Bild- 
schnitzer Peter  von  Nürnberg,  ein  Zeitgenosse  des  Veit  Stoß.  Auf  wen 
sich  diese  Notiz  beziehen  soll,  ist  nicht  klar,  es  handelt  sich  zudem 
auch  nicht  um  einen  Nürnberger,  sondern  einen  Nördlinger  Bildschnitzer. 

Verfasser  glaubt  auf  Grund  der  nachfolgenden  Ausführungen  diesen 
Meister  des  Peters-  und  Paulsaltares  aufs  bestimmteste  identifizieren  zu 
dürfen  mit  einem  Bildhauer  oder  Bildschnitzer  Peter  Strauss  (auch 
Peter  Trünklein  genannt),  welcher  während  der  Jahre  1497  — 1522 
in  Nordlingen  erscheint  und  dessen  ganz  spezielle  Beziehungen  zu  Kloster 
Heilsbronn  noch  weiterhin  urkundlich  beglaubigt  sind. 


5)  Die  von  Stillfried  (a.  a.  O.  pag.  70,  Anm.  3)  wiedergegebenen  Rechnungsein- 
träge über  den  Altar  lauten:  Expensae  tabulae  altaris  beatorum  Petri  et  Pauli  anno 
domini  1510  in  die  Georgii  papae.  Scrinitori  Hans  Schmid  et  Petro  pildsnitzer  in 
Nordlingen  26  fl.  eisdem  pro  sumptibus  in  via  5 t[alenta],  seratori  pro  laboribus  6 t., 
pro  vectura  2 fl.,  6 t.  12  d[enarios],  item  2 t.  24  d.  für  leym  und  eysen  negelein, 
scrinitori  Johanni  Paldauff  4 fl.  pro  laboribus,  eidem  iterum  pro  laboribus  6 t.  6 d.  et 
duobus  filiis  propina  2 t.  3 d.,  dem  Jorg  Schlosser  2 t.  für  3 eysene  schrauben  zu  der  tafel. 
Summa  35  fl.  6 t.  9 d.  — 1518:  ad  incorporandam  coloribus  tabulam  Petri  et  Pauli  45  fl.; 
1519  imaginem  s.  Bernhardi  circa  altare  apostolorum  Petri  et  Pauli  zu  schneiden  und 
malen  9 fl.  1 ortt  (=  */4  fl.).  Daraus  geht  zunächst  hervor,  daß  der  Altar  nicht  an  Ort 
und  Stelle  in  Heilsbronn,  sondern  in  Nordlingen  entstand,  sonst  würde  sich  die  große 
Ausgabe  für  den  Transport  (pro  vectura)  kaum  erklären  lassen,  sodann  scheint  die  Be- 
malung der  Altarflügel  erst  1518  erfolgt  zu  sein.  Dieser  letztere  Umstand  ist  des- 
halb wichtig,  weil  er  die  Möglichkeit  offen  läßt,  daß  andere  als  Nördlinger  Maler  an 
den  Darstellungen  aus  dem  Leben  der  beiden  Apostelfürsten  beteiligt  sind.  Leider 
wird  kein  Name  genannt. 

6)  Geschichte  von  Kloster  Heilsbronn  von  der  Urzeit  bis  zur  Neuzeit.  Nörd- 
lingen  1879  1.  Bd.  pag.  226.  Muck  giebt  auch  noch  einige  weitere  interessante  De- 
tails über  die  Aufbringung  der  Kosten  des  Altars  und  über  dessen  Schicksale  (Restau- 
rierungen) in  neuerer  Zeit. 


Peter  Strauss  (alias  Trünklein)  von  Nördlingen,  usw. 


137 


Das  wichtigste  biographische  Material  über  diesen  Meister  liefern 
uns  die  heute  im  Nördlinger  Stadtarchiv  verwahrten  Steuerbücher  und 
Stadtrechnungen  der  alten  Reichsstadt  Nördlingen. 7) 

Hier  begegnet  uns  in  den  60  er  Jahren  des  15.  Jahrhunderts  ein 
Schneider  Hans  Trunk  oder  Trünklin,8)  dessen  Handwerk  ein  seit  1493 
in  den  Nördlinger  Steuerlisten  erscheinender  Caspar  Trünklin,  wohl 
sicherlich  ein  Sohn  des  ersteren,  fortsetzt.  Der  Name  unseres  Meisters 
erscheint  erstmals  im  Jahre  1497  und  zwar  auffallenderweise  in  doppelter 
bezw.  korrigierter  Form.  Er  wird  unter  den  Steuerzahlern,  welche  »die 
lange  Gassen  hinab«  wohnen,  als  »Peter  Strauss«  (ohne  Handwerks- 
bezeichnung) und  zwar  mit  einer  Steueranlage  von  7 ft>.  4 dn.  aufgeführt. 
Sodann  aber  ist  der  Name  »Strauss«  gestrichen  und  darüber  »Truncklin« 
gesetzt.  In  den  beiden  folgenden  Jahren  wird  der  Meister  als  »Peter 
Trunncklin,  pildhawer«  (1498)  und  »Peter  Truncklin,  pildhfawer]«  (1499) 
jeweils  mit  einem  Steuerfuß  von  1 fl.  vorgetragen.  Merkwürdigerweise 
taucht  aber  1500  wieder  der  Name  Peter  Strauß  auf,  und  zwar  genau 
an  der  gleichen  Stelle  der  Steuerlisten,  mit  der  gleichen  Nachbarschaft 
und  der  nämlichen  Anlage  wie  1498  und  1499,  so  daß  kdn  Zweifel  an 
der  Identität  entstehen  kann. 9)  Mit  dieser  Namensform  als  Peter  Strauss, 
anfangs  (bis  1508)  ohne  Handwerksbezeichnung,  dann  mit  dem  Zusatz 
»byldschnitzer«  (1509)  oder  »byldhawer«  (seit  1510)  läuft  er  nun  in  den 
Jahren  1500 — 1521  ununterbrochen  durch  die  Nördlinger  Steuerlisten. 

7)  Für  alle  mir  bei  Benützung  der  reichen  Schätze  des  Nördlinger  Stadtarchives 
gewordene  Förderung  spreche  ich  auch  an  dieser  Stelle  Herrn  Hofrat  Ch.  Mayer  meinen 
herzlichen  Dank  aus. 

8)  Diese  Namensform  scheint  auf  einen  schweizerischen  Ursprung  der  Familie  zu 
deuten,  wie  wir  denn  auch  später  ein  Glied  derselben  in  Bern  finden. 

9)  Ich  führe  zur  Vergleichung  die  Namen  der  Nachbarn  in  den  fraglichen 
Jahren  auf: 

1496  Hanns  Heldelein 
Lorentz  Kelhaimerin 
Lorentz  Schopper 
Stephan  Weyrer 
Hanns  Praun 

1497  Hanns  Heldelin 
Lorentz  Kelhametin 

Peter  Truncklin  (korrigiert  aus  Strauss) 

Lorentz  Schopper 
Hanns  Prawn 

1498  Hanns  Heldelein 
Lorentz  Kelhamerin 

Peter  Trunncklin  pildhawer 
Lorentz  Schopper 
Hans  Prawn 


Albert  Glimbel: 


138 

Auch  die  Nördlinger  Stadtrechnungen,  deren  Einträge  noch  zu  erwähnen 
sein  werden,  kennen  ausschließlich  die  Namensform  Peter  Strauss,  dagegen 
nennt  ihn  eine  gleichfalls  noch  zu  erwähnende  Urkunde  vom  Jahre  1507 
wiederum  »Petter  Trüncklein  Bildhawer  vnnd  burger  zu  Nördlingen«.  Be- 
merkenswerterweise taucht  dann  letztere  Bezeichnung  auch  in  den  Nörd- 
linger Steuerlisten  nach  seinem  Tode  bei  Nennung  seiner  Witwe  und 
Kinder  wieder  auf.  Einen  Anhaltspunkt  für  die  Erklärung  dieses  Wechsels 
in  der  Namensform  bietet  uns  ein  in  den  Nördlinger  Stadtrechnungen  unter 
den  Einnahmen  aus  der  Nachsteuer  erscheinender  Vortrag  vom  Jahre  1523, 
welcher  lautet:  Item  Caspar  Trinckli  gab  nachsteur  von  wegen  StefFan 
Straus  von  Bern,  seines  Stiefbruders,  von  aller  hab,  so  er  von  seiner 
Schwester,  der  Praunegkerin  ererbt  hat.  Fol.  130.  5 guld.  3 <ü>.  10  dn. 
Ein  ähnlicher  Eintrag  kommt  schon  im  Jahre  1508  vor:  Steffan  Strauss, 
ein  Byldhawer,  gab  nachsteur  von  aller  seiner  hab,  [die]  er  von  seinen 
vater  und  mutter  selig  ererbt  hat,  von  60  fl.  tut  6 fl.  actum  montag  post 
palm[arum].  Unzweifelhaft  war  der  hier  genannte  Bildhauer  Stephan 
Strauss,  der  seinen  Wohnsitz  dauernd  außerhalb  Nördlingens  gehabt  zu 
haben  scheint,10)  ein  leiblicher  Bruder  unseres  Bildhauers  Paul  Strauss 
und  dieser  somit  gleichfalls  ein  Stiefbruder  des  oben  von  uns  erwähnten 
Schneiders  Caspar  Truncklin. 

Die  Sachlage  war  wohl  diese,  daß  der,  wio  oben  gesagt,  in  den 
60  er  Jahren  des  15.  Jahrhunderts  in  den  Nördlinger  Steuerbüchern  vor- 

1499  Hanns  Heldelin 
Lorentz  Kelhamerin 

Peter  Truncklin  pildh[awer] 

Lorentz  Schopper 
Hanns  Prawn 

1500  Hanns  Heldelin 
Lorentz  Kelhamerin 
Peter  Strauss 
Lorentz  Schopper 
Hanns  Praun 

1501  Ebenso. 

Dazu  sei  bemerkt,  daß  einerseits  1498  kein  Peter  Strauss,  andererseits  1500  kein 
Peter  Trünklein  in  den  Steuerlisten  vorkommt.  Die  Nachbarn  von  1496  wurden  aus 
einem  gleich  zu  erörterndem  Grunde  aufgeführt. 

I0)  Dies  scheint  aus  der  zweimaligen  Leistung  der  Nachsteuer  in  den  Jahren  1508 
und  1523  hervorzugehen.  Bekanntlich  verstand  man  unter  letzterer  die  in  Prozenten  zu 
leistende  Abgabe  von  einem  durch  Erbschaft,  Heirat,  Wegzug  etc.  aus  dem  Lande  ge- 
henden und  damit  aus  der  Steuergewalt  eines  Gebietsherrn  ausscheidenden  Vermögens; 
sie  sollte  einen  Ersatz  für  den  drohenden  Verlust  an  Steuerkraft  darstellen.  Soweit 
übrigens  Verfasser  die  Sache  verfolgte,  ist  ihm  auch  ein  Bildhauer  Stephan  Strauss  in 
den  Nördlinger  Steuerlisten  nicht  begegnet.  Ebensowenig  kommt  etwa  ein  Stephan 
Trünklin  vor. 


Peter  Strauss  (alias  Trünklein)  von  Nördlingen,  usw.  139 

kommende  Hans  Trünklein  der  Vater  des  Schneiders  Caspar  Trünklein 
war  und  in  zweiter  Ehe  eine  Nördlinger  Witwe  namens  Strauss11)  ge- 
heiratet hatte,  welche  ihm  zwei  Söhne,  eben  unseren  Peter  und  den  wohl 
jüngeren  Stephan,  zubrachte.  Während  sodann  der  letztere  in  die  vermut- 
liche Heimat  der  Trünklinschen  Familie,  die  Schweiz,  übersiedelte,  blieb 
Peter  in  Nördlingen  und  wird  bald  nach  dem  Stiefvater,  in  dessen  Haus 
er  aufgewachsen  sein  mochte,  bald  nach  der  Mutter  genannt. 

Über  die  Werkstätte,  in  welcher  er  lernte,  wissen  wir  nichts,  wir 
müßten  denn  gerade  Wert  auf  den  allerdings  auffälligen  Umstand  legen, 
daß  unser  Meister  in  den  Steuerlisten  seit  1497  genau  an  der  Stelle, 
also  wohl  als  Besitznachfolger,  vorkommt,  an  welcher  in  den  Jahren  1495 
und  1496  der  verdienstvolle  letzte  Baumeister  der  1505  vollendeten 
St.  Georgskirche  in  Nördlingen,  Stephan  Weyrer,  erscheint.12)  Es  wäre 
also  denkbar,  daß  er  die  Ausbildung  für  eine  allerdings  urkundlich  nicht 
weiter  zu  belegende  Tätigkeit  als  Steinbildhauer.  — so  müßten  wir  dann 
wohl  das  »byldhawer«  der  Quellen  ergänzen  — jenem  Meister  verdankte 
und  nach  dessen  Übersiedlung  in  eine  andere  Wohnung  dessen  Werk- 
stätte übernahm.  J3)  Da  Weyrer  aber  erst  1495  nach  Nördlingen  kam, 
wir  auch  von  weiteren  Beziehungen  zwischen  beiden  nichts  hören,  dürfte 
es  sich  eher  um  einen  reinen  Besitzwechsel  am  Hause  und  den  Werk- 
räumen handeln.  Von  gleichzeitigen  Bildschnitzern  käme  als  sein 
Lehrmeister  etwa  jener  Schnitzer  Ludwig  Grönenbach  in  Betracht,  welchen 
die  Nördlinger  Steuerbücher  in  den  90  er  Jahren  anführen  (seit  1496  in 
unmittelbarer  Nähe  Friedrich  Herlins).  Über  seine  künstlerische  Tätig- 
keit in  Nördlingen  selbst,  sei  es  als  Steinbildner,  sei  es  als  Schnitzer, 
besitzen  wir  keine  weiteren  Angaben.  Die  Nachrichten,  welche  die 
Nördlinger  Stadtrechnungen  seit  1508  bis  1521  bieten,  betreffen  nur 
Untergeordnetes  wie  Bezug  von  Arbeitsmaterial  (Lindenholz),  Steuer- 
nachzahlung etc.1* *) 


")  Dieser  Name  erscheint  in  den  Nördlinger  Steuerbüchern  häufig. 

1 *)  Vgl.  Anmerk.  9.  Bezüglich  Stephan  Weyrers  siehe  die  Ausführungen  über 
die  Baugeschichte  der  St.  Georgskirche  bei  Mayer,  Christ.  Die  Stadt  Nördlingen,  ihr 
Leben  und  ihre  Kunst  im  Lichte  der  Vorzeit,  Nördlingen  1876,  nebenbei  bemerkt  wohl 
einer  unserer  gelungensten  deutschen  Städtegeschichten  voll  gewinnendsten  Zaubers  der 
Darstellung. 

*3)  In  Nördlingen  schreibt  man  Stephan  Weyrer  das  am  sog.  Neuen  Tanzhause 
gegenüber  dem  Rathause  befindliche  Steinbild  Kaiser  Maximilians  mit  der  darauf  be- 
findlichen Jahreszahl  15x3  zu,  was  die  Stadtrechnungen  zu  bestätigen  scheinen.  Stadt- 
rechn. v.  J.  1513,  pag.  50b,  Gemain  ußgeben:  Zalt  mayster  Steffan  von  dem  stainen 
kayser  an  dem  neuen  danntzhauß  zu  hawen  16  gülden). 

I4)  Diese  Einträge  seien  nachstehend  wiedergegeben: 

1508.  Gemain  einemen,  pag.  41b:  Peter  Strauss  gab  für  lindenholtz  ...  2 tt.  15  dn. 


140 


Albert  Gtimbel: 


Wichtiger  als  diese  letzteren  Notizen  scheint  eine  im  K.  Kreis- 
archive Nürnberg  befindliche  Urkunde  vom  15.  November  1507,15)  in 
welcher  sich  Peter  Trünklein  mit  dem  Abt  Sebald  Bamberger  und  dem 
Konvente  des  Klosters  Heilsbronn  über  die  zukünftige  Erhaltung  eines 
an  den  Garten  des  Bildschnitzers  grenzenden  Zaunes  beim  St.  Emmerams- 
kirchlein bei  Nördlingen  verträgt.  Bisher  hatte  das  Kloster  für  dessen 
Instandhaltung  gesorgt,  nunmehr  trat  es  dem  Meister  zwei  Schuh  Acker- 
landes ab,  wogegen  dieser  sich  zur  Bestreitung  aller  künftiger  Reparatur- 
kosten verpflichtet.  Eine  Verschreibung  ganz  desselben  Inhalts  hatte 
Caspar  Trünklein,  Schneider  und  Bürger  zu  Nördlingen,  schon  unter  dem 
8.  Februar  1507  ausgestellt.16)  Die  beiden  Stiefbrüder  besaßen  den 
Garten  also  gemeinsam.  Erstere  Urkunde  ist  deshalb  von  Wert,  weil 
sie  Zeugnis  für  anderweitige  zwischen  dem  Kloster  und  dem  Meister 
bestehende  Beziehungen  ablegt  und  es  damit  zur  Gewißheit  macht,  daß 
mit  jenem  1510  als  Schnitzer  des  Peter-  und  Paulsaltars  genannten  Peter 
von  Nördlingen  kein  anderer  gemeint  ist  als  eben  unser  Peter  Trünklein. 

Es  könnte  nun  auffallen,  daß  wir  gerade  einen  Nördlinger  Meister 
in  so  engen  persönlichen  und  künstlerischen  Beziehungen  zu  dem  örtlich 
so  entlegenen  fränkischen  Kloster  sehen,  doch  erklärt  sich  dies  aus  dem 
ganz  besonderen  Verhältnis,  in  welchem  Nördlingen  beziehungsweise  das 
dortige  Kirchenwesen  zu  dem  Kloster  Heilsbronn  stand.  Letzteres  besaß 
nämlich  seit  dem  Anfang  des  vierzehnten  Jahrhunderts  durch  Schenkung 
Kaiser  Heinrichs  VII.  das  Patronatsrecht  über  die  Nördlinger  Pfarrkirche  des 
hl.  Georg  mit  14  Kaplaneien,  ferner  erhob  sich  in  der  Stadt  der  sog.  Heils- 
bronner  Pfleghof  als  Mittelpunkt  für  die  Verwaltung  der  reichen  Einkünfte 
aus  der  Stadt  und  dem  Ries.  So  ergaben  sich  mannigfache  Beziehungen 
zwischen  der  dortigen  Bevölkerung  und  den  Heilsbronner  Mönchen,  zu- 
meist freilich  nicht  sehr  freundlicher  Natur,  da  dem  Nördlinger  Bürger- 
stolze das  fremde  Patronat  eine  dauernde  Quelle  des  Ärgernisses  war;  der 
Verlust  dieses  Rechtes  seitens  des  Klosters  (1523)  war  dann  auch  die 
erste  Folge  der  sich  in  der  Stadt  regenden  neuen  religiösen  Ideen. 

1509.  Gern,  ein.,  pag.  42  b:  Peter  Strauss,  byldschnitzer  gab  vmb  ain  Rynner(!) 
. . . 2 4t.  20  dn. 

1511.  Gern,  ein.,  pag.  45b:  Peter  Strauss,  byldschnitzer,  gab  für  ein  Karfol 
(=  Karrenvoll)  deckzewg  vnd  1 bret  ...  1 17  dn. 

1521.  Alt  einbracht  Schuld,  fol.  1:  Item  Peter  Strauss,  byldhawer,  gab  an  seiner 
schuld  laut  des  schuld  registers  anno  1520  am  18.  blat  ...  44t.. 

1521.  Gemain  einemen,  pag.  40b:  Peter  Strauss  gab  für  lynden  holtz  . . . 2 4L 

•5)  Urkunden  des  Klosters  Heilsbronn  Tit.  X:  Nördlingen,  Nr.  13  (XVII 
In  dorso:  Nr.  129  berurend  den  zaun  bey  sant  Heymrat  1507. 

,6)  Das  vollständige  Datum  lautet:  Geben  auff  Manntag  nach  sant  Doretheenn  tag 
der  hayligen  Jünckfrawenn  etc.  1507. 


Peter  Strauss  (alias  Trünklein)  von  Nördlingen,  usw.  141 

Der  Wortlaut  des  Vertrages  zwischen  unserem  Meister  Bildschnitzer 
und  dem  Kloster  nun  ist  folgender: 

Ich  Petter  Trünklein,  bildhauer  und  burger  zu  Nördlingen,  bekenn 
offenlich  für  mich  und  alle  mein  erben  und  thun  kunt  allermengclich 
mit  disem  brief:  nachdem  die  erwürdigen  und  gaistlichen  herren  herr 
Sebolt,  apt,  und  convent  des  gotzhaus  Haylssprung,  mein  genädig  herren, 
die  zau[n]statt  bei  Sant  Haymerant  auf  die  linken  hand,  so  man  zu 
S.  Haimrandtnkirchen  hinuf  geet,1?)  an  meinem  garten  an  irem  acker  da- 
selbst gelegen  und  anstoßend,  bisher  gemacht  und  zu  machen  schuldig 
gewest  sein,  also  und  so  mir  die  benannten  mein  genadig  herren  von 
Haylsprun  durch  herren  Bonifacium  Albleyn,  iren  hofhalter  hie  zu  Nörd- 
lingen, als  irem  volmächtigen  gewalthaber,  in  gegenwurtikait  und  ver- 
gunsten  der  erbern  weisen  Hannsen  Hollers,  des  rats,  Hannsen  Fridels, 
genant  Peuchelschmid,  Jacoben  Heinrichs  und  Liennharten  Toschen,  als 
feldmaister,  von  dem  obgenanten  irem  und  ires  gotzhauß  acker  bei 
zwaien  schuchen  felds  zu  dem  obgenanntem  meinem  garten  gegeben,  also 
hab  ich  in  dagegen  zu  ergetzlikait  versprochen  und  verhaißen  und  thun 
das  in  craft  ditz  briefs  dermaß,  das  ich  und  mein  erben  auch  künftig 
innhaber  gemeltes  meines  garten  die  gemelten  zau[n]stat,  so  die  beßerung 
und  machens  notturftig  sein  wurd,  nu  hiefüran  ewiglichen  beßern  und 
machen  und  sol  macht  haben  den  zaun  zu  dornen  oder  nit,  wie  es  mich 
gut  ansicht  auf  mein  aigen  costen  und  on  des  obgenannten  abts  und 
convents  und  irs  gotzhaus  auch  ires  hofhalters  alhie  zu  Nördlingen  und 
irer  nachkomen  zuthun  on  schaden,  des  alles  zu  warem  und  offem  ur- 
kunde hab  ich  mit  vlis  erpeten  die  ersamen  weisen  Paulßen  Ainküren 
und  Hansen  Röttinger,  baide  burger  und  des  alten  rats  zu  Nördlingen, 
das  die  ir  aigne  insigel,  doch  in  und  iren  erben  on  schaden  offenlich 
gehangen  haben  an  diesen  brief,  der  geben  ist  am  montag  nach  Sannt 
Martins  des  hailigen  bischofs  tage  (15.  November)  nach  Cristi  gepurt 
tausend  fünfhundert  und  in  dem  sibenden  jaren.  — Original,  Pergament 
mit  anhängenden,  gut  erhaltenen  Siegeln. 

Mit  dieser  Urkunde  und  den  Rechnungsnotizen  vom  Jahre  1510 
über  den  Peter-  und  Paulsaltar  erschöpfen  sich  die  Nachrichten,  welche  uns 
die  Heilsbronner  Archivalien  über  unseren  Meister  bieten.  Obwohl  noch 
bis  1522  tätig,  wird  er  in  den  Rechnungsbüchern  des  Klosters  nicht 


*7)  Gemeint  ist  das  St.  Emmeram  geweihte  Friedhofskirchlein  auf  einer  Anhöhe 
vor  dem  Bergerthor,  das  10  Jahre  nach  Ausstellung  der  Urkunde  durch  eine  Windhose 
zerstört,  dann  notdürftig  wieder  aufgebaut  wurde  und  im  30jährigen  Kriege  von  neuem 
seinen  Untergang  fand.  Das  schmucke  Kirchlein,  das  heute  den  einen  hübschen  Blick 
auf  das  Ries  bietenden  Friedhofshügel  ziert,  wurde  erst  in  neuerer  Zeit  wieder  erbaut. 
Mayer  a.  a.  O.  p.  68  ff. 


142 


Albert  Gttmbel : Peter  Strauss  (alias  TrUnklein)  usw. 


mehr  genannt.  Doch  schließt  das  nicht  aus,  daß  er  gleichwohl  auch 
nach  1510  für  dieses  tätig  war,  denn  bedauerlicherweise  bleiben  uns 
die  Heilbronner  Rechnungsaufzeichnungen  dieser  Zeit  die  Namen  der 
Maler  und  Schnitzer  durchgehends  schuldig;  daß  1510  unser  Peter  von 
Nördlingen  genannt  wird,  ist  eine  glückliche  Ausnahme.  Ich  möchte  vor 
allem  auf  die  Schnitzereien  des  heute  im  nördlichen  Chorschiffe  der  Heils- 
bronner  Kirche  aufgestellten  Ursulaaltares  hinweisen,  der  aus  dem  Jahre 
1513  stammt  und  seine  Entstehung  gleichfalls  dem  Abte  Sebald  Bam- 
berger  verdankt.18)  Auch  außerhalb  Heilsbronns  dürfte  eine  Umschau  in 
den  Kirchen  seiner  Vaterstadt  und  des  Rieses  noch  auf  manches  Werk 
seiner  Hand  führen. 

Verstorben  ist  Peter  Strauss  zu  Nördlingen  im  Jahre  1522.  Noch 
1521  finden  wir  ihn  in  den  dortigen  Stadtrechnungen  erwähnt,  die  Steuer- 
listen von  1522  dagegen  lassen  erkennen,  daß  er  in  diesem  Jahre  ge- 
storben ist.  Dabei  tritt  wieder  die  schon  eingangs  erwähnte  Namens- 
unsicherheit auf.  Er  wird  in  dem  letztgenannten  Jahre  aufgeführt  zu- 
nächst als  »Peter  Strauss,  byldhawer«,  dann  folgt  hinter  seinem  Namen 
eine  Notiz,  welche  auf  einen  anderen  Eintrag  weiter  unten  verweist.  Auf 
der  nächsten  Seite  findet  man  dann  beim  Buchstaben  T:  »Petter  Trinck- 
lins,  bildhawer,  witib«.  Die  Vormundschaft  über  die  hinterlassenen 
Kinder  des  Meisters  übernahm  der  Stiefbruder  Caspar  Trünklein,  sefne 
Ehefrau  finden  wir  schon  zwei  Jahre  nach  seinem  Tode  an  der  Seite 
eines  anderen  Mannes.  — 

Es  ist  sicherlich  kein  Künstler  ersten  Ranges,  den  wir  in  Peter 
Strauss  kennen  lernen  — am  glücklichsten  erscheint  er  noch  in  seinen 
Rundfiguren  — , gleichwohl  dürfte  es  für  die  Geschichte  der  schwäbischen 
Schnitzerschule  nicht  ganz  ohne  Interesse  sein,  das  Wirken  dieses  Meisters 
nunmehr  zeitlich  und  örtlich  schärfer  umgrenzen  zu  können. 

l8)  Abbildung  bei  Stillfried,  a.  a.  O.,  Photographien  bei  den  in  Änm.  2 an- 
gegebenen Bezugsquellen.  Über  die  Malereien  dieses  Altares  vgl.  Thode,  Die  Maler- 
schule von  Nürnberg,  pag.  216.  Thode  bezeichnet  diese  Schnitzereien  als  sehr  klein- 
lich und  im  Gegensatz  stehend  zu  den  »einer  gewissen  Großartigkeit  nicht  entbehrenden« 
Malereien. 


Notiz  zu  Lorenzo  di  Credi. 


E.  Jacobsen  spricht  in  seinem  belehrenden  und  reichhaltigen  Auf- 
sätze: die  Handzeichnungen  der  Uffizien  usw.,  Repert.  XXVII  S.  428, 
von  der  Zeichnung  mit  dem  Jesuskind  des  Lorenzo  di  Credi  und  meint, 
es  sei  noch  nicht  bemerkt  worden,  daß  dieses  Blatt  mit  dem  sog.  Leo- 
nardo der  Münchener  Pinakothek  übereinstimme.  Ich  habe  jedoch 
schon  in  meinem  Artikel  der  Zeitschr.  f.  bildende  Kunst,  Neue  Folge, 
Jahrg.  1893,  S.  140,  141,  dies  Verhältnis  erwähnt.  Bei  der  Beurteilung 
des  Münchener  Bildes  darf  man  nie  vergessen,  daß  es  in  üblem  Zu- 
stande, schmutzbedeckt,  mit  herausgebrochenen  Stellen  usw.  war  und 
demgemäß  stark  restauriert  werden  mußte.  Die  Zeichnung  mit  dem 
Kind  hatte  ich  Mai  1891  in  Florenz  durch  Alinari  auf  meine  Kosten 
photographieren  lassen.  Ich  muß  hierbei  noch  bemerken,  daß  ich 
das  Gemälde  schon  beim  Ankäufe  1889  für  einen  Credi  hielt  und  nicht 
etwa  durch  die  Zeichnung  erst  dazu  veranlaßt  worden  war.  Die  Be- 
kanntschaft mit  derselben  diente  mir  bloß  zur  Bekräftigung  meiner  An- 
sicht. Vergl.  auch  Zeitschr.  f.  b.  K.,  Neue  Folge,  Jahrg.  XV,  1904;  Kunst- 
chronik, Sp.  403. 


Wilhelm  Schmidt. 


Albert  van  Ou water? 


Aus  dem  Jahre  1690  stammt  ein  Inventar  der  vor  der  Westseite 
des  Domes  in  Glogau  sich  erhebenden  Kapelle  zu  St.  Anna  (capella  S. 
crucis  et  S.  Annae),  das  von  dem  Kanonikus  der  Kollegiate  zu  Glogau, 
Daniel  Thalwentzel,  damals  Propst  zu  St.  Anna,  angelegt  ist.  In  dem 
sehr  ausführlichen  Inventar  erregt  eine  Notiz  besondere  Aufmerksamkeit. 

Nachdem  unter  Imagines,  quae  sunt  extra  Altaria.  Sculptae.  eine 
Anzahl  von  Plastiken  aufgezählt  sind,  folgt  unter  Pictae:  Auf  Holz 

Depositio  Christi  Dni  de  Cruce  . . . (unausgefüllt)  eien  hoch,  so  von 
dem  weldberimbten  Mahler  Albert  Anno  1476.  gemahlt  worden,  und 
von  alters  aufn  großen  Altar  gestanden.  Christi  Dni  in  monte  oliveti, 
capti,  flagellati  et  coronati  auf  2 Tafifeln,  so  vorzeiten  die  Flügel  ge- 
wesen des  großen  Altars,  und  von  einem  Mahler  zu  einer  Zeit  gemahlt 
worden.  Christi  Resurgentis  auf  3 Taffein,  so  auf  einem  Lateral-Altar 
gestanden  usw.1) 

Also  eine  Kreuzabnahme  von  einem  »weltberühmten«  Maler  Albert, 
datiert  1476.  Es  steht  jedem  frei,  in  dieser  Weltberühmtheit  eine 
wackere  schlesische  Lokalgröße2)  zu  sehen,  deren  Ruf  sich  bis  1690 
herunter  gerettet  hat.  Nimmt  man  dagegen  die  Notiz  so,  wie  sie  sich 
gibt,  so  darf  man  vielleicht  daran  erinnern,  daß  es  um  die  genannte 
Zeit  wirklich  einen  derartigen  Maler  Albert  gab,  — van  Ouwater,  dessen 
einzig  sicheres  Werk  die  Auferweckung  des  Lazarus  in  Berlin  ist. 

Von  Ouwaters  Leben  wissen  wir  urkundlich  aus  einer  Notiz  der 
Kirchenbücher  von  St.  Bavo  nur,  daß  1467  für  seine  Tochter  Anna  ein 
Grab  in  der  Kirche  geöffnet  und  die  Salvatorglocke  geläutet  wurde. 
(Van  der  Willigen:  Les  artistes  de  Harlem  p.  49.)  Nach  van  Mander 


J)  S.  Knötel:  die  Kapelle  zum  hl.  Kreuz  und  zu  St.  Anna  in  Gr.-Glogau  und 
drei  Inventare  derselben.  Schlesiens  Vorzeit  in  Bild  und  Schrift.  Bd.  IV.  (1888)  S. 
629  h Vgl.  Lutsch,  Kunstdenkmäler  Schlesiens  Bd.  III,  S.  31. 

a)  Von  Breslauer  Malern  kämen  etwa  dafür  in  Betracht  Olbricht  hazenspruug, 
moler,  (1484)  und  Albrecht  Weiszeler,  ein  maller  (1493)  (Schultz,  Urk.  Gesch.  der 
Breslauer  Maler-Innung  S.  78,  80).  Sonst  kommt  der  Name  in  der  ganzen  Zeit  in 
Breslau  nicht  vor. 


Karl  Simon:  Albert  van  Ouwater? 


M5 


reich te.Ouwaters  Tätigkeit  noch  in  die  Zeit  Jan  van  Eycks  hinein.  Schon 
Hymans  weist  darauf  hin,  daß  die  Art  seiner  Berechnung  auf  schwachen 
Füßen  steht.  Jedenfalls  steht  nichts  der  Annahme  im  Wege,  daß  Albert 
bedeutend  jünger  als  Jan  van  Eyck  gewesen  ist.  In  keinem  Falle  ist  es 
unmöglich  anzunehmen,  daß  er  um  1476  ein  größeres  Altarwerk  ge- 
schaffen habe.  Wie  alt  die  Tochter  war,  die  1467  gestorben  ist,  wissen 
wir  nicht,  doch  scheint  es  — den  gewöhnlichen  Lauf  der  Dinge  an- 
genommen — , daß  sie  unverheiratet  war,  was  wiederum  möglicher- 
weise anzunehmen  gestattet,  daß  sie  in  jüngerem  Alter  gestanden  hat. 
Andererseits  läßt  die,  wie  es  scheint,  größere  Begräbnisfeierlichkeit  nicht 
an  ein  Kind  denken.  Nehmen  wir  ihr  Alter  als  etwa  zwanzigjährig  an, 
so  würden  wir  die  Geburt  des  Vaters  etwa  um  1420  ansetzen  können. 
Freilich  sind  das  nur  Vermutungen  ohne  sichern  Halt.  Entsprächen  sie 
ungefähr  den  Tatsachen,  so  würde  ein  Altarwerk  um  1476  durchaus  noch 
in  Alberts  rüstiges  Mannesalter  fallen,  während  man  bei  Bodes  Chrono- 
logie (Albert  Schüler  von  Jan  van  Eyck  während  dessen  Aufenthalt  im 
Haag  1424  — 1426)  diese  Möglichkeit  schon  weniger  gut  diskutierbar 
finden  wird,  trotzdem  sie  durchaus  nicht  ausgeschlossen  ist. 

Bedenken  wird  zunächst  auch  der  Umstand  einflößen,  daß  ein  um- 
fangreiches Altarbild  in  den  Niederlanden  bestellt  oder  wenigstens  von 
dort  nach  Glogau  geschafft  sein  solle.  Indessen  bestanden  doch  sehr 
rege  Handelsbeziehungen  zwischen  Schlesien  und  den  Niederlanden,  aus 
denen  besonders  feinere  Tuche  und  Seidenstoffe  bezogen  wurden.  (Grtin- 
hagen:  Geschichte  Schlesiens  I.  S.  401.)  Auch  sonst  scheinen  nähere 
Beziehungen  gewöhnlich  gewesen  zu  sein.  So  hatte  ein  gewisser  Joachim 
Girnth  in  Holland  die  Schleierweberei  erlernt,  die  er  um  1470  in  Hirsch- 
berg einführte  (Grünhagen  a.  O.  I.  399).  Für  den  Transport  auch  größerer 
Altarwerke  über  weite  Strecken  liegen  ja  genügend  Beispiele  vor. 

Sehen  wir  uns  die  Notiz  nun  noch  ein  wenig  genauer  an.  Es  ist 
also  eine  Kreuzabnahme  von  Holz,  die  auf  dem  großen  Altar,  also  dem 
Ha\ptaltar,  gestanden  hat.  Daß  sie  das  Hauptbild  gewesen  ist,  erhellt 
auch  noch  aus  dem  Titel  der  Kirche  S.  Crucis.  Auch  dieser  Stoff  als 
Hauptbild  würde  durchaus  gut  auf  die  Niederlande  als  Entstehungsart 
passen.  In  Deutschland  ist  die  Darstellung  früher  nicht  häufig.  Abge- 
sehen von  dem  Kölner  Klarenaltar  und  dem  Flügel  des  Bamberger  Altars 
von  1429  (München,  Nationalmuseum)  wird  sie  in  der  großen  Kunst 
häufiger  erst  nach  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts. 

In  der  altniederländischen  Malerei  hat  Roger  van  der  Weyden 
Epoche  für  die  Kreuzabnahme  bez.  Beweinung  gemacht,  mit  der  er  auf 
Deutschland  aufs  stärkste  einwirkte.  Eine  lange  Reihe  von  Darstellungen 
der  Kreuzabnahme  bez.  Beweinung  kennzeichnet  die  niederländische 


146 


Kar]  Simon:  Albert  van  Ouwater? 


Malerei  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts.  Rogier  und  seine  Schule, 
Memling,  Goes,  Petrus  Cristus;  nicht  zu  vergessen  Geertgen  tot.  St.  Jans, 
Ouwaters  Schüler,  mit  seiner  Wiener  Kreuzabnahme!  Gerade  dies  Thema 
würde  also  gut  für  ein  Bild  niederländischer  Provenienz  sprechen.  Für 
Deutschland  scheint  eine  Kreuzabnahme  als  Mittelbild  ungewöhnlich 
zu  sein. 

Auf  den  Flügeln  befanden  sich  der  Ölberg,  die  Gefangennahme, 
Geißelung  und  Dornenkrönung.  Wie  die  Anordnung  war,  ist  mit  Sicher- 
heit kaum  zu  sagen;  doch  scheint  der  Wortlaut  darauf  hinzudeuten, 
daß  es  zwei  Tafeln  mit  je  zwei  Szenen  übereinander  waren.  Auch  das 
kommt  ja  gerade  in  den  Niederlanden  und  am  Niederrhein  häufiger 
vor  (Bouts,  P.  Cristus;  Köln:  Aldenhoven  Taf.  5,  Schule  Meister  Wilhelms 
ebda  Taf.  16,  Darmstädter  Altar  Meister  Wilhelms;  allerdings  auch  beim 
Breslauer  Barbara-Altar  von  1447). 

Die  Quelle  für  Thalwentzel  ist  wohl  ein  älteres  Inventar  gewesen, 
dem  er  die  Nachricht  über  den  Maler  entnommen  hat.  Es  will  schon 
viel  sagen,  daß  nicht  bei  Albrecht  der  Name  Dürer  ergänzt  worden  ist. 

Die  ganze  Vermutung  hängt  freilich  in  der  Luft,  und  auch  wenn 
die  Notiz  mit  Sicherheit  auf  Ouwater  bezogen  werden  könnte,  fehlte  uns 
immer  noch  das  Werk  selbst.  Über  die  späteren  Schicksale  der  inneren 
Ausstattung  der  Kapelle  hat  sich  leider  nicht  das  Geringste  ermitteln 
lassen.  Einen  großen  Brand  (1488)  hat  das  Werk  überdauert;  auch 
nachdem  die  Kapelle  als  Stall  gedient  und  es  von  seinem  Platz  ent- 
fernt worden  war  (1656),  war  es  also  1690  noch  erhalten.  Von  da  ab 
verschwindet  jede  Spur.  Vielleicht  ist  es  doch  möglich,  sie  eines  Tages 
wieder  aufzunehmen.  Karl  Simon. 


A Note  on  Dürer. 


About  the  middle  of  his  visit  to  the  Netherlands,  probably  in 
January,  1521,  Dürer  obtained  a supply  of  purple-tinted  paper,  or  toned 
it  for  himself.  Perhaps  the  first  drawing  he  made  on  it  was  a study  of 
the  man  who  was  ninety-three  years  old,  and  who  may  be  the  model 
referred  to  in  the  diary  as  having  been  paid  3 st.  for  sitting  about  the 
1 1 th  of  January.  On  other  sheets  of  the  same  paper  he  made  more 
studies  for  the  St.  Jerome  picture,  which  he  presented  in  the  month  of 
March  to  Roderigo  of  Portugal  (three  drawings  in  the  Albertina).  On 
the  same  paper  he  drew  the  Berlin  portrait  of  a gentleman  (L.  66),  the 
British  Museum  portrait  of  a monk  (L.  289),  the  Bremen  head  of  a 
youth  (L.  127),  and  perhaps  the  two  weeping  cherubs  at  Berlin  (L.  446) 
and  the  Louvre  (L.  325). 

The  same  paper,  if  I mistake  not,  was  used  for  the  drapery-study 
at  Berlin  (L.  67)  and  certainly  for  the  study  of  a draped  female  figure 
seen  from  behind  (at  the  Albertina),  which  is  identical  in  style  with  the 
Jerome  studies.  It  seems  that  Dürer  acquired  about  this  time  a piece 
of  stufif  which  feil  into  folds  of  a kind  that  pleased  him.  He  took  it 
home  with  him  to  Nürnberg  and  made  much  use  of  it  in  his  Studio  in 
after  years.  The  purple  paper  was  used  for  Dürers  portrait  drawing  of 
his  wife,  »when  they  had  been  married  twenty-seven  years«.  This  did 
not  happen  tili  July  7 th,  1521.  On  that  day  Dürer  and  his  party  were 
stopping  at  Brussels  on  their  way  home,  so  that  the  drawing  was  prob- 
ably done  there,  as  a wedding- day  memorial.  It  could  hardly  have 
been  done  after  the  party  left  Brussels  on  their  way  home. 

Arrived  home  in  or  about  August,  1521,  Dürer  set  to  work  to 
design  a great  picture  of  the  Virgin  and  Child  surrounded  by  Saints 
and  angels.  This  proposed  picture  occupied  his  mind  and  was  not  aban- 
doned  tili  some  time  in  1522,  probably  early  in  the  year.  The  Chantilly 
drawing  (L.  343)  seems  to  have  been  the  first  idea.  It  was  supplanted 
by  the  Louvre  drawing  (L.  324),  and  that  by  the  Bonnat  drawing  (L.  364). 
Mr.  Heseltine’s  cherubs  (L.  170)  represent  a stage  of  the  idea  for  the 
foreground.  The  work  progressed  so  far  that  models  were  called  in, 
from  one  of  whom  the  Berlin  (L.  65)  and  Louvre  (L.  326)  female  busts 
were  drawn.  The  same  model  sat  for  the  profile  study  in  the  Louvre 
(L.  327)  and  Herr  Ludwig  Lorenz  seems  quite  justified  in  associating 
it  with  the  1522  design  for  this  same  picture.  The  crossed  hands  on 


148 


Conway:  A Note  on  Dürer. 


the  same  sheet  of  paper  appear  to  be  intended  to  rest  on  the  top  of 
a walking-stick.  Such  hands,  beheld  from  another  poirit  of  view,  are 
found  in  the  1521  design,  bul  they  may  have  been  intended  to  be  used 
for  the  tall-hatted  saint  on  the  right  in  the  1522  design. 

The  Ambrosiana  head  (Dürer  Society,  vii.  9)  was  done  at  this  time, 
and  so  was  Mr.  Heseltine’s  cherub  (L.  171)  which  is  a full-size  study 
for  the  Standing  piping  cherub  in  the  above-mentioned  pen-and-ink  sketch 
(L.  171)  in  the  same  collection.*) 

The  1521  design  (L.  364)  shows  that  Dürer  intended  to  introduce 
into  his  picture,  as  a saint’s  head,  the  portrait  of  the  monk  above 
referred  to  as  drawn  in  the  Netherlands  on  the  purple  paper.  This  head 
seems  to  have  impressed  itself  upon  his  mind.  He  was  probably  thinking 
0f  it  _ not  of  the  old  Hellerbild  drawing,  als  Thausing  suggested  (Vol. 
II.  p.  276)  — when  he  drew  a design  for  a Temptation  of  St.  Anthony 
in  1521  (Albertina).  The  female  figure  in  that  drawing  was  certainly  a 
Suggestion  from  the  antique  and  has  no  connection  with  the  very  doubtful 
silver-point  drawing  (L.  92)  in  the  British  Museum.  St.  Antony’s  head  is 
but  slightly  indicated,  the  purpose  of  the  drawing  being  the  study  of  the 
drapery.  In  this  respect.  it  groups  naturally  with  the  Reading  Virgin  in  the 
Albertina  and  the  Holy  Women  (L.  381)  in  the  Robert-Dumesnil  Collection. 

Four  drapery  studies  pure  and  simple  belong  to  this  date  and  were 
all  done,  no  doubt,  in  rapid  succession,  the  same  piece  of  stuff  being 
used  for  them  all  and  for  the  other  drapery  studies  of  this  period.  The 
four  in  question  are  at  Berlin  (L.  54),  Hamburg  (L.  161),  Bremen  (L.  128) 
and  in  the  Blasius  Collection  (L.  154).  It  is  clear  that  they  are  connected 
with  the  design  of  the  great  picture,  from  the  occurrence  in  some  of 
them  of  steps  of  the  same  kind  as  were  to  be  introduced  these  beneath 
the  throne.  In  the  earliest  of  them  the  steps  are  replaced  by  broken 
ground  such  as  the  Heseltine  cherubs  also  (L.  170)  stand  or  sit  on. 

The  proposed  shape  of  the  picture  was  changed  early  in  1522, 
being  now  made  an  upright  instead  of  a horizontal  oblong.  This  involved 
a rearrangement  of  the  figures  and  the  omission  of  many,  as  we  see 
in  the  successive  designs  in  the  Bonnat  collection  (L.  362  and  363). 
The  two  angels  which  were  at  the  extreme  right  and  left  in  the  original 
Chantilly  design  (L.  343),  were  now  brought  together  into  the  midst  of 
the  foreground.  It  was  for  the  picture  in  this  stage,  as  already  stated, 
that  the  Louvre  head  (L.  327)  and  perhaps  the  crossed  hands  were  drawn. 

Conway. 

*)  The  hydrocephalous  Dresden  baby  heads  (L.  84,  85)  may  have  been  connected 
with  this  altar-piece,  but  they  more  closely  resemble  de  Ufffzi  Madonna  of  1526.  I 
cannot  believe  them  to  be  of  date  1518. 


Ein  kunstgewerblicher  Entwurf  Altdorfers. 

Im  Kupferstichkabinett  der  alten  Pinakothek  zu  München  befindet 
sich  die  Federzeichnurfg  eines  gotischen  Pokals  mit  der  Darstellung  des 
Sündenfalles.  (Abgebildet  auf  Tafel  14 1 der  Schmidtschen  Publikation 
von  Handzeichnungen  des  Münchener  Kabinetts  als  »Altdeutsche  Schule 
gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts«).  Ich  glaube  in  diesem  Blatte  einen 
Entwurf  Altdorfers  zu  erkennen;  für  seine  Urheberschaft  sprechen  zu- 
nächst die  flott  skizzierende  Behandlung  und  die  kecke,  etwas  ober- 
flächliche Wiedergabe  des  nackten  Körpers,  sodann  das  Profil  Evas  mit 
der  stark  gewölbten  Stirn  und  dem  halb  geöffneten  Mund,  wofür  die 
weibliche  Gestalt  auf  dem  Satyrbilde  in  Berlin  zu  vergleichen  ist,  ferner 
das  Antlitz  Adams  mit  der  scharf  vorspringenden  Nase  und  dem  strähnig 
behandelten  Haar.  Der  den  Pokal  bekrönende  Ritter  findet  seines- 
gleichen in  zahlreichen  Reitergestalten  des  Gemäldes  der  Schlacht  von 
Arbela.  Mit  den  radierten  Pokalen  des  Meisters  teilt  der  zeichnerische 
Entwurf  die  schlanke  Form  und  die  unperspektivische  Auffassung,  die 
mangelhafte  Körperlichkeit  und  den  stark  bewegten  Umriß.  Einen  Ritter 
als  Bekrönung  zeigt  überdies  das  Gefäß  B 83.  Da  aber  der  Pokal  der 
Federzeichnung  noch  in  rein  gotischen  Formen  gehalten  ist,  muß  das 
Blatt  früher  entstanden  sein  als  die  radierten  Entwürfe,  welche  nach 
Friedländer  in  die  dreißiger  Jahre  des  16.  Jahrhunderts  fallen.  Wiederum 
deuten  die  verhältnismäßig  richtigen  Proportionen  des  nackten  Körpers 
darauf  hin,  daß  die  Zeit  der  Berliner  Satyrfamilie  schon  weit  zurückliegt. 
So  wird  man  diesen  Entwurf,  der  die  radierten  Pokale  an  origineller 
Erfindung  übertrifft,  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  in  die  Jahre  1515 
bis  1525  verlegen  dürfen. 

Ludwig  Lorenz. 


1 1 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIIL 


Notizen  zu  Rembrandts  Radierungen, 

In  der  letzten  Zeit  bin  ich  amtlich  beauftragt  worden,  einen  Katalog 
der  im  Print  Room  des  British  Museum  befindlichen  Radierungen  Rem- 
brandts zusammenzustellen.  Im  vorliegenden  Artikel  werde  ich  versuchen, 
ein  paar  kleine  Notizen  über  Datierung,  Zustände  usw.,  welche  zum 
größten  Teil  dieser  Arbeit  ihren  Ursprung  verdanken,  niederzuschreiben. 
Wenn  meine  Meinung  nicht  immer  die  richtige  ist,  wird  sie  doch  hoffent- 
lich auf  Schwierigkeiten  hindeuten,  die  andere  besser  imstande  sein 
werden  zu  lösen. 

Was  die  Unterscheidung  der  Zustände  betrifft,  so  kann  man  gewiß 
nie  hoffen  auf  ganz  sicherem  Grund  zu  stehen,  obgleich  ein  monumen- 
tales Werk  wie  Rovinskis  mit  seinem  Atlas  viel  dazu  beigetragen  hat: 
trotzdem  aber  hört  man  mit  Recht  nicht  auf,  einer  gewissen  Vollkommen- 
heit immer  näher  zu  streben.  Immerhin  sind  diese  Bestrebungen  nur 
dann  ganz  gerechtfertigt,  wenn  sie  so  weit  wie  möglich  alles  unwesent- 
liche fortlassen  und  das  wesentliche  auf  die  einfachste  Weise  betonen, 
was  das  besondere  Verdienst  von  Herrn  v.  Seidlitz  ist.  Die  Unsicherheit 
der  chronologischen  Ordnung  — der  ich  im  obengenannten  Werk  im 
Anschluß  an  Herrn  Colvins  Ausstellungs-Katalog  von  1899  gefolgt  bin 
— werde  ich  auch  nicht  verleugnen.  Ist  es  aber  hier  verständiger,  wie 
im  vorigen  Fall,  die  praktischen  Ergebnisse  der  Forschung,  soweit  sie 
bisher  fortgeschritten  ist,  aufzugeben,  weil  man  gewiß  nie  zur  voll- 
kommenen Sicherheit  gelangen  kann,  und  dadurch  dem  rationellen 
Studium  der  Entwickelung  eines  Meisters  gewissermaßen  im  Weg  zu 
stehen  ? 

Wenn  ich  mir  erlaube,  in  meinen  Bemerkungen  dann  und  wann 
auf  kleine  Fehler  in  den  besten  Katalogen  aufmerksam  zu  machen,  halte 
ich  das  für  die  leichteste  Aufgabe  eines  Ikonographen,  aber  immerhin 
für  diejenige,  wodurch  der  Leser  eines  wissenschaftlichen  Buches  dem 
Verfasser  seine  Dankbarkeit  am  besten  erweisen  kann. 

Der  barmherzige  Samariter  (B.  90).  Blanc  ist  verantwortlich  für 
den  Bericht,  den  Rovinski  und  Seidlitz  bedauerlicherweise  wiederholen, 
daß  auf  einem  Abdrucke  seines  2.  Zustandes  (S.  I.)  in  Amsterdam  Rem- 


A.  M.  Hind:  Notizen  zu  Rembrandts  Radierungen.  i^i 

brandt  f.  cum  privil.  1632  von  der  Hand  des  Meisters  geschrieben  sei. 
Die  Inschrift  steht  aber  auf  einem  Abdruck  seines  3.  Zustandes  (S.  II. 
der  Schweif  schattiert),  und  rührt,  glaube  ich,  obschon  wohl  von  einem 
Zeitgenossen,  nicht  von  Rembrandt  selbst  her.  Das  Datum  ist  auch 
nicht  163:2,  sondern  1633  wie  später  radiert  worden  ist. 

Der  Goldschmied  (B.  123).  Middleton  hat  als  erster  das  Datum 
1655  bemerkt.  Der  Katalog  der  Burlington-Ausstellung  las  dagegen 
1651  und  Seidlitz  schließt  sich  dieser  letzteren  Meinung  an.  Vielleicht 
aber  hat  er  nur  ziemlich  schwarze  Abdrucke  notiert,  denn  auf  einem 
abgenutzten  im  British  Museum  ist  1655  deutlich  zu  lesen.  Auch  im 
Stil  steht  diese  Komposition  den  vier  Darstellungen  für  ein  spanisches 
Buch  von  demselben  Jahre  am  nächsten. 

Der  Stier  (B.  253).  Das  Datum  ist  bisher  als  164  — gelesen 
worden.  Middleton  und  Seidlitz  sind  geneigt,  die  Radierung  so  spät  wie 
möglich  in  den  vierziger  Jahren  zu  setzen.  Ich  schlage  vor,  daß  man 
die  letzte  Ziffer  eher  5 als  4 lesen  dürfte.  Die  Behandlung  der  Bäume 
kommt  auch  wohl  näher  den  badenden  Männern  (von  1651)  und 
dem  Jan  Antonides  van  der  Linden. 

Titus  van  Ryn  (B.  11).  Wenn  die  Hypothese,  wie  ich  glaube, 
über  Titus  richtig  ist,  kann  dieses  Porträt  kaum  schon  im  Jahre  1652  — 
wie  Middleton,  Rovinski  und  Seidlitz  angeben  — entstanden  sein.  Man 
vergleiche  bloß  das  Gemälde  bei  Herrn  R.  Kann  in  Paris  (1655  datiert): 
— ich  will  das  gleichzeitige  Gemälde  von  Earl  Crawford  nicht  anführen, 
da  dieses  wahrscheinlich  der  Phantasie  des  Künstlers  seine  Abweichungen 
verdankt.  Die  Radierung  kann  unmöglich  drei  Jahre  früher  sein  als  das 
Pariser  Bild;  sie  könnte  sogar  etwas  nach  1655  gemacht  worden  sein. 

Die  zwei  kleinen  Löwenjagden  (B.  115,  116).  Die  kleine 
Löwenjagd  (mit  zwei  Löwen)  B.  115  stimmt  in  der  freien  Behandlung 
der  Landschaft  im  Hintergrund  und  in  einigen  Figuren  (z.  B.  dem 
reitenden  Bogenspanner)  mit  der  großen  Jagd  von  1641  so  nahe  überein, 
daß  sie  fast  sicher  — wie  Seidlitz  meint  — derselben  Zeit  angehört. 
Die  rohe  Wirkung  des  Vordergrundes  scheint  auch  den  Zweck  zu  haben, 
die  Spuren  früherer  Arbeit  auf  der  nicht  vollkommen  gereinigten  Platte 
besser  zu  verbergen.  Zu  B.  116  möchte  ich  mich  dagegen  der  Meinung 
von  Dr.  H.  de  Groot  anreihen,  der  diese  kräftige,  ja  fast  rohe  Manier 
des  Ätzens  mit  dem  großen  Selbstbildnis  (B.  338)  und  mit  dem  Petrus 
und  Johannes  (B.  95)  in  Verbindung  bringt.  Die  Gruppe  in  B.  116 
steht  den  Mittelfiguren  auf  dem  Münchener  Bilde  von  Rubens  nicht 
ferne;  sie  steht  auch  im  Gegensinne  dem  Stich  von  S.  a.  Boiswert  nahe, 
den  Rembrandt  möglicherweise  als  das  unmittelbare  Vorbild  für  die 
Radierung  benutzt  hat. 


i52 


A.  M.  Hind: 


Selbstbildnis  mit  gesträubtem  Haar  (B.  8).  Rovinski  gibt 
in  seinem  Atlas  Nr.  37  einen  Abdruck  des  British  Museum  als  den 
4.  Zustand  wieder.  Seine  Beschreibung  dieses  Zustandes  (»die  Schatten 
verstärkt«)  scheint  Seidlitz  auch  angenommen  zu  haben.  Ich  muß  da- 
gegen die  Reihenfolge  Middletons  aufrechthalten.  Auf  R IV  (Brit.  Mus.) 
sind  weniger  Vertikalstriche  im  Haar  (über  der  Nase)  wie  in  R III  zu 
bemerken.  Obschon  R IV  eine  starke  Überarbeitung  (auf  Mund  und 
Nase)  zeigt,  ist  die  Form  der  Nase  noch  wie  im  2.  Zustande,  und  auf 
R III  sind  noch  einige  Horizontalstriche  auf  dem  unteren  Teil  der  Nase 
hinzugefügt,  was,  wie  ich  meine,  diesen  zu  einem  späteren  Zustande  als 
R IV  macht. 

Selbstbildnis  im  Oval  (B.  12).  Die  Unterscheidung  der  Zu- 
stände scheint  mir  nicht  genügend  begründet.  Vielleicht  ist  die  Platte 
nie  verkürzt  worden.  Das  Exemplar  im  British  Museum  (welches  Rovinski 
als  II  angibt)  könnte  sowohl  wie  das  im  Amsterdamer  Kabinett  (M  II) 
ein  beschnittener  Abdruck  sein. 

Selbstbildnis  zeichnend  (B.  22).  Ich  möchte  hier  vorschlagen, 
daß  man  den  Zustand  S IV,  B III,  M V,  R VII  fortlasse,  da  die  Be- 
schreibung nur  von  abgenutzten  Abdrucken  von  S V abhängig  zu  sein 
scheint.  Auf  einem  Abdruck  im  British  Museum,  der  als  M V gilt,  und 
sicher  mit  R IX  übereinstimmt,  sind  alle  die  in  S V,  R VIII  (Atlas  85) 
zugefügten  Schraffierungen  (d.h.  starke  Horizontalstriche  auf  dem  Kleid  usw.) 
zu  bemerken,  obgleich  diese  sehr  schwach  im  Druck  sind  (z.  B.  kommt 
die  Falte  in  der  Mitte  des  Einbandes  des  Buches,  welche  die  neuen 
Linien  in  S V zuerst  verborgen  hatten,  wiederum  klar  durch).  Auf  dem 
obengenannten  Abdrucke  im  British  Museum  ist  auch  der  Umriß  der 
rechten  Backe  etwas  überarbeitet  (siehe  kleine  Vertikalstriche  im 
Hintergrund  in  dessen  Nähe),  so  daß  wir  wenigstens  in  diesem  Falle 
einen  späteren  Abdruck  als  S V vor  uns  haben. 

Rem  br  an  dt  lachend  (B.  316).  Das  British  Museum  besitzt  einen 
Abdruck  (M  I),  der  zu  einer  weiteren  Unterscheidung  der  Zustände  auf- 
fordert. Der  Umriß  der  Schärpe  ist  noch  nicht  vollständig  ausgefüllt 
worden,  sondern  noch  unter  der  Schulter  unterbrochen;  eine  der  Horizontal- 
linien auf  der  Büste  (dicht  bei  dem  unteren  Rande)  ist  noch  wie  in 
R I,  und  reicht  noch  nicht  bis  zur  rechten  Seite  der  Platte  (R  II). 
Dieser  Abdruck  kommt  also  zwischen  R I und  II. 

Auch  zu  einem  anderen  Bildnis  des  Künstlers  — von  J.  G.  v.  Vliet 
B.  19  — möchte  ich  hier  eine  Bemerkung  hinzufügen.  Es  ist  nach 
dem  Kasseler  Gemälde  (Bode  II)  und  nicht  nach  dem  Bilde  in  Gotha 
(wie  sicher  aus  Versehen  in  Bodes  Katalog  angegeben  ist).  Das  letztere 
bietet  aber  das  Vorbild  zu  B.  332,  einer  Radierung,  die  ich  Jan  Lievens 


Notizen  zu  Rembrandts  Radierungen. 


153 


zuschreiben  möchte  (man  bemerke  z.  B.  die  Schraffierung  im  Hintergrund 
und  auf  dem  Kleid).  Demselben  Künstler  gehört  auch  wahrscheinlich 
die  alte  Frau  mit  um  das  Kinn  geschlungenem  Kopftu ch(B. 358). 

Zu  einer  anderen  Radierung  der  Schule  Rembrandts  (B.  297  Mann 
mit  struppigem  Bart  und  wirrem  Haar)  werde  ich  nur  bemerken, 
daß  der  angebliche  erst  seit  Middleton  verzeichnete  1.  Zustand  (vor  der 
Bezeichnung),  in  Cambridge  nicht  zu  finden  ist. 

Alte  Bettlerin  (B.  170).  Von  den  vielen  als  R I geltenden  Ab- 
drucken mit  dem  Grat,  die  ich  gesehen  habe  (R.  Atlas  482),  scheinen 
alle  (mit  Ausnahme  der  mit  der  kalten  Nadel  zugefügten  Striche)  ziemlich 
abgenützt  zu  sein.  Ich  bin  geneigt  den  reinen  Ätzdruck  (R  II  Atlas  483) 
für  den  1.  Zustand  zu  halten. 

Nackte  Frau  auf  einem  Erdhügel  (B.  198).  Die  von  Rovinski 
eingeführte  Spaltung  der  Zustände,  hat  Seidlitz  mit  Freude  aufgenommen. 
Nur  sind  die  Zustände  von  Beiden  umgekehrt  ange- 
geben! Ich  sah  nämlich  viele  Abdrücke  von  RI,  die 
ganz  abgenutzt  aussahen.  Da  ich  auf  allen  verspüren 
konnte,  wo  die  in  R II  »zugefügten«  Linien  aus- 
geschliffen  worden  waren,  mußte  ich  eine  falsch  an- 
gegebene Reihenfolge  vermuten.  Man  bemerke  nur  die 
Horizontalstriche  auf  der  Schulter  in  R I,  welche  in 
R II  noch  nicht  da  sind;  es  wird  jedermann  sicher  zu- 
geben, daß  der  1.  Zustand  der  mit  der  Schraffierung 
auf  dem  linken  Oberschenkel  ist,  die  im  2.  abge- 
wischt wird.  Wegen  dieser  Frage  hatten  Herr  Prof. 

Dr.  H.  W.  Singer  in  Dresden  und  Mons.  Frangois  Courboin  in  Paris 
die  Güte  an  mich  zu  schreiben,  daß  sie  von  diesem  Irrtum  auch  über- 
zeugt seien. 

Der  Kahn  unter  den  Bäumen  (B.  231).  Wir  besitzen  im 
British  Museum  einen  Abdruck,  der  große  Schwierigkeiten  bietet.  Bisher 
ist  er  (auch  yon  Rovinski  selbst)  als  Rov.  II  angenommen  worden.  Man 
findet  im  Schatten  hinter  dem  Kahn  Vertikalstriche,  von  denen  man 
keine  Spuren  in  R I— III  (nach  seinem  Atlas)  bemerken  kann.  Ist  dieser 
Abdruck  vielleicht  eine  spätere  Überarbeitung  von  R III? 

Der  Engel  vor  der  Familie  des  Tobias  verschwindend 
(B.  43).  Obschon  die  Merkmale  der  Spaltung  der  Zustände  I und  II 
(wie  sie  bei  Rovinski  und  zuerst  — aber  in  umgekehrter  Weise  — von 
de  Claussin  angegeben  wird)  bloß  auf  Verschiedenheiten  des  Druckes 
begründet  sind,  sind  dennoch  einige  regelmäßige  Parallelstriche  an  dem 
oberen  Rande  links  zu  bemerken,  welche  die  von  Middleton  und  Seidlitz 
nicht  angenommene  Spaltung  sicher  bestätigen. 


R.R. 


*54 


A.  M.  Hind: 


Die  große  Auferweckung  des  Lazarus  (B.  73).  Die  Stellung 
von  Rovinskis  9.  Zustand  (Atlas  230)  erscheint  mir  fraglich.  Eigentlich 
dürfte  dieser  Abdruck  früher  als  Rovinski  VIII  sein,  da  er  die  regel- 
mäßige Überarbeitung  an  Brust  und  Ärmel  der  Frau  mit  den  aus- 
gebreiteten Armen  noch  nicht  zeigt.  Im  allgemeinen  glaube  ich  auch, 
daß  für  die  hiesigen  Zustände  die  weiße  Stelle  unter  dem  Taschentuche 
der  Frau  keine  genügende  Grundlage  für  die  Spaltungen,  d.  h.  vor  der 
Überarbeitung  von  Basan  (R.  Atlas  237)  bietet.  Und  wenn  die 
Schraffierung  auf  den  Gesichtern  der  beiden  kleinen  Köpfe  hinter  dem 
entsetzten  Manne  in  R VI  ganz  weggeschliffen  sein  soll,  dann  glaube 
ich,  daß  zwischen  R VII  und  VIII  noch  ein  Zustand  zu  setzen  ist,  wo 
diese  Köpfe  aufs  neue  schraffiert  sind  — nicht  wie  in  R IX,  sondern 
mit  feinen  Vertikalstrichen  auf  dem  Manne  links. 

Es  ist  bemerkenswert,  daß  dasselbe  Modell,  wie  hier  für  den 
Lazarus,  in  der  Kreuzabnahme  in  Petersburg  (von  1634,  Bode  Nr.  126) 
zur  Maria  benutzt  ist.  Auch  im  Vordergrund  desselben  Bildes 
kommt  fast  dieselbe  Figur  (aber  gegenseitig),  wie  die  im  5.  Zustand  der 
Radierung  zugefügte,  vor.  Während  ich  glaube,  daß  die  Radierung 
schon  um  1631  — 32  entstanden  ist  (wie  Bode  und  de  Groot:  vgl.  Bild 
in  der  Yerkes  Sammlung,  Bode  45,  und  Zeichnung  von  1630  im  British 
Museum)  könnte  diese  Änderung  doch  wohl  erst  1634  gemacht  worden, 
und  vom  Bilde  abhängig  sein. 

Nach  denkend  er  Mann  bei  Kerzenlicht  (B.  148)  (Rembrandt- 
Schule).  Im  British  Museum  sind  drei  Abdrucke,  alle  wahrscheinlich 
von  demselben  Zustande  (wie  in  Seidlitz  II  mit  verbreiteter  Mütze,  jetzt 
19  mm),  welche  Middleton  als  I,  II  und  III  beschrieben  hat.  Wir 
haben  noch  einen  weiteren  Zustand  worauf  die  kleine  Flamme  einen 
klareren  Umriss  erhalten  hat,  und  das  Gesicht,  die  Hände  usw.  stark 
überarbeitet  sind.  Fs  scheint  mir  also  letzterer  Abdruck  sicher  einen 
3.  Zustand  zu  bedingen.  Wenn  ein  Zustand  mit  spitzer  Flamme  und 
noch  nicht  verbreiteter  Mütze  (wie  in  R V,  B II  angegeben  ist.  Dutuit?) 
überhaupt  existiert,  muß  man  vielleicht  noch  einen  4.  hinzufügen. 

De  Claussin  hat  gewiß  einige  schöne  Kopien  der  Radierungen 
Rembrandts  gemacht,  doch  verdient  er  nicht  den  Platz,  den  ihm  Rovinski 
in  seinem  Atlas  Nr.  412  zugeteilt  hat.  Diese  Reproduktion  der  »Petite 
Figure  Polonaise«  (B.  142)  ist,  wie  Rovinski  angibt,  nach  dem 
Berliner  Abdruck  aufgenommen  worden.  Hoffentlich  verhält  es  sich  hier 
nicht  anders  wie  bei  B.  362  (Lesende  Frau  mit  Brille)  und  der  von 
Rovinski  (Atlas  943)  publizierten  Reproduktion  derselben,  die  in  seinem 
Katalog  als  der  Londoner  Abdruck  gilt,  aber  tatsächlich  nur  eine  recht 
schlechte  Kopie  ist.  Wenn  man  von  dieser  Reproduktion  ein  Urteil  zu 


Notizen  zu  Rembrandts  Radierungen. 


155 


fällen  wagt,  ist  natürlich  nichts  dagegen  einzuwenden:  ich  glaube,  daß 
Blanc  auch  von  derselben  Kopie  seine  Illustration  gefertigt  hat,  obgleich 
in  diesem  Falle  die  Radierung  durch  den  Stecher  im  Gegensinn  repro- 
duziert ist.  Der  Londoner  Abdruck  ist  dagegen  so  feinsinnig  gedacht, 
mit  solcher  meisterlichen  Naturtreue  ausgeführt,  daß  ich  nicht  weiß,  wem 
man  diese  Studie  zuschreiben  könnte,  wenn  nicht  dem  Meister  selbst. 
(Die  Autotype  Company  hat  eine  Reproduktion  unseres  Abdrucks  ge- 
macht, die  neuerdings  auch  in  dem  von  Herrn  Dodgson  herausgegebenen 
Werke  erschienen  ist.  Der  Abdruck  in  Amsterdam  stimmt  mit  diesem 
überein.) 

Noch  eine  angezweifelte  Radierung  (den  Schlittschuhläufer 
B.  156)  sollte  man  m.  E.  keinem  minderen  Künstler  als  Rembrandt  zu- 
teilen.  Man  vergleiche  nur  den  »Tod  dem  Liebespaar  erscheinend« 
(B.  109)  voii  1639,  wo  fast  dieselbe  zarte  Handhabung  der  kalten  Nadel, 
dieselbe  dünne  aber  höchst  sympathische  Linienführung  zu  bemerken  ist. 

A.  M.  Hind. 


Rembrandt  und  Tizian. 


Unter  den  Kunstfreunden  unserer  Tage  hat  sich  schon  seit  längerer 
Zeit  die  Auffassung  festgesetzt,  Rembrandts  psychologisch  vertiefte  Kunst- 
anschauung stehe  zu  der  »Empfindungsarmut«  der  Italiener  in  einem 
unlösbaren  Gegensatz.  Zugleich  verbindet  sich  mit  dieser  nicht  un- 
richtigen, aber  einseitigen  Vorstellung  wie  selbstverständlich  eine  andre, 
als  habe  sich  Rembrandt  als  Vertreter  eines  angeblich  ursprünglich 
nordischen,  umfassenden  Kunstideals  mit  vollem  Bewußtsein  von  italienischer 
Art  abgewendet. 

Diese  die  Empiänglichkeit  germanischen  Wesens  mißkennende  Auf- 
fassung ist  wiederholt  schon  widerlegt  worden.  Seit  Jahrzehnten  wissen  wir, 
daß  Rembrandt  einer  der  besten  Kenner  seiner  Tage  auf  dem  Gebiet 
italienischer  Kunst  und  eifriger  Sammler  war.  Was  aber  weit  wichtiger 
ist:  mehrere  Kunstforscher,  vor  allem  Hofstede  de  Groot,  *)  haben  uns 
nachgewiesen,,  daß  er  häufig  nach  ihren  Werken  kopiert  und  Mancherlei 
zu  eigenen  Zwecken  verwandt  hat.  Es  braucht  nun  nicht  weiter  be- 
gründet werden,  wie  wenig  diese  Erkenntnis  eine  Entwürdigung  seines 
Genies  bedeutet:  mit  staunenswerter  Schnelligkeit  vollzieht  sich  gerade 
bei  ihm  der  Prozeß  der  Verarbeitung  des  Fremden.  Darum  wird  es  für 
den  Liebhaber  ebenso  anziehend  sein  wie  es  für  den  Forscher  selbst- 
verständliche Pflicht  ist,  seinen  Entlehnungen  mit  möglichster  Sorgfalt 
nachzugehen. 

Eine  besonders  wesentliche  «Seite  in  den  Beziehungen  des  Meisters 
zur  italienischen  Kunst  bildet  sein  Verhältnis  zu  den  Werken  Tizians, 
das  ich  hier  im  Zusammenhang  darzutun  versuche.  Bevor  ich  jedoch 
zu  dem  eigentlichen  Thema  übergehen  kann,  gebe  ich  noch  einen  kurzen 
Hinweis  auf  die  Quellen,  aus  denen  er  seine  Kenntnis  geschöpft  hat. 
Zunächst  finden  wir  in  seinem  Inventar  unter  den  »Kunstboeken«  er- 
wähnt »een  dito,  zeer  groot,  met  mest  alle  de  wercken  van  Titiaan«, 
offenbar  eine  Mappe,  in  der  er  Stiche  aller  Art,  die  ihm  von  dem 
venezianischen  Meister  zu  Gesichte  kamen,  gesammelt  hat.  Eine 


')  Im  Jahrbuch  der  königl.  preußischen  Kunsts.  1894. 


Hermann  Voss:  Rembrandt  und  Tizian. 


157 


andere  Stelle  des  Inventars  lautet:  »een  dito,  vol  contrefijtsels  van 
Miereveit,  Titiaan  en  andere  meer«.  Aber  gewiß  hatte  Rembrandt  auch 
Gelegenheit  außer  diesen  graphischen  Wiedergaben  originale  Werke  von 
ihm  oder  doch  gute  Kopien  kennen  zu  lernen.  Denn  es  ist,  wie  Vosmaer 
sagt,  der  sich  hierbei  auf  reichliches  Material  stützt,  unglaublich,  was 
Holland  damals  an  italienischen  Bildern  und  Zeichnungen  besaß.  Und 
gerade  in  Amsterdam  war  der  Zentralpunkt  des  Kunsthandels,  hier  fanden 
die  großen  Auktionen  statt,  an  denen  auch  Rembrandt,  mitsteigernd  oder 
zuschauend,  teilnahm.  Besonders  in  den  40er  Jahren,  als  wieder  eine 
neue  Künstlergeneration,  die  Asselijn,  Both,  Berchem  u.  a.  aus  Italien 
zurückkehrten,  erzeugte  die  Bewegung  eine  neue  Welle,  und  es  ist  auch 
aus  später  zu  besprechenden  Gründen  der  künstlerischen  Entwickelung 
Rembrandts  wahrscheinlich,  daß  er  unter  den  von  ihnen  mitgebrachten 
italienischen  Herrlichkeiten  Kopien  nach  Tizians  Gemälden  kennen  lernte. 
Auch  bei  seinem  Vetter,  dem  Bilderhändler  Gerard  Uilenberg,  kann  er 
dergleichen  öfters  gesehen  haben. 

Nun  zu  den  Werken  selbst.  Die  erste  Entlehnung  glaube  ich  in 
der  »Diana«  von  c.  1631  (Rembrandtwerk  47),  sowie  in  der  etwa  gleich- 
zeitigen Radierung  (B.  201)  und  der  Zeichnung  (Kleinm.  III,  49)  zu  er- 
kennen, und  zwar  ist  es  die  Gestalt  einer  die  Kallisto  stützenden  Nymphe 
aus  Tizians  Dianabilde  der  Bridgewater  Gallery,  die  hier  als  Vorbild 
diente.  Das  eigentümliche  Bewegungsmotiv,  die  Drehung  des  sitzenden 
Körpers  nach  links,  verbunden  mit  dem  Übergreifen  des  vorderen  Armes, 
interessierte  Rembrandt  offenbar  und  veranlaßte  ihn  bei  Studien  nach 
der  Natur  dazu,  seinem  Modell  die  gleiche  Stellung  zu  geben.  In  welcher 
Reihenfolge  er  dann  die  drei  erhaltenen  Darstellungen  schuf,  geht  uns 
hier  nichts  an;  Bodes  Ansicht  erfährt  man  auf  Seite  21  des  ersten 
Rembrandtbandes.  Kleine  Abweichungen,  wie  die  veränderte  Haltung 
der  Arme  oder  die  leichte  Achsendrehung  des  Körpers  in  eine  annähernde 
Profilstellung,  ergaben  sich  vor  dem  lebenden  Modell  ganz  natürlich; 
man  braucht  an  ihnen  keinen  Anstoß  nehmen.  Dagegen  sind  noch  zwei 
unzweifelhaft  ins  Gewicht  fallende  übereinstimmende  Züge  zu  erwähnen: 
einmal  das  Hineintauchen  der  Füße  ins  Wasser,  das  an  sich  doch  für 
Rembrandts  Naturstudie  sehr  fern  liegen  mußte,  dann  überhaupt  die 
Charakterisierung  seiner  Figur  als  Diana,  also  der  Heldin  seines  Vorbildes. 

Wenige  Jahre  später,  in  dem  1635  entstandenen  figurenreichen 
Bilde  »Diana,  Aktäon,  Kallisto«  (Rembrandtw.  196)  bezieht  sich  der 
Künstler  noch  einmal  auf  das  Gemälde  der  Bridgewater  Gallery.  Während 
er  sich  jetzt  für  die  Hauptgruppe  durch  einen  Caraccischen  Stich  anregen 
läßt,  finden  wir  bei  einer  sitzenden  Figur  zu  äußerst  rechts  in  der 
Kallistogruppe  eine  Anlehnung  an  die  bei  Tizian  vorn  rechts  sich  auf- 


Hermann  Voss: 


158 

stützende  Nymphe,  deren  wohlklingende  schräge  Rückenlinie  hier  wieder- 
holt wird.  Im  übrigen  freilich  entspricht  die  immerhin  zurückhaltende 
Behandlung  der  Szene  durch  den  Italiener  Rembrandts  Humor  nicht; 
er  schafft  hier  etwas  gänzlich  Neues  und  in  seiner  Ursprünglichkeit  Un- 
vergleichliches. 

Daß  das  Motiv  des  mit  erhobenen  Armen  gen  Himmel  fahrenden 
Christus2)  aus  der  Münchener  Passionsfolge  (Rembrandtw.  127)  in  offen- 
barer Erinnerung  an  die  Geste  der  Maria  in  der  »Assunta«  der  Akademie 
entstanden  ist,  hat  Dr.  Valentiner  erkannt,  dessen  Ansicht  ich  mich  durch- 
aus anschließe.  Es  ist  zwar  nicht  zu  leugnen,  daß  uns  die  betr.  Be- 
wegung in  Rembrandts  Werk  ziemlich  geläufig  ist,  aber  doch  stets  als 
Ausdruck  des  höchsten  Staunens  oder  Erschreckens;  hier,  wo  damit  die 
Wonne  des  leichten  Getragenseins  verkörpert  wird,  berührt  sie  uns  fremd- 
artig und  fast  unangenehm  italienisierend.  Auch  die  Gurtung  möchte  auf 
italienische  Vorbilder  zurückgehen. 

Noch  fünf  weitere,  unter  sich  verwandte  Bilder  aus  den  dreißiger 
Jahren  (Rembrandtw.  186,  187,  188,  189,  190),  davon  zwei  bloße  Kopien, 
sind  in  ihrem  Sujet  wohl  auf  eine  Anregung  durch  Tizian  zurückzuführen, 
„und  zwar  ist  es  in  jedem  der  Fälle  ein  jugendliches  Mädchen  mit 
Saskias  Zügen,  das,  mit  Blumen  reich  geschmückt,  nach  einer  eigenen 
Notiz  des  Künstlers  die  Blumengöttin  verkörpern  soll.  Schon  Bode 
(VI.  Rembrandtb.  S.  1 1)  ließ  eine  gleiche  Darstellung,  aus  den  fünfziger 
Jahren  von  der  Flora  der  Uffizien  angeregt  sein,  eine  Bemerkung,  die 
ich  nur  noch  auf  die  früheren  fünf  Bilder  erweitern  möchte.  Denn  wenn 
auch  die  vereinfachte  Tracht  des  späteren  Bildes,  die  veränderte  Be- 
wegung der  Hände  in  der  Tat  auf  engere  Beziehungen  hinweisen,  so 
weicht  hier  doch  auf  der  anderen  Seite  die  Drehung  des  Kopfes  ins 
Profil  sowie  seine  phantastische  Bedeckung  vom  Vorbilde  ab.  Richtig 
ist,  daß  der  allgemeine  künstlerische  Charakter  dieser  letzten  Darstellung 
dem  italienischen  Meister  näher  steht,  doch  ließe  sich  diese  Tatsache,  ab- 
gesehen davon,  daß  sie  für  die  spätere  Periode  überhaupt  bezeichnend  ist, 
etwa  durch  die  Annahme  erklären,  daß  ihm  damals  eine  Kopie  seines  Vor- 
bildes bekannt  war,  während  er  seine  frühere  Kenntnis  lediglich  aus  Stichen 
geholt  hatte.  Auch  der  eigentümliche  Farbencharakter  des  Bildes,  »das 
einfache  helle  Tageslicht,  das  fast  gleichmäßig  über  die  ganze  Figur  fällt, 
und  die  hellen  Farben  des  Kostüms:  neben  dem  trübweißen,  als  Taille 
getragenen  Hemd  ein  hellgelber  Rock  und  ein  wenig  sichtbarer  hellbräun- 
licher Überwurf«  (Bode)  würde  somit  eine  ungezwungene  Lösung  finden. 


*)  Auch  die  unterhalb  schwebenden  Putten,  die  sonst  bei  der  Darstellung  von 
Christi  Himmelfahrt  nicht  gebräuchlich  sind,  sind  wohl  übernommen. 


Rembrandt  und  Tizian. 


*59 


Eine  ähnliche  Anlehnung  an  den  Gegenstand  der  Darstellung  scheint 
bei  dem  etwas  später,  um  1634  — 35  entstandenen  Selbstbildnis  des 
Künstlers  mit  seiner  Gattin  im  Buckingham  Palace  (Rembrandtw.  158) 
vorzuliegen.  Das  hier  gebrachte  Motiv  der  weiblichen  Toilette  hat  ja 
in  Venedig  seine  eigentliche  Heimat.  Auch  von  Tizian  gibt  es  mehrere 
Gemälde  der  Art;  so  die  Toilette  der  Venus  in  der  Bridgewater  Gallery 
und  in  Petersburg,  vor  allem  aber  die  sogenannte  »Laura  Dianti«  im 
Louvre.  Besonders  mit  dem  letzten  Bilde  hat  Rembrandts  Darstellung 
viel  Ähnlichkeit;  daß  hier  wenigstens  ein  Zusammenhang  besteht,  ist 
also  wahrscheinlich.  Nebenbei  möchte  ich  den  Hinweis  geben,  daß  in- 
sonderheit das  Motiv  des  Ohrringeanlegens  vielleicht  auf  Vorbilder  wie 
die  fälschlich  Tizian  zugeschriebene  »Vanitä«  im  Casino  Rospigliosi  in 
Rom  zurückgeht. 

Daß  sich  Rembrandt  zu  seinen  Darstellungen  von  Heiligen  durch 
die  italienische  Kunst  hat  inspirieren  lassen,  wird  uns  schon  durch  den 
Gegenstand,  aber  auch  (wie  z.  T.  schon  erkannt  worden),  durch  die  Be- 
handlung nahegelegt.  So  stimmt  mit  Tizians  heiligem  Hieronymus  im 
Louvre  die  Federzeichnung  Lippmann  132  in  der  (im  Gegensinne  ge- 
brachten) Komposition  überein.  Das  auffallendste  Merkmal  ist  hierbei 
der  bei  Rembrandt  an  der  entsprechenden  Stelle  wiederkehrende  doppelt 
geteilt  emporsteigende  Baumstamm  und  die  gleichfalls  kompositioneil 
übereinstimmend  gebrachte  Gestalt  des  Büßers.  Diese  selbst  freilich  be- 
seelt er  trotz  der  wenigen,  die  Erscheinung  nur  eben  andeutenden  Striche 
mit  ganz  anderer  Empfindung  und  gibt  uns  die  Illusion  eines  unglück- 
lichen, abgezehrten  Asketen,  wo  sich  der  Italiener  den  durch  Anspannung 
der  Muskeln  hervorgerufenen  Eindruck  eines  in  vielfachen  Kontrasten 
bewegten  Leibes  zur  Aufgabe  setzte.  Und  freilich,  auch  in  den  ganzen 
Raumverhältnissen  leuchtet  noch  ein  Abglanz  dieser  gegensätzlichen  Auf- 
fassungen auf.  Scheint  uns  bei  Tizian  der  mächtige  Fels  des  Vorder- 
grundes, der  in  den  Mittelgrund  gestellte  geteilt  emporschießende  Baum, 
die  in  wuchtigen  Formkontrasten  komponierte  Landschaft,  gewissermaßen 
ein  Nachklang  des  Körperlichen  in  seinem  Hieronymus  zu  sein,  so  finden 
wir  bei  Rembrandt  nur  ein  flaches  Relief,  gebildet  durch  den  ganz  vorn 
knienden  Büßer,  den  gleich  in  derselben  Fläche  stehenden  gedoppelten 
Baumstamm  und  das  als  Abschluß  nach  hinten  zu  dienende  Laub  des 
Waldes.  Aber  verklärend  stürzt  von  oben  her  durch  das  Bild  ein  breiter 
Lichtstrom  herab. 

Gleich  noch  an  dieser  Stelle  sei  der  Hinweis  gegeben,  daß  in  einer 
anderen  Darstellung  desselben  Heiligen,  dem  sogenannten  »Hieronymus 
in  Dürers  Geschmack«  (B.  104)  von  1652  Blanc  (S.  84)  in  der  Landschaft 
eine  ziemlich  genaue  Kopie  nach  einer  Tizianschen  Zeichnung  aus  der 


i6o 


Hermann  Voss : 


Sammlung  Welbsley  entdeckte,  sowie  daß  S.  Haden  auf  der  verwandten 
Radierung  des  heiligen  Franziskus  von  1657  im  Landschaftlichen  gleich- 
falls italienischen  Einfluß  gewahrt  und  die  Namen  Campagnolas  und 
Tizians  nennt. 

Einen  sehr  bedeutsamen  Anschluß  Rembrandts  an  den  venezianischen 
Meister,  auf  den  vor  mir  schon  Herr  Dr.  Valentiner  aufmerksam  geworden 
war,  haben  wir  in  den  verschiedenen  Darstellungen  der  »Jünger  von 
Emmaus«  seit  1648  zu  erkennen.  Da  sich  beide  zunächst  miteinander 
zu  vergleichenden  Bilder  im  Louvre  befinden,  so  ist  es  verwunderlich, 
daß  auf  die  so  sinnfällige  Beziehung  nicht  schon  längst  aufmerksam  ge- 
macht worden  ist.  Schon  in  den  dreißiger  Jahren  hatte  Rembrandt  das 
Thema  in  dem  ungestümen  Sinne  seiner  damaligen  Auffassung  mehrfach, 
vor  allem  aber  in  einem  Gemälde  und  einer  Radierung  ergriffen,  die 
man  gut  tut  sich  neben  der  späteren  Behandlung  zu  vergegenwärtigen, 
um  den  großen  Abstand  zu  ersehen.  Das,  Kühne  und  Unruhige  der 
früheren  Anordnung  ist  der  symmetrischen  Zentralkomposition  gewichen 
(die  Rembrandt  zuerst,  wie  Hölzel  und  Valentiner  beobachteten,  unter 
dem  Eindrücke  von  Lionardos  Abendmahl  in  seiner  »Hochzeit  Simsons« 
(Dresden)  gebracht  hatte),  die  Gebärden  der  Jünger  sind  gedämpft  und 
aus  dem  Zauberer,  als  der  Christus  auf  dem  frühen  Bilde  erschien,  ist 
eine  unendlich  milde,  leidende  Erscheinung  geworden.  Kurz,  die  seelische 
und  künstlerische  Sprache  hat  einen  völligen  Wandel  vollzogen,  der,  aus 
innerer  Notwendigkeit  geboren,  nun  doch  einer  Einwirkung  italienischer 
Kunst  sich  entschieden  günstig  erweist.  So  scheinen  denn  nach  Bildern 
wie  dem  »Ungetreuen  Knecht«  (R.  339)  in  der  Wallace  Collection,  dem 
»Rock  Josephs«  (R.  340)  in  der  Ermitage  und  der  noch  weiterhin  zu 
erwähnenden  »Ehebrecherin  vor  Christus«  3)  (R.  338)  bei  Weber  in 

Hamburg  die  halbfigurigen  Darstellungen  der  Venetianer  ihm  Führer  zu 
der  erstrebten  größeren  Gestaltung  der  Figuren  innerhalb  des  Bildrahmens 
gewesen  zu  sein.  — Trotzdem  ist  bei  ihm  auch  hier,  rassenpsychologisch 
interessant  genug,  der  ganze  räumliche  Bau  von  dem  holländischen  Ge- 
fühl für  die  Klarheit  kubischer  Körper  durchdrungen.  — Wollen  wir 
auch  auf  dem  Gebiete  der  Bildnismalerei  den  Unterschied  der  früheren 
und  späteren  Epoche  an  einem  Beispiel  erkennen,  so  können  wir  etwa 
das  Portrait  der  Hendrickje  von  c.  1658  (Berlin,  Mus.)  dem  der  Saskia 
von  c.  1634  in  Kassel  entgegenhalten.  Wie  die  Auffassung  der  Figur 
mehr  Größe  und  Ruhe  in  Linien  und  Flächen  erhalten  hat,  so  ist  auch 
an  Stelle  der  dünnen,  schillernden  Tinten  der  Besatz-  und  Perlenmalerei 
die  tiefleuchtende  Farbe  des  weichen  und  wolligen  Tuches  getreten. 


3)  Von  Bredius  wird  die  Echtheit  bestritten. 


Rembrandt  und  Tizian. 


161 

Noch  zwei  Fälle  eines  direkten  Anschlusses  an  Tizian  glaube  ich 
in  dieser  letzten  Periode  konstatieren  zu  können.  Das  c.  1649  ent_ 
standene  Reiterporträt  beim  Earl  Cowper  in  Panshanger  wiederholt 
ziemlich  getreu  (im  umgekehrten  Sinne)  die  Haltung  des  Rosses  auf 
Tizians  Karl  V.  in  Madrid.  Daß  sich  Rembrandt  bei  der  Ausführung 
des  offenbar  für  ihn  ehrenvollen  Auftrages  an  ein  älteres  Vorbild  an- 
lehnte, braucht  uns  nicht  zu  verwundern;  auf  ein  genaues  Studium  des 
Pferdes  hatte  er  wenig  Mühe  verwandt  und  kommt  auch  hier  über  eine 
gewisse  Hölzernheit4)  nicht  hinweg. 

Das  1651  entstandene  Gemälde  »Christus  und  Maria  Magdalena« 
in  Braunschweig  (R.  333)  geht  auf  eine  der  Darstellungen  der  gleichen 
Szene  durch  Tizian,  das  sog.  »Noli  me  tangere«  in  der  Londoner  National 
Gallery  zurück.  Eine  Federzeichnung  Rembrandts,  die  das  Kupferstich- 
kabinett in  Stockholm  besitzt,  5)  beweist  das.  Sie  gibt  im  umgekehrten 
Sinne,  also  nach  einem  Stich,  die  Haltung  des  Auferstandenen,  seine 
Gesten,  aber  ohne  den  Stab,  und  vor  allem  die  weiche  Rückenlinie  im 
wesentlichen  wieder;  die  Gewandung  zeigt  zwar  in  ihrer  größeren  Völlig- 
keit  den  nordischen  Künstler,  doch  erkennt  man  unterhalb  des  rechten 
Ellenbogens  die  Unterzeichnung  eines  mit  der  betreffenden  Stelle  des 
Londoner  Bildes  übereinstimmenden  Gewandzipfels.  Auch  in  der 
Architektur  des  Hintergrundes,  der  auf  einem  Hügel  gelegenen  Stadt 
mit  Turm  und  Tor,  klingt  das  Tiziansche  Vorbild  durch,  wogegen  die 
Figur  der  Magdalena  rembrandtisch  anmutet;* * 6)  viele  Gestalten  ihres- 
gleichen kommen  in  seinen  Werken  vor.  Der  Stockholmer  Zeichnung 
gegenüber  bringt  dann  das  ausgeführte  Bild  die  Komposition  im  Gegen- 
sinne. Hier  erscheint  nun  auch  die  Gestalt  des  Heilandes  in  wichtigen 
Bezügen  verändert.  Wie  auf  der  Studie  seine  rechte  Hand  aus  der  Ge- 
samtsilhouette herausschoß,  konnte  man  ihr  noch  anmerken,  daß  ursprüng- 
lich nicht  die  Gebärde,  sondern  das  Aufstützen  des  Stabes  ihr  Amt  ge- 
wesen sein  mußte;  jetzt  wird  der  Umriß  der  Figur  wieder  geschlossen, 
indem  die  Funktionen  der  Hände  miteinander  vertauscht  werden.  Dabei 
geht  dann  freilich  die  Flüssigkeit  der  Rückenlinie  und  die  Zusammen- 
fassung der  Figuren  zum  guten  Teil  verloren,  aber  Rembrandt  wünschte 
hier  eben  um  jeden  Preis  den  Ausdruck  möglichst  restlos  zu  geben. 

Hiermit  ist  die  Aufzählung  der  wesentlichen  Analogien  beendet. 
Wenn  ich  nun  noch  das  beim  Konsul  Weber  in  Hamburg  befindliche 
Bild  »Christus  und  die  Ehebrecherin«  (Rembrandtw.  338)  erwähne,  ist 

4)  Auch  nach  Bodes  Urteil. 

5)  Bei  Michel  abgebildet. 

6)  Ihre  Geste  hat  freilich  mit  T.s  »Mater  dolorosa«  ziemlich  viel  Ähnlichkeit, 
doch  schwanke  ich,  ob  für  das  kleine  Bild  zwei  Vorbilder  angenommen  werden  können. 


I 6 2 


Hermann  Voss:  Rembrandt  und  Tizian. 


es  nur,  um  zu  bemerken,  daß  der  italienische  Einfluß  sich  hier  nicht 
weiter  als  auf  die  Wahl  der  halbfigurigen  Darstellung  erstreckt,  welche 
die  venezianische  Kunst  für  diesen  Stoff  bevorzugte.  Einzelheiten,  die 
mit  einem  bestimmten  Bilde,  etwa  Rocco  Marconis,  Palma  Vecchios  oder 
Tizians  selbst  übereinstimmten,  sind  nicht  zu  finden.  Das  ganze  Ge- 
mälde ist  überhaupt  nur  eine  freilich  von  Venedig  her  angeregte  Be- 
arbeitung der  Hauptgruppe  aus  der  älteren  Darstellung  in  der  National 
Gallery  zu  London  (Rembrandtw.  247).  Die  im  Texte  des  Rembrandt- 
werkes  abgebildete  Radierung  Picarts  nach  einer  Kompositionszeichnung 
des  Meisters,  die  zu  dem  früheren  wie  dem  späteren  Bilde  Bezüge  hat, 
legt  den  unmittelbaren  Zusammenhang  zwischen  beiden  fest.  Daß  die 
letzte  Darstellung  dem  italienischen  Geiste  näher  steht  als  jene  frühere, 
bleibt  darum  doch  bestehen  und  stimmt  mit  der  allgemeinen  Ent- 
wickelung durchaus  überein.  Hermann  Voss. 


Zu  Salomon  Köninck. 


Im  Wallraf-Richartz-Museum  zu  Köln  befindet  sich  das  Brustbild 
eines  jungen  Mannes,  das  der  alte  Niessensche  Katalog  dem  Karl  Fabritius 
zuschrieb,  während  der  neue  Katalog  es  schlechthin  »Schule  des  Rem- 
brandt  van  Ryn«  bezeichnet  (No.  709).  Es  ist  eine  treffliche,  weiche 
Malerei,  voll  des  köstlichsten  Helldunkels.  Der  Dargestellte,  halb  nach 
links  gewendet,  blickt  den  Beschauer  an.  Sein  Mund  ist  leicht  ge- 
öffnet, sein  langes,  blondes  Haar  vorne  in  die  Stirne  gekämmt.  Die 
Gesichtsfarbe  hat  einen  krankhaft  gelben  Ton,  die  Nase  ist  etwas  ge- 
rötet und  auf  der  Oberlippe  macht  sich  ein  leiser  Anflug  von  Schnurr- 
bart bemerkbar.  Der  junge  Mann  trägt  ein  weinrotes  Sammetkostüm,, 
das  auf  der  Brust  ein  schlichtes,  weißes  Hemd  sichtbar  werden  läßt. 
In  den  Ohien  hat  er  goldene  Ringe  und  über  dem  Gewände  eine 
goldene  Kette. 

Ein  Knabenbildnis  im  Museum  ziv  Antwerpen  (No.  657)  ist  von 
derselben  Künstlerhand.  Es  zeigt  im  großen  und  ganzen  die  gleiche 
Anordnung  und  Farbenwahl,  wie  das  Kölner  Bild.  Selbst  die  goldene 
Kette  über  dem  roten  Sammetgewande  fehlt  dem  blondhaarigen  Jungen 
dort  nicht.  Man  könnte  fast  an  dieselbe  Persönlichkeit  auf  beiden 
Stücken  denken.  Das  Antwerpener  Bild  wird  im  Katalog  als  Salomon 
Köninck  aufgeführt.  Ist  diese  Benennung  richtig,  dann  dürfte  auch  für 
das  Kölner  Bild  der  Künstlername  gefunden  sein.  F.  Koch. 


Literaturbericht. 


Kunstgeschichte. 

J.  B.  Supino.  Arte  Pisana.  Firenze,  Alinari  1904. 

Eine  Geschichte  der  pisanischen  Kunst  von  Supino  darf  ohne  wei- 
teres zu  den  Büchern  gezählt  werden,  an  die  man  hohe  Erwartungen 
knüpft.  Seine  zahlreichen  Einzeluntersuchungen  zu  diesem  Thema  zeich- 
neten sich  stets  durch  Fleiß  und  Gewissenhaftigkeit  aus,  und  durch  eine 
große  Vertrautheit  mit  der  Geschichte  der  Denkmäler  hat  er  unsere  Kennt- 
nis dieses  Kunstgebiets  so  wesentlich  bereichert,  daß  ihm  stets  die  For- 
schung dafür  Dank  wissen  wird.  Das  vorliegende  Buch  teilt  diese  Vorzüge 
mit  jenen  bekannten  älteren  Arbeiten  des  Verfassers;  es  vereinigt  die 
Resultate  der  früheren  Untersuchungen  und  bringt  zudem  einige  neue 
Funde,  manche  Berichtigung  und  auch  neues,  zum  Teil  sehr  wichtiges 
Abbildungsmaterial.  Aber  es  bietet  doch  nur  quantitativ  mehr  und  ent- 
täuscht, wenn  man  das  erwartet,  wodurch  sich  eine  zusammenfassende 
Darstellung  von  einer  Reihe  nützlicher  Einzeluntersuchungen  unterscheiden 
soll.  Die  Klarlegung  der  entwicklungsgeschichtlichen  Zusammenhänge,  die 
Fixierung  der  einzelnen  Stilstufen,  eine  Feststellung  der  Einflußsphären, 
die  hierbei  im  Spiele  sind,  ist  für  die  ältere  Zeit  kaum  versucht  und 
auch  für  das  Trecento  nicht  so  durchgearbeitet,  wie  es  möglich  und  ge- 
boten wäre.  Denn  nirgends  läßt  sich  vielleicht  in  Italien  der  Werde- 
gang einer  mittelalterlichen  Schule  so  deutlich  verfolgen  wie  in  Pisa. 
Freilich  hätte  hierfür  zunächst  der  Begriff  der  Schule  bestimmt  werden 
müssen;  denn  die  pisanische  Kunst  ist  nicht  nur  die  Kunst  in  Pisa,  und 
wie  es  nur  selbstverständlich  ist,  bei  den  späteren  bekannten  Künstler- 
persönlichkeiten die  an  anderen  Orten  erhaltenen  Arbeiten  ihrer  Hand 
für  die  Bestimmung  ihres  Stiles  zu  verwerten,  so  hätten  auch  für  die 
frühere  Zeit  die  pisanischen  Arbeiten  außerhalb  der  Stadt  in  die  Be- 
trachtung eingezogen  werden  müssen.  Hierbei  handelt  es  sich  natürlich 
nicht  um  den  Vorwurf  der  mangelnden  Vollständigkeit  — denn  diese  ist 
vom  Verfasser  kaum  angestrebt  — , aber  es  ist  doch  zunächst  schon  ganz 
prinzipiell  für  unser  Verständnis  von  dem  Charakter  und  der  Bedeutung 
der  Schule  keineswegs  gleichgültig,  ob  z.  B.  die  im  Gebiete  von  Lucca 


Literaturbericht. 


165 

und  Pistoia  erhaltenen  Arbeiten  Erzeugnisse  selbständiger  Lokalschulen 
sind,  oder  ob  sie  eben  jener  pisanischen  Schule  angehören.  Und  da  bei 
einer  schärferen  Betrachtung  entschieden  das  letztere  sich  beweisen  läßt, 
wäre  die  Darstellung  auf  diese  Weise  nicht  nur  reicher,  sondern  vor 
allem  exakter  und  richtiger  geworden.  So  kommt  es  leider  gar  nicht 
zu  einer  wirklichen  Feststellung  dessen,  was  man  nun  als  pisanische  Stil- 
eigentümlichkeiten anzusehen  hat;  und  während  sonst  die  Autoren  in  der 
Verliebtheit  in  ihr  Thema  eher  zu  weit  gehen,  gewinnt  man  hier  den 
Eindruck,  als  sei  sich  der  Verfasser  gar  nicht  recht  bewußt  geworden,  welch 
außerordentliche  Bedeutung,  welch  erstaunliche  Produktion  die  pisanische 
Kunst  bereits  in  der  Frühzeit  auszeichnet,  wie  konsequent  und  eigen- 
artig sie  sich  entwickelt.  Und  doch  hätte  S.  hierauf  das  größte  Inter- 
esse verwenden  müssen,  da  es  sich  auch  für  ihn  darum  handelt  — und 
mit  Recht,  wie  ich  meine  — die  Kunst  Niccolos  mit  dieser  Schule  zu 
verknüpfen. 

Am  empfindlichsten  sind  diese  Mängel  in  den  der  Architektur  und 
der  romanischen  Plastik  gewidmeten  Abschnitten.  Bei  der  Besprechung 
der  romanischen  Bauten  in  Pisa  zeigen  allerdings  S.’s  Ausführungen  ge- 
genüber den  älteren  Untersuchungen  eine  viel  höhere  und  durchweg  ver- 
ständigere Kritik,  und  die  chronologischen  Ansätze  sind  in  der  Ver- 
wertung der  Dokumente  und  der  Beurteilung  der  Denkmäler  zuverlässig. 
Aber  es  fehlt  eine  zusammenfassende  Charakteristik  dieses  Architekturstils, 
eine  sorgsame  Angabe  dessen,  was  nun  als  das  Lokale,  schulmäßig  Be- 
sondere (gegenüber  dem  Zeitstil)  anzusetzen  ist,  und  vor  allem  vermißt 
man  eine  Klarlegung  des  Verhältnisses  zur  florentinischen  und  ober- 
italienisch-lombardischen Schule.  Freilich  glaube  auch  ich  nicht,  daß 
man  hier  auf  Grund  des  rein  Architektonischen,  der  Grundrißbildung 
und  der  maßgebenden  Merkmale  der  Konstruktion  zu  weiteren  Ergeb- 
nissen kommen  kann;  aber  durch  ein  sorgsames  Studium  der  dekorativen 
Formen  wäre  unsere  Kenntnis  dieses  Kunstgebietes  sehr  wesentlich  ge- 
fördert worden.  So  ist  z.  B.  der  Anteil  der  plastischen  Arbeit  in  der 
Dekoration  und  Durchbildung  der  Bauglieder,  der  Übergang  von  den 
einfachen,  rahmenden  Portalpfosten  zu  abgestuften  Gewänden,  das  Zu- 
sammenfassen der  Blendarkaden  am  Untergeschoß  zu  größeren,  breiteren 
Bildungen  nicht  nur  für  eine  schärfere  Gruppierung  der  Denkmäler  im 
Einzelnen  zu  verwerten,  sondern  auch  für  die  chronologische  Entwicklung. 
So  vermißt  man  auch  eine  eigentliche  Darstellung  der  Rezeption  gotischer 
Motive  und  der  Entwicklung  des  pisanisch-gotischen  Stils,  da  der  Verfasser 
die  betreffenden  Bauwerke  mehr  in  Rücksicht  auf  die  Künstlergeschichte 
als  in  ihrem  baugeschichtlichen  Zusammenhänge  untersucht.  Auch  hätte 
die  Vorgeschichte  des  pisanischen  Dekorationsstiles  einer  Untersuchung 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  I 2 


i66 


Literaturbericht. 


bedurft;  denn  wenn  S.  mit  Recht  es  energisch  ablehnt,  in  jeder  Kirche, 
deren  Gründung  in  einer  früheren  Zeit  nachweisbar  ist  und  deren  gegen- 
wärtige Architektur  eine  Verwandtschaft  mit  dem  Dome  zeigt,  ohne 
weiteres  eine  Vorstufe  zu  diesem  zu  sehen,  so  sind  doch  tatsächlich 
zahlreiche  Fragmente  des  älteren,  sog.  langobardischen  Stiles  erhalten 
(z.  B.  in  S.  Pietro  a Grado),  deren  Berücksichtigung  wichtige  Schlüsse 
ergeben  hätte.  Denn  auch  hier,  auf  dem  Mutterboden  der  Renaissance, 
und  schon  jetzt,  in  dieser  primitiven  Epoche,  bedeutet  das  Auftreten 
antiker  Formen  etwas  anderes  als  ein  fait  accompli,  das  keiner  Erklärung 
bedürfe,  sondern  es  ist  der  Ausdruck  bestimmter  künstlerischer  Absichten 
und  das  Resultat  einer  geschichtlichen  Entwicklung.  Deshalb  wäre  auch 
die  chronologische  Seite  dieser  Frage  möglichst  rigoros  zu  stellen,  um  so 
mehr,  als  ein  festes  frühes  Datum,  wie  es  z.  B.  die  Fassade  von  Empoli  für 
den  florentinischen  Dekorationsstil  bietet,  den  pisanischen  Denkmälern  fehlt. 

Nichts  liegt  näher,  als  diesen  denkwürdigen,  ersten  Klassizismus, 
der  in  der  pisanischen  Architektur  einen  Kompromiß  mit  den  Gepflogen- 
heiten der  lombardischen  Schule  eingeht,  in  Zusammenhang  zu  setzen 
mit  dem  üppigen  Aufschießen  der  plastischen  Tätigkeit  in  dieser  Zeit. 
Die  plastische  Durchbildung  der  Bauglieder  im  Sinne  der  Antike,  die 
plastisch  ausdrucksvolle  antike  Ornamentik  statt  der  linearen  Formen  des 
früheren  mittelalterlichen  Flächenstils,  — das  ist  die  Parallelerscheinung 
zu  dem,  was  diese  Epoche  für  die  engere  Geschichte  der  toskanischen 
Plastik  bedeutet.  Wie  wunderlich,  daß  S.  in  einer  Geschichte  der  pisa- 
nischen Kunst  es  versäumen  konnte,  eine  Darstellung  dieser  pisanischen 
Bildhauerschule  der  romanischen  Zeit  zu  geben!  Ja,  es  kommt  gar  nicht, 
wie  schon  gesagt,  zu  einer  deutlichen  Aussprache,  daß  hier  eben  eine 
Schule  arbeitet  mit  ihren  eigenen  Gesetzen  und  Gewohnheiten,  mit  ihren 
Meistern  und  Gehilfen,  mit  einer  klaren  Entwicklung  und  einer  bestimmten 
örtlichen  Ausdehnung.  So  geht  die  Darstellung  hier  nicht  über  das  her- 
aus, was  Schmarsow  bereits  in  einem  ersten  Versuche  über  diese  Dinge 
gesagt  hat,  wenn  auch  einige  Denkmäler  mehr  berücksichtigt  sind.  Eine 
wie  geringe  Systematik  hier  S.  erstrebte,  erhellt  schon  daraus,  daß  er 
zwei  der  brauchbarsten  Ausgangspunkte  für  die  Beurteilung  der  Schule 
in  dieser  Frühzeit,  die  Cagliareser  Kanzel  (natürlich  von  1162!)  und  die 
Fragmente  der  alten  Domkanzel,  nur  ganz  beiläufig  — bei  Fra  Guglielmo 
resp.  Giovanni  P. ! — erwähnt. I) 

Tatsächlich  widmet  S.  diesem  interessanten  Kapitel  der  pisanischen 
Kunstgeschichte  nur  eine  ganz  summarische  Betrachtung,  und  zwar  sub 

')  Man  vermißt  u.  a.  besonders  den  großen  Relieffries  mit  der  Rainerlegende  im 
Camposanto.  Ihrer  Wichtigkeit  wegen  sei  hier  auch  auf  die  imposanten,  überlebens- 
großen Fassadenskulpturen  der  Ritterkirche  in  Altopascio  hingewiesen. 


Literaturbericht. 


167 

specie  Niccolo.  Im  Grunde  sogar  nicht  einmal  dies,  da  es  zu  einem 
Nachweis  der  charakteristischen  Stileigentümlichkeiten  der  Kunst  N.’s  in 
der  älteren  pisanischen  Plastik  gar  nicht  kommt,  sondern  alles  nur  auf 
das  eine  hinzuzielen  scheint,  die  antiken  Elemente  bei  N.  in  der  lokalen 
Tradition  zu  belegen.  Dabei  weiß  S.  sehr  wohl,  daß  die  Antike  allein 
gar  nicht  die  einzige  Quelle  von  N.’s  Stil  ausmacht,  und  vor  allem  ist 
es  ja  gerade  dieses  Element  seiner  Kunst,  das  doch  unbestreitbar 
auch  in  Süditalien  nachgewiesen  ist.  Also  auf  diese  Weise  kann  jeden- 
falls der  Nachweis  der  stilistischen  Herkunft  N.’s  aus  der  pisanischen 
Schule  nicht  erbracht  werden,  und  gerade  nachdem  nun  glücklich  Bertaux 
zum  ersten  Male  die  Frage  einer  exakten  Methode  unterworfen  hat, 
müssen  es  die  Gegner  der  apulischen  Theorie  sehr  bedauern,  daß  S.  sich 
nicht  bemüht  hat,  positive  Punkte  nachzuweisen.  Und  diese  sind  nach- 
zuweisen. Denn  die  pisanischen  Arbeiten  aus  der  ersten  Hälfte  und 
Mitte  des  13.  Jahrhunderts  stehen  im  Stile,  besonders  im  Gewandstile  — 
wie  verschieden  ist  gerade  hierin  alles  Süditalische!  — der  Komposition, 
Ikonographie  und  im  Dekorativen  N.  unendlich  näher,  als  irgend  etwas, 
was  bisher  an  süditalischen  Arbeiten  bekannt  wurde.  Dies  könnte  alles 
bei  einer  exakten  Durchvergleichung  der  Motive  bewiesen  werden,  wofür 
freilich  eine  gründliche  Untersuchung  und  Darstellung  der  pisanischen 
Kunst  vor  Niccolo  die  unumgängliche  Voraussetzung  bildet.  Es  hätte 
gezeigt  werden  müssen,  wie  nach  den  kärglichen  Anfängen  in  der  ersten 
Hälfte  des  12.  Jahrhunderts,  um  1150  eine  intensive  plastische  Tätigkeit 
sich  entwickelt,  wie  jetzt  — das  führende  Atelier  vermutlich  Guglielmo  — 
die  Kompositionstypen,  Technik  und  Stil  sich  fixieren,  die  Gestalten  sich  vom 
Grunde  lösen  und  die  Antike  in  ganz  bestimmtem  Sinne  sich  zu  äußern 
beginnt,  wie  dann  im  letzten  Viertel  des  Jahrhunderts  die  Bewegung  reicher, 
die  Anordnung  gedrängter,  der  Reliefstil  komplizierter  wird  (die  Figuren 
z.  B.  schräg  zum  Reliefgrund  geschichtet  — wie  die  Sardinen  in  der 
Büchse  — , wie  noch  bei  Niccolo,  wie  niemals  in  Süditalien),  wie  gleich- 
zeitig unter  oberitalienischem  Einfluß  der  Gewandstil  eine  Umbildung 
erfährt  im  Sinne  einer  klareren  Gliederung,  des  Ausdrucks  der  Bewegung 
und  Körperform.  Das  Entscheidende  dann,  seit  ca.  1200,  der  durch- 
greifende byzantinische  Einfluß:  das  Hauptwerk  die  Skulpturen  am  Haupt- 
portal des  Baptisteriums.  Diese  sind  zwar  von  S.  erwähnt,  aber  wie  er 
ihre  Entstehungszeit  nur  im  allgemeinen  — erste  Hälfte  13.  Jahrhunderts 
— angibt,  so  ist  auch  die  außerordentliche  Bedeutung  dieses  Ateliers 
für  die  Stilbildung  in  der  pisanischen  Plastik  nicht  erkannt.  Was  die 
Datierung  anbelangt,  so  ergibt  sich  diese  aus  den  unbeachteten  Skulpturen 
in  S.  Michele  degli  scalzi  bei  Pisa  mit  der  überlebensgroßen  Büste  (!) 
eines  segnenden  Christus  im  Tympanon  und  der  Darstellung  der  Engels- 


i68 


Literaturbericht. 


chöre  an  der  Schräge  des  Türsturzes,  die  auf  1204  datiert  sind2)  und 
die  gleiche  Meisterhand  zeigen,  wie  die  besten  Arbeiten  am  Baptisterium.  3) 
Die  Bedeutung  dieses  Ateliers,  dessen  führender  Meister  nicht  aus  der 
pisanischen  Schule  hervorging,  sondern  entweder  aus  Süditalien  oder 
direkt  aus  Byzanz  stammt,  ist  eine  außerordentliche.  Jede  Arbeit  von 
Wert,  die  jetzt  in  Pisa  entsteht,  ist  hiervon  beeinflußt.  Ganz  befremdlich 
nun,  daß  S.,  nachdem  er  die  früheren  Arbeiten  wenigstens  summarisch 
herangezogen  hat,  jetzt,  wo  die  Sache  akut  wird,  versagt.  Es  handelt 
sich  ihm  um  die  Ableitung  N.’s  aus  der  pisanischen  Schule,  und  er  sagt 
kein  Wort  über  die  Arbeiten  gerade  der  Generation,  die  — auf  den 
Schultern  jenes  halbbyzantinischen  Ateliers  stehend  — den  Stil  der  pisa- 
nischen Plastik  unmittelbar  vor  N.  bestimmt.  Selbst  so  bekannte  Arbeiten, 
wie  die  des  Guido  da  Como  sind  nicht  erwähnt,  obgleich  auch  sie  zum 
mindesten  im  Gewandstil  N.  näher  stehen,  als  irgend  etwas  Süditalisches 
aus  dieser  Zeit.  Und  es  ist  ja  gar  keine  Frage,  daß  dieser  Meister,  der 
als  greifbare  Persönlichkeit  direkt  vor  N.  ein  Interesse  beansprucht  (ob- 
gleich es  wichtigeres  gibt!),  schlechterdings  der  pisanischen  Schule  ange- 
hört und  mit  der  oberitalienischen  Plastik  einfach  nichts  zu  tun  hat.  (Jeder 
Kenner  würde  jedes  — echte  — Stück  von  Guido  ohne  weiteres  als 
pisanische  Arbeit  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  bestimmen 
müssen.  Vermutlich  hat  Schmarsows  unglückliche  Comasken- Theorie, 
die  ihm  selbst  die  besten  Resultate  seiner  Arbeit  zerstört,  auch  S.  ver- 
wirrt gemacht.  Es  liegt  hier  nicht  anders  als  bei  Niccolo:  Selbst  wenn 
man  dessen  Taufschein  in  Apulien  fände,  — sein  Stil  könnte  doch  nur 
aus  Pisa  abzuleiten  sein.  In  Como  hat  übrigens  ganz  gewiß  keine  Schule 
gesessen,  und  von  einer  Beziehung  des  Comasken  zu  den  nachweisbaren 

1 , 

Zentren  der  oberitalienischen  Plastik  ist  gar  keine  Rede.  Auch  sei  ganz 
prinzipiell,  natürlich  nicht  als  Beweis,  bemerkt,  daß  auch  in  dem  früh- 
reifen Italien  die  lokale  Tradition,  die  »Schule«  in  dem  spezifisch  mittel- 
alterlichen Sinn  — vgl.  Vöge!  — , die  ausschlaggebende  Macht  bedeutet, 
die  stärker  ist  als  die  ursprüngliche,  frühere  Schulung  des  betr.  Meisters.) 
Unter  diesen  Gesichtspunkten  wäre  auch  ein  Eingehen  auf  einen  andern, 
ius  Oberitalien  stammenden  Künstler  interessant  gewesen,  da  man  an 
•.einen  Werken  verfolgen  kann,  wie  sich  die  Stilentwicklung  bei  einem 
ilteren,  in  Toskana  tätigen  Zeitgenossen  N.’s  gestaltet,  dessen  Stil  zu- 
lächst  unabhängig  von  dem  großen  Pisaner  ist:  Giro  Ido  da  Lugano. 
)enn  außer  den  bekannten  Werken  dieses  Meisters  am  Baptisterium  in 

2)  Anno  dni  1204  Montaniano  Cecchia  dedit  hoc  o’libras  CII 

3)  Merkwürdig  die  Steinmetzeninschrift  links  neben  dem  Portal  (mit  Verwendung 
iechischer  Buchstaben),  wie  sie  ähnlich  auch  an  SS.  Cosma-Damiano  und  S.  Frediano 

Pisa  vorkommt. 


Literaturbericht. 


169 


Volterra  — 1251,  mit  Kleeblattbögen  (!)  und  gotischer  Typenbil- 

dung — und  dem  stattlichen  Taufbecken  in  Massa  Marittima  sind 
von  dem  Künstler  weitere  Arbeiten  gerade  in  dem  Bereich  der  pisa- 
nischen  Schule  nachzuweisen:  in  Montepiano  bei  Prato 4)  und  in  S. 

Miniato  al  tedesco.  5) 

Für  die  Genesis  des  Stils  bei  N.  ist,  wie  gesagt,  das  byzantinische 
Element  von  S.  übersehen  worden;  dagegen  ist  der  Anteil  der  gotischen 
Entwicklung  richtig  betont,  was  bei  einem  patriotischen  Italiener  immer 
anzuerkennen  ist.  Nur  scheint  es,  daß  S.  hierbei  mehr  an  die  Architektur- 
formen, als  an  die  Plastik  denkt;  auch  wäre  bei  der  Wichtigkeit  der 
Frage  mehr  ins  Detail  zu  gehen  und  vor  allem  die  ikonographische  Seite 
ins  Auge  zu  fassen.  Für  die  architektonische  Tätigkeit  ist  es  auch  S. 
leider  nicht  gelungen  einen  brauchbaren  urkundlichen  Beleg  zu  finden. 
Die  Sichtung  des  literarischen  Materials  für  diese  Frage  ist  sehr  gewissen- 
haft, und  dankenswert  ist  es  auch,  daß  S.  es  verzog,  eine  negative  Kritik 
zu  üben,  als  durch  unüberlegte  Behauptungen  die  Frage  zu  verwirren. 
Immerhin  wären  z.  B.  durch  eine  Analyse  der  in  den  Reliefs  dargestellten 
Architekturen  einige  Punkte  von  prinzipieller  Bedeutung  festzustellen;  um- 
gekehrt wäre  auch  eine  Zusammenstellung  der  Ducentobauten,  deren 
plastische  Dekoration  in  Beziehung  zu  N.  steht,  möglich  und  wünschenswert 
gewesen.  So  glaubte  ich  eine  Reihe  der  figurierten  Kapitelle  im  Langhaus 
des  Sieneser  Doms  dem  engsten  Wirkungskreise  N.’s  direkt  Zuschreiben 
zu  können,  so  daß  es  sehr  wohl  möglich  ist,  daß  N.  hier,  vor  seiner 
Kanzel,  als  Architekt  gearbeitet  hat. 

Die  Beurteilung  der  einzelnen  Werke  N.’s  durch  S.  gibt  kaum  zu 
Diskussionen  Anlaß.  So  ist  es  sicher  richtig,  wenn  er  die  durch  Venturi 
berühmt  gewordenen  Zwickelköpfe  am  Baptisterium  für  relativ  späte 
Werkstattarbeiten  erklärt,  deren  Wert  überdies  durch  starke  Überarbeitung 
fast  illusorisch  ist.  Jedenfalls  bieten  sie  nichts  für  die  Entstehungs- 
geschichte seines  Stiles.  Das  gleiche  gilt  aber  auch  für  das  Relief  mit  dem 
Grabesengel  in  Florenz,  das  irrtümlich  vor  N.  angesetzt  ist.  Den  Anteil 
des  Meisters  an  der  Area  di  S.  Domenico  denkt  sich  S.  größer,  als  die 
neuere  Forschung  zumeist  annimmt;  aber  entschieden  ist  hier  doch  ge- 
rade auch  die  Komposition  (nicht  nur  die  Ausführung)  von  den  ge- 
sicherten Arbeiten  N.’s  in  wesentlichen  Dingen  abweichend.  Dagegen 
sehe  ich  keine  Veranlassung,  in  der  Ausführung  des  Luccheser  Architravs 
die  Hand  Giovannis  zu  erkennen. 

4)  An  der  Rückseite  des  Altars  der  Badia.  Thronende  Madonna  mit  Kind  nebst 
Weihrauch  spendendem  Engel,  Petrus,  Paulus  und  dem  dedizierenden  Abt  Benvenuto. 

5)  Marmorrelief  der  Verkündigung  im  Dom.  Die  zugehörige  Inschriftplatte  im 
Taufraum  der  Kirche  eingemauert. 


170 


Literaturbericht. 


Die  den  Nachfolgern  N.’s  gewidmeten  Kapitel  schließen  sich  so 
eng  an  die  bekannten  älteren  Arbeiten  des  Verfassers  an,  daß  hierauf 
nicht  näher  einzugehen  ist.  Der  wichtigste  neue  Fund  ist  die  literarische 
Beglaubigung  der  Pisaner  Kanzelstützen  Giovannis;  freilich  konnte  es 
auch  ohne  dem  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  die  Zuschreibung  dieser  Ar- 
beiten an  Tino  unmöglich  ist,  wie  schon  L.  Justi  früher  betont  hat.  — Was 
man  an  all  diesen  inhaltvollen  Abschnitten  vermißt,  ist,  wie  gesagt,  die 
Darstellung  der  kunstgeschichtlichen  Zusammenhänge.  Es  sind  fleißige, 
gewissenhafte  Beiträge  zur  Künstlergeschichte  des  Trecento;  aber  sie  er- 
geben keine  geschichtliche  Darstellung  der  pisanischen  Kunst.  Die  um- 
sichtigen, aber  oft  sehr  gleichgültigen  Zusammenstellungen  des  literarischen 
Materials,  nicht  nur  der  Urkunden,  sondern  auch  der  rein  schriftstellerischen 
Ergüsse  von  Vasari  bis  Reymond,  nehmen  größeren  Raum  in  Anspruch, 
als  die  formalen  Analysen,  und  auch  aus  anderen  Gründen  wirkt  die 
Darstellung  sehr  ungleichmäßig  und  in  der  Auswahl  des  Materials  sogar  will- 
kürlich. So  ist  von  den  in  Pisa  erhaltenen  Denkmälern  fast  alles,  aber  von 
den  außerhalb  der  Stadt  bewahrten  pisanischen  Arbeiten  nur  wenig  erwähnt. 
Und  da  S.  von  der  Künstlergeschichte  ausgeht  und  folglich  die  Meister, 
die  er  behandelt,  von  allem  falschen  Ballast  befreien  muß,  sieht  er  sich 
oft  genötigt,  die  unbedeutendsten  Arbeiten,  die  irgendwie  einmal  einem 
Meister  angehängt  wurden,  eingehend  zu  besprechen,  während  andere, 
anonyme  Arbeiten  nur  kurz  oder  gar  nicht  erwähnt  werden,  obwohl  ihre 
Betrachtung  für  die  Erkenntnis  der  Stilentwicklung  oft  lehrreicher  ist, 
als  manche  bezeichnete  Arbeit.  Denn  man  weiß  ja,  wie  lückenhaft  unsere 
Kenntnis  der  Künstlergeschichte  jener  Zeit  ist.  Aber  auch  abgesehen 
hiervon,  ist  es  für  jeden,  der  sich  die  Dinge  methodisch  ansieht,  unbe- 
friedigend, wenn  in  einer  Geschichte  der  pisanischen  Kunst  z.  B.  Tino 
ein  großes  Kapitel  erhält,  während  Giovanni  di  Balduccio  kaum  erwähnt 
wird.  Besonders  ist  es  zu  bedauern,  daß  die  eigentliche  Spätzeit  des 
Trecento  viel  zu  kurz  gekommen  ist.  Die  pisanische  Holzskulptur  hätte 
hier  eine  eingehende  Würdigung  beansprucht,  und  nicht  nur  diese,  son- 
dern auch  manche  wertvolle  Marmorarbeit,  z.  B.  in  Pietrasanta,  u.  a.  m. 
Der  Schluß  des  Buches,  der  der  Malerei  gewidmet  ist,  zeigt  die- 
selben Vorzüge  und  Mängel,  wie  die  vorhergehenden  Abschnitte.  So 
verwendet  S.  z.  B.  einen  umständlichen  Beweis  dafür,  daß  die  Camposanto- 
Fresken  nicht  von  den  Lorenzetti  und  Bernardo  Daddi  sein  können  — 
was  selbstverständlich  ist!  — und  daß  ihre  Zuweisung  an  Buffalmäco 
nur  eine  Hypothese  ist.  Aber  es  kommt  nicht  zu  einer  klaren  erschöp- 
fenden Analyse,  die  deutlich  und  zusammenfassend  sagt,  was  diese  Ar- 
beiten eben  von  der  ganzen  sienesischen  und  florentinischen  Schule  tat- 
sächlich unterscheidet.  Deshalb  bleibt  auch  bei  seiner  bekannten  Zu- 


Literaturbericht. 


171 

Weisung  der  berühmten  Fresken  an  Traini  von  vornherein  der  Einwurf 
bestehen,  daß  die  verwandten  Züge,  die  er  zu  den  Bildern  dieses  Meisters 
konstatiert  (besonders  wichtig  die  inedita  des  Seminario),  eine  mehr  schul- 
mäßig-lokale  als  individuell-künstlerische  Bedeutung  und  Ursache  haben.6) 
Auch  wären  einige  Bemerkungen  über  den  Einfluß  der  pisanischen  Plastik 
auf  die  Malerei  des  Due-  und  Trecento  angebracht  gewesen.  — Für 
die  ältere  Zeit  sind  besonders  die  Abbildungen  der  Fresken  in  S.  Pietro 
a Grado  dankenswert,  da  man  bisher  bei  der  Beurteilung  dieser  wichtigen 
Arbeiten  auf  die  alten  Stiche  angewiesen  war.  Schade  nur,  daß  die 
meisten  Abbildungen  nicht  besser  sind,  als  man  es  von  Autotypien  ver- 
langen kann,  wenn  sie  dem  vornehmen  Aussehen  des  Buches  zuliebe 
auf  ungekreidetes  Papier  gedruckt  sind.  Swarzenski . 


Skulptur. 

Documents  de  sculpture  frangaise  du  moyen-äge  publ.  sous  la 
direction  de  Paul  Vitry  et  Gaston  Briere.  Recueil  de  140  planches 
contenant  940  documents.  Paris,  Ateliers  photome'caniques.  D.  A.  Lon- 
guet,  250  Faubourg  Saint-Martin. 

Seit  wir  das  Trocadero-Museum  haben,  sind  Publikationen  über  die 
ma.  Plastik  Frankreichs  an  der  Tagesordnung;  sie  geben  fast  immer  eine 
Auswahl  der  dort  vereinigten  Abgüsse.  Es  sind  Photographen-  und  Ver- 
legerunternehmungen, sehr  löblich  gewiß,  aber  ohne  persönliches  wissen- 
schaftliches Verdienst. 

Das  vorliegende  Werk  bringt  eine  sehr  erfreuliche  Variation  in  das 
Thema.  Offenbar  ist  die  Idee  hier  nicht  von  Unternehmern,  sondern 
von  den  gelehrten  Herausgebern  und  ihrem  Kreise  ausgegangen;  von 
jenen  Rüstigen  und  Begeisterten,  die  dem  Studium  der  französischen 
Plastik  mit  so  gutem  Erfolge  zugewendet  sind.  So  wird  denn  eine  Fülle 
wichtigen  Materials  hier  beigebracht,  das  bisher  nicht  veröffentlicht  und 
zum  Teil  selbst  denen  nicht  bekannt  ist,  denen  diese  Dinge  am  Herzen 
liegen.  Es  konnten  besonders  für  das  14.  und  15.  Jahrhundert  Auf- 
nahmen benutzt  werden,  die  L.  Courajod  s.  Z.  hat  machen  lassen  (jetzt 
in  der  Louvrebibliothek);  viele  andere  stammen  von  den  Herausgebern, 
besonders  von  Vitry,  dessen  leidenschaftliche  Hingabe  an  die  französische 
Kunst  und  Art  gelegentlich  seines  »Michel  Colombe«  auch  hier  schon 
belobt  ist.  A.  Michel,  C.  Enlart,  R.  Koechlin,  J.  J.  Marquet  de  Vasselot 
haben  weiteres  beigesteuert.  Obwohl  kritische  Bemerkungen  nicht  ein- 


6)  Vgl.  schon  Thode  in  dieser  Zeitschrift  XX,  1897,  S.  68  f. 


172 


Literaturbericht. 


gestreut  sind,  so  ist  doch  durch  die  sachkundige  Einordnung  das  Neue 
richtig  beleuchtet  und  an  Verwandtes  angeknüpft. 

Die  merkwürdige  Statuensäule  aus  dem  Kreuzgang  von  Comminges 
findet  man  neben  den  Portalfiguren  von  Valcabr£re,  mit  denen  sie  in 
dasselbe  Atelier  gehört  (Taf.  28).  Interessant  ist  Taf.  35  die  Zusammen- 
stellung der  Tympanen  von  St.  Benoit-sur-Loire  und  St.  Pierre-le-Moutier. 
Die  (nicht  mitabgebildeten)  Prophetenstatuen  des  ersteren  Portals  schienen 
mir  immer  im  Stil  den  bekannten  Königsstatuen  des  Transeptportals  in 
Saint-Denis  sehr  nahe;  es  scheinen  sich  auch  ähnliche  Bordürenmotive 
hier  und  dort  zu  finden;  auch  kommen,  irre  ich  nicht,  jene  eigentüm- 
lichen Kapitellbildungen,  die  in  Saint-Benoit  links  vom  Türsturz  sich 
zeigen,  in  Saint-Denis  ähnlich  vor.  Es  wäre  wichtig,  das  weiter  zu  ver- 
folgen, zumal  das  Portal  eins  der  frühesten  unter  den  Prophetenportalen 
mit  Statuengruppen  ist.  — Taf.  36  bietet  verwandte  Skulpturen  von 
Laon  und  Braisne  nebeneinander,  auch  das  weitaus  merkwürdigste  Stück 
der  ganzen  Gruppe,  das  große  Fragment  eines  Jüngsten  Gerichts  im 
Hotel  de  ville  zu  Soissons.  — Taf.  61  bringt  neben  den  reichge- 
schmückten Portalgewänden  der  Kathedrale  von  Rouen  (Westfass.ade)  die 
älteren  von  Mantes.  Es  sei  bei  der  Gelegenheit  darauf  hingewiesen,  daß 
sich  in  Rouen  ein  Motiv  findet,  das  mir  sonst  in  Frankreich  nur  selten 
wieder  begegnet  ist,  am  südlichen  Seitenportal  von  Notre-Dame-en-Vaux 
in  Chalons  und  in  Avallon:  die  am  unteren  Basenwulst  der  Säulen  hin- 
kriechenden Tiere.  In  Avallon  auch  schon  die  steigenden  Akanthus- 
blätter  zwischen  den  Säulen.  Es  deutet  das  auf  einen  Zusammenhang 
mit  der  burgundisch-champagnischen  Kunst,  worauf  auch  die  üppig  orna- 
mentierten Archivolten  zu  weisen  scheinen.  Die  sogen,  großen  Kathe- 
dralen sind  im  ganzen  am  wenigsten  gut  gefahren;  dankenswert  die 
Zusammenstellung  der  in  Bourges  und  Paris  zerstreuten  Fragmente  des 
Bourger  Lettners  (Taf.  73).  Eine  Perle  unter  den  Grabstatuen  des  späteren 
13.  Jahrhunderts  scheint  die  Sainte-Ozanne  in  Jouarre  zu  sein  (Taf.  80). 
Reich  und  interessant  ist,  was  für  das  14.  und  15.  Jahrhundert  geboten 
wird,  u.  a.  auch  der  wundervolle  Madonnenkopf  aus  dem  Palais  de  Justice 
in  Laon  (Taf.  96),  meines  Wissens  das  lieblichste  Madonnenantlitz,  welches 
das  frühe  14.  Jahrhundert  — man  könnte  selbst  noch  an  das  späte  13. 
hier  denken  — im  Norden  geschaffen  hat.  — Zusammen  mit  der  Grab- 
statue des  Herzogs  von  Berry  werden  die  zum  Grabmal  gehörigen  Pleureurs 
aus  der  Sammlung  des  Marquis  de  Vogüe  und  dem  Bourger  Museum 
abgebildet. 

Gewiß  wird  der  vortreffliche  Band  der  französischen  Plastik  neue 
Freunde  werben.  Vöge. 


Literaturbericht. 


*73 


Malerei. 

Dr.  G.  J.  Kern,  Die  Grundzüge  der  linear-perspektivischen  Dar- 
stellung in  der  Kunst  der  Gebrüder  van  Eyck  und  ihrer 
Schule.  I.  Die  perspektivische  Projektion.  Leipzig,  Seemann, 
1904,  37  S.  u.  14  Taf. 

Der  moderne  Künster  sieht  in  der  Theorie  der  Kunst  häufig  seinen 
Feind.  Der  wirklich  große  Meister  aber  ist  ihr  in  Wahrheit  nie  erlegen. 
Er  hat  zu  allen  Zeiten  die  »Hilfswissenschaften«  seiner  Kunst  — seines 
Handwerks  — studiert,  zu  nutzen  gewußt,  ja  oftmals  gefördert. 

Zum  wichtigsten  in  dem  Gebiet  der  Kunsttheorie  gehört  die  Lehre 
von  der  Perspektive,  ist  doch  die  Darstellung  des  Raumes  ein  Haupt- 
problem der  Malerei.  Bei  Jan  van  Eyck,  dem  größten  Raumeroberer 
des  Nordens  im  1 5.  Jahrhundert,  ward  dieser  wichtige  Punkt  bis  heute 
nur  gestreift;  seine  Biographen  kommen  dabei  zu  sehr  verschiedenen  Re- 
sultaten. Deshalb  hat  Joseph  Kern  es  unternommen,  die  Linear-Perspek- 
tive  Jan  van  Eycks  im  einzelnen  zu  untersuchen.  Er  verzichtet  freiwillig 
auf  das  Nachbargebiet  der  Luft-  und  Farbenperspektive  und  auf  die  Frage 
nach  Raumkomposition,  ein  Problem,  das»Dvoräk  in  den  Mittelpunkt 
seiner  jüngst  erschienenen  Arbeit  gestellt  hat.  — Kern  geht  von  den  ge- 
malten Architekturen  Jans  und  seines  Schülers  Petrus  Cristus  aus.  Denn 
nur  an  solchen  läßt  sich  der  Umfang  perspektivischen  Wissens  klar  er- 
kennen. Vom  Genter  Altar,  dem  Gemach  Arnolfinis  in  London  und  der 
Verkündigung  in  S.  Petersburg  führt  er  den  Leser  zu  den  Madonnen- 
bildern Jans  in  Dresden,  Berlin  und  Paris,  zur  Verkündigung  des  Cristus 
in  Berlin  und  seiner  Madonna  im  Städelschen  Institut.  Die  Detail- 
erkenntnisse, die  sich  bei  scharfer  Analyse  scheinbar  von  selbst  ergeben, 
werden  zunächst  schlicht  aneinander  gereiht.  Dann  wächst  aus  der  Zu- 
sammenfassung des  gesammelten  Materials  das  Resultat,  die  Umgrenzung 
altniederländischen  Wissens  auf  perspektivischem  Gebiet.  Eine  Fixierung 
des  schon  im  Mittelalter  hiervon  Bekannten  und  ein  Vergleich  mit  den 
Erkenntnissen  des  Florentiner  Zeitgenossen  Filippo  Bruneleschi  bestimmen 
die  historische  Stellung  des  Theoretikers  Jan  van  Eyck. 

Dies  ist  der  Weg.  Mit  kurzen  Worten  ist  auch  das  Resultat  der 
knappen,  inhaltreichen  Arbeit  zu  umgreifen.  — Bereits  Euklid  hat  eine 
Reihe  der  wichtigsten  Gesetze  der  perspektivischen  Projektion  gekannt. 
Er  wußte  von  der  Konvergenz  von  Parallelen  im  Hintergrund,  vom 
scheinbaren  Ansteigen  der  Ebenen  unter  dem  Horizont,  vom  scheinbaren 
Fallen  der  über  ihm  gelegenen;  auch  von  der  Verkürzung  einer  Ebene 
eines  Kreises  — zur  einfachen  Linie  (in  Horizontalhöhe).  Doch  ist  es 


1 74 


Literaturbericht. 


unsicher  — nach  Kern  höchst  unwahrscheinlich,  daß  das  Altertum  den 
Fluchtpunkt  als  Zentrum  aller  Parallelen  im  Raume  gekannt  hat. 

Das  Mittelalter  erfuhr  die  Lehren  des  Euklid  durch  Alhazen  und 
seinen  »Opticae  thesaurus.«  In  Vitellios  Übersetzung  und  in  Johannes 
Peckhams  gekürzter  Bearbeitung  ward  dieser  im  nördlichen  Europa  weit 
bekannt.  — Wahrscheinlich  hat  Jan  van  Eyck  für  die  ihm  wichtigsten 
Darstellungsprobleme  die  antiken  Schriftquellen  direkt  um  Rat  gefragt. 
Ein  Zitat  aus  Facius  spricht  dafür,  mehr  noch  die  Vorliebe  Jans  und 
seiner  Schule,  die  malerische  Erscheinung  von  Hohlspiegeln  im  Bilde  zu 
fixieren.  Obwohl  er  von  der  neuen  Lehre  Bruneleschis  unbeeinflußt  blieb 
und  von  dem  in  Florenz  damals  bereits  erkannten  Distanzpunkt  und  seiner 
Bedeutung  für  die  Konstruktion  nichts  gewußt  hat,  ist  doch  in  seinem 
Werk  die  Zunahme  perspektivischen  Wissens  zu  erkennen. 

Schon  am  Genter  Altar  läßt  Jan  die  parallelen  Linien  einer  Ebene 
stellenweise  nach  einem  Fluchtpunkt  konvergieren.  Für  die  verschiedenen 
Ebenen  hingegen  nimmt  er  verschiedene  Zentren1)  und  verschiedene  Ho- 
rizonte an.  Besonders  deutlich  wird  dieses  Prinzip  im  Arnolfinibilde  und 
der  Verkündigung  in  Petersburg.  Auch  an  der  Brügger  Madoqna  des 
Pala  (1436)  findet  es  sich.  — Als  aber  der  niederländische  Meister  das 
Bild  für  den  Kanzler  Rollin«  (heut  im  Louvre)  schuf,  wußte  er  wahr- 
scheinlich um  die  Bedeutung  des  Augpunktes  als  Fluchtzentrum  aller  Pa- 
rallelen im  Raum.  Zwar  sind  auch  hier  mehrere  Fluchtpunkte  und 
Horizonte  nachgewiesen,  doch  vereinen  sie  je  Parallelen  aus  hori- 
zontalen und  vertikalen  Ebenen;  zudem  sind  sie  dichter  zusammen- 
geschoben als  je  zuvor.  — Von  späteren  Bildern  des  Jan  enthält  nur  eins 
gemalte  Architektur,  die  umstrittene  Karthäuser-Madonna  in  Berlin.  Das 
zentralperspektivische  Prinzip  ist  an  ihr  nahezu  vollkommen  durchgeführt. 
Nach  einem  Fluchtzentrum  sind  alle  Parallelen  des  offenen  Halle  orien- 
tiert; nur  für  den  Turm  S.  Barbaras  und  für  die  Landschaft  gilt  das  nicht. 

Mit  des  Cristus’  Verkündigung  in  Berlin  und  der  Madonna  im 
Städelschen  Institut  endet  die  Untersuchung  Kerns.  Sie  sind  wie  der 
Schlußstein  eines  Gebäudes.  Das  zentralperspektivische  System  kommt 
endlich  fast  zu  seinem  Recht.  Ein  Horizont  und  ein  Fluchtzentrum  für 
alle  Parallelen.  Die  Kenntnis  des  Distanzpunktes  fehlt  freilich  auch  hier. 
Wir  wissen  nicht,  wann  sie  — von  Italien  aus?  — in  den  Niederlanden 
Einlaß  fand.  Erstaunlich  ist  es,  daß  Jan  auch  ohne  solche  das  Boden- 
muster des  Rollinbildes  fast  mathematisch  richtig  gezeichnet  hat.  — 
Andere  Konstruktionsfaktoren  kommen  für  die  einfachen  Frontalansichten 
der  Eyckschen  Schule  nicht  in  Betracht. 


')  Es  ist  unter  Zentrum  nicht  immer  Fluchtpunkt  zu  verstehen,  wie  Kern  betont. 


Literaturbericht. 


175 


Die  Durchführung  des  perspektivischen  Prinzips  findet  sich  in  den 
Bildern  des  Petrus  Cristus  zum  erstenmal;  auch  die  Karthäuser  Madonna 
ward  von  namhaften  Gelehrten  diesem  Meister  zuerkannt.  Und  doch 
wäre  es  verfehlt,  den  letzten  Schritt  auf  jeden  Fall  als  das  Verdienst  des 
Cristus  zu  bezeichnen.  Der  hat  sich  bei  künstlerischen  Problemen  fast 
durchgängig  als  geschickter  Imitator  — nicht  nur  des  Jan  van  Eyck  — 
erwiesen.  Auch  können  wir  heute  noch  nicht  ermessen,  wie  viele  Bilder 
Jan  van  Eycks  verschollen  sind,  und  höchstens  vermuten,  daß  unter  den 
verlorenen  auch  gemalte  Architekturen  seiner  letzten  Jahre  waren.  Das 
Badezimmer-Interieur,  das  Facius  beschreibt,  wird  auch  von  Kern  zitiert. 
Wahrscheinlich  ist  es,  daß  Jan,  nicht  Cristus,  die  umfassende  Bedeutung 
des  Augpunktes  erkannt  hat.  Es  ist  dies  zwischen  1436  und  1452  ge- 
schehen. 

Sehr  fein  sind  einzelne  Hinweise,  wie  der  künstlerische  Instinkt 
des  Jan  mitunter  die  Grenzen  seines  Könnens  verschleiert.  Bei  der  An- 
betung des  Lammes  schafft  das  Strahlenbündel  der  heiligen  Taube  — 
den  drei  Horizonten  zum  Trotz  — räumliche  Wirkung.  Die  unbequemen 
Grenzlinien  von  zwei  Ebenen,  an  welche  zwei  verschiedene  Fluchtzentren 
(vergl.  die  Petersburger  Verkündigung)  ein  Anrecht  geltend  machen, 
werden  durch  Staffage  zugedeckt  oder  durch  Halbdunkel  verschleiert. 
Die  Figuren  sind  im  Verhältnis  zu  ihrer  Umgebung  in  allen  Bildern 
Jan  van  Eycks  zu  groß.  Hier  wird  die  Farbe  zum  Vermittler.  Die  künst- 
lerische Einheit  harmonischer  Tonwerte  läßt  den  Beschauer  den  Mangel 
an  Einheit  in  den  Proportionen  übersehen.  Frida  Schottmiiller. 


Franz  Dülberg:  Frühholländer  II:  Altholländische  Gemälde  im  erzbischöf- 
lichen-Museum  zu  Utrecht.  25  Tafeln  mit  19  Seiten  Text;  H.  Klein- 
mann & Co.  Haarlem  1904. 

Die  gute  photographische  Wiedergabe  der  lehrreichsten  frühhollän- 
dischen Gemälde  des  Utrechter  erzbischöflichen  Museums,  deren  Publikation 
sich  an  die  der  Leidener  Werke  des  Engelbrechtsen  und  Lucas  von 
Leiden  anschließt,  wird  bei  der  problematischen  Natur  der  meisten  dieser 
Bilder  jedem  willkommen  sein,  der  sich  mit  der  älteren  niederländischen 
Malerei  befaßt.  Aber  auch  ein  allgemeines  ästhetisches  Bedürfnis  wird 
wenigstens  bei  einigen  Werken  wie  dem  monumental  empfundenen  Ecce 
homo  des  Geertgen,  dem  sensiblen  und  geistvollen  Triptychon  des  Engel- 
brechtsen und  den  eindringlich  klaren  Porträts  des  Scoorel  vollauf 
befriedigt.  Die  Einleitung  bringt  in  gewählter  Ausdrucksweise  klug  er- 
dachte Charakteristiken  und  gibt  in  einem  gewiß  nicht  trocken  wissen- 


176 


Literaturbericht. 


schaftlichen  Gewände  kritisch  begründete  Resultate.  Einige  Ausstellungen, 
die  gemacht  werden  können,  betreffen  nurmehr  Einzelheiten. 

So  erscheint  es  nicht  berechtigt,  das  Bild  Geertgens  anzuzweifeln, 
dessen  strenge  Größe,  bedeutende  Komposition  und  Tiefe  der  Empfin- 
dung kein  Nachfolger  erreicht  hat,  so  nah  ihm  einige  derselben  kommen. 
Die  allerdings  marklose  Zeichnung  der  Hände  kehrt  ähnlich  auf  dem 
Sippenbild  in  der  Kirche  wieder.  Auch  bei  der  kleinen  Madonna  der 
Ambrosiana,  die  Dülberg  in  diesem  Zusammenhang  erwähnt,  ist  an  der 
Eigenhändigkeit  festzuhalten.  Das  Bildchen  ist  von  Durand-Greville  und 
auch  von  mir  unabhängig  von  Friedländer,  der  es  zuerst  in  seinem  Auf- 
satz im  Jahrbuch  der  kgl.  preuß.  Kunstsamml.  erwähnt,  als  Geertgen  er- 
kannt worden.  Bei  dem  Stammbaum  Christi  in  der  Sammlung  Stroganoff, 
der  von  anderer  Seite  diesem  selbst  zugeschrieben  wird  und  mir  nur 
aus  einer  ungenügenden  Reproduktion  bekannt  ist,  darf  an  eine  Stelle  in 
den  Urkunden  erinnert  werden.  Die  in  dieser  Zeit  häufig  genannten 
Brüder  Mouwerijn  und  Claes  Simonsz  erhalten  im  Jahre  1490  den  Auf- 
trag auf  einen  »Baum  Jesse«  (v.  d.  Willigen  S.  52).  Allerdings  entspricht 
das  Format  des  Bildes  nicht  dem  einer  Predeile,  auf  welche  die  Be- 
stellung zu  lauten  scheint.  — Zum  Vergleich  zieht  der  Verfasser  das  be- 
kannte Hauptblatt  des  Stechers  W.  mit  dem  Schlüssel  heran  und  bezeichnet 
dabei  diesen  als  burgundisch-holländischen  Künstler.  Die  Benennung 
»holländisch«  dürfte  kaum  am  Platze  sein,  da  der  Stil  des  Künstlers 
flandrisch  ist  und  auch  die  Verwertung  seines  Stammbaumes  Christi  für 
ein  drittes  Werk  gleichen  Gegenstandes  von  G.  David  nach  Brügge 
weist.  Auch  wird  es  gut  sein,  die  Bezeichnung  Allard  Claeszoon  von 
Utrecht  für  den  Stecher  A fallen  zu  lassen,  weil  der  Meister  gleichfalls 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  Vlame  war,  die  Identifikation  unbegründet 
und  die  Lesart  Utrecht  auf  einem  seiner  Stiche  fragwürdig  ist. 

Um  Geertgen  gruppiert  Dülberg  einige  Nachfolger.  Von  dem  Mei- 
ster der  Anna  selbdritt  (Taf.  V)  wird  die  reizvolle  hl.  Familie  in  Dresden 
sein  (Nr.  840),  während  sich  von  der  Madonna  auf  der  Rasenbank  (Taf.  III) 
wenigstens  aussagen  läßt,  daß  die  Komposition  auch  in  der  Werkstatt 
des  Meisters  vom  Tode  Mariä  bekannt  war.  Denn  dessen  Gemälde  mit 
der  Ruhe  auf  der  Flucht  in  München  (Nr.  59)  und  in  Brüssel  geben 
Maria  genau  in  derselben  Haltung  im  Gegensinn  wieder.  Der  Zusammen- 
hang der  Frankfurter  Kreuzigung  mit  dem  Kruzifixus  im  Museo  Correr 
in  Venedig  ist  richtig  erkannt  worden.  Nur  ist  dieses  Werk  keinesfalls 
von  Hugo  van  der  Goes,  wie  Dülberg  angibt,  sondern  von  dem  Meister 
der  Frankfurter  Kreuzigung  selbst.  — Von  dem  naiven,  munteren  aber 
ungeschickten  Künstler  des  Naardener  Kalvarienberges  lassen  sich  noch 
drei  andere  Werke  namhaft  machen,  die  Marter  der  h.  Lucia  im  Rijks- 


Literaturb  ericht. 


177 


museum,  die  man  kaum  mit  Recht  neuerdings  wieder  Geertgen  selbst 
geben  will,  die  Kreuzabnahme  bei  Figdor  in  Wien,  die  schon  Friedländer 
mit  dem  Amsterdamer  Bild  zusammengestellt  hat,  und  eine  Kreuzi- 
gung in  Gent.  Unter  den  Schülern  Geertgens  läßt  sich  die  Persönlich- 
keit dieses  sklavisch  von  seinem  Lehrer  abhängigen  Meisters  am  deut- 
lichsten fassen,  abgesehen  von  jenem  ungleich  bedeutenderen  Maler  der 
Kreuzigungen  bei  Glitza  und  in  den  Uffizien  (zu  der  letzteren  existiert 
eine  Vorstudie  in  Darmstadt),  der  auch  mit  der  Plastik  in  Beziehung 
steht,  wie  eine  seinen  hl.  Frauen  im  Rijksmuseum  nahestehende  hl.  Anna 
selbdritt  ebenda  beweist. 

Mit  den  Zuweisungen  an  Jacob  Cornelisz  ist  der  Verfasser  nicht 
sehr  glücklich  gewesen,  zum  mindesten  nicht  bei  der  Anbetung  der  Könige, 
da  dieser  Künstler  in  zeitlich  früher  entstandenen  Gemälden  gleichen 
Gegenstandes  oder  selbst  in  dem  Neapeler  Werk  schon  auf  einer  höheren 
Stufe  zeichnerischer  Vollendung  steht.1)  Dagegen  ist  Engelbrechtsen, 
dessen  Werk  in  den  letzten  Jahren  dank  der  Forschungen  Friedländers 
beträchtlich  erweitert  worden  ist,  durch  das  zweifellose  Triptychon  mit 
Passionsdarstellungen  glücklich  vertreten.  Der  kühlen  Farbengebung  und 
der  leicht  an  Scoorel  gemahnenden  Vereinfachung  der  Landschaft  und 
Architektur  nach  mag  es  etwas  später  entstanden  sein,  als  Dülberg  an- 
gibt — etwa  gleichzeitig  mit  dem  kleinen  Kreuzigungsbildchen  bei 
v.  Kauffmann  und  in  Amsterdam  — , falls  man,  wie  es  gewöhnlich  geschieht, 
annimmt,  daß  die  Beweinung  in  Leiden  kurz  vor  1526  entstanden  ist. 
Denn  der  Abstand  in  der  Farbengebung  und  Ornamentik,  die  dort  noch 
spätgotisch,  hier  Renaissancestil  zeigt,  ist  beträchtlich.  In  den  lang  aus- 
gezogenen Formen  der  Rahmenverzierung  kann  man  den  Einfluß  des 
Lucas  von  Leiden  bemerken,  der  sonst  merkwürdigerweise  wenig  auf 
seinen  preziösen,  aber  gestaltungsreichen  Lehrer  zurückgewirkt  hat;  nur 
etwa  einige  Figuren  auf  dem  Abschied  Christi  von  seiner  Mutter  im  Rijks- 
museum dürfte  man  als  Beleg  für  einen  Zusammenhang  anführen. 

Nach  Geertgen  ist  Engelbrechtsen  der  zweite  große  schulbildende 
Meister  in  Holland.  Van  Mander  nennt  zwei  Söhne  des  Künstlers, 
sowie  Lucas  und  Aertie  von  Leiden  als  dessen  Schüler,  und  das  vor- 


")  Beiläufig  erwähne  ich,  daß  man  neuerdings  auch  nach  Jacob  Cornelisz 
fälscht.  So  befindet  sich  im  Besitz  des  Pastors  vom  Begijnehof  in  Amsterdam  eine 
kleine  Truhe  aus  Holz,  die  das  bekannte  Monogramm  und  die  Jahreszahl  1518  trägt. 
Die  von  gotischem  Schnitzwerk  umgebenen  figürlichen  Darstellungen  zeigen  in  mehreren 
Abteilungen  das  Amsterdamer  Hostienwunder.  Der  Imitator,  der  alte  Bestandteile  be- 
nutzte und  seinem  geschickten  Kunstprodukt  mit  Hilfe  einer  Schrotladung  und  anderen 
Mitteln  ein  altertümliches  Ansehen  gab,  benutzte  den  Holzschnitt,  der  das  Titelblatt  der 
Succincta  enarratio  miraculorum bildet. 


178 


Literaturbericht. 


handene  Bildermaterial  läßt  auf  einen  noch  größeren  Wirkungskreis 
schließen.  Aertie  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Verfertiger 
der  Annagelung  ans  Kreuz  (Taf.  XVI),  wie  ich  an  anderer  Stelle  aus- 
führlicher zu  begründen  suche.  Das  Bild  ist  vom  Verfasser  gut  als  ein 
Spätling  der  Leidener  Schule  eingeordnet  worden. 

Auch  der  Meister  der  Utrechter  Adoration  ist  möglicher  Weise  ein 
Leidener  von  Herkunft,  wenngleich  die  meisten  seiner  Werke  deutliche 
Beziehung  zu  Orley  zeigen.  Eins  derselben  befindet  sich  noch  jetzt  im 
St.  Annahofje  in  Leiden,  für  das  es  gestiftet  wurde.  Auf  den  Zusammen- 
hang mit  dem  Triptychon  im  Haag  hat  Dülberg  mit  Recht  hingewiesen, 
während  ein  zweites  angeführtes  Werk  in  Bologna  wenig  mit  dem  Meister 
zu  tun  hat,  vielmehr  dem  gewöhnlich  als  Herri  met  de  Bles  bezeichneten 
Künstler  näher  steht. 

Nach  einem  Ausblick  auf  den  nicht  in  jeder  Hinsicht  verderblichen 
Einfluß  der  italienischen  Kunst  in  Spätwerken  Scoorels  bildet  die  letzte 
Tafel  der  Publikation  mit  den  Jerusalemsfahrern  und  der  Darstellung  der 
Geburtsstätte  Christi  in  Bethlehem  in  holländischer  Auffassung  einen 
hübschen  Abschluß.  Stellt  man  neben  dieses  Blatt  noch  einige  andere 
wie  die  Vision  des  h.  Dominikus  während  des  Chordienstes,  die  ein  Bild 
der  Kircheneinrichtung  der  Zeit  gibt,  und  die  des  hl.  Bernhard,  auf  der 
man  die  Mönche  im  Chorgestühl  sitzen,  in  der  Kirche  wandeln  sieht  (in 
den  Typen  erinnert  dieses  Bild  an  das  Wörlitzer  Gemälde  des  Frank- 
furter Meisters),  so  darf  man  sagen,  daß  auch  eine  kulturgeschichtliche 
Betrachtung  manche  Belehrung  aus  dem  Werke  gewinnen  kann.  Wem 
es  aber  mehr  um  Entwicklungsgeschichte  zu  tun  ist,  der  wird  in  den 
zahlreichen  Kircheninterieurs  die  Anfänge  der  holländischen  Architektur- 
malerei und  der  Kunst,  schummeriges  Binnenlicht  zart  und  weich  wieder- 
zugeben, mit  Freuden  begrüßen.  W.  R.  Valentiner. 


Kunsthandwerk. 

Der  Verduner  Altar.  Ein  Emailwerk  des  12.  Jahrhunderts  zu  Kloster- 
neuburg. Text  von  K.  Drexler,  Verlag  M.  Gerlach  u.  Co.,  Wien  1903. 
Das  großartige  Klosterneuburger  Schmelzwerk  des  Nikolaus  von 
Verdun  ist  schon  vor  langen  Jahren  durch  Camesina  veröffentlicht  worden, 
zuerst  1844  in  farbigen  Tafeln  mit  Text  von  Arneth,  später  in  stark  ver- 
kleinerter schwarzer  Wiedergabe  mit  einer  Beschreibung  von  G.  Heider. 
Beide  Werke  beruhten  auf  freihändigen  Aufnahmen  und  können  den 
"heutigen  Ansprüchen  an  eine  für  wissenschaftliche  Zwecke  brauchbare 
Reproduktion  längst  nicht  mehr  genügen.  Sie  waren  zeichnerisch  un- 


Literaturbericht. 


179 


genau,  namentlich  in  dem  ungemein  kunstvollen,  oft  geradezu  klassischen 
Faltenwurf  des  Verduner  Meisters;  die  Farbentafeln  von  1844  gaben 
außerdem  ein  ganz  unrichtiges  Bild  der  Schmelztechnik  und  Wirkung,  da 
sie  die  ganze  Farbenreihe  auf  die  zwei  Hauptfarben  Blau  und  Rot  redu- 
zierten. Die  ornamentale  Umrahmung  der  5 1 figürlichen  Schmelztafeln, 
obwohl  sie  von  größter  Wichtigkeit  ist  für  die  Erkenntnis  der  stilistischen 
und  technischen  Eigenart  der  Maasschule,  war  ganz  fortgelassen. 

Der  Altar  gehört  nun  ohne  Frage  zu  den  allerbedeutendsten  Denk- 
mälern, welche  die  zeichnende  Kunst  des  12.  Jahrhunderts  hinterlassen 
hat.  Durch  die  unglückliche  Aufstellung  in  einer  engen  Kapelle  des 
Klosterneuburger  Stifts,  deren  Licht  auf  die  Rückseite  des  Altares  fällt, 
wird  aber  das  Studium  und  der  Genuß  des  herrlichen  Werkes  an  Ort 
und  Stelle  sehr  erschwert,  und  man  darf  wohl  behaupten,  daß  es  selbst 
in  Fachkreisen  nicht  so  bekannt  ist,  wie  es  nach  seinen  künstlerischen  Qua- 
litäten verdient.  Die  neue,  auf  Kosten  der  k.  k.  Unterrichtsministeriums 
hergcstellte  Publikation  von  K.  Drexler  leistet  daher  der  kunstgeschicht- 
lichen Forschung,  dem  Unterricht  und  allen  Freunden  romanischer  Kunst 
einen  großen  Dienst.  Sie  bringt  das  ganze  Werk,  die  Bildtafeln  mit- 
samt der  Umrahmung,  auf  5 2 ganz  vortrefflichen  Lichtdrucken  nach  Photo- 
graphien des  Klosterneuburger  Klerikers  Strommer.  Außerordentlich 
dankenswert  ist  die  Zugabe  von  drei  Farbentafeln,  welche  die  Schmelz- 
technik, die  ornamentalen  Emailplatten  und  die  sonstigen  Verzierungen 
so  klar  veranschaulichen,  daß  man  mit  ihrer  Hilfe  die  verlorenen  Spuren 
des  Nikolaus  von  Verdun  auch  in  den  zwei  Jahrzehnten  zwischen  der 
Vollendung  des  Altars  (1181)  und  des  Marienschreins  in  Tournai  (1205) 
auffinden  können  wird.  Die  sehr  getreue  Reproduktion  läßt  jetzt  mit 
voller  Sicherheit  erkennen,  daß  Arneth  recht  hatte,  als  er  die  sechs  Tafeln 
XXII — XXIV  und  XXVIII — XXX  als  eine  Zutat  der  im  Jahre  1329  be- 
endeten Wiederherstellung  des  Altars  bestimmte.  Was  Drexler  gegen 
diese  Ansicht  vorbringt,  das  Vorkommen  von  Waffenformen  und 
Trachten  des  12.  Jahrhunderts,  erklärt  sich  wohl  dadurch,  daß  dem 
Wiener  Meister  des  14.  Jahrhunderts  die  ursprünglichen,  durch  den 
Brand  beschädigten  Tafeln  des  Nikolaus  noch  als  Vorbild  Vorlagen.  Es 
ist  an  den  Abbildungen  dieser  sechs  Tafeln  sowie  mehrerer  Zwickel- 
platten höchst  interessant  zu  sehen,  wie  dieser  geschickte  Wiener  Meister 
bemüht  war,  den  Stil  seines  Vorgängers  festzuhalten,  ohne  doch  den 
Gotiker  verleugnen  zu  können. 

Einen  seltsamen  Irrtum  Drexlers  kann  ich  nicht  unerwähnt  lassen. 
Er  nennt  als  das  Jahr  der  Vollendung  des  Altars  1191,  obwohl  er  selbst 
den  Widerspruch  bemerkt  hat,  daß  damals  der  Stifter  Werner  nicht  Propst 
von  Klosterneuburg  gewesen  ist.  Die  richtige  Datierung  auf  1x81  muß 


i8o 


Literaturbericht. 


der  Leser  des  Drexlerschen  Textes  dem  Wortlaut  der  alten  Inschrift  selbst 
»anno  milleno  centeno  septuageno  nec  non  undeno«  entnehmen.  O,  v-  F. 


Kunstschätze  des  Aachener  Kaiserdomes.  Text  von  Stephan 
Beissel  S.  J.  35  Lichtdrucke,  Druck  und  Verlag  von  B.  Kühlen, 
M.-Gladbach  1904. 

Das  vergangene  Jahr  hat  in  kurzer  Aufeinanderfolge  eine  Reihe  von 
Publikationen  gebracht,  die  durch  ihr  reiches  Abbildungsmaterial  eine 
ganz  wesentliche  Förderung  für  das  Studium  des  mittelalterlichen  Kunst- 
handwerks bedeuten.  Das  vorliegende  Buch  enthält  auf  35  Foliotafeln 
die  wichtigsten  Denkmäler  des  Aachener  Münsterschatzes  vom  10.  bis 
zum  16.  Jahrhundert.  Die  Lichtdrucke  sind  durchgängig  nach  neuen 
Aufnahmen  von  der  Kunstanstalt  Kühlen,  die  auch  die  Tafeln  der  neuen 
Veröffentlichung  des  Essener  Schatzes  geliefert  hat,  in  musterhafter  Schärfe 
und  Klarheit  hergestellt.  Die  beiden  umfangreichsten  Hauptstücke  des 
Aachener  Schatzes,  der  Karlschrein  und  der  Marienschrein,  sind  nicht 
nur  von  allen  vier  Seiten  aufgenommen,  sondern  es  sind  auch  noch  De- 
tailtafeln beigefügt,  die  ein  genaues  Studium  der  Einzelheiten  des  Email- 
schmuckes und  der  plastischen  Ausstattung  ermöglichen.  Das  ist  um  so 
dankenswerter,  als  die  Originale  in  Aachen  nur  von  einer  Seite  sichtbar 
sind.  (Diese  Tafeln  der  großen  Schreine  finden  sich  auch  in  den  gleich- 
zeitig erschienenen  »Deutschen  Schmelzarbeiten  des  Mittelalters«  von 
Falke  und  Frauberger;  die  photographischen  Aufnahmen,  welche  in  beiden 
Fällen  als  Vorlage  gedient  haben,  sind  aber  speziell  für  das  Beisselsche 
Buch  gemacht  worden.)  Der  Text  Beissels  bringt  kurze  Beschreibungen 
und  historische  Erläuterungen,  die  durch  eine  ausführlichere  Besprechung 
derselben  Denkmäler  in  Beissels  »Aachenfahrt«  vom  Jahre  1902  ergänzt 
werden.  Die  vorsichtigen  Bestimmungen  von  Herkunft  und  Entstehungs- 
zeit der  Kunstwerke  treffen  fast  in  allen  Fällen  das  Richtige.  Nur  gegen 
die  Besprechung  des  Karlschreines  möchte  ich  eine  abweichende  Ansicht 
vertreten.  Nach  Beissel  ist  dieser  Schrein  von  dem  Verfertiger  des  großen 
Kronleuchters  Wibert  kurz  nach  1165  begonnen  und  von  seinem  . Sohn 
oder  Nachfolger  1215  vollendet  worden  (S.  6 und  8).  Die  Autorschaft 
Wiberts  spricht  Beissel  zweimal  als  sichere  Tatsache  aus,  obwohl  dafür 
keinerlei  historische  Beglaubigung  existiert  und  ebensowenig  irgendeine 
stilistische  Begründung  versucht  oder  erbracht  wird.  Sie  würde  sich  auch 
nicht  erbringen  lassen,  denn  der  Kronleuchter  Wiberts  steht  der  Maas- 
schule nahe,  während  der  Karlschrein,  wie  Beissel  selbst  bemerkt  hat 
(S.  7),  mit  den  Kölner  Schreinen  viele  Berührungspunkte  hat.  Diese 
Verwandtschaft  mit  den  Kölner  Werken  ist  noch  viel  enger,  als  Beissel 


Literaturbericht. 


181 


annimmt.  Der  Karlschrein  ist  nach  seinem  Bau-  und  Dekorationssystem 
eine  Wiederholung  des  in  Köln  kurz  vor  1200  gefertigten  Benignusschreins 
in  Siegburg  und  des  Oberbaues  des  Kölner  Domschreines,  der  nicht  vor 
1200  fertiggestellt  sein  kann.  Dazu  kommen  zahlreiche  technische  und 
stilistische  Analogien  mit  dem  Benignusschrein  (vgl.  Deutsche  Schmelz- 
arbeiten d.  M.  A.,  S.  53,  98,  99),  die  in  Verein  mit  dem  gleichen  Bau- 
system beweisen,  daß  der  Meister  des  Benignusschreins,  der  noch  am 
Domschrein  Mitarbeiter  war,  danach  erst  der  leitende  Künstler  des  Karl- 
schreins gewesen  ist.  Die  daraus  resultierende  Datierung,  welche  den 
Beginn  des  Karlschreines  nicht  nach  1165,  sondern  nach  1200  setzt, 
schließt  ebenso  wie  der  Stil  einen  Anteil  Wiberts  aus.  Bei  der  Be- 
sprechung einer  aus  der  Maasschule  stammenden  Schmelzplatte  (T.  XIII) 
kommt  Beissel  durch  Aufzählung  einiger  verwandter  Werke  zu  dem  sehr 
richtigen  Ergebnis,  daß  der  Meister  dieser  Maaswerke  für  die  Herstellung 
des  Heribertschreines  nach  Deutz  berufen  worden  ist.  Nur  irrt  er  darin, 
wenn  er  demselben  Künstler  noch  den  Maurinusschrein,  den  Ursulaschrein 
in  Köln  und  den  Gregoriustragaltar  in  Siegburg  zuweist.  Hier  liegt  nur 
eine  Beeinflussung  eines  Kölner  Künstlers  durch  den  Heribertschrein  vor. 
Ich  brauche  darauf  nicht  näher  einzugehen,  da  ich  an  anderer  Stelle  die 
Scheidung  zwischen  den  Werken  des  Maasmeisters  Godefroid  de  Claire 
und  des  Kölners  Friedrich  durchgeführt  habe.  Schließlich  möchte  ich 
im  Interesse  einer  exakten  Terminologie  des  Kunstgewerbes  von  dem 
Ausdruck  »Braunes  Maleremail«  abraten,  den  Beissel  regelmäßig  für  den 
braunen  Ölfirnis  auf  Kupfer  gebraucht,  analog  dem  französischen  »Email 
brun«.  Die  Kunst,  Leinöl  auf  Kupfer  zu  einer  braunglänzenden  Schicht 
aufzudörren,  hat  weder  technisch  mit  Email  oder  gar  Maleremail  irgend 
etwas  zu  tun,  noch  auch  ist  ihre  Wirkung  dem  Email  ähnlich.  O.  v.  F. 


Europäisches  Porzellan  des  18.  Jahrhunderts.  Katalog  der 
vom  15.  Februar  bis  30.  April  1904  im  Lichthofe  des  Königl. 
Kunstgewerbe-Museums  zu  Berlin  ausgestellten  Porzellane 
von  Adolf  Brüning,  in  Verbindung  mit  Wilhelm  Behncke,  Max 
Creutz  und  Georg  Swarzenski.  Berlin  1904.  Verlag  von  Georg  Reimer. 

Vorliegendes  Werk  ist  die  erste  jener  zu  erwartenden  Publikationen 
der  Porzellanausstellungen  des  vergangenen  Jahres,  die  in  der  letzten 
Nummer  dieser  Zeitschrift  besprochen  worden  sind.  Sie  ist  im  Gegen- 
satz zu  den  beiden  anderen,  die  durch  die  ganz  anders  gearteten  Aus- 
stellungen abgeschlossene  Monographien  darstellen  werden,  in  erster  Linie 
ein  Katalog  der  damaligen,  das  ganze  Gebiet  des  Porzellans  umfassenden 
Ausstellung.  Sie  gibt  hierbei  ihre  wichtigsten  Stücke  in  Abbildungen 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


13 


182 


Literaturbericht. 


und  vermehrt  dadurch  wesentlich  das  auf  diesem  Gebiet  noch  gar  nicht 
so  reiche  Abbildungsmaterial.  Sie  fixiert  schließlich  — wohl  als  bleibender 
Teil  dieser  Arbeit  — die  auf  Grund  dieses  bisher  beispiellos  reichen 
Materials  gewonnenen  wissenschaftlichen  Resultate  und  vermehrt  dadurch 
das  gleichfalls  noch  gar  nicht  so  reichlich  Festgestellte  auf  diesem  Gebiet, 
namentlich  hinsichtlich  der  Erzeugnisse  selber,  die  nur  zu  oft  vor  billiger 
Aktenweisheit  vergessen  zu  werden  pflegen.  Alle  diese  Aufgaben  sind 
in  diesem  Werke  mit  großer . Gewissenhaftigkeit  durchgeführt  worden: 
eine  bedeutende  Menge  Fleiß  und  Beobachtung  steckt  darin.  Vielleicht 
sind  Porzellane  noch  niemals  mit  so  viel  Liebe  und  Sorgfalt  behandelt 
worden,  wie  hier. 

Den  Hauptteil  des  Werkes  füllt  der  Katalog.  Durchführung  und 
Anordnung  können  als  mustergültig  gelten.  Die  Gegenstände  sind  zu- 
nächst nach  Fabriken  gruppiert,  innerhalb  dieser  nach  der  Zeitfolge,  dann, 
wo  genügend  Material  vorhanden  war,  wie  bei  Meißen  und  Berlin,  nach 
den  Dekortypen,  deren  Bezeichnungen  vielfach  den  im  18.  Jahrhundert 
gebräuchlichen  entlehnt  sind,  die  hoffentlich  in  Museum-  und  Sammler- 
kreisen zur  Ersparung  vieler  unnützer,  sich  wiederholender  Beschreibungen 
sich  immer  mehr  einbürgern  werden.  Hierbei  ist  alles  getan,  die  Orien- 
tierung möglichst  zu  erleichtern.  Die  Kopfleiste  trägt  den  Namen  der 
Fabrik,  die  Bezeichnung  der  Dekorgruppen  findet  sich  am  Rande.  Maße 
und  Besitzer  stehen  links,  sämtliche  Marken  und  die  Zeitbestimmung 
rechts  unter  jedem  Stücke.  Zwei  Markentafeln  bringen  zwar  kaum  etwas 
Neues,  durften  aber  der  Vollständigkeit  halber  nicht  fehlen.  So  verliert 
der  Katalog  möglichst  den  Charakter  eintöniger  Aufzählung  und  läßt  das 
Wesentliche  jedes  Stückes  rasch  erkennen. 

Die  wissenschaftliche  Einleitung  ist  reich  an  neuen  oder  bisher  nicht 
publizierten  Ergebnissen.  Sie  verzichtet  — für  diese  Stelle  äußerst  ver- 
ständig — auf  eine  Darstellung  der  Geschichte  der  verschiedenen  Fa- 
briken, die,  falls  nicht  neue  Studien  gemacht  wurden,  doch  nur  bereits 
Gedrucktes  hätte  wiedergeben  können;  sie  hält  sich  ausschließlich  an  die  vor- 
liegenden Erzeugnisse  selber,  sucht  diese,  wo  es  irgend  ging;  chronologisch 
voneinander  abzusondern  und  zu  Typengruppen  zusammenzufassen.  Vor 
allem  jedoch  sind  hier  — und  darin  besteht  ein  Hauptverdienst  dieses 
Buches,  das  das  Studium  des  Porzellans  um  ein  bedeutendes  Stück  weiter 
bringt  — mit  aller  Energie  die  Beziehungen  des  Porzellans  zur  großen  Kunst 
der  Zeit  aufzudecken  versucht,  die  teilweisen  Vorbilder  für  seine  Malereien 
und  plastischen  Werke,  für  die  man  bisher  fast  nur  auf  Vermutungen  und 
sporadische  Funde  angewiesen  war.  Die  systematische  Durchsicht  der 
damaligen  Bilderstecher  hat  hier  namentlich  für  das  Meißener,  Berliner 
und  Frankenthaler  Porzellan  zu  sehr  interessanten  Ergebnissen  geführt, 


Literaturbericht. 


183 


die  wohl  auch  späterhin  noch  manches  der  vermeintlichen  absoluten 
Selbständigkeit  der  Porzellanmanufakturen  des  18.  Jahrhunderts  rauben, 
als  Ersatz  dafür  aber  die  Bewunderung  des  künstlerischen  Geschicks  setzen 
werden,  mit  dem  derartige  Vorlagen  in  ein  ganz  anders  geartetes  Material 
oder  auch  andere  Kunst  z.  B.  Malerei  in  Plastik,  übertragen  worden  sind.  Die 
Ergebnisse  aller  dieser  wissenschaftlichen  Forschungen  sind  natürlich  sehr 
ungleich  ausgefallen.  Am  reichsten,  dank  dem  umfangreichen  Material, 
das  zur  Verfügung  stand,  für  Meißen  und  Berlin,  sowie  für  Frankenthal, 
dessen  Porzellan  für  den  Hauptverfasser  Gegenstand  langjährigen  Studiums 
gewesen  ist.  Vollständigkeit  konnte  auch  hier  naturgemäß  nicht  erzielt 
werden.  Auch  wird,  wer  eigene  Studien  auf  dem  Gebiet  des  Porzellans 
gemacht  hat,  wohl  noch  nicht  gleich  alle  hier  an  sich  mit  anerkennenswerter 
Vorsicht  niedergelegten  Resultate  unterschreiben  können.  Hauptsache 
jedoch  war,  daß  diese  einzige  Gelegenheit  zur  Forschung  ausreichend  be- 
nutzt ward,  und  das  ist  hier  in  der  Tat  in  dankenswerter  Weise  geschehen. 

Noch  ein  Wort  zur  Illustrierung!  Die  Reproduktion  des  Porzellans 
ist  der  wunde  Punkt  bei  aller  wissenschaftlichen  Bearbeitung  desselben. 
Es  gibt  auch  schwerlich  viele  andere  Gebiete  der  Kunst,  die  in  dieser 
Beziehung  dieselbe  Sorge  machen:  die  Wiedergabe  der  Farbe,  die  beim 
Porzellan  eigentlich  unerläßlich  ist,  bildet  hier  die  eigentliche  Aufgabe. 
Photographische  Wiedergaben  ohne  Farben,  namentlich  durch  die  billige 
Autotypie,  wirken  immer  garstig:  verschwommen  und  wulstig  fällt  dabei 
aus,  was  in  der  Natur  klar  und  zierlich  ist;  das  Stoffliche  des  Porzellans 
verliert  jeglichen  Reiz.  Derartige  Darstellungen  sind  kaum  geeignet,  für 
das  Dargestellte  Sympathie  zu  erwecken.  Doch  auch  die  farbige  Wieder- 
gabe wird  durch  die  Lebhaftigkeit  der  Farben  des  Porzellans  erschwert. 
Die  Farbe  ist  ja  hier  nicht  bloß  Farbe,  sondern  auch  Licht,  das  das 
stumpfe  Papier  von  vornherein  nicht  wiedergeben  kann.  Dennoch  muß, 
da  Farbe  beim  Porzellan,  wie  bei  aller  entwickelten  Keramik,  künst- 
lerisch alles  ist,  nach  farbigen  Wiedergaben  mit  allen  Mitteln  gestrebt 
werden  und  diesen  der  Vorzug  gegeben  werden,  selbst  wenn  billige  Repro- 
duktionsweisen noch  keine  ganz  befriedigenden  Resultate  liefern.  Man 
hat  daher  bei  der  Wiedergabe  von  Porzellan  vielfach  die  Anwendung  der 
farbigen  Photomechanik  vulgo  Dreifarbendruck  versucht,  ohne  indessen 
hier  schon  oft  zu  befriedigenden  Resultaten  gelangt  zu  sein.  Die  besten 
Arbeiten  dieser  Art  dürften  auf  dem  Gebiet  der  Keramik  bisher  wohl  in 
England  zutage  gekommen  sein.  Auch  in  vorliegendem  Werk  ist  dies  Ver- 
fahren mehrfach  herangezogen  worden,  und  der  Verfasser  dieses  weiß,  welche 
Mühe  man  sich  hier  mit  dessen  Anwendung  gegeben  hat.  Daß  hierbei 
die  Resultate  schon  ganz  befriedigend  und  gleichmäßig  ausgefallen  sind, 
wird  kaum  ein  Kenner  alten  Porzellans  sagen  können.  Ein  solches  Re- 


13 


184 


Literaturbericht. 


sultat  war  bei  der  Schwierigkeit  dieses  Verfahrens  auch  kaum  zu  erwarten. 
Wir  stehen  auf  diesem  Gebiet  noch  zu  sehr  in  den  Anfängen.,  um  dieses 
Reproduktionsverfahren  schon  ganz  in  unserer  Gewalt  zu  haben.  Auch 
kann  man  dem  Verleger  eines  derartigen,  an  sich  schon  mit  einem  ge- 
wissen Risiko  verknüpften,  Werkes  nicht  auch  noch  die  Ausgabe  für  lang- 
wierige vorbereitende  Experimente  zumuten.  Hier  wäre  eine  schöne 
Aufgabe  für  die  deutsche  Reichsdruckerei,  für  deren  baldige  Durchführung 
die  ganze  Wissenschaft  der  Keramik  derselben  zu  großem  Danke  ver- 
pflichtet sein  würde.  Emst  Zimmermann. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 

Die  Wiederauffindung  eines  seither  verschollenen  Werkes  des 
piemontesischen  Malers  Macrino  d’  Alba  wird  neuerdings  dem  Eifer 
Dr.  Diego  Sant’  Ambrogios  verdankt  (s.  Lega  Lombarda  vom  i.  Juli  und 
Avvenire  di  Monferrato  vom  5.  Juli  1904).  Es  ist  das  1,50  m breite 
1,45  m hohe  Triptychon,  das  ursprünglich  für  den  Hauptaltar  der  Zister- 
zienserabtei von  Lucedio  bei  Trino  in  Piemont  gemalt,  sich  jetzt  in  der 
Kapelle  des  bischöflichen  Palastes  zu  Tortona  befindet.  Im  mittleren 
Abteil  sehen  wir  die  Madonna  in  trono,  in  der  Linken  das  Buch  der 
heiligen  Schriften  haltend,  mit  der  Rechten  das  in  ihrem  Schoße  sitzende 
segnende  Christkind  stützend.  Zwei  Engel  halten  über  ihrem  Haupte  die 
Krone,  zwei  andere  zu  ihren  Füßen  entlocken  der  Mandoline  bezw.  dem 
Dudelsack  (!)  Melodien.  Ein  zwischen  ihnen  gemaltes  Cartellino  trägt 
die  Inschrift:  Macrinus  d’Alba  faciebat  1499.  In  den  Arabesken,  die  den 
Sockel  des  Thrones  schmücken,  kommen  wiederholt  die  zu  einer  Sigle 
verschlungenen  Buchstaben  H,  N und  B (Hannibal)  vor.  Auf  dem  rechten 
Flügel  ist  der  Täufer  im  härenen  Gewände  mit  Kreuz  und  Inschriftsband 
dargestellt,  ganz  ähnlich,  wie  ihn  auch  das  große  Altarbild  Macrinos  in 
der  Turiner  Galerie  vom  Jahre  1498  zeigt.  Auf  dem  linken  Flügel  hin- 
gegen sehen  wir  den  dem  Dominikanerorden  angehörenden  hl.  Augustin, 
Bischof  von  Trau  in  Dalmatien,  wie  er  die  in  den  violettroten  Mantel 
der  apostolischen  Protonotare  gekleidete  knieende  Gestalt  des  Donators 
der  himmlischen  Jungfrau  empfiehlt.  Dieser  letztere  nun  ist  Hannibal 
Paleologo,  aus  dem  Geschlechte  der  Markgrafen  von  Monferrato,  von  dem 
es  geschichtlich  feststeht,  daß  er  1485  Komtur  der  Abtei  von  Lucedo 
ward.  Daß  er  das  Triptychon  für  die  letztere  ausführen  ließ,  berichteten 
— wie  wir  aus  Iricos  Storia  di  Trino,  1735,  erfahren  — die  auf  dem 
seither  verlorenen  ursprünglichen  Rahmen  der  Tafel  verzeichneten 
Distichen: 

Hannibal  illustris  Ferrati  Montis  et  ingens 
Commendatarius  nobile  fecit  opus 
Hoc  fieri,  pictor  Macrinus  natus  in  Alba 
Auxilium  pinxit  contribuente  Deo 
1499  V.  Septembris. 


i86 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


Was  die  Erhaltung  unseres  Triptychons  betrifft,  so  sind  die  beiden 
Flügel  unberührt;  das  Mittelbild  dagegen  zeigt  die  Spuren  späterer  Über- 
malung und  Firnissung;  doch  hat  sich  die  erstere  glücklicherweise  vor- 
zugsweise auf  den  blauen  Mantel  der  Madonna  beschränkt,  und  die 
übrigen  Teile  nur  unwesentlich  alteriert.  Die  Übertragung  der  Tafel 
nach  Tortona  erfolgte  wahrscheinlich  durch  den  Bischof  Fassati  (1728  bis 
1817),  zur  Zeit  als  die  Zisterzienser  die  Abtei  Lucedo  verlassen  mußten 
(1792),  oder  als  diese  endgiltig  aufgehoben  (1801)  und  ihre  Güter  ver- 
kauft wurden.  C.  v.  F. 


Zur  Kunstgeschichte  von  Pistoja  bezw.  Siena  veröffentlicht  Dr.  Peleo 
Bacci  einige  interessante  Urkunden  aus  den  dortigen  Archiven,  indem  er 
sie  mit  wertvollen  Kommentaren  begleitet  (Cinque  documenti  per  la  storia 
dell’  arte  senese  del  XIII  al  XV  secolo,  raccolti  e annotati  da  Peleo  Bacci. 
Per  nozze.  Pistoja  1903.  8°.  27  S.).  Die  erste  Urkunde  bezieht  sich  auf 
die  im  September  des  Jahres  1265  erfolgte  Übernahme  der  von  dem 
sieneser  Goldschmied  Pace  di  Valentino  im  Verein  mit  vier  Gehilfen 
verfertigten  silbernen,  vergoldeten  und  reich  mit  kostbaren  Steinen  ge- 
schmückten Deckel  für  ein  Evangeliar  (testavangelo,  rectius  »tetravangelo«), 
sowie  für  einen  Kelch  samt  Patene,  beide  für  die  Cappella  di  S.  Jacopo 
im  Dom  zu  Pistoja  bestimmt  (vgl.  hierüber  auch  L.  Zdekauer,  La  bottega 
di  un  orefice  del  Dugento,  Siena  1903  und  Ga  et.  Beani,  La  Cattedrale 
Pistojese,  Pistoja  1903).  Auf  der  Vorder-  und  Rückseite  der  Buchdeckel 
waren  in  getriebener  Arbeit  eine  Maestä  und  ein  Crucifixus  mit  der 
Madonna  und  Johannes  dem  Evang.  dargestellt.  Die  beiden  kostbaren 
Stücke  lassen  sich  in  den  Inventaren  bis  1777  verfolgen,  wo  auf  Befehl 
des  Großherzogs  Pietro  Leopoldo  der  gesamte  Aktiv-  und  Passivbesitz 
der  Opera  di  S.  Jacopo  der  Komune  von  Pistoja  überwiesen  wurde.  Seit- 
her sind  sie  beide  leider  verschwunden.  — Die  zweite  Urkunde  gibt  den 
Vertrag,  den  die  Erben  Cinos  da  Pistoja  (nicht  wie  man  seither  annahm 
die  Kommune  seiner  Vaterstadt)  mit  Cellino  di  Nese  im  Jahre  1337  be- 
treffs der  Ausführung  des  Grabmals  Cinos  abschlossen.  Es  heißt  darin, 
daß  dieses  hergestellt  werden  soll  »seconda  uno  disengnamento  il  quäle 

fecie  il  Maesto di  Siena  e questi  medesimo  de’  lavorare  lo  detto 

marmo«.  Also  nicht  Cellino,  wie  immer  angenommen  wird,  sondern  der 
sieneser  Bildhauer,  dessen  Name  der  Vertrag  verschweigt,  ist  der  Meister 
des  gedachten  Grabmals.  Es  bleibt  ungewiß  ob  wir  G010  di  Gregorio, 
Maestro  Agostino  oder  Agnolo  als  solchen  anzusehen  haben;  ausgeschlossen 
bleibt  auf  alle  Fälle  aus  stilkritischen  Gründen  Andrea  Pisano,  dem  Va- 
sari  das  Werk  zuschreibt.  Cellino  di  Nese  aber  war  nur  der  Unter- 


Mitteilungen  Uber  neue  Forschungen. 


187 


nehrner  desselben.  Ob  er  Sienese  gewesen  sei,  ist  auch  zweifelhaft;  viel- 
mehr scheint  Pistoja  seine  Heimat  zu  sein,  wo  er  1334 — 40  nachweisbar 
ist  (1339  wird  ihm  die  Verkleidung  des  dortigen  Baptisteriums  über- 
tragen). 1349,  1360  — 62  und  1368  — 74  arbeitet  er  in  Pisa  am  Cam- 
posanto  und  am  Baptisterium. 

Das  dritte  Dokument,  ein  Inventar  des  Kirchenschatzes  von  S.  Maria 

♦ 

fortis  portae  aus  dem  Jahre  1372  wiedergebend,  macht  uns  mit  einem  bis- 
her unbekannten  sieneser  Goldschmiede  Maestro  Duccio  di  Donato,  als 
dem  Verfertiger  eines  an  Knauf  und  Fuß  mit  Email  geschmückten  Kelches 
bekannt.  Er  mag  wohl  ein  Zeitgenosse  seines  Landsmannes  Maestro  Toro 
gewesen  sein,  den  uns  jüngst  Dr.  R.  Davidsohn  als  im  Jahre  1320  am 
päpstlichen  Hofe  von  Avignon  tätig  enthüllt  hat  (s.  Bullettino  storico 
senese  1901).  Die  Kirche  S.  Maria  fortis  portae  aber  ist  dieselbe,  über 
deren  Ruinen  1494  die  Madonna  dell’  Umiltä  errichtet  wurde.  — Die 
folgende  Urkunde  enthält  die  Verleihung  des  pistojesischen  Bürgerrechts 
an  den  Maler  Niccolö  di  Mariano  aus  Siena  unterm  4.  März  1478,  unter 
der  Bedingung,  daß  er  im  zweiten  Saale  des  Palazzo  pubblico  binnen 
zwei  Monaten  ein  Wandgemälde  mit  dem  ungläubigen  Thomas  ausführe; 
in  der  letzten  endlich  wird  dem  Genannten  der  Termin  für  die  Vollendung 
besagten  Werkes  unterm  4.  Mai  1478  um  einen  Monat  verlängert.  Da 
dieses  untergegangen  ist,  so  läßt  sich  über  die  künstlerische  Bedeutung 
seines  Schöpfers  um  so  weniger  urteilen,  weil  sonst  weder  über  seine 
Person  noch  seine  Arbeiten  etwas  bekannt  ist,  außer  daß  er  sich  im 
Jahre  1491  verpflichtet,  für  die  Kirche  S.  Pietro  di  Vicopetroso  in  der 
Gemeinde  Vinci  ein  Altargemälde  zu  liefern  (welches  auch  nicht  mehr 
existiert,  s.  Milanesi,  Nuovi  documenti  per  l’arte  toscana,  Firenze  1901 
P-  159)- 

Eine  zweite  Publikation  widmet  P.  Bacci  dem  Maler  G.  B.  Volpini, 
lo  Scalabrino  (1489 — 1561),  sowie  einigen  andern  mit  ihm  gleichzeitigen 
pistojesischen  Malern  (Signoraccio,  Fra  Paolino  Gerino,  Bern.  Detti  und 
Panciatichi;  s.  Bulletino  storico  pistojese,  1903  fase.  4).  Der  Genannte  ist 
zu  unterscheiden  von  dem  Sienesen  Michelangelo  Anselmi,  Scalabrino, 
einem  Schüler  Sodomas  und  Nachahmer  Correggios.  Bacci  rekonstruiert 
auf  Grund  des  Urkundenmaterials  die  Biographie  des  Meisters,  und  macht 
von  seinen  vielen  Arbeiten  als  einzig  noch  erhaltene  die  eine  Seite  einer 
Prozessionsfahne  in  S.  Giuseppe,  den  hl.  Josef  mit  dem  Christkinde  im 
Arme  darstellend  (1509)  und  zwei  Presepiobilder  namhaft  — das  eine 
im  Palazzo  Comunale,  das  andere  im  Empfangssaal  des  Conservatorio  di 
S.  Giovanni  Battista.  Eine  Reihe  von  acht  urkundlichen  Belegen  gibt 
der  Arbeit  Baccis  besonderen  Wert  für  die  Geschichte  der  Malerei  Pistojas 
im  Cinquecento.  C.  v.  F. 


i88 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


Onofrio  Giordano  della  Cava.  Der  berühmte  neapolitanische  Architekt 
und  Ingenieur  dieses  Namens  ist  uns  bekannt  als  Restaurator  des  Rektoren- 
palastes zu  Ragusa  nach  dem  Brande  von  143 5, J)  als  Erbauer  der  Wasser- 
leitung dieser  Stadt  (wo  an  dem  Brunnen  bei  Porta  Pile  eine  Inschrift 
seine  Verdienste  verewigt),1 2 3)  endlich  auch  als  einer  der  Künstler,  die  von 
Alfons  I.  beim  Bau  des  Castel  Nuovo  Verwendung  fanden.  3)  Daß  die 
Verbindung  zwischen  ihm  und  Ragusa  nach  Vollendung  der  eben  ange- 
führten Arbeiten  nicht  aufhörte,  daß  im  Gegenteil  Rektor  und  Rat  der 
Stadt  seine  Dienste  auch  später  wiederholt  in  Anspruch  nahmen, 
davon  geben  die  folgenden  Urkunden  im  ragusaner  Archiv  Zeugnis.  Die 
erste  ist  ein  Geleitsbrief,  der  dem  Meister  für  eine  in  Aussicht  stehende 
Reise  nach  Ragusa  unterm  4.  November  1450  ausgestellt  wird..  Er  lautet 
(in  der  zurückbehaltenen  Kopie  des  Originals): 

Rector  et  Consilium  Civitatis  Ragusij.  Circumspecto  viro  Magistro 
Honofrio  della  Caua  Ingeniario,  veniendi  ex  quocunque  loco  ad 
Civitatem  nostram  Ragusij  eiusque  districtum:  Ibique  standi,  morandi, 
pernoctandi,  cum  Omnibus  et  singulis  eius  Armis,  Arnisijs,  Valisijs  et 
rebus:  Indeque  discedendi  pro  eius  libito  voluntatis:  amplam  et  omnimo- 
dam  licentiam  et  facultatem  cum  pleno  libero  validoque  Salvoconductu 
omni  prorsus  dolo  et  suspicione  carente  valituro  mensibus  tribus  a die 
quo  Ciuitatem  ipsam  applicuerit  futuris:  Tenore  presentium  damus,  con- 
cedimus,  et  impartimus.  Datum  Ragusij  die  Illjo  novembris  MCCCC°L. 
(Arch.  Comunale,  Lettere  e Commissioni  di  Levante  1451-52  filza  12, 
p.  174.) 

Es  handelte  sich  in  diesem  Falle  um  die  Begutachtung  oder  den 
Entwurf  von  Befestigungen  der  Stadt  und  um  den  Guß  von  Geschützen, 
wie  ein  Passus  des  folgenden,  fünf  Jahre  später  an  König  Alfons  von 
Neapel  gerichteten  Schreibens  ersichtlich  macht,  das  die  neuerliche  Über- 
lassung des  Meisters  aus  solchem  Anlaß  für  drei  Monate  erbittet: 

Regi  Aragonum. 

Serenissime  Princeps.  Impetus  turcorum,  quos  in  dies  magis  ac 
magis  inualescere  vidimus  contra  cristianos  ipsorum  eorum  cristianorum 
negligentia,  faciunt  ut  res  nostras  in  tuto  positas  non  arbitremus  nisi 


1)  Als  solchen  nennt  ihn  die  gleichzeitige  Chronik  des  Filippo  de  Diversis,  her- 
ausgegeben von  Brunelli. 

2)  Ihren  Wortlaut  s.  unter  anderm  bei  Gius.  Gelcich,  Dello  sviluppo  civile  di 
Ragusa  considerato  nei  suoi  monumenti  istorici  ed  artistici,  Ragusa  1884  pag.  54. 

3)  Cam.  Riccio,  Alcuni  fatti  di  Alfonso  I.  (Arch.  stör,  napoletano  VI,  pag.  421) 
publiziert  aus  den  Cedole  di  tesoreria  (vol.  24,  fol.  167)  ein  Regest,  wonach  ihm  und 
zwei  Genossen  1453  dreihundert  Dukaten  für  Arbeiten  gezahlt  weiden,  die  sie  am  Turm 
(maschio)  des  Castel  Nuovo  ausgeführt  hatten. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


189 


urbicum  nostrum  talibus  menijs  cingimus  quibus  hostem  quem  iam  satel- 
litibus  suis  urbem  ipsam  prius  provexisse  sentimus,  et  repellere,  et  arcere 
possimus.  Res  igitur  nostra  agitur  paries  dum  proximus  ardet.  Quap- 
piam  cum  alias  experti  sumus  industriam  magistri  honofrij 
della  Caua  in  construendis  huiusmodi  propugnaculis,  attentissime 
supplicamus,  ut  de  gratia  speciali  dignetur  ipsum  magistrum  honofrium 
quanto  prius  fieri  potest  per  trimense  concedere,  prout  ipsi  (folgen  zwei 
unlesbare  Abkürzungen)  pro  predicta  de  (ein  Wort  unlesbar)  comunem 
nostrum,  cui  super  hac  causa  opportuit  scripsimus  destructus  (?)  parte 
nostra  supplicabitur. 

die  VHIj  Julij  1455 

(1.  c.  filza  14,  anni  1454 — 1460,  a pag.  i99r.) 

Die  Missive  an  den  Gesandten,  der  dies  Schreiben  dem  König  über- 
bringen, und  Onofrio  oder  in  seiner  Verhinderung  einen  andern  bewährten 
Kriegsbaumeister  für  den  angegebenen  Zweck  verpflichten  sollte,  datiert 
vom  gleichen  Datum  und  lautet  wie  folgt: 

die  VHIj  Julij  1455. 

Rector  de  Ragusi  cum  el  suo  consiglio  allo  prouido  Giucho  de 
marco  guerchoni  (?)  dilecto  Citadino  nostro  salutem.  Acomettemoui  che 
col  nome  de  dio  et  del  glorioso  martire  messer  san  ßiasio  confalonier 
et  protector  nostro  ve  debiate  partir  de  qua  et  andar  alla  dretura  piu 
presto  porete  alla  via  de  napoli.  Et  li  sendo  trouereto  maestro  hono- 
frio  della  chaua  Ingegnero,  cum  lo  quäle  parlerete  per  parte  della 
segnoria  nostra  et  pregeretelo  et  conforteretolo  che  uoglia  vignir  a ragusi 
per  tre  mesi,  ouer  per  doi,  ouer  almancho  per  uno  mese  che  hauera  bono 
partito  con  noj  Et  uolendo  lui  vegnir  col  nome  de  dio,  Et  se  pur  dicesse 
non  posser  vignir  senza  licentia  della  maesta  del  segnor  Re,  allora  voi  ve 
apresenterete  alla  maesta  del  ditto  sognor  Re,  et  dareteli  la  nostra 
lettera,  et  suplichereteli  humelmente  chel  se  degni  concederne  lo  detto 
maestro  honofrio.  Et  se  per  caso  lo  ditto  maesto  honofrio  non  volesse 
ouer  non  potesse  vignir,  allora  consiglio  del  ditto  maestro  honofrio 
trouerete  uno  altro  maestro  Inzegnero  de  quäle  sufficientia  ö lo  detto 
maestro  honofrio,  alqual  prometterete  vignando  a Ragusi  hauere  bono 
partito  della  signoria  nostra.  Et  vignendo  lo  ditto  m°  honofrio,  ouer 
altro  inzegnero  con  consiglio  del  detto  m»  honofrio,  ouer  non  vignendo 

trouereti  uno  bono  et  sufficiente  maestro  bombardero,  el  quäl  bene  et 

sufficientemente  sapia  far  bomb ar de  et  zitar  cingude  al  quäl  pro- 
metterete vignendo  lui  con  voj  a Ragusi  hauera  bono  partito  cum  la 

signoria  nostra.  Et  sei  detto  m°  honofrio  volendo  vegnir,  ouer  non  vig- 

nendo lui,  1’  altro  maestro  inzegnero,  ouer  el  detto  bombardiero  ve  doman- 
dasseno  denarj  per  spese  ve  damo  duc.  cinquanta  li  quali  debiate  dar 


190 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


aqueli,  facendoui  dar  bona  et  sufficiente  plezner  (plegium,  Bürgschaft) 
de  vignir  cum  voi  a Ragusi.  Et  sendo  in  accordio  cum  noj,  li  denari 
li  dareti  li  se  metteremo  aconto  del  salario  loro,  Et  non  sendo  in  achordio 
con  noj,  sia  in  nostra  liberta  a provederli  per  spese  quelo  parera  anoj. 
Et  a voj  damo  duc.  X.  Et  sendo  della  via  Informereti  delle  nauelle  et 
per  uostra  lettera  ne  auisereti. 

(loc.  cit.  filza  13  dal  1448  al  1488,  a fol.  i68v.) 

Ob  Onofrio  der  Berufung  gefolgt  sei,  oder  welch’  weiteren  Verlauf 
die  Angelegenheit  genommen,  darüber  konnten  wir  im  ragusaner  Archiy 
keine  urkundliche  Aufklärung  auffinden.  C.  v.  F 


Eine  bisher  unbekannte  Arbeit  Giulianos  da  Sangallo  wird  uns 
durch  das  folgende  Zeugnis  enthüllt:1) 

i486. 

Messer  Francesco  di  Giovanni,2 3 4 5)  nostro  priore  [ha]  ollogato  [a] 
Antonio  di  Francesco  di  Bartolo3)  legnaiuolo  uno  adornamento  della 
tavola  faciän  fare  per  la  nostra  chiesa  a Domenic.o  di  Tomaso  del  Gril- 
landaio,  come  n’  e copia  in  questo,  carte  158,  el  quäle  adornamento 
detto  Antonio  debbe  fare  a sue  spese  di  legnami  e altre  cose  apartenenti, 
e debbi  esser  nel  modo  e forma  come  per  disegno  dato  per  detto  Antonio 
di  sopra,  intagliato  e lavorato  secondo  1’  adornamento  della  tavola  ch’  6 
al  presente  nella  chiesa  degl’  Ingiesuati  all’  altare  maggiore,4)  e perche 
in  detto  disegno  di  detta  tavola  v’  e dua  agnoli  che  adorano,  che  detti 
agnoli  si  sbattono  a detta  allogagione,  conservando  ogni  altra  cosa  che 
in  detto  disegno  apare,  cioe: 

tabernacolo  per  Corpo  di  Cristo 
candellieri  [arabeskierte  Pilaster  zur  Seite]  da  lato, 
e ’l  cornicione  o con  mensole  o sanza,  a beneplacito  di  messer 
Francesco  nostro  e di  fra  Bernardo  frate  di  Ingiesuati.  5) 

')  Da  das  interessante  Dokument,  in  einer  Gelegenheitsschrift  per  nozze  veröffent- 
licht, (Gius.  Gatteschi  e Gaet.  Bruscoli,  L’  adorazione  dei  Magi  di  Dom.  del  Ghirlandajo 
negli  Innocenti.  Firenze  1902),  den  meisten  nichtitalienischen  Fachgenossen  unzugänglich 
bleiben  dürfte,  erscheint  seine  Wiedergabe  an  dieser  Stelle  berechtigt. 

2)  Tesori,  bis  Februar  1484  Rektor  von  S.  Maria  degli  Ughi,  seither  bis  an  seinen 
Tod  im  Jahre  1497  Prior  des  Innocentiahospitals. 

3)  Es  ist  der  jüngere  Bruder  Giulianos  da  Sangallo. 

4)  Gemeint  ist  die  Altartafel  Ghirlandajos,  die  bei  der  Niederlegung  des  Klosters 
S.  Giusto  alle  Mura  aus  Anlaß  des  Assedio  von  1529  gerettet  wurde  und  jetzt  in  den 
Uffizien  bewahrt  wird.  Ihre  Umrahmung  jedoch,  auf  die  in  obigem  bezug  genommen 
wird,  ist  verloren. 

5)  Es  ist  dies  derselbe  Klosterbruder  der  Gesuati,  der  einige  der  gemalten  Glas- 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


191 

E detto  adornamento  debbe  dare  fatto  alla  nostra  chiesa,  e per 
essa  a messer  Francesco  di  Giovanni  nostro  priore  per  tutto  il  mese  di 
giugno  1487  prossimo  che  debbe  venire. 

E avere  per  detto  adornamento  di  sua  fatiche  e legname  e altre 

cose  apartenenti  a detto  adornamento,  fiorini  cinquanta  larghi  d’oro  in 

oro,  che  cosi  sono  rimasti  d’  acordo  questo  dj  vj  di  giugno  1486,  e per 
fede  di  ciö  e’  sopradetti  si  soscriveranno  qui  da  pi£  di  lor  propria  mano. 

E piü  £ rimasto  d’  acordo  che  si  paghi  per  lui,  cio£  per  detto  An- 

tonio di  Francesco  legnaiuolo,  fiorini  dieci  larghi  d’oro  in  oro  a mona 
Mechera  di  Giovanni  da  Carmignano  nostra  comessa,  a libro  comessi  A, 
carte  340. 

Io  Antonio  di  Francesco  nominato  sono  contento  a quanto  di  sopra 
si  contiene,  e per  dette  cose  oservare  mi  sono  soscritto  di  mia  propria 
mano  ogi  questo  dj  detto  di  sopru. 

Io  M.  Franc0  di  Giovanni  priore  del  sopradetto  Spedale  son  contento 
a quanto  di  sopra  si  contiene  ogi  questo  dj  sopradetto,  e per  chiareza 
del  vero  mi  sono  soscritto  di  mia  propria  mano. 

(Archivio  degli  Innocenti,  Libro  di  ricordi  dal  1484  al  1489,  a 
carte  i58v.) 

Obwohl  der  vorstehende  Vertrag  für  die  Lieferung  der  reichge- 
schnitzten Umrahmung  des  Anbetungsbildes  Ghirlandajos  in  der  Kirche 
der  Innocenti  mit  dem  Bruder  Giulianos  da  Sangollo  abgeschlossen  wurde, 
so  führte  die  Arbeit  doch  Giuliano  aus.  Zeugnis  dessen  der  folgende 
Vermerk,  der  die  Ausgabenliste  für  das  in  Rede  stehende  Altarbild  in 
den  Rechnungsbüchern  des  Hospitals  abschließt: 

E a dj  detto  [22  marzo  1489]  fiorini  56  d’oro  in  oro  e barilj  i° 
d’olio  e catasta  1 xj2  di  legne,  faciän  buoni  a Giuliano  di  Francesco  da 
San  Gallo  per  sua  fatica  d’intagliatura  e legname  della  detta  tavola  e 
tabernacolo  e candelieri  ä fatto  d’acordo,  posto'  in  questo  carte  388  a 
spese,  cio£  debbi  avere L.  385.13 

Es  ist  bekannt,  daß  Giuliano  namentlich  in  seiner  Jugend  als  Holz- 
bildhauer sich  betätigte,  sowie  auch,  daß  er  eine  Zeitlang  mit  seinem 
jüngeren  Bruder  eine  gemeinsame  Holzschnitzerwerkstätte  hielt  (vgl.  unsern 
chronologischen  Prospekt  zu  seinem  Leben  im  Beiheft  des  Jahrbuchs  der 
k.  preußischen  Kunstsammlungen,  Jahrgang  1902,  zu  den  Jahren  1480  bis 
1482).  Leider  existiert  die  Arbeit,  um  die  es  sich  hier  handelt,  nicht 
mehr:  sie  fiel  wahrscheinlich  der  1615  erfolgten  Umwandlung  des  Altars 
der  Innocentikirche  in  seine  heutige  Gestalt  zum  Opfer.  C.  v.  F. 

fenster  des  Florentiner  Doms  nach  Zeichnungen  Ghirlandajos,  Uccellos,  und  Andrea  del 
Castagnos  ausführte  (s.  G.  B.  Uccel  li , II  convento  di  S.  Giusto  alle  Musa  c i Gesuati. 
Firenze  1865,  pag.  105). 


192 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


Pietro  di  Martino  da  Milano  in  Ragusa.  In  unserem  Artikel: 
»Neues  zum  Triumphbogen  Alfonsos  des  I.«,  den  wir  im  Jahrbuch  der 
Königlich  preußischen  Kunstsammlungen  (1902,  S.  3 — 16)  veröffentlichten, 
hatten  wir  betreffs  der  Richtigkeit  des  Datums  des  dort  (S.  4)  mitge- 
teilten Schreibens  Alfonsos  an  den  Rat  von  Ragusa,  womit  er  diesen 
um  Überlassung  des  in  dessen  Diensten  stehenden  Meisters  Pietro  da 
Milano  ersuchte,  Zweifel  ausgesprochen.  Ein  Aufenthalt  in  Ragusa  im 
Frühjahr  dieses  Jahres  hat  uns  nunmehr  Gelegenheit  gegeben,  Klarheit 
in  die  Sache  zu  bringen.  Das  Original  des  königlichen  Schreibens  ist 
im  Archiv  von  Ragusa  nicht  mehr  vorhanden;  was  wir  (a.  a.  O.)  als 
solches  irrtümlich  abdruckten,  ist  vielmehr  dessen  Konzept  oder  Kopie, 
die  von  Dr.  Nehez  den  im  Staatsarchiv  von  Barcelona  aufbewahrten 
Regestenbüchern  der  Krone  Aragon  entnommen  worden  war  (es  erklärt 
sich  somit  die  von  ihm  angegebene  Provenienz:  Arch.  de  la  C[orona]  de 
Afragon]).  Wenn  wir  somit  auch  im  ragusaner  Archiv  das  Datum  des 
fraglichen  Dokumentes  nicht  feststellen  konnten,  so  haben  wir  dort  doch 
die  folgenden  beiden  Vermerke  gefunden,  die  jeden  Zweifel  an  der 
Richtigkeit  des  in  der  Kopie  enthaltenen  Jahresdatums  1452  beheben: 

Die  terzio  Maij  1452. 

Prima  pars  [der  zur  Abstimmung  in  der  Ratsversammlung  vor- 
gelegten Anträge]  est  de  dando  libertatem  dnö  Rfectori].  et  eius 
parvo  Consilio-  ad  contemplationem  Majestatis  dni  Regis  Aragonum 
de  liberando  familiam  et  avere  et  raubas  [ital.  robe]  Magri  petri 
lacipide  de  Mediolano  quod  possint  libere  ire  et  portare  ubi 
voluerint  [der  Antrag  wird  mit  33  gegen  3 Stimmen  angenommen], 
(Arch.del  Comune,  Consilium  Rogatorum,  filza  13,  anni  1452  — 1453, 
Pag-  3V0 

Die  s[ecund]o  Junij  1452. 

Prima  pars  est  de  franchando  plegios  [die  Bürgen]  Magri  petri 
lacipide  de  Mediolano  occasione  laborerij  quod  ipse  promiserat 
facere  comuni  nostro  seu  procuratoribus  sancti  blasii,  et  occasione 
denarorum  habitorum  pro  quibus  ipsi  plegii  [sic!]  promiserat  pro 
tempo  [sic!  angenommen  mit  33  gegen  6 Stimmen]. 

(loc.  cit.  a pag.  2 2r). 

Aus  dem  ersten  dieser  Vermerke  ergibt  sich,  daß  der  Rat  von 
Ragusa  schon  auf  das  erste  Schreiben  Alfonsos  hin  (worauf  in  seinem 
Briefe  vom  3.  Juni  1452  Berufung  geschieht)  das  Sequester  auf  die  Habe 
und  Familie  Pietros  da  Milano  aufgehoben  und  ihm  gestattet  hatte,  die 
Stadt  zu  verlassen.  Der  zweite,  einen  Monat  später  gefaßte  Beschluß 
entbindet  die  Bürgen,  die  in  betreff  des  von  Pietro  empfangenen  Vor- 
schusses für  ihn  gutgestanden  waren,  ihrer  Verpflichtung. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


193 


Beide  Vermerke  aber  liefern  den  Beweis,  daß  Pietro  in  der  ersten 
Hälfte  des  Jahres  1452  in  Ragusa  weilte  (über  den  Zeitpunkt  seiner 
Berufung  dahin  haben  wir  leider  keine  urkundliche  Nachricht  auffinden 
können),  und  daß  somit  jener  Petrus  Johannis  de  Como,  der  von 
x449 — 1453  am  Dombau  von  Orvieto  beschäftigt  war,  mit  ihm  nicht 
identisch  sein  könne,  wie  wir  früher  angenommen  hatten  (s.  unsere  Studie 
über  den  Triumphbogen  Alfonsos  im  Jahrbuch  der  Kgl.  preuß.  Kunst- 
sammlungen 1899,  S.  9,  Anm.  3 und  S.  161  ff.).  Ebenso  wird  es  nun- 
mehr sehr  zweifelhaft,  daß  der  Maestro  Pietro  di  Giovanni  da  Va- 
rese,  der  von  der  zweiten  Hälfte  1452  bis  1455  in  Rom  arbeitet,  (siehe 
a.  a.  O.  S.  11  und  152),  und  Pietro  da  Milano  ein  und  dieselbe  Person 
gewesen  sei.  Dies  wäre  nur  unter  der  Annahme  möglich,  König  Alfonso 
hätte  den  im  Laufe  des  Juni  1452  nach  Neapel  gekommenen  Pietro  da 
Milano  nur  wenige  Monate  — keinesfalls  länger  als  bis  gegen  Ende 
*45  2 x)  — verwendet,  und  dieser  wäre  sodann  zur  letztgenannten  Frist 
nach  Rom  übersiedelt,  woher  er  erst  anfangs  1455  2U  bleibendem  Auf- 
enthalt wieder  nach  Neapel  zurückkehrte.  Indes  hat  eine  solche  An- 
nahme wenig  Wahrscheinliches;  denn  der  dringende  Ton,  in  dem  der 
König  in  seinem  Schreiben  die  Überlassung  des  Meisters  fordert,  drängt 
zu  der  Folgerung,  er  habe  nicht  bloß  eine  ganz  vorübergehende  Ver- 
wendung desselben  beabsichtigt,  namentlich  da  Pietro  infolge  der  Be- 
rufung nach  Neapel  eine  wohl  längere  Zeit  dauernde  Beschäftigung  in 
Ragusa  aufgeben  mußte. 

Aus  dem  Vorstehenden  folgt  ferner  auch,  daß  sich  der  von  uns 
(im  Jahrbuch  d.  pr.  K.  1902,  S.  6)  mitgeteilte  Vertrag  zwischen  Pietro  di 
Giovanni  da  Como  und  Francesco  di  Stefano  da  Siena  einerseits  und 
einem  Barkenbesitzer  aus  Lastra  andererseits,  betreffs  der  Verfrachtung 
einer  bestimmten  Menge  Marmors  aus  Carrara  nach  Palermo,  nicht  auf 
Pietro  da  Milano  bezieht,  sondern  auf  jenen  Pietro  di  Giovanni  da 
Como,  der  1449 — 1453  Verein  mit  Francesco  di  Stefano  am  Dom- 
bau zu  Orvieto  nachweisbar  ist.  C.  v.  F. 


Domenico  Gaggini  in  Neapel.  G.  di  Marzo  und  E.  Mauceri  hatten 
in  ihrem  Aufsatze  (L’Arte  1903,  S.  147  ff.),  worin  sie  die  Tätigkeit  des 

*)  Unsere  a.  a.  O.  S.  152  Anm.  1 gegebene  Zeitbestimmung  für  den  Beginn  der 
Tätigkeit  Pietros  di  Giov.  da  Varese  in  Rom  (1452  Ende  Juni)  muß  richtiger  lauten: 
»zwischen  Juli  und  Dezember  1452«,  denn  der  Vermerk,  der  im  Libro  di  Riscussioni  etc. 
dem  auf  ihn  bezüglichen  undatierten  folgt,  trägt  das  Datum  des  31.  Dezembers, 
so  daß  für  die  Datierung  des  letzteren  der  Zeitraum  vom  29.  Juni  bis  31.  Dezember 
1452  zur  Verfügung  steht. 


194 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


Meisters  in  Sizilien  behandeln,  die  Vermutung  ausgesprochen,  er  könnte 
in  den  Jahren,  die  zwischen  seinem  Wegzug  aus  Genua  (1456  oder  1457) 
und  seinem  Auftauchen  in  Palermo  (1463)  liegen,  an  den  Bauten  im 
Castel  Nuovo  zu  Neapel  beschäftigt  gewesen  sein,  wußten  aber  für  diese 
Annahme  keinen  anderen  Beweisgrund  anzuführen,  als  daß  der  Name 
eines  Domenico  Lombardo  unter  den  am  Triumphbogen  Alfonsos  ar- 
beitenden Künstlern  in  zwei  Rechnungsvermerken  vom  Beginn  des  Jahres 
1458  vorkomme.  Wir  sind  nun  in  der  Lage,  jene  Annahme  durch 
stilistische  Gründe  stützen,  wo  nicht  zur  Tatsache  erheben  zu  können. 
Emile  Bertaux  hat  zuerst  (Archivo  storico  per  le  province  napoletane 
1900,  pag.  27  ff.)  und  wir  haben  nach  ihm  (Jahrbuch  d.  Kgl.  preuß.  Kunst- 
sammlungon  1902,8.  n)  eine  Abbildung  des  Portals  im  Prunksaal  des 
Castel  Nuovo  veröffentlicht,  wobei  wir  die  Attribution  an  Pietro  da 
Milano,  die  Bertaux  für  dies  Werk  aufgestellt  hatte,  bestritten,  und  statt 
ihrer  die  an  Domenico  Lombardo  vorschlugen,  da  uns  dasselbe  ent- 
schieden eine  lombardische  Hand  zu  verraten  schien.  Daß  wir  damit 
das  Richtige  getroffen  hatten  (freilich  ohne  den  Meister  damals  noch  mit 
Gaggini  zu  identifizieren),  beweist  nun  der  Vergleich  der  Portalskulpturen 
mit  denen  an  der  äußeren  Oberwand  der  Kapelle  des  Täufers  im  Dom 
zu  Genua,  deren  Ausführung  Domenico  Gaggini  durch  Vertrag  vom 
4.  Mai  1448  übernommen,  und  die  er  im  Verein  mit  seinen  Gehilfen 
(seinem  Neffen  Elia  und  Giovanni  di  Bissone)  in  den  folgenden  Jahren 
vollendet  hatte.  Vor  allem  entspricht  die  Formbehandlung  der  die  Relief- 
tafeln zu  seiten  des  mittleren  Arkadenbogens  einrahmenden  Akanthus- 
ranken  (Phot.  Alinari  No.  149 10),  wie  sie  uns  in  gleich  ungeschlachter 
Nachahmung  altrömischerf  Vorbilder  in  der  ganzen  Renaissanceskulptur 
nur  noch  an  Filaretes  Bronzepforte  von  S.  Peter  begegnet,  durchaus  der- 
jenigen an  den  Gewänden  des  neapler  Portals,  und  ebenso  die  ganz  aus 
dem  Maßstab  der  übrigen  ornamentalen  Elemente  fallenden  enormen 
Akanthusblätter  im  Zwickel  des  Arkadenbogens  zu  Genua  der  krausen 
Riesenpalmette  über  dem  Giebel  des  Portals  (auch  hier  wieder  der  gleiche 
Fehler  im  angewandten  Maßstab!).  Ferner  sind  die  aus  Eichen-  und 
Lorbeerblättern  gewundenen  Kränze,  die  in  Neapel  die  liegende  Nymphe 
im  Fries  sowie  die  beiden  Büsten  über  dem  Giebel  des  Portals  um- 
schließen, ganz  analog  mit  dem  Bandgeflecht  im  Arkadenbogen  zu  Genua; 
ja,  es  kehrt  sogar  die  dünne  Platte  mit  dem  Pfeifenornament,  die  in 
Genua  über  den  Säulen  der  beiden  Seitenöffnungen  das  unterste  Glied 
der  Oberwand  bildet,  gleicherweise  am  unteren  Abschluß  des  Triumph- 
reliefs des  neapler  Portals  wieder.  Endlich  zeigen  an  letzterem  die  Adler 
in  den  beiden  oberen  Ecken  der  Akanthusbordüre  und  die  Greifen  zu 
seiten  des  (für  Domenico  wieder  charakteristischen,  so  ärmlichen)  Blatt- 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


*95 

motives  im  Giebel  die  gleiche  Flügelform  mit  dem  am  Schulteransatz 
tief  eingebuchteten  Kontur  und  der  in  eine  Schneckenwindung  aus- 
laufenden Schwungfeder,  wie  sie  auch  an  den  zahlreichen  Engelputten 
in  den  Akanthusranken  zu  Genua  ganz  gleich  immer  wiederkehrt.  Wir 
werden  somit  das  Portal  im  Saal  des  Castel  Nuovo  sowie  die  Büsten 
Alfonsos  und  Ferdinands  über  demselben  (mit  Ausschluß  jedoch  des 
Gebälkes  und  Giebels,  welch  ersteres  auch  an  den  Wänden  des  Saales 
weiterläuft,  und  für  das  wrir  unsere  frühere  Zuschreibung  an  einen  der 
toskaner  Meister  aufrecht  halten)  als  ein  Werk  Dom.  Gagginis  und  ihn 
als  den  in  den  Rechnungsvermerken  vorkommenden  Domenico  Lombardo 
fortan  zu  erkennen  haben.  Ob  er  außerdem  — wie  aus  der  ebenange- 
zogenen  Quelle  hervorzugehen  scheint  — auch  am  Triumphbogen  mitge- 
arbeitet hat,  bleibt  zweifelhaft;  wir  vermöchten  ihm  daran  aus  stilistischen 
Gründen  höchstens  die  ornamentalen  Füllungen  an  den  Pilastern  des 
I orbogens  und  der  Arkade  des  oberen  Geschosses  zuzuteilen. 


C.  v.  F. 


Erwiderung. 

Die  »Rassegna  d’arte«  hat  im  Februar- Heft  meine  Besprechung 
der  sieneser  Mostra  im  Repertorium  angegriffen  und  einige  Punkte  nam- 
haft gemacht,  bei  denen  ich  mich  geirrt  haben  soll.  Daß  ich  die  fünf 
Holzstatuen  in  San  Martino  für  die  Arbeiten  zweier  Meister  halte  und 
daß  Jacopo  della  Quercia  selbst  hier  nicht  in  Betracht  kommt,  ist  nicht 
nur  meine  persönliche  Überzeugung,  sondern  die  vieler  Fachgenossen. 
Daß  einer  der  Ignoti  Giov.  Francesco  da  Imola  ist,  habe  ich  keineswegs 
bestimmt  behauptet.  Das  Bild  des  hlg.  Georg  aus  S.  Cristoforo  wird 
jetzt  von  Berenson  Sano  di  Pietro  zugeschrieben;  auch  ich  glaube  jetzt, 
daß  es  sienesisch  ist,  habe  aber  in  der  Besprechung  die  oberitalienische 
Herkunft  auch  schon  nur  hypothetisch  ausgesprochen.  Die  Terrakotta- 
Maddalena  stammt  also  nicht,  wie  ich  vermutete,  aus  der  Osservanza, 
sondern  aus  So.  Spirito.  Darum  ist  sie  aber  doch  nicht  von  »Neroccio, 
fine  del  XVI  sec.«,  sondern  von  Cozzarelli  und  an  der  Gruppe  der 
Osservanza  hat  eine  andere  Maddalena  gekauert,  die  ihr  aufs  Haar  ent- 
sprochen haben  muß.  Dagegen  stammt  der  Johannes  allerdings  von  der 
Osservanza,  was  der  Katalog  verschwieg.  Doch  ich  will  mich  bei  diesen 
Einzelheiten  nicht  aufhalten.  Ich  bin  mir  bewußt,  schwere  Vorwürfe 
ausgesprochen  zu  haben  über  die  Art,  wie  die  sieneser  Mostra  vorbereitet, 
aufgestellt  und  katalogisiert  war.  Eine  Rechtfertigung  ist  von  keiner 
Seite  versucht  worden.  Ich  habe  aber  ausdrücklich  erklärt,  die  Vorwürfe 
nur  deshalb  formuliert  zu  haben,  damit  bei  späteren  Veranstaltungen 
rechtzeitig  Hand  angelegt  wird.  Ungern  sagt  man  dem  Land  und  den 
Leuten,  denen  man  so  unendlich  viel  verdankt,  etwas  Unangenehmes. 
Aber  wer  solch  einen  Katalog  wie  den  der  sieneser  Mostra  verfaßt,  der 
muß  es  sich  gefallen  lassen,  abgelohnt  zu  werden.  Hoffen  wir,  daß  bei 
der  nächsten  Ausstellung  die  Erfahrungen  der  sieneser  Mostra  beherzigt 
werden;  dann  ist  der  Zweck  meines  Berichtes  erreicht. 

Paul  Schubring. 


Berichtigung. 

In  dem  Bericht  über  die  Kunsthistorische  Ausstellung  zu  Düssel- 
dorf 1904  »Zur  Kritik  einiger  holländischer  Bilder«  Repertorium  XXVII 
573  spricht  Corn.  Hofstede  de  Groot  »ernste  Bedenken«  gegen  die  beiden 
Stilleben  des  Abraham  van  Beyeren  aus,  welche  Freiherr  von  Brenken 
in  Wewer  dargeliehen  hatte  (Nr.  280,  281).  Wenn  der  Katalog  auf  die 
unzweifelhafte  Künstlerbezeichnung  eines  der  Stücke  (Nr.  281)  hinweist,  so 
vermutet  der  Berichterstatter  »eine  Verwechslung  mit  dem  anerkannten 
Meisterstück  aus  der  Sammlung  von  der  Heydt«.  Es  ist  kaum  verständ- 
lich, wie  einem  so  fleißigen  eindringlichen  Betrachter  »trotz  wiederholtem 
langem  Suchen«  eine  so  deutliche  Signatur  entgehen  konnte,  die  fast 
mitten  im  Bilde,  in  dunkler  Farbe  (A  B verbunden)  am  Krugdeckel  steht. 
Diese  Bezeichnung  stimmt  in  den  Schriftzügen  auch  genau  mit  der  Sig- 
natur des  Abraham  van  Beyeren  überein,  welche  G.  Glück  im  Jahrbuch 
der  kunsthistorischen  Sammlungen  des  allerhöchsten  Kaiserhauses  XXIV 
abbildete  und  so  fehlt  jeder  Anlaß,  dies  Stilleben  dem  Meister  abzu- 
sprechen. — Ebenso  sind  die  Figuren  auf  dem  Gemälde  »die  Ankunft 
des  holländischen  Gesandten  in  Münster«  Nr.  390  als  Arbeit  des  Gerard 
ter  Borch  durch  die  echte  alte  Bezeichnung  hinreichend  beglaubigt. 

Firmenich-Richartz. 


Druckfehlerberichtigung. 

Im  6.  Heft  des  XXVII.  Bandes  des  Repertoriums: 

S.  540  Z.  17  von  oben:  »flüssige«  statt  »fleißige«; 

S.  547  Z.  14  von  unten:  »steht  bei  177«  statt  »bei  177  steht«; 

S.  564,  Anm.  51:  Die  Inschriften  sind  in  Minuskeln  wiederzugeben; 
S.  570  erste  Z.  von  unten:  »Voll:  gehört«  statt  »Voll  gehört«. 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


14 


Bei  der  Redaktion  eingegangene  Werke. 


Bruck,  Robert.  Das  Skizzenbuch  von  Albrecht  Dürer  in  der  Kgl. 
öffentlichen  Bibliothek  zu  Dresden.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz. 
M.  50. 

Bryam.  Dictionary  of  Painters  and  Engravers.  New  Edition 
revised  and  enlarged  under  the  supervision  of  George  C.  Willi- 
amson.  Litt.  D.  With  numerous  illustrations.  Vol.  V.  S — Z. 
London.  George  Bell  and  Sons.  21/ — . 

Dalton,  O.  M.  The  Treasure  of  the  Oxus  with  other  objects 
from  ancient  Persia  and  India.  With  XXIX  Plates.  London. 
Printed  by  Order  of  the  trustees.  Sold  at  the  British  Museum. 

Dehio,  Georg  Gottfried.  Denkmalschutz  und  Denkmalpflege  im 
19.  Jahrhundert.  Rede  zur  Feier  des  Geburtstages  S.  M.  des 
Kaisers  gehalten  am  27.  Januar  1905.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz. 

Hasse,  C.  Roger  van  der  Weyden  und  Roger  van  Brügge  mit 
ihren  Schulen.  Mit  15  Tafeln.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  6. 

Herzogliches  Museum  in  Braunschweig.  Nachtrag  zu  H.  Riegels 
Verzeichnis  der  Gemäldesammlung  von  1900. 

Hobson,  R.  L.  Catalogue  of  the  Collection  of  English  Porcelain 
in  the  British  Museum.  With  XXXIX  Plates.  London.  Printed 
by  order  of  the  trustees.  Sold  at  the  British  Museum. 

Müller,  Kurt  F.  Der  Leichenwagen  Alexander  des  Großen.  Mit 
einer  Tafel  und  8 Abbildungen.  Leipzig.  E.  A.  Seemann.  M.  2.50. 

Ruettenauer,  Benno.  Der  Kampf  um  den  Stil.  Aussichten  und  Rück- 
blicke. Straßburg.  J.  H.  W.  Heitz.  M.  3.50. 

Schmerber,  Hugo.  Die  Schlange  des  Paradieses.  Mit  3 Tafeln. 
Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  8. 

Valentiner,  Wilhelm  R.  Rembrandt  und  seine  Umgebung.  Mit 
7 Lichtdrucktafeln.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  8. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  „Triumph  des  Todes“. 

Von  Georg  Graf  Vitzthum. 

Zunächst  die  Vorfrage  über  das  Verhältnis  des  berühmten  Fresko  an 
der  Südwand  des  Camposanto  zu  Pisa  zu  den  nächstverwandten  Fresken 
der  Süd-  und  Ostwand  und  zu  Traini:  für  jene  nennt  die  Tradition  vier 
Künstlernamen:  Buffalmaco  für  die  Ostwand,  Orcagna  für  den  Triumph, 
Gericht  und  Hölle,  Pietro  Lorenzetti  für  die  Einsiedler,  Simone  Martini 
für  die  Madonna  über  der  Tür.  Die  Wissenschaft  hat  verschieden  über 
die  Zusammengehörigkeit  geurteilt;  und  in  der  Frage  nach  dem  Verhältnis 
der  Fresken  zu  den  Tafeln  des  Pisaner  Meisters  Francesco  Traini  schwankt 
sie  zwischen  unbedingter  Zuschreibung  an  ihn  und  der  Leugnung  aller 
Beziehungen.1)  Keinem  Zweifel  kann  es  unterliegen,  daß  die  großen 
Fresken  der  Südwand  vom  Triumph  bis  zu  den  Einsiedlern  einer  Hand 
angehören:  Gericht  und  Triumph  weisen  volle  Übereinstimmung  in  Typen, 
Gewand-  und  Bewegungsmotiven  auf,  die  Hölle  schließt  sich  in  den  Akten 
an  den  Triumph,  in  den  Köpfen  an  das  Gericht  aufs  engste  an  (für 
letztere  vgl.  z.  B.  den  Mann  mit  dem  klagend  geöffneten  Mund  in  der 
obersten  Reihe  der  Hölle  mit  den  zwei  Köpfen  der  Verdammten  in  der 
vierten  Reihe  von  unten),  und  bei  den  Einsiedlern  sind  die  Greisen  typen, 
die  Felsen,  Bäume  und  Häusqj,  im  besonderen  noch  die  Haare  bei 
Menschen  und  Tieren  in  der  gleichen  Weise  wie  beim  Triumph  gezeichnet. 

Die  Madonna  über  der  Tür  ist  stark  restauriert.  Ihre  enge  Ver- 
wandtschaft zu  den  eben  genannten  Fresken  ist  aber  noch  deutlich  zu 
erkennen  in  der  eigenartigen  Zeichnung  der  Mandorla,  in  dem  Arrange- 
ment des  Mantels  über  den  Knien,  in  Kostümen  und  Flügeln  der  Engel. 
Ebenso  stehen  die  kräftigen  Köpfe  mit  den  kleinen  Nasen  den  Engeln 
des  Gerichtes  sehr  nahe.  Aber  im  ganzen  ist  doch  ein  andersartiger 
Charakter  nicht  zu  verkennen.  Der  Kopf  der  Maria  und  der  Christi 
vor  allem,  die  Hände  mit  den  langen  dünnen  Fingern,  die  sehr  lang  und 

>)  Von  der  neueren  Literatur  ist  zu  erwähnen:  Dobbert,  Rep.  f.  Kw.  IV,  S.  i ff.  und 
Andrea  Orcagna  in  Dohmes  Kunst  und  Künstler.  Thode,  Rep.  f.  Kw.  XI,  S.  1 3 ff.  Supino, 
Archivio  storico  dell’ Arte  VII,  1894,  p.  21  ff.  Ders.,  II  Camposanto  di  Pisa,  Firenze  1896. 
Schubring,  Pisa,  Leipzig  1902.  Supino,  Arte  Pisana,  Firenze  1904,  p.  265  ff.  Rothes,  Die 
Blütezeit  der  sienesischen  Malerei,  Heitz  1904,  S.  92  ff. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


>5 


200 


Georg  Graf  Vitzthum: 


straff  gezogenen  Falten  zeigen  ein  entschiedenes  Streben  nach  Zierlichkeit 
und  Schlankheit,  für  das  dann  die  feine  Gotik  des  Thrones  im  Gegensatz 
zu  den  schweren  Bauformen  auf  den  Fresken  ein  besonders  treffendes 
Beispiel  gibt.  Ich  glaube,  man  darf  am  wenigsten  in  dieser  Madonna  das 
früheste  Werk  des  Camposanto  sehen,  vielmehr  zeigt  sie  eine  Verwendung 
der  im  Triumph  (diese  Bezeichnung  gelte  fortan  für  sämtliche  vier  Fresken 
der  Südwand)  geschaffenen  Formen  in  einer  ausgesprochenen  Tendenz 
auf  das  Harmonische  und  Helle. 

Von  größerer  Bedeutung  ist  das  Verhältnis  zu  den  Fresken  der  Ost- 
wand. Die  meisten  zu  vergleichenden  Elemente  vereinigt  die  Kreuzigung 
in  sich.  Die  Typen  der  Männer  und  Frauen  sind  im  allgemeinen  wohl 
denen  auf  dem  Triumph  nahe  verwandt  — aber  sie  zeigen  einen  wesent- 
lichen Unterschied:  sie  sind  bei  weitem  verschiedener  untereinander,  sie 
haben  nicht  den  strengen  typischen  Zug,  der  dort  in  allen  Köpfen  auch 
bei  verschiedenartigstem  Gefühlsausdruck  herrscht.  In  den  acht  Frauen 
am  linken  Rand  ist  eine  Fülle  der  abweichendsten  Proportionen  und 
Einzelformen  zu  bemerken,  wie  sie  im  Gericht  etwa  beispiellos  ist.  Und 
drüben  in  den  Soldaten  treten  sogar  Typen  auf,  die  von  vorn  gesehenen 
mit  den  platten  Nasen,  die  kaum  mehr  mit  denen  im  Triumph 
in  Einklang  zu  bringen  sind.  — Wesentlich  verschieden  sind  die  Akte: 
dort  eine  stark  schattende  Modellierung  mit  einer  sichtlich  an  schon 
bestehende  künstlerische  Gestaltung  sich  anlehnenden  schematischen 
Sonderung  der  einzelnen  Körperteile,  hier  bei  viel  gleichmäßigerer  Be- 
lichtung eine  auf  unmittelbarer  Naturanschauung  beruhende  Wiedergabe 
des  Leibes  in  erstaunlicher  Präzision  und  organischem  Fluß  des  Konturs.  — 
Auffallend  ist  der  Engeltypus:  die  Kleinheit  der  Köpfe  unterscheidet  ihn 
wesentlich  von  den  Engeln  auf  dem  Triumph.  — Fast  übereinstimmend 
ist  die  Darstellung  der  Pferde;  um  so  verschiedener  sind  die  Reiter:  in 
diesen  derben,  untersetzten  Kriegern,  die  schwer  auf  ihren  Tieren  lasten, 
ist  nichts  von  jener  hohen  Leichtigkeit  und  Eleganz,  die  wir  in  den  Rittern 
des  Jagdzuges  bewundern. 

Damit  kommen  wir  zur  Auffassung  der  ganzen  Gestalt.  Engste 
Beziehungen  sind  da  offenbar.  Der  Pharisäer,  der  uns  den  Rücken  wendet, 
kehrt  bis  zu  den  Gewandfalten  übereinstimmend  in  dem  Greise  links  aus 
der  untersten  Reihe  der  Verdammten  wieder.  Aber  es  gibt  auch  hier 
einen  Unterschied,  schwer  im  einzelnen  nachzuweisen,  leicht  beim  Über- 
blick über  alle  Gestalten  zu  empfinden.  Faßlicher  vielleicht  ist  er  an 
den  Händen  klarzumachen.  Diese  sind  auf  dem  Triumph  sehr  schematisch, 
aber  ungemein  bestimmt  und  korrekt  gezeichnet;  auf  der  Kreuzigung 
sind  sie  geradezu  häßlich,  lange,  knochenlose  Finger;  aber  ein  viel  größerer 
Reichtum  der  Formen  und  Proportionen,  wie  wir  es  schon  bei  den 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


201 


Köpfen  fanden.  Und  so  nun  ist  es  auch  in  den  Gestalten.  Im  Triumph 
alle  nach  einerlei  Maß,  alle  mit  der  gleichen  Bestimmtheit  des  Umrisses, 
der  gleichen  Detailierung  und  wohlabgewogenen  Beziehung  der  Glieder, 
auf  der  Kreuzigung  alles  ungleichmäßiger,  sorgloser.  Was  sind  das  für 
Verschiedenheiten  in  dem  Verhältnis  von  Kopf  zum  Körper  bei  den 
Soldaten  und  bei  den  Pharisäern,  wo  ist  ein  einheitliches  Gefühl  für  Länge 
und  Stärke  der  Arme,  und  wo  — das  ist  schon  eine  Frage  der  Komposition 
— das  dort  so  wesentliche  Interesse  für  die  gleichwertige  Behandlung  der 
Körper  und  die  entschiedene  Absetzung  der  zusammengehörigen  Gruppen? 

Das  hängt  alles  zusammen  mit  dem,  was  eine  Verschiedenheit  der 
Werke  am  entschiedensten  begründet:  die  viel  freiere  Verteilung  der 
Figuren  in  dem  zu  beträchtlicher  Tiefe  wenn  auch  nicht  ausgestalteten, 
so  doch  vorgestellten  Raum,  statt  der  strengen  Begrenzung  des  Bildraumes, 
der  dichten  Reihung  und  Übereinanderordnung  der  Körper  im  Triumph. 
Daß  dabei  die  Felsen  mit  geringerer  Sorgfalt  behandelt  sind,  kann  nicht 
wundernehmen,  doch  ist  zu  bemerken,  daß,  wo  sie  sich  zu  festen  Formen 
gestalten  wie  im  Hintergründe  rechts,  diese  denen  auf  dem  Triumph 
nicht  entsprechen. 

Bei  dem  inhaltlichen  Reichtum  und  dem  fließenden  Formcharakter 
der  Kreuzigung  ist  es  nicht  ganz  leicht,  ihr  Verhältnis  zu  den  drei  viel 
einfacheren  und  gleichmäßiger  durchgearbeiteten  Szenen  daneben,  Auf- 
erstehung, Erscheinung  an  die  Jünger  und  Himmelfahrt,  zu  beurteilen. 

Der  Abweichungen  bieten  diese  genug.  Sehr  verschieden  sind  die 
Engel,  die  mit  ihren  hochgewölbten  Stirnen  auch  zum  Triumph  nicht 
passen  wollen.  Im  großen  und  ganzen  jedoch  überwiegt  das  Gemeinsame, 
und  man  darf  das  "V  erhältnis  der  Ostwand  zum  Triumph  so  zusammen- 
fassen: der  gleiche  Stil,  aber  in  einer  anderen  Version,  primitiver  im 
Formalen,  reicher  in  der  Komposition,  auf  alle  Fälle  in  minderer  Strenge 
und  Folgerichtigkeit,  aber  darum  frischer,  ursprünglicher. 

Wie  stehen  nun  die  Fresken  zu  Trainis  Kunst?  Zum  Vergleiche 
haben  wir  die  Tafel  aus  S.  Domenico  vom  Jahre  1344/45,  deren  Mittel- 
stück im  Museo  Civico,  die  Seitenteile  im  Seminario  Vescovile  zu  Pisa 
aufbewahrt  werden,  und  die  Glorie  des  Thomas  von  Aquin  in  S.  Caterina. 
Für  deren  Datierung  fehlt  ein  Anhalt.  Cavalcaselles  Ansetzung  vor  1341 
ist  willkürlich,  jedoch  macht  der  weichere,  unbestimmtere  Formencharakter 
eine  Entstehung  vor  dem  Dominikus  höchst  wahrscheinlich.  Diese  Ver- 
schiedenheiten der  Arbeit,  die  übrigens  selbst  an  dem  gleichen  Werke 
in  Einzelheiten  Vorkommen  — vgl.  die  Hände  des  Dominikus  mit  denen 
des  Christus  darüber  und  mit  allen  anderen  des  Altars  — fallen  gewißlich 
für  eine  Zuweisung  der  Fresken  ins  Gewicht.  Traini  hat  Wandlungen 
durchgemacht  und  diese  scheinen  in  einer  immer  größeren  Präzision  der 

»5* 


202 


Georg  Graf  Vitzthum: 


Zeichnung  und  einem  Streben  nach  Klärung  des  Organischen  zu  bestehen. 
Eine  solche  Entwicklung  konnte  im  strengen  Stil  der  Fresken  ihr  Ende 
finden.  Die  Fülle  der  Berührungspunkte  ist  offenbar.  Das  auffallendste 
gemeinsame  Motiv  ist  gewiß  die  Gruppe  der  Bettler  an  des  Heiligen 
Bahre  und  derer,  die  den  Tod  ersehnen.  Auch  die  formalen  Überein- 
stimmungen sind  sehr  groß.  Für  die  Typen  sind  vor  allem  die  Dominikus- 
tafeln und  das  Gericht  zu  vergleichen:  die  Propheten  in  den  Giebeln 
und  die  Apostel  um  Christus,  allgemein  die  eingesunkenen  Nasenrücken 
und  das  vorgeschobene  Kinn,  die  Bärte  der  Alten,  die  häufig  vorkommenden 
aufblickenden  Köpfe.  Ferner  die  Falten,  besonders  bei  den  auf  den 
Boden  aufstoßenden  Gewändern. 

Trainis  Tiere  stehen  denen  auf  dem  Triumph  besonders  nahe:  der 
seelenvolle  Kopf  des  Pferdes  ist  ja  eine  hervorstechende  Eigentümlichkeit 
des  Jagdzuges,  der  Hund  auf  dem  Bett  der  Mutter  des  Heiligen  ist  mit 
all  der  Regelmäßigkeit  gezeichnet  wie  der  sitzende  Hase  dort.  Im  Land- 
schaftlichen sind  die  Bäume  ebenso  verschieden,  wie  die  Felsen  und 
Architekturen  aufs  engste  verwandt  sind.  Auch  zu  der  Ostwand  liegen 
Beziehungen  vor:  der  auferstehende  Christus  daselbst  steht  in  der  Gesamt- 
form wie  in  den  Einzelheiten  des  Gesichts  und  der  Handbildung  dem 
Thomas  sehr  nahe.  Das  Rankenwerk  seines  Gewandes  finden  wir  auf 
dem  Zelt  des  schlafenden  Papstes  und  auf  den  Mänteln  der  Bischöfe  an 
der  Bahre  des  Dominikus  wieder,  im  Spiel  der  Hände  sind  die  Frauen 
der  Kreuzigung  den  kleinen  Bildern  verwandt,  auf  denen  auch  die  Kinder 
wie  auf  jenem  Fresko  erscheinen.  Zwei  so  ähnliche  Figuren  wie  die  zu 
Füßen  des  Schächerkreuzes  liegende  und  die  klagende  Frau  bei  der  loten- 
erweckung  sind  sehr  bemerkenswert. 

Es  genüge  dieser  Hinweis  auf  das,  was  die  Fresken  mit  Traini 
gemein  haben.  Zu  einer  Zuschreibung  an  ihn  reicht  alles,  was  noch 
angeführt  werden  kann,  nicht  aus.  Die  Bedingungen  für  das  monumentale 
Fresko  und  die  miniaturartig  fein  gearbeiteten  Tafeln  sind  zu  verschieden; 
und  man  wird  stets  von  neuem  daran  gemahnt,  wie  schwierig  ein  rein 
stilkritisches  Urteil  ist  einem  Stil  gegenüber,  der  so  wie  der  des  Trecento 
an  der  Wende  steht  zwischen  typischem  und  persönlichem  Gestalten, 
zwischen  einer  Logik  der  regelmäßigen  Formentwicklung  und  des  will- 
kürlichen, individuellen  Sichentfaltens  eines  Künstlers.  Die  Hauptsache 
aber  ist  klar:  Traini  ist  der  allernächste  der  uns  bekannten  Künster,  mit 
dem  ungreifbaren  Buffalmaco  brauchen  wir  nicht  zu  operieren,  alle  die 
hier  in  Rede  stehenden  Werke  dürfen  als  eine  fest  .zusammen- 
hängende lokal-pisanische  Gr  uppe  angesehen  werden,  und  die 
Frage  nach  der  Besonderheit  und  nach  den  Quellen  des  Stils 
ist  für  sie  alle  eine  und  dieselbe. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


203 


I. 

Soweit  man  bisher  nach  den  Zusammenhängen  der  Fresken  mit  der 
vorangehenden  und  gleichzeitigen  Kunst  gefragt  hat,  hat  man  sich  im 
wesentlichen  an  die  durch  die  Überlieferung  an  die  Hand  gegebenen 
Namen  Orcagna  und  Pietro  Lorenzetti  gehalten.  Die  Annahme  einer 
Abhängigkeit  von  Orcagna  gründete  sich  nicht  so  sehr  auf  Stilvergleichung 
als  auf  Schlüsse  aus  der  Künstlergeschichte;  die  Zurückführung  der  Kunst 
auf  Lorenzetti  und  Siena  überhaupt  geschah  jedoch  ausschließlich  auf 
dem  Wege  der  Stilkritik.  Ersteres  ist  leicht  zu  korrigieren,  das  zweite 
erfordert  eine  sehr  eingehende  Analyse. 

Daß  Beziehungen  zwischen  den  Fresken  und  Orcagna  bestehen,  ist 
stets  betont  worden.  Die  historische  Begründung  für  die  allgemeine 
Auslegung  dieser  Beziehungen  auf  eine  Abhängigkeit  Pisas  von  dem 
Florentiner  Meister,  die  Supino  früher  versuchte,  ist  durch  die  Erwägungen 
hinfällig  geworden,  die  Supino  selbst  in  seinem  neuesten  Werk  auf  Grund 
der  Studien  Chiapellisa)  und  Simoneschis 3)  anstellt.  Trotzdem  scheint  es 
nötig,  noch  einmal  mit  Entschiedenheit  darauf  hinzuweisen,  daß  von 
einer  Herkunft  des  pisanischen  Stils  von  Orcagna  keine  Rede  sein  kann, 
daß  aber  nicht  nur  ein  aus  gleicher  Schulung  herzuleitender  Parallelismus 
vorliegt  (wie  Simoneschi  meint),  sondern  daß  Andrea 4)  von  Pisa  ab- 
hängig ist.  Diese  Behauptung  gründet  sich  auf  folgende  allgemeine  Er- 
wägung: In  Pisa  sehen  wir  uns  einem  völlig  ausgebildeten  Stil  gegenüber, 
der  alle  Elemente  in  einer  durchaus  verständlichen  notwendigen  Einheit 
verbunden  zeigt.  Die  Rauheit  der  Gesichter  (es  kommen  hier  vor  allem 
die  Verdammten  in  Betracht)  entspricht  dem  schweren  Fall  der  Gewänder 
mit  den  heftigen  Brüöhen  zu  den  Füßen,  den  energischen  Umrissen, 
den  in  tiefster  Innerlichkeit  erfaßten  und  in  rücksichtsloser  Entschieden- 
heit wiedergegebenen  Geberden,  der  kalten  Färbung.  Menschen  und 
Tiere,  Felsen  und  Häuser,  ringelnde  Schlangen  und  lohende  Flammen, 
alles  stimmt  zueinander,  ja  Selige  und  Verdammte  sind  vom  gleichen 
Schlag.  — Ganz  anders  in  S.  Maria  Novella.  Hier  fallen  die  verzerrten 
Köpfe,  die  wenigen  heftigen  Geberden  sehr  entschieden  aus  dem  Stil  des 


*)  Bulletino  stör.  Pistojese  II,  1900,  p.  2. 

3)  Notizie  intomo  a Franc.  Traini,  Pisa  1898. 

4)  Wir  halten  der  Einfachheit  halber  an  dem  Namen  Andrea  auch  für  die 
Fresken  der  Strozzikapelle  trotz  ihrer  gewiß  richtigen  Zuschreibung  an  Nardo  durch 
Suida  (Flor.  Maler  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts,  Heitz  1905,  S.  4 ff.)  fest.  Die 
Verschiedenheiten  der  Brüder  kommen  für  die  vorliegende  Frage  nicht  in  Betracht. 
Und  Andreas  Tafel  weist  Züge  auf,  die  auch  für  ihn  Beziehungen  zu  Pisa  unzweifelhaft 
erscheinen  lassen.  — Auch  Suida  nimmt  die  Priorität  der  Pisaner  Fresken  an  (a.  a.  O. 
S.  23). 


204 


Georg  Graf  Vitzthum : 


Ganzen  heraus.  Viel  gröber  sind  die  Verdammten  gegen  die  Göttlichen 
oben  und  die  Seligen  abgesetzt  und  sie  wirken  darum  nicht  wie  in  Pisa 
als  natürliche  Ergebnisse  der  hier  waltenden  Kunst,  sondern  als  von  außen 
importiertes  fremdes  Gut.  Die  Gruppen  der  Seligen  und  Verdammten 
stellen  viel  mehr  eine  Verflachung  als  eine  Vorbereitung  des  Pisanischen 
dar.  Diese  Behauptung  scheint  wohl  subjektiv,  aber  zu  oft  hat  sich  das 
Schauspiel  wiederholt,  daß  auf  eine  große  stilschafifende  Konzentration 
eine  alles  auflösende  Dezentralisation  gefolgt  ist,  als  daß  wir  nicht  aus 
jeder  solcher  Erscheinung  einen  historischen  Schluß  ziehen  dürften.  Und 
wenn  wir  daneben  im  großen  Paradiesfresko  die  Pisanische  Gerichts- 
komposition in  einer  so  gänzlich  widersinnigen  aber  doch  entschieden 
fortschrittlichen  Veränderung  wiederfinden,  so  ist  das  eine  Bestätigung 
unserer  Ansicht. 

Leider  fehlen  feste  Grundlagen  für  die  Datierung  der  Fresken,  so- 
wohl in  Pisa  wie  in  Florenz.  Aber  die  allgemeinen  Verhältnisse  sprechen 
für  die  Priorität  des  Camposanto.  Wir  werden  für  diesen  an  der  tra- 
ditionellen Ansetzung  um  1350  festhalten  müssen.  Der  gleich  nach  1272 
begonnene  Bau  ist  1349  erst  bis  zu  den  Steinmetzarbeiten  (gewiß  denen 
der  fenster  mit  den  Köpfen  und  Masken  zwischen  sich;  denn  unter  den 
zahlreichen  picchiapietre  finden  wir  einen  Bildhauer  wie  Cellino  di  Nese) 
und  den  Dachbalken  vorgeschritten. 5)  Auf  der  anderen  Seite  lassen  die 
I37I  — 7 2 entstandenen  hresken  des  Francesco  da  Volterra  in  der  völligen 
Veränderung  des  Bildideals  die  Annahme  einer  viel  weniger  als  20  Jahre 
früheren  Entstehung  unserer  Malereien  nicht  zu.  Die  oben  festgestellten 
Berührungspunkte  mit  Traini  müssen  für  die  Datierung  in  Betracht  ge- 
zogen werden.  Schubring  stützt  außerdem  seine  Ansetzung  des  Arbeits- 
beginns »gleich  nach  1351«  mit  dem  Hinweis  auf  die  (nicht  näher  an- 
gegebenen) Daten  der  Grabsteine  unter  den  Bildern.6)  — Für  S.  Maria 
Novella  aber  liegt  gar  kein  Grund  vor,  die  Fresken  vor  das  1357  gemalte 
Altarbild  zu  datieren. 

So  scheidet  Orcagna  aus  den  Quellen  der  Pisaner  Kunst  aus.  Um 
den  Umtang  der  Einwirkungen,  die  von  Siena  kamen,  in  aller  Genauigkeit 
festzustellen,  sind  wir  genötigt,  Punkt  für  Punkt  der  Herkunft  der  Motive 
und  der  Formen  nachzuforschen. 

Das  Urelement  der  Landschaft,  die  eckigen  Felsen  mit  den 
schieferartig  gebrochenen  Oberflächen,  sind  altes  byzantinisches  Erbgut, 
wie  Giotto  und  Duccio  es  verwerten.  Doch  ist  zu  bemerken,  daß  schon 
in  Giottos  späteren  Arbeiten,  wie  auch  bei  seinen  nächsten  Nachfolgern 
Daddi  und  Taddeo  Gaddi,  desgleichen  bei  Simone  Martini  eine  wesent- 


5)  Supino,  II  Camposanto  S.  4fr.  6)  a.  a.  O.  S.  75. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


205 


liehe  Milderung  der  schroffen  Formen  eintritt,  die  erst  bei  den  Lorenzetti 
wieder  etwas  stärker  vortreten.  Baumdarstellungen  sind  in  Siena  auffallend 
selten.  Stets  jedoch  (z.  B.  Ambrogio  Lorenzettis  Folgen  des  guten  Re- 
giments) gehen  sie  auf  eine  kräftige  unregelmäßige  Silhouette  aus,  wie 
wir  sie  auch  noch  bei  Traini  finden.  Die  völlig  dekorative,  dabei  aber 
die  botanischen  Besonderheiten  wohl  beachtende  Bildung  findet  sich  viel 
ähnlicher  bei  Taddeo  Gaddi,  ist  aber  in  Pisa  viel  bedeutender  als  je 
bei  ihm  : so  etwas  wie  die  Ranke  hinter  den  Bettlern  im  Triumph  und  die 
kleinen  Pflänzchen  am  Felsboden  finden  sich  überhaupt  nirgends  in  Italien. 
Die  Architekturen  entsprechen  den  sienesischen  vollkommen.  Auf 
Trainis  Tafeln  sind  sie  auch  in  der  Anordnung  denen  auf  der  Tafel  in 
Sant  Agostino  am  ähnlichsten,  die  Gebäude  auf  den  Fresken  erinnern 
an  Pietro  Lorenzetti.  Die  Tiere  sind  in  der  Wiedergabe  der  Formen 
denen  auf  Pietros  Umilitatafel  und  auf  Ambrogios  Fresken  im  Palazzo 
Pubblico  verwandt.  In  Florenz  sind  Tierdarstellungen  nicht  beliebt,  um 
so  wunderbarer,  daß  hier  das  einzige  Beispiel  für  die  wichtigste  Be- 
sonderheit der  Camposantofresken  zu  finden  ist:  das  genrehaft  verwertete 
Tier:  der  Hund  auf  dem  Mahl  des  Benedikt  im  Refektorium  von  Santa 
Croce.  Doch  kann  er  auch  hier  zur  Geschichte  gehören:  die  Hunde 
dürfen  von  den  Brosamen  essen,  die  von  des  Priesters  überreichem  Tische 
fallen,  während  der  Diener  des  Herrn  Hunger  leidet.  Auf  alle  Fälle 
bleibt  die  genrehafte  Tierdarstellung  ein  fast  ebenso  einzig  dastehendes 
Moment  im  Triumph  des  Todes,  wie  die  Beseelung  des  Tieres  mit  aller- 
individuellstem Ausdruck. 

Unter  den  Menschendarstellungen  fallen  zunächst  die  kleinen 
nackten  Leiber  der  Engel  und  Seelen  durch  ihre  hervorragende  Zeich- 
nung auf.  Doch  liegt  hier  nichts  eigentlich  Neues  vor.  Es  ist  die 
byzantinische  Tradition,  die  schon  die  früheste  florentinische  Trecento- 
malerei  zu  so  ausgezeichneten  Akten  wie  in  Giottos  Hölle,  auf  der 
Cecilientafel  in  den  Uffizien  oder  auf  dem  Palast  in  Daddis  Stephanus- 
fresko befähigte.  Dort  im  Giebelfeld  finden  wir  auch  das  Motiv  der 
schwebenden  Engel  mit  dem  Schriftband,  das  u.  a.  auch  Arnolfo  di  Cambio 
kennt.  Für  die  wie  erwähnt  ganz  andersartige  Auffassung  der  Akte  in 
der  Kreuzigung  könnte  man  auf  die  Kreuzigung  in  der  Unterkirche  zu 
Assisi  verweisen,  wenn  deren  Datierung  einigermaßen  gesichert  wäre. 
Die  bekleideten  Engel  im  Triumph  und  Gericht  stammen  aus  den  kla- 
genden Chören  der  Kreuzigungs-  und  Beweinungsbilder.  In  der  Haar- 
tracht stehen  sie  florentinischen  nahe,  ebenso  ist  die  Form  der  Flügel 
mit  dem  kräftig  übergebogenen  Knochen  am  ehesten  mit  Daddi  zu  ver- 
gleichen. Das  Eingehen  auf  die  Zeichnung  der  Federn  aber  ist  wieder 
völlig  sienesisch.  Simones  Geschmack  klingt  hier  an. 


206 


Georg  Graf  Vitzthum: 


Kommen  wir  nun  zu  den  Menschen  selbst,  so  ist  eines  vor  allem 
zu  betonen,  der  unendliche  Reichtum  der  Physiognomik  und  der 
Mimik  — ein  Reichtum,  der  einer  Ableitung  von  irgend  einem  fest  zu 
bestimmenden  Punkte  fast  zu  spotten  scheint.  Auf  dem  Gericht  die 
wetterharten  Apostel,  denen  dieser  Tag  des  Triumphes  ihres  Herrn  doch 
nur  ein  Tag  unerklärten  Grauens  scheint,  die  Verdammten  in  allen  Ab- 
stufungen von  plötzlichem  Schrecken,  Gegenwehr,  schreiender  Klage, 
schmerzvollstem  Erkennen,  stummer  Reue  und  Resignation,  die  Mutter- 
gottes droben  in  schamhafter  Schöne,  die  Seligen,  uralte  Greise  und  zarte 
Frauen  entzückt  im  Schauen,  fest  im  Glauben,  zweifelnd  nur  an  ihrer 
Würdigkeit  und  zwischen  allem  Toben  entgegengesetztester  Gefühle  der 
Engel  des  Gerichts  mit  dem  unverrückt  geradeaus  schauenden  Antlitz.  Und 
daneben  auf  dem  Triumph  die  in  reinster  Daseinsfreude  milde  und  ge- 
heimnisvoll lächelnden  Gesichter  der  Kinder  dieser  Welt, 7)  die  harten,  ganz 
aller  Kraft  und  Fülle  entkleideten,  fast  fratzenhaften  Köpfe  der  Armen, 
dazwischen  die  im  Tod  Erstarrten,  und  weiter  die  vornehmen  Reiter  in 
allen  Abwandlungen  von  Alter  und  Fülle,  mit  allen  Zeichen  von  Neu- 
gier, Schrecken,  Ekel  und  Schmerz,  endlich  die  Greise  voll  unerschütter- 
lich ewigem  Ernste  — welche  Fülle  von  Form,  von  Ausdruck! 

Aber  doch  läßt  sich  in  allen  ein  einheitlicher,  klar  zu  beschrei- 
bender und  darum,  so  dürfen  wir  hoffen,  auch  abzuleitender  Typus  fest- 
stellen: die  Stirnen  breit  und  niedrig,  meist  in  flacher  Rundung  nach 
Kopf  und  Schläfen  zu  verlaufend,  nach  unten  im  Brauenbogen  jedoch 
scharf  und  gerade  abgeschnitten.  Die  Nase  setzt  zwischen  den  nach  der 
Mitte  etwas  hochgezogenen  Brauen  energisch  an,  ist  schmal,  mit  niedrigem, 
etwas  eingesenktem  Rücken,  mehr  oder  weniger  hervorgetriebener  Spitze 
und  in  die  Höhe  gezogenen  Flügeln.  Die  dicht  unter  der  Stirn  liegen- 
den Augen  schmal,  geschlitzt,  kräftig  umrandet,  mit  kleinen,  meist  in  die 
Ecke  gedrehten  Pupillen;  so  sind  die  Wangen  nach  allen  Seiten  ent- 
schieden abgesetzt;  voll  bei  den  jugendlichen  Köpfen,  bei  den  älteren 
scharfe  Falten  als  Reste  früherer  Fülle  zurücklassend,  umrahmen  sie  den 
meist  schmalen  Mund,  der  wieder  von  dem  vorspringenden  Kinn  durch 
die  etwas  vorhängende  Unterlippe  getrennt  ist.  Mit  besonders  gleich- 
mäßiger Kraft  ist  die  untere  Kinnbackenlinie  gezogen  über  dem  langen, 
säulenartigen  Hals.  Also  im  ganzen  genommen  kleine  Einzel  formen,  die 


7)  Dobbert  bekämpft  mit  Recht  Hettners  Ansicht  (Ital.  Studien  S.  124  ff.),  daß 
in  diesen  Gestalten  die  erlösten  Seligen  zu  sehen  seien.  Die  drohende  Todesgöttin 
spricht  dagegen.  Freilich  die  »Kinder  der  Welt«  sind  auch  links  im  Jagdzug,  aber  es 
sind  eben  zwei  Paare : rechts  die  irrenden  Reichen  und  die  »verblendeten«  Armen,  links 
die  bekehrten  Großen  und  die  einzig  wahrhaft  erlösten  Armen  im  Geiste. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


207 


durch  die  Entschiedenheit,  mit  der  sie  voneinander  abgesetzt  sind,  zu 
einer  kräftigen  Gesamterscheinung  sich  verbinden. 

Den  Ursprung  dieses  Typus  in  der  italienischen  Kunst  der  ersten 
Hälfte  der  Trecento  zu  entdecken,  scheint  schwer.  Gleich  fremd  sind 
die  vollen,  wesentlich  aus  runder  Grundform  mit  breiten  Einzelteilen  ge- 
arbeiteten Köpfe  Giottos  und  seiner  Nachfolger  — mögen  diese  nun  das 
Ideal  mehr  nach  der  Seite  des  Schweren  und  Gedrungenen  abwandeln 
wie  Taddeo  Gaddi,  oder  nach  dem  Regelmäßigen  wie  Daddi  und  Maso 
— und  die  Köpfe  der  Sienesen,  die  auf  Duccios  Idealtypen  mit  den 
hochgeschwungenen  Brauen,  großen  Augen,  der  gewölbten  Stirne  und  der 
gekrümmten  Nase  beruhen. 

Nur  eines  Meisters  Köpfe  scheinen  schließlich  für  einen  Vergleich 
in  Betracht  zu  kommen:  des  Ambrogio  Lorenzetti.  Zwar  kann  man 
hier  nichts  generalisieren.  Ambrogio  ist  seinem  ganzen  Temperament 
wie  seiner  Entwicklung  nach  nicht  der  Mann  des  konsequenten  Stils. 
Er  ist  zu  reich,  leicht  und  schmiegsam,  als  daß  er  nicht  um  einer 
neuen  Aufgabe  willen  fallen  ließe,  was  er  eben  im  Verfolg  entgegen- 
gesetzter Ziele  gefunden.  Bei  ihm  zu  allererst  und  vorläufig  auch  allein 
beruht  die  Einheitlichkeit  des  Schaffens  nicht  in  der  Kontinuität  des 
Problems,  sondern  in  der  Identität  der  Persönlichkeit.  So  kann  man 
denn  auch  bei  ihm  sehr  bemerkenswerter  Weise  von  einem  festen  Typus 
seiner  Menschen  nicht  reden.  Er  hat  schon  nach  den  ersten  Lehrjahren 
in  Siena  starke  Eindrücke  in  Florenz  erhalten  und  daraus  ergaben  sich 
Verschiebungen  des  Ideals,  ja  Verschmelzungen  und  harmloses  Nebenein- 
ander. Man  betrachte  sein  »gutes  Regiment«  und  frage,  ob  es  möglich 
sei,  für  diese  in  wesentlich  neutraler  Stimmung  dargestellten  Köpfe  eine 
so  allgemeine  Formel  zu  finden,  wie  für  die  von  so  entgegengesetzten 
Gefühlen  belebten  Gesichter  in  Pisa.  Dabei  ist  von  einem  Individuali- 
sieren nicht  die  Rede  — die  zum  Porträt  anregenden  Köpfe  der  Bürger 
zeigen  den  gleichmäßigsten  Typus  — der  Künstler  hat  nur  aus  einem 
reichen  Schatz  von  ihm  geläufigen  Formen  ausgestreut,  so  viel  er  mochte. 

Unter  diesen  Formen  nun  weisen  einige  eine  beachtenswerte  Ver- 
wandtschaft mit  Pisa  auf.  Vor  allem  die  Köpfe  der  Prudentia,  Fides  und 
Pax.  Auf  sie  läßt  sich  die  oben  angegebene  Analyse  der  pisanischen 
Köpfe  fast  wörtlich  anwenden;  das  Auffälligste  ist  die  Zeichnung  der 
Nase.  Dieser  Typus  scheint  ein  Rest  von  Ambrogios  Jugendstil  zu  sein, 
sofern  wir  wirklich  berechtigt  sind,  die  im  Grunde  doch  recht  wenig  be- 
deutenden und  — das  gilt  vor  allem  für  die  Marterszene  — in  der  fast 
kalligraphisch  routinierten  Art  der  Zeichnung  mehr  wie  Werkstattarbeit 
als  wie  Erstlingsleistungen  eines  so  leicht  begabten  Künstlers  wirkenden 
Fresken  in  S.  Francesco  zu  Siena  als  Jugendwerke  Ambrogios  anzusehen. 


208 


Georg  Graf  Vitzthum : 


Jedenfalls  hätte  er  sich  dann  wesentlich  dem  Lippo  Memmi  (San  Gimi- 
gnano)  und  einer  auch  vielleicht  unter  I/ippos  Einfluß  erwachsenen,  doch 
nur  vorübergehenden  Stilrichtung  seines  Bruders  (Umilitä)  angeschlossen. 
Die  Typen  dieser  Umilitätafel  des  Pietro,  über  deren  Datierung  Zweifel 
herrschen8),  die  jedoch  wohl  sicher  als  Jugendwerk  anzusehen  ist,  scheinen 
schließlich  das  einzige,  was  die  Fresken  mit  dem  stets  als  ihre  Haupt- 
quelle gerühmten  Stil  Pietros  verbindet.  Aber  auch  hier  ist  bei  der 
größeren  Unbestimmtheit  der  Formgebung  und  bei  dem  zeitlichen  Ab- 
stand kaum  an  eine  direkte  Nachwirkung  dieser  Typen  auf  Pisa,  vielmehr 
an  eine  Vermittelung  durch  Ambrogio,  den  Meister  klarer  Zeichnung,  zu 
denken. 

Überhaupt  aber  ist  der  Pisaner  Typus  hiermit  nicht  erklärt.  Zu 
einer  so  urwüchsigen  Ausbildung  mochte  er  nur  auf  Grund  vereinzelter 
Vorbilder  kaum  gelangen.  Willkommen  müßte  es  sein,  ihn  bei  einem 
Meister  oder  in  einer  Schule  wirklich  herrschend  zu  finden. 

Und  er  findet  sich  in  der  Tat,  nicht  in  Toskana,  sondern  jenseits 
des  Apennin,  in  der  Schule  der  Romagna.9)  Es  sind  vor  allem  die 
Köpfe  von  den  Fresken  in  Colalto,  die  allernächste  Analogien  zum 
Camposanto  bieten,  am  deutlichsten  zum  Gericht.  In  den  Aposteln 
erkennen  wir  die  zu  den  Füßen  des  zwölfjährigen  Jesus  sitzenden  Pharisäer 
wieder;  und  nicht  allein  in  den  Gesichtsformen  und  im  Ausdruck,  sondern 
in  den  wesentlich  gleichen,  wenn  auch  weit  entschiedener  durchgebildeten 
Motiven  des  Sitzens,  der  gegenseitigen  Beziehung,  der  Gesten.  Noch 
größer  ist  die  Übereinstimmung  zwischen  den  Seligen  und  Verdammten 
und  den  Typen  in  Colalto.  Erscheint  z.  B.  die  Frau  in  der  obersten 
Reihe  der  Erlösten  wie  das  gealterte  Ebenbild  der  Maria  vom  Bilde  des 
Zwölfjährigen,  so  tritt  die  Verwandtschaft  in  den  beiden  Prosdocimus- 
bildern  noch  allgemeiner  zutage.  Da  sind  Profilköpfe  in  betendem 
Aufblick  mit  erhobenen  Händen,  die  sogleich  eintreten  könnten  in  die 
Reihen  in  Pisa.  Colalto  mit  seinem  sicheren  terminus  ante,  1350,  und 
seinen  engen  Beziehungen  zum  nordischen  Boden  kann  von  Pisa  nicht 

8)  Die  Inschrift  auf  dem  Florentiner  Bilde  ist  erneuert.  Das  Datum  1316  kann 
auf  keinen  Fall  richtig  sein;  denn  die  Beatifikation  der  Heiligen  fällt  etwas  später 
(Meyenburg,  Ambrogio  Lorenzetti  S.  7).  Schubring  (Z.  f.  ehr.  K.  1902,  S.  375)  will 
1341  lesen,  dagegen  tritt  Suida  (Rep.  XXVII,  S.  387)  für  die  schon  von  Thode  (Rep.  XI, 
S.  7)  stil kritisch  bewiesene  frühe  Entstehung  ein.  Einen  Anhalt  für  die  Datierung  kann 
ein  Vergleich  mit  der  sehr  verwandten  Bicchernen-Tafeln-  von  1329  (Lisini  tav.  XVI) 
gewähren. 

9)  Brach,  Giottos  Schule  in  der  Romagna.  Heitz  1902;  des  Verf.  Vortrag  in  der 
Berliner  kunstgeschichtl.  Gesellschaft  10.  März  1905.  Zu  diesem  ist  nachzutragen  eine 
mit  der  Tafel  bei  Stroganoff  auf  der  Auktion  Corvisieri  1900  verkaufte  Tafel  mit  sechs 
Passionsdarstellungen,  die  stilistisch  und  ikonographisch  fest  in  diesen  Kreis  gehören. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


209 


empfangen  haben.  Es  bleibt  nur  der  Zweifel  zwischen  einer  zufälligen 
Analogie  und  Beeinflussung  Pisas  durch  die  Romagna.  Das  letztere  ist 
durchaus  nicht  so  unwahrscheinlich,  wie  man  glauben  möchte.  Es 
handelt  sich  ja  nicht  um  eine  kleine  Lokalschule,  sondern  um  die  von 
Colalto  am  Fuß  der  Alpen  bis  Tolentino  in  der  südlichen  Mark  Ankona 
herrschende  Kunst.  Und  diese  scheint  auch  auf  ein  größeres  Zentrum 
nicht  ohne  Einfluß  gewesen  zu  sein:  »De  Ravenna  Magister  Johannes« 

nennt  sich  der  Schreiber  einer  um  1360  in  Neapel  entstandenen  Bibel,10) 
und  der  Maler,  der  sie  schmückte,  muß  entweder  durch  seine  Herkunft 
oder  durch  seinen  Genossen  am  Werk  Kenntnis  gehabt  haben  von  jener 
Kunst  an  der  Adria,  die  die  Jugend-  und  Leidensgeschichte  Christi  in 
Fresken  und  reichen  Tafelwerken  unzählig  oft  und  seit  Jahrzehnten  schon 
dargestellt  hatte.  Es  sind  hier  besonders  die  Kompositionen,  die  solche 
Beziehungen  wahrscheinlicher  machen,  als  ein  Zurückgreifen  auf  die  dreißig 
Jahre  früher  in  Neapel  entstandenen  Arbeiten  Giottos. 

Aus  einer  Berührung  mit  dieser  Schule  dürften  wir  also  die  Grund- 
form des  herrschenden  Typus,  aus  dem  Anschluß  an  Ambrogio  Lorenzetti 
die  Kraft  und  Klarheit  der  Zeichnung  herleiten.  — Aber  damit  ists 
nicht  genug,  nun  handelt  es  sich  um  den  Geist,  den  diese  Formen  um- 
schließen. Wo  sind  die  Quellen  des  inneren  Reichtums,  der  Mannig- 
faltigkeit des  Ausdrucks,  der  tiefen  seelischen  Charakteristik?  Wo  ist  in 
diesen  Tagen  eine  Kunst,  die  auf  dem  gleichen  Grunde  erschuf  die 
grobe  Fratze  des  Bettlers  und  die  süße  Holdseligkeit  des  im  Blütenhain 
wundersame  Weisen  spielenden  Weibes?  In  Florenz?  Klein  und  beschränkt 
erscheint  mit  solchem  Maß  gemessen  seine  Kunst.  In  Siena?  Tiefstes 
seelisches  Leben  ist  der  Zauber  seines  Schaffens.  Aber  wir  müssen  uns 
fragen,  ob  das  Bedeutsame  daselbst,  die  Glut  und  Tiefe  der  Empfindung, 
der  reiche  Schatz  der  Formen  und  Gestalten  wirklich  sich  deckt  mit 
dem,  was  in  Pisa  vorliegt.  Und  wir  kommen  nahe  daran,  es  als  das 
gerade  Gegenteil  zu  erkennen.  Pietro  und  Ambrogio  verbinden  eine  nur 
aus  persönlichster  Inspiration  zu  erklärende  Tiefe  seelischen  Ausdrucks 
mit  einem  Erfassen  allerindividuellster,  vorübergehendster  Erscheinungen 
der  Haltung  und  Bewegung,  wie  sie  sich  nur  dem  unablässig  das  Tun 
und  Regen  der  Menschen  umher  beobachtenden  Blick  erschließen  kann. 
So  gewinnen  sie  ein  bedeutendes  Material  von  Erscheinungsformen  — 
aber  sie  ordnen  dieses  den'  bestimmten  Tendenzen  ihres  künstlerischen 
Temperaments  unter.  Und  dieses  hat  bei  aller  Wucht  und  Tiefe  nur 
eine  beschränkte  Modulationsfähigkeit:  die  trübe  in  die  Weiten  schweifenden 

,0)  Berlin,  Kupferstichkabinett,  Hamilton  85,  s.  Graf  Erbach,  Vortrag  in  der 
Berliner  kunstgeschichtlichen  Gesellschaft  30.  3.  1900  und  L’ArJe  1905,  fase.  1.  Zum 
Vergleich  mit  »Ravenna«  kommen  vor  allem  fol.  367  r.  und  400  v.  in  Betracht. 


2 10 


Georg  Graf  Vitzthum : 


Augen  der  Pax  sind  die  der  Madonna,  die  des  Sohnes  Tod  bedenkt, 
der  dienende  Knabe,  der  dem  Joachim  die  Kunde  von  der  Geburt  der 
Tochter  bringt,  wird  zum  Christuskinde,  das  jenem  geheimnisvollen 
Blick  der  Mutter  forschend  begegnet,  hoffnungslose  Bekümmernis  und 
staunendes  Erbeben  vor  dem  neuen  Glück  klingen  in  einem  Ton 
(Umilitä  Berlin  Nr.  1077),  die  Herrin  hoch  zu  Roß,  die  Jungfrauen,  die 
sich  im  Reigen  drehen,  sind  durch  nichts  ausgezeichnet  vor  der  Bauern- 
magd, die  ihre  Gemüse  und  Eier  zum  Markte  trägt  (Folgen  des  guten 
Regiments).  Kein  größerer  Gegensatz  scheint  denkbar,  als  der  Triumph 
des  Todes,  wo  hart  und  unvermittelt  die  zu  höchter  Schärfe  gesteigerten 
Kontraste  nebeneinander  stehen. 

In  dieser  Erkenntnis  hat  man  endlich  noch  auf  Neapel  verwiesen, 
dort  die  Anregungen  besonders  zu  den  »höfischen«  Figuren  gesucht.11) 
Ich  kann  weder  in  der  sienesisch  beeinflußten  Monumental-  noch  in  der 
mehr  giottesken  Miniaturmalerei  irgend  eine  der  besonderen  pisanischen 
Eigentümlichkeiten  entdecken.  In  der  Incoronata  vor  allem  ists  vielmehr 
die  reiche  Schilderlust  eines  gewiß  vom  angiovinischen  Hofleben  ange- 
regten Malers,  der  mehr  Auge  hat  für  äußere  Pracht  als  für  das  ver- 
borgene Spiel  der  Seelen. 

Der  Unterschied  wird  am  klarsten,  wenn  wir  uns  vom  Ausdruck 
der  Köpfe  zu  der  Auffassung  der  ganzen  Gestalt  wenden.  Den  Reichtum, 
der  hier  in  den  Fresken  vor  Augen  steht,  zu  erfassen,  sei  dem  Betrachter 
überlassen.  Das  Besondere  sind  weniger  die  großen  Gesten,  als  die 
Lebensäußerungen  der  ruhigen  Gestalten.  Die  sitzende  Madonna,  der  in 
lebhaft  ausgeschwungener  Haltung  stehende  Michael,  der  leicht  vorwärts- 
schreitende Erlöste  rechts,  die  Frauen,  die  in  stiller  Lust  die  Köpfe 
neigen,  und  dann  die  Reiter,  wie  sie  im  Sattel  sitzen,  sich  vor-  und 
rückwärts  neigen,  sie  alle  zeigen  eine  Durchdringung  des  ganzen  Menschen 
mit  einheitlichem  Lebensgefühl,  dabei  eine  Eleganz  und  einen  dekora- 
tiven Reiz,  wie  solcher  in  ganz  Italien  nicht  seinesgleichen  hat. 

Und  nicht  allein  die  einzelnen  Gestalten,  sondern  auch  die  Gruppen. 
Als  die  reinste  Blüte  eines  hochgebildeten  Geschmacks  erscheint  der 
Reiterzug.  Der  einzige,  der  hier  zu  nennen  wäre,  ist  wieder  Ambrogio 
Lorenzetti.  Aber  selbst  dem  Maler  des  guten  Regiments  könnten  wir 
trotz  aller  Anmut  seiner  Kunst  eine  solche  Leistung,  in  der  höchster 
Verstand  gewaltet,  nicht  Zutrauen.  Die  Vorzüge  dieser  Gruppe,  geschlossene 
Wirkung  bei  stärkster  Differenzierung,  zeigt  auch  die  Bettlerschar.  In 
der  vorderen  Linie  die  durchgehende  Tendenz  nach  vorn,  in  die  Höhe, 
stärkstes  Verlangen,  dahinter  die  Gestalten  leicht  im  Kreise  geordnet, 


“)  Schubring  a.  a.  O.  S.  78. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


2 I I 


und  in  ihnen  stumpfe  Leblosigkeit,  ja  in  allem  Sehnen  grauenvolles 
Widerstreben!  Nur  in  den  Toten  können  wir  den  Anschluß  an  ein 
italienisches  Vorbild  nachweisen.  Eine  kleine  Tafel  der  Sieneser  Akademie, 
eine  Allegorie  des  Kreuzes,  zeigt  genau  die  gleiche  Gruppe.  Wir  lassen 
es  dahingestellt,  ob  wirklich  Pietro  Lorenzetti  der  Maler  dieses  Bildes 
sei. I2)  Es  ist  sicher  sienesisch  und  gehört  sicher  in  die  erste  Hälfte 
des  Trecento.  Sehr  interessant  ist  es  nun,  zu  beobachten,  wie  der 
Pisaner  Meister  das  Motiv  in  seinem  Sinne  abwandelt.  Die  mit  sicht- 
licher Vorliebe  senkrecht  zur  Bildfläche  hingelegten  Leiber  läßt  er  weg, 
nur  eine  Papstfigur  zeichnet  er  so,  doch  ohne  jede  Betonung.  Und 
während  die  Gruppe  unter  dem  hohen  Horizont  auf  der  weiten  Fläche 
in  freiem  Umriß  auslief,  schließt  sie  im  Rahmen  der  reliefmäßigen  Kom- 
position in  einfachem,  großzügigem  Kontur. 

Zusammenfassend  können  wir  sagen:  Ein  unbedingter  Anschluß  an 
eine  bestimmte  italienische  Schule  ist  für  den  Triumph  des  Todes  nicht 
nachzuweisen.  Der  Meister  hat  Anregungen  von  Siena,  Florenz  und 

wohl  gar  von  der  Romagna  her  empfangen.  Siena  steht  an  erster  Stelle 
und  zwar  nicht  allein  für  die  Motive,  sondern  für  das  Technische:  in 
der  klaren  Kraft,  dem  freien  Fluß  der  Zeichnung,  der  entschiedenen 
Plastik  der  Gestalten  zeigt  sich  Ambrogio  Lorenzettis  Lehre.  Aber 
vieles  in  den  Einzelheiten  (Pflanzen,  Tiere)  und  das  Wichtigste 
in  den  Grundlagen  des  Stiles  (Physiognomik,  Bewegungs- 
motive, Gruppenbildung)  ist  überhaupt  aus  Italien  nicht 
herzuleiten.  Wir  müssen  die  Quellen  dafür  weiter  suchen. 

II. 

Die  Fresken  der  Ostwand,  für  die  wir  oben  einige  nicht  un- 
wesentliche Besonderheiten  nachweisen  konnten,  gewähren  nun  gerade 
in  diesen  einen  Anhalt,  um  die  Zusammenhänge  der  Pisaner  Kunst  nach 
anderer  Seite  zu  suchen:  sie  weisen  Beziehungen  zu  den  Fresken 
im  Papstpalast  von  Avignon  auf.  — Für  diese  ist  man  bisher  über 
allerdings  ausgezeichnet  gründliche  und  ergebnisreiche  dokumentarische 
Untersuchungen  x3)  kaum  hinausgekommen.  Man  hat  sie  als  Ableger  der 
sienesischen  Schule  auf  ihren  besonderen  künstlerischen  Charakter  zu 
untersuchen  kaum  der  Mühe  wert  gehalten.  Und  doch  fallen  in  ihnen 
von  der  Entwicklung  in  Siena  selbst  sehr  verschiedene  Eigentümlichkeiten 

>* *)  Perate  in  »Melanges  Paul  Fahre«;  Rothes  a.  a.  O. 

*3)  E.  Müntz  im  Bulletin  monumental  1884  und  Gazette  archeologique  1885  bis 
1888.  — Eberle,  Historia  bibliothecae  Romanorum  Pontificum  I,  p.  608 — 632.  Vgl. 
A.  Gosche,  Simone  Martini  S.  noff. 


212 


Georg  Graf  Vitzthum: 


auf,  deren  Feststellung  uns  um  so  wichtiger  erscheinen  würde,  wenn  wir 
eine  Rückwirkung  auf  die  Fresken  in  Pisa  annehmen  müßten. 

Doch  vergleichen  wir  erst  und  versuchen  darnach  die  Schluß- 
folgerung: 

Die  Erscheinung  Christi  an  die  Jünger  mag  wegen  der  wenigen 
aber  sehr  charakteristischen  Motive  voranstehen.  Den  obersten,  ein 
wenig  geneigten  Kopf  halten  wir  neben  den,  der  unmittelbar  über 
Johannes  auf  der  Auferweckung  der  Drusiana  in  der  Chapelle  S.  Jean1*) 
sichtbar  ist:  die  Haltung  sehr  ähnlich,  nur  in  Pisa  ein  wenig  mehr  ins 
Profil  gedreht,  der  Gesamtumriß  gleichartig,  völlig  übereinstimmend  die 
Formen : Stirn,  Nase,  Mund,  Wangen  (nur  die  Linie  an  der  Nase  in  Pisa 
etwas  schärfer),  in  erster  Linie  die  Augen,  sowohl  der  Sitz  der  Pupille, 
die  Bildung  von  Ober-  und  Unterlid,  die  Einbettung  zwischen  Wange, 
Schläfen  und  Brauenbogen.  Haar-  und  Barttracht  sowie  der  breite  Über- 
gang vom  Hals  zum  Torso  scheint,  soweit  man  in  Avignon  noch  darüber 
urteilen  kann,  sehr  ähnlich. 

Neben  jenem  Kopf  steht  in  Avignon  einer  in  reinem  Profil,  ein 
zweiter  links  vom  Evangelisten,  drüben  auf  der  Seite  der  Frauen  noch 
zwei,  ein  jüngerer  und  ein  älterer.  Die  Umrisse  sind  mit  festem  Willen 
und  mit  einer  großen  Kraft  gezogen,  der  Absatz  zwischen  Stirn  und 
Nase  ist  nach  dem  Alter  verschieden  scharf,  aber  stets  bestimmt  gekenn- 
zeichnet, die  Nase  gebogen,  in  scharfer  Spitze  endigend,  dann  grade 
zurückgeführt  und  in  festem  Kreis  der  Nasenflügel  eingezeichnet.  Die 
Wangenfalte  ist  auch  bald  mehr,  bald  weniger  energisch  gezogen,  doch 
stets  sind  die  Wangen  gegen  sie  und  die  Augen  deutlich  abgesetzt.  Die 
Augen  wieder  in  starkem  Kontrast  von  Schwarz  und  Weiß  zwischen  den 
breiten  Lidern.  Im  Mund  sind  die  beiden  Lippen  getrennt,  auch  wo  er 
nicht  geöffnet  ist.  Die  Unterlippe  tritt  etwas,  über  das  Kinn  vor,  das 
kräftig,  straff  herausspringt  und  in  geringer  Rundung  zur  Kinnlade  über- 
geht. Genau  die  gleichen  Merkmale  zeigen  nun  die  beiden  Jüngerköpfe 
unter  dem  zuerst  betrachteten  in  Pisa.  Die  Augen  sind  kleiner,  geschlitzter, 
das  ist  der  einzige  Unterschied.  Er  ist  gewiß  nicht  unbedeutend;  denn 
in  Avignon  ist  das  große  Profilauge  im  Gegensatz  zum  geschlitzten  Auge 
in  Vorderansicht  allgemein.  Aber  der  Effekt  ist  hier  und  dort  derselbe. 
Ferner  vergleiche  man  das  Haar  des  jüngeren  Apostels  und  das  der 
Frauen,  das  Ohr  des  Alten  und  das  Johannis  (Detail  Robert  5820),  seinen 
ganzen  Kopf  und  den  vordersten  der  Juden  bei  der  Predigt  des  Täufers 
(R.  5812).  Vielleicht  ist  man  indessen  schon  auf  etwas  anderes  auf- 
merksam geworden:  die  Hände!  Die  Finger,  die  sich  in  Jesu  Wunden 


*4)  Phot.  Robert  5828  (zu  beziehen  durch  J.  Kuhn,  Paris,  Rue  de  Rivoli). 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


213 


legen  und  die  des  auferweckenden  Johannes,  die  anbetend  erhobenen 
Hände  der  Drusiana  und  die  des  tief  sich  beugenden  Jüngers,  ja  alle, 
auch  wenn  sie  nicht  in  der  gleichen  Stellung  zu  sehen  sind,  in  ihrer 
ganzen  Plumpheit,  im  groben  Zuge  der  Umrisse,  in  der  Zeichnung  der 
Nägel,  in  dem  Temperament  des  Gestus.  Auch  droben  in  der  Kapelle 
des  Martial  finden  wir  Analogien  (anbetende  Frau  hinter  der  Säule  bei 
der  Heilung  des  Sohnes  der  Nerva  [Robert  5809]  gleich  dem  alten 
Apostel,  selbst  bis  zur  Zeichnung  des  fast  verborgenen  Daumens).  Dort 
aber  lenkt  uns  vom  Vergleich  der  Hände  ein  Wichtigeres  ab:  Wir  sehen 
da  in  dem  Feld  zu  Häupten  der  Imago  Christi  im  Schlußstein  (R.  5814), 
Petrus  und  Martial  schreiten?  stehen?  kaum  ist  es  zu  unterscheiden, 
aber  wir  sehen  ihre  großen,  platten  Füße  breit  voneinander  gestellt, 
und  den  Saum  des  Gewandes  über  sie  hingehen  und  sehen,  wie  die 
Gewänder,  oben  dicht  um  die  Schulter  gezogen,  in  langen  weichen 
Falten  den  ganzen  Leib  mitsamt  den  Armen  einhüllen;  und  alles  finden 
wir  wieder  im  stehenden  Jünger  in  Pisa.  Dabei  ist  der  greise  Petrus 
ja  doch  der  alte  Jünger,  der  seine  Hand  zur  Wunde  an  Christi  Füßen 
führt.  — 

Die  Architektur  gibt,  soweit  sich  in  Pisa  noch  über  sie  urteilen 
läßt,  eine  Bestätigung  der  allerengsten  Beziehungen,  die  endlich  auch  in 
den  Heiligenscheinen  (sehr  wichtigen  Indizien  im  Trecento,  denn  un- 
endlich reich  sind  dafür  die  Formen)  zum  Ausdruck  kommen. 

Die  Auferstehung  ist  sehr  übermalt,  den  alten  Typus  aber  bewahrt 
in  voller  Reine  der  Herr.  Fänden  wir  den  in  Avignon  wieder?  Über 
den  beiden  vorhin  herangezogenen  Figuren  des  Petrus  und  Martial  steht 
ein  Kopf  in  voller  Vorderansicht.  Ein  dünner  Schnurrbart  umrahmt  den 
Mund  und  gibt  ihm  etwas  Trübes,  um  die  Tonsur  auf  dem  Scheitel 
wächst  das  Haar  dicht  und  voll  herab.  Doch  ohne  diese  beiden  Züge 
ist  er  das  Ebenbild,  das  wir  suchen:  der  runde  Umriß  des  Gesichtes, 
die  niedere,  breite  Stirn,  der  ganz  besondere  Zug  der  Brauenbögen,  der 
Ansatz  der  gerade  herabgehenden  breiten  Nase,  der  Mund  mit  den  scharf 
geschnittenen  Lippen,  die  groß  geradeausblickenden  Augen  hier  wie  dort. 
Die  Nasenflügel  gehen  in  Avignon  ein  wenig  mehr  nach  oben.  Das 
kehrt  dort  an  allen  Köpfen  in  gerader  Vorderansicht  wieder.  Die 
leichte  Untensicht,  wie  in  Pisa,  erscheint  dort,  wo  sie  motiviert  ist,  z.  B. 
in  der  aufblickenden  Frau  bei  der  Drusiana.  — Für  Christi  großen  Fuß 
ist  auf  die  oben  angeführten  Beispiele  zu  verweisen.  Die  Hand  scheint 
etwas  feiner,  »sienesischer«.  In  Avignon  kommen  auch  ähnlich  gute 
Hände  vor,  aber  wir  wollen,  wie  bisher,  allein  auf  das  verweisen,  was 
nur  in  Avignon  vorkommt.  Dafür  bieten  die  Engel  nichts  Ausschlag- 
gebendes. 


Georg  Graf  Vitzthum: 


214 


Jetzt  muß  es  sich  für  den  Leser  schon  entschieden  haben,  ob  wir 
auf  dem  rechten  Wege  sind.  Darum  nur  noch  weniges:  Der  auffahrende 
Christus  teilt  mit  der  schon  erwähnten  Fräu  auf  dem  Drusianabild  den 
wichtigen  Zug  der  etwas  verkürzten  Augen  mit  den  nach  oben  geschobenen 
Pupillen;  desgleichen  die  von  unten  gesehene,  kurz  unterschattete  Unter- 
lippe. Den  Kopf  des  in  die  Höhe  weisenden  Engels  halte  man  neben 
den  des  alten  Klerikers  auf  dem  an  die  Erweckung  der  Drusiana 
anstoßenden  Fresko  (Robert  5830).  Für  die  knieenden  in  die  Höhe 
blickenden  Jünger  vergleiche  man  die  Magdalena  am  Kreuz  (Robert  5808). 
Wie  hier  in  der  Verkürzung  das  Auge,  Pupille  und  Weißes,  noch  zu  seinem 
Recht  kommt,  ist  erstaunlich  und  ohne  Analogie.  Zwei  ähnlich  verkürzte 
Köpfe  mit  dem  gleichen  Vorzug  auf  der  Segnung  Martials  durch  Christus 
(R.  5814).  Die  auffallend  guten  lang-  und  zartfingerigen  Hände  sind 
restauriert,  das  viermal  wiederkehrende  Motiv  der  nur  ganz  leicht  mit  den 
Spitzen  aneinander  gelehnten  Hände  ist  für  Avignon  eigentümlich  (in  der 
besonderen  Stellung  der  Finger  zueinander  vgl.  den  Jünger  zuäußerst 
links  in  der  oberen  Reihe  mit  der  einen  Figur  auf  Martials  Totenerweckung 
(Robert  5809)). 

Für  die  Kreuzigung  ergaben  sich  uns  schon  oben  einige  Abweichungen 
von  den  bisher  herangezogenen  Fresken;  vor  allem  die  Köpfe  der  Engel. 
Für  diese  finden  sich  auch  in  Avignon  keine  Vejgleichsobjekte.  Auch 
die  Gruppe  der  Frauen  zur  Linken  zeigt  eine  Durcharbeitung  der  stark 
variierenden  Typen,  der  sich  in  Avignon  nichts  an  die  Seite  stellen  läßt. 
Trotzdem  ist  auch  hier  der  Zusammenhang  nicht  zu  verkennen.  In  der 
vordersten  der  Frauen,  deren  Kopf  ein  Tuch  bedeckt,  wird  man  unschwer 
die  Züge  jener  wiedererkennen,  die  auf  dem  Fresko  der  Heilung  der 
Tullia  (Robert  5817)  aus  der  Tür  tritt.  Und  wenn  man  denselben  Kopf 
mit  dem  der  Nachbarin  zur  Rechten  und  in  Betracht  der  Linienzüge  von 
Brauen,  Nase  und  Mund  etwa  mit  den  beiden  Söhnen  des  Zebedäus  auf 
der  Darstellung  ihrer  Berufung  (Robert  5821)  vergleicht,  so  wird  man 
die  große  Übereinstimmung  der  künstlerischen  Auffassung  inne.  Diese 
tut  sich  in  dem  Ausdruck  aller  Köpfe,  in  der  ruhigen  Haltung  der  Leiber 
mit  den  langen,  leicht  etwas  schräg  gereckten  Hälsen,  in  Haltung  und 
Formung  der  Hände  (Zeigefinger!)  kund.  Für  den  Gewandstil  bieten 
die  Gestalten  darüber  Vergleichsmaterial:  die  am  Boden  Liegende  und 
die  vom  Rücken  gesehenen  sitzenden  Männer  bei  der  Segnung  Martials 
durch  Christus;  die  eigentümlichen  kleinen  Falten  an  der  Hüfte  und  die 
breiten  Partien  daneben  von  merkwürdig  lederartiger  Wirkung.  Die 
Rückenpartie  dieses  einen  der  Sitzenden  und  die  des  stehenden  Pharisäers 
in  Pisa  sind  in  Umriß,  Breite  der  Schultern,  Heraustreten  des  Ellenbogens, 
ganz  verwandt.  Und  hier  sind  es  nun  vor  allem  die  Typen;  diese  groben 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


215 


stumpfnäsigen  Gesellen  gehören . zueinander,  man  vergleiche  doch  nur  den 
Profilkopf  in  Pisa  mit  dem  untersten  der  zur  Seite  Sitzenden.  Bis  zum 
Überstehen  der  Brauen  haben  sie  Zug  um  Zug  gemeinsam.  Wichtig  ist 
endlich  der  gleiche  Mangel  an  festem  Proportionssinn,  wie  er  sich  in 
Avignon  überall,  in  Pisa  bei  dem  Arm  der  Pharisäer  links  zeigt. 

Damit  halten  wir  den  Nachweis  engster  Beziehungen  für  geliefert. 
Nur  für  die  Ostwand?  Oder  liegen  sie  auch  im  Triumph  des  Todes 
selbst  oder  bei  Traini  vor? 

Höchst  auffallende  Erscheinungen  auf  dem  Fresko  und  auf  den 
Dominikustafeln,  die  eine  Herleitung  aus  einer  italienischen  Quelle  durchaus 
nicht  gestatten  wollten,  waren  die  Fratzen  der  Bettler.  In  Avignon  sind 
ihre  Ebenbilder.  Vergleichen  wir  für  den  am  Boden  sitzenden  den  Kopf 
zuäußerst  links  vom  Prozessionsfresko  der  Johanneskapelle  (R.  5S30)  mit 
der  in  gleicher  Weise  vorgeschwungenen  Nase,  dem  offenen  Mund,  den 
in  die  Höhe  blickenden  Augen;  für  das  alte  Weib  mit  der  kurzen  breiten 
Nase,  dem  bösen  Blick,  den  kräftigen  Falten  am  Nasenansatz  den  Kahl- 
kopf über  Johannes  bei  der  Erweckung  der  Drusiana  oder  die  Frau  links 
in  der  Gruppe  bei  der  Beschneidung  Johannis  in  Villeneuve-l£s-Avignon 
(abgeb.  Bull.  mon.  1884),  der  andrerseits  der  Ncmne  in  der  zweiten  Reihe 
von  unten  bei  den  Seligen  des  Gerichts  eng  verwandt  ist,  für  den  Profil- 
kopf des  bartlosen  Alten,  wenigstens  was  Stirn  und  Nase  anlangt,  den 
vordersten  der  Pharisäer  auf  Johannis  Taufe,  für  den  Schwarzen  die 
sitzenden  Jünger  bei  der  Weihung  Martials,  vor  allem  aber  den  einen 
stehenden  Mann  auf  der  Namengebung  des  Täufers  in  Villeneuve-l&s- 
Avignon,  der  auch  wieder  mit  Köpfen  im  Gericht  völlig  übereinstimmt. 
Die  Haltung  des  sitzenden  Bettlers  wiederholt  sich  in  den  wichtigen 
Linien  des  Rückens  und  der  Schenkel  in  dem  Vater  Martials  auf  der 
ersten  Geschichte  der  Legende  (Gosche,  Taf.  VII).  — Doch  wir  können 
auch  den  reinen  Gegensatz  zu  diesen  rohen  Fratzen  betrachten,  das  junge 
Frauenantlitz,  das  am  Ende  des  Jagdzugs  gerade  aus  dem  Bilde  heraus- 
schaut: da  haben  wir  die  heilige  Anna  von  der  Decke  der  Chapelle 
S.  Jean  (Gaz.  archöol.  1886  pl.  33)  oder  die  Frau  hinter  Martials  Mutter 
auf  dem  zuletzt  erwähnten  Fresko.  Und  drüben  die  Kinder  der  Welt, 
halten  wir  sie  z.  B.  neben  die  Köpfe  auf  der  Heilung  der  Tullia  (R.  5817) 
oder  auf  der  Beschneidung  in  Villeneuve,  so  werden  wir  auch  ohne  ein- 
gehendere Vergleichung  sehen,  daß  hier  die  Grundlagen  der  Gestaltung 
die  gleichen  sind;  die  Hände  bezeugen  dasselbe. 

Vor  allem  aber  finden  wir  in  Avignon  nun  wirklich  den  Typus  als 
den  herrschenden,  den  wir  eingangs  als  den  Urtyp  der  Pisaner  Fresken 
und  Trainis  analysierten. 

Aber  an  eine  Einheit  der  Hand  ist  in  keinem  Falle  zu 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


16 


Georg  Graf  Vitzthum: 


216 

denken.  Nähern  sich  die  Einzelformen  häufig  bis  zu  völliger  Überein- 
stimmung, so  ist  das  Niveau  des  künstlerischen  Strebens  ein  durchaus 
anderes.  Die  meisterhafte  Durchbildung  der  Gestalten  und  ein  großer 
Wille  zur  Klarheit,  zur  Gliederung  hebt  die  Schöpfungen  von  Pisa  weit 
über  Avignon  hinaus  und  gewinnt  dann  vor  ihnen  eine  bedeutende  Höhe 
wirklich  organischer  Verbindung. 

Wie  ist  dann  das  Verhältnis  zu  verstehen?  Die  Lage  ist  schwierig: 
1344/45  sind  Trainis  Tafeln  entstanden.  Für  die  Fresken  müssen  wir 
an  dem  Datum  1350  festhalten.  Nun,  die  Martialskapelle  ist  genau  in 
den  gleichen  Jahren  1344  — 45  ausgemalt,  die  Johanniskapelle  wahrschein- 
lich etwas  früher;  und  die  Fresken  in  Villeneuve  sind  zwischen  dem 
2.  Juni  1356  und  dem  12.  September  1362  entstanden.  Damit  scheint 
jede  Möglichkeit  einer  direkten  Beeinflussung  ausgeschlossen:  Matteo  di 
Giovanni  da  Viterbo  kann  nicht  an  den  Pisaner  Fresken  gelernt,  Traini 
kann  die  Malereien  in  Avignon  nicht  gekannt  haben.  — Zur  Lösung 
dieses  Problems  holen  wir  noch  einmal  weiter  aus. 

III. 

In  dem  zweiten  Kapitel  ist  die  Schlußfrage  des  ersten  noch  nicht 
gelöst.  Alle  engsten  Beziehungen  zu  Avignon  konnten  uns  ja  das 
Problematische  der  Pisaner  Malereien  nicht  erklären.  Dafür  muß  nach 
anderen  Quellen  gesucht  werden.  Und  denen  sind  wir  nahe,  wenn  uns 
der  Weg  nach  Avignon  geführt. 

Was  war  Avignon  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts?  War 
es  das  Exil  der  römischen  Kurie,  ein  Stück  Italien  im  fremden  Land? 

t 

Es  war  das  Gegenteil:  »Die  Päpste  waren  Franzosen,  ihr  Hofleben  war 
französisch«,1 5)  und  damit  war  auch  die  Kunst  und  Kultur  eine  wesentlich 
französische.  Für  die  Architektur  und  Malerei  ist  dies  durch  doku- 
mentarische Forschungen16)  festgestellt.  Dvoräk  hat  daraufhin  ein  so 
klares  Bild  davon  gegeben,  daß  nur  auf  seine  Darstellung  verwiesen  werden 
kann.  Ebenso  wichtig  aber  erscheinen  die  Tatsachen,  die  durch  die 
Untersuchungen  FauconsU)  und  Ehrles18)  über  die  Bibliothek  bekannt 
geworden  sind. 


5)  s.  Dvorak,  Die  Illuminatoren  des  Johann  von  Neumarkt.  Jahrb.  d.  Kunsts.  d. 
a.  h.  Kaiserhauses  XXII,  Wien  1901,  S.  69. 

,6)  Faucon,  Les  arts  ä la  cour  d’Avignon  sous  Clement  V et  Jean  XXII,  in  den 
Melanges  d’archeologie  et  d’histoire  der  Ecole  fran^aise  de  Rome  1882,  p.  44-ff.  u.  1884. 
p.  61  ff.  und  Müntz,  Bulletin  monumental  1884,  p.  752 — 755. 

*7)  La  librairie  des  papes  d’Avignon  1886 — 87. 

**)  a.  a.  O.  vgl.  auch  Labande,  Catal.  g4n£ral  des  Manuscrits  des  Bibi.  Publ.  de 
France,  vol.  XXVII. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


217 


Bezeichnend  ist  Schon  einer  der  ersten  Käufe  Johanns  XXII.,  von 
dem  wir  Kunde  haben;  im  Februar  1317  wird  der  Bibliothek  eine  Bibel 
einverleibt,  »empta  in  partibus  Francie«  für  den  enormen  Preis  von 
60  flor.  auri,  sicherlich  also  ein  ausgezeichnet  geschriebenes,  wahrschein- 
lich mit  Miniaturen  geschmücktes  Werk.  Ebenso  rein  französischen  und 
zwar  älteren  Ursprungs  muß  die  Bibel  gewesen  sein,  die  1318  vom  Abt 
von  S.  Remy  gekauft  wurde.  Verwaltet  wird  die  Bibliothek  in  den  ersten 
Jahren  von  dem  Dominikaner  Guillaume  de  Broa.  — Um  1320  tritt  eine 
bedeutsame  Neuerung  ein.  Neben  dem  Ankauf  von  Büchern  wird  ein 
fester  »scriptor«  angestellt,  als  erster  Philippe  de  Revest,  Prior  der  Kirche 
von  Girgonian,  an  den  in  den  nächsten  Jahren  Zahlungen  verzeichnet 
sind.  Auch  das  Einbinden  der  Bücher  wird  von  einem  Franzosen  be- 
sorgt, »maitre  Pierre  de  Paris«  ist  1328  zu  diesem  Zweck  in  Avignon. 
Dann  werden  wieder  nur  Ankäufe  von  Franzosen  erwähnt,  bis  sich  1331 
der  Italiener  Nerio  Vitalis  als  libraius  curie  Romane  niederiäßt.  Doch 
schon  im  nächsten  Jahre  finden  wir  die  päpstliche  Schreibstube  um  fünf 
französische  »scriptores«  vermehrt.  Dies  bleibt  unter  Benedikt  XII.,  dem 
ehemaligen  Cisterzienserabt  Jacques  Fournier  (1334  — 42),  bestehen.  Ja 
nun  tritt  der  erste  »il  lum  inator«  ein:  in  den  ersten  Monaten  des 
Jahres  1337  wird  Andre  de  Beauvais,  ein  Nordfranzose,  bezahlt,  frei- 
lich noch  nicht  für  große  Miniaturen.  Bald  wächst  sein  Ruhm  und  seine 
Tätigkeit;  schon  am  31.  Juli  1338  wird  ihm  eine  bedeutende  Summe  für 
den  Einband  eines  alten  Passionale  und  die  Ausschmückung  zweier 
Schriften  Benedikts  bezahlt.  Und  in  den  Jahren  1340,  1341,  1342,  also 
während  Simones  Anwesenheit,  malt  er  mehrere  Bücher  mit  Bildern 
größeren  Umfanges  aus,  erhält  Aufträge  für  Einbände  und  kleineren  Buch- 
schmuck. Neben  ihm  ist  der  Schreiber  Firmin  Barthtdemy  tätig,  Biblio- 
thekare sind  Jean  Engilbert,  dann  Pierre,  der  Bischof  von  Grasse.  Außer 
für  den  Papst  arbeitete  Andre  schon  für  Pierre  Rogier,  Erzbischof  von 
Rouen,  den  nachmaligen  Papst  Clemens  VI.  Dieser  vermehrt  bei  seinem 
Regierungsantritt  1342  die  päpstliche  Bibliothek  durch  die  seinige.  Dann 
allerdings  läßt  das  Anwachsen  der  Bibliothek  wesentlich  nach.  Das  Ge- 
samtresultat  ist,  daß  während  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  an 
dem  französischen  Papsthof  französische  Architekten,  Maler  und  Bildhauer, 
französische  Schreiber  und  Buchbinder  und  ein  nord französischer  Miniaturist 
beschäftigt  sind  und  daß  die  Leitung  des  wichtigsten  Mittelpunktes  des 
Geisteslebens  in  Händen  von  Franzosen  liegt. 

Wir  hatten  in  Avignon  das  der  pisanischen  Kunst  nächstverwandte 
Zentrum  gefunden,  es  blieben  uns  jedoch  auch  hier  einige  der  auf- 
fallendsten Züge  dieser  Kunst  unerklärt,  für  die  wir  in  ganz  Italien  keine 
Analogien  finden  konnten.  Sollten  wir  da  nicht  die  Spur  weiter  verfolgen 

16* 


2 I 8 


Georg  Graf  Vitzthum: 


und  fragen,  ob  in  dem  rein  französischen  Kunstbetrieb  in  Avignon,  sei 
es  der  monumentalen  Kunst  bis  um  1340,  sei  es  der  Buchkunst  eine 
Lösung  des  Rätsels  zu  finden  sein? 

Eine  Untersuchung  der  besonderen  Verhältnisse  in  Avignon  behalte 
ich  mir  noch  vor.  Aber  mit  aller  Entschiedenheit  glaube  ich  schon  jetzt 
darauf  hinweisen  zu  müssen,  daß  der  pisanische  Stil  ohne  einen 
wesentlichen  Einfluß  der  französischen  Malerei  nicht  erklärt 
werden  kann,  und  zwar  der  Malerei,  wie  sie  in  der  Miniaturenkunst 
von  ca.  1250  bis  1350  erhalten  ist. 

Hier  nun  halten  wir  uns  in  erster  Linie  an  das  Hauptwerk,  den 
Triumph  des  Todes  selbst.  Hier  fanden  wir  die  eigentümlich  fremden 
Züge  am  schärfsten  ausgeprägt,  in  den  Kindern  der  Welt,  den  Bäumen 
und  Tieren,  im  Zug  der  Reiter  erkannten  wir  sie.  Daß  für  den  letzteren 
eine  inhaltliche  Beziehung  zu  Frankreich  vorliegt,  ist  längst  erkannt;  am 
genauesten  sind  die  Quellen  von  Hettner1*?)  zusammengestellt.  Hingegen 
weiß  ich  nicht,  ob  schon  darauf  aufmerksam  gemacht  worden  ist,  daß 
sich  auch  die  bildliche  Darstellung  der  drei  Reiter  und  der  drei  Toten 
in  Frankreich  vorfindet:  In  dem  Psautier  de  la  Reine  Bonne,  der  sich 
im  Besitz  Firmin-Didots  befand  und  1882  versteigert  wurde,  sehen  wir 
auf  zwei  gegenüberstehenden  Blättern  Fol.  320  v.  und  321  r.  (abg.  im 
Katalog  PI.  2)  links  die  Reiter,  rechts  die  Toten. *9»)  Die  ersteren  erinnern 
stark  an  das  Fresko.  Das  vorderste  Pferd  beugt  den  Kopf  zur  Erde  und 
dreht  ihn  ein  wenig  zurück.  Der  Reiter  ist  in  lange  flatternde  Gewänder 
gehüllt  und  trägt  eine  Krone;  er  wendet  sich  voll  Grauen  um  und  legt 
die  Hände  übereinander.  Hinter  ihm  wird  der  zweite  sichtbar  mit  einem 
Hut  gleich  dem  des  sich  vorneigenden  Herrn  im  Fresko;  er  hält  den  Mantel- 
bausch vor  die  Nase  und  weist  mit  der  Rechten  geradeaus.  Der  stark  be- 
wegte Kopf  seines  Pferdes  ist  ganz  von  vorn  gesehen.  Endlich  am 
weitesten  links  der  dritte,  ein  Jüngling  in  höfischer  Kleidung  mit  einem 
Falken  auf  der  Linken.  Sein  Pferd  streckt  den  Kopf  weit  vor,  schaudernd 
vor  dem  Modergeruch,  den  die  drei  ausströmen,  die  auf  dem  anderen 
Blatte  aufrecht  in  Reihe  stehen,  in  den  drei  Stadien  zwischen  Tod  und 
voller  Verwesung.  Die  Haltung  und  vor  allem  die  Physiognomie  des 

*9)  Ital.  Studien  S.  13 1 ff.  siehe  auch  Histoire  litteraire  de  Ia  France  Vol.  23, 
p.  278h  Ferner  Thode,  Franz  von  Assisi,  S.  557  ff.  — Daß  der  Gedanke  der  Vie 
mondaine  und  Vie  penitente  und  die  Nebeneinanderstellung  im  Bild  französisch  ist,  be- 
weist eine  bei  Bastard,  II,  pl.  103  abgebildete  Darstellung. 

s9a)  Zu  Dobberts  (Rep.  f.  Kw.  IV,  5.  8 ff.)  Liste  der  Darstellungen  ist  außer  dieser 
Miniatur  eine  Zeichnung  der  Hamburger  Kunsthalle,  holländ.  16.  Jahrh.,  nachzutragen, 
die  durch  eine  veränderte  Fassung  interessant  ist:  ein  fürstlicher  Jagdzug  hält  vor  einer 
Grube,  in  der  ein  Mann  mit  Schädel  und  Knochen  in  den  Händen  steht  und  auf  die 
Gebeine  zu  seinen  Füßen  hinweist. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«.  219 

dritten  Pferdes  kehrt  in  dem  berühmten  Pferd  des  Camposanto  wieder. 
Aber  dies  ist  nicht  der  einzige  Vergleichspunkt.  Vielmehr  erkennen  wir 
in  der  Anordnung  der  drei  Reiter,  in  ihrer  Kleidung  und  Haltung,  in 
dem  Sitz  vor  allem,  dem  gespannten  bei  dem  hintersten,  dem  lockeren 
bei  dem  ersten,  die  oben  hervorgehobenen  Besonderheiten  der  pisanischen 
Auffassung  wieder.  Dabei  ist  ihnen  der  steinige  Boden  mit  den  spär- 
lichen Gewächsen  gemeinsam.  Es  ist  nicht  möglich,  die  beiden  Dar- 
stellungen unabhängig  voneinander,  zum  mindesten  von  einer  gemein- 
samen Quelle  zu  denken.  Und  die  Priorität  Frankreichs  steht  dabei 
außer  Zweifel.  Die  Handschrift  zeigt  das  Wappen  der  Königin  Bonne, 
der  Gemahlin  des  Jean  II.  von  Frankreich,  muß  also  vor  ihrem  Tode  1349 
entstanden  sein.  Dies  bestätigt  der  Stil  der  Figuren  und  Gewänder,  des 
reichen  mit  Tieren  belebten  Dornblattrankenwerks  und  die  Schrift,  die 
alle  auf  das  engste  mit  den  Heures  de  Jeanne  II.  de  Navarre  bei  H.  Y. 
Thompson  verwandt  sind.20)  Mehr  aber  als  die  durch  das  Datum  sicher- 
gestellte Priorität  des  Psalters  ist  für  das  Verhältnis  der  pisanischen  zur 
französischen  Darstellung  die  Tatsache  von  Wichtigkeit,  daß  sich  -die 
eigentümliche  Darstellung  des  Pferdes  mit  dem  vorgestreckten  Kopf,  den 
hochgezogenen  Nüstern  und  scharf  von  unten  heraufblickenden  Augen 
sehr  viel  weiter  in  Frankreich  zurückverfolgen  läßt:  im  berühmten  Psautier 
de  S.  Louis  (Paris.  Nat.  lat.  10525)  blicken  die  Rinder,  die  Abraham  er- 
beutet mit  sich  führt,  ehrfürchtig  zu  Melchisedek  auf,21)  und  der  Künstler 
entnahm  der  Natur  grundsätzlich  die  gleichen  Formen  der  Äußerung  der 
Tierseele,  in  denen  etwa  100  Jahre  später  der  Franzose  und  der  Pisaner 
das  Schaudern  der  Kreatur  vor  dem  Tode  ausdrticken  sollte.  Der  Zu- 
sammenhang liegt  hier  tiefer  als  in  einer  Herübernahme  von  Einzelformen. 
Es  ist  hier  *wie  dort  der  Geist  der  französischen  Zeichenkunst,  deren 
Wesen  es  ist,  seelischen  Ausdruck  in  einer  stark  betonten  Bewegungs- 
linie darzustellen.  Daß  dieser  Geist,  der  in  dem  Psautier  de  S.  Louis 
eine  wundervollste  Blüte  getrieben  hat,  bis  weit  in  das  14.  Jahrhundert 
hinein  den  Charakter  der  Malerei  bestimmt,  ist  unverkennbar.  Das  beweist 
beispielsweise  ein  Vergleich  der  Miniaturen  in  der  oben  erwähnten  Hand- 
schrift bei  Mr.  Thompson  mit  dem  Ludwigspsalter.  Trotz  aller  Fortschritte  in 
der  Modellierung,  aller  wesentlichen  Veränderung  der  Proportionen,  der 
Bildbedingungen  durch  Einführung  von  architektonischen  und  landschaft- 
lichen Bestandteilen  bleiben  die  Auffassung  der  Figur  und  die  Formen 
des  Ausdrucks,  die  Typen  und  vor  allem  die  Zeichnung  und  Haltung  von 


*°)  H.  Y.  Thompson,  Thirty  two  miniatures  from  the  book  of  Hours  of  Joan  II. 
queen  of  Navarre.  London,  1899. 

*')  s.  Omont,  Reproduction  de  86  miniatures  du  ms.  lat.  10525.  Paris  1902,  pl.  IV. 


2 20 


Georg  Graf  Vitzthum: 


Armen  und  Händen  völlig  in  Kontinuität  mit  der  Tradition  des  13.  Jahr- 
hunderts. Und  auch  die  erwähnten  Veränderungen  sind  keineswegs  nur 
auf  Einflüsse  von  außen  zurückzuführen,  vielmehr  beruhen  sie  auf  einer 
geradlinigen  Fortentwicklung,22)  analog  der  Plastik.  Darum  ist  es  historisch 
durchaus  berechtigt,  wenn  wir  zur  Erklärung  und  Herleitung  der  frag- 
lichen Erscheinungen  bis  auf  so  weit  frühere  Arbeiten  zurückgreifen. 

Neben  den  Tieren  erschienen  uns  die  Reiter  von  Pisa  und  jener 
französischen  Handschrift  verwandt;  auch  für  sie  läßt  sich  der  echt 
französische  Charakter  aus  dem  Psautier  nachweisen.  Joseph  bei  der 
Einrichtung  der  Kornspeicher  (Omont  XXIII):  man  vergleiche  die  Haltung 
der  bis  über  die  Waden  in  den  eng  anliegenden  Strümpfen  gezeigten 
Beine,  die  Linien  des  Oberschenkels  bis  zum  Hüftgelenk  mit  dem  halb 
von  der  Sattellehne  verdeckten  Gesäß,  die  Lage  des  Rockes  daneben. 
Das  lose  Sitzen  mit  herabhängenden  Beinen,  wie  es  der  Ritter  auf  dem 
Schimmel  neben  der  soeben  verglichenen  Beinhaltung  seines  Vorder- 
mannes zeigt,  ist  im  Psautier  bei  Bileam  (Omont  XXXIX)  vorgebildet. 
Besonders  charakteristische  Beispiele  für  die  Formen  des  Reitsitzes  zeigen 
die  Darstellungen  der  Jäger  auf  französischen  Elfenbeinreliefs  des  13.  und 
14.  Jahrhunderts.  Und  hier  sind  auch  die  Zusammenhänge  der  Kom- 
position unverkennbar.  Meist  drei  Reiter  schräg  hintereinandergeschoben, 
die  Tiere  geradeaus  schreitend,  die  Jäger  mit  ihren  Falken  im  Gespräch 
einander  zugewandt;  dabei  das  leichte  sich  Vor-  und  Rückwärtsneigen 
der  Leiber,  das  in  Pisa  so  reiche  Bewegung  in  die  Gruppe  bringt. 

Eine  der  auffälligsten  Figuren  des  Fresko  ist  der  Mann  mit  dem 
Hund.  Seine  Haltung  ist  von  Grund  aus  unitalienisch:  nicht  allein  der 
starke  Schwung,  sondern  vor  allem  die  Art  des  Stehens,  ja  schon  die 
Tatsache,  daß  er  im  Gefolge  dieses  von  rechts  nach  links  sich  hin- 
bewegenden Zuges  auf  einmal  in  völliger  Vorderansicht  ohne  eine  Spur 
des  Schreitens  oder  des  Haltenbleibens  dasteht.  Er  ist  erklärt,  wenn 
wir  das  Motiv  genauer  prüfen,  die  Haltung  des  linken  Armes,  sein  Ver- 
hältnis zu  Schulter  und  Brust,  die  ganz  merkwürdige  Behandlung  des 
Gewandes,  das  in  unglaublichem  Realismus  hier  die  Formen  des  Körpers 
durchfühlen  läßt,  daneben  wieder  in  breiter  Fläche  oder  scharfer  Falte 
ganz  den  Gesetzen  des  Stoffes  gemäß  sich  formt.  Das  alles  ist  aus 
französischen  Handschriften  wohlbekannt.  Der  Geiger  aus  dem  Hochzeits- 
zuge im  Miroir  historial  der  Bibliothek  zu  Leyden  Nr.  62 23)  hat  die 

22)  Für  die  Wandlung  der  Modellierung,  des  Kolorits  und  selbst  der  räumlichen  Vor- 
stellungen ohne  jeden  äußeren  Einfluß  ist  sehr  lehrreich  ein  Vergleich  der  beiden 
Hände  in  dem  großen  Gratian  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  (Ham.  279),  derum  1300 
anzusetzen  ist.  Der  fortgeschrittenen  Hand  gehörte  die  einheitliche  Lage  Fol.  86 — 99. 

*3)  Abg.  Gazette  archeologique  1886,  pl.  14. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


221 


Stellung,  die  Haltung  des  Armes  und  sein  Verhältnis  zur  Brust,  er  und 
viele  andere  Figuren  der  Handschrift  den  Gewandstil  mit  jenem  Jäger 
gemein.  Und  auch  hier  können  wir  das  Motiv  und  die  Einzelheiten  der 
Formgebung  bis  zum  Psautier  de  S.  Louis  zurückverfolgen : man  sehe 
den  Joseph  bei  der  Verführung  durch  Potiphars  Weib,  die  Stellung  der 
Beine,  des  Unter-  und  Oberkörpers,  den  herabhängenden  linken  Arm,  bis 
auf  die  Proportionen  fast  kongruent  mit  dem  Pisaner.  Und  ist  der  Geist 
des  Gewandes  nicht  ganz  der  gleiche  dort  und  hier  bei  Potiphars  Weib, 
deren  Rock  sich  an  die  Formen  der  Brust  anschmiegt  und  doch 
seinen  eigenen  Zusammenhang  darüber  beibehält?  — Nun  werfe  man 
einen  Blick  von  den  unten  sich  stauchenden  Falten  an  jenem  Rock 
auf  das  Gewand  des  Bettlers  in  Pisa  zunächst  rechts  von  unserer  Figur, 
und  man  wende  um  im  Psalter  und  sehe  den  träumenden  Bäcker  und 
vergleiche  die  Linien  des  Rückens,  der  Beine,  die  Falten  an  dem  Knie 
mit  dem  sitzenden  Bettler  (für  den  wir  gerade  in  diesen  Zügen  Nächst- 
verwandtes in  Avignon  fanden):  das  läßt  sich  nicht  unabhängig  vonein- 
ander denken. 

Die  Übereinstimmung  der  Formen  mit  Französischem  erklärt  auch 
die  Haltung  des  Knechts:  Es  ist  charakteristisch  für  die  ganze  franzö- 
sische Zeichenkunst  in  dem  in  Rede  stehenden  Zeitraum,  daß  sie  un- 
fähig ist,  ein  Schreiten  darzustellen.  Ganz  im  Gegensatz  zu  dem 
feierlich  weichen  Wallen  in  Giottos  heiligen  Gestalten,  zu  dem  lebhaft 
fersenhebenden  Schritt  der  Bürger  von  Siena,  wie  ihn  Ambrogio  Lorenzetti 
uns  zeigt,  umgeht  die  französische  Kunst  die  Darstellung  des  Gehens 
fast  ganz;  dafür  gibt  sie  die  Gestalten  in  jener  ausgeschwungenen  Haltung, 
die  in  entsprechendem  Zusammenhang  gar  wohl  die  Suggestion  einer 
Bewegung,  zum  mindesten  eines  Bewegungsbeginns  oder  -endes  erwecken 
kann,  weil  der  Schwerpunkt  völlig  labil  ist.  Muß  sie  wirklich  ein 
Schreiten  in  Seitenansicht  darstellen,  dann  wirds  ein  schiefes  oder  ein 
plump-plattfüßiges  Stehen,  dessen  gröbste  Auswüchse  in  Avignon  sichtbar 
sind.  Da  ist  es  nun  wichtig,  daß  auf  allen  Pisaner  Fresken  ein  Schreiten 
kaum  vorkommt.  Wie  es  im  Triumph  in  der  analysierten  Weise  ver- 
mieden ist,  so  ist  es  auf  dem  die  Felsstufen  herabkommenden  Mönch 
etwa  in  der  Mitte  des  Einsiedlerbildes  zu  einem  hier  fast  den  Eindruck 
des  Rutschens  erweckenden  Stehen  auf  parallelen  Beinen  erstarrt. 

Sehr  ähnlich  wie  der  Mann  im  Jagdgefolge  stehen  die  Engel  im 
Gericht  da  und  wollen  mit  ihrer  leichten  Eleganz  durchaus  nicht  in 
den  traditionellen  Ernst  * italienischer  Gerichtsdarstellungen  passen.  — 
Droben  in  der  Höhe  noch  eine  Figur,  die  höchst  fremd  anmutet.  Nicht 
nur,  daß  das  Motiv  der  Maria  neben  Christus  ikonographisch  nicht  nach- 
weisbar ist:  die  ganze  Gestalt  ist  nicht  für  diese  Szene,  ist  nicht  in  Pisa 


222 


Georg  Graf  Vitzthum: 


erschaffen.  Es  könnte  eine  Krönungsmadonna  sein,  es  ist  eine  Ver- 
kündigungsmadonna, so  wie  sie  sehr  verwandt  in  den  Heures  de  Jeanne  II 
erscheint  (fol.  39,  pl.  XIV).  Im  Sitz,  der  zurückgeschwungenen  Haltung  des 
Oberkörpers,  dem  dagegen  vorgeneigten  Kopf  und  der  Anordnung  des 
Gewandes  über  den  Knien  findet  sie  ihre  nächsten  Parallelen  in  französi- 
schen Handschriften,  wie  etwa  den  Coutumes  de  Beauvaisis  der  Berliner 
Bibliothek,  Hamilton  193,  vom  Jahre  1283  (passim). 

Zwei  Dinge  blieben  uns  bei  dem  Versuch,  die  einzelnen  Formen 
der  Fresken  aus  Italienischem  herzuleiten,  unerklärt:  die  Bäume  und  die 
Tiere.  Auch  für  diese  finden  wir  Aufschluß  in  der  französischen  Hand- 
schriftenmalerei. Die  Bäume  sind  denen  in  den  Heures  de  Jeanne  II 
am  ähnlichsten.  Zwar  stehen  auch  diese  in  den  vollen  Umrissen  der 
dichten  Kronen  nicht  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  stark 
auf  einzelne  Ranken  und  Zweige  hin  arbeitenden  früheren  Kunst.  Eher 
wären  in  der  Tapisserie  Vorbilder  zu  suchen.  Jedenfalls  aber  ist  die 
Priorität  der  Handschrift  für  Pisa  ausschlaggebend.  Das  eigenartige 
Gewächs  hinter  den  Bettlern  bezeugt  den  Zusammenhang  hoch  stärker. 

Völlig  an  die  Traditionen  der  französischen  Illuministen  schließt 
hingegen  die  Tierdarstellung  an;  in  Motiven  wie  Formen.  In  jenem 
reichen  Band-  und  Rankenwerk,  das  sich  auf  den  mit  Miniaturen  und 
Zierbuchstaben  geschmückten  Seiten  der  Handschriften  um  die  Kolonnen 
des  Textes  legt,  treiben  .allerlei  Lebewesen,  Menschen,  Vierfüßler  und 
Vögel,  und  Zwittergestalten  in  unerschöpften  Variationen  ihr  Spiel.  Unter 
den  Vierfüßlern  stehen  Hund  und  Hase  obenan.  Der  graue  Windhund, 
der  ventre  ä terre  dem  schnellfüßigen  Hasen  nacheilt,  kehrt  allenthalben 
wieder,  und  es  kommt  dem  Maler  nicht  darauf  an,  auch  einmal  das 
Spiel  umzukehren  und  den  Hasen  dem  Hunde  nachjagen  zu  lassen.  24) 
Lieber  aber  noch  sitzt  jener  friedlich  in  einer  Ecke  des  Rankenbandes 
oder  unter  einem  Baum  im  Initial.  Und  wo  das  Band  wirklich  zum 
Zweige  sich  wandelt,  da  sitzen  Vögel  regelmäßig  gereiht  oder  einzeln, 
stets  mit  großer  Bestimmtheit  gezeichnet,  und  zwar  betonen  frühere 
Handschriften  ausdrücklich  den  festen  Umriß  des  Vogelleibes  statt  des 
freieren  Spieles  des  Gefieders  später. 

Beides,  die  Art  der  Anbringung,  locker  auf  dem  geraden  Streifen 
hin  verteilt  oder  ganz  für  sich,  wie  vor  allem  der  Stil  der  Zeichnung 
kehrt  nun  bei  den  Tieren  des  Triumphes  in  einer  Weise  wieder,  die 
ohne  jede  Einschränkung  französisch  genannt  werden  muß.  Die  drei 
Hunde  unten,  ganz  bezeichnend  der  große  ohne  jede  Beziehung  zu  seinem 


*4)  s.  Brabantini  über  naturalis,  datiert  1295.  Berlin,  kgl.  Bibi.  Hamilton  114, 
fol.  154  V. 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


223 


Führer  völlig  dekorativ,  wie  unmittelbar  einer  Handschrift  ent- 
nommen, der  kleine  in  der  Hand  der  vordersten  Frau,  die  Jagdvögel 
auf  der  Hand  der  Falkoniere,  der  Fasan  am  Felsrand,  vor  allem  der 
sitzende  Hase  verleugnen  ihren  Ursprung  keinen  Augenblick. 

Die  fratzenhaften  Köpfe  der  Bettler  und  der  Greise  des  Gerichts, 
die  wir  in  Avignon  wiederfanden,  lassen  sich  auch  bis  nach  Frankreich 
verfolgen:  im  Breviaire  de  Belleville  z.  B.  sehen  wir  einen  auf  der  von 
Delisle,  Notize  de  douze  livres  royaux  pl.  XVII  abgebildeten  Kalender- 
seite, und  die  Hirten  auf  fol.  53  des  erwähnten  Livre  d’heures  bei 
Thompson  (pl.  XVI)  stehen  den  Bettlern  in  den  Grundlagen  der  Typen, 
in  der  Art  zu  sitzen  und  die  Hände  zu  bewegen  sehr  nahe.  — Die 
Hände!  das  ist  das  Letzte,  sehr  Wichtige.  Auch  hier  war  Avignon  das 
Nächste  und  auch  hier  müssen  wir  weitergehen  bis  Frankreich.  Die 
eigentümlichen  Handbildungen  des  Triumphes:  das  Herauswachsen  aus 
dem  dicht  anschließenden  Ärmel  und  die  Stellung  und  Bildung  der 
Finger,  die  entweder  gabelförmig  ohne  Unterschied  der  Länge  mit 
beträchtlichen  Zwischenräumen  gerade  nebeneinander  stehen  oder  sich 
dicht  einrollen,  so  daß  nur  der  Zeigefinger  in  auffallender  Länge  und 
ohne  jede  knochige  Gliederung  sichtbar  bleibt;  als  Zwischenstufe  die 
Hände  des  sitzenden  Bettlers,  wo  alle  Finger  parallel  zu  dem  nach  außen 
sich  biegenden  kleinen  Finger  stehen:  dies  alles  kommt  in  französischen 
Handschriften  besonders  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  vor.  Eine 
Hand  wie  die  Linke  der  zitherspielenden  Frau  • könnte  man  für  genaue 
Kopie  halten.  Neben  den  Formen  sind  es  aber  vor  allem  die  Verwendung, 
die  Haltung,  die  Geberden.  Die  mit  ausgestrecktem  Zeigefinger  hin- 
weisenden, die  erschreckt  geöffneten,  schmerzlich  übereinandergelegten, 
leicht  nur  greifenden,  still  niederhängenden,  25)  das  ganze  Register  der 
lyrischen  Mimik  auf  dem  Triumph,  der  dramatischen  auf  dem  Gericht 
ist  französisch.  Man  wende  nicht  ein:  Giotto!  Er  kennt  das  Geheimnis 
der  Hand,  aber  er  verwaltet  es  mit  der  Ökonomie,  die  ihm  in  allem 
eigen  ist:  das  Höchste  mit  wenigstem  zu  geben.  Wie  viele  Figuren, 
bei  denen  die  Hände  gar  nichts  sagen,  wohl  ganz  verborgen  sind,  und 
wie  beschränkt  die  Variation  der  Gesten!  Nur  das  Ganze,  dem  sie  sich 
einordnen,  macht  sie  neu.  Und  die  Sienesen?  Schön  sind  ihre  Hände, 
üppig  und  voll,  wert,  mit  allem  Eifer  hervorgezogen,  liebevoll  stets  in 
neuen  Lagen  gezeigt  zu  werden.  Aber  sinds  Gesten?  solche,  die  aus 
dem  aktiven  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  des  Körpers  fließen;  ists 
Spiel  der  Hände,  das  im  flüchtigsten  Bild  die  Tiefen  der  Seele  enthüllt? 


25)  Wichtig  auch  die  »rechnenden«  Hände  der  Frau  auf  der  Kreuzigung,  ein  vor 
allem  in  Rechtsbüchern  ungemein  häufiges  Motiv. 


224 


Georg  Graf  Vitzthum : 


Da  stehen  wir  vor  dem  Letzten,  Fraglichsten:  dem  Ethos  der 
Menschen,  dem  Blick  der  Augen,  dem  Gebaren  des  Leibes,  dem  Innersten 
in  der  Persönlichkeit  und  im  gegenseitigen  Sichbegegnen,  Ausdruck,  Körper- 
bewegung, Gruppierung.  Als  die  Höhepunkte  wieder  die  Kinder  der 
Welt  und  der  Jagdzug.  Des  Rätsels  Lösung  ist  nur  Frankreich,  französische 
Gotik,  wo  immer  man  sie  fassen  mag.  Für  das  Lächeln  des  Weibes  ist 
wieder  der  Ludwigspsalter  das  reinste  Vorbild.  Im  innigsten  Zusammen- 
hang mit  den  leicht  sich  schmiegenden  Körpern  ist  es  da  nicht  irgendwie 
stilistische  Besonderheit,  die  wir  uns  modern  deuten,  sondern  tiefste  Ein- 
sicht in  die  Regungen  der  Seele.  Das  beweisen  die  lächelnde  Sara 
(Omont  VII),  Potiphars  Weib  (O.  XIX),  die  Söhne  vom  Stamme  Benjamin 
(O.  LXVI). 

Wie  liegen  nun  die  Verhältnisse  bei  Traini?  Seine  großen  Heiligen 
haben  nichts,  was  nicht  aus  italienischer  Schulung  erklärt  werden  könnte. 
Anders  die  kleinen  Dominikustafeln.  Wenn  wir  die  Figuren  darauf 
leichthin  charakterisieren  wollten,  so  könnten  wir  wohl  sagen,  sie  stünden 
zwischen  Siena  und  Florenz  mitten  inne,  zeigten  sienesische  Bewegungs- 
und Gewandmotive  in  florentinischen  Proportionen  und  florentinischem 
Zeichenstil.  Aber  es  scheint  fraglich,  ob  wir  nicht  (auch  abgesehen  von 
den  Bettlern  im  letzten  und  dem  Hunde  im  ersten  Bild,  für  die  dasselbe 
zu  gelten  hat,  wie  für  die  Armen  und  Tiere  im  Fresko)  weiter  Umschau 
halten  müssen.  Die  ungeheuere  Präzision  der  Zeichnung  in  Gesichtern, 
Händen  und  in  den  mit  den  leichtesten  Mitteln  erstaunlich  scharf  in  die 
weit  aufgehellten  Flächen  der  Gewänder  eingetragenen  Faltengraten  hat 
selbst  bei  Technikern  wie  Ambrogio  Lorenzetti  und  Bernardo  Daddi  nicht 
ihresgleichen.  Und  die  Auffassung  der  Formen  und  Bewegungen  hat 
sichtlich  etwas  Fremdes.  Das  liegt  vor  allem  in  den  frei  und  stets  in 
leichter  Drehung  auf  den  Körpern  aufsitzenden  Köpfen  und  in  den 
Extremitäten  mit  der  außerordentlichen  Mannigfaltigkeit  und  Innerlichkeit 
der  Innervation.  Als  eine  Figur,  die  völlig  fremd  anmutet,  sei  ins- 
besondere der  Pferdeknecht  bei  dem  Erweckungswunder  erwähnt.  Auch 
ohne  bestimmten  Beleg  ist  an  anderen  als  französischen  Ursprung  dieser 
preziösen  Gestalt  nicht  zu  denken. 

Auf  Zusammenhänge  mit  der  älteren  französischen  Buchmalerei  deuten 
auch  die  ornamentalen  Motive.  Die  Flächen  zwischen  den  Vierpässen 
und  den  rechteckigen  Hauptrahmen  sind  mit  gepreßten  Blattmustern  gefüllt. 
Den  Baldachin  des  träumenden  Papstes  schmücken  zarteste  Ranken  mit 
dünnen,  spitzen  Blättern.  Sie  stimmen  überein  mit  den  Mustern  des 
Mantels  Christi  auf  dem  Auferstehungsfresko.  Reich  dekorierte  Gewänder 
und  Stoffe  sind  in  Italien,  in  Siena  besonders,  durchaus  keine  Seltenheit. 
Simone  bringt  sie  in  Fülle.  Aber  unter  allen  ist  uns  ein  derartiges  Ranken- 


Von  den  Quellen  des  Stils  im  »Triumph  des  Todes«. 


225 


muster  nicht  begegnet.  Mit  Ausnahme  der  eckigen  Zweige  auf  des 
Guidoriccio  Gewand  und  Pferdedecke  finden  sich  bei  ihm  nur  geo- 
metrische Motive  gleichzeitig  — italienischen  oder  vorderasiatischen  Ur- 
sprungs. Pflanzliche  Motive  zeigt  Ambrogio  Lorenzettis  Madonna  in  der 
Akademie  zu  Siena  (Phot.  Lombardi  781),  jedoch  nur  in  Reihung,  nicht 
in  fortlaufender  Ranke.  Hingegen  ist  das  allernächst  Verwandte  zu  dieser 
pisanischen  Form  in  dem  Ludwigspsalter  zu  finden  (Omont  25  — 28,  43, 
45>  47  — 5°>  52~ 7 8 und  die  Psalteranfänge,  merkwürdig  abweichend  von 
den  schweren  Ranken  der  übrigen  Blätter). 

Die  hier  aufgewiesenen  sehr  vereinzelten  Symptome  eines  französischen 
Einflusses  bei  Traini  können  die  richtige  Wertung  erst  in  Verbindung  mit 
den  Ergebnissen  für  die  Fresken  finden.  Und  so  versuchen  wir  zusammen- 
zufassen. 

Wir  fanden  drei  Gruppen  pisanischer  Malereien:  Ostwand,  Südwand, 
Trainitafeln  mit  nicht  fest  erweisbarem  persönlichen,  jedoch  ganz  über- 
zeugendem lokalen  Zusammenhang.  Das  zeitliche  Entstehungsverhältnis 
ist  nicht  völlig  gesichert.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  steht  Trainis 
Dominikus  1345  voran,  die  Fresken  folgen  in  einem  Abstand  von  etwas 
mehr  als  fünf  Jahren;  der  qualitative  Unterschied  zwischen  Ost-  und 
Südwand  kann  einer  relativen  Datierung  nicht  zugrunde  gelegt  werden. 

Die  geringeren  Fresken  derOstwand  stehen  in  engstem  Zusammen- 
hang mit  Fresken,  die  1345  in  Avignon  vollendet  sind.  Dies  ist  in  jedem 
Falle  durch  Priorität  dieser  und  wahrscheinlich  durch  persönliche  Anwesen- 
heit des  pisanischen  Künstlers  in  Avignon  zu  erklären.  Denn  die 
Besonderheiten  des  avignonensischen  Stils  sind  durch  seine  Ausbildung 
auf  nicht-italienischem  Boden  bestimmt. 

Vereinzelte  Beziehungen  zu  Avignon  weist  auch  die  Kunst  Trainis 
sowie  des  Triumphes  auf.  Daneben  machen  sich  auf  diesem  sehr  weit- 
gehende, bei  Traini  nicht  so  unmittelbare  Einflüsse  der  französischen 
Buchmalerei  und  Elfenbeinplastik  von  dem  Ende  des  13.  und  der  ersten 
Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  geltend. 

Diese  erfordern  an  sich  die  Anwesenheit  der  Maler  in  Frankreich 
nicht.  Sie  sind  durch  Werke  der  Kleinkunst  vermittelt,  die  in  Pisa  ein- 
geführt sein  könnten.  Hingegen  machen  die  Avignonensischen  Motive  — 
die  größtenteils  unabhängig  vom  Meister  der  Ostwand,  also  nicht  von 
ihm  genommen  sind  — einen  persönlichen  Aufenthalt  daselbst  wahr- 
scheinlich. Für  Traini,  der  zwischen  1322  und  1337,  1337  und  1341 
oder  endlich  noch  zwischen  1341  und  1344,  wo  Nachrichten  über  ihn 
fehlen,  am  Papsthof  gewesen  sein  könnte,  blieben  die  Formen  seiner 
Berührung  mit  der  dortigen  Kunst  allzu  hypothetisch.  Der  Meister  des 
Triumphes  aber  hat  gewiß  in  naher  Beziehung  zu  den  französischen 


22Ö 


Georg  Graf  Vitzthum:  Von  den  Quellen  des  Stils  usw. 


Künstlern  gestanden  und  hat  vor  allem  auch  die  Gelegenheit  zum  Studium 
der  in  der  päpstlichen  Bibliothek  reich  vertretenen  älteren  und  gleich- 
zeitigen französischen  Buchmalerei  genützt.  Durch  und  durch  italienisch, 
im  besonderen  Anschluß  an  Ambrogio  Lorenzetti  geschult,  hat  er  sich 
nicht  mit  einer  allgemeinen  Modifizierung  seines  Stiles  begnügt.  Er  hat 
sich  vielmehr  ohne  Zweifel  eine  reiche  Sammlung  von  Skizzen  nach 
französischen  Motiven  (z.  B.  Jagdzug,  Meutenführer,  Tiere,  Bäume, 
Musikanten,  sitzende  Figuren,  Köpfe,  Hände)  angelegt;  Diese  benutzte 
er  bei  dem  großen  Werke,  zu  dem  man  ihn  in  (seiner  Vaterstadt?) 
Pisa  berief. 

Aus  solcher  Tatsache  sind  nicht  nur  der  Figurenstil,  die  Formgebung 
wie  die  Grundlagen  der  Empfindung,  sondern  vor  allem  die  Eigen- 
tümlichkeiten der  Komposition  zu  erklären.  Diese  beruht  ja  im 
Grunde  auf  einer  höchst  losen  Aneinanderreihung  von  einzelnen,  z.  T. 
nachweislich  ganz  von  außen  übernommenen  Gruppen.  Die  erstaunliche 
Einheitlichkeit  der  Wirkung  ist  demgegenüber  gewonnen  aus  der  festen 
Orientierung  aller  Teile  zu  dem  nahen,  für  das  Gefühl  völlig*  kontinuier- 
lichen Grunde.  Will  sich  »die  räumliche  Tiefe  nirgends  ergeben,  um 
Höhe  und  Breite  miteinander  auszugleichen,  wie  nur  sie  es  vermag«,26) 
so  erklärt  sich  dies  als  natürlichste  Folge  der  Basierung  der  Komposition 
auf  die  völlig  auf  das  Figürliche  beschränkten  Motive  der  französischen 
Kunst. 

Der  Mangel  einer  höheren  Instanz  ist  es,  wodurch  sich  die  Kunst 
des  Triumphes  gleich  stark  abhebt  von  dem  Stil  in  Siena,  der  mit  allem 
Reichtum  des  Räumlichen  schaltet,  und  dem  Florentinischen,  der  in  den 
feinsten  Abwägungen  der  Massen  alles  zu  einem  Organismus  eint.  Gerade 
in  den  beiden  Fresken,  die  eine  Lösung  nach  florentinischem  (Gericht) 
oder  nach  sienesischem  Ideal  (Einsiedler)  so  nahe  legten,  zeigt  sich  die 
Selbständigkeit,  deren  Fundamente  im  Triumph  zutage  liegen.  In  diesen 
Folgen  erst  erweist  sich  ihre  Wucht.  Die  durch  (und  in)  Avignon  ver- 
mittelte Einwirkung  französischer  Elemente  bedeutet  nun  nicht  nur  ein 
auf  den  einen,  persönlich  bedingten  Fall  beschränktes  Aufnehmen  fremder 
Form-  und  Gefühlsideale,  sondern  die  Ausprägung  eines  neuen  Bildideals, 
das  für  die  Folgezeit  nicht  ohne  Wirkung  geblieben  ist. 


*6)  Schmarsow,  Masaccio-Studien  S.  HO. 


Archivalische  Beiträge 
zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte: 

I.  Ott  Voß.  II.  Die  Familie  Praun-Löblich. 

Von  Albert  Gümbel. 

In  dem  Vorwort  zu  seiner  grundlegenden  Darstellung  der  Nürnberger 
Malerei  im  14.  und  15.  Jahrhundert  hat  Thode  es  beklagt,  daß  für 
diese  Zeit  einer  Menge  anonymer  Bilder,  deren  Meister  wir  nicht  kennen, 
auf  der  anderen  Seite  eine  gleichfalls  nicht  unbeträchtliche  Fülle  von 
Malernamen  gegenübersteht,  ohne  daß  es,  abgesehen  von  ganz  vereinzelten 
Fällen,  möglich  ist,  eine  Brücke  zwischen  hüben  und  drüben  zu  schlagen. 

Auch  den  nachstehenden  Mitteilungen  könnte  man  den  Vorwurf 
der  Einseitigkeit  machen,  da  sie  nur  neues  biographisches  Material 
über  einige  zwar  mit  Namen  bekannte,  nach  ihrer  Bedeutung  aber 
mangels  beglaubigter  Werke  nicht  abzuschätzende  Meister  beibringen, 
somit  nur  die  von  Thode  bemerkte  Fülle  der  historischen  Daten  ver- 
mehren. Gleichwohl  ist  Verfasser  der  Überzeugung,  daß  auch  Arbeiten 
dieser  Art  nicht  ganz  ohne  Verdienst  sind  und  nicht  unterbleiben  dürfen, 
denn  abgesehen  davon,  daß  jeder  Tag  einen  glücklichen  Fund,  eine  neue 
Nachricht  bringen  kann,  die  den  einen  oder  anderen  Meisternamen  in 
den  Vordergrund  rücken  kann,  haben  wir  doch  in  allen  diesen  Wein- 
schröter, Landauer,  Voß,  Pleydenwurff,  Schön  usw.  die  Männer  vor  uns, 
die  den  Boden  bereiteten  für  eine  spätere,  über  alle  Erwartung  köstliche 
Ernte,  für  die  dürerische  Kunst. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  mögen  auch  die  nachstehenden 
archivalischen  Notizen  freundliche  Aufnahme  finden!1) 

')  Vor  dem  Eintritt  in  mein  heutiges  Thema  möchte  ich  eine  nachträgliche  Be- 
merkung zu  meinen  Aufsatze:  Meister  Berthold  von  Nürnberg  ein  Glied  der  Familie 
Landauer  (Rep.  f.  Kunstwissenschaft  Bd.  26)  machen,  welche  geeignet  scheint,  künftiger 
Irrtümern  vorzubeugen.  Gleichzeitig  mit  dem  Maler  lebte  nämlich  in  Nürnberg  ein 
Berthold  Landauer,  welcher  das  angesehene  und  wichtige  Amt  des  Ratsschreibers  be- 
kleidete. Ob  er  in  verwandtschaftlicher  Beziehung  zu  dem  Meister  stand,  ist  nicht  fest- 
zustellen, aber  sehr  wahrscheinlich.  Der  bekannte  Nürnberger  Annalist  Johannes 
Müllner,  der  selbst  Ratsschreiber  war,  stellt  in  seinen  Jahrbüchern  (Konzept  und  Abschrift 
im  Kreisarchiv  Nürnberg),  bei  der  Schilderung  des  Nürnberger  Stadtregiments  eine  Liste 


2 28 


Albert  Gümbel: 


I.  Ott  Voß. 

Die  Familie  dieses  Meisters  dürfte  keine  einheimische  gewesen  sein, 
sondern  nach  Nürnberg  zugewandert.  Vielleicht  war  er  der  Sohn  des  im 
Jahre  1416  in  Nürnberg  als  Neubürger  aus  den  Handwerkern  auf- 
genommenen Ott  Voß,  eines  Taglöhners  im  Drahtziehergewerbe,* 2 3 4 5)  oder 
eines  1410  Bürger  gewordenen  Leinewebers  Eberhart  Voß.3)  Vor  dem 
letzteren  Jahre  konnte  ich  Glieder  dieser  Familie  in  Nürnberg  bisher 
nicht  finden.  Unser  Meister  wird  erstmalig  1427  als  »Ott  Voß  maler« 
in  der  Losungs-  oder  Steuerliste  der  Sebalder  Stadtseite  genannt,  und 
zwar  wohnte  er  in  dem  Häuserviertel,  welches  umschrieben  wird  mit  den 
Grenzen:  Des  Pairrewterseck  hinumb  für  den  Kolditzer  mitsampt  der 
mittelgassen  vnd  für  den  Fürrer  bis  zu  dem  Ledertiirlein  vnd  bey  der 
mawr  wider  herab  vntz  an  daz  molertor.4)  Murr  in  seinen  Malerlisten 
aus  den  Nürnberger  Steuerbüchern 5)  nennt  ihn  1427  — 1430  auf  der 
Sebalder  Stadtseite  neben  Berthold  Landauer  und  einem  »Endres  Moler« 
und  erwähnt  ihn  dann  nicht  mehr,  doch  ist  sein  ständiger  Aufenthalt  in 
Nürnberg  während  der  nächsten  achtzehn  Jahre  urkundlich  bezeugt.  So- 
wohl das  »Grabenbuch«6)  voll  1430,  wie  die  Sebalder  Steuerlisten  von 
1433,  1438  und  1440  führen  ihn,  bald  als  Ott  Maler  (1430  und  1433) 
bald  als  Ott  Voß  (1438  und  1440)  auf.  Aus  dem  Jahre  1433  besitzen 
wir  sodann  eine  Strafverfügung  des  Nürnberger  “Rates  gegen  ihn,  er 
mußte  sich,  wohl  wegen  häuslicher  Händel,  die  zum  öffentlichen  Ärgernis 
geworden  waren,  einer  Strafhaft  von  acht  Tagen  unterziehen,  seine  Ehefrau 


seiner  Amtsvorgänger  auf  und  setzt  die  Tätigkeit  Berthold  Landauers  in  die  Jahre  1410 
bis  1419.  Man  sollte  annehmen,  daß  Müllner  für  sein  Namenverzeichnis  genügendes, 
urkundliches  Material  zur  Verfügung  stand,  gleichwohl  liegt  aber  ein  Irrtum  des 
Annalisten  vor,  indem  jener  Ratsschreiber  Landauer  bereits  im  Jahre  1413  verstorben 
war.  Dies  geht  mit  aller  Bestimmtheit  aus  einem  Eintrag  in  einem  Nürnberger  Bürger- 
buch (Abschrift  in  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Bamberg  Ms.  hist,  in  fol.  Nr.  62)  hervor,  wo 
sich  unter  den  im  Jahre  1413  als  Bürger  aus  dem  Stande  der  Nichthandwerker  Aufge- 
nommenen — für  diese,  jährlich  meist  nur  wenige  Namen  umfassende  Gruppe  existierten 
eigene  pergamentene  Bürgerbücher  — genannt  findet:  »Kathrey  des  Bertold  Landawers, 
vnsers  Schreibers,  wittib.« 

а)  Kgl.  Kreisarchiv  Nürnberg.  Bürgerbuch  Nr.  233,  pag.  156b:  Ott  Voß,  T[ag- 
werker]  auf  drotziehen,  dedit  2 gülden. 

3)  Ebenda  pag.  147a:  Eberhard  Voß,  Leinweber,  dedit  2 gülden. 

4)  Das  Moler  (Maler,  Müller)thor,  so  genannt  nach  den  benachbarten  Kloster- 
mühlen von  St.  Katharina,  erhob  sich  am  Ausgang  der  heutigen  Ebnersgasse  zwischen 
dieser  und  dem  Heugäßlein.  Mummenhoff,  Mitteil,  des  Ver.  f.  Gesch.  d.  Stadt  Nbg. 

XIII,  253. 

5)  Journal  zur  Kunstgeschichte  und  zur  allgemeinen  Literatur,  Bd.  XV. 

б)  Über  dieses  siehe  meinen  Aufsatz  »Meister  Berthold  etc.«  1.  c. 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte. 


229 


erhielt  einen  viertägigen  Hausarrest.  7)  Seit  dem  Beginne  der  vierziger  Jahre 
fließen  die  biographischen  Quellen  etwas  reichlicher,  doch  bieten  sie  an 
Nachrichten  über  das  künstlerische  Schaffen  des  Meisters,  die  uns  am 
wichtigsten  wären,  nur  eine  Notiz,  und  diese  von  sehr  bescheidenem 
Werte.  Das  übrige  archivalische  Material  betrifft  des  Künstlers  Familienleben 
und  ist,  wie  schon  die  Strafsentenz  vom  Jahre  1433  ahnen  läßt,  sehr 
unerfreulicher  Natur.  Die  verschiedenen  Szenen  dieses  Familiendramas:  Ent- 
führung der  Tochter  des  Meisters,  Kuppelei  und  Ehebruch  zeigen  uns  weder 
das  Haupt  noch  die  Glieder  der  Familie  in  besonders  vorteilhaftem  Lichte. 

Es  möge  nun  zunächst  die  Nachricht  über  eine  Tätigkeit  des 
Meisters  für  eine  Kirche  in  der  Nähe  Nürnbergs  folgen.  Im  Jahre  1443 
erhob  laut  Manuale  des  kaiserl.  Landgerichts  des  Burggraftums  Nürnberg7 8 *) 
»Ott  Maler  von  Nuremberg«  am  5.  September  genannten  Jahres  vor  dem 
in  Nürnberg  tagenden  Landgerichte  Klage  gegen  die  Gotteshauspfleger 
der  Kirche  zu  Zirndorf9)  auf  Bezahlung  von  26  groschen  »umb  zwelf- 
boten«  die  er  dem  Gotteshause  um  diesen  Preis  »gemacht«  oder  nach 
dem  Ausdruck  der  Urteilsbücher  »dafür  zu  kaufen  geben«  hatte.  Ob  es 
sich  bei  dieser  Darstellung  der  zwölf  Apostel  um  ein  Tafelgemälde, 
Glasmalereien,  Fresken  oder  Schnitzwerke  handelte,  ist  aus  diesen  kurzen 
landgerichtlichen  Protokollen  nicht  zu  ersehen,  doch  dürften  hier  Skulpturen 
gemeint  sein,  sonst  würde  wohl  die  Bezeichnung  »tafel«  gebraucht  sein, 
auch  die  Ausdrücke  »kaufen«  und  »machen«  scheinen  besser  hierzu  zu 
stimmen.  Bei  der  Niedrigkeit  des  Preises  können  wir  uns  freilich  diese 
Schnitzereien,  selbst  wenn  es  sich  nur  um  einige  wenige  Apostelgestalten 
handelt,  in  bezug  auf  Umfang  und  künstlerische  Qualitäten  nur  als  recht 
bescheiden  vorstellen.10) 

Der  Eintrag  im  Gerichtsmanuale  hat  folgenden  Wortlaut: 

Judicium  in  Nuremberg  feria  quinta  post  Egidii  (=  5.  September) 
anno  domini  MoCCCC°XLo  tercio  etc. 


7)  K.  Kr.-Archiv  Nürnberg.  M.  S.  326,  fol.  30:  Foß  maler  promisit  8 tag  supra 
versperrt  tum.  uxor  eius  promisit  4 tag  in  irem  haus  zu  seyn  umb  Verhandlung  (=  üble 
Handlung,  Vergehen). 

®)  Über  Geschichte  und  Wesen  dieses  kaiserlichen  Landgerichtes,  sowie  die  hier 
in  Betracht  kommenden  Archivalien  vgl.  die  gut  orientierenden  Bemerkungen  bei  Rieder, 
Landgericht  an  dem  Roppach  in  neuer  urkundlicher  Beleuchtung  mit  Exkursen  über 
andere  Landgerichte,  insbesondere  das  des  Burggraftums  zu  Nürnberg  (57.  Ber.  Uber 
Bestand  und  Wirken  des  histor.  Vereins  zu  Bamberg,  1896). 

9)  Ein  ehemals  Ansbachisches  Pfarrdorf  bei  Fürth,  bekannt  als  ein  Stützpunkt 
des  Wallensteinschen  Lagers  vor  Nürnberg,  Sommer  1632. 

10)  Möglicherweise  dürfen  wir  aber  auch  an  Tonbildwerke  denken,  in  der  Art 
der  Kalchreuther  Apostel.  Vgl.  Pückler-Limpurg,  Die  Nürnberger  Bildnerkunst  um  die 
Wende  des  14.  und  15.  Jahrhunderts,  Teil  II,  Kap.  III:  Die  Schule  der  Tonbildwerke. 


230 


Albert  Giimbel : 


Ott  Maler  von  Nurjemberg]  [klagt]  ad  Cuntz  Kötzler,  ad  Frits 
Weyler,  ad  Cuntz  Zwinger  zu  Zirndorff  pro  debito  26  grosch,  die  im  ir 
voriger  pfarrer  seligen  von  derselben  pfarre  wegen  schuldig  beliben  ist 
umb  zweitboten,  die  er  dann  in  das  genant  gotzhus  darfur  gemacht  hat, 
die  ihm  langst  bezalt  solten  sein  worden,  das  aber  nit  geschehen  ist; 
darumb  so  hofft  er,  das  die  genanten  gotzhusmeister  deseiben  gotzhus 
im  die  billichen  und  von  recht  an  dez  gemelten  pfarrers  seligen  statt 
von  der  kirchen  wegen  ausrichten  und  bezalen  sollen,  dez  konn  er  on 
gerfichts]  hilf  nit  bekfumen].  damnum  4 flor. 

Der  betreffende  Vortrag  im  Urteilsbuch  lautet: 

Judicium  in  Nuremberg  feria  quinta  post  Egidii  anno  etc.  XLIIIcio 
Ott  mal  er  von  Nuremberg  [klagt]  ad  Cuntz  Kötzler,  ad  Fritz 
Weyler,  ad  Cuntz  Zwingei  zu  Zierndorff  pro  debito  26  grosch,  die  sie 
im  schuldig  worden  seint  von  dez  gotzhus  wegen  daselbst  umb  zwelf- 
boten,  die  er  ine  als  gotzhusmeistern  der  genanten  kirchen  und  pfarr 
darfur  ze  kaufen  geben,  die  im  langzit  von  in  unbezalt  ausgestanden  sint 
und  standen  im  noch  aus  und  verziehen  im  die  ferlich  mit  gewalt  on 
r[echt].  dampnum  3 flor. 

Das  Urteil  dürfte  nicht  im  Sinne  der  Klage  ausgefallen  sein;  die 
Kirchenmeister  scheinen  den  Nachweis  geliefert  zu  haben,  daß  sie  den 
Kaufpreis  bereits  bezahlt  hätten.  Das  Urteilsbuch  hat  nämlich  am  Rande 
die  Bemerkung:  Nota  sie  habens  dem  pfarrer  zu  K[adolzburg?]  geben. 
Dieser  Pfarrer  war  wohl  der  Testamentsvollstrecker  seines  verstorbenen 
Zirndorfer  Amtsbruders.  Weiteres  wird  über  den  Handel  nicht  berichtet. 

Was  nun  das  übrige  urkundliche  Material  betrifft,  so  ist  dieses,  wie 
schon  bemerkt,  rein  biographischer  Natur  und  gewährt  uns  einen  keines- 
wegs erfreulichen  Blick  in  das  private  und  Familienleben  des  Malers. 
Die  erste  hierher  gehörige  Urkunde  ist  der  Urfehdebrief  eines  Schlossers 
Heinrich  Hewnfelt  vom  12.  Dezember  1442  nach  seiner  Entlassung  aus 
dem  Gefängnis,  in  das  ihn  der  Nürnberger  Rat  hatte  legen  lassen,  weil 
er,  obwohl  verheiratet,  die  Tochter  des  Meisters  entführt  und  mit  ihr  in 
fremden  Landen  herumgezogen  war.11)  Drei  Jahre  später  kam  der 
Meister  selbst  wieder  wegen  eines  Rauf  handeis,  wobei  er  vom  Leder 
gezogen  und  gemeinsam  mit  einem  Bäckerknechte  den  Nachtwächter 
mißhandelt  hatte,  in  Konflikt  mit  den  öffentlichen  Gewalten.  Diesmal 
fiel  die  Strafe  nicht  so  glimpflich  aus,  wie  vor  zwölf  Jahren,  der  Maler 
wurde  zu  einer  vierwöchentlichen  Haft  in  einem  finsteren  Kämmerlein 
und  zum  Stadtverweis  auf  zwei  Jahre  verurteilt,  doch  sollte  ihm  das 


")  K.  Kreisarchiv  Nürnberg.  Urk.  des  siebenfarbigen  Alphabets  S.  V *9/i  Nr.  2189. 
Vgl.  Beilage  I. 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte. 


231 


zweite  Jahr  der  Verbannung  im  Gnadenwege  erlassen  werden  können.12) 
Dies  scheint  denn  auch  geschehen  zu  sein,  denn  schon  Ende  des  Jahres 
1446  finden  wir  unseren  Meister  wieder  in  Nürnberg  anwesend  und  — 
in  neue  böse  Händel  verwickelt,  die  zur  Trennung  seiner  Ehe  führten. 
Es  scheint  freilich,  als  ob  hier  der  größere  Teil  der  Schuld  auf  weiblicher 
Seite  zu  sehen  sei,  jedenfalls  spielt  die  Ehefrau  in  der  ganzen  Angelegen- 
heit eine  sehr  schlimme  Rolle. 

Soweit  sich  die  Sache  auf  Grund  von  Beschlüssen,  Korrespondenzen 
und  Strafverfügungen  des  Rates  überblicken  läßt,  war  der  Hergang  folgen- 
der: die  Frau  scheint  des  ehelichen  Zusammenlebens  mit  dem  Manne  in 
solchem  Maße  überdrüssig  geworden  zu  sein,  daß  sie  zur  Erzwingung 
der  Scheidung  zu  dem  schändlichen  Mittel  griff,  ihrem  Ehemanne  durch 
eine  alte  Gelegenheitsmacherin  eine  Frauensperson  zuführen  zu  lassen. 
Dieser  Plan  scheint  nur  allzu  gut  gelungen  zu  sein,  und  die  Ehe  wurde 
»aus  Verschulden  des  Mannes«  durch  die  bischöflich  Bambergische  Kurie 
getrennt.  Kunigunde  Voß  begab  sich  selbst  zur  Betreibung  des  Schei- 
dungsprozesses nach  Bamberg  und  hatte  überdies  jene  Verführerin  zu 
veranlassen  gewußt,  sie  dorthin  zu  begleiten  und  ihre  entscheidende  Aus- 
sage vor  dem  Bamberger  Official  abzulegen.  Doch  die  schlimmen 
Machenschaften  der  Ehefrau  wurden  in  Nürnberg  ruchbar  und  der  Rat 
griff  mit  scharfen  Strafen  ein.  Eis  Ambergerin,  die  sich  zur  Rolle  der 
Verführerin  hergegeben  hatte,  wurde  ins  Gefängnis  geworfen  und  nach 
ihrer  Entlassung  drei  Jahre  aus  der  Stadt  verbannt ;T3)  Kunigunde  Voß 


n)  Ebenda.  Ratsbuch  1 b,  fol.  146a:  Item  dem  peckenknecht,  der  mitsampt  dem  Ott 
Fuß  den  nachtwachter  geslagen  hat,  nachstellen. 

Otten  Fuß,  maler,  und  den  nachtwachter  gen  einander  hören  und  denselben  Ottcn 
sein  puß  geloben  lassen. 

Ebenda.  Manuskript  326,  fol.  92b:  Ott  Fuß,  maler,  ist  gestraft  worden  vier  wochen 
in  einem  vinstern  kemerlein  und  zwei  jar  3 mail  von  hinnen  zu  sein,  halb  auf  gnade 
und  halb  on  gnade,  und  von  dem  werzucken  und  beuderlingen  (I),  so  er  über  Frittzen 
Beyer,  nachtwachter,  getan  hat,  daz  gelt  zu  geben  on  gnad.  und  wer  ez,  daz  er  den 
nachtwachter  gewundet  hatte,  soll  er  das  gelt  von  der  wunden  und  dem  richter  sein 
recht  geben  auch  on  gnade,  actum  feria  quarta  post  Erhardi  (=  13.  Januar)  anno  [1 4]45- 

Terminus  in  die  puß  zu  geen  und  daz  gelt  zu  geben  hie  zwischen  und  ostern 
und  in  14  tagen  darnach  soll  er  sich  von  hinnen  machen  und  das  gelt  von  werzucken 
und  beuderling  soll  er  geben  hie  zwischen  und  ostern  und  die  büß  hat  er  also  ge- 
schworen ze  halten  und  das  geld  zu  geben,  juravit  für  die  fünf  feria  sexta  post 
Sebastiani  et  Fabiani  m.  (=  22.  Januar)  [1445]. 

>3)  K.  Kreisarchiv  Nürnberg.  Manuskript  415,  fol.  100  b:  Eis  Ambergerin  von 
Gostenhof,  als  die  durch  ain  alte  kuplerin,  nemlich  Margareth  Hanns  Schwebin,  dem 
Voßen  maler  zugefurt  und  mit  im  süntlich  zugehalten,  das  sie  den  desselben  Voßen 
malers  weib,  die  dann  von  demselben  irem  man  gelaufen  und  sich  von  im  schaiden 
wolt,  unbezwungenlicli  hie  und  darüber  mit  ir  gein  Bamberg  zogen  ist  und  solchs 
Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  1 7 


232 


Albert  Gümbel: 


blieben  fortan  die  Tore  Nürnbergs  verschlossen.  Gegenüber  ihren  Bitten 
um  freies  Geleit  nach  und  von  Nürnberg,  um  sich  zu  verantworten,  ihr 
Hab  und  Gut  zu  veräußern  und  sich  vermögensrechtlich  mit  ihrem  ge- 
schiedenen Manne  auseinander  zu  setzen,  bestand  der  Rat  unerbittlich 
darauf,  daß  sie  sich  erst  der  ihr  wegen  ihrer  Verfehlungen  zugedachten 
Strafe  unterziehen  bezw.  das  freie  Geleite  sich  auf  diesen  Punkt  nicht 
erstrecken  solle. I4)  Vergebens  war  die  Intervention  des  Bischofs  Antonius 
von  Bamberg  und  seines  Offizials  Michael  Ludwici,  vergebens  auch  die 
Verwendung  der  Stadt  Prag,  wohin  sich  die  Ehefrau  von  Bamberg  be- 
geben zu  haben  scheint.  Der  Rat  wollte  auf  ihre  Bestrafung  nicht  ver- 
zichten und  versprach  nur  die  Bitten  ihrer  Gönner  beim  Strafausmaße  zu 
berücksichtigen  (Beilagen  II — IV). 

Das  Antwortschreiben  des  Nürnberger  Rates  an  die  Prager  Altstadt 
vom  April  1448  ist  das  Letzte,  was  wir  über  diesen  Handel  und  unseren 
Meister  überhaupt  hören.  Ob  er  etwa  auch  der  verheerenden  Seuche 
des  Jahres  1449  zum  Opfer  fiel  oder  wann  und  wo  er  starb,  ist  heute 
noch  nicht  möglich  zu  sagen. 

II.  Die  Familie  Praun-Löblich. 

Der  Begründer  dieser  in  Nürnberg  während  des  15.  Jahrhunderts 
durch  mindestens  vier  urkundlich  bezeugte  Glieder  vertretenen  Maler- 
familie scheint  der  im  Jahre  1416  dorthin  eingewanderte  und  als  Bürger 
aufgenommene  »Prawn  Löblich  Moler«  gewesen  zu  sein.  *5)  Zum  zweiten 
Male  erscheint  derselbe  urkundlich  in  den  anläßlich  der  Hussitengefahr 
1429  angelegten  Stammrollen  der  über  18  und  unter  60  Jahren  alten 
Bürger16)  im  Barfüßerviertel  als  »Prawn  moler«.  Er  muß  damals  eine 
größere  Werkstatt  besessen  haben , da  er  mit  zwei  Gesellen  arbeitet. 

daselbst  zu  Bamberg  vor  dem  official  auch  bekannt  hat,  dardurch  dieselben  zwei  eeleut, 
die  dann  vor  lange  zeit  hero  bei  einander  heuslich  gesessen,  von  einander  geschaiden 
worden  sein,  darumb  sie  zu  fängknus  körnen  ist:  juravit  urphed  von  der  fängknus  wegen 
im  loch  und  mit  der  stat  leuten  und  gutem  ut  in  forma  und  darzu  umb  solch  ir  Ver- 
handlung drei  jahre  drei  meil  von  hinnen  zu  sein  auf  gnade,  actum  feria  sexta  post 
Lucie  (=  16.  Dezember)  anno  ut  supra  (d.  h.  1446). 

•4)  Nürnberger  Ratsbuch  ib,  fol.  183b:  Als  die  Voßin  dem  rat  aber  schrieb  und 
bat  ir  gelait  her  zu  geben,  also  ward  irem  boten  geantwort:  wöll  sie  einr  straf  beim 
rat  beieiben,  so  ward  ir  gelait  gegeben,  als  dem  bischof  von  Bamberg  von  iren  wegen 
auf  söllich  mainung  auch  zugeschrieben  ist.  act.  sabato  post  Künigundis  (=  21.  März 
1447).  Vgl.  auch  Beilage  IV. 

J5)  K.  Kreisarchiv  Nürnberg.  Bürgerbuch  Nr.  233,  Neu  burger  oder  burgerin  nach 
dem  neuen  rat.  Vrbani  anno  Mmo  CCCCmo  XVImo,  fol.  1576  Prawn  Löblich  Moler 
dedit  1 gülden.  Der  Vorname  Prawn  — Bruno  erscheint  auch  sonst  in  den  Nürnberger 
Bürgerlisten. 

*6)  Ebenda.  Akten  des  siebenfarb.  Alph.  Alt  Grün  B. 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte. 


233 


Die  Nürnberger  Steuerbücher,  die  freilich  nur  lückenhaft  erhalten  sind, 
führen  ihn  zuerst  im  Jahre  1430  als  »Prawn  Löblich«  auf  der  Lorenzer 
Stadtseite  und  im  gleichen  Jahre  das  »Grabenbuch«1?)  unter  den  Ein- 
gesessenen der  Lorenzer  Pfarre  als  »Prawn  Moler«  auf.  Die  Lorenzer 
Steuerlisten  von  1433  und  1438  tun  seiner  als  »Prawn  Löblich«  und  »Prawn 
Moler«  an  gleicher  Stelle  wie  1430  Erwähnung.  Die  nächsten  urkundlichen 
Notizen  datieren  schon  aus  seinem  Todesjahre  1441  und  zwar  ist  uns  zunächst 
eine  gegen  ihn  ergangene  Strafsentenz  des  Nürnberger  Rates  überliefert,  wodurch 
er  wegen  der  gegen  einen  gewissen  Wolfsteiner  ausgestoßenen  Schmähungen 
zu  einer  achttägigen  Turmhaft  verurteilt  wurde,18)  sodann  kennen  wir 
die  Inschrift  seines  in  der  Lorenzerkirche  befindlich  gewesenen  Toten- 
schildes oder  Grabsteines.  Darnach  ist  der  Maler  am  Sonntag  nach 
St.  Johannis  des  Täufers  Tag  (25.  Juni)  1441  gestorben.  Daß  er  mit 
einer  gewissen  Margaretha  verheiratet  war,  zeigt  uns  der  gleichfalls  früher 
in  der  Lorenzerkirche  vorhanden  gewesene  Totenschild  der  Ehefrau, 
welche  acht  Jahre  nach  ihm,  am  8.  August  1449,  in  Nürnberg  starb. J9) 
Im  gleichen  Jahre  1449  erscheint  zum  ersten  Male,  jedoch  auf  der 
Sebalder  Stadtseite,  ein  Fritz  Prawn  Maler  in  den  Murr’schen  Meister- 
listen, den  wir  in  den  Steuerregistern  bis  zum  Jahre  1480  verfolgen 
können.  Daß  er  in  verwandtschaftlichem  Zusammenhang  mit  dem  obigen 
Prawn  Löblich  stand,  also  wohl  sein  Sohn  war,  beweist  der  in  der 
Steuerliste  von  1465  bei  seinem  Namen  gemachte  Zusatz  »alias  Löblich«. 
Auffälligerweise  nennt  ihn  Murr  nur  1449  und  dann  bis  1463  nicht 


'7)  Vgl.  oben  Anmerkung  6. 

l8)  Kreisarchiv  Nürnberg.  Manuskript  326,  fol.  69:  Prawn  maler  promisit 
8 tag  uf  ein  thurn,  vier  tag  uf  gnade  von  freveler  wort  wegen,  die  er  dem  Wolfsteiner 
mitteilt  hat. 

T9)  Hilpert,  Die  Kirche  des  hlg.  Laurentius,  Nürnberg  1831,  sagt  (pag.  26): 
Ehedem  waren  auch  Schilde  von  folgenden  Familien  aufgehängt,  die  aber  weggenommen 
wurden:  . . . Löblich  (1441  und  1449).  Die  Aufschriften  sind  uns  mehrfach  über- 
liefert z.  B.  auch  in  einem  von  dem  Nürnberger  Arzte  Dr.  Mich.  Rötenbeck  verfaßten 
Manuskript  des  Kreisarchives  Nürnberg  mit  der  Beschreibung  der  Lorenzer  Kirche,  be- 
titelt: Monumenta  et  inscriptiones  quae  in  templo  s.  Laurentii  .legentium  oculis  ob- 
jiciuntur  (M.  S.  Nr.  1106).  Darnach  lauteten  sie: 

Anno  Domini  1441  am  Sonntag  nach  St.  Johannis  deß  Tauffers  tage  starb 
Praim  (!)  Loeblich,  ein  Maler,  dem  Gott  ein  fröliche  auflferstehung  geruhen  wolle. 

Anno  1449  auflf  Freytag  vor  St.  Lorentzen  tag,  da  starb  Margareth  Praim  (!) 
Löblichin,  sein  Ehliche  Wirthin,  der  Gott  genedig  sey. 

Schöne  Beispiele  solcher  lotenschilde  (auch  vieler  Nürnberger)  gibt  Gerlach, 
Todtenschilder  und  Grabsteine.  Übrigens  ist  es,  trotz  Hilperts  Notiz,  nicht  notwendig, 
an  zwei  eigentliche  1 otenscbilde  (der  üblichen  runden  Form)  zu  denken;  die  Inschriften 
können  recht  wohl  auf  einer  (viereckigen)  Holztafel  (mit  Wappen)  oder  einem  Grabsteine 
untereinander  gestanden  haben;  die  Ausdrucksweise  macht  dies  sogar  wahrscheinlicher'. 


«7' 


234 


Albert  Gümbel: 


mehr,  in  den  Jahren  1464-  66  führt  er  ihn  als  »Fritz  Prawn  mal  er« 
auf  der  Sebalder  Stadtseite,  1474,  1476  und  1477  als  »Friedrich  Prawn 
Moler«  und  »Fritz  Prawn  Moler«  auf  der  Lorenzer  und  schließlich  1480 
zum  letztenmal  und  zwar  auf  der  Sebalder  Stadtseite20)  auf. 

Zu  diesen  Murrschen  Zeugnissen  tritt  nun  noch  ein  im  Reichs- 
archiv in  München  verwahrter  Lehensbrief21)  Sebald  Pfinzings  des  Älteren 
zu  Lichtenhof22)  für  einen  »Fritz  Löblich,  Prawn  Maler  genant«,  Anna, 
dessen  Ehefrau  und  »ir  beider  erben,  die  sie  miteinander  gewinnen«, 
über  sechs  Tagwerk  Wiesen  und  einen  Acker  in  Lichtenhof.  Der  nicht 
ganz  gewöhnliche  Zusatz  von  den  Erben,  »die  sie  miteinander  gewinnen« 
sollen,  macht  es  einigermaßen  zweifelhaft,  ob  der  in  diesem  Lehensbrief 
genannte  »Prawn  Maler«  identisch  ist  mit  dem  seit  1449  genannten 
Maler  Fritz  Praun,  denn  er  scheint  doch  eher  auf  jüngere,  vielleicht 
eben  vermählte  Eheleute  zu  passen.  Möglich,  daß  wir  schon  die  obigen 
Murrschen  Notizen  auf  zwei  gleichnamige  Maler  bezw.  auf  Vater  und 
Sohn  verteilen  müssen  und  etwa  in  dem  seit  1474  (nach  längerer  Pause) 
genannten  Friedrich  Praun  den  Pfinzing’schen  Lehensmann  zu  erblicken  haben. 

Dazu  scheint  zu  stimmen,  daß  bei  Murr  im  Jahre  1463  als  Sohn 
des  von  uns  angenommenen  älteren  Fritz  Prawn  ein  »Georg  filius«  ge- 
nannt wird,  der  aber  schon  zehn  Jahre  später  (am  28.  Februar  1473) 
in  Nürnberg  starb.* 23)  Es  wäre  dies  also  ein  Bruder  des  jüngeren  Fritz 
Praun  gewesen. 

Wir  haben  bisher  vier  Glieder  der  Familie  Praun-Löblich  kennen 
gelernt;  je  nach  der  Auslegung,  welche  wir  einer  nicht  ganz  zweifels- 
freien Angabe  des  Salbuches  der  Kirche  von  St.  Sebald  vom  Jahre  1493 
geben  wollen,  müßten  wir  diesen  noch  ein  fünftes,  einen  »Jakob  Prawn 
maler«  anfügen,  welcher  zwei  Häuser  (ein  Vorder-  und  Hinterhaus)  bei 
dem  inneren  Frauentor  in  der  St.  Lorenzerpfarrei  besaß. 

In  dem  auf  Veranlassung  des  Kirchenmeister  Sebald  Schreyer  im 
Jahre  1493  angelegten  Salbuch  von  St.  Sebald  befindet  sich  nämlich 
u.  A.  ein  Verzeichnis  der  aus  Grundstücken  und  Häusern  in  der  Stadt 
selbst  fließenden  Zinsen.  Darunter  ist  (pag.  305  b)  vorgetragen: 

»Item  ain  egkhaus  in  s.  Lorenntzen  pfarr,  zunechst  bei  dem  innern 
Frawenthor 24),  gegen  der  Waltstromeyr  haus  über,  den  weg  an  Adam 

*0)  Doch  mag  hier  ein  Versehen  Murrs  vorliegen. 

Il)  Ansbacher  Lehensbriefe  Nr.  3194-  Vgl.  Beilage  VII. 

**)  Pfinzingscher  Herrensitz  bei  Nürnberg. 

23)  Großtotengeläutbuch  von  St.  Lorenz,  fol.  26 a:  Mer  leut  [man]  an  demselben 
tag  (d.  h.  am  suntag  an  der  herren  vaßnacht  = 28.  Februar)  dem  jungen  Prawn  maller. 
Desgl.  in  dem  von  St.  Sebald:  Jörg  Praun  maler. 

»4)  Stand  (bis  c.  ^98)  im  Zuge  der  heutigen  Königsstraße  bei  dem  Belreimschen, 
1498 — 1502  erbauten  neuen  Kornhaus  (jetzige  Mauthalle). 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte.  235 

Siegels  hause  und  an  dem  Goldengeßlein  gelegen,  . . . [Folgen  noch 
Nachrichten  über  die  Eigenzinse  aus  dem  Hause  und  Schenkung  des- 
selben an  St.  Sebald  durch  Gerhaus,  Franz  Hubers  Witwe]  . . . 

. . . Und  solich  hause  haben  etwen  inngehabt  Herman  Nagel  und 
Anna,  seine  eeliche  wirtin,  eine  die  Jegrin  genannt,  Hanns  Humel  und 
Kungund,  sein  eliche  wirtin,  Heinrich  von  Kulmach  und  Anna,  sein 
eliche  wirtin,  Hartmann  Pilgreim,  Contz  Fugei  und  nach  im  sein  eeliche 
wirtin,  ainer  genannt  der  Schleyffer  Jacob  Prawn  maler  und  jetzo  Peter 
Tunker.« 

Die  Frage  ist  nun,  ob  das  vor  dem  Malernamen  stehende  »Jacob« 
zu  diesem  oder  etwa  zum  vorausgehenden  »ainer  genant  der  Schleyffer« 
gehört,  die  Interpunktion  gibt  keinen  Anhaltspunkt. 

Aus  der  gleichen  Eckbehausung  bezog  auch  die  Lorenzer  Kirche 
einen  Eigenzins  von  30  hl.,  sowie  einen  Zins  von  Ij2  tl  hl.  aus  dem 
daran  stoßenden  Hinterhaus  »im  gollengeßel«,  doch  bietet  der  auf  dieses 
Verhältnis  bezügliche  Eintrag  im  Lorenzer  Salbuch  von  1460  (mit  Nach- 
trägen aus  späterer  Zeit)  ebenfalls  nur  den  Namen  »der  Praun  moller«. 

Gleiches  ist  leider  schließlich  auch  in  einer  Urkunde25)  der  Fall, 
welche  den,*  im  Sebalder  Salbuche  oben  angedeuteten  Besitzwechsel  des 
Eckhauses  betrifft.  Im  Jahre  1480  wurde  nämlich  der  Kirchenpfleger 
von  St.  Sebald,  Hanns  Haller,  wegen  der  Behausung,  »bei  dem  innern 
Frawentor  am  eck  gelegen,  darinnen  der  Prawn  Maler  und  sein  weib 
wonhaftig  weren  gewesen«,  beim  Nürnberger  Stadtgericht  klagbar.  Der 
Maler  sollte  nach  Angabe  des  Klägers  das  Erbrecht  an  diesem  Hause 
verkauft  haben,  ohne  es,  wie  das  Nürnberger  Stadtrecht  gebot,  vorher 
dem  Eigenherrn,  nämlich  der  Kirche  des  hlg.  Sebald,  zum  Kaufe  an- 
geboten  zu  haben.  Das  Stadtgericht  erkannte  zu  Recht,  daß  der  Kirche 
die  Eigenschaft  und  5 Eigenzinses  zustehe,  aus  dem  Hinterhause  ge- 
bühre der  Kirche  von  St.  Lorenz  1/2  tt.  weniger  4 hl.,  dem  Hanns  Mayr 
(den  Praun  als  Eigenherrn  anerkennen  wollte)  6 fl.  St.  W. 

Also  auch  diese  Urkunde  bringt  uns  keine  volle  Aufklärung,  und 
bis  auf  weiteres  können  wir  den  uns  schon  bekannten  Gliedern  der 
Familie  auch  diesen  Jacob  Praun  anreihen. 

Nun  drängt  sich  zum  Schlüsse  naturgemäß  noch  'die  Frage  auf: 
sind  uns  irgendwelche  Spuren  der  künstlerischen  Tätigkeit  des  alten 
Praun  Löblich  oder  seiner  Söhne  und  Enkel  erhalten  oder  wenigstens 
Nachrichten  hierüber?  Das  Erste  muß  leider  verneint  werden,  auch  an 
direkten  Nachrichten  fehlt  es  durchaus,  aber  vielleicht  bietet  uns  eine 
anderweitige  urkundliche  Notiz  über  einen  Freskoschmuck,  welchen  die 


*5)  Kreisarchiv  Nürnberg.  Urk.  von  St.  Sebald,  L.  66  Lädlein  1 1,  Nr.  2. 


236 


Albert  Glimbel: 


St.  Sebaldskirche  bezw.  der  sie  umziehende  Kirchhof  im  Jahre  1470  er- 
hielt, einen  freilich  recht  unsicheren  Anhaltspunkt  zur  Beantwortung 
dieser  Frage  wenigstens  für  ein  Glied  dieser  Malerfamilie.  Im  genannten 
Jahre  ließ  nämlich  Ludwig  Pfinzing  aus  dem  bekannten  Nürnberger 
Geschlechte  zum  Andenken  an  seine  verstorbene  Ehefrau  Margaretha, 
einer  geborenen  Voit,  »auf  s.  Sebolts  kirchhofe,  zunächst  bei  der  eethür 
derselben  kirchen  am  neuen  sagerer  . . . ein  bildnus  s.  Gregorius  er- 
scheinung«  nebst  seinem  eigenen,  seiner  Ehefrau  und  seiner  Söhne  und 
Töchter  Bildnissen  malen.16)  Ludwig  Pfinzing  war  ein  Brudersohn  des  im 
obigen  Lehenbriefe  von  1466  genannten  Ritters  Sebald  Pfinzing  des  Älteren 
zum  Lichtenhof,  so  liegt  denn  die  Vermutung  nahe,  daß  eben  jener  in 
der  Lehensurkunde  genannte  Fritz  Löblich  Prawn  Maler  mit  diesem  Ge- 
mälde in  Zusammenhang  zu  bringen  ist. 

Freilich  würde  auch  die  etwaige  Bestätigung  unserer  Annahme  nur 
mehr  von  theoretischem  Interesse  sein,  da  von  jenem  Gemälde  heute 
nichts  mehr  vorhanden  ist;  es  bedarf  also  noch  weiterer  Zeugnisse  oder 
glücklicher  Funde,  um  uns  ein  Bild  von  der  künstlerischen  Eigenart 
dieser  Maler  und  ihrer  Bedeutung  für  den  Werdegang  der  Nürnberger 
Malerei  machen  zu  können.  — 


Beilagen. 

I. 

Urfehdebrief  des  Schlossers  Heinrich  Hewnfelt  für  den  Nürnberger 
Rat.  1432,  12.  Dezember. 

Ich  Heinrich  Hewnfelt,  sloser,  bekenn  mit  disem  offen  brief  vor 
allermenclich:  als  ich  vor  etlichen  jaren  meister  Otten  des  molers, 
burgers  zu  Nüremberg,  tochter  hiedan  entfurt,  mit  ir  in  fremde  lande 
gezogen,  daselbst  süntlich  mit  ir  zugehalten  und  mein  aigen  eelich  weib 
hie  zu  Nüremberg  hab  elentlich  laßen  sitzen,  meiner  sele  und  dem  ge- 
nanten meinem  eelichen  weibe  zu  merclichem  schaden  und  wann  ich  nu 
darumb  in  der  fursichtigen,  ersamen  und  weisen  meiner  gnedigen  herren 
des  rats  zu  Nüremberg  fenknuß  körnen  pin  und  darumb  ein  merclich 
straf  wol  verdient  hett,  haben  doch  dieselben  mein  herren  aus  besundern 
gnaden  barmherzikeit  an  mich  gelegt  und  mich  gnediclich  aus  fenknuß 
gelassen,  also  daz  ich  ein  rechte  urfehde  getan  und  ein  gelerten  eide  zu 
got  und  den  heiligen  gesworn  habe,  sollich  fenknuß  und  alles,  das  sich 
davon  und  darunter  verloffen  und  ergangen  hat,  gegen  den  vorgenanten 
meinen  gnedigen  herren  des  rats,  ir  stat  Nüremberg,  deinen  der  iren 

l6)  Urk.  im  Kgl.  allg.  Reichsarchiv  zu  München;  Ansbacher  Lehensbriefe  Nr.  3236. 
Siehe  Beilage  VIII  und  die  dort  gegebenen  sachlichen  Erklärungen. 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte.  237 

noch  jemants  anderm,  die  darunter  verdacht  und  gewant  sein,  in  arg 
nimmermer  zu  andten,  zu  rechen,  zu  efern  noch  ze  melden,  in  dhein 
weise  ewiclich,  sunder  ich  sol  noch  wil  auch  mein  leib  noch  gut  hiedann 
in  Nuremberg  nicht  empfremden  noch  entfüren  on  willen,  wißen  und 
wort  der  vorgenanten  meiner  herren  von  Nuremberg  on  alle  geverde  und 
argliste  und  des  zu  urkunde  und  beßer  Sicherheit  hab  ich  gepeten  die 
erbern  und  vesten  Micheln  von  Ehenheim  und  Vlrichen  von  Augspurg, 
daz  sie  ire  insigele  zu  gezeuknuße  der  obgeschriben  Sachen,  in  selbs 
und  iren  erben  on  schaden,  an  disen  brief  gehengt  haben,  des  wir  jetz- 
genant  Michel  von  Ehenheim  und  Vlrich  von  Augspurgk  also  bekennen. 
Geben  am  mitwochen  vor  sant  Lucien  tag  der  junkfrauen  nach  Crists 
gepurt  vierzehnhundert  und  in  dem  zwaiundvirzigistem  jare. 

Or.  Perg.'  mit  2 anh.  gut.  Siegeln. 

II. 

Der  Rat  der  Stadt  Nürnberg  schreibt  an  Bischof  Anton  von  Bam- 
berg über  die  Ehescheidung  der  Kunigunde  Voß  von  ihrem  Ehemanne, 
dem  Maler  Ott  Voß  in  Nürnberg,  1447,  31.  Januar.  (Kgl.  Kr.-Arch. 
Nürnberg,  Ratsbrief bücher,  Nr.  18,  pag.  152  b.) 

Bischof  zu  Bamberg. 

Gnediger  herre!  als  uns  eur  hoheit  verschriben  hat,  Küngunden 
Vößin,  die  von  irem  hauswirt,  Otten  Voßen,  unserm  bürger,  von  eebruchs 
wegen  mit  gaistlichen  rechten  geschiden  und  darumb  sie  gen  uns  verclagt 
und  dargeben  sei,  gelaite  zu,  bei  und  von  uns  zu  geben,  sich  zu  ver- 
antwurten  etc.,  das  haben  wir  wol  vernomen  und  bedunkt  uns  dieselb 
sache  sei  euern  gnaden  nach  der  vorgenanten  Küngund  Vößin  bestem 
anbracht,  darauf  wir  eur  fürstenl.  gnade  bitten  zu  wißen,  daz  bei  etlichen 
zeiten  rede  an  uns  gelanget,  wie  die  obgenant  Kungund  durch  etliche 
frauen  bestellt  und  geschickt  hat,  damit  der  egenant  Ott  Voß  zu  eebruch 
bracht  und  körnen  were,  daz  uns  swaer  bedaucht,  also  ließfen]  wir  den- 
selben dingen  fleißig  bei  uns  nachgeen  und  wir  haben  das  also  erfunden 
und  etliche  frauennamen  öffenlich  bei  uns  darumb  gestraft,  darnach  hat 
uns  dieselb  Kungund  mit  Schriften  angelangt,  ir  gelait  zu  uns  zu  geben, 
ir  rede  zu  hören,  darauf  haben  wir  müntlich  antwurten  laßen:  well  sie 
einr  strafe  in  denselben  Sachen  bei  uns  beieiben,  so  wellen  wir  ir  gelait 
zu  uns  geben  und  ir  rede  hören,  doch  daz  sie  söllich  gelait  an  der  straf 
nicht  fürtrage,  bei  derselben  antwurt  laßen  wir  es  noch  beleihen;  das 
well  eur  hoheit  gnediclich  von  uns  vernemen,  denn  wo  wir  euern  fiirsten- 
lichen  gnaden  dienst  und  wolgefallen  etc.  dat.  ut  supra  (d.  h.  eritag  vor 
purificacionis  = 31.  Januar)  1447. 


238 


Albert  Gtimbel: 


III. 

Schreiben  desselben  an  Michael  Ludwici,  Offizial  in  Bamberg,  in 
gleicher  Sache.  1447,  20.  Februar.  (Ebenda,  pag.  i73b.) 

Hern  Micheln  Ludwici,  licenciat  und  offizial  zu  Bamberg. 

Wirdiger  lfieber]  herre!  als  ir  uns  von  Offen  Voßen,  malers, 
unsers  burgers,  straf  wegön  verschroben]  und  euch  verantwurt  habt, 
wie  ir  im  ein  absolucion  ganz  umsust  habt  senden  laßen  etc.,  das  haben 
wir  wol  vernommen  und  nach  allen  ergangenen  dingen,  so  ist  je  unser 
biirger  vorgenant  darumb  pillich  geabsolviert  worden,  wir  vernemen  aber 
wie  die  absolucion  denselben  unsern  burger  gelt  gecost  hab  und  als  ir 
meldt,  daz  ir  uns  gern  dienst  und  beheglichkeit  taetet,  das  nemen  wir 
gern  zu  gut.  und  von  der  reformacion  des  geistlichen  gerichts  zu  Bam- 
berg etc.  ist  je  wol  pillich,  daz  die  also  furgenomen  werde,  damit  wir, 
unser  burger  und  die  unsern  söllicher  unpillicher  anlangung,  cöst,  mü 
und  scheden,  darzu  wir  und  die  unsern  mit  den  geistlichen  gerichten 
umb  lauter  werntlich  (=  weltliche)  sach  und  spräche  vorher  bracht  sein 
worden,  ninfur  vertragen  sein  und  beleihen,  als  ir  dann  in  einr  zettel  ge- 
meldt  habt,  wie  euch  die  Vößin,  maierin,  anlauf,  ir  zu  helfen  als  von 
des  guts  wegen  etc.,  mugt  ir  wol  versteen,  daz  wir  von  des  guts  wegen, 
unsere  burger  und  die  unsern  antrefifend,  selb  zu  richten  haben  und  der 
Vößin  und  andern,  die  darumb  rechts  bedürfen  und  begern,  rechts  bei 
uns  furderlich  und  gern  helfen  und  widerfaren  laßen,  so  wir  darumb 
besucht  werden;  darumb  ir  derselben  Sachen  pillig  müßig  steet,  und  als 
ir  meldt,  wie  die  Voßin  ir  recht  gern  tet  für  die  inzicht  (=  Bezichtigung) 
der  flauen  etc.,  mainen  wir,  das  ein  söllichs  nach  ergangenen  dingen 
auch  nicht  pillich  geschähe,  wan  es  uns  doch  nicht  pünde.  denn  wo 
wir  euer  ersamkeit  lieb  oder  etc.  dat.  ut  supra  (d.  h.  feria  secunda  post 
dominicam  Esto  mihi  = 20.  Februar  1447.) 

IV. 

Schreiben  desselben  an  Kunigunde  Voß  in  gleicher  Sache.  1447, 
2.  Juni.  (Ebenda,  pag.  251  a.) 

Küngunden  Vößin  maierin. 

Kiingund  Vößin!  als  du  uns  in  langen  Worten  verschriben  und  da- 
runter ein  aufgebung,  so  dir  Ott  Voß,  maler,  unser  burger,  vor  des 
rjeichs]  gericht  bei  uns  getan  hab,  auch  ein  teyding  (=  gütlicher  Vertrag), 
die  zwischen  im  und  dir  zu  Bamberg  still  geschehen  sein,  gemelt,  darauf 
du  gelaits  zu  uns  begert  hast  etc.,  das  haben  wir  vernomen  und  haben 
den  genanten  Otten,  deinen  man,  söllichen  deinen  brief  hören  und  mit 
im  davon  reden  lassen,  so  steet  sein  rede  gar  ungleich  gen  deinr  Schrift. 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte.  239 

wie  darumb,27)  so  haben  wir  dir  vormals,  do  du  auch  gelaits  zu  uns  be- 
gert  hast,  antwurten  laßen,  wellest  du  einr  strafe  in  denselben  Sachen 
bei  uns  beieiben,  so  wölten  wir  dir  gelaite  zu  und  von  uns  geben  und 
dein  rede  hören,  doch  daz  dich  söllich  gelait  an  der  straf  nicht  für- 
tragen sülle,  sölliche  antwurt  haben  wir  darnach  unserm  gnedigen  herren 
von  Bamberg  auch  also  zugeschriben,  dabei  laßen  wir  es  aber  (=  aber- 
mals) beieiben,  gibst  du  dich  denn  also  darein,  so  macht  du  alsdenn 
dein  Sachen  bei  uns  gen  deinen  mann  und  sust  selbs  rechtlich  erfordern, 
ist  dir  aber  das  noch  aber  nicht  zu  willen,  so  hast  du  wol  gewalt 
deinen  machtboten  zu  uns  zu  schicken,  dein  Sache  und  notdurft  rechtlich 
bei  uns  fürzunemen  und  zu  handeln,  dem  wellen  wir  vor  des  heilfigen] 
rfeichs]  richter  und  gericht  bei  uns  zu  Nürfemberg]  rechtz  nach  desselben 
r[eichs]  gerichtes  recht  und  herkomen  helfen  und  widerfaren  lassen  un- 
geverlich.  dat.  sub  sigillo  Mathie  Ebner,  magistri  civium,  feria  sexta  ut 
supra  (d.  h.  ante  festum  Penthecost.  = 2.  Juni  1447). 

V. 

Schreiben  desselben  gleicher  Adresse  wie  III.,  1447»  19*  September. 
Ebenda,  pag.  348  b. 

Hern  Micheln  Ludwici,  licenciat  in  geistlichen  rechten, 
offizial  zu  Bamberg. 

Würdiger  l[ieberj  herre!  als  ir  uns  von  Otten  Voßen,  malers, 
unsers  burgers,  wirtin  wegen  verschriben  und  in  lengern  Worten  gebeten 
habt,  ir  als  einer  fremden  person  gelaite  zu  uns  zu  geben,  heuser  und 
hausrat  selbs  bei  uns  zu  verkaufen,  dem  vorgenanten  Otten  herauszugeben, 
daz  im  gebürt,  und  die  schuldiger  zu  bezalen  etc.,  das  haben  wir  wol 
vernomen  und  wenn  sie  in  den  nechsten  14  tagen  darumb  zu  uns  körnen 
wil,  so  soll  sie  umb  euern  willen  zu,  bei  uns  und  von  uns,  für  uns  und 
die  unsern  on  geverde  14  tag  gelait  haben,  den  dingen  in  vorgemelter 
weise  nachzugeen,  denn  wo  wir  eurer  ersamkfeit]  lieb  etc.  dat.  ut  supra 
(d.  h.  in  vigilia  Mathei  apostoli  et  ewangeliste  = 20.  September  1447). 

VI. 

Schreiber  desselben  an  die  Altstadt  Prag  in  gleicher  Sache.  1448, 
11.  April.  (Ratsbrief biicher,  Nr.  19,  pag.  i2b.) 

Der  großem  stat  zu  Prag  unsern  etc. 

Lieben  f [reund] ! als  uns  eur  fürsich[tigkeit]  von  der  Küngunden  des 
Ottern  Voßen,  malers,  unsers  burgers,  hausfr[auen]  wegen  verschriben  und 


17)  = damit  mag  es  sich  nun  verhalten,  wie  immer. 


240 


Albert  Gümbel: 


gebeten  hat  etc.,  das  haben  wir  wol  vernomen  und  tun  eurer  weish  [eit]  zu  wissen, 
daß  sich  dies[elb]  Küngund  bei  etlichen  Zeiten,  merklich  und  swaerlich  bei 
uns  verhandelt,  darumb  sie  seid  unser  stat  gemieden  hat  und  der  hoch- 
wirdig  furst  und  herre,  herr  Anthony,  bisch[of]  zu  Bamberg,  hat  uns  zu 
merermmalen  verschriben  und  fleißig  gebeten,  ir  söllich  sache  zu  be- 
geben, wan  wir  aber  ein  merklich  maenig  Volks  bei  uns  haben,  so  sein 
wir  notdürftig,  daz  wir  arge  ding,  die  sich  bei  uns  ergeen,  strafen,  als 
eur  ersamkfeit]  auch  wol  versteet.  wie  darumb,  wil  sich  dieselb  Kün- 
gund in  ein  strafe  geben,  so  sol  sie  eurer  fursichtigkeit  bet  genießen, 
daz  wir  die  straf  dest  beschaidenlich  gen  ir  fürnemen  wollen,  denn  wo 
wir  euer  Weisheit  lieb  oder  etc.  dat.  ut  supra  (d.  h.  feria  quinta  post  do- 
minicam  Misericordia  domini  = n.  April  1448). 

VII. 

Lehenbrief  Sebald  Pfinzings  des  Älteren  für  Fritz  Löblich  Prawn 
Maler  über  sechs  Tagwerk  Wiesen  in  Lichtenhof. 

Ich  Sebolt  Pfintzing  der  Elter  zum  Liechtenhove  bekenne  und  thun 
kund  offenlich  mit  dem  brief,  das  ich  verlihen  hab  und  verleihe  in 
craft  dits  briefs  Fritzen  Löblich  Prawn  Maler  genant,  Anna,  seiner 
elichen  wirtin,  und  ir  beider  erben,  die  sie  miteinander  gewinnen,  3 tag- 
werk  wisen,  die  stoßen  an  Hannsen  Ortolffs  und  Endresen  von  Wats 
wisen,  und  aber  mer  3 tagwerk  wisen  und  ein  acker,  darangelegen,  stoßen 
an  Peter  Fügels  und  des  Awers  wisen,  davon  sie  mir  und  meinen  erben 
sie  und  ir  erben  alle  jar  jerlich  zinsen  und  raichen  sullen  von  den  vor- 
genanten 6 tagwerk  wisen  und  dem  acker  sibenzehen  pfunt  (je  dreißig 
pfenning  für  ein  pfunt  tyuremberger  müntz)  halb  zu  sant  Walburgen  tag 
und  halb  zu  Sant  Michelstag,  als  alles  gelegen  ist  auf  der  fürreut.28)  die- 
selben egenanten  wisen  und  den  acker  sullen  dieselben  obgenante  Prawn 
Maler  und  die  obgenant  sein  hausfrau  und  ir  erben  von  mir  und  meinen 
erben  zu  erbe  haben,  verzinsen  und  nutzen  und  nießen  und  von  mir  und 
meinen  erben  als  irem  eigenherren  emphahen  und  davon  thun  und 
hantlon  geben,  so  sie  solichs  erbrecht  verkaufen,  nach  erbs  recht  und  ge- 
wonheit  on  geverde.  und  des  zu  warem  urkunde  hab  ich  mein  eigen  in- 
sigel an  diesen  brief  gehangen,  geben  am  sampstag  von  Sant  Dyonisien 
tag,  als  man  zalt  nach  Crists  gebürt  vierzehenhundert  und  sechs  und 
sechzig  jare.  — Or.  Perg.  mit  anh.  gutem  Siegel  des  Ausstellers. 

VIII. 

Protokoll  des  Notars  Bernhard  Hammerschlag  über  die  auf  Wunsch 
Sebald  Pfinzings  am  15.  April  1521  vorgenommene  Besichtigung  des  im 

l8)  Frisch  gerodetes,  der  Kultur  neu  zugeführtes  Land. 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte. 


241 


Jahre  1470  von  Ludwig  Pfinzing  dem  Jüngeren  an  die  neue  Sakristei 
der  St.  Sebadlskirehe  gestifteten  Freskogemäldes.29) 

In  dem  namen  des  herren  amen,  durch  dises  offen  instrument 
und  urkunde  seie  allen  denjenen,  die  das  ansehen,  lesen  oder  hören  lesen 
allermenigklich  wissend,  kunt  und  offenbar,  das,  als  man  zalt  nach  Christi, 
unsers  lieben  herren,  gepurt  1500  und  im  21.  jare  etc.3°),  mir  dem 
notarien  hernachbeschriben  der  fursichtige,  erbere  und  weise  herr  Sebolt 
Pfintzing,  bürgere  und  des  klaineren  rats  zu  Nuremberg,  Bamberger  bistums, 
und  daselbst  auf  sant  Sebolts  kirchhofe,  zunächst  bei  der  eethür  derselben 
kirchen,  am  neuen  sagererS1),  erstlichen  mir  allain  angezaiget  und  gewisen 
hat  ain  gemalte  bildnus  sant  Gregorius  erscheinung  mit  etlichen 
wappen,  bilden,  verschidungsschrift  und  anderem  gemalet,  so  etwann 

29)  Der  ganze  Vorgang  dürfte  mit  der  damals  vom  Nürnberger  Rate  durch- 
geführten Auflassung  der  Friedhöfe  im  Innern  der  Stadt  (an  deren  Stelle  der  St.  Johannis- 
und Rochuskirchhof  traten)  und  dem  Verbot  des  Begrabens  der  Toten  in  den  Kirchen 
Zusammenhängen. 

Unser,  wie  schon  oben  bemerkt,  heute  verschwundenes  Fresko  haben  wir 
nach  den  in  der  Urkunde  gegebenen  Anhaltspunkten  an  der  größeren  Sakristei  von 
St.  Sebald,  in  unserem  Augenscheinsprotokoll  im  Gegensatz  zu  der  gegenüber  der  alten 
Schau  befindlichen  die  »neue«  genannt,  zu  suchen.  Der  Ausdruck  »zunächst  an  der 
Ehetür«  ist  nicht  ohne  Absicht  gebraucht,  denn  an  der  gleichen  Wand  und  zwar 
unmittelbar  rechts  neben  dem  heute  noch  vorhandenen,  seine  Hand  in  die  Wunden- 
male legenden,  fast  lebensgroßen  Christus  mit  dem  Rieterschen  Wappen  an  der  Konsole 
(in  dem  Rieterschen  Stammenbuch  des  Nürnberger  Stadtarchivs  aus  dem  Jahre  1596 
als  »Unsers  Herrn  Barmherzigkeit«  beim  Rieterschen  Begräbnis  »vor  der  Ehetüre  am 
Eck  am  Sagerer«  beschrieben)  befand  sich  ein  gleichfalls  von  der  Rieterschen  Familie 
gestiftetes  Fresko  »von  Wasserfarben«,  unbekannten  Gegenstandes  und  Stiftungsjahres 
(vgl.  Stammenbuch,  fol.  10b).  Das  Pfinzingsche  mußte  also  weiter  rechts  näher  gegen 
die  Ehetüre  hin  gelegen  sein.  Und  in  der  Tat  lassen  sich  noch  heute  nicht  nur  vom 
Rieterschen  sondern  auch  von  unserm  Pfinzingschen  Fresko,  bei  dem  ersteren  deutlicher, 
bei  letzterem  schwächer,  Spuren  des  alten  Putzuntergrundes  erkennen,  welche  uns  eine 
ungefähre  Vorstellung  von  dem  Umfange  der  Bilder  gewinnen  lassen.  Den  Platz  des 
letzteren  nimmt  allerdings  heute  zum  Teil  ein  kleines,  in  die  Sakristei  führendes 
Pförtchen  ein.  Man  vergleiche  z.  B.  die  Abbildung  bei  Ree,  Nürnberg,  S.  34,  wo 
man  die  links  neben  der  Ehetüre  liegende  Sakristei  mit  dem  Rieterschen  Christus  sieht, 
auch  erkennt  man  dort  die  unmittelbar  links  neben  der  Ehetüre  befindliche,  erst  später 
in  den  Ostchor  eingebaute  sogen.  Pfinzingsche  Emporkirche,  nach  außen  durch  zwei 
Fenster  mit  Wimpergen  markiert. 

Übrigens  finden  sich  solche  auf  frühere  Fresken  deutende  Putzflächen  noch  an 
verschiedenen  Stellen  der  Sakristeiwände,  z.  B.  nicht  weniger  als  drei  an  der  Nordwand. 
Der  unbefriedigende  Kontrast,  der  sich  für  den  heutigen  Beschauer  aus  der  unmittel- 
baren Nachbarschaft  des  steinernen  Spitzenwerkes  der  herrlichen  Brauttüre  mit  den 
nüchternen  Flächen  der  Sakristei  ergibt,  wurde  also  vordem  durch'  den  bunten  Fresken- 
schmuck erheblich  gemildert. 

3°)  Folgen  entbehrliche  Formalien. 

3»)  =Sakristei. 


242 


Albert  Gümbel: 


Ludwig  Pfintzing,  der  jünger,  Margrethen,  seiner  verstorben  hausfrauen 
seligen,  die  vom  geschlecht  ain  Voytin  gewest  were,  zu  gedachtnus  dahen 
hette  malen  lassen  etc.,  mit  bite  und  begeren,  das  ich  dieselben  in  bei- 
sein  und  sehen  glaubhaftiger  zeugen,  so  ich  darzu  nemen  solt,  besichtigen, 
circumscribiren,  die  wappen  daran  und  besunder  Ludwigen  Pfintzings 
hausfrauen  seligen  abmalen  lassen  und  solichs  alles  ime  in  ain  offen 
instrument  ziehen,  bringen  und  machen  und  dasselbige  ime  also  und 
dermassen  darüber,  sich  desselben  zu  seiner  notdurft  haben  zu  geprauchen, 
raichen  und  geben  wolte  etc.  dem  allem  nach  und  in  ansehung  seiner 
erberen  weishait,  zimliches  bitten  und  begeren,  so  hab  ich  darauf  in 
beiwesen  hernachbestimpten  glaubwirdigen  zeugen  am  montag,  dem  15.  tage 
des  monats  Aprilis,  alles  obbestimpts  jars,  die  obberiirten  figur,  bilde, 
wappen,  verschidung-  oder  todesanzaigen  und  -schrift  und  sunst  anders 
daran  besichtigt  und  die,  inmaßen  hernachbeschriben  und  die  wappen 
hernach  gemalet  stend^1)  erfunden:  zum  ersten  dieselben  sant  Gregorii 
erscheinung,  wie  man  die  gewonlichen  pfligt  zu  malen,  33)  mit  vier  bilden, 
unser  lieben  frauen,  sant  Johannis,  aines  pabsts  und  eines  bischofs,  dar- 
nach und  darunter  die  bildnus  sein  Ludwigen  Pfintzings  und  zwaier  seiner 
sune34)  auf  ainer  und  ansehens  auf  der  linken  und  auf  der  gerechten 
seiten  seiner  hausfrauen  Margrethen  und  ainer  irer  tochter35)  bildnus,  wie 
man  die  auch  pflegt  von  vater  und  muter  zu  malen,  find  auf  ir  jedes 
orte  aines  jeden  Wappens  schilte  und  auf  sein  Pfings  (!)  schilt  oben  ain 
reimenspatium  und  im  selben  drei  buchstaben,  von  ainander  getailt, 
PSA,  dabei  ain  kenndelein  mit  dreien  dreifachen  darin  ausgepraiten 
lilien  und  ain  greifen  mit  ainem  offnen  Schnabel  und  zwaien  aufgeworfnen 
flügeln,  als  wölte  er  fliegen,  gemalet. 36)  und  zwischen  den  obgenanten 
ir  beder  wappen  stund  ir  der  Pfintzingin  todes-  oder  verschidungschrift 

32 3 * *)  Am  unteren  Rande  der  Urkunde,  rechts  und  links  von  der  »verschidungsschrift«. 

33)  Gemeint  ist  wohl  die  sogen.  Messe  des  hl.  Gregor,  ein  damals,  wie  auch 
unsere  Notiz  erkennen  läßt,  sehr  beliebter  Vorwurf.  Auch  Dürer  hat  ihn  in  einem  Holz- 
schnitt vom  Jahre  1511  behandelt,  vgl.  Klassiker  der  Kunst  in  Gesamtausgaben,  Bd.  IV, 
Dürer  S.  258.  Die  Dürersche  Darstellung  hat  die  Gestalten  der  Maria  und  des 
Johannes  nicht,  dagegen  erscheinen  beide  auf  der  Volkamerischen  Gregoriusmesse  des 
Germanischen  Museums  (Katalog  der  Gemälde  1893,  Nr.  129),  wo  sie  den  auf  dem 
Altäre  vor  dem  Papste  auftauchenden  Schmerzensmann  rechts  und  links  stützen.  So 
dürfen  wir  sie  uns  auch  auf  unserem  Fresko  denken. 

3t)  Hanns  (früh  verstorben)  und  Ludwig. 

35)  Nach  der  Mutter  Margaretha  genannt. 

36)  Buchstaben,  Kännlein  und  Greif  sind  die  Insignien  des  Kannenordens 

(ordre  du  Vase  de  la  Sainte-Vierge),  im  Jahre  1410  in  Spanien  zur  Bekämpfung  der 
Mauren  gestiftet.  Die  Buchstaben  der  Devise  scheinen  auf  unserem  Fresko  nicht  mehr 

gut  lesbar  gewesen  zu  sein,  denn  anstatt  S sollte  es  richtig  L heißen,  die  Ordensdevise 

lautete  nämlich:  Por  los  amor  (cf.  Müller  und  Mothes,  Archäol.  Wörterbuch,  Leipzig, 


Archivalische  Beiträge  zur  älteren  Nürnberger  Malereigeschichte. 


243 


geschriben,  wie  hernachgesehen,  vermerkt  und  geschriben  ist  in  instrumente, 
von  buchstaben  zu  buchstaben  und  zeilen,  die  man  wol  noch  sehen  und 
lesen  mocht.  geschehen  seind  dise  ding  alle  in  jar,  indition,  monat, 
tag  und  anderm,  wie  obstat,  in  beiwesen  der  erberen  und  weisen  Jacoben 
Föderers  und  Wolffganngk  Bickels,  notarien,  Sigmunden  Hubers  und  Johann 
Birgers  auch  Hannsen  Storchs,  malers,37)  alle  laien  und  bürgere 
ze  Nüremberg,  zu  gezeugen  darzu'  sunderlichen  ervordert  Und  gepeten. 

Die  verschidung  oder  todesschrift  hat  gelautet,  wie  die 
zwischen  den  wappen  hernachgemalt  verlaut: 

Anno  domini  MCCCCLXX°  jar  an  sannt  prisca  tag  da  ver- 
schide  die  Erberig  fraw  Margreth  ludwig  Pfintzingin  die  jünger, 
die  da  begraben  ligt.  Der  Gott  genadig  sei. 

Or.  Pgt.  mit  Unterschrift  und  Handzeichen  des  Notars  Berhardin 
Hammerschlag. 

1878,  sub  v.  Kannenorden).  Eine  Vorstellung  von  der  (auf  dem  Frescobilde  fehlen- 
den) Ordenskette  gibt  das  Dürersche  (?)  Wappen  des  Florian  von  Waldauff  (Abbild,  in 
Klassiker  der  Kunst  a.  a.  O.  S.  333).  Man  sieht  sie  hier  rechts  oben  (links  vom  Be- 
schauer), aus  lauter  Kannen  mit  daraus  hervorsprießenden  Lilien  zusammengesetzt,  daran 
hängt  der  Greif.  Ob  nicht  auch  die  auf  dem  Dürerschen  »Wappen  mit  den  drei 
Löwenköpfen«  (Abbild,  a.  a.  O.  S.  307)  oben  links  vom  Beschauer  erscheinende,  von 
zwei  Händen  gehaltene  Vase  die  gleiche  Bedeutung  hat? 

37)  Über  diesen  Maler  besitzen  wir  einige  Nachrichten,  welche  bis  1492  zurück- 
reichen. In  diesem  Jahr  schwört  »Hanns  Storch,  maler«,  daß  er  auf  eine  Appelation 
in  seinem  Streite  mit  Marx,  dez  Onspachs,  verbers,  son  verzichtet.  So  wenigstens 
scheint  die  Notiz  bei  Hampe,  Nürnberger  Ratsverläse,  Bd.  I,  Nr.  481  zu  erklären  zu  sein. 
1504  (7.  Febr.)  setzt  er  sich  mit  seiner  Mutter  Katharina  über  zwei  aus  dem  Nachlaß 
seines  Vaters  stammende  und  von  diesem  geschnitzte  Kruzifixe  auseinander  (Stadtarchiv 
Nürnberg,  Konservatorium  VII,  fol.  118a).  In  gleicher  Eigenschaft,  wie  in  unserer 
Urkunde,  nämlich  als  Sachverständigen,  finden  wir  ihn  1515  in  einem  Urteil  des  Stadt- 
gerichtes (Konserv.  XXIX,  fol.  159  b),  das  interessant  genug  ist,  um  wörtlich  mitgeteilt 
zu  werden:  »In  Sachen  Lienhart  Hohenperger  contra  herrn  Niclasen  Haller  haben  Hanns 
Storch  und  Hanns  Platner  geschworn  und  angesagt,  das  si  das  gemelde  zu  Frauen 
Auracb  in  dem  creuzgang  sechzehen  materi,  so  Lienhart  Hochenperger  obgemelt  gemacht 
hat,  besichtigt,  und  er  hab  an  ainer  jeden  materi  ain  gülden  verdient,  doch  soll  er  ain 
textschrift  darunter  machen,  was  geschlecht  sich  die  Haller  zum  adel  verheiratet  haben 
zu  den  wappen.  ist  darauf  ertailt:  die  urtailer  laßen  es  bei  der  ansag  der  verstendigen 
maler  bleiben,  actum  sexta  post  Galli,  den  19.  octobris  1515.«  (Über  den  Maler  Hanns 
Platner  vgl.  Hampe,  a.  a.  O.  Nr.  1323  u.  Anm.)  Wahrscheinlich  ist  unser  Hanns  Storch 
auch  der  bei  Hampe  Nr.  1354  am  14.  Juli  1522  genannte  Storch.  ■ Die  »Schurstabin, 
malerin«  ebenda  ist  Agnes  Sch.,  Witwe  des  Malers  Lienhart  Sch. 


Der  Formschneider  der  Holzschnitte  in  dem  Breslauer 
Drucke  der  Hedwigslegende  vom  Jahre  1504. 

Von  W.  Molsdorf. 

Daß  die  Illustration  ■ des  Breslauer  Buchdruckes  von  dem  Leben  der 
Landespatronin  ihren  Ausgang  nahm,  ist  aus  mehr  als  einem  Grunde  er- 
klärlich. Als  der  seit  1503  in  Breslau  ansässige  Drucker  Konrad  Baum- 
garten mit  finanzieller  Unterstützung  seitens  des  Stadtschreibers  Gregorius 
Morenberg  und  des  Bürgers  Heinrich  Steinmetz1)  die  Herausgabe  der 
1504  bei  ihm  erschienenen  »Legenda  der  hailigsten  frawen  S.  hedwigis« 
übernahm,  konnte  er  bei  dem  allgemeinen  Interesse,  das  der  Gegenstand 
voraussetzte,  auf  einen  starken  Absatz  des  Buches  hoffen.  Sodann  ward 
die  Illustrierung  gerade  dieses  Druckes  durch  den  Umstand  wesentlich 
erleichtert,  daß  in  den  Federzeichnungen  der  1451  von  dem  Breslauer 
Virdungschreiber  Peter  Freytag  aus  Brieg  hergestellten  Handschrift  der 
Hedwigslegende2)  die  denkbar  günstigste  Vorlage  für  die  Holzschnitte 
vorhanden  war. 

Leider  muß  man  dem  Formschneider  das  Zeugnis  ausstellen, 
die  Kompositionen  in  recht  unvollkommener  Weise  wiedergegeben  zu 
haben,  so  daß  der  hohe  künstlerische  Wert  der  Federzeichnungen  bei 
seiner  Arbeit  nicht  zum  Ausdruck  kommt.  Der  Abstand,  der  sich  zwischen 
Vorlage  und  Kopie  geltend  macht,  mag  Luchs 3)  zu  dem  harten  Urteil 
veranlaßt  haben,  daß  die  Holzschnitte  an  Trockenheit  und  künstlerischer 
Armut  nicht  leicht  ihresgleichen  finden.  »Die  Figuren  sind  alle  kurz, 
breit  und  unbeholfen ; die  Köpfe  fast  ohne  Ausnahme  ohne  Empfindung 

»)  Vergl.  G.  Bauch  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen  15.  Jahrg.  1898. 
S.  243  ff. 

*)  Cod.  ms.  IV,  Fol.  192  der  Königl.  u.  Univ.-Bibliothek  Breslau.  Von  älteren 
Illustrationen  zum  Leben  der  h.  Hedwig  sind  anzuführen  die  Miniaturen  des  Schlacken* * 
werther  Codex  von  1353  (hrsg.  v.  A.  v.  VVolfskron,  Wien  1846),  die  die  mittelbare 
Vorlage  für  die  Zeichnungen  der  Breslauer  Handschrift  bilden,  sowie  die  in  der  Bres- 
lauer Bernhardinkirche  befindliche  Hedwigstafel  aus  der  Mitte  des  1 5.  Jahrh.;  der  Baum- 
gartensche  Druck  lehnt  sich  jedoch  im  Text  wie  in  den  Abbildungen  aufs  engste  an 
die  Handschrift  von  1451  an. 

3)  Über  die  Bilder  der  Hedwigslegende.  Breslau  1861  (Festschrift  zum  sojähr. 
Jubiläum  der  Universität).  S.  26  f. 


Der  Formschneider  der  Holzschnitte  in  dem  Breslauer  Drucke  usw. 


245 


und  die  Bewegungen  eckig,  so  daß  die  Motive  sehr  selten  zum  Aus- 
druck gelangen.  Der  Faltenwurf  im  handwerksmäßig  rohen  Stil  der  Zeit 
scharf,  brüchig,  schwülstig,  willkürlich.  Die  Umrisse  überall  in  der  sog. 
Holzschnittmanier  stark  und  ungelenk.  Die  Zeichnung  sehr  oft  ganz  ver- 
fehlt.« Trotz  manchem  zutreffenden  Tadel  enthält  die  Kritik  keine 
gerechte  Beurteilung  der  xylographischen  Leistungen.  Eine  Vergleichung 
von  Holzschnitten  mit  Federzeichnungen,  insbesondere  so  außerordentlich 
feinen,  wie  sie  die  Breslauer  Handschrift  aufweist,  wird  immer  zuun- 
gunsten der  ersteren  ausfallen.  Aus  den  Schranken,  die  einem  Dar- 
stellungsverfahren gesetzt  sind,  darf  jedenfalls  gegen  den  Künstler  ein 
Vorwurf  nicht  abgeleitet  werden,  und  auch  wegen  der  Geschmacklosig- 
keit, die  einer  ganzen  Periode  eigen  war,  wie  der  oben  erwähnte  schwülstige 
Faltenwurf,  ist  er  als  Kind  seiner  Zeit  zu  entschuldigen.  Übrigens  bildet 
die  Besprechung  der  Illustrationen  des  Baumgartenschen  Druckes  der 
Hedwigslegende  bei  Luchs  den  schwächsten  Teil  seiner  sonst  senr  ver- 
dienstvollen Arbeit.  Nicht  zutreffend  ist  z.  B.  der  Einwand  gegen  die 
Darstellung  der  Szene:  »Alhy  wescht  S.  hedwick  dy  houpt  den  kyndern 
yres  sones  aus  dem  wasser  do  dy  Schwestern  yre  fusse  gerenygeten  und 
sich  seihest  wusch«  (Bl.  C 3), 4)  daß  nämlich  die  sich  selbst  waschende 
Heilige  gänzlich  fehle.  Allerdings  hat  der  Zeichner  hier  wie  auch  sonst 
die  Szene  gegenüber  der  Darstellung  in  der  Handschrift  wesentlich  ver- 
einfacht, aber  soweit  ist  er  dabei  doch  nicht  gegangen,  daß  er  das 
wesentlichste  Moment  übersehen  hätte.  Mit  dem  Auflegen  der  linken 
Hand  auf  ihr  Gesicht  soll  natürlich  die  Heilige  den  Vorgang  des  Waschens 
zum  Ausdruck  bringen. 

Will  man  den  Holzschnitten  des  Baumgartenschen  Druckes  gerecht 
werden,  so  kann  ihre  Beurteilung  nur  ausgehen  von  der  Stellung,  die 
sie  in  der  gleichzeitigen  Buchillustration  einnehmen,  und  hiernach  er- 
scheint das  von  Luchs  gefällte  Urteil  jedenfalls  zu  hart.  Die  Bilder 
verdienen  zwar  nicht  das  Prädikat  »sehr  gut«,  das  ihnen  Muther5)  zu- 
weist, sie  bleiben  aber  hinter  den  Durchschnittsleistungen  des  xylo- 
graphischen Buchschmuckes  jener  Zeit  doch  auch  nicht  wesentlich  zurück. 
Muther  hat  seinem  Urteil  die  Bemerkung  hinzugefügt,  daß  die  Holzschnitte 
mit  Nürnberger  Arbeiten  verwandt  seien,  eine  Begründung  dieser  Ansicht  ist 
jedoch  nicht  gegeben.  Bei  dem  Interesse,  das  der  Baumgartensche  Druck 
der  Hedwigslegende  als  das  erste  illustrierte  Werk  des  Buchdruckes 


4)  Da  der  Druck  der  Hedwigslegende  keine  Blattzählung  enthält,  zitiere  ich  nach 
den  Signaturen. 

5)  Die  deutsche  Buchillustration  der  Gothik  und  Frührenaissance.  München 
1884.  S.  96. 


246 


YV.  Molsdorf: 


aus  dem  Osten  des  Reiches  beanspruchen  kann,  lohnt  sich  wohl  der 
Versuch,  den  Spuren  des  Stechers  nachzugehen. 

Keinem  der  68  Holzschnitte,  die  einen  durchaus  einheitlichen 
Charakter  tragen,  hat  der  Formschneider  sein  Monogramm  beigesetzt. 
Zwar  findet  sich  in  der  Darstellung  der  Mongolenschlacht  bei  Liegnitz 
(Bl.  I 6)  auf  dem  Schilde  eines  Ritters  ein  W,  doch  weist  dieser  Buch- 
stabe, wie  auch  Luchs  annimmt,  eher  auf  eine  Verherrlichung  Breslaus 
(Wratislavia)  hin  als  auf  einen  darin  verborgenen  Stechernamen.  Ganz 
«ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  IV  im  unteren  rechten  Schenkel  der  den 
Anfang  des  Buches  schmückenden  Initiale  A,  das  nur  als  Geschäftsmarke 
aufgefaßt  werden  kann,  und  zwar  gleichfalls  mit  Beziehung  auf  Breslau.6) 

Somit  sind  wir  für  unseren  Versuch  lediglich  auf  die  Eigentümlich- 
keiten des  Stiles  der  Holzschnitte  angewiesen,  soweit  sich  dieselben  nicht 
auf  ihre  Vorlage  zurückführen  lassen.  Schon  bei  einem  oberflächlichen 
Durchblättern  des  Baumgartenschen  Druckes  muß  die  eigenartige  Gestal- 
tung der  Steine,  die  meist  die  einzige  Unterbrechung  auf  dem  sonst  recht 
eintönig  behandelten  Erdboden  bilden,  auffallen.  Der  Schatten,  der  von 
ihrer  ziemlich  abgerundeten  Form  ausgeht,  fällt  fast  ausnahmslos  nach 
links  in  einer  höchst  charakteristischen  Weise,  indem  auf  eine  die  untere 
Seite  des  Steines  tangierende  Linie  mehrere  fast  halbkreisförmige  Striche 
nach  oben  zu  aufgesetzt  sind,  so  u.  a.  in  den  Darstellungen  auf  Bl.  B5, 
G3,  H3,  H4.  Dieselbe  eigentümliche  Form  findet  sich  noch  viel  häufiger 
in  den  Illustrationen  des  1491  zu  Nürnberg  von  Anton  Koberger  ge- 
druckten Schatzbehalters ; ich  begnüge  mich  besonders  auf  die  Figuren 
16,  21,  24  und  44  aufmerksam  zu  machen.  Auch  die  aus  derselben 
Druckerei  stammende  Hartmann  Schedelsche  Chronik  zeigt  in  vielen 
Holzschnitten  eine  ganz  ähnliche  Behandlung  der  Steine,  nur  nehmen 
Jiier  die  Schattenlinien  für  gewöhnlich  eine  mehr  wagerechte  Stellung  ein 
(Bl.  6b,  103b,  105a,  106b  u.  ö.).7) 

Eine  weitere  auffallende  Erscheinung  in  den  Holzschnitten  der 
Hedwigslegende  sind  die  kahlen  Bäume.  Auf  sämtlichen  Bildern,  deren 
landschaftlicher  Hintergrund  für  diese  Betrachtung  in  Frage  kommen 
kann,  ragt  entweder  ein  abgestorbener  Baum  gen  Himmel,  oder  es  finden 
sich  wenigstens  ein  paar  blätterlose  Zweige,  die  aus  den  belaubten 
Stämmen  hervorstehen  (Bl.  D 5,  H 4,  I 4,  I 5,  K 3,  K 4,  M 5).  Luchs 
bemerkt  zu  dieser  Eigentümlichkeit  bei  der  Erwähnung  des  Bildes  (Bl.  D 5): 
Alhy  hat  s.  Hedwick  ym  wytter  dy  kyrchen  besucht  barfuß 

6)  Eine  andere  derartige  Marke  in  Form  eines  Kreuzes  findet  sich  in  der  Initiale 
S am  Anfänge  des  Baumgartenschen  Druckes  des  Hortulus  elegantiarum  Magistri  Lau- 
rentii  Corvini.  Wratisl.  1503. 

7)  Den  Zitaten  liegt  die  deutsche  Ausgabe  von  1493  zugrunde. 


Der  Formschneider  der  Holzschnitte  in  dem  Breslauer  Drucke  usw.  247 

hier  »und  auch  sonst  ist  der  Winter  sehr  verständig  durch  nackte  Bäume 
bezeichnet«.8)  Diese  Anerkennung,  übrigens  die  einzige,  die  Luchs 
unserem  Stecher  zuteil  werden  läßt,  mag  für  die  genannte  Darstellung 
berechtigt  sein,  für  die  übrigen  hierher  gehörigen  Bilder  kommt  sie 
jedoch  nicht  in  Betracht,  denn  einmal  ist  aus  dem  Text  nicht  zu  ent- 
nehmen, daß  die  betreffenden  Vorgänge  ausschließlich  in  die  Winterzeit 
fallen,  was  ja  auch  an  sich  schon  sehr  unwahrscheinlich  ist,  und  zum 
anderen  stehen  die  zugleich  vorkommenden  belaubten  Zweige  damit  in 
Widerspruch.  Vielmehr  haben  wir  es  hier  mit  einer  Stileigentümlichkeit 
zu  tun,  der  man  auch  sonst  wohl  begegnet,  jedoch  in  so  ausgeprägter 
Weise  nur  in  den  Illustrationen  der  Wolgemutschen  Formschneiderschule, 
wie  sie  uns  nachweislich  in  den  beiden  bereits  erwähnten  Kobergerschen 
Drucken  vorliegen.  9)  In  der  Schedelschen  Ghronik  findet  sich  der 
charakteristische  Baum  auf  den  meisten  Städtebildern,  aber  auch  im 
Schatzbehalter  trifft  man  ihn  so  häufig,  daß  sich  die  Anführung  bestimmter 
Beispiele  erübrigt.  Auch  der  Baumstumpf,  der  sich  in  den  Ansichten 
der  Chronik  meist  im  Vordergründe  recht  bemerkbar  macht  (z.  B.  Bl.  139, 
153,  2 7 3),  fehlt  nicht  in  unserem  Drucke  (Bl.  M 5).  Noch  in  anderer 
Beziehung  zeigt  das  Landschaftsbild  der  Hedwigslegende  eine  merk- 
würdige Verwandtschaft  mit  jenen  Nürnberger  Arbeiten,  nämlich  in  der 
Form  der  Felspartien,  die  aus  aneinander  gestellten,  immer  höher 
werdenden  Schollen  bestehen  (Bl.  D 5,  I 5,  M 5,  EE  3). 

Solche  unverkennbare  Übereinstimmungen  legen  es  nahe,  auch  in 
weniger  in  die  Augen  springenden  Berührungspunkten  mehr  als  eine  Zu- 
fälligkeit zu  erblicken.  Jedoch  bei  dem  großen  Abstand,  der  in  künst- 
lerischer Beziehung  die  Holzschnitte  des  Baumgartenschen  Druckes  von 
den  Nürnberger  Leistungen  trennt,  kann  sich  diese  Betrachtung  vor- 
nehmlich nur  auf  die  stecherische  Ausführung  erstrecken,  deren  Eigen- 
tümlichkeiten eben  mit  Vorliebe  in  der  Behandlung  des  Beiwerkes 
zum  Ausdruck  kommen.  In  dieser  Hinsicht  verdient  jedenfalls  die 
wellenförmige  Schraffierung  Beachtung,  die  infolge  häufiger  Unter- 
brechung der  Linienführung  recht  starke  Unregelmäßigkeiten  zeigt,  z.  B. 
bei  dem  Gewände  der  Hedwig  auf  Bl.  A und  G 4 sowie  dem  Rocke 
des  knienden  Mannes  auf  Bl.  F oder  auf  dem  Schilde  eines  Tartaren 
(Bl.  I 5).  Zu  diesen  Beispielen,  die  sich  leicht  vermehren  ließen,  bieten 
die  Illustrationen  des  Schatzbehalters  ganz  verwandtes,  ich  begnüge  mich 
auf  die  Kleidung  Josefs  sowie  des  Mose  und  Aaron  in  der  14.  und 
15.  Figur  aufmerksam  zu  machen. 

*)  a.  a.  O.  S.  27. 

9)  Vgl.  V.  v.  Logau:  Beiträge  zum  Holzschnittwerk  Michel  Wolgemuts  im  Jahr- 
buch d.  Kgl.  preuß.  Kunstsamml.  16.  Bd.  1895.  S.  236  h 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  j8 


248 


YV.  Molsdorf: 


Eine  mehr  als  nur  auf  den  Einfluß  der  Mode  zurückzuführende 
Übereinstimmung  scheint  mir  in  einigen  Stücken  des  Tischgerätes  zu 
liegen.  Dieses  zeigt  naturgemäß  die  Stilart,  die  um  die  Wende  des 
15.  Jahrhunderts  üblich  war,  und  hat  daher  in  allen  drei  hier  in 
Rede  stehenden  Bildergruppen  viel  Ähnlichkeit.  Auffallend  wirkt  sie 
jedoch  bei  der  Form  des  Trinkgefäßes  mit  den  drei  Füßchen,  das  wir 
mehrfach  in  der  Hedwigslegende  (Bl.  G 4,  G 6)  und  im  Schatzbehalter 
(Fig.  26,  41,  47,  65,  86)  antreffen,  sowie  bei  dem  Kühleimer,  von  dessen 
Seitenwand  drei  kurze  Beine  auslau fen  (Hedwigsleg.  Bl.  D;  Schatzb. 
Fig.  26,  86;  Chronik  Bl.  94b).  Auch  die  Anwendung  der  ringelförmigen 
Vertiefung  bei  den  Mauersteinen  auf  Bl.  H 5 der  Hedwigslegende  und 
in  mehreren  Figuren  des  Schatzbehalters  (35,  54,  64,  69)  dürfte  wohl 
ebensowenig  auf  Zufall  beruhen  wie  das  Vorkommen  des  hebräischen 
Buchstaben  w,  den  wir  in  beiden  Drucken  als  Bannerverzierung  finden 
(Hedwigsl.  Bl.  I 5 ; Schatzb.  Fig.  58,  73  und  1 7 (?))- 

Ich  möchte  diese  Betrachtungen  nicht  beschließen,  ohne  einen 
kurzen  Hinweis  auf  die  Darstellung  der  menschlichen  Körperformen  in 
unseren  Holzschnitten,  bei  denen  sich  der  Abstand  von  ihrer  Vorlage 
am  größten  zeigt.  Zwar  ist  die  Zeichnung  der  Personen  in  der  Breslauer 
Handschrift  der  Hedwigslegende  auch  keine  ganz  einwandfreie,  sie  hätte 
aber  für  unseren  Formschneider  ein  recht  gutes  Vorbild  abgeben  können. 
Indessen  hat  man  den  Eindruck,  daß  es  gar  nicht  in  der  Absicht  des 
Stechers  lag,  die  Gestalten  zu  kopieren;  sie  zeigen  vielmehr  eine  so  auf- 
fallende Ähnlichkeit  untereinander,  daß  man  annehmen  muß,  er  verwandte 
hier  einen  Typus,  der  ihm  bereits  zu  einem  gewohnheitsmäßigen  geworden 
war.  Leider  ist  dieses  wenig  befriedigend,  und  man  findet  kaum  ein 
Bild,  auf  dem  sich  nicht  die  gröbsten  Verzeichnungen,  namentlich  bei 
den  Extremitäten  in  recht  unangenehmer  Weise  bemerkbar  machten.  Es 
wäre  nun  freilich  sehr  gewagt,  solche  Figuren  unseres  Formschneiders 
mit  denen  des  Schatzbehalters  und  der  Chronik  in  Parallele  stellen  zu 
wollen,  immerhin  muß  aber  auf  die  Tatsache  hingewiesen  werden,  daß 
sich  gerade  in  der  Wolgemutschen  Schule  bei  der  Darstellung  des 
menschlichen  Körpers  ein  recht  auffallender  Mangel  an  anatomischen 
Kenntnissen  bemerkbar  macht,  ganz  besonders  in  den  »verrenkten  Glied- 
maßen und  den  grundschlecht  gezeichneten  Füßen«.10) 

Aus  den  angestellten  Vergleichungen  ergibt  sich  jedenfalls  das  eine 
mit  Sicherheit,  daß  der  Formschneider  des  Bilderschmuckes  der  Hedwigs- 
legende aus  der  Wolgemutschen  Stecherschule  hervorgegangen  ist. 

Die  Herstellung  so  umfangreicher  illustrierter  Werke  wie  des  Schatz  - 


\ 


I0)  Vergl.  v.  Logau  a.  a.  O.  S.  232. 


Der  Formschneider  der  Holzschnitte  in  dem  Breslauer  Drucke  usw. 


249 


behalters  und  insbesondere  der  Schedelschen  Chronik,  die  mit  ihren 
1809  Holzstöcken  in  der  Geschichte  der  Buchillustration  eine  ganz  einzig- 
artige Stellung  einnimmt,11)  ließ  sich  nur  mit  Hilfe  eines  sehr  zahlreichen 
Stecherpersonales  ermöglichen,  zumal  die  Zeit,  innerhalb  deren  diese 
Massenproduktion  erfolgte,  eine  für  die  damaligen  Verhältnisse  außer- 
ordentlich kurze  war.  Am  29.  Dezember  1491  wurde  der  Vertrag  mit 
Wolgemut  und  Pleydenwurff  wegen  Übernahme  der  Illustrationen  zur 
Chronik  abgeschlossen,12)  und  am  12.  Juli  1493  — also  bereits  nach 
anderthalb  Jahren  — verließ  die  lateinische  Ausgabe  die  Presse.  Nach 
dem  Erscheinen  dieser  Drucke  trat  in  Nürnberg  ein  erheblicher  Rückgang 
der  Buchillustration  ein,  der  einen  Teil  der  Stecher  genötigt  haben  wird, 
sich  an  anderen  Orten  nach  Beschäftigung  umzusehen.  Aus  diesem 
Grunde  dürfte  unser  Formschneider  seine  Schritte  nach  dem  Osten  gerichtet 
haben  und  zwar,  wie  es  scheint,  zunächst  nach  Mähren. 

Die  Hedwigslegende  ist  das  einzige  illustrierte  Werk,  das  Baum- 
garten herausgegeben  hat;  was  sich  sonst  an  xylographischen  Leistungen 
in  seinen  Drucken  findet,  beschränkt  sich  auf  Initialen,  Druckerzeichen 
und  einige  Titelholzschnitte.  Daß  ein  so  dürftiges  Material  für  Ver- 
gleichungen nur  geringe  Anhaltspunkte  bieten  kann,  ist  selbstverständlich; 
gleichwohl  möchte  man  geneigt  sein,  die  sich  bereits  in  den  Olmützer 
Drucken  Baumgartens  findenden  Holzschnitte  demselben  Stecher  zuzu- 
schreiben, der  die  Bilder  zur  Hedwigslegende  lieferte.  Sowohl  der  Holz- 
schnitt mit  der  Gegenüberstellung  des  päpstlichen  und  des  Olmützer 
Episkopalwappens  J3)  bestärkt  uns  in  dieser  Annahme,  noch  mehr  aber 
die  Darstellung  der  drei  Frauen  unter  dem  Kreuze  Christi  auf  dem 
Titelblatt  der  »Stigmiferae  virginis  Luciae  de  Narnia  facta  admiratione 
digna«  (Olomucz  1501  per  Conr.  Baumgarten),  x4)  wo  die  Übereinstimmung 
in  der  stecherischen  Ausführung  mit  den  Illustrationen  der  Hedwigslegende 
unverkennbar  ist. 

Unser  Interesse  nehmen  jedoch  vor  allem  zwei  Holzschnitte  in 
Anspruch,  die  Baumgarten  mehrfach  während  seiner  Olmützer  Tätigkeit 
benutzte,  nämlich  das  Druckerzeichen  mit  dem  zwei  Schilde  haltenden 
Engel  und  die  Darstellung  des  h.  Wenzel.  Der  erstgenannte  Formschnitt 
zeigt  mit  denjenigen  der  Hedwigslegende  eine  Verwandtschaft,  die  wohl 


ir)  L.  Baer:  Die  illustr.  Historienbücher  des  15.  Jahrh.  Straßb.  1903.  S.  172. 

I2)  H.  Thode:  Die  Malerschule  von  Nürnberg  im  14.  u.  15.  Jahrh.  Frankf.  a.  M. 
1891.  S.  I56f.  u.  S.  239  ff. 

*3)  Findet  sich  zuerst  im  Tractatus  de  secta  Waldensium  des  Augustinus  de  Olomutz 
vom  J.  1500. 

H)  Im  Besitze  der  k.  k.  Hofbibliothek  zu  Wien,  der  ich  auch  an  dieser  Stelle 
für  die  gütige  Verleihung  des  Exemplares  den  verbindlichsten  Dank  ausspreche. 

iS* * 


250 


W.  Molsdorf: 


schwerlich  auf  Zufall  beruhen  dürfte;  wir  haben  hier  die  gleichen  starken 
Umrißlinien  der  Zeichnung,  dieselbe  Behandlung  des  Faltenwurfs  und  in 
der  Gestalt  des  Engels  offenbare  Einwirkungen  der  Nürnberger  Schule. 
Auch  Alwin  Schultz  hat  sich  über  dieses  Signet,  das  sich  nur  mit  abge- 
ändertem Wappen  gleichfalls  in  den  von  ihm  in  Breslau  entdeckten  Frag- 
menten des  Baumgartenschen  Druckes  des  Computus  totius  fere  astronomiae 
findet,  dahin  geäußert,  daß  der  Holzschnitt  ganz  in  der  Weise  Wolgemuts 
gearbeitet  ist.1 5)  Dieselben  Einflüsse  verrät  auch  der  in  zweifacher  Aus- 
führung vorkommende  h.  Wenzel,  dessen  feinere  Linienführung  jedoch  in 
der  Hedwigslegende  nur  ausnahmsweise  in  der  figurenreichen  Darstellung 
des  Tartareneinfalls  (Bl.  I 5)  angetroffen  wird.  Für  unsere  Untersuchung 
hat  der  Holzschnitt  aber  noch  eine  ganz  besondere  Bedeutung,  weil  der 
Stecher  dieser  Arbeit  sein  Monogramm  H^F  hinzufügte.  Soweit  unsere 
Kenntnis  reicht,  läßt  sich  sowohl  das  Signet  mit  dem  Engel  wie  auch 
der  h.  Wenzel  bis  zum  Jahre  1499  zurückverfolgen.  Wir  begegnen  beiden 
zuerst  in  dem  von  Konrad  Stahel  zu  Brünn  gedruckten  Psalterium  secundum 
ritum  ecclesiae  Olomucensis, l6)  wo  das  neben  dem  Haupte  des  Engels 
befindliche  Band  die  angeführte,  später  aus  dem  Holzstock  entfernte 
Jahreszahl  trägt.  Aus  diesem  gleichzeitigen  Vorkommen  der  beiden  Holz- 
schnitte kann  man  wohl  auf  einen  gemeinsamen  Ursprung  schließen  und 
somit  auch  das  Druckerzeichen  demselben  Monogramlnisten  zuschreiben. 

Im  Jahre  1499  erlosch  die  Ausübung  der  Buchdruckerkunst  in  Brünn; 
gleichzeitig  begann  sie  aber  in  Olmütz,  wohin  der  frühere  Genosse  Stahels, 
Mathias  Preunlein,  seine  Druckerei  verlegt  hatte.1 7)  Aber  schon  im 
folgenden  Jahre  überließ  er  den  Ort  der  Wirksamkeit  Baumgartens,  der 
auf  diese  Weise  in  den  Besitz  jener  beiden,  zuerst  in  Brünn  benutzten 
Holzstöcke  gekommen  sein  mag.  Die  bereits  angeführte  Verwandtschaft 
dieser  ältesten  Formschnitte,  vor  allem  jenes  Druckerzeichens  mit  den 
späteren  xylographischen  Beigaben  der  Baumgartenschen  Presse  legt  jedoch 
die  Vermutung  nahe,  daß  auch  der  Holzschneider  mit  dem  Zeichen  Hdö  F bei 
Verlegung  des  Buchdrucks  von  Brünn  nach  Olmütz  seinen  Aufenthaltsort 
wechselte  und  hier  mit  Baumgarten  geschäftliche  Beziehungen  anknüpfte, 
die  er  dann  in  Breslau  beim  Drucke  der  Hedwigslegende  fortsetzte.18) 

*5)  Zeitschrift  des  Ver.  f.  Geschichte  u.  Altertum  Schlesiens,  14.  Bd.  1878.  S.  243. 
Ich  mache  ausdrücklich  darauf  aufmerksam,  daß  es  sich  bei  diesem  Druckerzeichen  nicht 
um  einen  Nachschnitt  handelt,  vielmehr  benutzte  Baumgarten  auch  hier  den  ursprüng- 
lichen Stock  nur  mit  Abänderung  des  Wappens. 

l6)  Vgl.  die  eingehende  Beschreibung  der  Inkunabeln  Böhmens  und  Mährens  von 
A.  Schubert  im  Zentralbl.  f.  Bibliothekswesen.  16.  Jahrg.  1899.  S.  182  f. 

>7)  Vgl.  A.  Schubert  a.  a.  O.,  S.  54  f. 

,8)  Für  die  Annahme  einer  Fortdauer  dieser  Beziehungen  auch  während  der 
Druckertätigkeit  Baumgartens  zu  Frankfurt  a.  O.  fehlen  sichere  Grundlagen.  Mehrfach 


Der  Formschneider  der  Holzschnitte  in  dem  Breslauer  Drucke  usw. 


251 


Leider  ist  die  Person  unseres  Formschneiders  in  Dunkel  gehüllt, 
und  vergebens  sucht  man  sein  Monogramm  in  den  Künstlerverzeichnissen. 
Das  Schicksal  eines  bewegten  Lebens,  das  er  vielleicht  mit  Baumgarten 
teilte,  mag  Schuld  daran  sein,  daß  seine  Person  schon  früh  der  Ver- 
gessenheit anheimgefallen  ist. 


haben  Initialen  in  Drucken  aus  jener  Zeit  ein  Monogramm  H M.  Dagegen  findet  sich 
in  einem  der  Breslauer  Univ. -Bibliothek  gehörigen  Exemplare  des  1499  zu  Mainz  ge- 
druckten Missale  Vratislaviense  ein  mit  einer  ankerförmigen  Marke  bezeichneter  Holz- 
schnitt des  Breslauer  Stadt-  und  Bistumswappens  vorgeheftet,  der  im  Zusammenhang 
mit  der  Werkstatt  des  Formschneiders  der  Hedwigslegende  stehen  dürfte. 


Zwei  Orley- Schüler. 

Von  Wilhelm  R.  Valentinen 

Noch  besteht  keine  Ikonographie  der  Epiphanienbilder  in  der  älteren 
niederländischen  Kunst,  wie  sie  für  die  der  deutschen  und  florentinischen 
Malerei  zusammengestellt  wurde.  Sicher  ergäbe  die  freilich  mühselige 
Arbeit  wertvolle  Resultate.  Die  Entwicklung  der  primitiven  Kunst  in 
Holland  und  Belgien  könnte  fast  allein  an  diesen  Darstellungen  dargelegt 
werden,  deren  Zahl  die  der  entstandenen  Adorationen  in  Deutschland  und 
Italien  während  der  Renaissancezeit  noch  übertrifft.  Auch  ließen  sich  eine 
Reihe  anonymer  Künstler  sondern,  wie  beispielsweise  der  Meister  der 
großfigurigen  Anbetungen  in  den  Uffizien  (Nr.  585  van  Eyck),  in  Stuttgart 
(Nr.  121)  und  in  Antwerpen  (K.  Fyoll)  — vielleicht  der  Meister  von 
Frankfurt1)  — , der  holländische  Maler  des  Meißner  Dombildes,  welcher 
jenem  Künstler  sowie  dem  Verfertiger  der  bedeutenden  Epiphanie  in  Utrecht 
(Dülberg,  Frühholländer  II  7)  nahesteht  und  das  Gemälde  des  Bosch 
im  Prado  vielleicht  aus  einem  Stich  kannte,  die  zwei  oder  drei  Künstler 
der  Herri  met  de  Blesgruppe,  derjenige  des  kleinen  Antwerpener  Trip- 
tychons (als  »L.  v.  Leiden«),  welcher  ihr  halb  und  halb  angehört  und 
eine  Beweinung  in  Karlsruhe  (Nr.  136  »Kölnisch«)  und  vielleicht  ein 
ähnliches  Bild  der  Versteigerung  Ruffo  de  Bonneval  (Nr.  9 J.  v.  Schoorel) 
geschaffen  hat. 

In  Belgien  sind  ungleich  mehr  Adorationen  entstanden  als  in  Hol- 
land, aber  doch  hat  sich  auch  in  dem  nördlichen  Gebiet  jeder  bedeu- 
tendere Künstler  ein  oder  mehrere  Mal  in  diesem  Motiv  versucht,  von 
Dirk  Bouts  und  Geertgen  an  bis  zu  Plngelbrechtsen  (nach  v.  Mander), 
Lucas  v.  Leyden,  Jan  Mostaert,  Jan  Swart  und  Jan  Scoorel.  Gerard 
David  verpflanzt  ein  Kompositionschema  nach  Brügge,  welches  dort  von 
Nachfolgern  weitergebildet  wird.  Jacob  Cornelisz  andrerseits  scheint  sich 
in  Holland  wieder  mit  einer  Epiphanie  (Neuwied,  datiert  1517)  einzuführen, 
falls  er  1516  von  Antwerpen  zurückkehrte.2)  In  der  Scheldestadt  aber 

1)  Das  Antwerpener  Bild  schreibt  Dr.  Friedländer  dem  Meister  von  Frankfurt  zu. 
Nach  ihm  befindet  sich  eine  freie  Wiederholung  in  Wien. 

2)  Es  darf  wol  als  sicher  angenommen  werden,  daß  Jacob  Cornelisz  identisch 
ist  mit  dem  von  1507 — 1516  in  Antwerpen  erwähnten  Jacob  von  Amsterdam,  der 


Zwei  Orley-Schüler. 


253 


leistete  man  das  Erstaunlichste,  bedenkt  man  allein,  was  die  Werkstatt 
des  Meisters  vom  Tode  Mariä  und  die  des  Herri  met  de  Bles  an  An- 
betungsdarstellungen hervorbrachte.  Doch  stand  auch  Brüssel  mit  Orley 
und  seinen  zwei  im  Folgenden  beschriebenen  Schülern  nicht  zurück, 

Frägt  man  sich,  welche  Faktoren  für  die  Künstler  bestimmend 
waren,  wenn  sie  sich  wieder  und  wieder  mit  demselben  Stoffe  beschäf- 
tigten, so  darf  einmal  auf  einen  kulturellen  hingedeutet  werden.  Wie 
man  nachgewiesen  hat,  nahm  der  Marienkult  mit  der  Veräußerlichung 
der  Religion  vor  und  noch  während  der  Reformationszeit  zu.  Die  Hol- 
länder, die  stärker  von  dem  neuen  Geist  erfaßt  wurden,  gaben  schon 
jetzt  ihr  Bestes  in  Darstellungen  der  Passion  und  des  Alten  Testa- 
mentes, während  in  Belgien,  irre  ich  mich  nicht,  der  Zahl  und  der  Be- 
deutung nach  diejenigen  religiösen  Stoffe  voranstehen,  welche  mit  dem 
Kult  der  Maria  oder  weiblicher  Heiligen  Zusammenhängen.  — Daneben 
kommen  künstlerische  Momente  in  Betracht.  Die  Dreikönigsdarstellung 
bot  Gelegenheit,  die  Kenntnis  der  neuerdings  in  Italien  erworbenen 
Architekturperspektive  zur  Anwendung  zu  bringen.  Man  konnte  im  Sinne 
des  Renaissancegeschmackes  Ruinen  aufbauen  mit  anstoßenden  weiten 
Bogenhallen,  die  von  seltsam  gezierten  Säulen  und  grotesk  ornamentierten 
Pilastern  gestützt  wurden.  Herrlicher  Reichtum  von  prächtigen  Brokat- 
und  Schillerstofifen,  von  flatternden  Seidenbändern,  von  glitzernden  Rü- 
stungen, Waffen  und  Helmen,  an  deren  Verzierungen  die  Niederländer 
ihre  Freude  am  Messingschmuck  betätigten,  ließ  sich  entfalten.  Dazu 
konnte  der  Künstler  dartun  — vor  allem  der  Antwerpener  Herri  met 
de  Bles  verstand  dies  — , wie  der  Raum  nicht  nur  mit  Lineal  und  Zirkel 
exakt  gebildet  werden  müsse,  wie  er  auch  durch  zahlreiche  immer  kleiner 
werdende  Figurengruppen,  die  in  bestimmten  Abständen  angeordnet 
wurden,  bis  in  weite  Tiefen  hinein  kontinuierlich  verdeutlicht  werden 
könne.  Alle  diese  neuen  Weisheiten  und  zuletzt  noch  die  von  Massys 
begründete  Kunst  einer  Farbenkomposition,  bei  der  zarte  gebrochene 
Töne  in  bisher  ungekannter  Differenzierung  geistreich  auf  der  Fläche 
verteilt  wurden,  konnte  bei  dem  dankbaren  Stoffe  zur  Geltung  gebracht 
werden.  — Endlich  mag  gerade  in  der  verschwenderischen  Handelsstadt 
Antwerpen,  welche  eine  eigene  sensible  Luxuskunst  pflegte,  die  Mode 
die  armselige  Begleiterin  des  Reichtums  Herrscherin  gewesen  sein  und 

mehrere  Schüler  annahm.  Scheibler,  der  zuerst  auf  die  Stelle  in  den  Liggeren  auf- 
merksam machte,  drückt  sich,  wie  ich  glaube,  zu  vorsichtig  aus.  Das  Altarwerk  in 
Neapel  ist  offenbar  während  seines  Aufenthaltes  in  dieser  Stadt  entstanden:  die  nieder- 
ländischen Gemälde  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  in  süditalienischen  Samm- 
lungen scheinen  alle  Antwerpner,  höchstens  Brüsseler,  nicht  aber  holländischer  Abkunft 
Antwerpen  stand  auf  der  Höhe  seines  Exporthandels. 


254 


Wilhelm  R.  Valentiner: 


im  Bunde  mit  der  Ateliertradition  die  häufige  Wiederholung  derselben 
Kompositionen  verlangt  haben. 

Gewiß  sind  die  äußerlichsten  Motive  bei  den  zwei  Malern  be- 
stimmend gewesen,  deren  Werk  ich  kurz  zusammenzustellen  versuche. 
Es  sind  Meister  zweiten  Ranges,  die  an  ihren  Lehrer  Orley  — der 
selbst  kein  genialer  Künstler  war  — nicht  heranreichen,  die  nur  dazu  bei- 
tragen, das  unklare  Bild  der  niederländischen  Malerei  in  den  zwanziger 
und  dreißiger  Jahren  des  sechsz'ehnten  Jahrhunderts  zu  verwirren.  Sie 
gehören  zu  den  Naturen,  welche  immer  mit  denselben  dürftigen  eigenen 
Ideen  oder  mit  denen  anderer  prunken  und  durch  eine  nicht  geringe 
Fruchtbarkeit  das  Niveau  der  Kunsthöhe  der  Zeit  herunterdrücken.  Ihre 
Haupttätigkeit  bestand  darin,  Anbetungsdarstellungen  anzufertigen.  Von 
dem  einen  sind  mir  sechszehn,  von  dem  andern  sieben  bekannt,  sicher 
nur  ein  Teil  selbst  der  erhaltenen  Werke. 

Ich  zähle  zunächst  die  Gemälde  des  ersten,  der  schon  seinen  Namen 
besitzt,  des  Meisters  der  Utrechter  Adoration,  auf. 

1.  Blaschkow  (in  Böhmen)  Sammlung  Gaston  de  Mallmann:  Ver- 
kündigung. Rechts  kniet  Maria  vor  einem  Lesepult,  von  links  kommt 
der  Engel  mit  dem  Schriftband. 

2.  Brüssel,  Museum,  Nr.  591:  Anbetung  der  Könige.  Mittel- 
tafel eines  Triptychons,  Kniestück;  Wiederholung  der  Komposition  des 
großen  Utrechter  Altarwerkes  mit  kleinen  Veränderungen.  Nach  Dülberg 
(Frühholländer  II,  S.  16)  südniederländische  Nachbildung  des  Utrechter 
Originals. 

3.  — Nr.  578:  Triptychon,  in  der  Mitte  die  Anbetung  der  Könige 
mit  seitlicher  Anordnung,  rechts  Maria  und  Joseph,  links  die  drei  Könige, 
der  eine  den  Hut  schwenkend;  auf  den  Flügeln  links  die  Anbetung  des 
Kindes,  rechts  die  Flucht  nach  Ägypten.  Ganze  Figuren. 

4.  Gent,  Museum:  Fragment  einer  Anbetung  der  Könige.  Links 
ist  noch  das  Kind  sichtbar  und  Joseph.  Von  rechts  kniet  der  erste 
König,  neben  dem  der  zweite  steht.  Im  Mittelgrund  packen  zwei  Männer 
einen  Koffer  aus. 

5.  Haag,  Mauritshuis,  Nr.  433:  Triptychon  mit  dem  Götzendienst 
Salomons  in  der  Mitte,  dem  Besuch  der  Königin  von  Saba  auf  dem 
einen,  der  Erscheinung  Jehovas  vor  Salomon  auf  dem  andern  Flügel. 
Stiftung  von  W.  S.  Maertensz  und  A.  C.  Eeuwoutsz;  der  erstere  in  St. 
Gudule  in  Brüssel  begraben. 

6.  Hannover,  Kestnermuseum,  Nr.  31:  Anbetung  der  Könige.  Rechts 
Maria  und  Joseph,  von  links  nahen  die  drei  Könige. 

7.  Heidelberg,  Privatbesitz  (Prof.  Lossen):  Anbetung  der  Könige. 
Mittelstück  eines  Triptychons.  Maria  sitzt  in  der  Mitte,  rechts  kniet 


Zwei  Orley-Schüler. 


255 


der  älteste  König,  dahinter  der  Mohr;  von  links  naht  der  zweite  König; 
einer  vom  Gefolge  trägt  eine  sternbesäte  Fahne;  links  hinten  ein  Knecht 
im  Stall.  Nicht  sehr  gut  erhalten. 

8.  Karlsruhe,  Gemäldegalerie,  Nr.  145  (Art  der  Frühzeit  des  Herri 
met  de  Bles):  Anbetung  der  Könige.  Zentrale  Anordnung.  Datiert  1519. 
Mittelstück  eines  Triptychons.  Die  Flügel  in  Basel  Nr.  110  und  in; 
auf  dem  einen  die  Anbetung  des  Kindes,  auf  dem  andern  die  Flucht 
nach  Ägypten.  3) 

9.  Leiden,  im  Besitz  von  Herrn  Archivar  Overvoorde,  leihweise  in 
der  Lakenhai  ausgestellt:  Kreuzigung.  Links  vor  den  Kreuzen  Maria, 
Johannes  und  zwei  Frauen.  Dahinter  Longinus  und  ein  Reiter.  Rechts 
der  Hauptmann  zu  Pferd,  zwei  Soldaten  und  zwei  andere  Männer.  Mag- 
dalena umfaßt  das  Kruzifix. 

10.  Leiden,  St.  Annahofje:  Triptychon  mit  der  Anbetung  der  Kö- 
nige. In  der  Mitte  rechts  Maria,  links  der  erste  König  kniend,  neben 
ihm  der  zweite  stehend;  auf  dem  linken  Flügel  der  Mohr,  auf  dem  rechten 
Joseph.  Ganze  Figuren. 

11.  München,  Pinakothek,  Nr.  162  — 164:  Triptychon  mit  der 

Epiphanie.  Wiederholung  des  Utrechter  Hauptwerkes  mit  Veränderungen. 
Kniiestück. 

12.  Utrecht,  erzbischöfl.  Museum:  Triptychon  mit  der  Anbetung 
der  Könige,  die  auf  die  drei  Tafeln  verteilt  ist.  In  der  Mitte  vier 
Figuren,  links  der  Mohr,  rechts  Joseph.  Kniestück.  (Dülberg,  Früh- 
holländer II.) 

13.  — Kleineres  Triptychon  mit  der  Adoration  in  der  Mitte,  rechts 
die  Flucht  .nach  Ägypten,  links  Anbetung  des  Kindes.  Ganze  Figuren. 
Fraglich,  etwas  abweichende  Typen. 

14.  — Sippenbild. 

15.  Wien,  Czernin:  Zwei  Flügel,  auf  dem  einen  der  Mohr,  auf  dem 
anderen  Joseph.  Wiederholung  der  Seitenteile  des  großen  Utrechter  Trip- 
tychons mit  anderer  Landschaft,  mit  veränderten  Kostümen;  der  Mohr 
hält  den  Szepter  nach  oben  statt  wie  dort  nach  unten. 

16.  Wörlitz:  Replik  des  Utrechter  Hauptwerkes  nach  Dülberg,  Früh- 
holländer II  S.  16,  mir  nicht  bekannt. 

17.  Versteigerung  Ruffo  de  Bonneval  de  la  Fare  in  Brüssel,  23.  Mai 
1900,  Nr.  7 (»Orley«):  Anbetung  der  Könige.  Halbfigurige  Breitkom- 
position auf  einer  Tafel. 


3)  Hymans  (C.  v.  Mander  I,  1 1 1)  schreibt  die  Bilder  Jacob  Cornelisz  zu,  viel- 
leicht, wie  der  Baseler  Katalog  vermutet,  auf  Grund  des  Triptychons  im  Haag,  das  eine 
Zeitlang  diesem  mit  Unrecht  gegeben  wurde. 


256 


Wilhelm  R.  Valentiner: 


18.  Dieselbe  Versteigerung  Nr.  8 (»Orley«):  Anbetung  der  Könige, 
Triptychon.  In  der  Mitte  im  Dreiecksaufbau  rechts  Maria,  links  der 
älteste  König,  dazwischen  Joseph.  Auf  dem  linken  Flügel  der  zweite 
König,  auf  dem  rechten  der  Mohr.  Ganze  Figuren. 

19.  Versteigerung  bei  Fred.  Müller  in  Amsterdam  in  einem  der 
letzten  Jahre,  Auktionskatalog  Nr.  46  : Anbetung  der  Könige,  Triptychon. 
Veränderte  Wiederholung  des  vorigen. 

20.  Dieselbe  Versteigerung  Nr.  47:  Anbetung  der  Könige,  Halb- 
figuren. Triptychon.  In  der  Mitte  im  Dreiecksaufbau  Maria,  der  älteste 
König  und  Joseph.  Rechts  und  links  die  zwei  anderen  Könige. 

21.  Versteigerung  bei  Helbing  in  München  1901  (»Jan  Swart«), 
(Reproduktion  in  Helbings  Monatsberichten  I,  Heft  5,  Taf.  5):  Anbetung 
der  Könige  auf  einer  nahezu  quadraten  Tafel,  ganze  Figuren.  Rechts 
Maria  und  Joseph,  links  die  drei  Könige  und  zwei  Männer  vom  Gefolge. 

22.  Versteigerung  Gräfin  Rümerskirch  (Salzburg)  bei  Helbing  in 
München,  23.  März  1903  Nr.  99  und  100  (»Utrechter  Schule«): 

a)  Die  Gefangennahme  Christi.  Links  der  Judaskuß,  rechts  vorn 
Petrus  und  Malchus,  links  hinten  Christus  am  Ölberg. 

b)  Die  Auferstehung.  Christus  steht  mit  dem  Kreuzesstab  in  der 
Hand  auf  dem  geschlossenen  Sarkophag,  den  fünf  Bewaffnete  umgeben. 
Rechts  hinten  die  drei  Kreuze.  (Vorher  oder  später  noch  einmal  bei 
Helbing  versteigert  als  »Meister  der  Anbetung  der  hl.  drei  Könige«.) 

23.  Zeichnung  in  der  Albertinasammlung  in  Wien  (Schönbr.  u. 
Meder  635):  Madonna  auf  einem  Thron  mit  zwei  weiblichen  Heiligen, 
links  hinten  Joseph.  Fraglich. 

Nach  Diilberg  gibt  es  in  »italienischen  Museen  bis  na,ch  Palermo 
ftin«  Wiederholungen  des  Utrechter  Hauptbildes.  In  Oberitalien  sind 
mir  nur  Werke  des  gleich  zu  besprechenden  zweiten  Orleyschiilers,  der 
leicht  mit  dem  Meister  der  Utrechter  Adoration  zu  verwechseln  ist,  be- 
gegnet. Die  Esthergeschichte  in  Bologna,  die  Diilberg  in  diesem  Zu- 
sammenhang erwähnt,  zeigt  wohl  in  der  Dekoration  (man  vergleiche  auch 
die  Albertinazeichnung)  einige  Beziehungen,  die  mir  aber  für  eine  Zu- 
weisung an  den  Künstler  nicht  entscheidend  genug  scheinen. 

Sollte  die  Zusammengehörigkeit  der  aufgereihten  Werke  begründet 
werden,  so  wäre  mit  den  Tafeln  in  Utrecht,  München,  Wien,  Brüssel, 
Wörlitz  zu  beginnen.  Da  sie  unter  sich  fast  identisch  sind,  so  ist 
n.ur  darauf  hinzuweisen,  daß  sich  dabei  nicht  Kopien  von  andrer  Hand 
befinden,  wie  man  bisweilen  annimmt,  vielmehr  die  Werke,  nach  der 
gemeinsamen  Technik  zu  urteilen,  im  Einzelnen  veränderte  Wieder- 
holungen eines  und  desselben  Meisters  sind.  Ebenso  ist  der  Zusammen- 
hang der  zweiten  Gruppe  von  Adorationen,  der  Kompositionen  in  ganzer 


Zwei  Orley-Schüler. 


257 


Figur,  mit  den  Bildern  der  Versteigerung  bei  Helbing,  in  Hannover,  im 
St.  Annahofje  in  Leiden  evident.  Einige  Figuren  sind  fast  wörtlich 
wiederholt,  wie  der  älteste  König  auf  dem  Leidener  Bild  und  dem 
bei  Helbing,  der  zweite  auf  letzterem  und  dem  in  Hannover.  Der 
Künstler  hat  ein  gewisses  Repertoire  von  Gestalten,  die  er  mit  kleinen 
Variationen  in  den  Kostümen  bald  hier  bald  da  aufstellt,  so  daß  der 
Nachweis  der  Gemeinsamkeit  einer  Gruppe  und  dieser  wieder  mit  einer 
anderen  recht  leicht  gemacht  ist.  Wiederholt  der  Künstler  die  ganze 
Komposition,  wie  bei  dem  Triptychon  der  Auktion  de  Ruffo  Nr.  8 
und  dem  der  Amsterdamer  Versteigerung  Nr.  46,  so  sind  die  Verände- 
rungen im  Detail  doch  wieder  so  selbständig,  daß  unmöglich  an  einen 
Kopisten  gedacht  werden  kann.  Die  beiden  anderen  Werke,  die  auf 
diesen  Auktionen  vorkamen,  beides  Darstellungen  in  Dreiviertelfiguren, 
die  unter  sich  in  der  Stellung  des  Kindes  übereinstimmen,  vermitteln 
zwischen  der  ersten  und  zweiten  Gruppe,  indem  der  Joseph  der  Auktion 
bei  Fred.  Müller  Nr.  47  mit  seiner  lehrhaft  vorgestreckten  Rechten  und 
seinem  Strohhut  auf  dem  Kopfe  ganz  der  des  Leidener  Altarbildes 
ist  und  andrerseits  der  Typus  der  Maria,  die  Bildung  ihrer  Hände 
auf  dem  von  Ruffo  verkauften  Bild  gut  mit  dem  Utrechter  Hauptwerk 
zusammengeht. 

Etwas  mehr  Interesse  als  diese  Reihe  von  wenig  inhaltsvollen  Ado- 
rationen  gewinnen  uns  die  fünf  Darstellungen  mit  anderen  Motiven  ab, 
das  Iriptychon  im  Haag,  das  Bild  von  Overvoorde,  die  zwei  Tafeln  der 
Versteigerung  Gräfin  Rümerskirch,  die  Albertinazeichnung.  Die  Leidener 
Kreuzigung,  ein  relativ  frühes,  noch  mit  einiger  Sorgfalt  ausgeführtes 
Werk,  ist  in  der  gedämpften  dumpfen  Farbstimmung,  aus  der  hie  und 
da  ein  paar  kräftige  Töne  hervorleuchten,  in  der  reich  gegliederten  und 
doch  geschlossen  komponierten  Landschaft  ein  recht  annehmbares  Ge- 
mälde, obgleich  der  Künstler  in  dem  anerkennenswerten  Bestreben  zu 
charakterisieren  mehrfach  in  die  Karrikatur  verfällt.  Ähnlich,  wie  auf 
den  zeitlich  nahestehenden  Passionsszenen  der  Auktion  bei  Helbing,  die 
sich  gut  zum  Vergleich  eignen!  Kehrt  doch  das  abschreckende  Profil 
der  Magdalena  und  des  berittenen  Hauptmannes  mit  der  hängenden 
Nase  und  dem  vorgeschobenen  Kinn  fast  genau  bei  dem  Christus  der 
Gefangennahme  wieder,  während  der  Gekreuzigte  auf  dem  Leidener  Bild 
die  gleiche  merkwürdige  Zeichnung  der  Beine  wie  dort  der  Auferstandene 
aufweist.  Andere  Vergleichspunkte  bilden  Longinus  hier,  der  schlafende 
Wächter  links  am  Grab  dort,  der  Landsknecht  mit  dem  Spitzbart  rechts 
vorn  auf  der  Kreuzigung,  dessen  Typus  auf  der  Gefangennahme  vor- 
kommt, die  seltene  Form  des  aufgerollten  Schildes,  die  Augenfalten  der 
Gewänder,  die  Landschaft.  Auch  die  seltsame  Ohrbildung,  an  der  ein 


25B 


Wilhelm  R.  Valentinen 


berühmter  italienischer  Gelehrte  seine  Freude  gehabt  hätte,  ist  für  den 
Meister  charakteristisch. 

Diese  gab  wohl  zuerst  Veranlassung,  das  Haager  Triptychon  mit 
der  großen  Utrechter  Adoration  zusammenzustellen.  4)  Fast  wäre  die 
groteske  Ohrform  schon  allein  Grund  genug,  um  diese  zwei  Werke 
demselben  Künstler  zuzuweisen.  Denn  sie  wiederholt  sich  bei  keinem 
Meister  der  Zeit,  obgleich  eine  Anregung  zu  der  Bildung  vielleicht 
in  Engelbrechtsens  breiten  Ohrmuscheln  gegeben  war.  Da  man  neuer- 
dings aber  wieder  Zweifel  an  der  Zusammengehörigkeit  ausgesprochen 
hat, 5)  so  weise  ich  noch  auf  einige  Merkmale  des  Künstlers,  die  sich 
an  den  meisten  seiner  Werke,  und  so  auch  an  den  Haager  Tafeln  be- 
obachten lassen.  Dazu  gehört  vor  allem  die  Bildung  des  Mundes: 
Er  ist  klein,  rundlich,  fischähnlich  geformt,  gewöhnlich  leicht  geöffnet, 
so  daß  die  Köpfe  einen  geistlos  lächelnden  Ausdruck  erhalten.  Die 
Finger  haben,  wie  Dülberg  schon  bemerkte,  besonders  lange  Nägel.  Die 
mehrfach  vorkommende  Handhaltung,  bei  der  die  vier  Finger  horizontal 
ausgestreckt  sind  und  der  Daumen  anliegt  (Haag,  Karlsruhe,  Versteige- 
rung in  Amsterdam)  könnte  er  von  Herri  met  de  Bles  übernommen  haben, 
dem  er  auch  das  Motiv  des  Hutltiftens  in  der  Anbetungsdarstellung  absah. 
Den  Kapuzenmann,  der  im  Hintergrund  des  Haager  Triptychons  und  ganz 
in  demselben  schmutziggelben  Kostüm  auf  der  Anbetung  im  St.  Anna- 
hofje  vorkommt,  kennt  ebenfalls  der  Antwerpener  Meister,  wenngleich 
der  Künstler  ihn  auch  Engelbrechtsen  entlehnt  haben  könnte.  Ein 
Typus,  der  des  alten  Königs  auf  dem  Utrechter  Hauptbild  und  auf  der 
Karlsruher  Anbetung  und  des  alten  Mannes  rechts  auf  dem  Mittelbild 
des  Haager  Werkes,  wird  auf  ein  wirkliches  Modell  zurückgehen. 
Sonst  sind  die  Gestalten  in  der  Gesichtsbildung,  wie  schon  bemerkt, 
recht  schematisch  und  einförmig.  Mehr  Geschick  beweist  der  Künstler 
im  Entwerfen  von  Ornamenten,  im  Komponieren  phantastischer  Archi- 
tekturen und  kunstgewerblicher  Gegenstände,  wie  der  Gefäße  der  drei 
Könige,  obgleich  dem  Künstler  der  Sinn  für  organische  Durchbildung, 
für  feine  Ausführung  vollkommen  mangelt.  Auch  ist  er  ein  schwacher 
Zeichner  und  versteht  es  nicht,  kreisförmige  Gebilde  korrekt  wiederzu- 
geben, was  um  so  verwunderlicher  ist,  als  er  es  liebt,  Ringe  an  seinen 
Säulen  oder  Szeptern  oder  Prunkgegenständen  anzubringen.  An  seinen 
Dekorationen  läßt  sich  gut  das  Eindringen  der  Renaissance  beobachten. 
Die  15x9  datierte  Anbetung  der  Könige  in  Karlsruhe  steht  mitten  im  Übergang. 

4)  C.  Hofstede  de  Groot  hat  schon  vor  mehreren  Jahren  erkannt,  daß  die  beiden 
Werke  von  einer  Hand  herrühren.  Neuerdings  hat  wieder  Dülberg  darauf  hingewiesen. 

5)  W.  Martin  in  »De  Nederlandsche  Spectator«,  1904  Dez.,  gelegentlich  der  Be- 
sprechung von  Dülbergs  Frühholländern  Bd.  II. 


Zwei  Orley-Schiiler. 


259 


Die  zeitliche  Anordnung  der  übrigen  Werke  ist  nicht  ganz  leicht, 
wenngleich  sich  sagen  läßt,  daß  die  Haager  Tafeln,  die  Karlsruher  und 
die  Utrechter  Anbetung,  sowie  die  Albertinazeichnung,  vielleicht  auch  das 
Gemälde  in  Hannover,  in  derselben  Periode  entstanden  sein  müssen. 
Es  ist  die  Zeit,  in  welcher  der  Künstler  am  stärksten  unter  dem  Einfluß 
des  Bles  stand,  vielleicht  eine  Übergangsphase  zwischen  einer  Nachfolge 
des  Engelbrechtsen  und  des  Orley,  ein  Aufenthalt  in  Antwerpen  zwischen 
einem  solchen  in  Holland  und  in  Brüssel.  Da  der  Meister  für  Leiden 
und  vermutlich  auch  für  Utrecht  tätig  war  und  zudem  holländisches 
Temperament  und  holländische  Formensprache  aus  seinen  Gemälden 
spricht,  so  könnte  man  annehmen,  daß  er  Holländer  von  Abstammung 
war,  vielleicht  Leidener;  denn  der  Stifter  der  kleinen  Kapelle  des  St.  Anna- 
hofjes  wird  sich  für  die  Herstellung  des  Altargemäldes  vermutlich  an 
einen  einheimischen  Künstler  gewandt  haben;  auch  die  andere  kleine 
Tafel  der  Kapelle,  die  dreißig  Jahre  später  geschenkt  wurde,  ist  das  Werk 
eines  Leidener  Künstlers,  wie  ich  glaube,  Aerties  von  Leiden.  Freilich 
darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  der  Annahme  einer  Entwicklung 
von  holländischen  Stileigentümlichkeiten  nach  denen  des  Antwerpener 
und  Brüsseler  Künstlers  hin  die  Schwierigkeit  im  Wege  steht,  daß  bereits 
die  Werke,  welche  den  Einfluß  des  Engelbrechtsen  verraten  wie  die 
Leidener  Kreuzigung,  die  Tafeln  mit  den  Passionszenen  die  Kenntnis 
des  Orleystiles  vorauszusetzen  scheinen , wie  denn  überhaupt  dieser 
Meister  in  erster  Linie  vorbildlich  für  unseren  Künstler  wurde.  Ihm 
entnahm  er  das  Schema  seiner  Anbetungskompositionen,  die  niedrigen 
gedrungenen  Verhältnisse  seiner  Figuren,  die  Vorliebe  für  Waffen,  Rüstungen, 
kriegerisches  Gefolge,  das  Bestreben  nach  vereinfachender  dekorativer 
Gestaltung,  das  ihn  wie  Orley  gelegentlich  dazu  führte  in  lebensgroßem 
Maßstab  zu  entwerfen.  Dem  gegenüber  äußern  sich  die  Beziehungen 
zu  Engelbrechtsen  in  unwesentlicheren  Dingen.  So  scheint  der  Aufbau 
der  Landschaft  auf  den  Passionsbildern,  der  Wechsel  von  mäßig  an- 
steigenden Höhen  und  einzelnen  schroffen  Felsen,  von  still  verborgenen 
Bauernhütten,  vor  denen  eine  vereinzelte  dichtbelaubte  hohe  Baumgruppe 
aufragt,  und  einer  in  der  vordersten  Talsenkung  sich  breit  ausdehnenden 
Stadt,  dem  Hintergrund  der  Werke  des  Leidener  Hauptmeisters,  etwa 
dem  Beweinungsaltar  entnommen.  Auch  die  mageren  Gesichter  mit  vor- 
tretenden Backenknochen  auf  diesen  Bildern,  eine  Einzelheit  wie  die, 
daß  die  Schächer  im  Gegensatz  zu  Christus  an  unbehauenen  Kreuzen 
hängen,  die  eigentümliche  Verkürzung  des  Kopfes  der  links  stehenden 
weiblichen  Heiligen  auf  der  Albertinazeichnung,  erinnert  an  ihn. 

War  der  Künstler  Leidener  Herkunft,  so  braucht  man  sich  nicht 
lange  nach  dem  Grund  zu  fragen,  der  ihn  bestimmt  haben  könnte,  nach 


2 6o 


Wilhelm  R.  Valentiner: 


Belgien  zu  ziehen.  Van  Mander  erzählt  von  Cornelis  Cornelisz  Kunst, 
dem  einen  Sohn  des  Engelbrechtsen,  daß  er  sich  für  einige  Jahre  nach 
Brügge  begeben  habe,  da  in  der  Heimatsstadt  nichts  zu  verdienen  war. 
Dessen  Lebenszeit  muß  mit  der  des  Meisters  der  Utrechter  Adoration 
zusammenfallen.  Doch  wäre  es  verwegen,  auf  Grund  unsicherer  Hypo- 
thesen an  eine  Identifizierung  denken  zu  wollen. 


Eine  Kreuzung  von  Elementen  des  Stiles  des  Orley  und  Bles 
charakterisiert  auch  den  Zwillingsbruder  dieses  Künstlers,  den  ich  nach 
einem  seiner  besseren  Werke  den  Meister  des  Dresdener  Trip- 
tychons nenne.  Folgende  Werke  scheinen  mir  von  seiner  Hand: 

1.  Brüssel,  Museum  Nr.  119:  Triptychon  mit  der  Anbetung  der 
Könige  in  der  Mitte,  links  die  Verehrung  des  Kindes,  das  auf  einem 
Pilastersockel  liegt,  rechts  die  Darstellung  im  Tempel. 

2.  Dresden,  Gemäldegalerie,  Nr.  809:  Triptychon,  Mitte:  Anbetung 
der  Könige,  links  Verehrung  des  Kindes  durch  Maria,  das  Kind  liegt 
am  Boden  auf  dem  Mantel  der  Maria;  rechts  Darstellung  im  Tempel. 

3.  Genua,  Pal.  Bianco  (als  Q.  Massys):  Anbetung  der  Könige  in 
der  Mitte,  links  Verkündigung,  rechts  Ruhe  auf  der  'Flucht.  Das  Mittel- 
bild veränderte  Wiederholung  der  Dresdener  Adoration. 

4.  Gotha,  Museum:  Triptychon,  in  der  Mitte  Anbetung  der  Könige, 
links  Anbetung  des  Kindes  durch  Maria,  rechts  Beschneidung.  Viel- 
leicht vom  Meister  der  Utrechter  Adoration.6) 

5.  Mailand,  Brera:  Anbetung  der  Könige,  Mittelstück  eines  Tripty- 
chons. Wiederholung  der  Dresdener  Komposition. 

6..  München,  Nationalmuseum:  Dreiteiliger  Flügelaltar  in  der  Mitte 
die  Kreuzigung,  links  die  Kreuztragung,  rechts  die  Grablegung. 

7.  Schleißheim:  Triptychon  mit  der  Anbetung  der  Könige  in  der 
Mitte  (Wiederholung  der  Dresdener  Komposition),  der  Verkündigung  auf 
dem  linken,  der  Ruhe  auf  der  Flucht  auf  dem  rechten  Flügel. 

8.  Worms,  Freiherr  v.  Heyl:  die  Verkündigung,  Düsseldorfer  Aus- 
stellung 1904  Nr.  175. 

9.  Versteigerung  in  Köln  (Lempertz)  in  einem  der  letzten  Jahre: 
Triptychon,  Mitte:  Anbetung  des  Kindes  durch  Maria,  Hirten  und  Engel, 
links  Verkündigung  an  Maria,  rechts  Beschneidung. 


6)  Die  Unterschiede  der  beiden  Künstler  waren  mir,  als  ich  das  letzte  Mal  in 
Gotha  war,  noch  nicht  ganz  klar.  Ich  schrieb  das  Werk  damals  derü  Meister  des 
Dresdener  Triptychons  zu.  Nach  meinen  Notizen  muß  aber  das  Mittelbild  fast  identisch 
sein  mit  dem  Bild  bei  Lossen  in  Heidelberg,  das  sicher  von  dem  Künstler  des  Utrechter 
Werkes  herrührt. 


Zwei  Orley-Schliler. 


261 


Einen  allgemeinen  Zusammenhang  mit  dem  Stil  des  Künstlers 
zeigen  noch  die  Anbetung  der  Könige  in  Groß-Kochberg  (Erfurter  Aus- 
stellung), die  Madonna  bei  Schulte  in  Berlin  (Düsseldorfer  Ausstellung), 
eine  Verkündigung  in  der  Sammlung  Hoogendijk  im  Haag.  An  Nr.  9 
erinnert  in  einigen  Punkten  die  altertümlichere  Anbetung  des  Kindes 
durch  die  Hirten  auf  der  Versteigerung  de  Ruffo  de  Bonneval  de  la 
Fare,  Brüssel  1900  Nr.  2 (»Engelbrechtsz«). 

Ohne  weiteres  ist  ersichtlich,  daß  die  Werke  in  Dresden,  Genua, 
Mailand,  Schleißheim  von  derselben  Hand  herriihren.  Es  sind  freie 
Wiederholungen  der  gleichen  Komposition,  bei  denen  Änderungen  allein 
in  der  Stellung  der  Figuren  zu  einander,  in  den  Hintergrundsgestalten, 
in  der  Architektur  vorgenommen  sind.  Das  Brüsseler  Triptychon  erscheint 
dem  Dresdener  überlegen,  die  Figuren  sind  gestreckter,  geistreicher  und 
sensibler  gezeichnet,  der  Stil  steht  dem  des  Bles  noch  näher  als  in  jenem 
Werk.  Ein  näherer  Vergleich,  der  sich  bei  der  Wiedergabe  derselben 
Darstellungen  auch  auf  den  Flügeln  leicht  anstellen  läßt,  erweist  aber 
doch  die  gleiche  Hand  in  der  Ausführung.  Schon  die  allgemeine  An- 
ordnung wie  die  Formen  der  Architektur  sind  sehr  verwandt:  die  ge- 
drückten Rundbogen,  von  denen  hie  und  da  konstruktiv  sinnlose  halb- 
gotische Steinornamente  hängen,  die  Rosette  am  Ende  der  Renaissancehalle, 
der  von  dicken  Säulen  getragene  Tisch  auf  der  Darstellung  im  Tempel, 
über  dem  hoch  oben  ein  Baldachin  schwebt.  Aber  auch  einzelne  Typen 
ergeben  Vergleichspunkte,  wie  die  Frau  auf  dem  rechten  Flügel,  die  mit 
der  Kerze  in  der  Hand  in  Gedanken  versunken  zum  Altar  schreitet, 
der  Kopf  des  ältesten  Königs,  der  Engel  mit  dem  Band  auf  der  linken 
Tafel,  welcher  den  längst  am  Ziel  angelangten  Hirten  erscheint.  Mit  dem 
Brüsseler  Werk  ist  auch  der  Übergang  zu  dem  der  Kölner  Versteigerung 
gewonnen,  das  nach  der  Datierung  in  den  zwanziger  Jahren  entstanden 
ist  und  mit  jenem  zusammen  zu  den  geschicktesten  Kompositionen  des 
Künstlers  gehört.  Die  Architektur,  in  deren  Formen  er  ebenso  wie  der 
ihm  verwandte  Künstler  mannigfaltiger  als  in  seinen  Gestalten  ist,  macht 
einen  reichen  und  anmutigen  Eindruck  (der  Erker  an  der  Säulengalerie 
kehrt  ähnlich  auf  dem  Bild  in  Genua  wieder).  Im  Mittelbild  ist  der 
stürmische  Jubel  über  die  Geburt  des  Kindes  in  den  exzentrisch  ver- 
zückten Gesten,  den  rauschend  flatternden  Gewändern  der  Engel,  die  wie 
von  einem  Wirbelwind  in  Scharen  getrieben  werden,  in  dem  eilig  herbei- 
laufenden Joseph,  der  vor  Aufgeregtheit  die  schützende  Hand  viel  zu 
hoch  über  die  Kerze  hält,  lebendig  empfunden. 

Es  wäre  zwecklos,  viele  Worte  über  den  Künstler  zu  verlieren. 
Über  ihn  wie  über  seinen  Geistesgenossen,  der  ihm  manchmal  so  nahe 
kommt,  daß  man  versucht  sein  könnte  ihn  mit  jenem  zu  identifizieren. 


2Ö2 


Wilhelm  R.  Valentinen  Zwei  Orley-Schüler. 


Beide  sind  von  der  Natur  ebenso  weit  entfernt  wie  von  einem  dekora- 
tiven Phantasiestil,  um  den  sie  sich  mühen.  Kleine  Erfolge  in  dem 
Streben  nach  geschlossener  Flächenkomposition  — der  Utrechter  wendet 
gelegentlich  den  italienischen  Dreiecksaufbau  an  — nach  Stimmungstönen 
in  der  Landschaft,  die  diesem  bisweilen  glücken,  oder  sprechendem 
Mienenspiel,  das  die  Gestalten  des  Vlamen  manchmal  auszeichnet,  wiegen 
nicht  den  Mangel  an  guter  gesetzmäßig  sich  entwickelnder  Raum- 
disposition, an  mannigfaltiger  Charakteristik  der  Typen,  selbst  nur  an 
korrekter  Zeichnung  und  solider  Mache  auf.  Die  zierliche  Beweglichkeit 
der  Gestalten  des  Bles  wird  zur  angelernten  Manier  und  abgezirkelten 
Pedanterie,  das  kriegerische  Gepränge  des  Orley  zum  unwürdigen  Auf- 
putz. Wo  die  Künstler  zusammen  vertreten  sind,  wie  in  der  Brüsseler 
Galerie,  fallen  sie  mit  einigen  anderen  Geistesverwandten  unter  dem  Zug 
würdig  feierlicher  Primitiven  und  dem  feinsinniger  vlämischer  Renaissance- 
künstler, die  einen  raffinierten  Dekorationsstil  für  Kunstaristokraten  er- 
sannen und  schwierigste  Probleme  virtuos  und  stets  reizvoll  lösten,  durch 
ungehobeltes  Benehmen  auf.  Sie  verdienen  kaum  den  Namen:  hand- 
werksmäßige Künstler,  da  sie  vom  Handwerker  wenig,  vom  Künstler 
noch  weniger  in  sich  trugen. 


Inzwischen  ist  mir  noch  je  ein  Werk  des  einen  und  des  anderen 
Künstlers  bekannt  geworden.  Das  eine  nur  durch  eine  Phot'"  j.aphie. 
Es  ist  ein  Triptychon  in  Palermo,  welches  in  der  Mitte  eine  Anbetung 
des  Kindes  durch  Maria  und  Engel,  links  eine  Verkündigung,  rechts 
die  Madonna  mit  dem  Kiiyde  an  der  Brust  in  einer  Landschaft  zeigt. 
Den  besprochenen  Werken  des  Meisters  des  Dresdener  Triptychons  wäre 
es  als  Nr.  io  anzufügen. 

Das  andere,  eine  Arbeit  des  Meisters  der  Utrechter  Adoration  (als 
Nr.  24  der  Liste)  befindet  sich  im  Museum  von  Alkmaar  und  stammt  aus 
dem  katholischen  Waisenhaus  der  Stadt.  Die  Herkunft  weist  also  wie 
die  einiger  anderer  Werke  auf  Holland  als  Heimat  des  Künstlers.  Dar- 
gestellt ist  in  der  Mitte  eine  Anbetung  der  Könige  in  gänzen  Figuren, 
welche  die  Komposition  in  Hannover  nur  wenig  variiert,  auf  dem  linken 
Flügel  eine  Verehrung  des  Kindes  (einer  der  Zuschauer  in  gelber  Kapuze), 
auf  dem  rechten  die  Flucht  nach  Ägypten.  Bei  der  Rohheit  der  Aus- 
führung kann  kein  Bedauern  aufkommen  über  den  ruinösen  Zustand  der 
Tafeln. 


Zu  der  Rekonstruktion  der  Namatiuskirche  in  der  Stadt 
der  Arverner  (Clermont-Ferrand). 

Für  unsere  Kenntnis  frühgallischer  Kirchenbaukunst  sind  wir 
heute  noch  zum  größten  Teil  auf  Beschreibungen  und  gelegentliche 
Erwähnungen  bei  Schriftstellern  angewiesen,  die  nicht  immer  den  Vor- 
zug sofortiger  Klarheit  und  Eindeutigkeit  haben.  Sind  es  Stellen  aus 
Dichtungen,  welche  zugrunde  zu  legen  sind,  so  ist  die  Rechnung  mit 
poetischer  Lizenz  von  vornherein  an  die  Hand  gegeben.  Aber  selbst 
Gregors  von  Tours  auf  archivalischem  Material  und  exakter  Maßangabe 
beruhende  Berichte  sind  nicht  frei  von  diskutierbaren  Unklarheiten.  So 
bietet  die  Beschreibung,  welche  er  uns  von  der  im  5.  Jahrhundert 
durch  den  Bischof  Namatius  in  der  Stadt  der  Arverner  erbauten  »Kirche« 
hinterlassen  hat,  der  Interpretation  an  zwei  Stellen  besondere  Schwierig- 
keiten. Gregor  berichtet  einmal,  daß  der  Bau  inante  absidam  rotun- 
dam,  ferner,  daß  er  ab  utroque  latere  ascellas  eleganti  constructas  opere 
besitze.  Zum  Verständnis  des  Ausdruckes  inante  zunächst  ist  die  Kenntnis 
von  Gregors  Gesamtbericht  unerläßlich:1)  Hic  (seil.  Namatius  episcopus) 
ecclesiam,  qui  nunc  constat  et  senior  intra  murus  civitatis  habetur,  suo 
Studio  fabricavit,  habentem  in  longo  pedes  CL,  in  lato  pedes  LX,  id 
est  infra  capso,  in  alto  usqne  cameram  pedes  L:  inante  absidam  rotun- 
dam  habens,  ab  utroque  latere  ascellas  eleganti  constructas  opere,  totumque 
aedeficium  in  modum  crucis  habetur  expositum.  Habet  fenestras  XLII, 
columnas  LXX,  ostia  VIII.  Terror  namque  ibidem  Dei  et  clarita  magna 
conspicitur;  et  vere  plerumque  inibi  odor  suavissimus  aromatum  quasi 
advenire  a religiosis  sentitur.  Parietes  ad  altarium  opere  sarsurio  et 
multa  marmorum  genera  exornatos  habet.  Zur  Lokalisierung  des  inante 
ist  es  von  Bedeutung,  daß  Gregor  an  erster  Stelle  Rücksicht  auf  das 
Langhaus  nimmt,  indem  er  dessen  Maße  verzeichnet.  Danach  sollte  man 
aber  vermuten,  er  habe  seinen  Standpunkt  hier  genommen  und  spreche 
in  diesem  Sinne  von  einer  inante  befindlichen  Apsis.  Dann  läge  diese 
nach  vorn  zu,  vom  Beschauer  aus  in  üblicher  Weise  gerechnet,  als  Ziel- 
punkt für  den  im  Langhaus  weilenden  Beschauer.  Gregor  hält  diesen 
Standpunkt  auch  weiterhin  dann  noch  fest,  indem  er  den  Weihrauchduft 

*)  i.  Mon.  Germ.  hist.  SS.  rer.  Merov.  I.  p.  82,  bei  J.  von  Schlosser,  Quellen- 
buch zur  Kunstgeschichte  des  abendländischen  Mittelalters,  1896,  S.  43. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


19 


264  Felix  Witting:  Zu  der  Rekonstruktion  der  Namatiuskirche  usw. 

von  den  religiosi  herankommen  läßt.  Daß  nur  eine  Apsis  vorhanden 
war,  dafür  spricht  auch  der  Passus:  Parietes  ad  alterium  opere  sarsurio 
et  multa  marmorum  genera  exornatos  habet. 

Was  den  Ausdruck  ascella  anlangt,  so  darf  wohl  v.  Schlossers 
Übersetzung  mit  Latte2 3 4 *)  zurückgewiesen  werden,  vielmehr  Quicherats 
Ansicht,  3)  es  seien  damit  bras  en  saillie  gemeint,  als  die  plausibelste 
Interpretation  gelten.  Ähnlich  äußern  sich  auch  die  Herausgeber  der 
Monumenta  Germaniae,  welche  das  Wort  ascella  an  dieser  Stelle  in 
Gregors  Schriften  mit  ala  wiedergeben. 4)  Ursprünglich  ist  ascella  gleich 
axilla  und  finden  sich  zur  Bezeichnung  dieses  Körperteils  wiederholt  bei 
Gregor.  So  historia  Francorum  lib.  III.  cap.  18 :5)  Nec  mora,  adpraehensum 
Chlothacharius  puerum  seniorem  brachium  elesit  in  terra  defixumque 
cultrum  in  ascella  crudeliter  interfecit;  lib.  IV.  cap.  31 :6 *)  Nam  nascente  in 
ingenere  aut  in  ascella  vulnus;  lib.  IV.  cap.  33:7)  et  erant  alii  usque  ad 
cingulum,  alii  vero  usque  ascellas  (seil,  im  Wasser);  lib.  VII.  cap.  30 :8 *) 

cumque  Claudius et  ille  non  signiter  sub  ascella  illius  pugionem 

defixisset.  Auch  de  virtutibus  S.  Martini  III,  149)  kehrt  der  Ausdruck 
wieder:  duobus  in  ascellis  fustibus  additis  incurvus  agebat  gressum.  Die 
Übertragung  dieses  Ausdrucks  auf  einen  Teil  eines  architektonischen  Ge- 
bildes kann  gerade  beim  christlichen  Kirchenbau  nicht  befremden.  Fin- 
den wir  doch  gelegentlich  z.  B.  das  Hauptschiff  einer  Basilika  als 
gremium  bezeichnet.10)  Die  Übersetzung  mit  Querhausarme  fügt  sich 
auch  in  den  Zusammenhang  am  günstigsten  ein.  Gregor  erwähnt  erst 
die  Apsis,  auf  beiden  Seiten  derselben  fallen  ihm  die  ascellae  auf,  die 
ihn  dann  veranlassen,  den  Bau  als  in  modum  crucis  erbaut  zu  bezeichnen, 
zu  welcher  Formation  gerade  Querhausarme  unerläßlich  sind.  In  diesem 
Sinne  scheinen  auch  Hugo  Graf,11)  Franz  von  Reber12)  F.  X.  Kraus  *3) 
zu  interpretieren,  wenn  sie  auch  den  Ausdruck  ascella  nicht  ausdrücklich 
herbeiziehen,  und  an  dreischiffiger  Formation  des  Langhauses  ihnen  gegen- 
über jedenfalls  festzuhalten  sein  wird.  Felix  Witting. 

*)  a.  a.  O.  S.  396. 

3)  Restitution  de  la  basilique  de  St.  Martin,  Revue  archeol.  XIX  (1869)  bezw. 
M^langes  d’archeologie,  1886. 

4)  SS.  rer.  Merov.  I.  p.  935.  — 5)  Mon.  Germ.  1.  c.  p.  128. 

6)  1.  c.  p.  168.  — 7)  1.  c.  p.  169.  *)  1.  c.  p.  310.  — 9)  1.  c.  p.  635. 

IO)  Liber  pontificalis  Romanus  c.  34  (bei  J.  von  Schlosser,  a.  a.  O.  S.  61  u.  62)/ 

")  Die  Entstehung  der  kreuzförmigen  Basilika  (opus  francigenum),  1878,  S.  449, 

S.  66  und  Neue  Beiträge  zur  Entstehungsgeschichte  der  kreuzförmigen  Basilika  IV,  in 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XV  (1892),  S.  461. 

,a)  Kunstgeschichte  des  Mittelalters,  1885,  S.  184. 

>3)  Geschichte  der  christlichen  Kunst,  I,  S.  600.  — Vgl.  die  Rekonstruktion  bei 

Hübsch,  die  altchristlichen  Kirchen,  Karlsruhe,  1859 — 63. 


Literaturbericht. 

Kunstgeschichte. 

Emile  Bertaux.  L’Art  dans  l’Italie  meridionale.  Tome  I.  De  la 
fin  de  l’empire  romain  ä 'la  conqu£te  de  Charles  d’Anjou.  Ouvrage 
accompagne  de  404  figures  dans  le  texte,  38  planches  hors  texte  en 
photo typie  et  deux  tableaux  synoptiques.  Paris,  Albert  Fontemoing 
1904.  gr.  in-40  de  XIV  et  835  pages. 

Vor  fünfzig  und  mehr  Jahren  unternahm  es  ein  deutscher  Forscher, 
den  Süden  Italiens  für  die  Kunstgeschichte  zu  entdecken.  Während 
eines  zehnjährigen  Aufenhaltes  im  Lande  hatte  H.  W.  Schulz  mit  nicht 
genug  zu  würdigender  Ausdauer  und  Hingebung  das  Material  zusammen- 
gebracht, auf  dessen  Grundlage  er  die  Geschichte  der  Kunst  Süditaliens 
verfassen  wollte.  Man  kennt  die  Umstände,  die  ihn  an  der  Ausführung 
seines  Vorhabens  hinderten;  man  weiß,  daß  die  nach  seinem  Tode  er- 
schienenen »Denkmäler  der  Kunst  des  Mittelalters  in  Süditalien«  bloß 
das  von  befreundeten  Händen  gesichtete  und  auf  die  im  Titel  angege- 
bene Zeitepoche  eingeschränkte  Material  topographisch  angeordnet  in 
möglichster  Vollständigkeit  enthalten,  wie  solche  bei  der  damaligen  Zu- 
gänglichkeit des  Landes  und  der  Urkundenquellen  dem  Verfasser  zu  er- 
reichen möglich  war.  Die  Aufgabe,  die  Entwicklung  der  Künste  (u.  z. 
nicht  bloß  im  Mittelalter,  sondern  bis  in  die  Renaissance  herab)  syste- 
matisch zu  schildern,  dabei  die  Fabeln  namentlich  der  gewissenlosen 
neapolitanischen  Fälscher  des  18.,  sowie  blinder  Enthusiasten  des  19.  Jahr- 
hunderts wohl  endgültig  auszurotten,  aber  doch  dem  Süden  — gegen- 
über dem  seither  einseitig  bevorzugten  übrigen  Italien  — zu  seinem 
guten  Rechte  zu  verhelfen,  diese  Aufgabe  blieb  nach  wie  vor  zu  lösen. 
Selbstverständlich  war  dabei  nicht  bloß  der  gesamte  vorliegende  Stoff 
einer  nochmaligen  Prüfung  zu  unterwerfen;  es  mußte  auch  alles  sonstige 
Material  herangezogen  werden,  das  entweder  seit  den  Zeiten  von  Schulz 
schon  erschlossen  worden  war,  oder  dessen  Gewinnung  sich  auf  dem 
Wege  neuerlicher  örtlicher  und  urkundlicher  Durchforschung  noch  er- 
reichen ließ,  — alles  dies  unter  Nutzbarmachung  der  vielfältigen  Hilfs- 
quellen, die  die  Forschung  der  letzten  Dezennien  an  Vergleichsmaterial' 


19' 


206 


Literaturbericht. 


zum  Zweck  möglichster  Klarlegung  der  Zusammenhänge  bezw.  Gegen- 
sätze zur  Verfügung  stellte.  Selbstverständlich  mußte  die  Untersuchung 
möglichst  vollständig  auf  alle  Produkte  des  Kunstschaffens  ausgedehnt 
werden. 

Unser  Verfasser,  jetzt  Lehrer  der  Kunstgeschichte  an  der  Univer- 
sität Lyon,  ist  vor  zehn  Jahren  als  Zögling  der  Ecole  de  Rome  im  vollen 
Bewußtsein  ihrer  Schwierigkeit  an  diese  Aufgabe  herangetreten.  Wieder- 
holt hatten  wir  während  dieser  Zeit  Gelegenheit  im  persönlichen  Ver- 
kehr mit  ihm  seine  jugendliche  Begeisterung,  die  alle  Kräfte  einsetzte, 
ebensowohl  wie  die  soliden  Grundlagen  seiner  Bildung,  den  weiten  Um- 
fang seiner  Kenntnisse  zu  beobachten,  — Faktoren,  die  uns  mit  voller 
Zuversicht  für  das  Gelingen  seines  Unternehmens  erfüllten. 

Er  hat  unsere  Erwartungen  nicht  getäuscht,  vielmehr  seine  Auf- 
gabe — soweit  das  Urteil  sich  auf  den  vorliegenden  ersten  Band  gründen 
darf  — geradezu  in  mustergültiger  Weise  gelöst.  Das  physische  Maß 
der  Arbeit,  die  er  daran  gesetzt,  erregt  dabei  ebensosehr  unser  Staunen, 
wie  ihre  geistige  Bewältigung  unsere  Befriedigung.  Wer  jene  Teile 
Italiens  auch  nur  auf  den  durch  die  spärlichen  Bahnlinien  gewiesenen 
Wegen  je  durchreist  hat,  weiß,  daß  ein  derartiges  Unternehmen  nicht  gerade 
unter  die  Rubrik  der  Vergnügungstouren  einzureihen  ist.  Und  doch  er- 
scheint es  als  solches  im  Vergleich  zu  den  Mühen  der  methodischen 
Durchforschung  bis  in  die  entlegensten  Winkel  des  Landes,  wie  sie  der 
Verfasser  vornehmen  mußte!  Welch  neidenswerten  Vorrat  an  Jugend- 
kraft, an  Begeisterung  und  Opfermut  setzt  nur  der  Kampf  mit  all  den 
materiellen  Entbehrungen  und  Hindernissen  voraus;  und  welchen  Auf- 
wand von  geistiger  Arbeit  erfordert  es  dann,  um  eine  solche  Summe  von 
Beobachtungen  und  Anschauungen  zu  einem  wissenschaftlichen  Ganzen 
zu  gestalten!  Wir  beneiden  den  Verfasser  um  jenen,  während  wir  ihn 
aus  vollem  Herzen  zu  diesem  beglückwünschen.  Tritt  in  letzterer  Be- 
ziehung schon  formell  die  klare  Disposition  des  Stoffes  und  der  einheit- 
liche Geist  der  Darstellung  wohltuend  in  Erscheinung,  so  kann,  was  den 
wissenschaftlichen  Wert  des  Inhalts  betrifft,  zuversichtlich  behauptet  wer- 
den, daß  wir  nunmehr  eine  Geschichte  der  Kunst  Süditaliens  besitzen 
(wir  antizipieren  hier  das  binnen  Jahresfrist  in  Aussicht  stehende  Er- 
scheinen des  abschließenden  zweiten  Bandes),  wie  sie  in  gleicher  Aus- 
führlichkeit, Vollständigkeit  und  Erstreckung  auf  alle  Zweige  für  keine 
andere  Kunstprovinz  des  Landes,  weder  für  Toskana,  noch  für  die  Lom- 
bardei oder  Venedig  vorliegt. 

In  der  folgenden  Inhaltsübersicht,  wenngleich  sie  sich  in  anbetracht 
der  Fülle  des  Stoffes  notwendig  nur  auf  die  Hervorhebung  des  Bedeu- 
tendsten beschränken  muß,  wird  sich  Gelegenheit  bieten,  im  besonderen 


Literaturbericht. 


267 


auf  jene  Punkte  hinzuweisen,  deren  Klarlegung  dem  mit  erstaunlicher 
Beherrschung  des  Stoffes  bis  in  seine  verborgensten  Einzelheiten  verbun- 
denen Scharfsinn  des  Verfassers,  seiner  glücklichen  Kombinationsgabe 
und  nicht  zuletzt  der  genauen  autoptischen  Kenntnis  nicht  bloß  der 
Monumente  Zentraleuropas,  sondern  namentlich  auch  der  Kunst  des 
byzantinischen  und  griechischen  Orients  verdankt  wird.  Vorher  möge 
aber  noch  der  äußeren  Form  gedacht  sein,  in  die  der  reiche  Inhalt  ge- 
faßt ist;  wiewohl  man  ja  bei  einem  Werke,  das  als  Publikation  dei 
Ecole  frangaise  de  Rome  unter  den  Auspizien  des  Unterrichtsministeriums 
erscheint,  von  vornherein  das  beste  zu  erwarten  berechtigt  ist.  In  der 
Tat  entsprechen  Format,  Papier,  Typen  und  Druckanordnung  in  ihrer 
einfachen  Gediegenheit  den  besten  Traditionen  des  französischen  Buch- 
verlags, während  der  Reichtum  und  die  Qualität  der  bildlichen  Beigaben 
sich  wohl  nur  unter  dem  erwähnten  Doppelpatronat  erreichen  ließ.  Die 
Vorlagen  zu  den  Illustrationen  wurden  zu  großem  Teile  vom  Verfasser  selbst 
sowohl  in  zeichnerischen  Aufnahmen  (worin  sich  sein  Stift  als  ebenso 
gewandt  beweist,  wie  seine  Feder  im  Texte),  als  auch  in  Photographien 
geliefert;  im  übrigen  sind  sie  den  Vorräten  der  Firmen  Alinari  und 
Moscioni  entnommen.  Die  Druckherstellung  sämtlicher  Illustrationen, 
besonders  der  phototypischen  Sondertafeln  läßt  durchweg  nichts  zu 
wünschen;  selbst  bei  den  Zinkätzungen  sind  die  Nachteile  dieser  Repro- 
duktionsart soweit  möglich  überwunden. 

Von  den  fünf  Büchern,  in  die  Bertaux  den  Stoff  eingegliedert  hat, 
umfaßt  das  erste  den  Zeitraum  vom  Untergange  des  römischen  Reichs 
bis  zur  Invasion  der  Sarazenen.  Im  ersten  der  fünf  Kapitel,  in  die  es 
zerfällt,  werden  die  Katakomben  und  Basiliken  Neapels  und  Nolas  (die 
berühmten  Schöpfungen  des  h.  Paulinus!)  behandelt,  wobei  das  an  den 
alten  Dom  der  ersteren  Stadt  angebaute  Baptisterium  als  eine  Schöpfung 
des  5.  Jahrhunderts  und  als  der  erste  christliche  Bau  nachgewiesen  wird, 
bei  dem  der  Übergang  von  dem  .Quadrat  des  Grundrisses  zur  Kuppel- 
wölbung mittels  halbrunder  Zwickelnischen  (tromples  d’angle),  einem  der 
charakteristischen  Konstruktionselemente  der  sassanidischen  Baukunst,  be- 
wirkt ist.  Ähnliches  kommt  auch  an  S.  Vitale  zu  Ravenna  vor,  — und 
es  ist  damit  die  Übertragung  gewisser  Bauelemente  aus  dem  Orient  nach 
Italien  schon  zu  so  früher  Zeit  erwiesen. 

Das  zweite  Kapitel,  den  vorjustinianeischen  Mosaiken  Kampaniens 
gewidmet,  weist  in  denselben  nebeneinherlaufend  frühchristlich-römische, 
sodann  vorzugsweise  ravennatische  und  endlich  auch  direkt  orientalische 
Einflüsse  neben  Motiven  auf,  die  der  lokalen  Tradition  (Pompeji  und 
Neapler  Katakomben)  entnommen  sind.  Im  dritten  Kapitel  wird  die  Kunst  des 
Herzogtums  Neapel  seit  seiner  Wiedereroberung  durch  Belizar,  sowie  die 


268 


Literaturbericht. 


der  byzantinischen  Städte  Süditaliens  vor  dem  io.  Jahrhundert  als  durch- 
aus vom  Orient  (Byzanz,  Persien)  bedingt,  — im  vierten  die  überaus  spär- 
lichen Zeugnisse  einer  Kunstübung  in  den  lombardischen  Herzogtümern 
Süditaliens  als  entartete  Nachbildungen  geometrischer  Dekors  von  orien- 
talischem Ursprung  erkannt.  Im  fünften  Kapitel  erörtert  der  Verfasser 
die  Anfänge  der  Benediktinerkunst  in  den  Abteien  von  Montecassino  und 
an  den  Quellen  des  Volturno,  wobei  die  in  den  achtziger  Jahren  des 
vergangenen  Jahrhunderts  entdeckten  Fresken  der  Laurentiuskapelle  in  der 
letzteren  Abtei  zuerst  eine  in  jeder  Beziehung  mustergültige,  durch  reiche 
Illustration  unterstützte  Analyse  finden.  Sie  führt  zu  dem  Ergebnis, 
wonach  dies  einzig  übrige,  um  830  entstandene  Denkmal  der  frühesten 
Benediktinerkunst  sein  Vorbild  in  gewissen  römischen  Fresken  des  8.  und 
9.  Jahrhunderts  hatte  (Oratorium  Papst  Johanns  VII.  in  S.  Peter,  S.  Maria 
antiqua,  Unterkirche  S.  Clemente),  die  eine  Mischung  von  frühchristlich- 
römischen und  byzantinischen  Motiven  aufweisen,  welch  letztere  ihre  Über- 
tragung in  den  Okzident  der  Herrschaft  der  13  Päpste  orientalischer 
Herkunft  im  7.  Jahrhundert,  und  ihre  Verbreitung  bis  über  die  Alpen 
den  Opfern  des  Bilderstreites  verdanken.1) 

Das  zweite  Buch  behandelt  die  Kunst  der  Basilianer-  und  Benedik- 
tinermönche vom  10.  bis  zum  13.  Jahrhundert.  Während  die  erstere  in 
der  seit  Ende  des  9.  Jahrhunderts  den  Sarazenen  wieder  entrissenen,  bis 
zur  Eroberung  durch  die  Normannen  um  die  Mitte  des  1 1.  Jahrhunderts 
unter  der  Herrschaft  von  Byzanz  stehenden  Hälfte  Süditaliens  aus  dieser 
Epoche  keine,  und  auch  aus  der  Zeit  der  Normannenherrschaft  nur 
wenige  (völlig  byzantinische)  Denkmäler  hinterlassen  hat,  sind  in  den 
Oratorien  und  Kapellen  der  durch  Kalabrien,  die  Basilicata  und  die 
Terra  d’Otranto  verstreuten  Grottenansiedlungen  der  Basilianer  zahlreiche 
Wandgemälde  erhalten,  deren  Entstehungszeit  bis  über  das  14.  Jahr- 
hundert herabreicht.  Wir  können  der  Analyse,  die  der  Verfasser  davon 
gibt,  nicht  näher  folgen,  wenden  uns  vielmehr  dem  viel  wichtigeren  Teil 
dieses  zweiten  Buches  zu,  worin  in  sieben  Kapiteln  die  Schule  der  nach 
den  Sarazenenschrecken  seit  950  wieder  neuerstandenen  Abtei  von 
Montecassino  in  ihren  mannigfachen  künstlerischen  Manifestationen  unter- 
sucht wird  (S.  155  — 308).  Ihre  Blüte  verdankt  sie  bekanntlich  dem 
großen  Abt  Desiderius,  der  im  Mutterkloster  ausgedehnte  Arbeiten  aus- 
führen läßt,  deren  Wiedererweckung  wenigstens  in  der  Vorstellung  uns 
die  Beschreibung  des  gleichzeitigen  Chronisten  Leo  von  Ostia  gestattet. 
Während  diese  letztere  (sowie  die  wenigen  erhaltenen  Monumente,  z.  B. 

x)  Neuerdings  hat  P.  Toesca  im  Bullettino  dell’istituto  storico  italiano,  Roma, 
1904  Nr.  25  die  in  Rede  stehenden  Fresken  auch  zum  Gegenstand  einer  ausführlichen 
Untersuchung  gemacht. 


Literaturbericht. 


269 


S.  Angelo  in  Formis)  uns  lehrt,  daß  die  Architektur  dem  okzidentalen 
Basilikentypus  folgte,  erkennt  man  in  den  Resten  ihres  Dekorations- 
schmuckes (Fußboden  in  Montecassino,  Evangeliar  des  Alfanus  [f  1182] 
zu  Capua)  sofort  die  Hand  der  von  Desiderius  aus  Byzanz  verschriebenen 
Künstler  oder  ihrer  unmittelbaren  Schüler.  Dagegen  offenbart  sich  in 
den  Motiven  der  Mosaiken,  die  aus  den  Werkstätten  der  letzteren  her- 
vorgingen,  ein  Zurückgehen  auf  die  römischen  und  kampanischen  Kom- 
positionen der  frühchristlichen  Zeit,  keineswegs  auf  die  Ikonographie, 
die  sich  in  Byzanz  seit  dem  9.  Jahrhundert  entwickelt  hatte;  nur  das 
Formen-  und  Farbenkleid  für  die  ersteren  wird  aus  der  Kunst  des  Orients 
herübergenommen.  Für  die  Beurteilung  des  Stils  der  Wandmalereien 
der  Schule  ist  das  heute  noch  einzig  erhaltene  Monument  dieser  Gattung 
in  S.  Angelo  in  Formis  maßgebend  (die  Fresken  in  Ausonia  und  F010 
Claudio  kommen  als  direkte  Kopien  verlorener  byzantinischer  Vorbilder 
nicht  in  Betracht).  Ihre  Analyse  führt  unseren  Verfasser  zu  folgendem 
Urteil:  »Dem  Stile  nach  sind  sie  durchaus  byzantinisch;  ihre  Vorbilder 
sind  Fresken,  Mosaiken,  Miniaturen  entlehnt;  ihr  theologisches  Programm 
ist,  im  ganzen  genommen,  okzidentalisch ; ihre  Ikonographie  teils  rein 
byzantinisch,  teils  lateinisch,  teils  nordisch-germanisch  (das  Jüngste  Ge- 
richt!). Die  karolingische  Tradition  der  Rheinlande  verbindet  sich  mit 
der  lateinischen  und  byzantinischen  zu  dem  in  seiner  paradoxen  Kom- 
plexität einzigen  Ganzen  des  Freskenschmucks  von  S.  Angelo  in  Formis. 

Zu  den  vorstehenden  Feststellungen  führt  den  Verfasser  nicht  allein 
die  Prüfung  der  monumentalen  Kunst  der  Schule;  ein  gleich  eingehen- 
des Studium  widmet  er  ihren  Miniaturen,  die  in  einer  reichen  Zahl  von 
Codices  und  Exultetrollen  aus  der  Zeit  vor  und  nach  Desiderius  vor- 
liegen. Dabei  kommen  selbstverständlich  auch  die  anglosächsischen  und 
karolingischen  Elemente  derselben  zu  entsprechender  Würdigung;  sie 
leiten  zu  dem  Schluß,  daß  die  byzantinischen  Künstler  in  den  Miniaturen 
auf  Montecassino  einen  Dekorationsstil  schon  vorfanden,  der  sich  daselbst 
seit  karolingischer  Zeit  ausgebildet  und  vielfach  mit  Elementen  ihrer 
Kunst  durchsetzt  hatte.  Der  die  Exultetrollen  behandelnde  Exkurs  ist 
eine  völlige  Neuheit  der  Kunstliteratur;2)  die  ihm  beigegebenen  synopti- 
schen Tabellen  mit  der  vergleichenden  Ikonographie  sämtlicher  Rollen 
ermöglichen  die  sofortige  Übersicht  der  Varianten  und  die  Bestimmung 
der  Einflüsse,  die  darin  zur  Geltung  gelangen.  Als  Ergebnis  kann  Ber- 
taux  feststellen,  daß  die  Ikonographie  der  Exultetrollen  (die  wohl  auf 
ein  byzantinisches  Vorbild  zurückgehen)  in  der  karolingischen  Kunst 

2)  D.  Augustin  Latil,  einer  der  gelehrten  Mönche  von  Montecassino,  ist  seit  1899 
mit  der  Herausgabe  einer  zusammenfassenden  Arbeit  über  den  Gegenstand  befaßt,  die 
von  sehr  getreuen  und  vollständigen  Reproduktionen  in  Farbendruck  begleitet  ist. 


270 


Literaturbericht. 


wurzelt  und  ihre  wesentlichen  Themen  dem  Bilderschmuck  der  Sakra- 
mentarien  entnimmt. 

Nachdem  der  Verfasser  in  einem  Schlußkapitel  noch  die  Einflüsse 
der  Benediktinerkunst  auf  die  Malerei  in  der  Provinz  Salerno  und  Rom, 
sowie  in  den  Abruzzen  erörtert  (wobei  wir  z.  T.  zuerst  mit  einigen 
Freskenzyklen  dieser  letzteren  bekannt  gemacht  werden,  die  sich  nicht 
bloß  durch  Stil  und  Gegenstand,  sondern  in  einem  Falle  sogar  durch 
die  Signatur  ihres  Schöpfers  Armanino  de  Modena  als  Arbeiten  nord- 
italischer, wenn  nicht  gar  französischer  Hände  vom  Ende  des  12.  und 
Verlauf  des  13.  Jahrhunderts  entpuppen)  geht  er  im  dritten  Buch  auf  die 
Kunst  unter  der  Normannenherrschaft  über,  wie  sie  sich  in  ihren  ver- 
schiedenen Zweigen  in  Apulien  und  Kampanien  bis  zum  Ausgang  des 
12.  Jahrhunderts  entwickelte  (S.  310—508).  Es  geschieht  hier  zum 
erstenmal,  daß  uns  die  Fülle  der  einschlägigen  Monumente  in  histori- 
schem Zusammenhang  vorgeführt  wird,  der  sich  aus  ihrem  eingehenden 
Studium  und  der  vergleichenden  Analyse  ergibt.  Von  der  Grab- 
kapelle Boemunds  zu  Canosa,  der  eine  muselmännische  Grabstätte 
zum  Vorbilde  gedient  hatte,  werden  wir  durch  die  Gründungen  nor- 
männischer  Fürsten  und  Bischöfe  in  Kalabrien  und  Kampanien  (Gerace, 
Salerno,  Capua,  Sessa,  Caserta  vecchia),  französischer  Cluniacenser  und 
Cistercienser  am  Monte  Vulture  und  in  der  Terra  d’Otranto  (Venosa, 
Accerenza,  Aversa,3)  S.  Nicola  e Cataldö  zu  Lecce),  zu  S.  Niccolö  in 
Bari  geleitet,  dem  einzigen  Bau  in  Süditalien,  worin  sich  der  direkte 
Einfluß  der  heimischen  normannischen  Architektur  nachweisen  läßt.  Er 
wird  maßgebend  für  die  Sakralmonumente  Apuliens.  Sie  entstehen  in 
reicher  .Folge  unter  Modifikation  und  Ausbildung  ihres  Vorbildes  als 
Schöpfungen  provinzieller  und  munizipaler  Opferfreudigkeit,  die  auf  der 
Grundlage  der  materiellen  Vorteile  einer  überaus  günstigen  topographischen 
Lage  erwächst  (Dome  von  Barletta,  Trani,  Bari  und  die  davon  abhän- 
gigen kleineren  Kirchen).  Unabhängig  davon,  ganz  für  sich  steht  der 
Dom  von  Troja  da,  dessen  Derivation  von  den  Basiliken  Pisas  (und 
Luccas)  Bertaux  — gegenüber  der  jüngst  wieder  vorgebrachten  gemein- 
samen, aber  voneinander  unabhängigen  Ableitung  von  byzantinischen 
Vorbildern  (s.  Venturi,  Storia  dell’Arte  italiana  III,  499  ff.)  — u.  E.  sieg- 
reich durch  den  Hinweis  darauf  verficht,  daß  die  analogen  Bauten  auf 
Sardinien  auch  gerade  nur  aus  der  Zeit  der  Herrschaft  Pisas  über  die 
Insel  stammen.  Ein  eigenes  Kapitel  behandelt  die  mehrkuppligen  Kir- 

3)  Bertaux  Ausführungen  erlauben  nunmehr  keinen  Zweifel  betreffs  der  späteren  Ent- 
stehung des  Chors  der  Kathedrale  von  Aversa.  Damit  entscheidet  sich  die  Kontroverse 
über  die  Abhängigkeit  zwischen  ihr  und  der  Abtei  von  Venosa  (s.  Repertorium  XXVII, 
375)  zugunsten  der  letzteren,  also  des  französischen  Ursprungs. 


Literaturbericht. 


271 


chen  der  Terra  di  Bari  zu  Canosa,  Molfetta,  Trani,  Bisceglie,  die  in  ihrer 
Anlage  kein  Analogon  im  Orient  finden.  Unser  Verfasser  bringt  sie  in 
Zusammenhang  mit  jenen  ländlichen  Kuppelbauten  der  apulischen  „Trulli  , 
deren  von  den  geologischen  Besonderheiten  der  Gegend  bedingter  Ur- 
sprung auf  vorhistorische  Zeiten  zurückreicht;  er  stützt  seine  Annahme 
außer  mit  kulturhistorischen  auch  mit  technisch-konstruktiven  Argumenten. 
Aus  dem  Inhalt  des  folgenden  Kapitels,  das  die  Bronze-  und  Elfenbein- 
werke der  in  Rede  stehenden  Zeitepoche  umfaßt,  wollen  wir  — unter 
Übergehen  der  den  Bronzepforten  gewidmeten  Ausführungen  — nur  auf 
die  hier  zuerst  in  durchaus  befriedigender  Weise  erfolgte  Rekomposition 
der  Platten  des  Elfenbeinantependiums  im  Dom  zu  Salerno  hinweisen. 
Bertaux  sieht  darin  das  Werk  einer  einheimischen  Bildnerschule  vom  Ende 
des  11  Jahrhunderts  (von  der  unsere  Museen  außerdem  noch  etwa  ein  halbes 
Dutzend  Arbeiten  bewahren),  das  den  Traditionen  byzantinischer  Ikono- 
graphie, wie  sie  um  die  genannte  Zeit  im  Orient  feststanden,  nicht  durch- 
weg folgt,  sich  im  Gegenteil  an  älteren  archaischen  Vorbildern  syrischen 
oder  alexandrinischen  ■ Ursprungs  aus  dem  7.  Jahrhundert  inspiriert  zu 
haben  scheint.  Drei  weitere  Kapitel  handeln  von  der  Ausstattung  der 
Kirchen  durch  Bronze-,  Holz-  und  Marmorarbeiten,  wobei  der  bekannt- 
lich ungewöhnliche  Reichtum  Kampaniens  und  Apuliens  an  Bischofs- 
thronen, Kanzeln,  Ambonen,  Ziborien  u.  dgl.  nach  Ursprung,  Stil  und 
Dekoration  im  einzelnen  Würdigung  erfährt;  ferner  von  der  Monumental- 
skulptur an  Säulen,  Portalen  und  Fenstern,  worin  zwei  Strömungen 
byzantinischen  und  lombardischen  Ursprungs  nebeneinander  herlaufen; 
endlich  von  den  Mosaiken  der  historiierten  Fußböden,  deren  Arbeit 
durchaus  von  dem  in  Montecassino  nach  byzantinischen  Mustern  ge- 
schaffenen fälschlich  sogenannten  Opus  alexandrinum  abweicht,  und  für 
die  sich  am  wahrscheinlichsten  lombardische  Herkunft  geltend  machen 
läßt.  Das  Schlußkapitel  des  4.  Buches  führt  uns  die  dekorativen  Mosaiken 
Kampaniens  am  Ausgang  des  12.  Jahrhunderts  vor  (Salerno,  Amalfi, 
Ravello,  La  Cava).  In  ihnen  erscheint  jene  Verbindung  zweier  Dekora- 
tionssysteme, des  byzantinischen  und  arabischen,  wie  sie  zuerst  in  den 
Palatinalkirchen  zu  Palermo  und  Monreale  auftritt,  auf  das  Festland 
herübergebracht  (was  außer  stilistischer  Analogie  auch  durch  historische 
Zeugnisse  nachweisbar  ist). 

Das  vierte  Buch  macht  uns  mit  der  Kunst  der  Grafschaft  Molise, 
der  Basilicata  und  der  Abruzzen  im  n. — 13.  Jahrhundert  bekannt.  Es 
zeichnet  sich  vor  den  übrigen  durch  eine  Fülle  von  neuem  und  merk- 
würdigem Materiale  aus,  das  die  unermüdete  Forschung  Bertaux’s  der 
Wissenschaft  erobert  hat.  Während  die  beiden  ersteren  Provinzen  nur 
eine  Anzahl  nicht  eben  bedeutender  Baudenkmäler  aufweisen,  können 


2^2 


Literaturbericht. 


sich  die  Abruzzen  einer  viel  reicheren  Entfaltung  nicht  bloß  der  Architektur, 
sondern  namentlich  auch  der  dekorativen  Bildnerei  rühmen.  Für  die 
erstere  legen  die  Basiliken  von  Alba  Fucese,  S.  Giovanni  in  Venere, 
S.  Clemente  in  Casauria  und  al  Vomano,  S.  Maria  in  Valle  — um  nur 
die  hervorragendsten  zu  nennen  — glänzendes  Zeugnis  ab.  Bezüglich 
der  letzteren  aber  ist  auf  die  reichverzierten  Kanzeln,  Ziborien  und 
Ambonen  in  Stuck,  Kalkstein  und  Marmor,  der  eben  genannten  und 
anderer  Kirchen,  sowie  auf  die  merkwürdigen  hölzernen  Pforten  und  Lettner 
in  Alba  Fucese,  Carsoli,  S.  Maria  in  Valle  hinzuweisen,  — alles  Schöpfungen 
einheimischer  Meister,  die  sich  in  Gruppen  wonicht  Schulen  sondern, 
yon  seltsam  synkretistischer  Konzeption  und  vielfach  roher  Ausführung  — 
wie  sie  sich  aus  der  abgeschlossenen  Lage  jener  Gebirgsgegenden  erklären  — , 
aber  gerade  durch  ihren  Ursprung  und  die  unverbrauchte  Kraft  der 
Phantasie,  die  sie  offenbaren,  interessant.  Sehr  dankenswert  ist  es,  daß 
Bertaux  diesen  Teil  seiner  Arbeit  reich  mit  vortrefflichen  Illustrationen 
nach  eigenen  Aufnahmen  ausgestattet  hat,  die  nunmehr  authentischen 
Einblick  in  eine  bisher  nur  fragmentarisch  bekannte  Kunstübung  gewähren. 
Neben  dieser  mannigfachen  dekorativen  Bildnerei  tritt  die  Monumental- 
skulptur zurück:  sie  enthüllt  die  Schranken,  innerhalb  deren  sich  die 
Begabung  der  von  den  leitenden  Kunstströmungen  abgeschlossenen 
Meister  bewegte. 

Hatten  wir  schon  im  Verlaufe  der  bisherigen  Darstellung  die  Hin- 
gabe des  Verfassers  an  seinen  Stoff  zu  bewundern,  so  erreicht  sie  im 
letzten  Buch  ihren  Höhepunkt.  Jede  Zeile  enthüllt  die  Wärme,  die  er  der 
Schilderung  der  hier  behandelten  Epoche  und  ihres  großen  Protagonisten 
Friedrich  II.  entgegenbringt.  Nicht  als  ob  er  den  Bahnen,  die  die  macht- 
volle Persönlichkeit  des  Kaisers  auch  der  Kunst  gewiesen,  in  blinder 
Begeisterung  folgte;  selbst  ihm  gegenüber  wahrt  er  die  Objektivität  der 
Tatsachen,  und  seiner  Beurteilung  derselben  das  feine  Maß,  die  nach  allen 
Seiten  vorsichtig  abwägende  Unparteilichkeit  der  Kritik,  die  den  Leser 
so  wohlthuend  durch  das  ganze  Werk  begleitet.  So  wird  denn  geradezu 
dieser  Teil  des  Buches  zu  dessen  glänzendster  Partie. 

In  der  ersten,  der  Provinzialkunst  Kampaniens  und  Apuliens  gewid- 
meten Hälfte  schildert  Bertaux  vorerst  die  sizilisch-kampanische  Kunst 
des  13.  Jahrhunderts,  wie  sie  sich  in  weiterer  Entwicklung  der  im  Schluß- 
kapitel des  vorigen  Buches  beschriebenen  Anfänge  — ohne  Beeinflussung 
durch  den  persönlichen  Geschmack  Friedrichs  II.  - — einerseits  im  deko- 
rativen x Marmor-  und  Mosaikschmuck  namentlich  der  Kathedralen  von 
Sessa  und  Ravello  (neben  Caserta  vecchia,  Capua,  Cälvi,  Fondi,  bis  hinauf 
nach  Terracina),  andrerseits  in  den  Baudenkmälern  Amalfis,  Ravellos, 
Casertas  und  Gaetas  offenbart.  Sodann  analysiert  er  die  Architektur  und 


Literaturbericht. 


273 


Skulptur  Apuliens;  beide  behalten  die  auf  den  durch  die  Schöpfungen  der 
Normannenzeit  statuierten  Grundlagen  unter  Aufnahme  von  Anregungen 
aus  dem  französischen  und  deutschen  Norden  und  in  ihrem  Gefolge  in 
mannigfacherer  Ausbildung  von  Konstruktions-Typen  und  -Formen,  sowie 
dekorativer  Details,  auch  in  dieser  Epoche  — gegenüber  dem  deko- 
rativen Charakter  der  Kunst  Kampaniens  — ihren  struktiven  Charakter. 
Vereinzelte  Versuche,  auch  die  Antike  — wiewohl  nur  im  Ornament  — ■ 
wieder  zu  Wort  kommen  zu  lassen,  bleiben  jedoch  ohne  Folge,  bis  die 
mächtige  Initiative  des  Kaisers  in  den  von  ihm  selbst  errichteten  Denk- 
mälern der  klassischen  Strömung  zum  Durchbruch  verhilft.  Sie,  die 
»kaiserliche  Kunst«,  von  Friedrich  unter  der  Ägide  jener  des  römischen 
Weltreichs,  als  seines  politischen  und  kulturellen  Vorbildes  ins  Leben 
gerufen,  wird  uns  in  der  zweiten  Hälfte  des  5.  Buches  vorgeführt. 

Zwar  in  den  zahlreichen  Schloßbauten,  die  der  Kaiser  in  den  ersten 
Dezennien  seiner  Herrschaft  über  seine  Lande  verstreut,  folgen  die  ein- 
heimischen Baumeister  auch  noch  dem  heimischen  Stil.  Aber  später, 
am  Brückentor  zu  Capua  (seit  1233)  und  im  Burgbau  von  Castel  del 
Monte  (beg.  1240),  zwingt  der  Kaiser  den  eigenen  Willen  gleichsam 
seinen  Künstlern  auf  und  schafft  dort  unter  dem  Impuls  seiner  Vorliebe 
für  die  Antike  eine  Bildhauerschule,  die  seine  eigene  Herrschaft  über- 
dauert, 4)  — läßt  hier,  wohl  durch  französische  Hände,  den  ersten  Profan- 
bau entstehen  (dem  andere,  wenn  auch  weniger  bedeutende  folgen),  der 
sich  bewußt  an  der  fränzösischen  Gotik  inspiriert,  doch  auch  für  manches 
Detail  auf  die  Nachahmung  der  Antike  zurückgreift.  5)  Während  so  der 
neue  Stil  des  Nordens  während  der  letzten  Regierungszeit  des  Kaisers 
der  offiziellen  Kunst  ihr  Gepräge  gibt,  verpflanzt  ein  Genius,  in  den 
Werkstätten  des  Südens  erzogen,  jene  anderen  auch  von  Friedrich  aus- 
gestreuten Keime  einer  »Renaissance  der  Antike«  über  die  Zeit  und  die 
örtlichen  Grenzen  seiner  Herrschaft  hinaus  nach  jenem  Teil  Italiens,  der 
fortan  die  Führung  in  der  Kunstentwicklung  des  ganzen  Landes  zu  über- 
nehmen bestimmt  ist.  Niccolö  Pisano,  für  dessen  süditalische  Herkunft 
Bertaux  neben  dem  anzweifelbaren  bezw.  zweideutigen  urkundlichen  Zeugnis 
bisher  übersehene  merkwürdige  Analogien  zwischen  der  Architektur  von 

4)  Es  gewährt  dem  Berichterstatter  Genugtuung,  daß  seine  vor  einem  Vierteljahr- 
hundert ausgesprochene  Ansicht  betreffs  des  friderizianischen  Ursprungs  der  Capuaner 
Bildwerke,  die  dazumal  von  verschiedenen  Seiten  angefochten  wurde,  nunmehr  zu  all- 
gemeiner Geltung  gelangt  ist. 

5)  Seine  ursprüngliche  Hypothese  hinsichtlich  der  Übertragung  dieser  Inspiration 
aus  dem  lateinischen  Orient  (s.  Repertorium  XXI,  242),  hält  der  Verfasser  nicht  mehr 
aufrecht.  Er  gibt  die  Möglichkeit  der  Verpflanzung  aus  Frankreich  — direkt  oder  auf 
dem  Umweg  über  Deutschland  — ebenfalls  zu.  Selbstverständlich  hat  er  damit  auch 
die  Meinung,  Philippe  Chinard  sei  der  Schöpfer  von  Castel  del  Monte  aufgegeben. 


274 


Literaturbericht. 


Castel  del  Monte  und  der  Kanzel  von  Pisa  aufzuführen  in  der  Lage  ist, 
erweist  in  diesem  seinen  Meisterwerke  nicht  bloß  die  Überlegenheit  der 
Kunst  des  Südens  über  die  des  übrigen  Italiens  um  die  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts;  er  bereichert  sie  durch  Aufnahme  von  Faktoren,  die  er 
in  den  Arbeiten  gleicher  Art  lombardischer  Meister  in  Toskana  vor- 
gefunden, sowie  solcher,  die  er  aus  der  Kenntnis  von  Originalwerken 
römischer  und  byzantinischer  Herkunft  geschöpft,  ja  selbst  eines  Motivs, 
das  ihm  eine  — nicht  nachweisbare  Schöpfung  — nordischer  Kunst 
geboten  haben  müßte  (Jüngstes  Gericht!)  und  führt  so  die  italienische 
Skulptur  auf  diejenigea  Wege,  die  sie  zu  weiterer  Entwicklung  beschreiten 
mußte.  C.  v.  Fabriczy. 


Italienische  Architektur  und  Skulptur.  Jahresbericht  1903. 

L’Arte  bringt  in  ihrem  VI.  Jahrgang  (1903)  die  folgenden  hierher- 
gehörigen Beiträge. 

A.  Venturi  (Le  primizie  del  Caradosso  a Roma,  p.  1 ff.)  schreibt 
die  beiden  Bronzereliefs  an  der  Konfession  in  S.  Pietro  in  Vincoli  vom 
Jahre  1477  dem  Caradosso  zu,  der  sie  bei  einem  ersten  Aufenthalte  zu 
Rom  (für  den  übrigens  kein  urkundliches  Zeugnis  besteht)  als  Jugend- 
arbeit ausgeführt  habe.  Er  stützt  diese  Attribution  auf  den  Vergleich 
der  dekorativen  Partien  an  den  Reliefs  mit  dem  Stil  der  Ornamente 
(namentlich  auch  der  männlichen  Büste)  an  dem  bekannten  Bronzekästchen, 
das  dem  Meister  — jedoch  auch  ohne  authentisches  Zeugnis  — zuge- 
teilt wird. 

M.  Reymond  bestreitet  in  seinem  Artikel:  La  tomba  die  Onofrio 
Strozzi  nella  chiesa  della  Trinita  in  Firenze  (p.  7 ff.),  die  Möglichkeit  des  Ent- 
stehens fraglichen  Grabmals  im  Jahre  1418,  setzt  es  erst  nach  1430,  und 
gibt  ihm  das  Monument  der  Eltern  Cosimo  Medicis  in  der  alten  Sakristei 
von  S.  Lorenzo  zum  Vorbild.  Das  bekannte  urkundliche  Zeugnis  dafür, 
daß  Piero  di  Niccolö  das  Strozzigrabmal  1418  in  Auftrag  erhielt  (s.  Reper- 
torium XXV,  168)  sucht  Reymond  durch  die  Annahme  zu  entkräften,  es 
habe  sich  dabei  nur  um  eine  einfache  Grabplatte  gehandelt,  die  später 
durch  das  gegenwärtige  Grabmal  ersetzt  worden  sei.  Die  ziemlich  faden- 
scheinigen Argumente  des  Verfassers  finden  ausführliche  Widerlegung  in 
einem  Schriftchen  Giov.  Poggis:  La  Capelia  e la  Tomba  di  Onofrio  Strozzi, 
Firenze  1903,  worin  unter  Beibringung  urkundlicher  Zeugnisse  dargetan 
wird,  daß  1423  der  1418  begonnene  Bau  der  Kapelle  und  ihre  Aus- 
stattung, samt  Gent,  da  Fabrianos  Altarbilde  vollendet  war.  Und  nur  die 
Hauptsache  — das  Grabmal  — um  derentwillen  sie  gestiftet  war,  sollte 
gefehlt  haben? 


Literaturbericht. 


275 


D.  Scano  (Scoperte  artistiche  in  Oristano,  p.  15  fr.)  gibt  Kunde  von 
einigen  Bildwerken  in  den  Kirchen  von  Oristano  auf  der  Insel  Sardinien: 
einer  Bischofsstatue  von  Nino  Pisano  (bez.)  in  S.  Francesco,  wahrscheinlich 
dem  Rest  eines  Grabmals,  sowie  figürlicher  Reliefs  einer  Kanzel  in  der 
Kathedrale  im  Charakter  der  Schule  Andrea  Pisanos,  endlich  zweier 
Chortransennen  des  8. — 9.  Jahrhunderts  aus  dem  alten  Dom  zu  Tarros. 

Fr.  La  Grassa-Patti  (Opere  dei  della  Robbia  in  Sicilia,  p.  3 7 ff.) 
führt  uns  vier  Arbeiten  Andreas  della  Robbia  vor,  die  sich  in  Kirchen 
von  Trapani,  Messina,  Palermo,  sowie  im  Museum  der  letztgenannten 
Stadt  befinden. 

G.  Fogolari  (Sculture  in  legno  del  secolo  XII,  p.  49 ff.)  beschreibt 
die  skulpierten  Holztüren  in  den  Abruzzen:  die  sehr  mitgenommene  in 
Carsoli  vom  Jahre  1132  mit  Szenen  aus  dem  Marienleben  nach  dem 
Vorbild  von  Miniaturen  komponiert  und  ursprünglich  bemalt;  diejenige 
an  S.  Pietro  in  Alba  Fucese,  die  dem  Vorbild  der  Bronzepforten  Süd- 
italiens in  der  Ornamentation  und  dem  Gegenständlichen  folgt;  endlich 
die  Flügel  eines  Altarschreins  in  S.  M.  maggiore  zu  Alatri  (gleichfalls  mit 
Szenen  des  Marienlebens),  der  eine  noch  Vorhände  Madonnenstatue  aus 
Holz  von  byzantinischem  Typus  umschloß,  — beides  Werke  desselben 
Meisters  vom  Ende  des  12.  Jahrhunderts,  an  denen  sich  die  alte  Bemalung 
noch  erhalten  hat  (an  der  Madonna  unter  späterer  Vergoldung). 

G.  Biscaro  (Un  bastone  pastorale  del  tesoro  della  cattedrale  di 
Treviso,  p.  91  ff.)  macht  uns  mit  dem  prachtvollen,  reichskulpierten  Bischofs- 
stäbe zu  Treviso  bekannt,  woran  er  die  Hand  eines  in  Venedig  ansässigen 
toskanischen  Goldschmiedes  vom  Ende  des  14.  Jahrhunderts  erkennen  zu 
können  meint. 

A.  Moscatelli  gibt  interessante  Notizen  (samt  bildlichen  Beilagen) 
über  die  bisher  so  wenig  beachtete  Abtei  von  S.  Antimo  am  Monte 
Amiata,  einer  Stiftung  französischer  Benediktiner  vom  Jahre  1118. 

G.  di  Marzo  und  E.  Mauceri  machen  mehrere,  bisher  nicht  be- 
achtete Bildwerke  Domenico  Gagginis  in  Palermo  und  anderen  Städten 
Siziliens  bekannt  (S.  147  ff.);  Ant.  Salinas  bespricht  ein  Weihwasserbecken 
des  i2.  Jahrhunderts  und  einen  Reliquiendeckel  byzantinischer  Arbeit  in 
Lentini  sowie  Reste  des  Grabmals  Speciale  in  Noto,  möglicherweise  ein 
Werk  Dom.  Gagginis. 

L.  Testi  polemisiert  in  einem  weitläufigen  Artikel  (Intorno  ai 
Campanili  di  Ravenna,  p.  165  ff.)  gegen  O.  Gardeila,  der  die  Entstehung 
der  ravennatischen  Glockentürme  erst  ins  IX.  und  X.  Jahrhundert  gesetzt 
wissen  will  (s.  Rassegna  d’Arte  1902,  S.  16 1 ff.),  und  beweist  mit  historischen, 
künstlerischen  und  technisch-konstruktiven  Argumenten,  daß  Glockentürme 
in  Ravenna  schon  im  VI.  Jahrhundert  existierten  (S.  Apollinare  in  Classe). 


Literaturbericht. 


276 

Die  Polemik  findet  Fortsetzung  in  einem  zweiten  Artikel  Testis  (L’Arte 
IV,  27 1),  den  er  in  Erwiderung  der  Antwort  Gardelias  auf  seinen  ersten 
Artikel  (s.  Rassegna  d’ Arte  III,  1 5 2)  schreibt,  worin  indes  keine  neuen 
Argumente  beigebracht  werden. 

P.  Piccolomini  bespricht  in  einer,  den  Bildnissen  Pius  II.  gewid- 
meten Mitteilung  auch  die  im  Appartamento  Borgia  aufgestellte  Büste 
aus  Villa  Pia  und  spricht  ihr  strenge  Porträtähnlichkeit  ab  (p.  198). 

L.  Fiocca  berichtet  über  die  Ausgrabungen  an  S.  Maria  della  Vittoria 
bei  Scurzola,  der  Votivstiftung  Karls  von  Anjou  nach  seinem  Sieg  über 
Konradin  (p.  201),  und  gibt  die-  Abbildung  einer  Madonnenstatue,  die 
aus  jener  Kirche  stammt  und  eine  Arbeit  deutschen  Meißels  aus  dem 
14.  Jahrhundert  zu  sein  scheint. 

Pietro  Toesca  gibt  in  seinen  »Ricordi  di  un  viaggio  in  Italia « 
(p.  225)  Reproduktionen  einer  reizenden  Holzstatue  der  Madonna  aus 
dem  vorgeschrittenen  Quattrocento,  die  sich  in  S.  Maria  del  Sässo  bei 
Bibbiena  findet,  sowie  eines  Stuckreliefs  des  h.  Martin  zu  Pferde  vom 
Jahre  1436,  im  Museo  civico  zu  Verona,  einer  interessanten  Arbeit,  die 
dem  Kreis  der  Meister  der  Pellegrinikapelle  und  der  Denkmäler  Brenzoni 
und  Sarego  angehört. 

Gius.  Sordini  (La  Cappella  delle  reliquie  nel  duomo  di  Spoleto, 
p.  251  ff.)  macht  uns  mit  dem  in  der  ehemaligen  Sakristei  des  Spoletaner 
Domes  befindlichen  Tabernakel  und  der  sich  daran  schließenden  Wand- 
vertäfelung unter  Mitteilung  von  Abbildungen  derselben  bekannt.  Es  ist 
eine  reich  mit  dekorativen  und  figürlichen  Skulpturen  ausgestattete  Arbeit 
zweier  einheimischen  Holzschnitzer  vom  Jahre  1546»  des  G.  Andrea  ser 
Moscati  und  Damiano  Mariotti,  von  denen  sonst  nichts  bekannt  ist. 

G.  Bertüzzi  gibt  einige  Notizen  über  die  Architektur  der  Abtei 
von  Chiaravalle  della  Colomba,  um  sodann  näher  auf  die  dort  jüngst 
aufgedeckten  Fresken  einzugehen  (p.  306  fr.) 

P.  Egidi  bringt  Nachrichten  über  die  Monumente  von  Soriano  in 
den  ciminischen  Bergen,  die  Kirche  S.  Giorgio,  einen  Bau  des  11.  Jahr- 
hunderts (?),  und  ein  Hostientabernakel  der  Bottega  von  Andrea  Bregrio 
in  der  Kirche  S.  Eutizio,  sowie  ein  späteres  aus  dem  Cinquecento  in 
S.  Maria  del  Piano  (p.  321fr.) 

D.  Scano  berichtet  über  einige  Monumente  Sardiniens  (S.  Domenico 
in  Cagliari,  S.  Pantaleone  in  Martis,  S.  Mäddaleha  bei  Oristano  und  ein 
gotisches  Palastfenster  in  Sassari  (p.  324). 

G.  Bacile  gibt  die  Geschichte  der  Errichtung  der  Rocca  zu  Perugia 
durch  Paul  III.  unter  Heranziehung  der  Zeichnungen  Ant.’s  da  Sangallo  dazu 
in  den  Uffizien,  und  Mitteilung  anderer  Illustrationen  des  1848  bezw.  1860 
zerstörten  imposanten  Werkes  (p.  347). 


Literaturbericht. 


277 


Der  Berichterstatter  teilt  in  einem  Briefe  des  Arztes  Fr.  Castelli  an 
die  Herzogin  Eleonora  von  Ferrara  und  einer  Urkunde  des  Florentinei  Staats- 
archivs zwei  bisher  unbekannte  gleichzeitige  Berichte  über  Bau  und  Anlage 
des- von  Giuliano  da  Sangallo  erbauten  Augustinerklosters  vor  Porta 
Sangallo  in  Florenz  mit  (p.  381  ff.). 

Die  neue  Florentiner  Monatsschrift  Miscellanea  d'Arte  bringt  in 
ihrem  ersten  Jahrgang  (1903)  folgende  Beiträge: 

M.  Reymond  bespricht  in  seinem  Artikel:  La  porte  de  la  chapelle 
Strozzi  ä l’eglise  de  la  Trinita  (p.  4 ff.)  dies  Werk  als  eines  der  frühesten 
Zeugnisse  des  Renaissancestils  (neben  dem  Ospedale  degli  Inocenti  und 
dem  Tabernakel  der  Arte  del  Cambio  an  Or  S.  Michele)  und  hebt  daran 
das  zeitlich  früheste  Vorkommen  von  kannelierten  Säulen  hervor. 

E.  Calzini  handelt  über  die  Arbeiten  Francescos  di  Simone  in 
Forli.  Außer  den  ihm  schon  seither  zugeschriebenen  Werken  (Büste  Pino 
Ordelaffis,  Grabmal  der  Barbara  Manfredi)  sieht  er  Francescos  Hand  in 
den  Kapitellen  des  Porticus  am  Palast  der  Manfredi  und  in  der  Madonna- 
lunette,  die  von  der  Seitentüre  des  Domes  in  die  Pinakothek  übertiagen 
wurde.  Die  letztere  ist  aber  viel  eher  als  Arbeit  seines  Vaters  Simone 
anzusprechen  (der  um  145°  1 ernpio  Maletestiano  zu  Rimini  be 

schäftigt  war). 

J.  B.  Supino  nimmt  (p.  41  ff.)  eine  in  zwei  Exemplaren  im  Museo 
Nazionale  vorhandene,  seither  dem  G.  Bologna  gegebene  kleine  Bronze- 
gruppe (als  Herkules  und  Cacus  oder  Samson  und  die  Philister  gedeutet) 
für  Daniele  da  Volterra  in  Anspruch,  indem  er  in  dessen  Gemälde  des 
bethlehemitischen  Kindermordes  in  den  Uffizien  eine  völlig  analoge  Gruppe 
nachweist.  Die  Attribution  Supinos  erhält  ihre  Bestätigung  durch  eine 
Anzahl  Skizzen  Danieles  zu  dem  in  Rede  stehenden  Werke,  die  P.  N.  Ferri 
mitteilt  (p.  64).  E.  Jacobsen  endlich  (p.  103)  weist  nach,  daß  Daniele 
sich  zu  seiner  Arbeit  als  Vorbild  einer  Tonskizze  Michelangelos  bediente, 
die  er  für  seine  beabsichtigte  Gruppe  des  Herkules  und  Cacus  entworfen, 
und  die  in  Casa  Buonarroti  (6.  Saal,  4.  Schrank)  vorhanden  ist. 

P.  Papa  veröffentlicht  aus  einem  Notizenbuch  im  Archiv  der  Familie 
Frescobaldi  die  Zahlungsvermerke,  die  sich  auf  die  Vermietung  einer 
Bottega  in  dem  den  Frescobaldi  gehörenden  Hause  im  Fondaccio  di 
S.  Spirito  an  Donatello  während  der  Jahre  1421  — 1426  beziehen  (p.  49 
und  50). 

G.  Poggi  bringt  (p.  57 — 64)  Urkundliches  zum  Bau  der  Kirche 
S*  Bartolomeo  des  Olivetanerklosters  bei  Florenz  und  über  die  für  sie 
gemalten,  heut  in  den  Florentiner  Sammlungen  befindlichen  Gemälde 
Lorenzo  Monacos  und  Raff,  del  Garbos. 


278 


Literaturbericht. 


Der  Berichterstatter  gibt  urkundliche  Zeugnisse  aus  dem  Florentiner 
Archiv  über  Holzbildhauerarbeiten  Baccios  da  Montelupo  (Kruzifix  für 
S.  Maria  dei  Servi,  Bildwerke  iür  die  Badia  von  S.  Godenzo),  sowie  einer 
Wachsbüste  Giuliano  Medicis  (für  die  erstgenannte  Kirche). 

G.  Poggi  veröffentlicht  (p.  98 — 103)  die  urkundlichen  Belege  (Ver- 
träge und  Zahlungsvermerke)  über  Minos  da  Fiesoie  Arbeiten  für  die 
Badia  von  Florenz,  die  — in  weniger  getreuer  Form  — schon  von 
E.  Müntz  (L’Art  ä la  Cour  des  Papes  I,  251  n.  4)  gedruckt  worden  waren. 
Derselbe  Autor  bringt  im  nächsten  Hefte  (p.  105  fr.)  urkundliche  Zeugnisse 
für  die  Autorschaft  Bern.  Rossellinos  an  dem  kleinen  Sakramentstabernakel 
im  Chor  von  S.  Maria  Nuova,  und  den  Text  des  Vertrags  (p.  146  fr.), 
womit  dem  Meister  die  Ausführung  eines  Teils  der  inneren  Kuppelgallerie 
des  Domes  im  Jahre  1442  übertragen  wird. 

A.  Canestrelli  beschreibt,  unter  Beigabe  von  Abbildungen,  die 
interessante  romanische  Kirche  zu  S.  Quirico  im  Orciathale  bei  Siena 
(p.  197  fr.),  J.  Mesnil  endlich  stellt  urkundlich  für  das  Tabernakel  der 
Madonna  der  Maestri  di  pietre  e di  legnami  im  Museo  nazionale  das 
Datum  147  5 fest,  wonach  es  somit  das  älteste  Werk  Andrea  della  Robbias 
von  sichernachweisbarer  Entstehungszeit  wäre. 

In  der  Mailänder  Rassegna  d'Arte  für  1903  finden  sich  die  folgenden, 
unsern  Gegenstandskreis  betreffenden  Mitteilungen: 

Der  Berichterstatter  veröffentlicht  zwei  Briefe  des  florentinischen 
Gesandten  Niccolini  am  Hofe  Lodovico  Moros  an  Piero  de  Medici,  die 
von  dem  Modelle  für  einen  Palast  handeln,  das  Giuliano  da  Sangallo 
entworfen  und  nach  Mailand  gebracht  hatte,  wo  der  Bau  aufgeführt  werden 
sollte  (p.  5 ff.) 

G.  Sordini  (p.  6 ff.)  beschreibt  den  Palazzo  della  Signoria  zu  Spoleto, 
einen  mächtigen  Bau  des  Trecento,  der  bisher  der  Aufmerksamkeit  der 
Fachkreise  entgangen  war. 

E.  Caviglia  schildert  (p.  51—57)  die  Ruinen  der  Abteikirche 
S.  Maria  della  Roccella  bei  Squillace,  die  er  dem  5. — 6.  Jahrhundert 
zuschreibt,  während  der  Bau  dem  Ende  des  12.  angehört,  wie  E.  Bertaux 
(L’Art  de  l’Italie  möridionale  I,  128)  jüngst  nachgewiesen  hat.  Pag.  105 
findet  sich  eine  auf  den  gleichen  Bau  bezügliche  Notiz  des  Münchener 
Architekten  Dr.  Julius  Groeschel,  worin  er  dem  Ende  des  11.  Jahrhunderts 
zugewiesen  wird  (s.  auch  weiter  unten  zu:  Zeitschrift  für  Bauwesen,  1903, 
S.  429 ff.) 

Fr.  Malaguzzi  macht  einige  Skizzen  zu  der  von  Pellegrino  pro- 
jektierten und  z.  T.  auch  1580  ausgeführten  Kirche  S.  Raftaello  in  Mailand 
bekannt,  die  er  im  dortigen  Staatsarchiv  auffand  (p.  5 7 ff.). 


Literaturbericht. 


279 


A.  Bellucci  gibt  (p.  66 ff.)  urkundliche  Notizen  über  die  1439  — 58 
bei  dem  Wiederaufbau  der  Stadtmauer  von  Rieti  beschäftigten  lombardischen 
Meister  (zumeist  von  Varese). 

Graf  Carlo  Gomba  macht  (p.  82)  ein  Stuckrelief  der  Madonna  in 
Villa  Castello  bei  Florenz  bekannt,  eine  Arbeit  Agostinos  di  Duccio,  die 
Replik  des  Reliefs,  das  jüngst  aus  der  Kirche  von  Auvilliers  in  den  Louvre 
gelangte. 

G.  B.  Rossi  teilt  Abbildungen  der  beiden  Robbiaarbeiten  in  Marseille 
mit,  der  Pietä  von  Giovanni  in  der  Kirche  de  la  Major  und  der  späteren 
Verkündigung  in  Notredame  de  la  Garde  (p.  104). 

L.  Marinelli  bespricht  den  Palast  Riario-Sforza  in  Imola,  den  1483 
wahrscheinlich  Giorgio  Marchisi  aus  Settignano  als  verkleinerte  Replik 
von  Pal.  Riccardi-Medici  in  Florenz  für  Catarina,  die  berühmte  Gattin 
Girol.  Riarios  erbaute  (p.  154). 

In  Napoli  Nobilissima  XII  (1903)  veröffentlicht  Ant.  Filangieri- 
Candida  eine  Studie  über  die  Büste  der  Sigilgaita  in  Ravello,  die  im 
Repertorium  XXVII,  377  resümiert  wurde;  G.  Abatino  gibt  eine  kurze 
Besprechung  der  Cattolica  in  Stilo  und  der  Kathedrale  von  Minturno; 
F.  Laccetti  eine  solche  des  Kastells  von  Monte  Serico  in  der  Basilicata. 
E.  Bern  ich  stellt  die  Behauptung  auf,  der  Entwurf  für  den  Triumphbogen 
Alfonsos  rühre  von  L.  B.  Alberti  her,  und  seine  Ausführung  hätten  Pisanello(!) 
und  Pietro  da  Milano  geleitet;  allein  was  er  zu  ihrer  Stütze  anführt, 
beruht  nicht  auf  objektiven  Gründen,  sondern  nur  auf  seinen  subjektiven 
Ansichten.  Über  die  der  Vollendung  nahen  Wiederherstellungsarbeiten 
am  selben  Monumente  berichtet  G.  Muralt:  II  restauro  all  Arco  di 
Castelnuovo.  Die  Stadtmauern  und  Tore  Neapels  bespricht  Ville  sur- 
Yllon:  Le  mura  e le  porte  di  Napoli.  P.  Piccirilli  beschreibt  einige 
der  hervorragendsten  Denkmäler  Marsiens  (S.  Lucia  in  Magliano,  S.  Maria 
in  Valle  bei  Rosciano,  S.  Maria  in  Moscufo,  S.  Pietro  in  Alba  Fucese, 
S.  Mafia  in  Cugnoli,  samt  den  in  den  vier  letzten  befindlichen  Kanzeln 
und  Ambonen,  endlich  S.  Cesidio  in  Trasacco  mit  zwei  reichen  Portalen 
aus  dem  Trecento). 

In  der  Rivista  ligure  X.XV  (1903)  p.  127  ff.  bespricht  A.  Romualdi 
den  zur  Niederlegung  bestimmten  romanischen  Kreuzgang  von  S.  Andrea 
zu  Genua  und  weist  auf  Grund  neuerlicher  Ausgrabungen  nach,  daß  die 
schon  früher  demolierte  Doppelkirche  in  ihrem  unteren  Geschoß  aus  dem 
10.  oder  11.  Jahrhundert  stammte,  während  die  Oberkirche  anfangs  des 
16.  Jahrhunderts  errichtet  wurde. 

In  Band  XXII  (1903)  der  Florentiner  Wochenschrift  Arte  e Storia 
bringt  G.  Carocci  in  einer  Reihe  von  Artikeln  wertvolle  historische  und 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft.  XXVIII.  20 


28o 


Literaturbericht. 


künstlerisch  beschreibende  Mitteilungen  über  mehrere  weniger  bekannte 
Abteien  Toskanas.  Es  sind  dies  die  Badia  von  Agnano  (p.  1 1)  in  Val 
d’Ambra,  vor  xooo  gegründet;  die  Abtei  von  Falesia  (p.  28)  am  Meer- 
busen von  Piombino,  1022  gegründet,  aber  schon  zu  Beginn  des  13.  Jahr- 
hunderts wegen  ihrer  ungesunden  Lage  verlassen  (ihre  Stelle  bezeichnet 
heut  nur  noch  eine  kleine  Kapelle);  die  zwischen  862  und  882  als 
Nonnenkloster  gegründete,  seit  1003  von  Camaldulensern  innegehabte 
Badia  della  Berardenga  im  Sienesischen  (p.  41);  endlich  die  altberühmte 
Abtei  S.  Salvatore  am  Monte  Amiata,  vom  Longobardenkönig  Rachis 
(744 — 49)  gegründet,  von  deren  ursprünglichem  Bau  heut  nur  noch  die 
Krypta  der  Kirche  vorhanden  ist  (p.  125). 

L.  Porciatti  macht  das  Taufbecken  im  Dom  zu  Grosse.to  bekannt, 
1470  von  einem  sonst  unbekannten  Ser  Ghino  gearbeitet,  bei  der  letzten 
Restauration  des  Baues  (1860)  leider  in  seine  Bestandteile  zerlegt  und 
seither  noch  immer  der  Rekomposition  harrend  (p.  35). 

D.  Sant’  Ambro gio  gibt  eine  historische  Notiz  über  das  Chor- 
berrnstift  S.  Maria  in  Rivalta  d’ Adda  bei  Treviglio  (p.  43),  zwischen  1090 
und  1100  gegründet,  zu  Beginn  des  12.  Jahrhunderts  ausgebaut,  der  Anlage 
von  S.  Ambrogio  in  Mailand  folgend  (durchaus  kreuzgewölbt  bis  auf  das 
Tonnengewölbe  des  Presbyteriums)  und  in  den  letzten  Jahren  verständnis- 
voll in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  wieder  hergestellt.  Noch  eingehender 
hat  derselbe  Autor  den  gleichen  Gegenstand  in  zwei  Nummern  der  Lega 
Lombarda  (vom  6.  und  8.  Februar  1903)  behandelt. 

A.  Ansei mi  berichtet  (p.  145)  über  ein  Altarwerk,  das  die  Brüder 
Ambrogio  und  Mattia  della  Robbia  für  eine  Kapelle  in  S.  Francesco  zu 
Macerata  in  den  Marken  1527  — 29  ausführten.  Vgl.  unsere  ausführliche 
Mitteilung  darüber  im  Repertorium  XXVIII,  98. 

C.  Cipolla  endlich  beschreibt  die  Kirche  S.  Severo  in  Bardolino 
am  Gardasee,  einen  Bau  des  1 x.  Jahrhunderts  (p.  155). 

Über  die  im  Archivio  storico  lodigiano  1903  p.  59  ff.  veröffentlichte 
Entdeckung  eines  in  Holz  geschnitzten  Altarwerkes  des  Bongiovanni  di 
Lodi  vom  Jahre  1480  durch  D.  Sant’  Ambrogio  wurde  im  Repertorium 
XXVII,  378  des  näheren  berichtet;  desgleichen  über  das  von  demselben 
Autor  in  der  Lega  Lombarda  vom  1.  Juni  1903  zuerst  bekannt  gemachte 
Maraiorrelief  G.  Ant.  Omodeos  im  Bischofspalast  zu  Pavia  (a.  a.  O.  S.  188). 

Auf  das  von  ihm  zuerst  in  der  Lega  Lombarda  vom  3.  Februar  1900 
besprochene  Grabmal  Cameri  im  Dom  zu  Volpedo  bei  Tortona  (s.  Reper- 
torium XXIII,  261)  kommt  dessen  Entdecker  D.  Sant’  Ambrogio  noch- 
mals ausführlicher  unter  Beifügen  einer  figürlichen  Darstellung  zu  sprechen 
im  Monitore  tecnico  von  Mailand  (20.  April  1903). 


Literaturbericht. 


281 


Über  die  schöne  Entdeckung  Supinos  (die  er  in  der  kleinen 
Schrift:  L’incoronazione  di  Ferdinande»  d’  Aragona,  Firenze  1903  ver- 

öffentlichte), durch  die  das  vielumstrittene  Krönungsrelief  des  Bargello 
nunmehr  als  eine  Arbeit  Ben.  da  Majanos  bestimmt  ist,  haben  wir  im 
Repertorium  XXVI,  262  berichtet. 

L.  Beltramis  Schrift:  Leonardo  da  Vinci  negli  studi  per  il  tiburio 
della  catedrale  di  Milano.  Per  nozze.  Milano  1903,  gibt  einleitend  die 
Geschichte  des  Kuppelbaues,  um  daran  die  Mitteilung  von  elf  Dokumenten 
zu  schließen,  welche  sich  auf  das  von  Leonardo  gelieferte  Modell  dazu 
beziehen.  Im  Anfänge  werden  weitere  29  urkundliche  Belege  über  den 
Verlauf  der  betreffenden  Arbeiten  von  1467  — 1498  abgedruckt.  Desselben 
Autors:  Bramante  e la  ponticella  di  Lodovico  il  M010  nel  castello  di 
Milano.  Milano  1903,  gibt  Notizen  über  Ursprung  und  Wiederherstellung 
der  dem  urbinatischen  Meister  zugeschriebenen  Brückenverbindung 
zwischen  zwei  Teilen  des  Kastells  vor  Porta  Giovia. 

G.  Agnellis  Schriftchen:  Il  palazzo  di  Lodovico  il  M010  in  Ferrara, 
Ferrara  1903,  trägt  die  Nachrichten  über  den  der  Tradition  nach  von 
Lod.  Sforza  erbauten  späteren  Palazzo  Calcagnini  gia  Costabili,  den 
schönsten  Privatbau  Ferraras  zusammen. 

C.  Mariottis:  Cenni  storici  ed  artistici  sul  palazzo  del  Popolo  in 
Ascoli  Piceno  gibt  über  diesen  wenig  bekannten  Bau  Notizen. 

Die  in  den  letzten  Jahren  in  nicht  durchaus  einwandfreier  Weise 
restaurierte  Kirche  S.  Savino  in  Piacenza,  eine  frühromanische  Pfeiler- 
basilika findet  eingehende  Beschreibung  in  dem  aus  diesem  Anlaß  von 
verschiedenen  Lokalforschern  zusammengestellten  Schriftchen:  La  regia 
Basilica  di  S..  Savino  in  Piacenza.  Piacenza  1903.  Und  über  die  in  der- 
selben Stadt  im  Herbst  1902  stattgehabte  Ausstellung  namentlich  kostbarer, 
wenig  gekannter  kirchlicher  Ausstattungsstücke  berichtet  in  Katalogform: 
G.  Ferrari,  Ricordo  della  mostra  d’arte  sacra  a Piacenza  nel  settembre- 
ottobre  1902.  Piacenza  1903  pp.  53  con  32  fotoincisioni. 

Darüber,  was  P.  Bacci  in  seiner  Schrift:  Cinque  documenti  per  la 
storia  dell’  arte  senese  del  XIII  e XIV  secolo.  Per  nozze.  Pistoja  1903, 
pp.  27  in-8°,  zur  Entstehung  des  Grabmals  Cinos  da  Pistoja  im  Dom  dieser 
Stadt  ausführt,  wurde  im  Repertorium  XXVIII,  186  des  näheren  berichtet. 

In  nArte  italiana  decorativa  e industrielle <t,  anno  1903  bringt  B.  Lava 
in  seinem  Artikel:  Facciate  dipinte  nel  Rinascimento  a Oderzo  (p.  9fr.) 
Beispiele  dieser  Dekorationsart  im  genannten  Orte;  M.  Morasso  berichtet 
(p.  35  ff.)  in  zwei  reich  illustrierten  Beiträgen  über  die  dekorative  Aus- 
stattung und  namentlich  auch  über  den  kostbaren  Kirchenschatz  der 
Scuola  di  S.  Rocco  in  Venedig;  G.  Carotti  gibt  in  seiner  durch  einige 


20' 


282 


Literaturbericht. 


Nummern  sich  fortsetzenden  Studie:  Le  cariatidi  nel  medio  evo  (p.  5 8 ff.) 
unter  anderem  die  Abbildung  des  bisher  kaum  beachteten  Ambonen  in 
der  Kirche  zu  Groppina  bei  S.  Giovanni  Valdarno,  eines  rohen  aber 
interessanten,  weil  ältesten  Spezimens  der  durch  lombardische  Meister 
nach  Toskana  gebrachten  frühmittelalterlichen  Skulptur.  E.  Signori,  Un 
opera  di  Ben.  da  Briosco  (p.  64),  bespricht  die  für  S.  Tommaso  in  Cremona 
gearbeitete  Area  der  hh.  Marcellinus  und  Petrus  unter  Mitteilung  des  Vertrags 
vom  Jahre  1506,  womit  die  Arbeit  Briosco  übertragen  wird.  Bei  der  1606 
erfolgten  Versetzung  in  die  Krypta  des  Domes  wurde  die  ursprüngliche 
Anordnung  geändert,  indem  der  übrigens  erst  1533  — 38  von  G.  B.  Maglio 
gearbeitete  Sarkophag  secentistische  Zusätze  erhielt.  Nach  Grassel lis 
Abecedario  p.  199  soll  er  überhaupt  nicht  der  für  die  Reliquien  der 
hh.  Marcellinus  und  Pietrus  bestimmte  Sarkophag,  sondern  die  von  Crist. 
Pedoni  um  dieselbe  Zeit  gearbeitete  Urne  des  h.  Arealdus  sein.  A.  Melani, 
Ornamenti  nel  Palazzo  ducale  di  Urbino  (p.  90  ff.),  schreibt  die  dekorative 
Ausstattung  dieses  Baues  ausschließlich  Ambrogio  da  Milano  und  seiner 
Bottega  zu.  Daß  ein  beträchtlicher  Teil  davon  Dom.  Rossel li  angehört, 
davon  weiß  dieser  Herr  nichts!  A.  Luxoro,  Reliquiari  nel  tesoro  della 
Cattedrale  di  Genova  (p.  96  ff.)  bespricht  unter  Beigabe  von  Abbildungen 
vor  allem  die  gotische  Silberarca  der  Asche  des  Täufers,  inschriftlich  1438 
durch  Teramo  di  Daniele  aus  Porto  Maurizio  begonnen  (von  ihm  der 
Entwurf  und  die  Ausführung  des  Architektonischen),  von  Simone  Caldera 
aus  Siena  1441  und  in  den  folgenden  Jahren  vollendet  (von  ihm  rühren 
die  Reliefs  und  zahlreichen  Einzelfiguren  her).  Sodann  die  Cassa  für  die 
h.  Hostie  bei  der  Prozession  des  Frohnleichnamfestes,  1553  von  Fr.  Rocchi 
aus  Mailand  und  Agostino  Groppi  aus  Venedig  entworfen  und  in  dem 
konstruktiven  Gerüst  ausgeführt;  in  dem  reichen  figürlichen  und  Relief- 
schmuck vollendet  von  einigen  kunstgewandten  flämischen  Söldnern  in 
Diensten  der  Republik  (Utpheten,  Foes,  Martinez  und  einem  Arrigo). 

Im  Jahrbuch  der  preußischen  Kunstsammlungen,  Bd.  XXIV  (1903)  ver- 
öffentlicht der  Berichterstatter  seine  Studie  über  Adriano  Fiorentino 
(S.  71  — 98).  Völlig  neu  ist  der  auf  urkundlicher  Grundlage  erbrachte 
Nachweis,  daß  der  Meister  sich  nicht  bloß  als  Bronzebildner,  sondern 
auch  als  Medailleur  betätigt  hat.  Die  Zahl  der  vom  Berichterstatter 
als  seine  Arbeiten  erkannten  sechs  Medaillen  hat  W.  Bode  seither  um 
zwei  vermehrt  (s.  Zeitschrift  f.  bild.  Kunst  XV,  1903,  S.  41). 

E.  v.  Ubisch  und  O.  Wulff  besprechen  (S.  208  — 241)  einen  lango- 
bardischen  Helm  im  kgl.  Zeughaus  zu  Berlin,  der  aus  dem  Fund  von 
Giulianova  im  Jahre  1896  stammt  und  für  das  Eindringen  germanischer 
Bildtypen  und  Kunstanschauung  nach  Italien  zeugt. 


Literaturbericht. 


283 


L.  Justi  versucht  in  seiner  Studie:  Giovanni  Pisano  und  die  toskanischen 
Skulpturen  des  XIV.  Jahrhunderts  im  Berliner  Museum  (S.  247  bis  283)  die 
Chronologie  der  Werke  des  Meisters  aufzustellen  und  schließt  daran  eine 
Würdigung  der  Arbeiten  seiner  Schüler,  wie  des  späteren  Trecento  überhaupt. 

W.  Bode  reproduziert  und  bespricht  kurz  Antonios  della  Porta  Büste 
des  Acellino  Salvago,  die  kürzlich  als  Geschenk  der  Erben  der  Kaiserin 
Friedrich  dem  Berliner  Museum  einverleibt  wurde  (S.  318  — 319). 

Der  Berichterstatter  gibt  in  seinem  Artikel:  Giuliano  da  Majano 
in  Siena  (S.  320 — 334),  Kunde  von  Lisinis  urkundlichem  Nachweis,  wonach 
Palazzo  Spanocchi  nach  dem  Entwurf  des  Meisters  erbaut  wurde,  und 
führt  einige  andere  Paläste  Sienas  (Pal.  Del  Vecchio,  Refugio  di  S.  Galgano) 
auf  den  Einfluß  dieses  Vorbildes  zurück. 

Im  Beiheft  zu  vorliegendem  Bande  des  Jahrbuchs  endlich  ver- 
öffentlicht derselbe  die  chronologischen  Prospekte  zum  Leben  und  Werke 
von  Giul.  da  Majano  und  Pagno  di  Lapo  mit  reichen  Erläuterungen  und 
Urkundenbelegen  (S.  119 — 154). 

In  der  Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  Bd.  XIV  (1903)  beschäftigt 
sich  ein  Artikel  R.  Delbrücks:  Ein  Porträt  Friedrichs  II.  von  Hohenstaufen 
(S.  17  — 21)  mit  der  Büste  am  Giebel  der  Kathedrale  von  Acerenza,  die 
von  ihm  mit  den  Skulpturen  vom  Brückenkopf  zu  Capua  in  eine  Reihe 
gestellt  wird.  Dagegen  erhebt  ebendort  (S.  86)  F.  Philippi  seine  Stimme, 
sich  auf  die  Siegelporträts  Friedrichs  II.  stützend.  Ebenso  (S.  246  — 255) 
J.  R.  Dieterich  unter  Heranziehung  des  gesamten  numismatischen  und 
sigillographischen  Materials. 

Ernst  Pollaczek:  Zwei  Selbstbildnisse  des  Nicola  Pisano  (S.  143 
bis  146)  glaubt  in  den  Reliefs  der  Kanzeln  von  Pisa  und  Siena  zwei 
Porträts  des  Meisters  nachweisen  zu  können. 

E.  Steinmann  stellt  (S.  147  — 157)  zuerst  das  CEuvre  des  Bild- 
hauers Michele  Marini  zusammen,  indem  er  von  dessen  Sebastianstatue 
und  Madonnenrelief  in  der  Kapelle  der  Maffei  in  S.  Maria  sopra  Minerva 
zu  Rom  ausgeht,  Arbeiten,  von  denen  wenigstens  die  erstere  durch  Vasari 
als  Werk  Marinis  beglaubigt  ist.  Auf  Grund  von  Stilanalogie  mit 
diesen  werden  dem  Meister  die  Grabmäler  Agostino  und  Benedetto  Maffeis 
ebendaselbst,  dasjenige  Filippos  della  Valle  in  Araceli  und  das  Lorenzo 
Cibos,  jetzt  in  S.  Cosimato,  ferner  die  Ponzettiepitaphien  in  S.  Maria 
della  Pace,  endlich  die  liegende  Grabstatue  des  Erzbischofs  von  York 
in  S.  Tommaso  degli  Inglesi  zugeteilt,  u.  E. , mit  vollem  Recht. 

Die  Berliner  Zeitschrift  für  Bauwesen  (1903)  enthält  folgenden 
Beitrag  von  J.  L.  Heiberg:  Die  Kanzel  von  Moscufo  und  verwandte 
mittelalterliche  Kanzeln  in  den  Abruzzen  (S.  275  ff.).  Was  er  Geschieht- 


284 


biteraturbericht. 


liches  und  Stilkritisches  über  diese  Denkmäler  des  n.  — 13.  Jahrhunderts 
ausführt,  ist  wohl  durch  die  eingehende  Behandlung,  die  ihnen  Bertaux 
in  seinem  monumentalen  Werke  Über  die  Kunst  Süditaliens  angedeihen 
läßt,  überholt;  dagegen  behalten  die  ganz  vorzüglichen  illustrativen  Bei- 
gaben von  Heibergs  Aufsatz  ungeschmälert  ihren  Wert.  Ferner  bringt 
die  gleiche  Zeitschrift  eine  ausführliche  Studie  Dr.  Julius  Groeschels 
über  S.  Maria  della  Roccella  (S.  429—448;  vgl.  oben  zu  Rässegrtä  d’ Arte 
p.  51 — 57),  deren  Ergebnis  darin  gipfelt,  daß  der  Verfasser  diese  heut  in 
Ruinen  liegende  kreuzförmig  gewölbte  Basilika  für  eine  Gründung  süd- 
französischer Mönche  vom  Ende  des  n.  Jahrhunderts,  nach  dort  heut 
noch  bestehenden  Vorbildern,  erklärt.  Dies  bestreitet  Strzygowski:  Der 
angebliche  Stillstand  der  Architekturentwicklung  von  Konstantin  bis  auf 
Karl  d.  Gr.  (S.  630  — 634),  indem  er  für  die  in  seinem  Buche;  »Kleinasien, 
ein  Neuland  der  Kunstgeschichte«  gewonnenen  Ergebnisse  eintritt,  und 
die  Analogien  zwischen  S.  M.  della  Roccella  und  ihr  nahestehenden 
Anlagen  in  Südfrankreich  daraus  erklärt,  daß  er  sie  auf  die  beiden  gemein- 
same orientalische  (kleinasiatische)  Quelle  zurückführt,  die  schon  in  der 
Zeit  zwischen  Konstantin  und  Justinian  die  gewölbte  Kreuzbasilikä  äüf- 
weist.  Er  sieht  sonach  in  dem  süditalienischen  Bau  eine  Gründung 
orientalischer  (Basilianer)  Mönche  aus  der  Zeit  zwischen  Konstantin  und 
Karl  d.  Gr. 

Band  XXIV  (igoj)  des  Jahrbuchs  der  Kunstsammlungen  des  öster- 
reichischen Kaiserhauses  enthält  J.  von  Schlossers  Artikel:  Über  einige 
Antiken  Ghibertis  (S.  125  — 159).  In  der  bei  ihm  gewohnten  geistvollen 
und  anregenden  Weise  behandelt  er  im  ersten  Teil  seiner  Studie  das 
sogenannte  »Bett  des  Polyklet«,  — worin  er  eines  jener  hellenistischen 
Totenmalreliefs  nachweist,  die  man  jetzt  mit  dem  Heroenkultus  in  Ver- 
bindung bringt,  während  man  ihnen  in  den  Kreisen  der  Sammler  und 
Gelehrten  der  Renaissance  einen  stark  erotischen  Sinn  unterschob.  Mit 
Hilfe  synchroner  Zeugnisse  wird  die  Geschichte  der  vier  Exemplare  jenes 
Reliefs,  wovon  uns  Kunde  überliefert  ist,  rekonstruiert  und  dabei  das  — 
wahrscheinliche  — Ergebnis  gewonnen,  das  Exemplar  Ghibertis  sei  durch 
die  Sammlungen  Gaddi,  Bembo,  Alfons  I.  von  Ferrara  in  jene  Rudolfs  II. 
gelangt,  wo  seine  Spur  sich  verliert.  Der  zweite  Artikel  beschäftigt  sich 
mit  der  »Venus  des  Lysipp,  d.  h.  jener  Statue,  die  — wie  uns  Ghiberti 
in  seinen  Kommentarien  berichtet  — in  Siena  aufgefunden  und  als 
Krönung  des  Stadtbrunens  aufgestellt,  aber  nach  kurzer  Zeit  wieder  ent- 
fernt wurde,  »cum  inhonestiim  videatur«,  wie  es  in  der  Begründung  des 
Ratsbeschlusses  vom  7.  Nov.  1357  lautet.  Schlosser  frägt  sich  nun,  ob 
die  Statue  nicht  Anregung  und  Vorbild  zu  der  seltsamen  und  ganz  unge- 
wöhnlichen Verkörperung  der  Klugheit  gegeben  habe,  die  wir  in  der 


Literaturbericht. 


285 


Gruppe  der  von  den  Kardinaltugenden  umgebenen  Verkörperung  der  Stadt 
Pisa,  die  einst  einen  Bestandteil  der  Domkanzel  Giov.  Pisanos  bildete, 
sehen  und  die  in  Stellung  und  Gebärde  durchaus  an  die  Venus  von  Medici 
erinnert.  Es  wäre  dies  ein  Faktum  von  nicht  geringem  Wert  für  die 
Erkenntnis  der  künstlerischen  Psyche  im  1 recento.  — Im  Schlußteil  seiner 
Studie  bringt  unser  Verfasser  den  Kolossaltorso  eines  herkulisch  gebauten 
Satyrs  der  Uffizien,  den  man  jetzt  der  pergamenischen  Schule  zuweist,  und 
der  1778  aus  dem  Besitze  der  Gaddi  erworben  wurde,  mit  der  Isakfigur  auf 
Ghibertis  bekanntem  Konkurrenzrelief  in  Verbindung,  mit  der  er  eine  gewisse 
Verwandtschaft  aufweist.  Freilich  steht  es  nicht  mit  Sicherheit  fest,  daß  der 
Torso  einst  wirklich  im  Besitz  des  Meisters  war,  aber  unwahrscheinlich 
ist  dies  keinesfalls.  Im  Verfolg  seiner  höchst  interessanten  Ausführungen 
geht  dann  Schlosser  auf  den  Unterschied  in  der  Auffassung  der  Antike 
näher  ein,  der  sich  in  ihrer  Nachahmung,  bei  dem  Meister  der  Venus  von 
Pisa  und  bei  Ghiberti  kundgibt:  für  jenen  liefert  sie  nur  das  »Exemplum«, 
d.  h.  das  mittelalterliche  Erinnerungsbild,  — Ghiberti  eignet  sie  sich 
nicht  mehr  äußerlich,  stofflich,  phantastisch  an,  sondern  als  eine  innere 
Erfahrung,  die  ihm  die  rechten  Wege  zum  eigenen  Kunstschaffen  weist 
und  lehrt,  weil  ein  Funke  ihres  Geistes  auch  in  ihm  lebt. 

Band  X (1903)  der  Monuments  et  Mimoires,  Fondation  Engine  Piot 
enthält  einen  Artikel  Andrö  Michels  über  Agostinos  di  Duccio  Marmor- 
relief der  Madonna  mit  Engeln,  das  unlängst  aus  der  Schloßkapelle  von 
Auvilliers  (Oise)  in  den  Besitz  des  Louvre  übergegangen  ist.  Ein  Mitglied 
der  Familie  de  Bonni£res,  das  in  Italien  unter  Bonaparte  diente,  hatte 
es  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  dorther  mitgebracht  und  an  den 
genannten  Ort,  der  in  seinem  Besitz  war,  gestiftet.  Jüngst  wurde  in  der  Villa 
von  Castello  bei  Florenz  eine  fast  ganz  identische  Stuckreplik  des  Louvre- 
reliefs aufgefunden  (s.  Rassegna  d’  arte,  Julinummer  1903),  dessen  Entstehung 
der  Entdecker  Graf  Gamba  für  die  Jahre  1465  — 68  festlegen  konnte.  Nun 
steht  der  Typus  der  Madonna  und  der  Engel  im  Castellorelief  demjenigen  der 
Figuren  des  zweiten  Reliefs  des  Meisters,  das  etwas  früher  durch  Schenkung 
Adolph  Rothschilds  in  den  Louvre  kam,  näher,  als  dem  des  Auvilliersreliefs,  und 
da  dies  letztere  namentlich  in  den  beiden  Stiacciatoengeln  des  Hintergrundes 
die  größten  Analogien  mit  ähnlichen  von  Duccio  in  Rimini  gemeißelten 
Gestalten  besitzt,  so  läßt  sich  die  Reihenfolge  der  in  Rede  stehenden 
Arbeiten  festlegen:  das  Rothschildrelief  entstand  — nach  1450  — zuerst, 
dann  — zwischen  1465  u.  1468  — det  Stuck  in  Villa  Castello  und  danach 
später  das  Marmorrelief  aus  Auvilliers.  Da  dies  letztere  abei  demjenigen 
im  Museo  dell’  Opera  del  Duomo  ganz  stilähnlich  ist,  so  muß  auch  dies 
in  die  Spätzeit  des  Meisters  gesetzt  werden.  C.  v.  Fabnczy. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 

Die  Fresken  des  Antoniazzo  Romano  im  Sterbezimmer  der  h. 
Katharina  von  Siena  zu  S.  Maria  sopra  Minerva  in  Rom  macht  uns  zuerst 
Adolf  Gottschewski  nicht  nur  als  Arbeiten  des  genannten  Meisters,  sondern 
überhaupt  in  einer  bei  Heitz  in  Straßburg  erschienen,  mit  trefflichen 
Reproduktionen  ausgestatteten  Publikation  bekannt.  Denn  wenige,  selbst 
unter  den  Fachgenossen,  werden  in  die  dunkle,  hinter  der  Sakristei  der 
Minerva  gelegene  Kapelle,  die  die  fraglichen  Wandbilder  birgt,  gedrungen 
sein.  Außer  dem  größten  Hauptbild  der  Kreuzigung  und  einer  Verkündigung 
sind  es  zehn  Einzelgestalten  von  Heiligen.  Ihre  Bestimmung  auf  Antoniazzo 
begründet  der  Verfasser  durch  die  stilistische  Analogie  mit  der  in  der- 
selben Kirche  befindlichen  Tafel  der  Verkündigung,  und  noch  schlagender 
mit  der  Kreuzigung  am  Tabernakel  über  dem  Hochaltar  von  S.  Giovanni 
in  Laterano,  die  die  größte  Ähnlichkeit  in  Formen,  Gewandbehandlung, 
Art  der  Komposition  mit  der  Minervakreuzigung  aufweißt.  Die  Lateran- 
kreuzigung wurde  wohl  bisher  dem  Bonfigli.  und  Fiorenzo  di  Lorenzo 
gegeben;  aber  Gottschewski  weist  die  absolute  Gleichheit  zwischen 
mehreren  ihrer  Figuren  mit  solchen  auf  bezeichneten  Bildern  Antoniazzos 
nach  und  rechtfertigt  somit  die  Zuteilung  der  Tabernakelbilder  an 
Antoniazzo  und  somit  auch  die  der  Minervafresken  an  denselben 
Meister.  Des  weiteren  bietet  der  Verfasser  einen  sorgfältigen  Prospekt 
über  Leben  und  Werke  Antoniazzos  und  charakterisiert  ihn  als  »ein 
wirtschaftliches  Talent«,  der.es  verstand,  mit  der  Kurie  in  stete  Verbindung 
zu  gelangen,  das  Wasser  ihrer  Bestellungen  auf  seine  Mühle  zu  treiben 
und  von  den  Beamten  sein  Geld  einzukassieren  — Dinge,  die  in  Rom 
wichtiger  waren  als  anderswo.  Endlich  gibt  Verfasser  auch  Apercus  zur 
Charakterisierung  der  Künstlereigenart  seines  Helden.  Seine  Kunst 
ist  einfach,  ernst,  streng,  seine  Gestalten  würdevoll  und  feierlich,  von 
einer  gesteigerten  Körperlichkeit  und  Wucht,  wie  sie  dann  voll  erst  in  den 
Schöpfungen  des  Cinquecento  erreicht  wird.  In  ihm  tritt  etwas  Neues  in 
die  Geschichte  der  Malerei:  Rom.  Ein  Verzeichnis  der  authentischen 
und  attribuierten  Werke  des  Meisters1),  sowie  eine  Bibliographie  der  sich 

’)  Seither  ist  eine  weitere  Arbeit  von  ihm,  eine  Freske  der  Verkündigung  im 
Pantheon  (erste  Kapelle  rechts  vom  Eingang)  aufgedeckt  worden  (s.  Giornale  d’  Italia 
vom  io. -Juli  1904). 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


287 


mit  ihm  beschäftigenden  Schriften  und  Artikel  schließen  die  wertvolle, 
mit  Sorgfalt  und  Liebe  gearbeitete  Studie  unseres  Verfassers.  C.  v.  F. 


Pistojas  Kunstschätze  hat  jüngst  ein  junger  florentinischer  Forscher  zum 
Gegenstand  eingehenderer  Darstellung  und  kritischerer  Betrachtung  gemacht, 
als  sie  die  bisherigen  Guide»  und  Lokalhistoriker  (Ciampi,  Tolomei,  Tigri) 
boten  (Odoardo  H.  Giglioli,  Pistoja  nelle  sue  opere.d’  arte,  Firenze  1904, 
176  S.  gr.  8°  mit  42  Illustrationen).  Schon  daß  der  Verfasser  seine  Arbeit 
mit  sorgfältigen  Inhaltsverzeichnissen  der  Werke,  Künstler  und  urkund- 
lichen Belege,  sowie  einer  Bibliographie  der  von  ihm  benutzten  einschlägigen 
Publikationen  einleitet,  erweckt  von  vornherein  für  sie  günstige  Erwartungen, 
die  sich  bei  näherer  Bekanntschaft  durchaus  rechtfertigen.  Giglioli  beginnt 
mit  einer  Übersicht  der  Architektur  an  Kirchen  und  Palästen,  behandelt 
dann  in  chronologischer  Folge  die  Werke  der  Skulptur  (mit  Einschluß 
der  Ho}zde^orationen  und  Goldschmiedearbeiten)  und  schließt  mit  der 
Schilderung  der  Fresken  und  Tafelbilder.  Der  Verfasser  hat  sich  mit 
seinem  Gegenstände  genau  vertraut  gemacht;  er  gibt  allemal  zuerst  die 
Ansichten  seiner  Vorgänger,  wägt  sie  sorgfältig  und  begründet  daraufhin 
sein  eigenes  Urteil.  Daß  er  die  Forschungen,  die  dank  dem  Eifer  einiger 
für  die  Vergangenheit  ihrer  Vaterstadt  begeisterten  Männer,  in  dem  kürzlich 
begründeten  Bolletino  pistojese  auch  für  die  Kunstgeschichte  interessante 
Aufschlüsse  ergeben  haben,  durchaus  kennt  und  berücksichtigt,  versteht 
sich  von  selbst.  Aber  auch  Giglioli  selbst  hat  dies  urkundliche 
Material  durch  glückliche  Entdeckungen  in  den  Florentiner  und  Pistojeser 
Archiven  zu  vermehren  vermocht  (s.  z.  B.  das  Statut  der  Arte  de’  Legnaiuoli, 
S.  110,  den  Vertrag  über  die  Anfertigung  der  Domtüren,  S.  114  u.  a.  m.). 
Auch  die  Würdigung  und  teilweise  Reproduktion  der  kürzlich,  dank 
namentlich  dem  Eifer  der  Brüder  Chiappelli,  in  S.  Francesco  aufgedeckten 
Fresken  gibt  Giglioli  hier  zuerst;  gleicherweise  ist  ihm  die  erste  ein- 
gehendere Beschreibung  der  Wandbilder  (sowie  die  Wiedergabe  eines 
davon)  in  Casa  Tonini  (ehemals  Kloster  der  Frati  del  T)  zu  danken; 
ihre  Zuschreibung  an  Antonio  Vite  zieht  der  Verfasser  in  Zweifel,  und 
hofft  durch  weitere  Forschungen  im  Pistojeser  Archiv  die  Frage  endgültig 
lösen  zu  können.  So  vielem  Wertvollen  gegenüber  kommen  kleine  Aus- 
lassungen und  Versehen  kaum  in  Betracht.  So  ist  z.  B.  des  Verfassers 
Zweifel  an  der  Autorschaft  Ben.  Bugliones  für  die  Krönungslunette  am 
Ospedale  del  Ceppo  durch  unsere  Mitteilung  eines  Zahlungsvermerks 
dafür  widerlegt  (s.  Rivista  d’  Arte  II,  139),  und  das  Auferstehungsrelief 
in  S.  Francesco  auch  als  sein  Werk  nachgewiesen  (1.  c.  p.  56).  Das 
Madonnenrelief  im  Pal.  comunale,  von  Giglioli  nur  allgemein  als  Arbeit 


288 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


eines  Minoschülers  bestimmt,  haben  wir  schon  in  der  8.  Auflage  des 
Cicerone,  als  dem  »Meister  der  Marmormadonnen«  gehörig  aufgeführt. 
Leider  kennt  Giglioli  die  neuesten  Ciceroneausgaben  nicht,  sondern  zitiert 
stets  die  veraltete  französische  Übersetzung  der  fünften  Auflage,  und  mit 
ihr  manche  seither  berichtigten  irrtümlichen  Angaben  der  letzteren  (s.  z.  B. 
S.  76  über  das  Taufbecken  von  S.  Giovanni  fuorcivitas).  Die  Angabe 
S.  46,  man  habe  behauptet,  Giov.  Pisano  sei  in  Apulien  geboren,  beruht 
selbstverständlich  auf  einer  Verwechslung  mit  seinem  Vater,  die  andere 
S.  109,  das  Imbriachiatelier  habe  in  Florenz  bestanden,  auf  einem  Irrtum, 
v.  Schlossers  schöne' Arbeit  über  den  Gegenstand  scheint  unserem  Verfasser 
entgangen  zu  sein;  in  der  Bibliographie  ist  sie  nicht  angeführt.  Ebenso 
fehlen  darin  Fioravantes  »Vacchettone«,  Burckhardts  »Baukunst  der  Re- 
naissance«, Venturis  Aufsatz  über  Francesco  Ferrucci  im  Archivio  storico 
dell’  Arte,  unsere  Brunelleschimonographie,  und  sind  bei  Anführung  von 
Zeitschriftenartikeln  die  Titel  nicht  angegeben.  — Endlich  wäre  die 
häufige  Anführung  der  Angaben  von  Mothes’  durchaus  kritikloser  »Bau- 
kunst des  Mittelalters  in  Italien«  besser  weggeblieben.  C.  v.  F. 


Nekrolog. 

Gustav  Ludwig. 

In  Gustav  Ludwig,  der  am  16.  Januar  1905  zu  Venedig,  im  Cappello 
nero,  wo  er  seinen  Wohnsitz  ein  Jahrzehnt  hindurch  gehabt  hat,  ver- 
schied, hat  die  deutsche  Kunstwissenschaft  ihren  namhaftesten  Vorkämpfer 
auf  italienischem  Boden  verloren.  Durch  eine  Vereinigung  aller  Eigen- 
schaften, deren  der  Forscher  bedarf,  unermüdlichen  Fleiß  und  Zähigkeit, 
Spürsinn  (den  Vorläufer  des  Finderglücks)  und  die  weitesten  Gebiete 
umfassende  Kenntnisse,  hat  er  sich,  obschon  nicht  »vom  Fach«,  in  wenigen 
Jahren  eine  in  Deutschland  und  Italien  gleich  hervorragende,  ja  einzige 
Stellung  erworben. 

Wie  er  eigentlich  dazu  gekommen  ist,  sich  diesem  speziellen 
Forschungsgebiet  zuzuwenden,  hat  keiner  auch  der  ihm  nahestehenden  je 
genau  erfahren,  wie  er  denn  überhaupt  mit  Mitteilungen  über  sein 
Leben  äußerst  sparsam  war.  Nur  daß  er,  aus  Hessen  gebürtig,  etwa 
zwanzig  Jahre  hindurch  als  Arzt  in  London  tätig  gewesen  ist,  hat  er 
gelegentlich  erzählt.  In  Beziehung  zu  dem  Sammler  Henry  Doetsch,  hat 
er  sich  mit  Bildern  zu  beschäftigen  angefangen.  Es  heißt,  daß  der  Zufall, 
da  er  über  irgend  ein  Bild  etwas  im  Staatsarchiv  zu  Venedig  zu  erfragen 
wünschte,  ihm  unbekanntes,  reiches  Material  in  die  Hand  spielte  und 
sein  Interesse  rege  machte. 

Die  venezianische  Kunstgeschichte  war  nun  freilich  nicht  in  dem 
Maße  von  der  Forschung  vernachlässigt  worden,  als  man  es  gelegentlich 
aussprechen  hört.  Schon  im  achtzehnten  Jahrhundert  hatte  Zanetti  urkund- 
liche Nachrichten  über  die  Maler  mitgeteilt,  im  letzten  Jahrhundert  ver- 
öffentlichten die  beiden  Geistlichen  Jacopo  Morelli  und  Giannantonio 
Moschini  viel  wertvolles  Material.  In  Emanuele  Cicogna,  dessen  Haupt- 
werk, die  »Iscrizioni  veneziani«  (sechs  Bände  1823  — 1854),  leider  Fragment 
geblieben  ist,  hat  die  venezianische  Forschung  auf  allen  Gebieten  der 
Historie  einen  Repräsentanten  von  unvergänglicher  Bedeutung  gehabt 
Lorenzi,  in  seinen  Monumenti  per  servire  alla  storia  del  Palazzo  Ducale 
(nur  Band  I erschienen,  1868)  übergab  eine  Fülle  wichtiger  Daten  zur 
Geschichte  der  drei  Schwesterkünste  der  Öffentlichkeit.  Vielerlei  Material 
erschien  in  dem  Archivio  Veneto,  wo  unter  anderm  der  Archivdirektor 


290 


Nekrolog. 


Cecchetti  Mitteilungen  über  venezianische  Maler  machte,  während 
P.  G.  Molmenti  das  kulturelle  Leben  der  Stadt  in  seiner  »Storia  di 
Venezia  nella  vita  privata«  (zuerst  1879)  in  großen  Zügen  darstellte. 

In  der  neuesten  Zeit  bewiesen  die  Publikationen  Paolettis,  die 
zwei  Hefte  der  Documenti  inediti  per  servire  alla  storia  della  pittura 
Veneziana  (Padua  1894/95),  dann  das  monumentale  Werk  — Architettura 
e scultura  di  Venezia  (Venedig  1893)  — , wieviel  für  den  Forscher  trotz 
so  namhafter  Vorgänger  zu  tun  übrig  geblieben  war. 

Kurze  Zeit  nachdem  Paolettis  Arbeiten  erschienen  waren,  setzte 
Ludwigs  Forschertätigkeit  ein.  Er  erkannte,  was  vor  allem  not  tat,  um 
Resultate  von  bleibender  Bedeutung  zu  gewinnen:  die  planmäßige  Durch- 
arbeitung aller  Abteilungen  des  venezianischen  Archivs.  Er  bewies 
hierbei  eine  Klarheit  des  Vorgehens,  ein  organisatorisches  Talent,  die 
zum  Teil  den  glänzenden  Erfolg  seines  Wirkens  begreiflich  erscheinen 
lassen.  Bereits  in  einem  seiner  ersten  Aufsätze,  den  er  publizierte  — in 
dieser  Zeitschrift  vor  nunmehr  sechs  Jahren  — hat  er  seine  Grundsätze 
niedergelegt:  er  beherrschte  und  übersah  das  weite  Gebiet  schon  damals 
vollkommen. 

Er  setzte  überall  dort  ein,  wo  die  frühere  Forschung  gar  nicht  oder 
unvollkommen  wirksam  gewesen  war. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  napoleonische  Epoche  mit  ihren  gewalt- 
samen Umwälzungen  den  Kunstbesitz  von  Kirchen,  Klöstern,  Brüderschaften 
frei  machte,  der  jahrhundertelang  wenigen  Veränderungen  unterworfen 
gewesen  und  in  zahlreichen  Handbüchern  (Guiden)  aufgezeichnet  worden 
war.  Seit  dem  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  aber  war  der  Faden 
der  Tradition  abgerissen. . Ludwig  durchforschte  die  Papiere  des  Dele- 
gaten Edwards,  dem  die  Ordnung  des  Bildbestandes  Venedigs  anvertraut 
worden  war,  und  es  gelang  ihm  nachzuweisen,  wo  die  überall  hin  ver- 
streuten Kunstwerke  ursprünglich  sich  befunden  hatten.  Damit  war  dann 
die  Basis  für  die  weitere  Forschung  gegeben. 

Gleichzeitig  wurden  die  verschiedensten  Abteilungen  des  Archivs, 
die  Notariatsakten  vorzüglich,  Steuerangaben,  Serien  der  Behörden  und 
was  sonst,  systematisch  durchgesehen  und  es  trat  eine  alle  überraschende 
Fülle  unbekannten  Materials  zutage.  Große  und  kleine  hat  er  mit 
gleicher  Liebe  behandelt,  es  schien  ihm  nichts  unwesentlich,  ob  nun  die 
größten  Meister  oder  bescheidene  Kunsthandwerker  in  dieser  Weise 
unserer  Erkenntnis  näher  gebracht  wurden.  Dieses  weite  und  breite 
Forschungsprinzip  führte  ihn  frühzeitig  auf  kulturelle  Dinge  im  allge- 
meinen, und  er  legte  jene  große  Sammlung  von  Inventaren  des  Privat- 
besitzes an,  die  der  Wissenschaft  nutzbar  zu  machen  ihm  selbst  nicht 
beschieden  gewesen  ist. 


Nekrolog. 


291 

Daneben  hat  er  einzelne  Meister  mit  besonderem  Interesse  behandelt 
und  in  große,  zum  Teil  verworrene  Gebiete  Klarheit  und  Ordnung 
gebracht.  Seine  Aufsätze  über  Bonifazio  berichtigten  nicht  nur  einen 
alten  Irrtum,  der  auf  Moschini  und  Bernasconi  zurückgeht,  bezüglich  der 
Person ; sie  behandelten  auch  das  ganze  Bildmaterial  des  Künstlers  und 
seiner  Werkstatt  und  rekonstruierten  die  Staatsräume,  für  die  jene  Gemälde 
einst  geschaffen  worden  waren.  Für  Carpaccio  hatte  er  eine  besondere 
Vorliebe;  ihm  war  sein  erster  Aufsatz  gewidmet;  dann  hat  er  in  seinem 
Werke  über  die  Scuola  di  Sant’  Orsola  seines  Meisters  Hauptwerk 
erschöpfend  behandelt  (zusammen  mit  Molmenti).  In  der  Vorbereitung 
zu  einem  abschließenden  Buch  über  Carpaccio  hat  ihn  der  Tod  abge- 
rufen und  dem  italienischen  Mitarbeiter  die  verantwortungsvolle  Aufgabe 
hinterlassen,  aus  Andeutungen  und  Illustrationen  dasjenige  herzustellen, 
was  Ludwig  vorgeschwebt  hat. 

Endlich  ging  er  dem  Inhalt  einzelner  Bilder  nach,  um  deren 
Deutung  man  sich  bis  dahin  vergebens  gemüht  hatte.  Mit  Zähigkeit 
eroberte  er  sich  auch  hier  ein  weites  Gebiet;  er  ging  zurück  auf  die  uns 
so  fernliegende  Anschauungsweise  des  späten  Mittelalters  und  fand  in 
französischen  Miniaturen  die  Vorbilder  wieder,  aus  denen  sich  die 
Elemente  von  Bellinis  Bild  der  »Madonna  am  See«  zusammensetzen. 
Und  so  deutete  er  desselben  Meisters  Allegorien  in  der  venezianischen 
Akademie  und  hatte  ebenso  das  Material  für  die  Erklärung  von  Tizians 
»Himmlischer  und  irdischer  Liebe«  zusammengestellt.  Vor  etwa  sechs 
Jahren  hat  er  es  mir  einmal  vorgelegt  und  erläutert;  aber  der  Aufsatz 
ist  nie  geschrieben  worden  und  es  ist  zweifelhaft,  ob  sich  mehr  als  die 
Illustrationen  im  Nachlaß  finden  werden. 

Denn  er  arbeitete  alles  im  Kopfe  aus,  bis  zum  letzten,  hatte  das 
Material  abgeschlossen  und  musterhaft  geordnet  bereit;  in  kürzester  Zeit 
war  er  dann  imstande  die  Niederschrift  vorzunehmen.  Was  für  ihn  das 
Selbstverständliche  war,  bedeutet  nun,  da  er  nicht  mehr  seine  Truppen 
kommandieren  kann,  für  die  Wissenschaft  einen  schweren  Verlust.  Mit 
ihm  sind  Schätze  zu  Grabe  getragen  worden,  die  zu  heben  ein  anderer 
kaum  imstande  sein  wird. 

Was  er  geleistet  hat,  davon  gibt  bessern  Begriff,  als  es  die  Worte 
selbst  tiefster  Verehrung  vermögen,  das  Verzeichnis  seiner  Schriften,  das 
am  Schluß  folgt.  Ein  Wort  aber  sei  von  dem  Menschen  gesagt,  der  in 
gewissem  Sinne  noch  mehr  war  als  der  Forscher.  Eine  Gestalt,  wie  die 
Ludwigs,  ist  in  einer  Zeit,  wo  wissenschaftliches  Arbeiten  als  Selbstzweck 
leider  selten  geworden  ist,  doppelt  vorbildlich.  Seine  Bescheidenheit 
war  ebenso  groß,  als  sein  Wissen.  Er  lehnte  stets  jeglichen  Dank  ab, 
auch  wenn  er  mit  beispielloser  Freigebigkeit  unpubliziertes  Material  einem 


292 


Nekrolog. 


andern  zur  Verfügung  stellte.  Keiner,  hat  über  venezianische  Kunst  ge- 
arbeitet, dem  er  nicht  mit  Dokumenten,  mit  Photographien,  die  er  oft 
mit  bedeutenden  Kosten  herstellen  ließ,  unterstützt  hätte.  Und  wie  mit 
Rat  während  der  Arbeit,  so  förderte  er  mit  gütigster  Anerkennung  die 
Leistung  der  Jüngeren  und  suchte  sie  so  zu  mutigem  Vorwärtsstreben  zu 
ermuntern. 

Doch  hat  er  eines  beklagt  und  schmerzlich  empfunden:  daß  er  mit 
seinen  Bestrebungen  allein  dastand,  daß  aus  Deutschland,  trotz  der  stetig 
wachsenden  Zahl  der  Kunsthistoriker,  sich  ihm  keine  Hilfskräfte  zur 
Verfügung  stellten.  Er  empfand  es  doppelt,  wo  schweres  Leiden  ihn 
einen  Teil  des  Jahres  ans  Krankenlager  fesselte. 

Wie  er  durch  sein  gütiges  Wesen  auch  in  Venedig  sich  aller  Sym- 
pathie gewonnen  hat,  das  hat  die  Beisetzung  in  vollem  Umfang  bewiesen. 
Als  einen  um  die  Stadt  Hochverdienten,  hat  man  ihn  in  San  Marco  auf- 
gebahrt; Venedigs  Stadthaupt  mit  dem  klangvollen  Patriziernamen,  die 
Spitzen  der  wissenschaftlichen  Institute  haben  in  dieser  letzten  Stunde 
die  Bewunderung  ausgesprochen,  die  er  im  Leben  stets  von  sich 
bescheiden  zurückgewiesen.  Dann  hat  man  ihn  zur  letzten  Ruhestätte  nach 
San  Michele  geleitet,  der  Toteninsel  auf  dem  Weg  nach  Murano,  deren 
künstlerischen  Schmuck  er  erläutert  hat,  und  die  er  selbst  charakterisierte 
als  den  »Wallfahrtsort  der  Venezianer,  welche  dort  die  Gräber  ihrer  Toten 
schmücken  und  in  stiller  Abgeschiedenheit  der  Rückerinnerung  mit  ihnen 
leben«.  Georg  Gronau. 


Verzeichnis  der  Schriften  G.  Ludwigs. 

1897.  Vittore  Carpaccio.  I.  La  scuola  degli  Albanesi  in  Venezia.  Archivio  storico  dell 
arte.  Serie  II,  anno  III,  S.  405. 

1899.  Neue  archivalische  Beiträge  zur  Geschichte  der  venezianischen  Malerei.  (Zu- 

sammen mit  P.  Paoletti).  Einleitung.  Die  Vivarini  und  die  Muranesen. 
Repertorium  Bd.  XXII,  S.  87,  255,  427. 

1900.  Neue  archivalische  Beiträge  usw.  Über  die  Malerfamilie  Bastiani.  Repertorium 

Bd.  XXIII,  S.  173,  274. 

1901.  Bonifazio  di  Pitati  da  Verona,  eine  archivalische  Untersuchung  I./II.  Jahrbuch 

der  preußischen  Kunstsammlungen,  Bd.  XXII,  Heft  II  und  III. 

Dokumente  über  Bildersendungen  von  Venedig  nach  Wien  in  den  Jahren  1816 
bis  1838  aus  dem  Archivio  di  Stato  zu  Venedig.  Sammlungen  d.  AH. 
Kaiserhauses  Bd.  XXII,  2.  Teil,  S.  1. 

Contratti  fra  lo  stampador  Zuan  di  Colonia  ed  i suoi  socii  e inventario 
di  una  parte  del  loro  magazzino.  Pubblicato  a spese  del  Comune  di  Venezia 
in  occasione  della  V.  Riunione  della  Societä  Bibliografica  Italiana  (dann  in 
Miscellanea  di  storia  Veneta,  2.  Serie,  Vol.  VIII,  1902). 

1902.  Bonifazio  di  Pitati  usw.  III.  Jahrbuch,  Bd.  XXIII,  Heft  I. 


Nekrolog. 


293 


Giovanni  Bellinis  sogenannte  Madonna  am  See  in  den  Uffizien,  eine  religiöse 
Allegorie.  Jahrbuch  Bd.  XXIII,  Heft  IIJ/IV. 

Antonello  da  Messina  und  deutsche  und  niederländische  Künstler  in  Venedig 
Jahrbuch  a.  c.,  Beiheft  S.  43. 

1903.  Vittore  Carpaccio  et  la  Confr^rie  de  Sainte  Ursule  a Venise.  (Zusammen  mit 

P.  G.  Molmenti.)  Florenz,  R.  Bemporad. 

Die  Altarbilder  der  Kirche  S.  Michele  di  Murano  und  das  Auferstehungsbild  des 
Giovanni  Bellini  in  der  Berliner  Galerie.  (Zusammen  mit  W.  Bode.)  Jahrbuch 
Bd.  XXIV,  Heft  II. 

Archivalische  Beiträge  zur  Geschichte  der  venezianischen  Malerei.  I.  Die  Berga- 
masken in  Venedig.  Jahrbuch,  Beiheft  S.  1. 

Neue  Funde  im  Staatsarchiv  zu  Venedig  (Sebastiani  Luciani.  lizians  Hoch- 
zeit). Jahrbuch  S.  110. 

1904.  La  patria  dei  pittori  Carpaccio.  (Zusammen  mit  P.  G.  Molmenti.)  Emporium 

Bd.  XIX,  S.  m,  Februar-Heft. 

La  Madonna  degli  Alberetti  (ebenso).  Emporium  Bd.  XX  S.  109,  August-Heft. 

In  Vorbereitung: 

Archivalische  Beiträge  usw.  II.  Erscheint  im  diesjährigen  Beiheft  des  Jahr- 
buchs. 

Venezianischer  Hausrat  zur  Zeit  der  Renaissance. 

Restello,  Spiegel  und  Toilettenutensilien  in  Venedig  zur  Zeit  der  Renaissance 
(herausgegeben  von  Dr.  Rintelen). 

In:  Italienische  Forschungen,  herausgegeben  vom  Kunsthistorischen  Institut. 
Band  1. 

Carpaccio  (veröffentlicht  von  P.  G.  Molmenti). 


Bei  der  Redaktion  eingegangene  Werke. 


Anderson,  W.  J.  und  R.  Phene  Spiers.  Die  Architektur  von  Griechen- 
land und  Rom.  Fünf  Lieferungen  mit  185  Abbildungen,  darunter 
43  Tafeln.  Leipzig.  Karl  W.  Hiersemann.  Jede  Lieferung  M.  3. 

Cherbuliez,  Victor.  Die  Kunst  und  die  Natur.  I.  Übersetzt  von 
H.  Weber.  Ascona.  C.  v.  Schmidtz.  M.  2.35. 

Chl§dowski,  Casimir.  Siena.  Erster  Band.  Berlin.  Bruno  Cassirer. 

Dryhurst,  A.  R.  Raphael.  Little  Books  on  Art.  London.  Methuen 
& Co.  2/6. 

Frey,  Adolf.  Die  Kunstform  des  Lessingschen  Laokoon  mit 
Beiträgen  zu  einem  Laokoonkommentar.  Stuttgart  und  Berlin. 
J.  G.  Cottasche  Nachfolger.  M.  3. 

Haseloff,  Arthur.  Die  Kaiseri nnen gr aber  in  Andria.  Ein  Beitrag 
zur  apulischen  Kunstgeschichte  unter  Friedrich  II.  Mit  q Tafeln 
und  25  Textabbildungen.  Rom.  Loescher  u.  Co.  M.  4.50. 

Herders  Bilderatlas  zur  Kunstgeschichte.  Erster  Teil.  Altertum 
und  Mittelalter.  76  Tafeln  mit  720  Bildern.  Freiburg  i.  B.  Herdersche 
Verlagshandlung.  M.  8. 

Laban,  Ferdinand.  Heinrich  Friedrich  Füger,  der  Porträt- 
miniaturist. Mit  78  auf  13  z.  T.  farbigen  Lichtdrucktafeln  und 
in  den  Text  gedruckten  Abbildungen.  Berlin.  G.  Grote.  M.  15. 

Lafenestre,  G.  et  E.  Richtenberger.  Rome,  Les  Musees,  les  Collections 
particulidres,  les  Palais.  Ornd  de  cent  reproductions  photo- 
graphiques.  Paris.  Librairies-Imprimeries,  Reunies.  Fr.  10. 

Leitschuh,  Franz  Friedrich.  Flötner-Studien.  I.  Das  Plakettenwerk 
Peter  Flötners  in  dem  Verzeichnis  des  Nürnberger  Patriziers 
Paulus  Behaim.  Mit  20  Tafeln.  Straßburg.  L.  Beust.  M.  14. 

Mackowsky,  Walter.  Giovanni  Maria  Nosseni  und  die  Renaissance 
in  Sachsen.  Berlin.  E.  Wasmuth.  M.  5. 

Ostwald,  Wilhelm.  Kunst  und  Wissenschaft.  Vortrag,  gehalten  zu 
Wien  am  27.  November  1904.  Leipzig.  Veit  & Comp.  M.  1. 

Schmid,  Max.  Kunstgeschichte  nebst  einem  kurzen  Abriß  der 
Geschichte  der  Musik  und  Oper  von  Clarence  Sherwood.  In 
20  Heften  zum  Preis  von  je  30  Pfg.  Neudamm.  J.  Neumann. 


Francisco  de  Hollanda  und  Donato  Giannottis  Dialoge 
und  Michelangelo. 

Von  Hans  Tietze. 

Durch  Jakob  Burckhardts  meisterhafte  Darstellung  der  Kultur  der 
Renaissance  hat  diese  Periode  für  uns  ein  eigenes  selbständiges,  organi- 
sches Leben  gewonnen;  ihre  Anfänge,  Blüte,  Verfall  erscheinen  wie  los- 
gelöst von  der  übrigen  Entwicklung  und  die  ganze  Epoche  wie  ein 
farbenfrohes  Zwischenspiel,  das  erst  völlig  verklingen  muß,  ehe  ein  neues 
Kapitel  anhebt.  In  den  Nachwirkungen  dieser  unhistorischen  Auffassung 
befangen,  werden  wir  oft  der  kulturellen  Bedeutung  des  italienischen 
Cinquecento  nicht  genügend  gerecht.  Wir  sind  eher  geneigt,  es  als  ein 
glänzendes  Abendrot  zu  betrachten,  legen  mehr  Gewicht  auf  die  Rich- 
tungen, die  sich  in  ihm  totlaufen,  auf  die  Bestrebungen,  die  es  um- 
wandelte oder  negierte,  auf  all  das,  was  nicht  zur  Reife  gelangte;  darüber 
verkennen  wir  leicht  das  Neue  und  Fruchtbare,  das  es  enthält,  die  Über- 
gangsformen, die  vom  fahrigen  Individualismus  des  Quattrocento  zu  neuen, 
großen,  sozialen  Gruppierungen  führen,  übersehen  die  Ansätze  moderner 
Staatswirtschaft,  die  religiöse  Vertiefung,  die  Antänge  naturwissenschaft- 
licher Betrachtungsweise.1)  Auch  anderweitig  zeigen  sich  lebenskräftige 
Übergangsformen;  die  großen  Entdeckungen  und  Erfindungen,  die  uns 
veranlassen,  an  der  Wende  des  15*  und  16.  Jahrhunderts  eine  konventio- 
nelle Scheide  zweier  Zeitalter  anzunehmen,  haben  die  Geister  mächtig 
aufgerührt;  auf  dem  literarischen  Gebiete,  das  uns  hier  beschäftigt,  hat 
naturgemäß  in  erster  Linie  die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  diese 
befruchtende  Wirkung  hervorgebracht.  Hier  zeigt  das  16.  Jahrhundert 
eine  wahre  Umwälzung;  ein  völlig  neuer  Faktor,  das  literarische  Publikum, 
wird  in  die  geistige  Kultur  eingeführt  Im  Mittelalter  hatte  das  literarische 
Produkt  keinen  kaufmännischen  Wert;  der  Autor,  der  für  eine  beschränkte 
Anzahl  von  Individuen  schrieb,  war  genötigt,  sich  anderweitig  die  wirt- 
schaftlichen Grundlagen  seiner  Existenz  zu  verschaffen;  war  er  kein  Geist- 
licher, so  war  er  gezwungen,  in  den  Dienst  eines  Herrn  zu  treten,  von 
dem  er  in  jeder  Beziehung  abhängig  war.  Auch  die  neue  Erfindung 

1)  Vergl.  im  allgemeinen  hierüber:  Francesco  Flamini : II  Cinquecento,  Milano. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  2 1 


296 


Hans  Tietze: 


änderte  dies  Verhältnis  nur  nach  und  nach;  einerseits  war  sie  zunächst 
völlig  in  Anspruch  genommen,  die  unmittelbarsten  geistigen  Bedürfnisse 
religiöser  und  weltlicher  Natur  zu  befriedigen,  also  zur  Drucklegung  der 
kirchlichen  und  weltlichen  Klassiker;  anderseits  galt  das  gedruckte  Buch 
noch  lange  für  minder  vornehm  als  das  geschriebene,  und  wie  vornehme 
Mäcene  von  der  Art  des  Herzogs  von  Urbino  oder  des  Matthias  Corvinus 
eine  Handschrift  unbedingt  dem  gedruckten  Buch  vorzogen,  so  ver- 
zichteten bis  tief  ins  Cinquecento  viele  Autoren  darauf,  ihre  Werke 
drucken  zu  lassen.  Manche  der  klassischen  Werke  dieser  Zeit  wurden 
von  ihren  Verfassern  nur  deshalb  dem  Drucke  übergeben,  weil  durch 
eine  Indiskretion  von  befreundeter  Seite  verstümmelte  und  fehlerhafte 
Abschriften  in  Umlauf  kamen  und  zu  befürchten  war,  daß  eine  solche 
gedruckt  werden  könnte.2)  Unter  diesen  Umständen  vollzieht  sich  die 
Emanzipation  des  Autors  nur  sehr  langsam;  Dichter  wie  Ariost  und  Tasso 
schreiben  zunächst  für  ihre  Mäcene,  an  deren  Hof  sie  leben.  Aber  da- 
neben lockert  sich  das  Verhältnis  doch  allmählich;  der  Schriftsteller 
schafft  selbständig;  da  indes  das  Publikum  nicht  kaufkräftig  genug  ist, 
ihm  eine  unabhängige  Stellung  zu  verschaffen,  muß  er  durch  umständ- 
liche und  zahlreiche  Dedikationen  möglichst  viele  einzelne  Individuen 
für  sein  Werk  interessieren,  und  diese  Art  des  Mäcenatentums  ist  im 
16.  Jahrhundert  und  auch  noch  später  die  übliche.  Aber  der  Autor  weiß, 
daß  er  in  der  öffentlichen  Meinung  eine  mächtige  Waffe  hat,  und  spielt 
den  Appell  an  das  Publikum  gegen  das  einzelne  Individuum  aus.  So 
wird  aus  der  untertänigen  Bitte  eine  trotzige  Drohung  und  aus  dem 
demütigen  Bittsteller  ein  unverschämter  Erpresser.  Literarische  Erschei- 
nungen wie  der  Aretino  oder  Anton  Francesco  Doni  sind  das  Widerspiel 
des  in  Blüte  stehenden  Mäcenatentums;  der  Autor,  der  dem  gutwillig 
Zahlenden  eine  relativ  wohlfeile  Unsterblichkeit  garantierte,  drohte  dem 
Widerspenstigen  bei  Mit-  und  Nachwelt  den  übelsten  Ruf  zu  verschaffen.3) 
Ziel  und  Endergebnis  .dieser  ganzen  Entwicklung  war,  daß  die 
literarische  Produktion  einen  neuen  Herrn  anerkannte.  An  Stelle  des 
fürstlichen  Brotherrn,  der  engen  Gemeinde  klösterlicher  Leser,  tritt  die 
vielköpfige,  entindividualisierte  Menge;  galt  es  früher,  dem  »milden  Herrn« 
zu  schmeicheln,  so  hieß  es  jetzt;  die  Gunst  dieser  Menge  gewinnen.  Und 


2)  Castiglione,  11  Cortegiano,  1528.  Aus  der  Dedikation  an  Don  Michel  de 
Silva:  . . . essendo  d’  Italia  avvisato,  che  la  signora  Vittoria  dalla  Colonna,  marchesa 
di  Pescara,  alla  quäle  io  gia  feci  copia  del  libro,  contra  la  promessa  sua  ne  avea  fatto 
trascrivere  una  gran  parte  . . . etc. 

3)  Arturo  Graf,  Attraverso  il  Cinquecento,  Torino  1888  (Un  processo  a Pietro 
Aretino),  p.  ioqff. ; Bertana,  Un  Socialista  del  Cinquecento  im  Giornale  Ligustico  1892, 
P-  33fiff-i  Doni,  Seconda  Libraria,  1551,  p.  8. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo.  297 

dies  um  so  mehr,  als  die  Produktion  anfing,  gar  sehr  ins  Breite  zu  gehen.  4) 
Mit  allen  früheren  Zeiten  verglichen  war  die  Menge  des  Gebotenen  un- 
geheuer, verwirrend,  und  der  Schriftsteller  mußte  alles  aufbieten,  sich 
in  diesem  Chaos  Aufmerksamkeit  zu  erzwingen.  Doni,  der  amüsante 
Schwätzer,  der  in  seiner  Flachheit  immer  getreulich  die  Meinung  des 
Durchschnittes  wiedergibt,  erzählt  uns  aus  eigener  Erfahrung  von  diesen 
Nöten  des  Schriftstellers:  »Egli  si  bisogna  . . . piü  strolagare  il  cervello 
a mettergli  un  titolo  bizarro,  acciö  che  tu  lo  pigli  in  mano  e ne  legga 
due  parole,  che  a compor  1’ opera«,  oder:  »Se  il  nostro  Gello,  volendo 
insegnare  mille  belle  cose  di  filosofia  utile  al  cristiano  non  diceva  Capricci 
del  Bottajo,  non  sarebbe  stato  uomo  che  gli  avessi  presi  in  mano.«  5) 

Aber  nicht  nur  der  Titel  hat  dem  Sensationsbedürfnis  zu  dienen; 
auch  der  Inhalt  muß  so  vorgebracht  werden,  daß  er  den  Leser  möglichst 
wenig  ermüde,  und  das  trockenste  Thema  wird  durch  allerhand  Mittel 
mundgerecht  gemacht.4 5 6 7)  Um  den  ungeduldigen  Leser  zu  fesseln,  werden 
Aktualitäten  eingeflochten,  und  dem  vergrößerten  Publikum  entspricht  die 
größere  Seichtigkeit  in  der  Behandlung  aller  Fragen.  Aus  diesem  Be- 
streben erklärt  sich  zum  Teil  die  unerhörte  Blüte  des  Dialogs  in  dieser 
Zeit:  denn  in  dieser  Form  konnte  selbst  der  undankbarste  Stoff  noch 
einigermaßen  annehmbar’  gestaltet  werden;  dadurch,  daß  rein  theoretische 
Fragen  in  ein  halb  historisches,  halb  dramatisches  Gewand  gehüllt  wurden, 
vermochten  sie  auch  den  oberflächlichsten  Leser  festzuhalten.  Einer  Zeit, 
die  so  gern  theoretisierte,  konnte  der  eminente  didaktische  Vorteil  dieser 
Form  nicht  entgehen,  die  in  platonischen  und  ciceronianischen  Vorbildern 
ja  ihren  Adelsbrief  besaß.  So  ist  der  Dialog  im  16.  Jahrhundert  die 
beliebteste  Prosaform;  seine  Regeln  und  Gesetze  hat  am  besten  der  große 
Historiker  Carlo  Sigonio  formuliert. 

Sollte  der  Dialog  die  angestrebte  Wirkung  nicht  verfehlen,  so  durfte 
vor  allem  kein  Zweifel  darüber  aufkommen,  daß  er  wirklich  stattgefunden 
habe;  ut  qui  audiunt,  non  nos  loqui  putent,  sed  illum  ipsum  quem 
nobis  delegimus  imitandum.  7)  Darum  müssen  in  erster  Linie  die 

4)  Vgl.  auch  Graf,  Petrarchismo  e Antipetrarchismo  nel  Cinquecento  in  Nuova 
Antologia  1886.  »Cid  si  vede  in  especial  modo  nel  Cinquecento,  nel  quäle  la  mania 
di  passare  per  letterato,  d’  imbrattar  fogli  e di  stampar  libri  assume  il  carattere  di  una 
vera  e propria  epidemia.«  Doni  pflegt  in  Selbstironie  zu  sagen,  daß  seine  Bücher  früher 
gelesen  als  gedruckt  und  früher  gedruckt  als  verfaßt  würden. 

5)  Anton  Francesco  Doni,  I Marmi,  Firenze  1863,  Parte  II,  Ragionamento  della 
stampa,  p.  207 ff.  (Erste  Ausgabe  Venedig  1552/53.) 

6)  Vgl.  Abd-el-Kader  Salza,  Luca  Contile  uomo  di  lettere  e di  negozi  del  secolo  XVI, 
Fir.  1903,  p.  108,  über  die  Einführung  von  Frauen  in  die  Dialoghi  spirituali  des  Contile 
(Rom  1543),  auch  Flamini  a.  a.  O.  p.  384. 

7)  Caroli  Sigonii,  De  Dialogo  Liber.  Johan.  Jessenii  a Jessen  . . . opera  luci 


21 


298 


Hans  Tietze: 


näheren  Umstände  der  Unterredung,  besonders  Ort  und  Zeit,  in  einer 
Weise  beschrieben  werden,  die  jeden  Zweifel  an  der  Wirklichkeit  aus- 
schließt. Mea  igitur  sententia,  qui  ad  scribendum  dialogum  aggredietur, 
is  huc  in  primis  aciem  mentis  et  rationis  intendet,  ut  in  ipso  quasi 
vestibulo  qui,  et  quales  sint,  quos  induxerit,  et  quo  tempore,  et  quo  in 
loco  et  qua  ratione  ad  eam  disputationem  pervenerint,  planum  faciat.* * * * 8 *) 
Bei  der  Auswahl  und  Beschreibung  gehe  man  mit  Bedacht  zu  Werke; 
man  wähle  bekannte  und  angesehene  Personen,  einerseits  um  den  Anschein 
der  Wahrheit  zu  erhöhen,  anderseits  um  durch  die  Autorität  jener  die 
pädagogische  Wirkung  zu  steigern:  Plurimum  autem  interest,  mortuos  ne, 
an  viventes  homines  inducamus:  in  iis  illustris  quaedam  auctoritas,  in 
his  earum  rerum,  de  quibus  disputent,  testata  eruditio  et  scientia  postu- 
latur.9)  Hat  man  wirkliche  Personen  gewählt,  muß  man  darauf  achten, 
daß  man  ihnen  nichts  Unschickliches  oder  ihrem  Charakter  Widerstreitendes 
in  den  Mund  lege:  Deinde  vero  ad  officia,  quae  unicuique  eorum  in 
colloquio  tribuemus,  pro  decora  distribuenda  omnis  noster  animus  est10) 
und:  Ut  enim  non  quicumque  homo  quamcumque  rem  agit,  sic  non 
est  verisimile,  quemcumque  hominem  in  quocumque  sermone  versari  etc.11) 
Überhaupt  sind  Einleitung  und  Einkleidung  von  entscheidender  Wichtig- 
keit: Ut  quo  anno,  quo  mense  et  si  ferri  possit  quo  die  et  quo  in  loco 
ea  sit  disputatio  instituta,  in  ipso  dialogi  vestibulo  patefaciamus.  Huius 
enim  praeteritio  officii  incredibile  est,  quantum  ei  sermoni  adimat  auctori- 
tatis,  et  fidei,  ut  cum  ea  legas,  quae  nec  temporis  nec  loci  habeant 
commemorationem,  prorsus  ut  sunt,  falsa  et  ficta  esse  existimes.  sin  autem 
rem  cum  personis,  locis,  temporibus  consentire  intelligas,  mirabiliter  Om- 
nibus iis,  quae  dicantur,  quaecumque  agantur,  assentiaris. I2)  An  diese 
Regeln  haben  sich  die  Dialogschreiber  gehalten;  Beschreibung  und  Cha- 
rakterisierung der  sprechenden  Personen,  die  Schilderung  des  Ortes,  die 


redditus,  Lipsiae  1596;  vgl.  Cicero,  Tuscul.:  Sed  quo  commodius  disputationes  nostrae 

explicentur,  sic  eas  exponam,  quasi  agatur  res,  non  quasi  narretur;  oder  Läel.:  Quasi 

ipsos  induxi  loquentes  ne  inquam  et  inquit  saepius  interponeretur.  atque  id  eo  feci‘,  ut 

tamquam  a praesentibus  coram  haberi  sermo  videretur. 

8)  Sigonius  p.  64  b 

9)  Sigonius  p.  64fr.,  auch  Cicero,  Cato:  Omnem  sermonem  tribuimus  non  Tithono 
ut  Aristo  Cius,  — parum  enim  esset  auctoritatis  in  fabula,  — sed  M.  Catoni  seni, 
quo  maiorem  auctoritatem  haberet  oratio. 

10)  Sigonius,  daselbst. 

“)  Siognius  p.  58. 

ia)  Sigonius  p.  82;  siehe  auch  die  Einleitung  von  Ciceros  de  oratore;  L’ Arte 
Poetica  del  Sig.  Antonio  Minturno  (1563)  p.  3;  Torquato  Tasso,  Prose  diverse,  Firenze 
de  Monnier  1875»  vol.  P-  239fr.  Discorso  dell’ Arte  del  Dialogo  am  Schluß:  Non 
imita  solamente  la  disputa,  ma  il  costume  di  coloro  che  disputano  etc. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo.  299 

Bestimmung  der  Zeit  sind  mit  so  genauen  Details  durchgeführt,  daß  es  uns 
schwer  ist,  an  die  Nichtwirklichkeit  der  erzählten  Unterredungen  zu 
glauben;  als  klassisches  Beispiel  sei  hier  nur  der  Cortegiano  genannt; 
andere  vereinzelte  Beispiele  aus  der  Überfülle  des  Materials  werden  später 
heranzuziehen  sein. 

Uns  mag  dieses  Verschwimmenlassen  der  Grenzen  zwischen  histo- 
rischer und  dramatischer  Darstellung  befremdlich  erscheinen;  für  jene 
Zeit  aber  überwog  das  pädagogische  Moment  zu  sehr  das  historische, 
als  daß  sie  daran  hätte  Anstoß  nehmen  können.  Im  Cinquecento  war 
es  noch  nicht  Beruf  der  Geschichtschreibung,  wahrheitsgetreu  und  leiden- 
schaftslos über  Geschehenes  zu  berichten;  noch  überwog  die  Auffassung 
der  Humanisten,  nach  der  sie  eine  Lehrmeisterin  war,  die  die  Vergangen- 
heit selbst  auf  Kosten  der  Wahrheit  zum  moralischen  Nutzen  der  Gegen- 
wart darstellen  sollte. D)  Daß  diese  Anschauung  eine  volkstümliche  war, 
erfahren  wir  aus  einem  Dialog  des  Leonardo  Salviati. 

Deti:  Ma  non  tengo  giä  si  gran  conto,  ch’una  Storia  sia  vera,  o no. 

Lasca:  E di  che  altro  nella  Storia  s’ha  egli  a tener  conto? 

D.:  Ch’ella  sia  utile,  cioö  faccia  prudenti  quei  che  la  leggono  etc. 
Und  weiter 

L.:  Volete  dunque  che  faccia  lo  Storico  il  simigliante,  e che 
c’inganni,  e persuadaci  la  bugia? 

D.:  Si,  quando  la  bugia  ci  sia  piü  utile  che  la  veritä  non  sarebbe. 

L.:  In  breve  voi  volete,  che  dallo  Storico,  si  come  dal  Poeta  si 
raccontino  le  cose,  come  esser  dovrieno  accadute. 

D. : Si  quando  sicuramente  il  puö  fare. 

L.:  Se  cosi  ö,  non  sarä  meglio,  che  in  vece  di  Storia,  a compilar 
poesie  tutti  si  rivolgano  gli  scrittori? 

D.:  Non  secondo  1’ avviso  mio. 

L.:  E perchö? 

D.:  Perciocchö  dal  poema  quel  profitto  non  puö  venire,  che  nascer 
suol  dalla  Storia. 

L. : Per  quäl  cagione? 

D.:  Perchö  la  Storia  si  crede  cosa  vera,  ed  il  poema  si  tien 
per  funzione.H) 

Was  hier  für  die  Geschichte  ausgesprochen  ist,  gilt  in  noch  höherem 
Maße  für  die  Dialoge;  auch  hier  ist  die  Belehrung  der  Zweck,  dem  alle 
anderen  Gesichtspunkte  sich  unterordnen  müssen.  Dunque  si  come  nelle 
Comedie  varie  persone  vengono  in  Seena  e molte  di  esse  non  molto 

•3)  Voigt,  Wiederbelebung  II,  494  b 

14)  Il  Lasca,  Dialogo:  Cruscata  ovvero  Paradosso  d’ Ormamozzo  Rigogoli  rivisto 
e ampliato  da  Panico  Granacci  etc.,  Firenze  1584- 


300 


Hans  Tietze: 


buone,  ma  tutti  quanti  a buon  fine  . . . quindi  avviene,  che  l’autor 
del  Dialogo  messo  in  silentio  la  sola  e propria  sua  voce,  riempie  quello 
di  varii  nomi  et  costumi  etc.1 5)  Auch  andere  Theoretiker  haben  dem 
Dialog  einen  Platz  in  der  Nähe  der  Komödie  angewiesen,  so  Tasso16): 
Due  saran,  dunque,  i primi  generi  dell’ imitazione:  Tun  dell’ azione,  nel 
quäl  son  rassomigliati  gli  operanti  (Comoedie)  1’  altro  delle  parole,  nel  quäle 
sono  introdotti  i ragionanti  (Dialog).  Im  ganzen  Großen  ist  der  Platz 
des  letzteren  zwischen  der  epischen  und  der  dramatischen  Darstellung,  je 
nachdem  der  Autor  die  Personen  einführt  und  den  Gang  der  Unterredung 
mit  all  ihren  Zwischenfällen  schildert1?)  oder  von  Anfang  an  das  Wort 
seinen  Personen  überläßt.18)  Der  ersteren  Form  gehören  die  Dialoge  des 
Francisco  de  Hollanda,  der  letzteren  die  des  Donati  Giannotti  an. 


Die  beiden  Dialoggruppen,  die  uns  hier  beschäftigen,  haben  erst 
im  19.  Jahrhundert  die  Aufmerksamkeit  der  Kunstforschung  auf  sich 
gelenkt;  die  vier  Gespräche  des  Hollanda  erschienen  1848  in  einer  von 
dem  Maler  Roquemont  hergestellten  französischen  Übersetzung  in  des 
Grafen  A.  Raczynski  Les  Arts  en  Portugal;1^  seitdem  wurden  sie  mehr- 
mals neu  publiziert  und  liegen  jetzt  in  einer  vorzüglichen,  kommentierten, 
von  Joaquim  de  Vasconcellos  besorgten  Ausgabe  vor,20)  nach  der  ich 
im  folgenden  zitiere.  Die  beiden  Dialoge  des  Donato  Giannotti,  die  der 
Danteliteratur  wenigstens  dem  Namen  nach  schon  früher  bekannt  waren,21) 
wurden  1859  auf  Kosten  des  Fürsten  Baldassare  Buoncompagni  aus  dem 
vatikanischen  Kodex  6528  publiziert.22)  Hier  und  dort  ist  Michelangelo 
als  Hauptteilnehmer  an  den  Gesprächen  eingeführt:  wichtige  Äußerungen 
über  viele  die  Kunst  berührende  Fragen,  über  seine  politischen  Ansichten 
sind  ihm  in  den  Mund  gelegt;  mehr  noch  mochte  die  Milieuschilderung 
als  dankenswerte  Bereicherung  unserer  Kenntnisse  über  den  großen 

’5)  Dialogi  del  Signor  Speron  Speroni,  Ven.  1596.  Apologia  dei  dialoghi. 

,6)  Tasso  1.  c.  p.  240. 

'7)  . . . quando  1’  autore  stesso  cortesemente  quasi  loro  hoste,  par  che  le  meni 
con  esso  seco  nel  suo  Dialogo,  Speroni  1.  c. ; . . . come  istorico  narra  quel  che  disse 
il  tale  e ’l  cotale,  Tasso  1.  c.  p.  239.  Vorbilder  dieser  Art  waren  die  Dialoge  Xenophons 
und  Ciceros. 

l8)  Nach  Muster  der  Dialoge  von  Plato,  Lukian,  auch  Plutarch. 

J9)  Comte  A.  Raczynski,  Les  Arts  en  Portugal,  Paris  1896. 

20)  Francisco  de  Hollanda,  Vier  Gespräche  über  die  Malerei,  herausgegeben  von 
Joaquim  de  Vasconcellos,  Wiener  Quellenschriften  für  Kunstgeschichte  usw.,  Wien  1899. 

21)  De  Batines,  Bibliografia  dantesca  II,  659. 

”)  De’  Giorni  che  Dante  consumö  nel  cercare  P infemo  e ’l  purgatorio,  dialogi 
di  Messer  Donato  Giannotti.  Firenze  1859. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


301 


Meister  willkommen  sein;  lagen  doch  hier  über  die  Art  seines  Verkehrs 
mit  Vittoria  Colonna  und  mit  den  Florentiner  Fuorusciti  direkte  Zeug- 
nisse, detaillierte  Schilderungen  aus  der  Feder  von  Augenzeugen  und 
vertrauten  Freunden  vor.  Der  Wunsch,  in  diesen  Dialogen  wirklich 
reichfließende  Quellen  vertrauenswürdiger  Nachrichten  zu  besitzen,  war 
mächtiger  als  der  sich  von  Anfang  an  regende  Zweifel  an  ihrer  Glaub- 
würdigkeit. Anderseits  jedoch  waren  einige  Unrichtigkeiten  zu  hand- 
greiflich, um  völlig  ignoriert  zu  werden.  So  entstand  eine  eigentüm- 
liche Unklarheit  in  der  Beurteilung  der  Dialoge;  die  einen  gaben  alle 
Details  preis,  um  die  Gesamtstimmung  zu  retten,  die  anderen  räumten 
ein,  daß  die  Unterredungen  fingiert  seien,  hielten  aber  daran  fest,  daß 
die  Ansichten  Michelangelos  sinngemäß  wiedergegeben  seien,  und  setzten 
so  die  Dialoge,  die  sie  im  Prinzip  verwarfen,  durch  Anerkennung  der 
Details  wieder  in  ihre  vollen  Rechte  ein.  So  sagt  Thode:  Eine  Bestätigung 
dessen  bringen  Aussprüche  des  Meisters  selbst,  die  Francisco  de  Hollanda 
1538  von  ihm  gehört  und  in  seinen  Gesprächen  über  die  Malerei  dem 
Inhalt  nach  gewiß  richtig  wiedergegeben  hat  (Michelangelo  I,  89).  Oder: 
Hier  sind  Gespräche  verzeichnet,  die  an  einem  Tage  des  Jahres  1545  von 
Luigi  del  Riccio,  Antonio  Petreo,  Donato  Giannotti  und  Michelangelo  geführt 
wurden  (II,  121).  Und:  Der  Portugiese  entwirft  in  der  Einleitung  zu 
seinen,  ihm  selbst,  Michelangelo  und  einigen  anderen  in  den  Mund 
gelegten  Abhandlungen  über  die  Kunst  ein  anschauliches  Bild  von  der 
Art  solchen  Zusammenseins  und  dem  Verhältnis  des  Künstlers  zu  der 
Marchesa  . . . (II,  393).  Woran  dürfen  wir  uns  also  halten?  Haben  wir 
es  mit  dem  Inhalt  nach  richtig  wiedergegebenen  Aussprüchen  Michelangelos 
oder  mit  Abhandlungen  des  Hollanda  zu  tun,  die  dem  Meister  und 
einigen  anderen  in  den  Mund  gelegt  wurden?  Auch  der  Herausgeber 
der  Gespräche  über  die  Malerei  drückt  sich  nicht  klar  aus,  was  er  für 
echt,  was  für  apokryph  hält.  »Bestrebt,  die  Heilswahrheiten,  die  er  aus 
dem  *Munde  Michelangelos  gehört  hat,  ehrfurchtsvoll  und  wahrheitsgetreu 
wiederzugeben,  konnte  und  wollte  er  hier  seinen  Stoff  nicht  systematisch 
ordnen.  Darum  bietet  er  ihn  in  Form  von  Gesprächen,  so  wie  der  Zufall 
ihn  in  Wirklichkeit  gestaltet  hat  . . . oder  gestaltet  haben  könnte.  Nicht 
wörtlich,  wie  er  sie  vernommen  und  in  seinem  Tagebuch  in  loco  et 
tempore  skizziert  haben  wird,  aber  doch  offenbar  nach  solchen  Auf- 
zeichnungen, unter  Weglassung  des  Unwichtigen  und  Auswahl  der  für 
Portugal  wichtigsten  ästhetischen  und  kunstgeschichtlichen  Fragen.  Daran, 
daß  er  die  fremden  Gedanken  und  besonders  die  persönlichen  Ansichten 
Buonarrottis  immer  in  völliger  Reinheit  aufgefaßt  hat,  kann  man  zweifeln. 
Doch  schwebt  immerhin  über  dem  Ganzen,  dem  weitaus  Bedeutendsten, 
was  Hollanda  geschrieben,  ein  Hauch  vom  Geiste  des  gewaltigen  Floren- 


3°  2 


Hans  Tietze: 


tiners. « a3)  Das  kann  uns  nicht  genügen,  besonders  wenn  im  einzelnen 
keine  Kritik  an  den  Aussprüchen  geübt  wird.  Die  Frage  ist  ia  wichtig 
genug,  um  eine  klarere  Stellungnahme  zu  erheischen.  Denn  wie  wir  uns 
die  Erkenntnis  des  Künstlers  Michelangelo  nicht  durch  Anerkennung 
falscher  Werke  dürfen  trüben  lassen,  so  müssen  wir  uns  auch  sein  Bild 
als  Mensch  von  falschen  Zügen  freihalten  und  dürfen  ihm  nicht  Aus- 
sprüche und  Meinungen  zuschreiben,  für  die  andere  verantwortlich  sind. 

Schon  die  völlige  Übereinstimmung  mit  den  anderen  zeitgenössischen 
Dialogen,  deren  Regeln  wir  kennen  gelernt  haben,  muß  uns  a priori  die 
Vermutung  nahelegen,  daß  auch  diese  Gespräche  keine  Ausnahme  bilden 
und  so  wie  die  anderen  nur  fingiert  sind.  Vielleicht  wird  die  Diskussion 
der  Dialoge  im  einzelnen  imstande  sein,  unser  Mißtrauen  durch  mancherlei 
Argumente  zu  bestärken. 

Francisco  de  Hollanda  war,  wie  der  Name  zeigt,  einer  aus  Holland 
stammenden  Familie  entsprossen;  sein  Vater  Antonio,  Miniaturmaler  von 
Beruf,  stand  im  Dienste  des  portugiesischen  Hofes,  an  dem  der  junge 
Francisco  aufwuchs  und  seine  Erziehung  genoß;  1537,  im  Alter  von  etwa 
zwanzig  Jahren,  verließ  er  die  Heimat  und  reiste  über  Spanien  und 
Frankreich  nach  Italien;  seine  Skizzenbücher  und  zerstreute  Angaben  in 
seinen  Schriften  ermöglichen  uns,  ihm  auf  seinen  Fahrten  zu  folgen.  Im 
Spätsommer  des  Jahres  1538  scheint  er  nach  Rom  gekommen  zu  sein, 
wo  er  mit  Feuereifer  Studien  aller  Art  betrieb;  über  die  Art  und  die 
Ziele  seiner  Tätigkeit  gibt  er  in  der  Einleitung  zu  den  Gesprächen 
Rechenschaft.  Um  seine'  Kenntnisse  zu  erweitern,  suchte  er  die  in  Rom 
lebenden  Künstler  auf,  vor  allem  Michelangelo,  dessen  Bekanntschaft  den 
tiefsten  Eindruck  auf  ihn  machte.  Wer  diese  Bekanntschaft  vermittelte, 
ist  nicht  zu  erkennen;  vermutlich  Lattanzio  Tolomei,  den  Hollanda  in 
seinem  Brief  an  Michelangelo  »mein  teurer  Schutzherr  und  Euer  sehr 
lieber  Freund«  nennt.*  *4)  Vielleicht  wollte  Hollanda  durch  Nennung  des 
einstmaligen  Mittelsmannes  dem  Meister  den  längst  vergessenen  kunst- 
beflissenen Jüngling  ins  Gedächtnis  rufen.  Aus  demselben  Brief,  der  über 
konventionelle  Komplimente  und  Redensarten  kaum  hinausgeht,  erhellt 
auch,  daß  die  Bekanntschaft  Hollandas  mit  Michelangelo  eine  sehr  flüch- 
tige gewesen  sein  muß.  Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  daß  der 
Portugiese  weder  von  einem  der  Biographen  Michelangelos,  noch  auch 
in  dessen  umfangreicher  Korrespondenz  in  irgendeiner  noch  so  flüchtigen 
Weise  erwähnt  ist  und  ebensowenig  in  dem  zum  guten  Teil  vorliegenden 
Briefwechsel  der  Vittoria  Colonna  genannt  wird.25)  Daß  Michelangelo 

*3)  1.  c.  Einleitung  LXXXV. 

*4)  1.  c.  CLVI. 

*5)  Carteggio  di  Vittoria  Colonna,  ed.  Ferrero  e.  G.  Müller.  Torino  1889. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


303 


die  Zeichnungen  Hollandas,  die  nach  Justis  Urteil  nicht  gerade  einen 
Zeichner  ersten  Ranges  verraten,26)  belobt  hat,  wie  in  den  Gesprächen 
berichtet  wird,  ist  leicht  möglich;  es  würde  das  ganz  der  weltmännischen, 
höflichen  Art  Michelangelos  und  seiner . Freundlichkeit  besonders  gegen 
junge  Künstler  entsprechen.  Man  denke  an  seine  gütigen  Urteile  über 
Benvenuto  Cellini  und  Baroccio27)  oder  an  fast  überschwengliche  Lob- 
sprüche wie  die,  die  er  dem  Valerio  Vicentino  erteilte:  die  Todesstunde 
der  Kunst  sei  nun  gekommen,  denn  schöneres  als  das  Werk  jenes  könne 
man  nicht  sehen.28)  Sicher  war  der  Eindruck  der  Bekanntschaft  mit 
Michelangelo  ein  sehr  nachhaltiger;  die  Begegnung  mit  ihm  blieb  für 
den  Portugiesen  das  große  Ereignis  seines  Lebens  und  hat  gewiß  auch 
seine  weitere  Entwicklung  bestimmt.  Stolz  darauf,  dem  von  seiner  Zeit 
vergötterten  Meister  nähergetreten  zu  sein,  wollte  er,  in  die  Heimat 
zurückgekehrt,  daraus  Ansprüche  für  sich  erheben,  er  wollte  nichts 
weniger  sein  als  der  Michelangelo  Portugals.  Und  die  daraus  ent- 
springende Selbstüberhebung  hat,  wie  es  scheint,  nicht  wenig  dazu  bei- 
getragen, ihn  in  seiner  Heimat  unbeliebt  zu  machen. 29)  Etwa  im  Jahre 
1545  war  Hollanda  nach  Portugal  zurückgekehrt,  wo  sich  während  seiner 
Abwesenheit  manches  verändert  hatte.  Die  Renaissancekunst  und  -kultur, 
deren  Verkündiger  er  werden  wollte,  hatte  auch  ohne  seine  Mithilfe  ihren 
siegreichen  Einzug  in  Portugal  gehalten.  Schon  das  mußte  für  Hollanda 
eine  große  Enttäuschung  sein,  aber  noch  schwerere  folgten.  Die  großen 
Bestellungen,  auf  die  er  gerechnet  und  die  man  ihm  versprochen  hatte, 
blieben  aus;  er  fand  weder  Beschäftigung  noch  Anerkennung;  dazu 
kommt,  daß  er  sich  durch  sein  absonderliches  Wesen  sowie  durch  seine 
Selbstüberhebung  viele  persönliche  Feindschaften  zugezogen  zu  haben 
scheint.  Im  Vaterlande  erntete  er  nichts  als  Anfeindungen  und  Spott, 
und  sein  Versuch,  in  Spanien  Beschäftigung  zu  finden,  blieb  gleichfalls 
ohne  Erfolg.  So  war  sein  Leben  seit  seiner  Heimkehr  eine  Kette  von 
Enttäuschungen,  und  diese  Verhältnisse,  die  ihn  in  eine  verbitterte 
Resignation  trieben,  geben  die  Erklärung  für  seine  Schriften. 

Als  Hollanda  sein  Hauptwerk  De  Pintura  Antigua,  deren  zweiten 
Teil  die  vier  Gespräche  von  der  Malerei  bilden,  verfaßte,  war  er  noch 
nicht  zu  dieser  Resignation  gelangt,  und  die  Schrift  ist  voll  von  polemi- 


l6)  Jahrbuch  der  preuß.  Kunstsammlungen  IX,  p.  139  h Die  Stelle  bei  Hollanda 
1.  c.  p.  9 und  1 1 . 

*7)  Bellori,  Vite  1728,  p.  100 f. 
l8)  Vasari,  Opere,  Sansoni  V,  385  f. 

a9)  Gespräche,  1.  c.  LI,  Anmerkung.  »Wer  darauf  ausginge,  könnte  aus  Hollandas 
Schriften  leicht  ein  Dutzend  kleiner  Züge  zusammenlesen,  durch  welche  er  sich  bewußt 
oder  unbewußt  als  Nachahmer  des  Meisters  erweist.« 


304 


Hans  Tietze: 


sehen  Zügen.  Denn  wie  Vasconcellos3°)  überzeugend  nachgewiesen  hat, 
erfolgte  die  Abfassung  nicht  unmittelbar  nach  Hollandas  Rückkehr,  son- 
dern erst  1547  bis  1549.  Die  Enttäuschungen  und  Anfeindungen,  die 
sein  ferneres  Leben  verbittern  sollten,  begannen  ihre  Wirkung  auszuüben; 
aber  noch  hoffte  der  Künstler,  seine  Feinde  besiegen  und  den  Platz,  der 
ihm  gebührte,  erringen  zu  können.  Und  seine  Schrift  sollte  dazu  das 
Ihrige  beitragen. 

Es  war  nicht  im  geringsten  Hollandas  Absicht,  seine  Dialoge  als 
einen  historischen  Bericht,  als  getreue  Wiedergabe  wirklicher  Unterredungen 
darzustellen;  in  der  Vorrede  zu  den  Gesprächen  ist  ja  ihr  Zweck  deutlich 
ausgesprochen.  »Dennoch  aber,  weil  etliche  vermeinen,  ich  schämte  mich, 
ein  Maler  zu  sein  — wiewohl  ich  mir  in  Wahrheit  keinen  größeren 
Stolz,  noch  Ehre  (außer  meinem  Christentum)  weiß,  als  den  Wunsch, 
solch  einer  zu  sein  — , hab’  ich  den  Entschluß  gefaßt,  in  diesem  zweiten 
Buch  zu  zeigen,  was  für  eine  bedeutsame  und  erhabene  und  zugleich 
schwere  Sache  es  ist,  ein  Maler  zu  sein,  und  zu  was  allem  die  vornehme 
und  so  notwendige  Wissenschaft  des  Zeichnens  im  Staate  dient  und 
nützt,  gleichwie  in  Zeiten  des  Friedens,  so  auch  im  Kriege,  und  ferner 
ihren  Wert  und  Preis  auch  anderen  Orts.  Solches  aber  soll  geschehen 
in  Form  eines  Gespräches  (entendo  de  mostrar  . . . por  maneira  de  um 
dialogo).«  31)  Der  Dialog  ist  also  ausdrücklich  als  eine  willkürlich 
gewählte  Kunstform  bezeichnet.  Dazu  kommt  der  schwerwiegende  Um- 
stand, daß  Hollanda,  der  in  seinen  anderen  Schriften  immer  wieder 
Michelangelo  anführt,  mit  keiner  Silbe  auf  diese  angeblichen  Unterredungen 
zurückkommt.  Für  seine  momentanen  polemischen  und  agitatorischen 
Zwecke  mochte  ihm  der  Dialog  als  die  wirkungsvollste  Form  erscheinen, 
und  er  gestaltete  ihn  genau  nach  den  Regeln,  die  in  Italien  und  ander- 
wärts die  üblichen  waren.  3-) 

Der  Autor  soll  Ort,  Zeit,  Teilnehmer,  nähere  Umstände  des  Dialogs 
genau  und  lebenswahr  darstellen,  so  daß  kein  Zweifel  an  ihrer  Wirklich- 
keit aufkommen  kann ; nach  diesen  Regeln  ist  Francisco  vorgegangen. 
An  drei  Sonntagen  im  Oktober  und  November  des  Jahres  1538  hätten 
die  Unterredungen  stattgefunden.  Die  Datierung  ergibt  sich  daraus,  daß 


3°)  Daselbst  XLIIf. 

3l)  Daselbst  p.  5. 

31)  Es  ist  wohl  statthaft,  Franciscos  schriftstellerische  Leistungen  im  Zusammen- 
hang mit  der  italienischen  Literatur  ins  Auge  zu  fassen.  Mit  dem  Schrifttum  seines 
Vaterlandes  war  er  überhaupt  wenig  vertraut,  und  der  lange  Aufenthalt  in  Italien  hatte 
ihn  sogar  seiner  Muttersprache  entfremdet.  Übrigens  ließen  sich  auch  aus  der  portu- 
giesischen und  spanischen  Literatur  genug  Dialoge  aufzählen,  auf  die  die  Gesetze  der 
italienischen  passen. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


305 


am  Tage  der  dritten  Unterredung  nach  Angabe  Franciscos  die  Hochzeit 
Ottavio  Farneses  mit  Margaretha  von  Österreich  gefeiert  wurde.  Nun 
fand  diese  Feier  allerdings  nicht  an  einem  Sonntag,  wie  Francisco 
berichtet,  sondern  Montag  den  4.  November  statt;  der  Fehler  mag 
belanglos  sein,  immerhin  zeigt  er,  daß  es  der  Verfasser  mit  der  Genauigkeit 
der  Datierung  nicht  allzu  genau  nahm  und  das  Hauptgewicht  darauf  legte, 
der  Schilderung  durch  ungezwungene  Anlehnung  an  ein  allgemein  bekanntes 
Ereignis  einen  höheren  Schein  von  Wahrheit  zu  geben.  Auch  auf  die 
Charakterisierung  des  Ortes  ist  viel  Aufmerksamkeit  verwendet.  Francisco 
wäre  von.  Lattanzio  Tolomei,  den  er  bisweilen  Sonntags  besuchte,  nach 
S.  Silvestro  am  Quirinal  beschieden  worden,  wo  Vittoria  Colonna  einer 
Auslegung  der  Episteln  des  heiligen  Paulus  beiwohnte;  nach  der  Vor- 
lesung läßt  die  Marchesa  auch  Michelangelo  holen  und  in  einer  Kapelle 
von  S.  Silvestro  findet  die  erste  (sowie  die  nächste)  Unterredung  statt. 
Die  Genauigkeit  dieser  Charakterisierung  — das  muß  immer  wieder  be- 
tont werden  — braucht  uns  nicht  wunder  zu  nehmen,  denn  sie  entspricht 
den  Erfordernissen  eines  kunstgerechten  Dialogs.  33) 

Ein  feiner  Zug  Hollandas  ist  es,  daß  er  die  Gespräche  unter  der 
Ägide  Vittoria  Colonnas  vor  sich  gehen  läßt;  auch  von  anderen  Seiten 
ist  der  außerordentliche  Einfluß  bezeugt,  den  die  Marchesa  auf  ihre 
Umgebung  ausübte;  . . . dove  ella  interviene  o in  presenza  o in  norne, 

33)  z.  B.  Sperone,  Dialogo  della  Vita  attiva  e Contemplativa,  in  dem  lauter 
bekannte  Persönlichkeiten  als  Sprecher  auftreten  wie  Gasparo  Contarini,  Luigi  Priuli, 
Bern.  Navagero,  Antonio  Broccardo,  Valerio,  Cardinal  Hercole  d’Este:  »Dico  adunque  che 
1 anno  di  Christo  x 529  dovendo  il  Papa  Clemente  VII  Carlo  V di  Spagna  coronare 
a 1 imperadore  in  Bologna;  parve  al  Priuli,  al  Navagero,  et  al  Broccardo  con  esso, 
i quali  a quel  tempo  iö  dimorava  in  Vinegia,  che  tutti  insieme  vedessimo  celebrare 
cotal  rara  solennitä’ ; quivi  dimorando,  et  le  piii  volte  alloggiando  in  casa  di  M.  Gasparo 
Contarini,  all’  hora  ambasciadore  della  Signoria  di  Vinegia,  un  giorno  tra  gli  altri 
avvenne,  che’  1 Cardinal  di  Mantova,  come  quello  che  per  disio  d’  imparare  alcuna  volta  il 
facea,  venne  a vederlo,  et  il  Valerio  con  lui,  tra  li  quali  poscia  che  le  accoglienze  furon 
finite,  posti  a sedere,  volto  il  Cardinale  all’  Ambasciadore  in  tal  modo  a parlar  gli 
comminciö  etc.  Siehe  auch  von  demselben  den  Dialogo  del  Giuditio  di  Xenofonte, 
den  Dialogo  d’  Amore  (mit  Bernando  Tasso  und  Molza),  den  Dialogo  delle  lingue  etc. 
Dialogi  del  Signor  Speron  Sperone,  Venetia  1596.  — Siehe  auch  Camillo  Pellegrino, 
Del  Concetto  poetico  (herausgegeben  von  Angelo  Borselli.  Nap.  1895);  Pierfrancesco 
Giambullari,  Il  Gello  1546  (Passeggiando  a giorni  passati  ne  nostri  chiostri  di 
S.  Lorenzo : come  non  meno  per  servire  alla  sanitä  del  corpo,  che  alla  recreatione  della 
mente,  molte  volte  son  consueto:  sopraggiunse  Carlo  Lenzoni.  Al  quäle  faccendomi 
incontra:  et  dopo  le  solite  salutationi,  volendomene  entrar  con  lui  ne  nostri  usati 
ragionamenti : interrompendomi  egli  le  parole  mi  disse:  Il  nostro  Gello  e qui  in  Chiesa 
con  un  amico  suo  forestiero  etc.);  Carlo  Lenzoni,  In  difesa  della  lingua  fiorentina  et 
di  Dante.  Fior.  1556;  L’ Arte  Poetica  del  Sig.  Antonio  Minturno;  Duc  dialogi  di 
M.  Giovanni  Andrea  Gilio  da  Fabriano,  Camerino  1564  und  zahllose  andere. 


3°6 


Hans  Tietze: 


tutto  quello  £ cosa  sacra  e degna  di  grande  onore,  e di  somma 
reverenza,34)  schreibt  Claudio  Tolomei  am  21.  Mai  1543  an  Cav.  Gandolfo 
und  Luca  Contile  1541  nach  seiner  ersten  Begegnung  mit  ihr  an  den 
Grafen  Ettore  die  Carpegna  . . . . e non  mi  sono  potuto  partir  da 
lei. 35)  So  ist  ihr  Vorkommen  in  den  ersten  zwei  Unterredungen  als 
eine  Huldigung  für  die  vornehme  und  edle  Frau  anzusehen,  die  ja  zur 
pyrenäischen  Halbinsel  zahlreiche  Beziehungen  hatte  und  an  die  Hollanda 
gewiß  empfohlen  war.  Dagegen  ist  die  Teilnahme  Michelangelos,  dem 
gerade  die  Erörterung  der  für  Hollanda  wichtigsten  Fragen  in  den  Mund 
gelegt  wird,  eigentlich  ganz  selbstverständlich.  Denn  wo  immer  in 

ähnlichen  kunsttheoretischen  Diskussionen  Fragen  der  Malerei,  Bild- 
hauerei und  Architektur  berührt  werden,  wird  immer  Michelangelo  als 
höchste  Autorität,  ja  oft  als  der  einzige  genannt,  der  überhaupt  über 
alle  drei  Schwesterkünste  ein  maßgebendes  und  entscheidendes  Urteil 
fällen  könne.  So  heißt  es  zum  Beispiel  im  zweiten  Teil  des  Disegno 
des  Doni:  Pino:  Questo  huomo  vorrei  che  fosse  stato  chiamato  da  loro 
(Natura  e 1’  Arte)  et  da  esso  fosse  stato  dato  la  sentenza  della  nobiltä 
dell’  una  et  dell’  altra  professione.  Silvio:  Certo  che  non  c ö huomo 
che  la  possi  terminare  se  non  Michel  Agnolo;  per  possedere  il  disegno, 
esser  padrone  della  scoltura  et  parimente  della  pittura  etc.  36)  und  auch 
im  Ercolano  des  Varchi  wird,  wo  von  höchsten  Autoritäten  die  Rede 
ist,  für  die  bildenden  Künste  Michelangelo  genannt,  denn  er  ist  »fuori 
d’ ogni  rischio  e pericolo  ävendo  vinto  1’  invidia«.  37) 

Das  Meritorische  des  Gesprächs  setzt  mit  einer  längeren  Aus- 
lassung über  den  Charakter  des  Malers  ein;  es  ist  die  Erwiderung 
Hollandas  auf  Vorwürfe,  vielleicht  Anschuldigungen,  die  ihm  die  Ab- 
sonderlichkeiten seines  Charakters  und  Benehmens  eingetragen  hatten; 
daß  er  es  ist,  der  verteidigt  werden  soll,  ist  ja  sogar  ausdrücklich  im 
Gespräch  betont,  denn  Michelangelo  sagt,  er  spreche  im  eigenen  Namen 


34)  Lettere,  Napoli  1821,  I p.  141  ff. 

35)  Lettere,  Pavia  1564,  I 23vf.;  siehe  auch  Salza,  Luca  Contile,  Fir.  1903,  p.  105. 

36)  Disegno  del  Doni,  Ven  1549,  f.  11. 

37)  Auch  sonst  werden  Autoritäten  als  Teilnehmer  am  Gespräch  eingeführt;  so 
wählt  Giannotti  in  seinem  Libro  de  la  Republica  de  Venetiani  (Rom  154°)  als  Haupt- 
sprecher Trifone  Gabriele,  que  la  purete  de  ses  moeurs  et  son  immense  savoir  avaient 
fait  surnommer  par  ses  contemporains  le  Socrate  de  son  temps  (Charles  Tassin, 
Giannotti.  Sa  vie,  son  temps  et  ses  doctrines,  Paris  1869).  Giambullari  in  der  Einleitung 
zum  Gello  (s.  o.):  Nel  quäle  e massime  nel  principio  ho  introdotto  a parlare  il  nostro 
Giovanbatista  Gelli,  si,  perche  egli  e molto  virtuoso,  et  tanto  amico  mio  che  dal 
cognome  suo  voglio  chiamare  questa  opera  il  Gello;  et  si  anchora  perche  bisognandomi 
pure  scrivere  de  la  antichitä  di  Firenze,  havendone  giä  scritto  egli,  et  volendo  iö  piü 
tosto  augmentare  et  accrescere  le  cose  sue,  che  detrar  loro  in  parte  alcuna. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


307 


und  in  dem  einiger  anderen  Maler,  die  in  gleicher  Lage  sind  — zu 
denen  übrigens  ja  auch  der  hier  gegenwärtige  Messer  Francisco  gehört, 
(p.  21.)  Daß  manches,  was  letzterem  vorgeworfen  wird,  sich  auch  auf 
Michelangelo  beziehen  muß,  erscheint  selbstverständlich,  wenn  wir  be- 
denken, daß  Hollanda  bestrebt  war,  sein  großes  Vorbild  möglichst  getreu 
zu  kopieren  und  daß  ihm  das  bei  Äußerlichkeiten  naturgemäß  am  besten 
— oder  eigentlich  einzig  und  allein  — gelungen  sein  mag.  38)  Ähnlich 
lag  auch  das  folgende  dem  Portugiesen  am  Herzen  und  immer  wieder 
kam  er  darauf  zurück:  der  Unterschied  zwischen  der  sozialen  Stellung  des 
Künstlers  in  Italien  und  in  Portugal;  dieser  Vergleich  war  für  Hollanda 
ein  sehr  schmerzlicher,  und  er  ist  in  diesem  Punkte  auch  ungerecht 
gegen  seine  Landsleute  geworden.  (Gespräche  XCVIff.)  Durch  eine 
Frage  der  Marchesa  wird  das  Gespräch  auf  die  vlämische  Malerei  ge- 
bracht und  Michelangelo  gibt  ein  längeres  Gutachten  über  sie  ab;  diesen 
Passus  hat  Justi  richtig  erklärt:  »Stolz  darauf,  einem  solchen  Riesen  wie 
Buonarrotti  nahegetreten  zu  sein,  wollte  er  vielleicht,  der  als  Ausländer 
zuweilen  scheel  angesehen  wurde,  den  Portugiesen  zu  verstehen  geben, 
daß  sie  ihn  mit  seinen  stammverwandten  dunkleren  Kollegen  nicht  ver- 
mengen dürften.  Im  Jahre  1538  hat  die  altniederländische  Malerei 
schwerlich  die  Italiener  mehr  aufgeregt;  noch  weniger  wahrscheinlich  ist, 
daß  Michelangelo  sich  gegen  sie  ereifert  hat,  besonders  so  weitschweifig, 
wie  in  diesen  an  die  Adresse  der  Portugiesen  gerichteten  Auslassungen.«  39) 
Um  die  Absicht  noch  deutlicher  zu  machen,  läßt  der  Autor  Michelangelo 
nach  der  Lobpreisung  der  italienischen  Malerei  hinzufügen:  also  daß  wir 
auch  ein  gutes,  in  Flandern  entstandenes  Werk,  oder  in  Spanien,  wo 
man  uns,  wie  gesagt,  am  nächsten  kommt  — ein  italienisches  nennen  (33). 
Nicht  nur  Italiener  sind  also  berechtigt,  die  höchsten  Ansprüche  zu 
stellen,  sondern  auch  Ausländer,  die  sich  die  einzig  wahre  Kunst  zu 
eigen  gemacht  haben,  wie  etwa  Francisco  de  Hollanda. 

Das  Gespräch  soll  am  nächsten  Tage  fortgesetzt  werden,  aber  erst 
am  folgenden  Sonntag  kommen  die  Teilnehmer  wieder  zusammen.  Der 
Hauptinhalt  ist  diesmal  eine  Aufzählung  der  wichtigeren  Malereien  in 
Italien,  und  zwar  fällt  es  Michelangelo  zu,  das  Verzeichnis  der  in  den 
verschiedenen  Städten  außer  Rom  zerstreuten  Kunstwerke  anderer  Künstler 
vorzutragen,  während  Vittoria  Colonna  die  in  Rom  befindlichen  und 
Hollanda  die  Werke  des  Meisters  bespricht.  Eine  Diskussion  dieses 
Teiles  erscheint  mir  überflüssig,  denn  es  ist  nur  ein  flüchtiges  Ver- 
zeichnis der  Kunstschätze  Italiens,  soweit  sie  Hollanda  interessierten, 


38)  Siehe  S.  26  Anm.  29. 

39)  Jahrbuch  der  preuß.  Kunstsammlungen  IX,  139  f. 


3°8 


Hans  Tietze: 


willkürlich  auf  die  drei  Teilnehmer  des  Gespräches  verteilt;  ähnliche 
Aufzählungen  kommen  ja  auch  sonst  vor,  z.  B.  in  einem  Brief  des  Doni 
an  Messer  Simon  Carnesecchi.  4°)  Den  Schluß  des  Gespräches  bildet 
eine  lange  Erörterung  Hollandas  über  die  Zeichnung,  die  mit  seinen 
Auseinandersetzungen  im  XVI.  Capitel  des  ersten  Buchs  der  Pintura 
Antigua  übereinstimmen  und  in  der  all  die  Anekdoten  aus  der  Antike 
nicht  fehlen,  die  in  den  Kunsttraktaten  der  Renaissance  immer  wieder- 
kehren. 

Das  dritte  Gespräch  findet  in  Abwesenheit  der  Marchesa  im  Kloster- 
garten statt;  auch  diesmal  kommt  Hollanda  auf  das  Thema  zu  sprechen, 
das  ihm  so  sehr  am  Herzen  liegt,  auf  den  Unterschied  der  Wertschätzung 
der  Malerei  in  den  beiden  Ländern,  wobei  auch  die  finanzielle  Seite 
der  Frage  nicht  vergessen  ist.  »Natürlich  wird  hier  wie  im  folgenden 
Dialog  die  Taktik  befolgt,  den  Italienern  die  Angriffe  und  Anklagen, 
Hollanda  aber  die  Verteidigung  der  Hispanier  in  den  Mund  zu  legen« 
(Gespräche  LXXXVII),  die  bequemste  Art  zu  sagen,  was  man  denkt  und 
doch  den  Schein  eines  guten  Patrioten  zu  wahren.  Was  hier  Michelangelo 
in  weitschweifigster  Art  vorbringt,  ist  nichts  als  was  Hollanda  im  I.  Teil 
seines  Werkes  allgemein  bespricht  und  was  in  den  kunsttheoretischen 
Schriften  der  Renaissance  immer  und  immer  wieder  vorkommt.  Ob  der 
am  Schluß  des  Dialogs  (121)  durch  gesperrten  Druck  hervorgehobene 
Satz,  daß  das  mit  größtem  Aufwand  von  Arbeit  und  Studien  Geschaffene 
den  Anschein  erwecken  soll,  daß  es  mit  größter  Leichtigkeit  hingeworfen 
sei,  wirklich  direkt  auf  Michelangelo  zurückgeht,  läßt  sich  kaum  mit 
Bestimmtheit  sagen.  Da  er  mit  einem  bei  Condivi  überlieferten  Aus- 
spruch Michelangelos  fast  wörtlich  übereinstimmt,  ist  es  ja  viel  einfacher, 
wir  halten  uns  an  die  letztere,  unverdächtige  Fassung. 

Wir  wissen,  daß  Michelangelo  es  nicht  liebte,  Erörterungen  über 
seine  Kunst  zu  geben  und  derlei  Discussionen  im  allgemeinen  für  über- 
flüssiges Geschwätz  hielt.  Als  ihn  Vasari  mit  der  Frage  belästigte,  ob 
er  der  Malerei  oder  der  Skulptur  den  Vorrang  einräume,  lachte  er 
höhnisch . und  sagte:  La  Sculptura  et  Pittura  hanno  un  fine  medesimo 
dificilmente  operato  da  una  parte  e dall’  altra.  Und  dem  Varchi 
antwortete  er  auf  dieselbe  Frage  mit  einem  Brief  voll  feiner  Ironie 
und  meinte:  si  puö  far  fare  loro  una  buona  pace  insieme,  e lasciar 
tante  dispute,  perche  vi  va  piü  tempo  che  a far  le  figure.4*)  Man  hat 
die  Redseligkeit  des  Künstlers  in  diesen  Gesprächen  mit  dem  Einfluß 
Vittoria  Colonnas  erklären  wollen.  Ich  will  diesen  gewiß  nicht  in  Abrede 

4°)  Im  Anhang  zum  Disegno,  1549,  f.  51  f. 

4‘)  Beide  Antworten  in  Due  Lezioni  di  M.  Benedetto  Varchi,  Fiorenza,  Lorenzo 
Torrentino  1549. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannotis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


309 


stellen,  aber  daß  die  Marchesa  Michelangelo  veranlassen  konnte,  seiten- 
lang Anekdoten  aus  Plinius  und  Plutarch  wiederzugeben,  das  kann  ich 
nicht  glauben.  — 

Die  beiden  Dialoge  des  Donato  Giannotti  unterscheiden  sich  schon 
in  der  Form  von  denen  des  Hollanda;  ohne  sich  mit  einer  Schilderung 
des  Milieus  und  der  näheren  Umstände  aufzuhalten,  führt  Giannotti  den 
Leser  gleich  in  medias  res  ein  und  überläßt  von  Anfang  an  den  Teil- 
nehmern am  Gespräch  das  Wort.  42)  Luigi  del  Riccio  und  Antonio 
Petreo  sind  in  einen  Streit  darüber  geraten,  ob  die  Berechnung  im 
Commentar  Landinos,  wie  lange  Dante  in  der  Hölle  und  im  Purgatorium 
geweilt  habe,  richtig  sei  und  mit  den  eigenen  Angaben  des  Dichters 
übereinstimme;  Antonio  bestreitet  die  Richtigkeit,  während  die  Autorität 
des  Landino  von  Luigi  verteidigt  wird.  In  diesem  Augenblick  kommen 
Michelangelo  und  Donato  Giannotti  hinzu  und  werden  als  berühmte 
Dantekenner  um  Entscheidung  der  strittigen  Frage  gebeten;  und  nachdem 
Giannotti  aus  Bescheidenheit  jede  Intervention  abgelehnt  hat,  erläutert 
Michelangelo  in  ausführlicher  Auseinandersetzung  die  fraglichen  Punkte. 
Auch  diese  mehr  dramatische  Form  der  Einkleidung  eines  Dialogs  ist 
eine  durchaus  übliche;  so  sei  auf  den  oben  zitierten  Lasca,  auf  den 
Aretino  des  Lodovico  Dolce,  auf  die  Viten  des  Baglione  etc.  hin- 
gewiesen. Eine  ganz  auffallende  Übereinstimmung  zeigt  die  Schrift 
Giannottis  mit  einem  andern  Dialog  über  Dante  vom  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts; es  ist  das  »Ragionamento  tra  il  signor  Cav.  Furio  Carandino 
ed  il  Signor  Gaspare  Prato  intorno  ad  alcune  cose  notate  nel  XII  canto 
dell’  inferno  di  Dante,«  43)  das  Alessandro  Tassoni  1597  geschrieben  hat. 

Car.  Vi  servite  voi  del  Landino  per  ispositore?  Prato:  Per  la 
maggior  parte. 

C.  E come  vi  sodisfa  egli  ? P.  Assai  in  molti  luoghi;  ma  poco 
sopra  questo  duodecimo.  Und  hier  knüpft  dann  die  Diskussion  an.  In 
der  an  Don  Alessandro  d’  Este  gerichteten  Dedikation  vom  25.  No- 
vember 1597  setzt  Tassoni  ausdrücklich  auseinander,  weshalb  er  diese 
Schrift  verfaßt  habe;  es  handle  sich  um  die  Ehrenrettung  mehrerer  Von 
Dante  Verunglimpfter,  besonders  um  den  Vorfahren  seiner  Gönner,  der 
Este,  Obizzo  VI.  Tassoni  denkt  also  keinen  Augenblick  daran,  daß  man 
in  diesem  Dialog  etwas  anderes  sehen  könnte  als  sein  literarisches 


41)  Da  der  Dialog  ziemlich  selten  geworden  ist,  sei  hier  auch  auf  die  Auszüge 
bei  Wilhelm  Lang,  Transalpinische  Studien,  Leipzig  1875,  I,  und  Gotti,  Vita  di  M.  B., 
Firenze  1876,  I 250 — 254  hingewiesen. 

43)  Nach  der  Handschrift  in  derBiblioteca  Estense  in  Modena  von  Oreste  Raggi  1867 
per  le  nozze  Bastogi-Carandini  herausgegeben.  Vergl.  auch  Giorgio  Rossi,  Studi  e 
Ricerche  Tassoniane,  Bologna  1904,  I.  Lo  Studio  di  Dante  in  Alessandro  Tassoni. 


3 10 


Hans  Tietze: 


Produkt,  und  die  Einführung  der  Teilnehmer  ist  offenbar  nichts  als  eine 
Courtoisie  gegen  verehrte  Freunde,  besonders  die  in  Tassonis  Heimat 
Modena  so  angesehene  Familie  der  Carandini.  Aus  demselben  Grund 
hat  auch  Giannotti  die  Teilnehmer  an  dem  Dialog  aus  dem  Kreis  seiner 
persönlichen  Freunde  gewählt.  Seit  dem  Ende  des  Jahres  1539  44) 
weilte  er  mit  seinem  Gönner,  dem  Kardinal  Ridolfi,  in  Rom  und  stand 
in  freundschaftlichem  Verkehr  mit  Michelangelo  und  anderen  dort 
lebenden  Florentinern.  Darüber  ist  uns  ja  vielfach  berichtet;  Condivi  45) 
nennt  Giannotti  unter  den  vertrauten  Freunden  seines  Meisters,  und  Varchi 
sagt  in  der  Leichenrede  auf  Michelangelo,  daß  dieser  gewöhnt  war,  mit 
Giannotti  »di  praticare  e discredersi  in  tutte  le  cose,  come  si  fa  tra 
gl’ Amici  domestici  familiarissimamente.« 46)  Besonders  in  literarischen 
Dingen  waren  sie  einander  Berater.  Michelangelo  schreibt  am  14.  März  1546 
an  Luca  Martini  über  den  Kommentar,  den  Varchi  47)  über  das  Sonett 
»Non  ha  1’  ottimo  artista  alcun  concetto«  verfasst  hatte:  . . . e veramente 
ö cosa  mirabile,  non  dico  al  giudizio  mio,  ma  degli  nomini  valenti; 
e massimamente  di  messer  Donato  Giannotti,  il  quäle  non  si  sazia  di 
leggerlo  ed  a voi  si  raccommanda.  Und  Giannotti  schreibt  zu  einem 
Sonett  den  Vermerk:  Magnifico  Messer  Luigi.  Poi  che  io  v’  hebbi  scritto, 
mi  venne  pur  fatto  un  Sonetto.  Io  ve  lo  mando  tale  quäle  egli  t. 
Mostratelo  a Michelagnolo,  come  e censore. 48)  Das  erwähnte  Sonett  galt  dem 
eben  verstorbenen  Cecchino  dei  Bracci,  dem  Freund  Luigi  del  Riccios. * *  4 *9) 
Michelangelo  schickte  aus  diesem  Anlaß  an  Luigi,  der  übrigens  seit  dem 
Tode  Angiolinis  sein  geschäftlicher  Beistand  war,  die  bekannten  Grab- 
schriften und  sollte  auch  ein  Grabmal  entwerfen.  Messer  Michelagnolo 
mi  fa  il  disegno  d’  uno  onesto  sepulcro  di  marmo,  et  voi  vi  degnierete 
di  fare  lo  epitaffio,  et  mandarmelo  con  una  epistola  confortatoria  etc.  5°) 
Der  letzte  Teilnehmer  am  Gespräch  ist  in  einem  Brief  Giannottis  an 
Lorenzo  Ridolfi  vom  9.  August  1550  in  Zusammenhang  mit  Michelangelo 
genannt:  Dite  al  Petreio,  che  io  sono  addosso  e Michelagniolo  e che  io 


44)  Vergl  das  Itinerar  Giannotis  bei  Frey,  Die  Dichtungen  des  M.  B.  p.  529. 

45)  Cap.  54. 

46)  Orazione  funerale  di  M.  Benedetto  Varchi  fatta  e recitata  da  lui  pubblicamente 

nell’ essequie  di  M.  B Fir.  1564  p.  43. 

47)  Due  Lezioni  di  M.  Benedetto  Varchi,  nelle  prima  delle  quali  si  dichiara  un 
Sonetto  di  M.  M.  B.  etc.  Fir.  1549. 

48)  Opere  politiche  e letterarie  di  Donato  Giannotti  precedute  da  un  discorso 
di  Atto  Vannucci,  Firenze  1850,  II  p.  381;  der  autographe  Vermerk  in  dem 
Magliabechiano  num.°  38  Palchetto  VIII. 

49)  Über  Riccio,  der  bei  der  Güterteilung  zwischen  Donato  und  Giannotto  Giannotti, 
1540  als  Schiedsrichter  fungiert  hatte,  vergl.  Frey  a.  a.  O.  p.  528. 

5°)  Opere  politiche  di  D.  G.  p.  381. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannottis  Dialoge  u.  Michelangelo.  3x1 

spero  fargli  fare  un  disegno  per  quella  scala  di  S.  Lorenzo;  se  lo 
potrö  havere  glielo  manderö  etc.  51) 

Der  Dialog  setzt  der  Freundschaft,  die  alle  seine  Teilnehmer  ver- 
band, ein  Denkmal;  zugleich  aber  ist  er  eine  Huldigung  für  die  Dante- 
kennerschaft  des  größten  unter  ihnen.  Condivi  sagt  (c.  56),  Michelangelo 
habe  Dante  beinahe  ganz  auswendig  gekannt,  und  zu  allen  Zeiten  finden 
wir  Michelangelos  Interesse  für  den  größten  Florentiner  vor  ihm  bestätigt. 
Schon  als  er  1494  in  Bologna  war,  pflegte  er  seinem  Gastfreund,  dem 
Gian  Francesco  Aldovrandi,  aus  Dante  vorzulesen  (Condivi  c.  13),  und 
der  bekannte  Streit,  den  er  in  jungen  Jahren  mit  Leonardo  hatte,  beweist, 
daß  er  schon  damals  für  einen  gründlichen  Kenner  der  Komödie  galt.52) 
Als  die  Florentiner  Akademiker  am  21.  Oktober  1519  eine  Bittschrift  an 
Leo  X.  richteten,  um  die  Übertragung  der  Gebeine  Dantes  nach  Florenz 
zu  erwirken,  unterzeichnet  auch  Michelangelo  und  bietet  sich  an,  dem 
göttlichen  Dichter  ein  seiner  würdiges  Grabmal  zu  machen.  53)  Ein  von 
Bottari  in  seiner  Vasariausgabe  erwähntes  Exemplar  des  Landinokommen- 
tars  mit  angeblichen  Handzeichnungen  Michelangelos,  das  im  Besitz  des 
Bildhauers  Montauti  gewesen  und  durch  einen  Schiffbruch  zugrunde 
gegangen  wäre,  dürfte  allerdings  in  das  Reich  der  Fabel  gehören.  54) 


51)  Alcune  Lettere  di  D.  G.  nuovamente  trovate  nell’  Archivio  Centrale  di 
Firenze  (G.  Milanese)  1863. 

51)  Frey,  II  Codice  Magliabechiano  p.  115. 

53)  Io  Michelangelo  schultore,  il  medisimo  a Vostra  Santitä  supplicho,  ofiferendomi 
al  Divin  Poeta  fare  la  sepultura  sua  chondecente,  e in  loco  onorevole  in  questa  Cictä. 
Fattori,  Michelangelo  e Dante.  Fir.  1875,  p.  10. 

54)  Vasari,  Vite,  Rom  1760,  III,  p.  252,  n.  2;  dazu  Kraus,  Dante  618.  Über 
Einflüsse  Dantes  auf  Michelangelo  vgl.  Wolfgang  Kallab,  Die  Deutung  von  Michel- 
angelos Jüngstem  Gerichte  in  Beiträge  zur  Kunstgeschichte.  Franz  Wickboff  gewidmet. 
Wien  1903,  p.  138  ff.  — Auch  sonst  ist  der  Name  Michelangelos  oft  mit  dem  Dantes 
in  Zusammenhang  gebracht  worden;  lag  doch  von  Anfang  an  der  Gedanke  nahe, 
zwischen  den  beiden  Gipfeln  des  italienischen  Geistes  eine  direkte  Brücke  zu  schlagen, 
unter  der  die  breite  Straße  der  Renaissancekultur  durchführen  konnte.  So  zog  man 
schon  zu  Michelangelos  Lebzeiten  Parallelen  zwischen  ihm  und  Dante  (Carlo  Lenzoni, 
In  difesa  della  lingua  fiorentina  et  di  Dante,  Fir.  1556,  in  dem  von  Pierfrancesco 
Giambullari  im  Namen  des  indessen  verstorbenen  Autors  an  Michelangelo  gerichteten  Dedi- 
kationsschreiben),  und  dieses  Thema  gab  auch  späterhin  immerfort  Anlaß  zu  meist  recht 
hohlen  Deklamationen.  Z.  B.:  Andrea  Rubbi  in  der  Ausgabe  der  Div.  Com,  Venedig, 
Zatta,  1784,  III;  Domenico  Valeriano,  M.  und  D.  in  der  Antologia  di  Fossombrone, 
1843;  Lafayard  de  Calemard,  Dante,  Michelange  et  Machiavel,  Par.  1852;  Ettore  Fattori, 
M.  e D.,  Fir.  1875;  Giovanni  Franciosi,  Alcune  Lezioni  su  Dante,  Torino  1882;  Gabriel 
Thomas,  M.  A.  Poete,  Paris-Nancy  1892;  A.  Mataloni,  D.  e M.,  Camerino  1899;  das 
meiste  sind  mehr  schöngeistige,  weitschweifige  Schwärmereien  als  begründete  Parallelen. 
Beliebt  war  auch  die  Zusammenstellung  von  Michelangelo  und  Dante  einer-  und  Raffael 
und  Petrarea  anderseits;  im  römischen  Kreise  des  Mengs  wurde  dieser  Vergleich  dann 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


22 


312 


Hans  Tietze: 


Überhaupt  wurden  das  Studium  und  der  Kult  Dantes  im  Cinque- 
cento mit  besonderem  Eifer  betrieben 55)  und  die  Komödie,  die  seit 
diesem  Jahrhundert  den  Beinamen  der  Göttlichen  führt,  wird  den  Werken 
der  griechischen  und  lateinischen  Klassiker  gleichgestellt,  ja  vorgezogen.56) 
Schon  deshalb  wäre  zu  vermuten,  daß  auch  Giannotti  in  der  Erklärung 
des  Danteschen  Gedichtes  nicht  ganz  unbewandert  war  und  daß  Aus- 
sprüche wie:  Non  avete  giä  ragione  a dir  di  me,  che  io  sia  Dantista; 
Et  mi  fate  grandissima  ingiuria  attribuendomi  quello  che  non  e mio 
(Dialog  p.  4)  oder  Sequitate  di  gratia,  Mes.  Michelagnolo;  per  che  io 
sono  cosi  di  questa  materia  come  di  tutte  l’altre,  il  piü  bello  ignorante 
del  mondo  (daselbst  p.  9)  nur  als  Ausdrücke  der  Bescheidenheit  auf- 
zufassen sind. 

Eine  Bestätigung  dieser  Vermutung  finden  wir  in  seinen  Schriften, 
wo  er  an  zahlreichen  Stellen  auf  Dante  Bezug  nimmt;  auch  andere  Ver$e 
der  Komödie  haben  ihm  Bedenken  erregt,  die  nur  nach  und  nach 
schwanden.  »Io  mi  soleva  giä  grandemente  maravigliare,  che  Dante  poeta 

in  molti  luoghi  della  opera  sua,  chiamasse  i Fiorentini  lupi ; ma 

poi  ch’io  ho  letto  diligentemente  le  nostre  istorie ho  conosciuto 

chiaramente,  che  tutti  quelli  cittadini  che  allora  venivano  ed  ora  ven- 
gono  in  grandezza  nella  Cittä,  si  possono  meritamente  chiamare  lupi.«  57) 
Giannotti  erzählt  uns  ja  im  Dialog  selbst,  wann  er  sich  mit  Dante  be- 
schäftigte (p.  12):  Io  non  lessi  mai  Dante,  se  non  in  quel  tempo,  che 
io  stetti  prima  in  Villa  et  poi  a Bibbiena  ..  . .;  et  non  presi  mai  fatica 
di  vedere  come  s’  habbiano  ad  intendere  alcune  cose  molto  difficili,  le 
quali  in  questo  Poeta  si  leggono.  Zur  Zeit  seiner  Internierung  in  Bibbiena 
also  hatte  er  Gelegenheit  zu  gründlicheren  Dantestudien,  und  wir  wdssen  ja 
auch  sonst,  daß  er  gewöhnt  war,  die  Stunden  der  ihm  aufgezwungenen  Muße 
zu  allerhand  Studien  zu  benützen. 58)  Damals  erwarb  er  sich  wohl  auch  die 

zu  Tode  gehetzt;  vgl.  Lettere  del  consigliere  G.  L.  Bianconi  sopra  il  libro  del  Canonico 
Luigi  Crespi  intitolato  Felsina  Pittrice,  Milano  1802. 

55)  Siehe  Barbi,  Deila  Fortuna  di  Dante  nel  sec.  XVI  in  Annali  della  R.  Scuola 
normale  superiore  di  Pisa,  XIII;  den  Namen  Divina  führt  die  Komödie  zum  erstenmal 
in  der  Ausgabe  von  1555  (Giolito). 

56)  So  Varchi  im  Ercolano  Quesito  IX,  was  den  Widerspruch  des  Ridolfo  Castra- 
villa  und  eine  lange  Kontroverse  hervorrief. 

57)  Della  Repubblica  Fiorentina  libri  IV,  2.  Buch,  Kap.  11  und  12;  in  der  Aus- 
gabe von  1850  T.  I,  131;  andere  Beziehungen  auf  die  Komödie  daselbst  II,  18  mit 
Bezug  auf  Purg.  VI,  136 — 15 1,  III,  3,  Purg.  VII,  121  — 123  u.  a. 

58)  Z.  B.  Brief  an  Varchi  aus  Bologna  vom  26.  Nov.  1537:  Qui  e arrivato  l’Alciato, 
e comincerä  a leggere  fra  pochi  giorni;  ed  io  l’andrö  ad  udire;  oder  den  Brief  an 
Antonio  Michieli  vom  30.  Juni  1533  aus  Comiano  (Lettere  Inedite  in  Atti  dell’  Istituto 
Veneto,  ser.  VI,  tom.  III,  p.  1580/81);  siehe  auch  Enrico  Zanoni,  D.  G.  nella  vita  e 
negli  scritti.  Roma  1900,  p.  47. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannottis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


313 


astrologischen  Kenntnisse,  die  der  Autor  der  Dialoge  gehabt  haben  muß, 
die  aber  bei  Michelangelo  etwas  befremdlich  erscheinen  müßten.  Gian- 
notti  hat  sich  für  astrologische  Berechnungen  interessiert  und  erwähnt 
solche  mehrmals  in  seinen  Briefen.  »Ho  chiesto  al  Zucchetta  la  Nativitä 
et  ve  la  manderö  per  questo  altro  spaccio;  et  voi  mi  mandarete  quella 
che  fa  Fra  Giuliano59)  che  harö  caro  di  vederla,  non  havendo  mai 
veduto  cosa  alcuna  di  suo«  (an  Lorenzo  Ridolfi  von  Rom  18.  Mai  1549); 
und  viel  später  einmal:  vi  mando  la  Nativitä  del  vostro  nipote,  la  quäle 
ho  calculata  con  le  tavole  d’Alfonso;  et  se  io  leggessi  piü,  come  solevo, 
questi  autori  che  insegnano  giudicare,  io  harei  anco  fatto  un  poco  di 
iudicio;  ma  egli  ö tanto  che  io  non  gli  ho  letti,  che  anco  ho  dimenti- 
cato  quel  poco  che  io  ne  sapevo.  Costi  so  che  solevano  essere  buoni 
astrologi;  servitevi  di  questa  figura,  acciö  habbiamo  a durare  men  fatica. 
Non  lascierö  perö  di  dire  che,  a giudicare  cosi  alla  grossa,  io  ci  veggo 
poco  di  buono;  ma  non  mi  fido  del  mio  giudicio  per  la  cagione  detta« 
(29.  Oktober  1563).60)  So  mochte  wohl  Giannotti  imstande  sein,  diesen 
astrologischen  Kommentar  zu  verfassen,  der,  wie  so  manche  seiner  Zeit, 
die  topographischen  und  chronologischen  Umstände  der  Reise  Dantes 
ins  Auge  faßt.61)  Für  uns  ist  gerade  dieser  Hauptteil  von  geringerem 
Interesse;  wichtiger  ist  der  Schluß  des  zweiten  Dialogs  (p.  54 ff.),  wo 
über  die  Frage  gesprochen  wird,  warum  Dante  Brutus  und  Cassius  in 
den  innersten  Kreis  der  Hölle  versetzt  habe  (Inf.  XXXIV,  65).  Denn 
die  hier  vorgebrachten  Äußerungen  sind  immer  als  bezeichnend  für  die 
politischen  Anschauungen  Michelangelos  herangezogen  worden.62) 

Brutus  war  für  die  Renaissance  eine  der  faszinierendsten  Erschei- 
nungen des  Altertums,  das  verehrte  Vorbild  aller  Tyrannenstürzer.  Als 
Boscoli  im  Jahre  1513  wegen  Teilnahme  an  der  Verschwörung  gegen 
die  Medici  auf  das  Schaffot  geführt  wird,  ruft  er  verzweifelt  seinem  Be- 
gleiter zu:  Deh!  Luca  cavatemi  dalla  testa  Bruto,  acciö  ch’io  faccia  questo 
passo  interamente  da  cristiano.63)  Sein  Name  war  es,  der  allen  Ver- 
schwörern wie  eine  Vision  vorleuchtete;  an  ihn  dachten  Olgiati  und  Lam- 

59)  Fra  Giuliano  Ristori,  Carmelitaner  und  berühmter  Astrolog. 

6°)  Alcune  lettere  di  D.  G.  1.  c.  L.  37  bezw.  48. 

6l)  z.  B.  Pierfrancesco  Giambullari,  Del  Sito,  Forma  et  Misure  dello  Inferno  di 
Dante  . . . Fir.  1544  oder  von  demselben  eine  Lezione  del  Sito  del  Purgatorio,  1551; 
das  Astronomische  aus  dem  Dialog  des  Giannotti  ist  exzerpiert  bei  Francesco  Longhena, 
Itinerario  Astronomico  di  Dante  Al.  Milano  1861,  und  P.  Bartolomeo  Sorio,  Misure 
generali  del  tempo  e luogo  nell’  itinerario  infernale  di  Dante,  Milano  1863;  siehe  auch 
Barbi  a.  a.  O.  1 3 1 ff. 

6i)  Vgl.  Thode  I,  122  ff. 

63)  Narrazione  del  caso  di  P.  P.  Boscoli  e di  Agostino  Capponi,  fatta  da  Luca 
della  Robbia,  latinista  e storico  di  quel  tempo  in  Archivio  Stör.  Italiano.  Vgl.  auch 


22' 


314 


Hans  Tietze: 


pugnani,  als  sie  sich  1476  gegen  Galeazzo  Maria  Visconti  verschworen, 
an  seinen  unvergänglichen  Ruhm  bei  der  Nachwelt  Olgiati,  wenn  er  mit 
den  Worten  starb:  Mors  acerba,  fama  perpetua.* * * * *  64)  Von  besonderer  Ak- 
tualität aber  war  die  Gegenüberstellung  von  Brutus,  dem  Freiheitshelden, 
und  Cäsar,  dem  Tyrannen,  gerade  zur  Abfassungszeit  des  Dialogs.  Am 
6.  Januar  1537  war  Alessandro  di  Medici  von  seinem  Verwandten  Loren- 
zino ermordet  worden,  und  auf  dieses  Ereignis  beziehen  sich  viele  durch- 
sichtige Anspielungen  des  Dialogs.  Wie  kein  zweiter  ist  Lorenzino  als 
neuer  Brutus  gepriesen  worden.  Giovambattista  Strozzi  schreibt  am 
21.  Januar  1537  an  Filippo  Strozzi,  den  Führer  der  Florentiner  Patrioten : 
Se  mai  la  V.  S.  pensb  farmi  cosa  grata,  mi  raccomandi  cento  milla  volte 
al  giorno  al  glorioso  Lorenzo  di  Medici,  il  cui  atto  magnanimo  avanza 
Bruto,  e quanti  ne  furono  simili  a lui  etc.  65) 

Auch  der  Historiker  Jacopo  Nardi  nannte  ihn  den  neuen  Brutus66) 
und  Varchi  war  nicht  weniger  überschwenglich ; er  preist  ihn  z.  B.  mit 
folgenden  Versen: 

Cum  iuvenis  destra  iuvenem  cecidisse  Tyrannum 
Immitem  audisset  Brutus  in  Elysiis; 

Et  forte  inciderat  de  Caesare  victi 

Tot  viri  ab  uno,  inquit,  iam  sumus,  et  puero. 

Überhaupt  gibt  uns  Varchi  im  XV.  Buch  seines  großen  Geschichts- 
werkes die  beste  Vorstellung  von  der  Stimmung  unter  den  Verbannten  ;67) 
aber  außerhalb  dieses  engen  Kreises  wurde  die  Tat  ganz  anders  beurteilt. 
Gleich  nach  ihrem  Bekanntwbrden  protestierte  Pietro  Aretino  dagegen,  daß 
ein  gemeiner  Verbrecher  derartig  verherrlicht  werde;  »Cicerone  esaltö  con 
lo  stesso  entusiasmo  Cesare  e Bruto«  und  so  sei  es  auch  jetzt.68)  Vasari 


Ferruccio  Martini,  Lorenzino  de’ Medici  e il  Tiranniccido  nel  Rinascimento.  Firenze  1882, 
besonders  p.  48  fr. 

64)  Vgl.  Pasquale  Villari,  Niccolö  Machiavelli  e i suoi  tempi.  Milano  1897,  Ein- 

leitung. Diese  Auffassung  der  Ermordung  Casars  ist  übrigens  nicht  die  einzige ; so 
heißt  es  in  der  volkstümlichen  Aquila  Volante  des  Leonardo  Bruni  L.  IV,  c.  22:  Sapiate 
che  Cesaro  fo  lo  piü  valente  homo  del  mondo  et  Imperatore  che  havesse  mai  Roma, 
et  tenne  la  dignitä  dello  Imperio  a grande  stato  anni  IV  e mesi  sei,  poi  per  astutia 

e per  invidia  Bruto  Cassio  et  molti  altri  consiglieri  piü  di  XL  a gran  tradimento  in  su 

lo  palazzo  de  Campo  Martio  dove  se  tenea  la  rasone  etc. 

65)  Arch.  Stör.  Ital.  Prima  ser.  vol.  VII,  Appendice  p.  266/267. 

66)  L.  A.  Ferrai,  Lorenzino  di  Medici  e la  Societä  Cortigiana  del  Cinquecento. 

Milano  1891,  p.  1. 

67)  Storia  Fiorentina.  lib.  XV.  § XXIII. 

68)  Primo  libro  delle  lettere  di  Pietro  Aretino.  Milano  1864,  I,  p.  117;  Brief  an 
Valerio  Orsini  vom  10.  Februar  1537;  in  einem  Brief  an  Bembo  daselbst,  I,  p.  103, 
zeigt  er  sich  noch  mehr  in  klassischen  Vorurteilen  befangen. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannottis  Dialoge  u.  Michelangelo.  315 

spricht  in  einem  Brief  vom  10.  Januar  1537  an  Don  Antonio  Vasari  von 
der  Grausamkeit  und  Mißgunst  Lorenzinos,  die  die  Motive  der  Tat  ge- 
wesen seien.  69)  Gewichtiger  als  die  Stimme  eines  Günstlings  der  Medici 
mag  die  Francesco  Guicciardinis  sein,  der  die  Tat  nach  den  Folgen  be- 
urteilte: Lorenzino,  schreibt  er,  riusci  a tutt’  altro  fine  da  quello  che  si 
era  proposto.  Denn  das  Joch  Cosimos  war  schwerer  abzuschütteln  als 
das  Alessandros.  7°)  Aber  auch  bei  den  Verbannten  war  die  ursprüng- 
liche Begeisterung  bald  verraucht  und  aus  der  Bildsäule,  die  Jacopo 
Sansovino  für  Lorenzino  hätte  machen  sollen,  ist  nichts  geworden.  71) 
Sein  Charakter  war  nicht  darnach  angetan,  ihm  Freunde  zu  gewinnen 
oder  die  festzuhalten,  die  seine  Tat  ihm  erworben  hatte.  Schon  als  er 
nach  der  Ermordung  Alessandros  zu  Silvestro  Aldobrandini  nach  Bologna 
kam,  wollte  dieser  dem  unheimlichen  Mann  nicht  glauben7*)  und  so  ging 
kostbare  Zeit  verloren.  Aus  Furcht  vor  den  Deutschen  und  Spaniern 
sah  sich  Guicciardini  gezwungen,  rasch  Cosimo  zu  proklamieren,  und 
nachdem  dieser  energische  und  verschlagene  Fürst  einmal  die  Gewalt 
an  sich  gebracht  hatte,  war  die  Herrschaft  der  Mediceer  gesicherter  denn 
je.  Die  Mißstimmung  gegen  Lorenzino  nahm  immer  mehr  zu; 73)  man 
zweifelte  an  der  Lauterkeit  seiner  Motive  und  beschuldigte  ihn  zumindest, 
sich  die  Folgen  seiner  Tat  durchaus  nicht  klargemacht  zu  haben.  Loren- 
zino sagt  selbst  in  seiner  Apologie:  Io  confesso  che  non  mi  venne  mai 
in  consideratione  che  Cosimo  de  Medici  dovesse  succedere  ad  Ales- 
sandro.  74) 

Aus  dieser  Mißstimmung  gegen  den  neuen  Brutus  ist  der  Dialog 
des  Giannotti  zum  Teil  zu  verstehen.  Die  Begründung  dafür,  warum 
Dante  den  Mörder  Cäsars  in  den  innersten  Kreis  der  Hölle  versetzt 
habe,  75)  ist  einerseits  die  imperialistische  Gesinnung  Dantes,  anderseits  sind 

69)  Opere  VIIJ,  p.  269. 

7°)  Vgl.  L.  Domenichi,  Istoria  varia.  Venezia  1565.  L.  XII,  p.  752. 

7>)  Bottari,  Lettere  pittoriche,  1822,  V,  p.  220. 

7»)  Vgl.  den  Brief  an  Fil.  Strozzi  vom  8.  Januar  1537  in  Niccolini,  Fil.  Strozzi, 
p.  212. 

73)  Briefe  des  Vincenzo  Ridolfi  an  Pietro  Strozzi  vom  26.  März  1537  und  des 
Antonio  Berardi  an  Andrea  Rinieri  vom  21.  August  desselben  Jahres;  vgl.  Ferrai  1.  c. 
p.  277,  Anmerkung. 

74)  Apologia,  Rom  1891,  p.  71/72;  auch  Doni  führt  in  seiner  langausgesponnenen 
Parallele  zwischen  Alessandro  und  Cäsar  und  Lorenzo  und  Brutus  diesen  Mangel  an 
Vorbedacht  an.  La  Fortuna  di  Cesare,  Ven.  1550* 

75)  Auch  Tassoni  hat  in  dem  oben  zitierten  Dialog  an  der  Verurteilung  des  Brutus 
Anstoß  genommen  und  erklärt  sie  als  den  gröbsten  Verstoß  Dantes  ».  . e quello  che  mi  par 
piü  enorme  Bruto  e Cassio  uccisori  d’un  tiranno,  occupator  della  patria,  sono  posto  da 
lui  egualmente  et  in  un  medesimo  luogo  tormentati  col  traditore  di  Christo  redentore 
nostro«.  a.  a.  O.  p.  45. 


3l6 


Hans  Tietze: 


es  die  unglücklichen  Folgen  der  Tat;  während  Cäsar  vielleicht  später,  wie 
einst  Sulla,  auf  die  Herrschaft  verzichtet  hätte,  war  durch  seinen  Tod 
und  die  Thronbesteigung  des  Augustus  die  Tyrännis  erst  recht  gesichert 
und  gefestigt. 

Die  Erklärung  der  fraglichen  Infernostelle  aus  Dantes  Stellung  zum 
Imperium  hat  Trifone  Gabriele  in  seinen  Annotazioni  sul  Dante  fatte  in 
Bassano  gegeben,  deren  Manuskript  sich  in  der  vatikanischen  Bibliothek 
befindet: 76)  Ebbe  gran  torto  il  poeta  et  a porre  Celestino  nello  inferno 
per  lo  rifiuto,  e Bruto  e Cassio  per  la  morte  di  Cesare,  che  in  veritä, 
come  dice  il  Landino  sono  per  quel  conto  da  esser  posti  ne  piü  alti 
scanni  del  Paradiso,  ma  fu  troppo  imperiale  e troppo  vuol’  adulare  a 
quella  parte  (Cod.  Vat.  3193,  f.  25).  Trifone  Gabriele  gehörte  aber  zu 
den  persönlichen  Bekannten  Giannottis,  wie  er  in  der  Einleitung  seines 
Buches  de  la  Repubblica  de  Venetiani  (Rom  1540)  berichtet,  dessen  Aus- 
führungen sogar  größtenteils  dem  Trifone  in  den  Mund  gelegt  sind. 

Was  die  andere  Begründung  anbelangt,  so  hatte  — soweit  es  sich 
hier  um  eine  Anspielung  auf  das  Ereignis  von  1537  handelt  — Michel- 
angelo keinen  besonderen  Grund  zu  dieser  Stellungnahme;  von  allen 
Medici  war  ihm  Alessandro  besonders  verhaßt,  und  er  betrachtete  es  als 
eine  Fügung  Gottes,  daß  er  zur  Zeit,  als  Clemens  VII.  starb,  nicht  in 
Florenz  war.  77)  So  groß  war  sein  Argwohn  gegen  Alessandro;  mit 
Cosimo  aber,  der  ihn  immer  mit  besonderer  Auszeichnung  behandelte, 
ist  er  zeitlebens  in  einem  leidlichen  Verhältnis  gestanden.  78) 

Anders  verhält  es  sich  aber  mit  Giannotti.  Mehr  als  irgend  ein 
anderer  hat  er  in  Brutus  sein  Ideal  gesehen.  Zur  Zeit  seines  Exils 
dachte  er  sogar  daran,  seinen  Lieblingshelden  durch  ein  Drama  zu  ver- 
herrlichen und  legte  dem  Lorenzo  Strozzi  den  Plan  dazu  vor.  79)  In 
seinen,  politischen  Schriften  vollends  kommt  der  Name  immer  wieder  von 
Ausdrücken  schwärmerischer  Bewunderung  begleitet  vor.  So  z.  B.  Deila 
Rep.  Fior.  (1531)  II,  Cap.  IX  . . . siccome  noi  vediamo,  che  nessun  fu 

mai  tanto  scellerato  o stolto,  che non  esaltasse  Bruto  in  sino  al 

cielo,  per  averlo  ammazzato  e renduto  alla  patria  la  libertä.  Anderseits 
heißt  es  mit  direkter  Beziehung  auf  Florenz  in  der  Dedikation  desselben 
Werks : Fra  tutte  le  imprese,  Monsignor  mio,  le  quali  per  universale 
benefizio  degli  uomini  si  prendono,  il  liberare  le  Cittä  dalla  Tirannide 


76)  ct.  Luigi  Maria  Rezzi,  Lettera  a Giovanni  Rosini  sopra  i nianoscritti  barberiani 
commenti  alla  D.  C.  di  D.  A.  Rom  1826  und  Barbi  a.  a.  O.  p.  245. 

77)  Condivi,  c.  40. 

78)  Siehe  z.  B.  Cellini,  Vita.  Fir.  1852,  p.  434  und  verschiedene  Stellen  bei 
Vasari. 

79)  Alcune  lettere  1.  c. ; p.  5;  Comiano  29.  März  1533. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannottis  Dialoge  u.  Michelangelo.  3 1 7 

ö reputata,  per  due  cagioni,  grande  e maravigliosa.  Die  Tat  Lorenzinos 
aber  mußte  er  mißbilligen.  Als  Politiker  mochte  er  urteilen  wie  Guicciar- 
dini,  mit  dessen  Ideen  die  seinen  ja  so  oft  übereinstimmen;  vor  allem 
mußte  ihm  der  Mangel  an  Vorbedacht  bei  Lorenzino  sehr  tadelnswert 
erscheinen.  Sein  Buch  Deila  Repubblica  Fiorentina  hatte  er  geschrieben, 
um  seiner  Vaterstadt,  sobald  sie  frei  würde,  eine  Verfassung  bieten  zu 
können;  immer  wieder  hatte  er  betont,  daß  es  sich  nicht  nur  darum  handle, 
Tyrannen  zu  stürzen,  sondern  auch  darum,  die  Freiheit  des  Vaterlandes 
sicher  und  dauernd  zu  gestalten.  Einmal  werden  sogar  Brutus  und 
Cassius  als  Beispiele  übereilter  und  unbedachter  Tyrannenstürzer  ange- 
führt  Bruto  e Cassio,  dopo  la  morte  di  Cesare,  la  quäle  felice- 

mente  succedette,  furono  poi  nel  difendere  la  repubblica  da  tante  diffi- 
cultä  oppressi,  che  finalmente  con  quella  ruinarono  (1.  c.  IV,  8).  Donato, 
dem  »mite  repubblicano«,  wie  er  gelegentlich  genannt  worden  ist,80)  war 
der  Gedanke  an  die  eventuelle  freiwillige  Abdankung  des  Machthabers  ein 

besonders  lieber;  la  dove  appresso  agli  antichi  Romani  maggior 

gloria  recava  il  deporre  la  dettatura,  che  pigliarla  (1.  c.  II,  9),  und  an 
einer  anderen  Stelle  lobt  er  sogar  wie  im  Dialog  den  Sulla  wegen  seines 
freiwilligen  Verzichts  auf  die  Herrschaft  und  erörtert  und  verneint  die 
Frage,  ob  auch  Cäsar  so  gehandelt  hätte.  E se  bene  Silla  depose  la 
dettatura,  avendo  primo  ingiuriato  tanti  cittadini,  e visse  poi  sempre  si- 
curo;  e da  considerare  che  questo  esemplo  e rarissimo  e maraviglioso  e 
non  ö da  giudicare  ch’un  altro  l’abbia  ad  imitare;  si  come  noi  vediamo 
che  Cesare  non  pensö  mai  di  deporre  la  potenza  sua  (1.  c.  IV,  c.  8). 

Derartige  Stellen  mochten  Giannotti  nun  kompromittierend  erscheinen, 
denn  es  lag  ihm  daran,  die  mächtigen  und  von  Tag  zu  Tag  mächtiger 
werdenden  Mediceer  nicht  allzusehr  vor  den  Kopf  zu  stoßen.  Aus  der 
in  der  Marucelliana  befindlichen  Handschrift  der  Repubblica  Fiorentina 
kann  man  ersehen,  daß  Giannotti  an  der  ursprünglichen  Fassung  manches 
geändert  und  allzu  scharfe  Ausdrücke  durch  mildere  ersetzt  hat.  So  hieß 
es  an  einer  Stelle  statt:  »quantunque  l’abbia  liberata«  früher  »uno  habbia 
morto  o cacciato  il  Tyranno«  oder  »uccisione  di  Cesare«  wird  in  »morte« 
abgeschwächt.  Ein  langer  Absatz,  der  von  der  Möglichkeit  handelt,  die 
Mediceer  aus  Florenz  zu  vertreiben,  ist  ähnlichen  Opportunitätsgründen 
zum  Opfer  gefallen.81)  Aus  derartigen  apologetischen  Gründen  ist  auch 
der  Schluß  unseres  Dialogs  geschrieben;  denn  das  Gespräch  wird  ganz 
unvermittelt  und  mit  augenfälliger  Absichtlichkeit  auf  Brutus  und  seine 
verdiente  Strafe  gebracht. 


80)  Ferrai  in  Atti  dell’  Istituto  Veneto,  ser.  VI,  tom.  III.  1569. 

81)  Opere,  1.  c.  S.  280  Anmerkung  und  S.  282  Anmerkung. 


Hans  Tietze: 


318 


So  weit  es  sich  also  um  den  Hauptinhalt  des  Dialogs,  um  die 
Kommentierung  der  in  Diskussion  stehenden  Stellen  der  Komödie  han- 
delt, ist  Giannotti  allein  für  Inhalt  und  Form  verantwortlich.  In  dieser 
Hinsicht  steht  sein  Dialog  mit  dem  des  Francisco  auf  einer  Stufe. 
Anders  aber  verhält  es  sich,  wenn  wir  den  allgemeinen  Ton  prüfen;  hier 
finden  wir  so  viele  mit  anderweitig  beglaubigten  Aussprüchen  Michel- 
angelos übereinstimmende  Sätze,  daß  wir  annehmen  können,  Giannotti 
habe  in  diesen  zur  schärferen  Charakteristik  dienenden  Nebenumständen 
den  verehrten  und  vertrauten  Freund  getreulich  gezeichnet.  Wenn  Michel- 
angelo z.  B.  durch  die  Lobsprüche,  die  seinen  Gedichten  gespendet  wer- 
den, in  größte  Verlegenheit  gerät,  so  erinnern  wir  uns  der  Bescheiden- 
heit und  Freude,  mit  der  er  in  dem  oben  zitierten  Brief  an  Luca  Martini 
über  die  ihm  von  Varchi  durch  Kommentierung  seines  Sonetts  bereitete 
Ehrung  spricht.  Auch  die  Erörterung  der  Freundschaft ' in  platonischem 
Sinn  am  Ende  des  ersten  Dialogs  (p.  3 1 ff.)  wird  durch  sonst  von  Michel- 
angelo geäußerte  Ansichten  bestätigt;  denn  gründlicher  als  die  meisten 
seiner  Zeit  hatte  der  Meister  platonische  Ideen  in  sich  aufgenommen. 
Berni  sagt  von  ihm : Ich  habe  einige  seiner  Dichtungen  gesehen,  ich  bin 
ein  Ignorant,  aber  doch  würde  ich  behaupten,  sie  alle  in  Platons 
Schriften  gelesen  zu  haben.82)  Und  gerade  zur  Abfassungszeit  der 
Dialoge  mögen  Michelangelo  die  platonischen  Ideen  über  Freundschaft 
und  Liebe  besonders  beschäftigt  haben;  in  einem  Brief  vom  19.  April  1544 
spricht  Claudio  Tolomei,  der  gleichfalls  zum  engeren  Freundeskreise  des 
Künstlers  gehörte,  von  einer  neuen  Übersetzung  des  Convivio,* * * * 83)  und  so 
können  gerade  damals  diese  Gedanken  eine  gewisse  Aktualität  besessen 
haben.  Auch  der  Satz,  der  dieser  philosophischen  Erörterung  zugrunde 
liegt,  die  Begründung  der  Weigerung  Michelangelos,  am  Mahl  seiner 
Freunde  teilzunehmen,  macht  den  Eindruck  der  Echtheit:  Ferche  quando 
io  mi  trovo  in  queste  brigate,  come  avverebbe  se  io  desinassi  con  voi, 
io  mi  rallegro  troppo,  et  io  non  mi  voglio  tanto  rallegrare  (p.  31).  Im 
Mai  1525  hatte  Michelangelo  an  Sebastiano  del  Piombo  geschrieben: 
»Gestern  Abend  hatten  unser  Freund  Cujo  und  gewisse  andere  Edelleute 
die  Güte  zu  wünschen,  daß  ich  mit  ihnen  zu  Abend  speiste;  hierüber 
hatte  ich  die  größte  Freude,  denn  ich  kam  dadurch  etwas  aus  meiner 
Melancholie  oder  vielmehr  Verrücktheit  heraus«  (Lett.  Milanesi  397). 
Zwischen  beiden  Äußerungen  liegen  20  Jahre,  die  hart  für  Michelangelo 

8l)  Über  Michelangelos  Verhältnis  zu  den  platonischen  Ideen  siehe  Thode, 

Michelangelo,  II,  Der  Dichter  und  die  Ideen  der  Renaissance,  II.  Schauen,  I.  Die 

Philosophie  des  Künstlers,  S.  i9iff.  und  II.  Die  Liebe  als  Verlangen  nach  Schönheit, 

S.  222 ff. 

83)  Venezia  1547,  f.  88v,  Brief  an  Giov.  Bat.  Grimaldi. 


Francisco  de  Hollanda  u.  Donato  Giannottis  Dialoge  u.  Michelangelo. 


319 


gewesen  waren  und  ihm  das  Beste,  was  er  an  Plänen  und  Hoffnungen 
besaß,  zertrümmert  hatten.  1525  hatte  ihn  der  fröhliche  Kreis  seiner 
Freunde  noch  aus  seiner  Melancholie  herausreißen  können,  jetzt  aber 
war  er  voll  von  Bitterkeit  und  wollte  von  solchen  Ablenkungen  nichts 
wissen.  Sein  Leben  war  einsam  und  traurig,  auch  die  ehrfurchtsvolle 
Liebe  der  Freunde  konnte  ihm  die  Freudlosigkeit  seines  einsamen  Alters 
nicht  auf  hellen;  egli  £ pur  vecchierello,  et  ha  bisogno  di  cosi  fatti  offici, 
sagt  Donato  Giannotti  (p.  64). 

Ehrfurchtsvolle  Liebe  spricht  aus  jeder  Zeile  von  Giannottis  Dia- 
logen; und  dieselbe  Ehrfurcht  finden  wir  überall,  wo  bei  Zeitgenossen 
von  Michelangelo  die  Rede  ist.  Auch  als  die  beginnende  Reaktion  an 
seinem  Jüngsten  Gerichte  mancherlei  auszusetzen  fand,  als  man  bedauernd 
konstatieren  mußte,  daß  er  in  seiner  Auffassung  nicht  immer  den  Lehren 
der  sacri  dottori  gefolgt  sei,  hat  man  nicht  anders  als  mit  tiefster  Ehr- 
erbietung von  ihm  gesprochen.8^  Wer  immer  mit  Michelangelo  zu  tun 
hatte,  den  faßte  eine  Ahnung  von  seiner  Größe.  Hier  liegt  der  Haupt- 
unterschied zwischen  den  Dialogen  Donato  Giannottis  und  denen  des 
Francisco  de  Hollanda.  Die  burschikose  Art,  mit  der  der  Portugiese 
mit  Michelangelo  spricht,  zeigt,  daß  er  für  das  Pathos  der  Distanz 
zwischen  dem  Miniaturmichelangelo  Portugals  und  dem  göttlichen  Meister 
nicht  das  geringste  Gefühl  besaß  und  daß  er  nicht  der  Mann  war, 
Michelangelos  Ideen  in  irgendeiner  Form  der  Nachwelt  zu  übermitteln. 
Können  wir  also  in  Giannottis  Dialog  ein  Denkmal  sehen,  das  der 
Florentiner  Staatssekretär  dem  Dantekenner  und  dem  großen  Freunde 
ehrfurchtsvoll  gesetzt  hat  und  über  dem  doch  ein  Hauch  vom  Geiste 
Michelangelos  schwebt,  so  behält  das  Werk  des  Hollanda  wohl  nur  seinen 
Wert  als  wichtigste  Quelle  für  die  Kenntnis  der  portugiesischen  Kunst 
und  Kunstauffassung.  85) 

In  einer  Untersuchung  wie  der  vorliegenden  wird  sich  kaum  je  ein 
direkter  Beweis  erbringen  lassen  und  auf  Grund  eines  bloßen  Indizien- 
beweises in  einer  doch  recht  wichtigen  Frage  ein  abschließendes  Urteil 
fällen  zu  wollen,  mag  manchem  unstatthaft  erscheinen.  Immerhin  sprechen 
so  viele  Bedenken  gegen  die  Glaubwürdigkeit  der  untersuchten  Dialoge, 
daß  erhöhtes  Mißtrauen  anzuraten  ist.  Die  sachlichen  Erörterungen  ge- 
hören in  beiden  Dialogen  völlig  den  jeweiligen  Autoren  an;  die  Milieu- 

84)  z.  B.  Due  dialogi  di  M.  Giovanni  Andrea  Gilio  da  Fabriano.  Nel  secondo 
si  ragiona  de  gli  errori  de  Pittori  circa  1’  historie.  Con  molte  annotationi  fatte  sopra  il 
Giuditio  di  Michelangelo  ed  altre  figure,  tanto  de  la  vecchia,  quanto  de  la  nova  Cap- 
pella, et  in  che  modo  vogliono  esser  dipinti  le  Sacre  Imagini.  Camerino  1564.  f.  93 v- 

85)  Justi  im  Jahrbuch  der  preuß.  Kunstsammlungen  IX,  S.  139  h 


320 


Hans  Tietze : Francisco  de  Hollanda  usw. 


Schilderung  und  die  zur  Charakterisierung  verwendeten  kleinen  Züge  sind 
bei  Donato  Giannotti,  dem  vertrauten  Freunde,  echt,  beim  flüchtigen  Be- 
kannten Hollanda  unecht,  zumindest  nur  in  Fällen  vollständiger  Über- 
einstimmung mit  anderen  Quellen  verwendbar,  also  jeglichen  selbstän- 
digen Wertes  bar.  Jedenfalls  hat  man  diesen  Dialogen,  besonders  dem 
des  Hollanda,  zuviel  Vertrauen  geschenkt,  und  vielleicht  hat  das  dazu 
beigetragen,  daß  in  neuerer  Zeit  manche  weichliche  Züge  in  Michel- 
angelos Bild  gekommen  sind.  Wir  werden  vielleicht  gern  darauf  ver- 
zichten, uns  Michelangelo  als  redseligen,  galanten  alten  Herrn  zu  denken, 
der  an  schönen  Sonntagsnachmittagen  mit  müßigen  Literaten  zusammen- 
kam, um  schöngeistiger  Unterhaltung  zu  pflegen;  wir  werden  ihn  uns 
lieber  so  vorstellen,  wie  ihn  Berni  gerade  im  Gegensatz  zu  seiner  Um- 
gebung in  einer  Zeile  so  meisterhaft  gezeichnet  hat:  Ei  dice  cose  e voi 
dite  parole.  Denn  Michelangelo  war  nicht  redselig  und  die  Worte,  die 
ihm  Giannotti  in  den  Mund  legt  (S.  36),  könnten  wie  ein  Vorwurf  gegen 
Dialogschreiber  klingen,  die  ihn  derartig  darstellen:  Voi  mi  havete  fatto 
et  fate  fare  una  cosa,  la  quäle  io  non  feci  mai  piü  in  tutta  la  vita  mia; 
percioch£  qualunche  volta  io  mi  sono  trovato  dove  di  simili  cose  si  sia 
ragionato,  io  sono  stato  sempre  molto  volentieri  degli  altri  ascoltatore. 
Hoggi  voi  havete  voluto  che  io  sia  l’ascoltato,  et  voi  havete  voluto  esser 
gli  ascoltatori. 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  in  der  Geschichte  der 
Physiognomik  und  Mimik. 

Von  Hans  Klaiber. 

Wer  sich  etwa  die  Aufgabe  stellte,  in  den  Werken  der  großen 
Meister  der  Malerei  über  künstlerische  Mimik  und  Physiognomik  sich 
Rats  zu  erholen,  würde  wohl  ohne  viel  Besinnen  sich  in  erster  Linie  an 
Leonardo  da  Vinci  wenden.  Auch  den  Laien  ist  er  ja  durch  sein 
Abendmahlsbild  als  Darsteller  der  Gebärden  »der  Verkündiger  der 
Seelenbewegungen«,  wie  er  sie  selbst  nennt,  als  Erfinder  von  ausdrucks- 
vollen Charakterköpfen  bekannt,  und  in  der  Tat  ist  das  Thema,  das  sich 
Leonardo  in  jenem  Gemälde  gestellt  hat,  die  psychologisch  differenzierte 
Wirkung  der  Worte  Christi:  »Einer  unter  euch  wird  mich  verraten!«  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  ein  durch  und  durch  mimisch-physiognomisches 
und  nur  auf  Grund  scharfer  Beobachtung  und  gründlicher  Kenntnis  der 
sinnlichen  Erscheinungsformen  des  Vorstellungs-  und  Gefühlslebens  der 
Menschen  zu  lösen.  Wer  nun  aber  dem  Künstler  näher  steht,  der  weiß, 
in  wie  reichem  Maße  beides  bei  ihm  vorhanden  war,  und  ein  Blick  in 
seine  Handzeichnungen  und  Manuskripte  bestätigt  uns,  daß  unter  den 
vielseitigen , Interessen  dieses  wunderbaren  Geistes  das  physiognomisch- 
mimische  in  erster  Reihe  steht  und  herrliche  Erzeugnisse  zutage  gefördert 
hat.  — Diese  Seite  seiner  Kunst  ist  denn  auch  von  allen,  die  in  alter 
und  neuer  Zeit  sein  Leben  oder  seine  Werke  behandelt  haben,  eingehend 
besprochen  und  gewürdigt  worden.  Dagegen  soll  im  folgenden  der 
Versuch  gemacht  werden,  seine  Anschauungen  über  diese  für  einen 
Künstler  so  wichtigen  Gebiete  aus  seinen  Aufzeichnungen  zu  entnehmen, 
und  die  gewonnenen  Gesichtspunkte  zur  Erläuterung  seiner  hierher- 
gehörigen Studienzeichnungen  zu  verwerten  — hierzu  hat  Ant.  Springer 
in  seiner  Dürermonographie  und  in  den  »Bildern  aus  der  neueren  Kunst- 
geschichte« die  Anleitung  gegeben  — , endlich  durch  Vergleichung  mit 
den  Lehren  der  älteren  und  modernen  Physiognomik  ihm  seine  Stellung 
in  der  Geschichte  dieser  Wissenschaft  anzuweisen. 

Die  Geschichte  der  Physiognomik  (vgl.  Wundt,  Deutsche  Rund- 
schau 1877)  läßt  sich  in  drei  Hauptperioden  einteilen,  von  denen  die 


322 


Hans  Klaiber: 


zwei  ersten  durch  die  Namen  Aristoteles  einerseits,  Lavater  anderer- 
seits charakterisiert  werden,  während  die  dritte  sich  nicht  mehr  mit  dem 
Namen  einer  einzelnen  Autorität  deckt.  Die  erste  uns  erhaltene  metho- 
dische Behandlung  erfuhr  der  Stoff  in  den  Physiognomonica,  einer  Schrift, 
die  wenn  auch  nicht  auf  Aristoteles  selbst,  so  doch  auf  seinen  Kreis  zurück- 
geht. Daß  schon  von  früherer  Zeit  Abhandlungen,  jedenfalls  Theorien 
darüber  vorhanden  waren,  beweist  der  Anfang  der  Schrift,  in  der  ver- 
schiedene Methoden  oder  Prinzipien  aufgeführt  werden,  wonach  sich  die 
Wissenschaft  behandeln  lasse.  Das  erste  könnte  man  als  Theorie  der 
nationalen  Charakterdifferenzen  bezeichnen,  sofern  die  Verschiedenheit 
der  Menschen  aus  der  Zugehörigkeit  zu  verschiedenen  Völkern  oder 
Rassen  erklärt  und  ausgelegt  wird.  Eine  andere  Methode,  die  psycho- 
logische, halte  sich  an  die  Eindrücke,  die  Leidenschaften  und  Gemüts- 
bewegungen im  Äußeren  des  Menschen  hinterlassen.  Die  dritte,  haupt- 
sächliche, wäre  kurz  gesagt  die  zoologische:  die  Vergleichung  von 

Menschen  und  Tieren.  Dabei  soll  man  sich  nicht  durch  eine  beliebige, 
zufällig  ins  Auge  fallende  Ähnlichkeit  zu  einem  voreiligen  Schluß  ver- 
führen lassen,  sondern  systematisch  zu  Werke  gehen:  man  sucht  durch 
Zusammenstellung  der  Ähnlichkeiten  bei  gleich  gearteten  Tieren  und 
durch  Ausschließung  der  für  den  betreffenden  Fall  unwesentlichen  Züge 
die  äußeren  Merkmale  des  Charakters  und  achtet  nun  darauf,  welche 
von  diesen  bei  einem  Menschen  sich  vorfinden.  Diese  Kennzeichen  der 
inneren  Beschaffenheit  findet  man  keineswegs  nur  im  Gesicht  oder  in 
den  Bewegungen,  sondern  in  Körperbau,  Knochen,  Fleischbekleidung, 
Stärke  und  Art  der  Behaarung,  Farbe  der  Haut,  der  Augen,  Form  und 
Größe  der  einzelnen  Gliedmaßen:  z.  B.  Leute  mit  feurigen  Augen  sind 
frech  wie  die  Hunde,  solche  mit  spitzen  Nasen  jähzornig  wie  die  Hunde, 
mit  dünnen  Lippen  gemein  wie  die  Schweine,  mit  stumpfen  Nasen  groß- 
mütig wie  die  Löwen  usw.  Über  den  wissenschaftlichen  Wert  solcher 
Phantasien  braucht  man  kein  Wort  zu  verlieren:  schon  die  Grundlage, 
die  Voraussetzung  rein  menschlicher  Eigenschaften  wie  Gerechtigkeit, 
Großmut,  Prahlerei  bei  den  Tieren  erinnert  an  die  Fabeleien  des  Phy- 

siologus.  Unter  dem  Schatten  der  aristotelischen  Autorität  hat  sich 

diese  physiognomische  Disziplin  jahrhundertelang  in  Geltung  erhalten; 
ja  sie  ist  noch  mehr  auf  das  Niveau  der  Trugwissenschaften  herab- 
gesunken, als  sie  mit  der  Temperamentslehre  — diesbezügliche  An- 

deutungen hat  schon  Pseudo-Aristoteles  — , Astrologie  und  Chiromantie 
in  Beziehung  gesetzt  wurde.  Das  bekannteste  Lehrbuch  der  Physiognomik 
im  aristotelischen  Sinn  ist  die  humana  Physiognomonia  des  Johann  Bap- 
tista  Porta  vom  Jahre  1593,  als  Kuriosität  öfters  zitiert  und  wohl  auch 
hin  und  wieder  gelesen  oder  doch  durchgeblättert.  Das  Wunderliche  und 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


323 


Phantastische  der  vergleichenden  Methode  wird  in  den  Illustrationen 
besonders  deutlich  und  die  Zusammenstellung  der  natürlich  entsprechend 
ins  Tierische  abgeänderten  Menschenköpfe  mit  Löwen-,  Ochsen-,  Hirsch- 
und  Adlersköpfen  wirkt  lächerlich  wie  Karikaturen.  Ein  anderes  Werk 
mag  noch  angeführt  werden,  das  der  Zeit  Leonardos  näher  steht  und 
das  vielleicht  seltener  ans  Tageslicht  gezogen  wird:  die  Introductiones 
Apotelesmaticae  (=  astrologische  Einleitungen)  elegantes  in  Chyromantiam, 
Physiognomiam,  Astrologiam  naturalem,  Complexiones  hominum,  Naturas 
planetarum.  Cum  periaxiomatibus  de  faciebus  Signorum  et  canonibus  de 
aegritudinibus,  nusquam  fere  simili  tractata  compendio,  von  Johannes  ab 
Indagine,  1522  in  Straßburg  erschienen.  Es  ist  eine  Zusammenstellung 
des  astrologisch-physiognomischen  Aberglaubens,  der  mit  Berufung  auf 
antike  und  mittelalterliche  Größen,  ja  auch  auf  biblische  Autoritäten 
verteidigt  wird.  Da  er  nur  ein  »Compendium«  geben  will,  keine  »com- 
mentarii«,  verzichtet  der  Verfasser  durchweg  auf  Begründung  seiner  Urteile 
und  führt  nur  unter  Beifügung  einiger  Illustrationen  die  Merkmale  mit 
den  Eigenschaften,  auf  die  sie  deuten,  vom  Kopf  bis  zu  den  Füßen  der 
Reihe  nach  an.  Vergleicht  man  das  Buch  mit  Portas  Werk,  so  findet 
man,  daß  beide  im  gleichen  Geist  arbeiten,  aber  bei  der  Mannigfaltigkeit 
der  benutzten  Quellen  im  einzelnen  ebenso  oft  zusammen-,  wie  ausein- 
andergehen. Dasselbe  gilt  von  der  sonstigen  Literatur  über  Astrologie 
und  Temperamentslehre:  es  sind  immer  die  gleichen  Elemente,  die  aber 
in  wechselnden  Kombinationen  erscheinen.  Die  Phantasie  hatte  eben 
freien  Spielraum,  wo  ein  fester,  auf  wirklichen  Regeln  und  Gesetzen 
beruhender  Untergrund  fehlte.  — Will  man  nun  wissen,  wie  Leonardo 
da  Vinci  zu  den  physiognomischen  Anschauungen  seiner  Zeit  sich  stellte, 
inwieweit  sie  zur  Erklärung  seiner  eigenen  hergehörigen  Studien  bei- 
gezogen werden  dürfen,  so  ist  von  einer  Grundstelle  im  trattato  della 
Pittura  (Artikel  292),  »Quellenschr.  f.  Kunstgesch.«  15  — 16,  auszugehen,  an 
der  er  sich  über  »fisonomia  e chiromanzia«  folgendermaßen  äußert:  »Über 
die  betrügerische  Physiognomik  und  Chiromantik  werde  ich  mich  nicht 
verbreiten,  es  ist  keine  Wahrheit  in  ihnen  und  das  ist  offenbar,  denn 
diese  Chimären  haben  kein  wissenschaftliches  Fundament.  Es  ist  wohl 
wahr,  die  Züge  des  Gesichts  zeigen  uns  zum  Teil  die  Natur  der  Menschen* 
ihre  Laster  und  ihre  Geistes-  und  Gemütsanlage.  Aber  (das  geschieht 
ganz  natürlicher  Weise),  die  Linien,  die  zwischen  Wangen  und  Lippen 
und  den  Nasenflügeln  und  der  Nase  eingefurcht  oder  um  die  Augen- 
höhlen her  gezeichnet  sind,  sind  sehr  deutlich  bei  lustigen  Leuten,  die 
oft  lachen.  Und  diejenigen,  bei  denen  diese  Linien  nicht  stark  gezeichnet 
sind,  sind  Leute,  die  das  Nachdenken  betreiben.  So  sind  die,  deren 
Gesichtsteile  stark  ausladen  und  tief  markiert  sind,  viehische  und  zum 


324 


Hans  Klaiber: 


Zorn  geneigte  Menschen  von  wenig  Vernunft,  und  die,  welche  zwischen 
den  Augenbrauen  tiefe  Falten  haben,  sind  zornig,  sowie  die,  deren 
Stirn  in  die  Quere  tieflinierte  Furchen  zeigt,  an  geheimem  oder  offen- 
barem Jammer  reiche  Leute  sein  werden.  Und  so  kann  man  ähnliches 
aus  noch  vielen  Teilen  schließen.  — Aber  aus  der  Hand?  Da  wirst  Du 
finden,  es  seien  große  Heerscharen  von  Männern  zur  selbigen  Stunde 
unter  dem  Messer  umgekommen,  bei  deren  keinem  die  Zeichen  in  der 
Hand  mit  denen  der  anderen  die  entfernteste  Ähnlichkeit  hatten  und  so 
auch  beim  Schiffbruch.«  Die  Wahrsagerei  aus  den  Handlinien  wird 
also  gänzlich  als  schwindelhaft  abgelehnt,  das  Erraten  des  Charakters 
aus  dem  Äußeren  des  Menschen  auf  das  psychologisch-mimische  Prinzip 
reduziert.  Demnach  sind  nun  auch  seine  bekannten  physiognomischen 
Zeichnungen,  die  Karikaturen,  nicht  mit  den  Illustrationen  zeitgenössi- 
scher Physiognomiker  zusammenzustellen,  da  sie  nicht  wie  diese  die 
Merkmale  der  geistigen  Anlagen  und  Eigenschaften  bildlich  vorführen 
wollen.  Sie  stammen  aus  verschiedenen  Quellen  und  scheiden  sich 
darnach  in  verschiedene  Gruppen,  die  schon  Springer  auseinandergehalten 
hat.  Es  sind  einmal  Porträtzeichnungen  nach  auffallenden  Originalen, 
mit  Übertreibung  der  eigentümlichen  Züge  — also  richtige  Karikaturen. 
Die  Namen  der  Dargestellten  finden  sich  zum  Teil  beigeschrieben.  Die 
zweite  Hauptklasse  sind  die  von  Leonardo  frei  erfundenen  Köpfe.  Der 
Sinn  dieser  Schöpfungen  erklärt  sich  aus  jener  Mahnung,  die  wie  ein 
Leitmotiv  den  Trattato  durchzieht:  Varia  quanto  piü  puoi! 

Die  größte  Gefahr,  vor  der  der  Künstler  immer  und  immer  wieder 
gewarnt  wird,  ist  nach  Leonardo  das  Arbeiten  nach  dem  Schema.  Dabei 
ist  es  noch  eine  besondere  Klippe,  daß  so  viele  geneigt  sind,  ihre  eigenen 
Gesichter  und  Körperformen  in  ihren  Bildwerken  figurieren  zu  lassen, 
und  mögen  sie  auch  noch  so  wenig  den  Anforderungen  der  Schönheit 
entsprechen.  Das  beste  Mittel  dagegen  ist  es,  den  Blick  auf  die  zahllosen 
individuellen  Variationen  in  der  Natur  zu  richten.  Dies  geschieht  z.  B. 
im  III.  Teil  des  Trattato,  Artikel  288:  »Von  den  Teilen  und  Unter- 
scheidungsmerkmalen der  Gesichter«.  In  diesem  und  den  folgenden 
Artikeln  sind  die  vielen  Möglichkeiten,  nach  denen  z.  B.  die  Nase  in 
ihren  verschiedenen  Teilen  vom  Ansatz  bis  zur  Spitze  variieren  kann, 
ebenso  der  Übergang  von  der  Nase  zu  den  Augenbrauen,  die  Form  der 
Stirn,  des  Mundes,  des  Kinns  aufgezählt.  Dergleichen  Dinge  soll  der 
Kunstjünger  fleißig  nach  der  Natur  zeichnen,  in  ein  Merkbüchlein  ein- 
tragen und  im  Gedächtnis  sammeln,  um  sie  jederzeit  parat  zu  haben. 
Wer  nun  über  den  nötigen  Vorrat  verfügt,  der  kann  in  schöpferischem 
Wetteifer  mit  der  Natur  das  Spiel  der  Variationen  nachahmen  und  kann 
so  z.  B.,  indem  er,  von  einem  Gesichtsteil  ausgehend,  die  anderen  damit 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik.  325 

in  Zusammenhang  bringt  und  entsprechend  formiert,  menschliche  oder 
tierische  Köpfe  erfinden.  Denn  nicht  bloß  Menschenköpfe  mit  vor-  und 
zurückgeschobenem  Profil,  mit  hochgebuckelter  oder  aufgeworfener  Nase, 
vor-  oder  zurücktretendem  Kinn,  breitem  oder  schmalem  Zwischenraum 
zwischen  Nase  und  Oberlippe  finden  sich  unter  den  Karikaturen,  auch 
Tierköpfe  müssen  sich  dem  Spiel  der  gestaltenden  Phantasie  fügen  und 
rücken  dadurch  in  die  Nähe  der  Phantasie-  oder  Fabeltiere.  (Vgl.  die 
Löwenköpfe  mit  hornartigen  Auswüchsen,  herabhängenden  oder  aufge- 
bogenen Gesichtsteilen  auf  Handzeichnungen  aus  Windsor  bei  Müller- 
Walde,  Leonardo  da  Vinci,  Abbildung  24.)  Ein  den  vergleichenden 
Physiognomikern  naheliegender  Gedanke  ist  die  Zusammenstellung  eines 
möglichst  schönen  und  eines  abstoßenden  Gesichts,  wie  sie  ein  bekanntes 
Louvreblatt  aufweist  (Müller -Walde  Abbildung  10):  Die  Hauptdarstellung 
ist  ein  Jünglingskopf  von  jenem  weichen  und  sehnsuchtsvoll  träumerischen 
Ausdruck,  den  eben  Leonardo  so  bezaubernd  zu  geben  weiß,  von  Locken 
umwallt,  wie  es  im  Trattato  empfohlen  wird  (III.  Teil,  Artikel  404):  »So 
laß  also  an  deinen  Köpfen  die  Haare  mit  einem  Luftzug,  der  zu  gehen 
scheint,  um  die  jugendlichen  Gesichter  spielen  und  sie  in  vielfältigem 
Geringei  anmutsvoll  zieren!«  Unmittelbar  daneben  eine  Karikatur  mit 
knochiger  Stirn,  unförmigem  Mund  und  vorstehendem  Kinn. 

Die  dritte  Gruppe  wären  endlich  die  eigentlich-mimischen,  die 
Studien  über  den  Ausdruck  von  Gemütsbewegungen.  Auch  hierbei 
kommen  uns  die  Biographen  zu  Hilfe  mit  ihren  Erzählungen,  wie  z.  B., 
daß  Leonardo  Bauersleute  mit  sich  in  sein  Haus  nahm,  mit  Speise  und 
Trank  bewirtete  und  dazu  mit  lustigen  Possen  und  tollen  Schwänken 
unterhielt,  um  an  diesen  Naturkindern  die  unverfälschten,  durch  keinen 
Zwang  der  Konvention  beeinträchtigten  Kundgebungen  der  Stimmung 
und  Gemütsverfassung  zu  beobachten.  Eine  reinliche  Scheidung  unter 
den  drei  Gruppen  ist  natürlich  nicht  durchführbar,  da  diese  letzte  auch 
in  die  zwei  erstgenannten  Jhineinspielt.  Zu  ihr  möchte  man  von  einem 
berühmten  Blatt  (Windsor,  Müller -Walde,  Abbildung  16)  das  grinsende  alte 
Weib  und  die  dahinter  befindliche  Figur,  die  den  Mund  aufreißt,  als  wollte 
sie  sich  vor  Lachen  ausschütten,  rechnen.  Interessant  ist  ein  anderes 
Blatt  derselben  Sammlung  (Müller-Walde,  Abbildung  25,  vgl.  auch  49) 
mit  Tierstudien,  und  zwar  deshalb,  weil  es  eine  Erinnerung  an  die 
Physiognomik  aristotelischer  Richtung  sein  könnte;  wir  sehen  da  nämlich 
eine  Vergleichung  von  Pferde-,  Löwen-  und  Drachenköpfen  mit  einem 
menschlichen  Profil.  Wenn  die  Anregung  auf  die  zeitgenössische  Phy- 
siognomik zurückginge,  so  wäre  sie  jedenfalls  durchaus  im  Geist  der 
mimischen  Theorie  umgedacht.  Denn  es  soll  offenbar  nicht  irgend  eine 
Gleichheit  in  der  Gesichts-  oder  Kopfbildung,  sondern  eine  gewisse 


326 


Hans  Klaiber: 


Ähnlichkeit  im  Ausdruck  der  wilden  Erregung  konstatiert  werden  (vgl. 
Müller -Walde,  S.  61  im  Text).  So  interessant  und  bezeichnend  für 
Leonardos  künstlerisches  Schaffen  nun  die  Karikaturen  auch  sind,  so 
tragen  sie  doch  in  ihrem  oft  etwas  seltsamen  Wesen  das  echt  leonardeske 
Gepräge  des  Phantastischen,  so  daß  man  die  Anschauungen  ihres  Schöpfers 
über  Mimik  nicht  mit  Sicherheit  aus  ihnen  herauslesen  könnte.  Da  kommt 
uns  nun  wieder  der  Trattato  zu  Hilfe,  indem  wir  an  verschiedenen,  ent- 
sprechend dem  Notizencharakter  dieser  Aufzeichnungen,  ganz  zerstreut 
liegenden  Stellen,  wertvolle  Winke  über  künstlerische  Mimik  finden,  die 
im  folgenden  zusammengestellt  und  in  Zusammenhang  gebracht  sind. 

Die  Bewegungen  des  menschlichen  Körpers  interessieren  unsern 
Meister  in  doppelter  Hinsicht,  vom  naturwissenschaftlich-anatomischen  und 
vom  künstlerisch-mimischen  Standpunkt  aus.  Von  jenem  gibt  er  Analysen 
der  Bewegungen,  zerlegt  eine  Bewegung  in  ihre  Stadien,  gruppiert  und 
klassifiziert  sie  nach  dem  Gesichtspunkte  der  Richtung,  unterscheidet 
einfache  und  kombinierte,  sucht  die  durch  Bewegungen  hervorgerufene 
Volumenverschiebungen  mit  Hilfe  geometrischer  Figuren  zu  bestimmen. 
Dieses  Studium  der  Mechanik  des  menschlichen  Körpers  befähigt  ihn 
dann  auch,  die  mimischen  Bewegungen  im  Gesicht  und  die  Gebärden 
auseinanderzuhälten  und  anschaulich  zu  beschreiben.  Die  Frage,  was 
für  den  Maler  wichtiger  sei,  die  Kenntnis  der  Licht-  und  Schattengebung 
oder  die  Vertrautheit  mit  den  Ausdrucksbewegungen,  entscheidet  der 
Artikel  122  zugunsten  der  letzteren:  »Das  allerwichtigste,  das  sich  in  der 
Theorie  der  Malerei  finden  mag,  sind  die  für  die  Seelenzustände  eines 
jeden  lebenden  Wesens  paßlichen  Bewegungen,  wie  für  Verlangen,  Ver- 
schmähen, Zorn,  Mitleid  und  ähnliches.«  Das  Urteil  über  einen  Künstler 
soll  geradezu  hiervon  abhängen,  vgl.  Artikel  294:  »Mache  die  Figuren  in 
solchen  Gebärden,  daß  diese  zur  Genüge  zeigen,  was  die  Figur  im  Sinn 
hat.  Wo  nicht,  so  ist  deine  Kunst  nicht  lobenswert.«  Oder  Artikel  296: 
»Entspricht  die  Bewegung  nicht  dem  Zustand,  in  dem  die  Seele  der  Figur 
sein  soll,  so  zeigt  diese  Figur,  daß  ihre  Glieder  ihrem  Urteil  nicht  folgen 
und  das  Urteil  des  Werkmeisters  kein  gesundes  ist.«  — Wie  verschafft 
man  sich  nun  aber  die  erforderliche  Kenntnis  der  Ausdrucksbewegungen? 
Da  sie  zum  großen  Teil  unwillkürliche  Handlungen  sind,  können  sie  nicht 
etwa  vom  Modell  auf  Bestellung  vorgeführt  werden,  wenn  sie  nicht 
künstlich  und  gemacht  erscheinen  sollen,  sie  müssen  vielmehr  im  unbeob- 
achteten Augenblick  nach  dem  Leben  studiert  werden;  vgl.  Artikel  127: 
»Ein  Maler,  der  von  seinem  Werke  Ehre  haben  will,  soll  allezeit  die 
lebendige  Unmittelbarkeit  der  Bewegungen  an  den  natürlichen  Stellungen 
studieren,  die  von  den  Leuten  unversehens  ausgeführt  werden  und  aus 
der  mächtigen  Erregung  der  Wirklichkeit  entspringen.  Von  diesen  soll 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


327 


er  sich  kurze  Erinnerungen  in  seine  Skizzenbücher  machen  und  sie  nachher 
zu  seinen  Zwecken  verwenden,  indem  er  dann  einen  Menschen  in  derselben 
Aktion  Modell  stehen  läßt,  um  die  Qualität  und  die  Ansichten  der  Glied- 
maßen zu  studieren,  die  gerade  zu  selbiger  Aktion  verwendet  werden.« 
Artikel  173  rät,  auf  Spaziergängen  die  Leute  zu  beobachten,  wenn  sie 
miteinander  reden,  streiten,  lachen  oder  raufen  und  ebenso  auf  das  Ver- 
halten der  Umstehenden  zu  merken.  An  zwei  anderen  Stellen,  Artikel  179 
und  327  fällt  der  Hauptnachdruck  darauf,  daß  die  Beobachteten  nichts 
merken  dürfen;  sonst  würde  ihr  Interesse  von  der  Sache,  die  sie  erfüllt 
und  bewegt,  abgelenkt  auf  die  zuschauende  Person  und  die  Gestikulation 
verlöre  von  ihrer  ursprünglichen  Wildheit  (ferocita).  »Und  erwarte  nicht 
(Artikel  327),  daß  dir  einer  den  Akt  des  Weinens  zum  Schein  und  ohne 
daß  er  ernsthafte  Ursache  zum  Weinen  hat,  vormache  und  du  denselbigen 
danach  abzeichnen  könntest.  Denn  da  dieser  Akt  so  nicht  aus  einem 
wirklichen  und  unvorhergesehenen  Anlaß  hervorgeht,  so  wird  er  nimmer- 
mehr weder  unmittelbar  lebendig  noch  natürlich  ausfallen.«  In  seinem 
»Wissenschaftlichen  System  der  Mimik  und  Physiognomik«  zitiert  Piderit 
S.  i2  diese  Ratschläge  und  meint,  sie  seien  schwer  zu  befolgen,  weil  die 
Gelegenheiten,  Menschen  im  Zustand  des  Affekts  zu  beobachten,  selten 
und  flüchtig  seien,  weshalb  es  angeblich  nur  wenigen  großen  Künstlern 
gelungen  sei,  die  Sprache  des  Affekts  nachzuahmen.  Die  Flüchtigkeit 
dürfte  die  größere  Schwierigkeit  sein  — doch  wird  sie  einigermaßen 
ausgeglichen  durch  die  Auffassungsfähigkeit  des  künstlerisch  geschulten 
Auges  und  Gedächtnisses.  Ein  unschätzbares  Hilfsmittel  für  die  Fixierung 
momentaner  Bewegungen  und  damit  die  Möglichkeit  einer  exakten  Zer- 
legung einer  komplizierten  Bewegung  hat  man  heutzutage  an  der  Photo- 
graphie. Sie  hat  bei  der  Ausbildung  der  wissenschaftlichen  Mimik  — 
wir  denken  z.  B.  an  die  Aufnahmen  in  Darwins  »Ausdruck  der  Gemüts- 
bewegungen« — wichtige  Dienste  geleistet.  — 

Für  die  Wiedergabe  der  Ausdrucksbewegungen  seien  zunächst  zwei 
allgemeine  Forderungen  vorangestellt:  sie  müssen  eindeutig  sein.  Art.  298: 
»Die  Bewegungen  und  Stellungen  der  Figuren  sollen  just  den  Seelen- 
zustand dessen,  der  sie  ausführt,  zeigen,  derart,  daß  sie  nichts  anderes 
bedeuten  können.«  Zum  zweiten  sollen  sie  angemessen  sein,  d.  h.  ver- 
schieden nach  Alter,  Geschlecht,  Rang,  Würde  und  Lebenstellung  des 
Darzustellenden,  und  zwar  verschieden  an  Intensität  und  Qualität.  Dieses 
Thema  kehrt  verschiedenfach  variiert  wieder  mit  entsprechenden  Beispielen: 
Ein  Greis  oder  ein  Kind  haben  nicht  die  Gewandtheit  und  Spannkraft, 
wie  sie  die  Bewegungen  des  Jünglings  zeigen  (Artikel  299),  Frauen  und 
Mädchen  dürfen  (auch  in  der  Erregung)  keine  Stellungen  und  Haltungen 
einnehmen,  die  der  weiblichen  Zucht  widersprechen  (Artikel  387),  hoch- 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


23 


328 


Hans  Klaiber: 


gestellte  Persönlichkeiten  sollen  nicht  die  Gestikulation  eines  Menschen 
aus  dem  niederen  Volke  zeigen  (Artikel  299);  endlich  soll  die  Heftigkeit 
der  Bewegung  der  Intensität  des  vorausgesetzten  Affekts  entsprechen 
(Artikel  359). 

Für  die  Darstellung  der  einzelnen  Affekte  und  Gemütsstimmungen 
gibt  nun  Leonardo  leider  keine  systematische  Anweisung.  Er  verspricht 
zwar  eine  solche  im  Artikel  368:  ».  . . es  soll  hier  weiter  unten  von  etlichen 
Gemütsbewegungen  gesprochen,  und  sollen  dieselben  dargestellt  werden, 
nämlich  von  der  Bewegung  des  Erzürntseins,  des  Schmerzes,  der  Furcht, 
des  plötzlichen  Schrecks,  des  Weinens,  der  Flucht  oder  Hast,  des  Verlangens, 
des  Befehlens,  der  Trägheit,  der  Emsigkeit  und  ähnlicher.«  Und  ver- 
heißungsvoll klingt  die  nächste  Überschrift:  »Von  der  Darstellung  eines 
Zornigen  und  in  wieviel  Teile  dieser  Zustand  eingeteilt  wird.«  Aber  es 
ist  eine  Überschrift  ohne  nachfolgende  Ausführung  und  man  muß  sich 
damit  begnügen,  die  im  Text  zerstreuten  Notizen  zusammenzusuchen,  da 
der  Verfasser  selbst  nicht  zu  einer  zusammenhängenden  Behandlung  des 
Stoffes  gekommen  ist. 

Zunächst  die  Veränderungen  der  Miene  und  deren  wichtigste,  das 
Lachen  und  das  Weinen!  Die  verschiedenen  Bewegungen  des  Menschen 
im  Antlitz  zählt  Artikel  286  auf:  »Da  ist  einer,  der  lacht,  ein  anderer 
weint,  einige  freuen  sich,  andere  sind  bekümmert;  die  zeigen  Zorn, 
jene  Mitgefühl,  der  bewundert,  der  andere  steht  entsetzt,  die  sehen 
dumm  und  albern  drein,  jene  gedankenvoll  und  vorschaulich  (grübelnd).« 
Natürlich  will  Leonardo  damit  nur  eine  Auswahl,  nicht  eine  vollständige 
Herzählung  geben.  Bei  den  Ausführungen  über  das  Lachen  und  Weinen 
ist  der  notizenhafte  Charakter  besonders  ausgeprägt;  für  sich  genommen 
sind  die  einzelnen  Aussprüche  darüber  geradezu  unrichtig.  So  zitiert 
z.  B.  Piderit  eine  der  Äußerungen  Leonardos  (Artikel  385)  als  Beweis 
dafür,  wie  unbestimmt  und  verkehrt  die  Ansichten  der  Künstler  über  den 
Unterschied  des  lachenden  und  weinenden  Gesichts  seien.  (Mimik  und 
Physiognomik  S.  103.)  Das  Urteil  fällt  vielleicht  etwas  milder  aus,  wenn 
wir  die  verschiedenen  Notizen  zusammenstellen  und  aus  einander  zu  erklären 
suchen.  Im  Artikel  285  »von  den  Bewegungen  der  Gesichtsteile«  heißt  es: 
»Reden  wir  zuerst  vom  Lachen  und  Weinen,  daß  sie  einander  im  Zuge 
des  Mundes  und  der  Wangen  wie  im  Gekniffensein  der  Augen  äußerst  ähnlich 
sehen  und  sich  nur  durch  das  verschiedene  Verhalten  der  Augenbrauen 
und  des  Zwischenraums  derselben  voneinander  unterscheiden.  Und  von 
alledem  soll  seinesorts  die  Sprache  sein,  nämlich  von  den  verschiedenen 
Gebärden,  die  das  Gesicht  annimmt  oder  Hände  und  ganze  Person 
für  jede  der  oben  erwähnten  Gemütszustände  (Lachen,  Weinen,  Zorn, 
Angst,  Jammer  usw.)  machen.«  Lediglich  der  Mimik  des  Lachens  und 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik.  329 

Weinens  sind  Artikel  384  und  385  gewidmet;  sie  lauten:  Artikel  384 
»Vom  Lachen  und  vom  Weinen  und  von  deren  Unterschied.  In  Augen, 
Mund  und  Wangen  ist  zwischen  einem  der  lacht  und  einem  der  weint, 
kein  Unterschied.  Nur  die  Starrheit  der  Augenbrauen  unterscheidet  sie, 
welche  sich  bei  Weinenden  zusammenziehen,  während  sie  bei  dem,  der 
lacht,  in  die  Höhe  gehen.  Bei  einem  der  weint,  fügt  man  auch  noch 
hinzu,  wie  er  sich  mit  den  Händen  die  Kleider  zerreißt  und  die  Haare 
rauft  oder  sich  mit  den  Nägeln  die  Haut  im  Gesicht  zerkratzt,  lauter 
Dinge,  die  beim  Lachen  nicht  Vorkommen«.  Endlich  Artikel  385  »Vom 
Nämlichen.  — Mache  das  Gesicht  des  Weinenden  nicht  mit  denselben 
Bewegungen,  wie  das  eines  Lachenden,  denn  sie  sehen  einander  oft  ähnlich, 
aber  die  wahre  Art  besteht  darin,  sie  zu  unterscheiden,  wie  ja  der  Zustand 
des  Weinens  ein  ganz  anderer  ist  als  der  des  Lachens.  Beim  Weinen 
variieren  die  Augenbrauen  und  der  Mund  nach  den  verschiedenen  Ursachen 
des  Weinens.  Der  eine  weint  zornig,  der  andere  voll  Furcht,  manche 
aus  Zärtlichkeit  oder  vor  Freude,  andere  wieder  aus  mißtrauischer  Ängst- 
lichkeit oder  vor  Schmerz  und  Qual,  oder  auch  aus  Mitleid  und  vor 
Schmerz  um  verlorene  Verwandte  und  Freunde.  Und  in  allen  diesen 
verschiedenen  Arten  des  Weinens  zeigt  sich  der  eine  verzweifelt,  der 
andere  gemäßigt,  einige  vergießen  nur  Tränen,  andere  schreien,  die  wenden 
das  Gesicht  gen  Himmel  und  recken  die  Arme  mit  gefalteten  und 
gerungenen  Händen  zur  Erde,  andere  wieder  stehen  furchtsam  mit  zu 
den  Ohren  in  die  Höhe  gezogenen  Schultern  da  und  so  weiter  je  nach  den 
erwähnten  Ursachen  des  Weinens.  Der  Weinende  zieht  die  Augenbrauen, 
wo  sie  Zusammenkommen,  in  die  Höhe  und  preßt  sie  gegeneinander,  er 
zieht  die  Stirne  über  und  zwischen  ihnen  in  Falten;  die  Mundwinkel 
zieht  er  herab.  Der  Lachende  zieht  die  Mundwinkel  in  die  Höhe  und 
hat  die  Augenbrauen  offen  und  weit  auseinander«.  Die  Behauptung,  die 
in  den  zwei  ersten  Stellen  ganz  ohne  Einschränkung  aufgestellt,  ist, 
zwischen  dem  Gesicht  eines  Lachenden  und  eines  Weinenden  sei  kein 
Unterschied,  außer  in  der  verschiedenen  Haltung  der  Augenbrauen  ist 
zunächst  sehr  befremdlich  und  in  dieser  allgemeinen  Fassung  offenkundig 
falsch.  Denn  in  den  meisten  Fällen  ist  nichts  leichter,  als  Lachen  und 
Weinen  auseinanderzuhalten  und  gerade  in  der  Mimik  des  Mundes, 
daneben  auch  der  Nase  und  Stirne,  spricht  sich  die  Verschiedenheit  aus. 
Leonardo  hat  das  natürlich  so  gut  gewußt  wie  einer,  und  hat  es  in  seinen 
Zeichnungen  und  Gemälden  bewiesen;  wird  es  doch  niemand  einfallen, 
das  Lächeln  auf  den  Gesichtern  seiner  Jünglings-  oder  Frauenköpfe  als 
Weinen  oder  Ausdruck  einer  verdrießlichen  Stimmung  zu  deuten.  Er  hat 
es  auch  nicht  für  nötig  befunden,  noch  eine  weitere  Gebärde  gleichsam 
als  Hilfsaktion  zu  der  Gesichtsbewegung  zuzufügen,  um  eine  Verwechslung 

23* 


330 


Hans  Klaiber: 


unmöglich  zu  machen.  Annehmbarer  klingt  der  Satz  in  Artikel  385 
»daß  das  Gesicht  eines  Lachenden  und  eines  Weinenden  einander  häufig 
ähnlich  sehen«.  Dies  ist  der  Fall,  wenn  das  Lachen  heftig  und  dadurch 
schmerzhaft  wird.  Und  so  werden  wir  wohl  die  beiden  zuerst  angeführten 
Bemerkungen  in  dem  Sinne  zu  verstehen  haben,  daß  Leonardo  dabei 
unausgesprochen  immer  an  den  Spezialfall  des  heftigen  Lachens  denkt, 
bei  dem  die  Erschütterung  des  Zwerchfells  Unlust  bereitet  und  so  die 
Mimik  des  Schmerzes  im  Gesicht  bewirkt,  nämlich  senkrechte  Stirnfalten 
und  Entblößung  der  unteren  Zahnreihe  durch  Herabziehen  der  Unterlippe, 
während  für  das  mäßige  Lachen  das  Hinaufziehen  der  Oberlippe  ebenso 
charakteristisch  ist  wie  das  Herabhängenlassen  der  Unterlippe  für  das 
Weinen.  Da  ferner  bei  starkem  Weinen  und  Lachen  die  Nasenlippenfalte, 
von  den  Nasenflügeln  zu  den  Mundwinkeln  sich  bildet,  und  die  Augen 
zusammengedrückt  werden,  so  nähert  sich  der  Gesichtsausdruck  des 
heftigen  Gelächters  auffallend  dem  des  Weinens.  Mit  Beziehung  darauf 
rät  nun  Leonardo,  eine  so  zweideutige  Mimik  zu  vermeiden  — ent- 
sprechend seiner  oben  angeführten  Grundthese:  die  Gebärden  seien  ein- 
deutig! — und  einen  Gesichtsausdruck  zu  wählen,  bei  dem  es  unzweifelhaft 
ist,  welchen  Affekt  er  anzeigen  soll.  So  soll  der  Weinende  die  herab- 
gezogenen Mundwinkel,  die  »Kummerfalten«  und  die  schrägen  Brauen, 
der  Lachende  die  aufwärtsgezogenen  Mundwinkel  und  die  offenen  und 
auseinandergezogenen  Brauen  als  unverkennbare  Merkmale  zeigen.  Die 
Brauen  werden  offen  oder  weit,  wenn  die  Stirn  sich  glättet  und  bei  einem 
plötzlichen  Übergang  aus  schlechter,  gedrückter  in  frohe  und  heitere 
Stimmung,  beim  Umschlagen  eines  mäßigen  Weinens  in  mäßiges  Lachen 
sieht  man  die  Augenbrauen  aus  ihrer  zusammengezogenen  Lage  förmlich 
auseinanderfahren.  Darwin  (Ausdruck  der  Gemütsbewegungen,  S.  185) 
erinnert  an  das  lateinische  exporrigere  frontem  (heiter  werden),  das  den 
Vorgang  gut  beobachtet  wiedergibt.  Wenn  nun  aber  Leonardo  den 
mimischen  Unterschied  zwischen  Lachen  und  Weinen  lediglich  auf  diese 
Haltung  von  Stirn  und  Brauen  hinausspielen  will,  so  ist  das  allerdings 
irrtümlich.  Denn  gerade  in  dem  Zustand,  in  dem  das  Lachen  dem 
Weinen  in  der  Mimik  am  nächsten  kommt,  bleibt  weder  die  Stirn  glatt 
noch  sind  die  Brauen  weit  auseinander,  sondern  es  bietet  infolge  der 
Anstrengung  die  Partie  über  dem  Nasenansatz  das  Bild  des  Schmerzes. 
Zu  völliger  Klarheit  hätte  er  theoretisch  nur  dadurch  kommen  können, 
daß  er  die  Mimik  des  mäßigen  und  des  heftigen  Lachens  unterschied.  — 
Feine  Beobachtungsgabe  zeigen  dann  wieder  die  Andeutungen  über  die 
Arten  des  Weinens,  das  je  nach  der  Intensität  des  Affekts  und  der  Ursache 
desselben  verschieden  darzustellen  ist.  Die  Stärke  der  Gemütsbewegung 
kommt  zum  Ausdruck  durch  gesteigerte  Gestikulation,  die  Ursache  kann 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


331 


durch  Kombination  verschiedener  Ausdrucksbewegungen  kundgetan  werden. 
Dabei  handelt  es  sich  nicht  nur  um  die  Sprache  des  Gesichts  — von  Mund, 
Stirn  und  Blick,  sondern  auch,  wie  beim  furchtsam  Weinenden,  um 
Stellung  und  Körperhaltung.  Beim  Weinen  aus  Mitleid  oder  aus  Schmerz 
um  verlorene  Verwandte  und  Freunde  dagegen  läßt  sich  das  Motiv 
unmöglich  durch  mimische  Mittel  allein  versinnlichen,  sondern  muß  aus 
den  Beziehungen  erschlossen  werden,  die  wir  auf  Grund  von  Vorkennt- 
nissen in  eine  Figur  hineintragen  — so  etwa  bei  einer  trauernden  Maria  — 
oder  ist  es,  falls  wir  eine  größere  Darstellung  vor  uns  haben,  aus  der 
Anordnung  und  Komposition  zu  entnehmen.  Figuren  aus  einer  »Historie« 
waren  es  wohl  auch,  die  dem  Künstler  dabei  vorschweben.  — 

In  Artikel  370  — 373  macht  Leonardo  einen  Versuch,  Ordnung  und 
System  in  die  Behandlung  der  Gemütsbewegungen  und  der  entsprechenden 
Gebärden  zu  bringen.  Danach  hätte  man  eine  dreifache  Wirkung  der 
Affekte  auf  den  Körper  zu  unterscheiden:  zum  ersten  eine  alle  Bewegung 
hemmende,  also  erstarrende  oder  erschlaffende,  dann  eine  Bewegung 
erzeugende,  und  eine  dritte,  die  teils  lähmt,  teils  Bewegung  auslöst.  Eine 
Klasse  für  sich  bilden  die  Bewegungen,  die  nicht  unter  sich  zusammen 
stimmen.  Sie  beweisen  entweder,  daß  der  Geist  die  Herrschaft  über  den 
Körper  verloren  und  die  Fähigkeit  eingebüßt  hat,  die  Gliedmaßen  und 
Körperteile  die  dem  jeweiligen  Zweck  entsprechenden  Lageveränderungen 
vornehmen  zu  lassen,  d.  h.  sie  werden  von  Verrückten  ausgeführt,  oder 
sie  sollen  komische  Wirkung  erzielen,  wie  die  Bewegungen  der  »Possen- 
reißer bei  ihren  Mohrentänzen«.  Die  Ausscheidung  dieser  Gruppe  von 
Bewegungen  hat  gewiß  gute  psychologische  Berechtigung.  Die  Ausführung 
des  Gedankens  sucht  man  freilich  wieder  vergebens.  Übrigens  hätte  es 
bei  der  Beschaffung  von  Beispielen  der  ersten  Kategorie  Schwierigkeiten 
gegeben:  denn  wenn  man  das  Mienenspiel,  wie  billig,  zu  den  Bewegungen 
rechnet,  so  wird  man  sehr  selten  konstatieren  können,  daß  unter  dem 
Einfluß  irgend  eines  Affektes  »alles,  was  am  Körper  Leben  zeigt«,  be- 
wegungslos ist.  — Psychologisch  interessant  ist  die  Beobachtung,  daß 
Gemütsbewegungen,  bei  denen  der  erregende  Gegenstand  im  Geiste  ist 
(in  Form  einer  Vorstellung),  leichtere  und  bequemere,  d.  h.  weniger  heftige 
Gebärden  zur  Folge  hat,  als  wenn  ein  äußerer  Gegenstand  der  Erreger  ist; 
von  den  Fällen  der  extremen  Gemütserregung  ist  dabei  natürlich  abzusehen, 
da  in  solchen  Mienenspiel  und  Gestikulation,  mag  auch  die  Veranlassung 
rein  innerlicher  Art  sein,  sehr  heftig  werden  kann.  Den  wahren  Grund 
der  Erscheinung  konnte  übrigens  Leonardo  nicht  finden:  er  meint,  der 
Geist  sei  in  solchen  Fällen  zu  sehr  mit  sich  selbst  beschäftigt,  um  starke 
Bewegungen  des  Körpers  zu  veranlassen.  Die  richtige  Erklärung  kann 
erst  auf  Grund  der  modernen  psychologischen  Bearbeitung  der  Mimik 


332 


Hans  Klaiber: 


gegeben  werden.  Viele  Gebärden,  insbesondere  die  Gestikulation  von 
Händen  und  Armen,  ferner  die  Veränderungen  der  Körperhaltung,  lassen 
sich  als  Bewegungen  deuten,  durch  die  man  sich  zu  einem  tatsächlich 
existierenden  oder  nur  von  uns  aus  unserer  Vorstellungswelt  nach  außen 
projizierten  Gegenstand  in  Beziehung  setzt.  So  wehren  wir  eine  schreck- 
hafte Vorstellung  ab,  indem  wir  sie  wie  einen  konkreten  sinnlichen 
Gegenstand  von  uns  mit  den  Händen  fernhalten,  einen  widerwärtigen  und 
peinlichen  Gedanken  schieben  wir  weg,  von  einem  Vorschlag  kehren  wir 
uns  bei  der  Verneinung  ab,  einer  Bitte  neigen  wir  uns  zu  bei  der  Be- 
jahung usw.  So  ist  es  leicht  verständlich,  daß  unsere  Gestikulation  im 
allgemeinen  lebhafter  ausfällt,  wenn  wirklich  sinnliche  Gegenstände  uns 
zur  Abwehr,  zum  zugreifen  auffordern  oder  unsern  Blick  nach  einer  be- 
stimmten Richtung  lenken.  Für  die  künstlerische  Gebärdensprache  ist 
die  Beobachtung  bedeutsam,  daß  man,  wenn  sich  ein  Gegenstand  plötzlich 
und  unvermutet  darbietet,  ihm  den  »Sinn,  der  am  meisten  nottut«,  das 
Auge  zukehre,  und  dabei  Schenkel,  Hüften  und  Knie  dreht,  ohne  daß 
die  Füße  ihren  Standort  wechseln  (Artikel  372).  Es  kommt  nun  in  Wirklich- 
keit allerdings  vor,  daß  bei  dem  plötzlichen  Ruck  der  Bewegung  auch  die 
Fußstellung  sich  ändert,  aber  der  Künstler  durfte  diesen  Fall  mit  bestem 
Recht  ignorieren.  Denn  er  denkt  bei  seinen  mimischen  Ausführungen  immer 
an  die  künstlerische  Praxis  und  für  sie  existiert  nur  der  erstere  Fall. 
Eine  vorangegangene,  momentan  eingetretene  Bewegung  läßt  sich  nur  so 
in  den  bildenden  Künsten  darstellen,  daß  der  bewegte  Körper  eine 
zwiefache  Haltung  zeigt;  die  vor  der  momentanen  Bewegung  eingenommene 
muß  irgendwie  noch  sichtbar  sein  neben  der  neuen  durch  die  Bewegung 
bewirkten.  Im  vorliegenden  Beispiel  erschließen  wir  aus  der  Stellung  der 
Füße  die  frühere  Haltung,  die  vor  der  plötzlichen  Drehung  eingenommen 
wurde.  — Hätte  Leonardo  sein  Versprechen  erfüllt,  daß  »über  derartige 
Zustände  noch  eingehend  die  Rede  sein  soll«,  so  wäre  er  vielleicht  auch 
darauf  zu  sprechen  gekommen,  wie  fruchtbar  die  Kombination  von  Blick 
und  Körperhaltung  für  die  Darstellung  der  Gemütsstimmung  gemacht  werden 
kann.  Er  hätte  ja  nur  davon  auszugehen  brauchen,  welche  Gemütsverfassung 
z.  B.  bei  dem,  dem  sich  ein  unerwarteter  Anblick  präsentiert,  sich  einstellt, 
um  so  zur  Darstellung  der  Überraschung  zu  kommen  und  zu  finden,  daß 
»der  Ausdruck  des  Blickes  durch  mancherlei  Bewegungen  nicht  nur  der 
Augen,  sondern  auch  des  ganzen  Kopfes,  ja  schließlich  des  ganzen  Körpers 
bedingt  wird«  (Henke,  Vorträge  über  Mimik,  Plastik  und  Drama,  S.  62). 

Endlich  zu  den  »erklärenden  Gebärden« ! Da  gibt  Artikel  361  die 
Anweisung,  beim  Hinweis  auf  Gegenstände,  die  zeitlich  oder  örtlich  nahe 
sind,  den  Sprechenden  nur  eine  mäßige  Handbewegung  ausführen,  bei 
örtlich  oder  zeitlich  fernliegenden  dagegen  die  Hand  weit  ausstrecken 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesell,  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


333 


zu  lassen.  Gerade  für  diese  hinweisenden  oder  malenden  Gebärden  wird 
man  sich  den  Rat  Leonardos  gern  gefallen  lassen,  die  Gebärdensprache 
der  Stummen  zu  studieren.  »Man  kann«  — so  heißt  es  im  Artikel  1x5  ■ — 
»die  menschlichen  Gebärden  gut  erlernen,  wenn  man  die  Bewegungen  der 
Stummen  nachahmt,  die  mit  Händen,  Augen  und  Augenbrauen  und  der 
ganzen  Person  sprechen,  wenn  sie  den  Gedanken  ihrer  Seele  ausdrücken 
wollen.  Und  lache  mich  nicht  aus,  daß  ich  dir  einen  Lehrmeister  ohne 
Sprache  vorschlage,  damit  er  dich  in  der  Kunst  unterrichte,  die  er  selbst 
nicht  auszuüben  versteht.  Denn  er  wird  dich  durch  die  Tat  besser 
unterweisen,  als  alle  anderen  mit  Worten.  Verachte  den  Rat  nicht,  denn 
jene  sind  die  Meister  der  Gestikulation  und  verstehen  von  weitem,  was 
einer  sagt,  wenn  er  die  Handbewegungen  den  Worten  nach  macht.«  — 
Zum  Schluß  noch  die  Anweisungen,  wie  man  einen  Zornigen,  einen  Ver- 
zweifelten, einen  Redner,  der  inmitten  mehrerer  Personen  spricht,  eine 
Gruppe  aufmerksamer  Zuschauer  darstellt.  Wir  stellen  sie  ans  Ende,  weil 
sie  nicht  mehr  der  Mimik  allein  angehören,  sondern  z.  T.  schon  in  das 
Kapitel  der  Historienkomposition  schlagen.  Schon  in  einzelnen  bisher 
zitierten  Stellen  blickt  der  Gedanke  an  das  Historienbild  durch,  aber  sie 
lassen  sich  auch  für  sich  allein  betrachten.  Im  folgenden  erscheint  nun 
die  Figur  zwar  als  Typus  einer  bestimmten  mimischen  Haltung,  aber  in 
den  Komplex  eines  größeren  Gemäldes  hineingedacht.  Höchstens  die 
Figur  des  »Verzweifelten«  (Artikel  382)  ließe  sich  davon  ausnehmen: 
»Einen  Verzweifelten  lässest  du  sich  eines  mit  dem  Messer  versetzen  und 
lässest  ihn  mit  den  Händen  seine  Kleider  zerrissen  haben.  Und  eine 
Hand  sei  dabei,  die  eigene  Wunde  aufzureißen.  Mit  den  Füßen  machst 
du  ihn  stehend,  aber  in  den  Beinen  etwas  geknickt  und  ebenso  mit  der 
ganzen  Person  erdwärts  geneigt,  das  Haupthaar  zerrauft  und  in  Verwirrung.« 
Man  bemerkt,  daß  hier  nur  die  Körperhaltung  und  die  Tätigkeit,  die 
eine  Folge,  bezw.  ein  symbolischer  Ausdruck  der  Verzweiflung  ist,  be- 
schrieben wird  ohne  Rücksicht  auf  das  Mienenspiel.  Der  »Zornige« 
(Artikel  381)  ist  offenbar  als  eine  Figur  in  einem  Historienbild  gedacht: 
»Eine  Figur  im  Zorn  lässest  du  einen  bei  den  Haaren  festhalten,  ihm 
das  Haupt  zur  Erde  drehend  und  ihm  ein  Knie  in  die  Rippen  setzend. 
Mit  dem  rechten  Arm  lässest  du  ihn  den  Dolch  hochheben.  Seine  Haare 
in  die  Höhe,  die  Augenbrauen  herab-  und  zusammen  gezogen,  die  Zähne 
aufeinandergebissen  und  die  Mundwinkel  auf  beiden  Seiten  in  Bogen 
gekrümmt.  Der  Hals  sei  dick  angeschwollen  und  vorn,  wegen  des  Nieder- 
neigens auf  den  Feind,  voller  Runzeln.«  Man  wird  nicht  fehlgehen,  wenn 
man  die  so  beschriebene  Gruppe  als  Bestandteil  eines  Kampfbildes  auffaßt 
und  mit  der  berühmten  Schilderung  einer  Schlacht  (in  Artikel  148a  u.  b) 
zusammennimmt.  Dies  ist  nun  die  regelrechte  Beschreibung  eines  Historien- 


334 


Hans  Klaiber: 


bildes  mit  genauen  Angaben  über  die  Landschaft  und  ihre  Details,  die 
Spuren  des  Kampfes  auf  dem  Schlachtfeld,  die  verschiedenen  Gruppen 
von  Kämpfern,  Reservetruppen,  Siegern,  Gefallenen  oder  Verwundeten, 
flüchtenden  Soldaten  und  Pferden.  Die  Schilderung  der  mit  fliegenden 
Haaren  und  Gewändern  und  grimmigen  Gesichtern  einherstürmenden 
Sieger,  hauptsächlich  aber  der  Besiegten  enthält  auch  mimische  Züge. 
»Die  Besiegten  und  Geschlagenen  machst  du  bleich,  ihre  Augenbrauen, 
wo  sie  aneinanderstoßen,  in  die  Höhe  gezogen,  und  das  Fleisch  darüber 
ganz  voller  schmerzlicher  Falten.  Auf  dem  Nasenrücken  seien  einige 
Runzeln,  die  im  Bogen  von  den  Nasenflügeln  her  aufsteigen,  um  beim 
Anfang  des  Auges  auszulaufen.  Die  Nasenflügel  sind  hochgezogen,  daher 
diese  Runzeln.  Die  im  Bogen  gekrümmten  Lippen  lassen  die  oberen 
Zähne  sehen,  und  die  Zähne  sind  geöffnet,  wie  beim  Schreien  und  Weh- 
klagen. Die  eine  Hand  deckt  die  angstvollen  Augen,  die  Innenhand 
gegen  den  Feind  gekehrt,  die  andere  stemmt  sich  an  den  Boden,  den 
halb  erhobenen  Rumpf  zu  stützen.  Andere  machst  du  laut  aufschreiend, 
mit  weit  aufgesperrtem  Mund  und  im  Fliehen;  (wieder)  andere  machst  du 
im  Sterben,  wie  sie  mit  den  Zähnen  knirschen,  die  Augen  verdrehen, 
die  Fäuste  auf  die  Brust  pressen  und  die  Beine  krumm  ziehen.«  — Die 
Beschreibung  ist  so  anschaulich  gehalten,  daß  einem  dabei  unwillkürlich 
Werke  aus  der  antiken  Skulptur  in  Erinnerung  kommen,  wie  z.  B.  der 
Kopf  des  Laokoon  bei  der  schmerzvollen  Physiognomie  des  Unterliegenden. 
Wenn  auch  natürlich  nicht  daran  zu  denken  ist,  daß  Leonardo  hier  sich 
auf  bestimmte  Bildwerke  bezieht,  so  wäre  es  doch  nicht  unmöglich,  daß 
bei  diesen  Gebilden  der  künstlerischen  Phantasie  Erinnerungen  an  antike 
Statuen  hereinspielen:  in  seinem  Relief  der  »Zwietracht«  im  Kensington- 
Museum  machen  sich  solche  in  deutlicher  Weise  geltend.  Auch  in  dem 
Artikel  (146)  wie  man  eine  Nacht,  d.  h.  ein  nächtliches  Historienbild 
machen  soll,  fällt  etwas  für  die  Mimik  ab:  »Was  die  Gebärden  (nämlich 
der  von  dem  nächtlichen  Feuer  beleuchteten  Figuren)  anlangt,  so  wirst 
du  die  nahe  beim  Feuer  stehenden  sich  mit  Händen  und  Mänteln  gegen 
die  übermäßige  Hitze  schirmen  lassen  und  das  Gesicht  machst  du  ihnen 
nach  der  anderen  Seite  gewendet,  als  wollten  sie  fort.  Die  weiter  weg 
Stehenden  läßt  du  sich  die  Hände  vor  die  vom  Übermaß  des  Lichtglanzes 
geblendeten  Augen  halten.«  — Zuletzt  die  dem  Leben  förmlich  abge- 
lauschte Schilderung  eines  Volksredners  und  der  aufmerksamen  Zuschauer 
und  Hörer.  Artikel  380  »Von  der  Darstellung  eines,  der  inmitten  mehrerer 
Personen  spricht.  Um  einen  darzustellen,  den  du  unter  vielen  Personen 
willst  sprechen  lassen,  pflegst  du  zuerst  die  Materie,  von  der  er  zu  handeln 
hat,  in  Betracht  zu  ziehen  und  nach  dieser  seine  Gebärden,  so  daß  sie 
dazu  passen,  einzurichten.  Ist  der  Inhalt  seiner  Rede  Überredung  zu 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


335 


etwas,  so  seien  seine  Gebärden  diesem  Vorhaben  angemessen.  Handelt 
es  sich  darin  um  die  Klarlegung  verschiedener  Ursachen,  Ansichten, 
Gründe,  so  lassest  du  den  Sprechenden  mit  zwei  Fingern  der  rechten 
Hand  einen  Finger  der  linken  fassen,  indem  er  dabei  die  beiden  kleineren 
Finger  dieser  letzteren  eingeschlagen  hat.  Das  Gesicht  sei  lebhaft  gegen 
die  Menge  gewandt,  der  Mund  ein  wenig  geöffnet,  als  wenn  er  spräche. 
Sitzt  er,  so  sehe  er  aus,  als  wenn  er  sich  ein  wenig  erhöbe,  den  Kopf 
vorgestreckt.  Machst  du  ihn  auf  den  Füßen  stehend,  so  lasse  ihn  sich 
mit  Brust  und  Kopf  etwas  gegen  das  Volk  hin  neigen.  Dieses, 
das  Volk,  nun  stellst  du  schweigend  und  aufmerksam  dar.  Alle  schauen 
dem  Redner  ins  Gesicht,  mit  ganz  in  Anstaunen  verlorener  Gebärde. 
Lasse  den  einen  oder  anderen  Alten  vor  Verwunderung  über  die  ver- 
nommenen Sentenzen  den  Mund  fest  geschlossen  halten,  indem  dieser 
Mund  an  seinen  nach  unten  gezogenen  Winkeln  viel  Wangenfalten  nach 
sich  zieht;  dazu  seien  die  Augenbrauen,  wo  sie  Zusammenkommen,  hoch 
in  die  Höhe  gezogen  und  hierdurch  viele  Stirnfalten  verursacht.  Einige 
aus  dem  Volk  mögen  dasitzen  mit  ineinander  verschränkten  Fingern  der 
Hände,  in  denen  sie  das  müde  Knie  halten,  andere  ein  Knie  übers  andere 
geschlagen  und  darauf  die  Hand  gelegt,  die  den  Ellenbogen  des  andern 
Armes  in  sich  aufnehmen.  Und  dessen  Hand  stütze  das  bärtige  Kinn, 
das  gehöre  einem  gebeugten  Alten.«  Die  vorbereitenden  Studienblätter 
für  die  Anbetung  der  hl.  Könige  und  das  Abendmahlbild  weisen  ver- 
schiedene von  den  hier  beschriebenen  Typen  in  Skizzen  auf:  So  sehen 
wir  auf  einem  Pariser  Skizzenblatt  (Müller-Walde,  Abb.  76)  einen  jungen 
Mann,  auf  einem  anderen  in  London  (Müller-Walde,  Abb.  77)  einen 
bärtigen  Alten  gedankenvoll  das  Kinn  in  die  Hand  stützen.  Ein  Studien- 
blatt im  Louvre  (Müller -Walde,  Abb.  73)  zeigt  den  demonstrierenden, 
mit  malender  Gebärde  veranschaulichenden  Erzähler  und  daneben  den 
lauschenden  Zuhörer  mit  übergeschlagenem  Bein,  und  auf  einer  Studie 
zum  Abendmahl  (auf  demselben  Blatt)  kehren  die  gleichen  Haltungen 
des  legeren  oder  besinnlich-nachdenklichen  Zuhörers  wieder.  Als  eine 
freie  Illustration  zu  Leonardos  Worten  könnte  man  endlich  ein  Gemälde 
Dürers  vom  Jahre  1506  bezeichnen,  das,  wie  längst  bekannt,  unter  sicht- 
lichem Einfluß  leonardesker  Kunst  entstanden,  Jesus  unter  den  Schrift- 
gelehrten darstellt.  Das  Spiel  der  Hände,  der  Gesichtsausdruck  des 
Redners  und  der  Zuhörer,  deren  Köpfe  an  die  seltsamen  Bildungen  dei 
Karikaturen  gemahnen,  erscheinen  wie  von  unserer  Stelle  inspiriert.  — 
Noch  einmal  bespricht  der  Künstler  die  verschiedenen  Arten,  wie  sich 
die  Teilnahme  der  Zuschauer  und  Zuhörer  an  einem  Vorgang  ausdrücken 
kann,  im  Artikel  328  »Von  der  Aufmerksamkeit  der  Umstehenden,  die 
auf  einen  Fall  acht  haben.  Alle,  die  bei  irgend  einem  beachtenswerten 


336 


Hans  Klaiber: 


Fall  zugegen  sind,  stehen  mit  verschiedenerlei  Gebärden  gespannter  Auf- 
merksamkeit da,  wie  z.  B.'  wenn  die  Gerechtigkeit  die  Übeltäter  bestraft. 
Und  ist  der  Vorgang  ein  frommer,  so  richten  alle  Umstehenden  ihre 
Augen  unter  verschiedenartigen  Gebärden  der  Andacht  dahin,  wie  z.  B. 
wenn  beim  Meßopfer  die  Hostie  gezeigt  wird  u.  dergl.  Ist  der  Vorfall 
lachens-  oder  weinenswert,  so  ist  es  dann  nicht  nötig,  daß  alle  Umstehenden 
die  Blicke  auf  ihn  hingerichtet  halten,  sondern  sie  können  diese  in  ver- 
schiedenerlei Arten  bewegen,  und  zum  großen  Teil  lachen  oder  weinen 
sie  miteinander.  Ist  der  Vorfall  aber  furchterregender  Natur,  so  sollen 
die  erschrockenen  Gesichter  der  Fliehenden  große  Furcht  an  den  Tag 
legen  und  große  Hast  zu  entfliehen«  .... 

In  welchem  Sinn  die  letztangeführten  Anweisungen  zur  Herstellung 
von  Historienbildern  zu  verstehen  sind,  das  läßt  sich  schon  aus  dem 
oben  zitierten  Wort  Varia  quanto  piü  puoi!  erschließen.  Leonardo  will 
damit  kein  Schema  vorzeichnen  oder  behaupten,  so  und  nicht  anders 
müsse  man  es  angreifen,  sondern  lediglich  einen  Vorschlag  machen,  wie 
seine  gestaltende  Phantasie  sich  das  Thema  ausgeführt  denkt.  Darum 
sind  auch  die  darin  enthaltenen  mimischen  Andeutungen  nicht  als 
Forderungen  oder  verbindliche  Regeln  zu  betrachten.  Vielmehr  sollen 
es  Ratschläge  sein,  wie  man  mit  Hilfe  der  . künstlerischen  Mimik  die 
zwingende  und  anschaulich  überzeugende  Lebendigkeit  der  Darstellung 
erreichen  kann.  Denn  darauf  zielt  ja  besonders  in  der  Schlachten- 
schilderung alles  ab,  daß  möglichst  viel  Leben  in  das  Bild  hineinkommt, 
jede  Einzelheit  in  Beziehung  zum  Ganzen  tritt  und  dadurch  am  Total- 
eindruck in  ihrem  Teil  mitarbeitet;  Menschen  und  Tiere,  Luft,  Himmel 
und  Erde,  Wasser  und  Land  sollen  das  Schlachtgetümmel  verkünden, 
die  »ganz  bestialische  Raserei«,  wie  Leonardo  einmal  den  Krieg  nennt. 
Und  wenn  das  allzu  hartnäckige  Eindringen  in  theoretische  Forschungen 
den  Meister  vielfach  von  der  Ausübung  seines  Malerberufes  abgehalten 
hat,  so  dürfen  wir  diesmal  das  Gegenteil  konstatieren:  auch  in  den  mehr 
theoretisch  gehaltenen  Ausführungen  über  Physiognomik  und  Mimik  ver- 
liert er  die  künstlerische  Praxis  nie  aus  den  Augen. 

Suqhen  wir  nun  noch  Leonardo  seine  Stellung  in  der  Geschichte 
der  Physiognomik  und  Mimik  anzuweisen,  so  hat  das  allerdings  seine 
Schwierigkeiten.  Was  wir  an  Äußerungen  aus  dem  Trattato  anführen 
konnten,  hält  sich  fast  durchweg  in  der  Form  von  Notizen,  Beobachtungen 
und  speziellen  Ratschlägen:  vergebens  sucht  man  eine  zusammenhän- 
gende, methodische  Behandlung  — die  vertröstende  Verweisung  auf 
spätere,  eingehende  Ausführung  des  aufgeworfenen  Problems  ist  geradezu 
typisch  für  seine  Arbeitsweise.  Allein  man  hat  sich  damit  eben  einmal 
abzufinden  und  hat  das  auch  bereits  gethan;  ,so  hat  man  z.  B.  aus  den 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


337 


zahlreichen  maschinen technischen  Versuchen  und  Entwürfen  seine  Kennt- 
nisse auf  dem  Gebiete  der  Mechanik  und  des  Maschinenbaues  erschlossen. 
Ebenso  scheinen  uns  die  zusammengestellten  Beobachtungen  über  Phy- 
siognomik und  Mimik  bedeutsam  und  inhaltsreich  genug,  um  auf  die 
grundsätzliche  Stellung  des  Meisters  Schlüsse  zuzulassen.  Durch  die  Fest- 
stellung des  mimischen  Prinzips  als  alleiniger  Grundlage  einer  wissen- 
schaftlichen Physiognomik  ist  Leonardo  seiner  Zeit  weit  vorausgeeilt  und 
steht  ebenbürtig  neben  den  modernen  Forschern.  Daß  die  Gemüts- 
bewegungen ihre  Spuren  im  Äußern  des  Menschen  hinterlassen,  ist  ja 
ein  naheliegender  Gedanke,  der  sich  jedem  Physiognomiker  aufdrängen 
sollte.  Tatsächlich  haben  wir  auch  gesehen,  daß  bereits  die  pseudo- 
aristotelische Schrift  unter  den  verschiedenen  Forschungsprinzipien  auch 
das  mimische  aufzählt;  es  wird  aber  beiseite  gelegt,  weil  verschieden- 
artige Erregungen  dieselbe  Mimik  zur  Folge  hätten  und  weil  die  Gemüts- 
zustände wechselnd  seien,  so  daß  z.  B.  ein  zum  Trübsinn  neigender  doch 
auch  immer  wieder  Momente  der  Aufheiterung  habe.  Der  zweite  Ein- 
wand ist  natürlich  nicht  stichhaltig,  denn  bleibende  Eindrücke  im  Ge- 
sicht werden  eben  die  Ausdrucksbewegungen  hinterlassen,  die  sich  infolge 
der  Gemütslage  des  einzelnen  besonders  häufig  wiederholen.  Der  erste 
dagegen  ist  durchaus  berechtigt  und  trifft  die  schwache  Seite  der  Phy- 
siognomik. Allein  da  gilt  es  eben  sich  zu  bescheiden  und  lieber  mit 
wenigem  sicher  zu  gehen  als  auf  »Chimären  ohne  wissenschaftliches  Fun- 
dament« zu  bauen.  Jedenfalls  bieten  die  abenteuerlichen  Phantasien,  die 
jahrhundertelang  nach  Aristoteles  Vorbild  als  Wissenschaft  ausgegeben 
wurden,  keinen  brauchbaren  Ersatz.  Und  doch,  wie  fest  sich  diese  Irr- 
-tümer  in  die  Köpfe  festgesetzt  haben,  zeigt  am  besten  die  (nachgelassene) 
Schrift  des  Malers  Lebrun  »Methode  pour  apprendfe  ä dessiner  les 
passions«.  Sie  enthält  zuerst  eine  illustrierte  Abhandlung  über  die  Mimik, 
speziell  des  Gesichtes.  So  schematisch  und  unbrauchbar  auch  die  psy- 
chologische Begründung  ist,  so  gewiß  man  an  manchen  Stellen  die  Richtig- 
keit, mehrfach  auch  die  Möglichkeit  des  mimischen  Ausdrucks  einer 
Stimmung  bestreiten  wird,  so  muß  man  den  Verfasser  doch  als  guten 
Kenner  des  Mienenspiels  gelten  lassen.  Aber  wie  ist  man  über- 
rascht, in  dem  »Abriß  der  Physiognomik«,  der  in  demselben  Büchlein 
abgedruckt  ist,  diese  mimischen  Kenntnisse  gar  nicht  verwendet  zu 
sehen;  und  man  hat  Mühe  zu  glauben,  daß  es  derselbe  Lebrun  ist,  der 
da  in  engem  Anschluß  an  Aristoteles  von  den  Ähnlichkeiten  und  Unter- 
schieden der  Tier-  und  Menschengesichter  fabuliert,  und  gar  den  Ver- 
such macht,  mit  Hilfe  geometrischer  Linien,  die  die  Gesichtsteile  unter- 
einander bezw.  mit  dem  Herzen  verbinden,  den  Charakter  eines  Tieres 
zu  bestimmen.  — 


338 


Hans  Klaiber: 


Es  ist  ein  unbestreitbares  Verdienst  Lavaters,  daß  er  die  Autorität 
des  Aristoteles  in  der  Physiognomik  gestürzt  hat  und  man  möchte 
wünschen,  daß  er  dieselbe  Einsicht  in  der  Aufstellung  der  eigenen  An- 
sichten gezeigt  hätte.  Doch  da  fehlt  es  freilich  und  die  ganze  Lavatersche 
Physiognomik  ist  wissenschaftlich  nicht  diskutierbar.  Denn  anstatt  Regeln 
und  Prinzipien  zu  geben,  die  man  auf  ihre  Richtigkeit  und  Anwendbar- 
keit prüfen  könnte,  beruft  sich  der  Verfasser  der  »Physiogn.  Fragmente« 
immer  nur  auf  das  Gefühl,  auf  die  Anlage,  ohne  die  man  es  angeblich 
nicht  zur  Kennerschaft  bringen  könne.  Die  »Physiognomik«,  so  prophezeit 
er  in  seiner  ekstatisch  abgerissenen  Redeweise  — »wird  werden  die 
Wissenschaft  der  Wissenschaften  und  dann  keine  Wissenschaft  mehr  sein, 
sondern  Empfindung,  schnelles  Menschengefühl ! Denn  — Torheit,  sie  zur 
Wissenschaft  zu  machen,  damit  man  drüber  reden,  schreiben,  Collegia 
halten  und  hören  könnte!  Dann  würde  sie  nicht  mehr  sein,  was  sie  sein 
soll!  Wieviel  Wissenschaften  und  Regeln  haben  den  Genies,  wieviel 
Genies  den  Wissenschaften  und  Regeln  ihr  Dasein  zu  verdanken?  Also 
— was  soll  ich  sagen?  was  soll  ich  tun?  Physiognomik  wissenschaftlich 
machen?  — oder  nur  den  Augen  rufen,  zu  sehen?  die  Herzen  wecken, 
zu  empfinden  ? — und  dann  hier  und  dort  einem  müßigen  Zu- 

schauer, daß  er  mich  nicht  für  einen  Toren  halte,  ins  Ohr  zu  sagen: 
Hier  ist  was,  das  auch  du  sehen  kannst.  Begreif  nun,  daß  andere 
mehr  sehen!«  — (II.  Band,  S.  55).  Unter  diesen  andern,  die  mehr 
sehen,  denkt  er  natürlich  an  sich  selbst  und  so  legt  er  dem  Leser  in 
den  »physiognomischen  Übungen  zur  Prüfung  des  physiognomischen 
Genies«  eine  Anzahl  Silhouetten  vor,  deren  Charakter  und  Geistesanlagen 
zu  bestimmen  sind.  Wer  dabei  nicht  mit  seinen,  Lavaters,  Urteilen  über- 
einstimme, der  könne  daraus  schließen,  daß  ihm  die  Befähigung  zur 
Physiognomik  fehle,  daß  er  »über  den  Zirkel  seines  Berufs  und  seiner  Ta- 
lente hinausgehe«.  Dabei  sind  die  als  Muster  aufgeführten  physiogomischen 
Antworten  durchaus  willkürliche,  auf  unkontrollierbare,  subjektive  Ein- 
drücke gegründete  Urteile.  Lavater  kennt  zwar  die  Bedeutung  der  Ge- 
bärden für  den  Stimmungsausdruck  — sie  werden  im  IV.  Band  aller- 
dings sehr  kurz  besprochen  — gründet  aber  seine  Analyse  keineswegs 
auf  die  Mimik,  sondern  in  erster  Linie  auf  die  Gestaltung  der  Gesichts- 
teile, besonders  der  Nase  — sie  heißt  bald  treu  oder  gerecht,  bald  ein- 
fältig und  seelenlos  — , ferner  der  Profillinien  und  der  Schädelform. 

Die  moderne  Physiognomik,  wie  sie  hauptsächlich  Darwin,  Piderit, 
Wundt  u.  a.  begründet  haben,  steht  in  der  Hauptsache  auf  dem  von 
Leonardo  da  Vinci  eingenommenen  Standpunkt.  Sie  hält  die  Ausbildung 
mimischer  Züge  zu  physiognomischen  für  den  einzig  möglichen  wissen- 
schaftlichen Ausgangspunkt  der  Physiognomik  und  legt  den  Hauptwert 


Leonardo  da  Vincis  Stellung  i.  d.  Gesch.  d.  Physiognomik  u.  Mimik. 


339 


einmal  auf  die  genaue  Wiedergabe  der  Mimik  in  Wort  und  Bild,  wozu 
Momentphotographie  bezw.  Kinematographie  gute  Hilfsmittel  bieten;  mit 
Hilfe  der  experimentellen  Psychophysik  ist  man  sogar  dazu  geschritten, 
den  Grund  zu  einer  »objektiven«  Physiognomik  zu  legen,  bei  der  die 
physischen  Begleiterscheinungen  der  Gemütsbewegungen  in  objektiven 
Werten  ausgedrückt  werden  sollen.  Das  andere  Hauptinteresse  fällt  auf 
die  psychologische  Deutung  der  Ausdrucksbewegungen  bezw.  ihre  Klassi- 
fizierung nach  psychologischen  Prinzipien.  Daß  auch  hierbei  für  den 
Künstler  etwas  abfallen  kann,  haben  wir  bei  den  »demonstrativen  Gebärden« 
gesehen.  Das  Herauslesen  des  Charakters  aus  den  individuellen  Zügen 
dagegen,  dieses  physiognomische  Ratespiel  ist  mehr  in  den  Hintergrund 
getreten,  weil  sich  seine  Unzulänglichkeit  aus  verschiedenen  Erwägungen 
ergeben  hat.  Bei  der  Vieldeutigkeit  der  mimischen  Bewegungen,  die 
assoziativ  von  einer  Gemütsbewegung  auf  die  andere  übertragen  werden, 
ließen  sich  ja  doch  nur  ganz  allgemeine  Urteile  fällen,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  bei  der  Entwicklung  der  Physiognomie  und  Gestikulation 
auch  äußerliche,  für  den  Charakter  unwesentliche  Faktoren  mitwirken. 
Als  Folgerung  für  eine  wissenschaftlich  betriebene  Physiognomik  ergäbe 
sich  daraus  die  Forderung  größter  Zurückhaltung.  Im  täglichen  Leben 
erfüllen  wir  diese  Forderung  freilich  nicht:  wir  urteilen  da  insgemein 
sehr  rasch  auf  Grund  unserer  persönlichen  Eindrücke,  wobei  wir  oft  genug 
aus  ganz  unwesentlichen,  aber  vielleicht  auffallenden  Erscheinungen  im 
äußeren  Bild  unsere  Schlüsse  ziehen  und  ferner  durch  unkontrollierbare 
zufällige  Anklänge  und  Erinnerungen  beeinflußt  werden.  Dabei  wissen 
wir  oder  sollen  es  jedenfalls  wissen,  daß  unsere  Schlüsse  gar  häufig  die 
Probe  nicht  bestehen  würden:  es  sind  »Chimären  ohne  wissenschaftliches 
Fundament«.  — 


Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 

Von  A.  Schmarsow. 

Bei  einem  Meister  der  deutschen  Frührenaissance,  der  durch  die 
wenigen  auf  uns  gekommenen  Werke  seiner  Hand  schon  die  Aufmerk- 
samkeit der  Forscher  in  so  hohem  Grade  zu  fesseln  vermocht  hat  wie 
Konrad  Witz  von  Basel,  wird  jeder  neue  Beitrag  willkommen  sein.  Um 
so  mehr,  wenn  sich  die  Möglichkeit  eröffnet,  die  spärlichen  Überreste 
seiner  Kunst  zu  vermehren,  vielleicht  gar  auf  unerwarteter  Seite  einen 
Zuwachs  zu  gewinnen,  der  das  Verständnis  seiner  bisher  bekannten  Lauf- 
bahn wesentlich  zu  fördern  vermöchte.  Ich  glaube  durch  eine  glückliche 
Entdeckung  oder  vielmehr  Erkennung  in  der  Lage  zu  sein,  solchen  Bei- 
trag zu  liefern,  selbst  wenn  ich  einen  verlorenen  Schatz,  der  mit  Hilfe 
des  dargebotenen  Schlüssels  erst  vollauf  erschlossen  werden  könnte, 
nicht  im  selben  Augenblick  wieder  aufzufinden  und  in  seinem  ganzen 
Reichtum  vor  die  Augen  der  Kenner  zu  stellen  vermag.  Vielleicht  glückt 
auch  das  einmal  don  vereinten  Nachforschungen  der  Fachgenossen,  und 
ich  beeile  mich  deshalb,  wenigstens  die  Nachricht  mitzuteilen,  wie  weit 
mir  vorzudringen  gelang,  selbst  wenn  ich  fürchten  muß,  wieder  den  Un- 
willen der  Spezialisten  zu  erregen,  die  sich  immer  persönlich  verletzt 
fühlen,  sowie  jemand  anders  in  ihren  Kram  »hineinpfuscht«.  Leider  bin 
ich  diesmal  sogar  genötigt,  zwei  solchen  Lagern,  die  sonst  getrennte 
Wirtschaft  führen,  zugleich  mit  meiner  Neuigkeit  zu  nahe  zu  treten. 
Es  ist  nun  einmal  meines  Amtes,  mich  um  beides  zu  kümmern;  da  lernt 
man  das  Gemeinsame  im  Auge  behalten.  Und  »Erkenntnis  verpflichtet«, 
denken  wir  alle. 

Wir  kennen  Konrad  Witz  heute  nur  als  Maler  einer  Reihe  von 
Tafelbildern,  die  meist  zu  größeren  Altarwerken  gehört  haben,  wie  die 
bezeichneten  von  1444  in  Genf  und  die  Zeugen  seiner  Wirksamkeit  in 
Basel.  Selbst  ein  versprengtes  Stück,  das  nun  nach  Basel  zurückgekommen, 
und  ein  anderes  in  Straßburg,  durch  das  er  zuerst  wieder  bekannt  ge- 
worden, verlangen  Ergänzung  durch  entsprechende  Flügel.  Es  sind  lauter 
Beispiele  einer  vollendeten  Meisterschaft.  Nur  das  kleine  Haus-  oder 
Reisealtärchen  in  Neapel,  das  Ad.  Bayersdorfer  als  sein  Eigentum  erkannt 
hat,  weist  auf  den  Übergang  aus  bescheideneren  Verhältnissen  zurück. 


Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 


341 


Und  diese  Anfänge  müßten  wir  uns,  den  Lebensnachrichten  zufolge,  im 
Umkreise  einer  betriebsamen  Werkstatt  denken,  wo  die  Tafelmalerei  wohl 
gar  der  Handschriftenillustration  noch  ganz  vertraulich  gesellt  war.  Die 
Urkunden  versetzen  den  jungen  Ankömmling  aus  Rottweil  in  die  Nähe 
eines  schwäbischen  Landsmanns  aus  Tübingen,  neben  dem  er  1434  in 
Basel  zünftig  wird,  und  zeigen  ihn  später  in  dessen  Verwandtschaft  ein- 
getreten. Seit  1442  Schwiegersohn  einer  Schwägerin  des  Nicolaus  Reusch, 
genannt  Lawelin,  ist  er  schon  1447  gestorben.1)  Auf  wenige  Jahre  drängt 
sich  das  erfolgreiche  Schaffen  zusammen,  mit  dem  er  jenen  »altväterischen« 
Meister  weit  überflügelt  und  den  Sieg  einer  neuen  Richtung  auch  am 
Oberrhein  gesichert  hat.  Kein  Fingerzeig  deutet  aus  den  erhaltenen 
Gemälden  hinüber  zu  der  ursprünglichen  Gemeinschaft  mit  Lawelin,  unter 
dessen  Vorbild  der  schwäbische  Malergesell  doch  aufgewachsen  sein  muß, 
bis  er  sich  selbst  als  Meister  hervorwagen  durfte.  Die  mittelalterlichen 
Vorschriften  für  den  Nachwuchs  geübter  Kräfte  geben  sogar  die  Wahr- 
scheinlichkeit persönlicher  Beziehungen  an  die  Hand,  auch  wenn  wir 
nicht  wissen,  bei  welchem  Meister  Konrad  Witz  in  der  Lehre  gewesen 
ist  und  in  welche  Werkstatt  er  eintrat,  als  er  nach  Basel  kam.  Sicher 
stand  Lawelin  als  der  anerkannte  und  tonangebende  Maler  dem  zuge- 
wanderten Landsmann  in  der  fremden  Stadt  vor  Augen:  ihm  nachzu- 
streben war  das  nächste  Ziel  eines  praktischen  Sinnes  wie  das  letzte  Gebot 
der  Standesehre. 

Die  fünf  Tafeln  eines  Altarwerkes  in  Basel  führen  uns  aber  durch 
die  Darstellungen  aus  dem  Alten  Testament  und  der  römischen  Geschichte, 
die  sie  enthalten,  mitten  hinein  in  den  Zeitgeschmack,  der  in  einem 
vielteiligen  Ganzen  auch  einen  deutungsreichen  Zusammenhang  geistiger 
Beziehungen'  sucht.  Es  ist  der  typologische  Bilderkreis,  der  uns  in  der 
Buchmalerei  wie  in  den  wetteifernden  Leistungen  der  Xylographie  be- 
gegnet. Die  Verbindung  einer  Szene  aus  dem  Neuen  Testament  oder 
der  christlichen  Legende  mit  zwrei  vorbedeutenden  Szenen  des  Alten 
Testaments  ist  das  Thema  der  »Biblia  Pauperum«,  mit  drei  alttestament- 
lichen  oder  gar  heidnischen  Geschichten  das  des  Speculum  humanae 
salvationis  und  ähnlicher  Erzeugnisse  scholastischer  Theologen  und  grü- 
belnder Mystiker.  Gehört  das  Basler  Altarwerk  in  die  letztere  Klasse, 
so  wundern  wir  uns  gewiß  nicht  mehr,  wenn  wir  dem  Meister  Konrad 
Witz  auch  auf  dem  anderen  Wege  begegnen,  ja  wenn  wir  ihn  gar  ge- 
duldig bemüht  sehen,  seinem  Namen  Ehre  zu  machen. 

Unter  den  Handschriften  der  Biblia  Pauperum  findet  sich  eine 
durch  die  Größe  ihrer  Darstellungen  besonders  hervorragende.  Sie  ent- 


*)  Vgl.  Dan.  Burckhardt  in  der  Festschrift  von  Basel  1901.  II,  2,  S.  275. 


342 


A.  Schmarsow: 


halt  24  Pergamentblätter  mit  48  Bildtafeln  von  je  26  cm  im  Geviert,2) 
mit  Blei  und  Feder  entworfen.  »Die  Zeichnung  rührt  von  der  Hand 
eines  tüchtigen  Künstlers  her«,  urteilt  der  beste  heute  lebende  Kenner 
dieser  Armenbibeln,  W.  L.  Schreiber;  »doch  ist  sie  überaus  flüchtig,  so 
daß  man  annehmen  möchte,  es  handle  sich  nur  um  einen  Entwurf,  sei 
es  für  eine  Prachthandschrift,  sei  es  für  einen  Gemäldezyklus.  Diese 
Vermutung  gewinnt  noch  dadurch  an  Wahrscheinlichkeit,  daß  bei  einigen 
Bildern  Korrekturen  von  anderer  Hand  vorgenommen  worden  sind  und 
daß  die  Prophetensprüche  teils  deutsch,  teils  lateinisch  sind,  teils  völlig 
fehlen.«  — »Anlage  und  Komposition  verraten  die  Hand  eines  ideen- 
reichen, selbständig  schaffenden,  seiner  Aufgabe  vollständig  gewachsenen 
Künstlers«,  bezeugt  die  genaueste  Würdigung  des  ganzen  Originals,  die 
wir  besitzen.  »Seine  Entwürfe  sind  in  malerischer  Freiheit  und  doch 
sicher  und  verständig  angelegt,  die  Zeichnung  der  Figuren  enthält  wenig 
Konventionelles,  sondern  basiert  auf  aufmerksamer  Beobachtung  der  Natur. 
Die  Figuren  sind  gut  gruppiert  und  in  ihren  Handlungen  lebendig  und 
wirksam  aufgefaßt;  an  ihren  Köpfen  zeigt  sich  durchweg  Streben  nach 
individueller  Charakteristik.  Daß  dies  Streben  nicht  stets  zum  vollen 
Durchbruch  kommt,  ist  unseres  Erachtens  weniger  dem  Unvermögen  des 
Künstlers,  als  der  Art  und  Weise  der  Zeichnung  zuzuschreiben.«  . . . Die 
erste  Anlage  der  Bilder  ist  äußerst  zart  und  fein  mit  dem  Bleistift  ge- 
macht; dann  aber  sind  sie  mit  der  Feder  übergangen  und  weiter  aus- 
geführt, die  Umrisse  fließender,  wirksamer  und  haltbarer  geworden,  wenn 
auch  von  ihrer  ursprünglichen  Feinheit  und  Zartheit  verloren  ging.  »Zur 
Bestimmnng  des  Entstehungsortes  unserer  Bilderhandschrift«,  heißt  es 
weiter,  »fehlen  ups  maßgebende  Anhaltspunkte.  Im  Charakter  der  Dar- 
stellung steht  sie  jedoch  der  Biblia  Pauperum,  welche  aus  den  Nieder- 
landen stammt,  sehr  nahe,  und  sie  mag  daher  von  einem  Kölner  oder 
niederländischen  Künstler  entworfen  sein.«  Nicht  ohne  Befremden  aber 
liest  man  wenige  Seiten  vorher  die  Angabe:  »Der  begleitende  Text  ist 
in  oberdeutscher  Sprache  geschrieben.« 

Wir  haben  diese  Urteile  sachverständiger  Berichterstatter  voran- 
gestellt; denn  wir  sind  heute  nicht  mehr  in  der  Lage,  das  Werk  selbst 
in  seiner  Gesamtheit  zu  prüfen.  Es  handelt  sich  um  den  Bilderzyklus 
zur  Biblia  Pauperum,  der  sich  einst  in  der  berühmten  Sammlung  T.  O.Weigels 
in  Leipzig  befand  und  bei  Weigel  und  Z^stermann,  »Die  Anfänge  der 
Druckerkunst  in  Bild  und  Schrift«,  Leipzig  1866,  Bd.  II,  S.  i29ff.  unter 
Nr.  268  beschrieben  worden  ist.  Dort  findet  sich  auch  ein  Faksimile  der 

*)  Das  Hauptbild  mißt  H. : 13,  B.:  11,5,  die  unteren  je  H. : 10,  B.:  11  cm.  Inder 
ersten  Beschreibung  steht  die  Angabe  »in  französischem  Maß;  9 Zoll,  3 — 9 Linien« 
für  die  ganze  Bildgruppe. 


Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 


343 


47.  Bildgruppe  mit  der  Krönung  Marias  oben  zwischen  den  vier  Pro- 
phetenbüsten und  zwei  alttestamentlichen  Vorbildern  darunter:  links 

»Salomon  ehrt  seine  Mutter  Bathseba«  und  rechts  »Esther  wird  von 
Ahasver  zur  Königin  erhoben«.  Vorher  hatte  der  Kunsthändler  Rud. 
Weigel  in  seinem  Kunstlagerkatalog  1852  S.  94  die  erste  Nachricht  von 
dieser  in  seinen  Besitz  gelangten  Handschrift  gegeben  und  die  »Dornen- 
krönung« allein,  ohne  die  zugehörigen  Propheten  und  alttestamentlichen 
Szenen,  abgebildet.  Auf  der  Auktion  der  Sammlung  T.  O.  Weigels  erstand 
sie  Eugen  Felix  in  Leipzig.  Er  muß  sich  ihrer  jedoch  schon  bei  Leb- 
zeiten wieder  entäußert  haben;  denn  in  seiner  Hinterlassenschaft  hat  sie 
sich  nicht  mehr  vorgefunden,  und  den  Erben  ist  unbekannt,  wohin  sie 
gelangt  ist  und  wann  sie  wieder  verkauft  worden.  3) 

Der  Schatz,  den  wir  heute  für  die  Kunstgeschichte  erst  recht  ver- 
werten möchten,  ist  gegenwärtig  verschollen,  und  angeblich  wreiß  niemand 
mehr,  wo  er  vergraben  liegt  oder  wo  er  zu  suchen  ist.  Die  beiden  ge- 
nannten Abbildungen  sind  im  Augenblick  die  einzige  Handhabe  für  unser 
Urteil  über  das  Ganze,  das  von  Weigel  und  Zestermann  um  1460 — 1490 
und  von  Schreiber,  der  auch  nicht  mehr  davon  gesehen  hat  als  wir,  ganz 
ähnlich,  auf  1460 — 1480,  datiert  wird. 

Schon  die  einzige  vollständige  Abbildung  genügt  indes,  nicht  allein 
die  Zugehörigkeit  der  Handschrift  zu  einem  bestimmten  Typus  (bei 
W.  L.  Schreiber  V)  festzustellen,  den  einerseits  eine  etwas  frühere  Hand- 
schrift in  München  (Cgm.  155)  mit  ebenfalls  48  Bildern  auf  Pergament 
und  deutschem  Text,  aus  dem  Kloster  St.  Ehrentrud  in  Salzburg,  auf- 
weist, andererseits  die  beiden  typographischen  Ausgaben  Albrecht  Pfisters 
von  Bamberg  (um  1460)  wiedergeben.  Sie  genügt,  wie  wir  glauben, 
auch  die  bisherige  Datierung  als  eine  zu  spät  angesetzte  zu  erweisen. 
Denn  das  Werk  gehört  niemand  anders  als  dem  1447  bereits  verstorbenen 
Meister  Konrad  Witz  von  Basel. 

Auf  seine  oberdeutsche  Heimat  leitet  schon  die  Mundart  des  hand- 
schriftlichen Textes  hin,  die  bisher  im  Widerspruch  mit  dem  Charakter 
des  Bilderzyklus  anerkannt  wurde.  Wenn  man  den  Entstehungsort  dieser 
Arbeit  dagegen  oder  die  Herkunft  des  Künstlers,  der  sie  geschaffen, 
weitab  vom  Oberrhein,  in  Köln  oder  gar  in  den  Niederlanden  gesucht 
hat,  so  geschah  es  auf  Grund  der  damaligen  Kenntnis  ganz  folgerichtig, 
d.  h.  in  Unkenntnis  des  Meisters  Konrad  Witz  und  seiner  überraschend 
frühen  Ausnahmestellung  in  der  oberrheinischen  Schule.  Die  Annahme 
Kölns  war  nur  ein  Kompromiß  mit  der  deutschen  Sprache  des  Textes. 


3)  Vgl.  W.  L.  Schreiber  in  der  Einleitung  zur  Heitzschen  Ausgabe  der  5oblätt- 
rigen  Biblia  Pauperum,  Straßburg  1903,  S.  30,  wo  die  Hs.  unter  Nr.  20  aufgefllhrt  ist. 
Repertorium  fiir  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


24 


344 


A.  Schmarsow: 


Mit  der  Zulassung  dieses  Entstehungsortes,  wo  sogar  ein  oberdeutscher 
Maler  wie  Stefan  I or.hner  vom  Bodensee  den  Schauplatz  seiner  glänzenden 
Laufbahn  gefunden  hatte,  ergab  sich  aber  die  Verschiebung  des  Datums 
auf  eine  spätere  Zeit,  wo  auch  in  Köln  der  niederländische  Einfluß  zum 
Durchbruch  kam.  Wenn  man  den  Künstler  jedoch  im  Grunde  vielmehr 
als  einen  Niederländer  ansah,  so  dachte  jedermann  damals  an  die  »Schule 
der  van  Eyck«.  Bei  dem  Stande  der  Forschung  zwischen  1852  und  1866 
bedeutete  diese  Einsicht  ein  durchaus  zutreffendes  Urteil,  nachdem  Rud. 
Weigel  nur  an  die  Art  Schongauers  oder  des  Kopisten  b + 0 (kg?)  ge- 
dacht  hatte.  Mit  der  Ortsbestimmung  Basel  und  dem  Namen  Konrad  Witz 
gewinnen  wir  sofort  die  richtige  Verbindung:  die  Nachbarschaft  von  Burgund 
und  die  Verwandtschaft  mit  der  schwäbischen  Malerschule  des  Oberrheins. 

Doch  nicht  diese  Kom- 
binationen sind  es,  die  mich 
bestimmt  haben,  an  Kon- 
rad Witz  als  Urheber  zu 
denken,  sondern  der  An- 
blick des  Faksimile  bei  Wei- 
gel und  Zestermann  und 
der  Vergleich  mit  den  au- 
thentischen Werken  des 
mittlerweile  in  seiner  gan- 
zen Bedeutung  bekannt  ge- 
wordenen Meisters,  4)  die  in 
photographischen  Aufnah- 
men heute  zur  Hand  sind. 
Dieser  Zeichner  behandelt 
seine  annähernd  quadrati- 
sche Bildfläche  wie  Kon- 
rad Witz  seine  große  Altartafel  und  gleicht  eben  darin  den  Gebrüdern 
van  Eyck  und  ihren  Gesinnungsgenossen  in  der  monumentalen  Malerei. 
Sein  Blatt  sieht  aus  wie  ein  Entwurf  zu  einem  mehrteiligen  Flügelaltar 
oder  einem  Aufbau  von  zwei  Etagen,  wie  etwa  die  Außenseite  des  Genter 
Hauptwerks  sie  darbot,  oder  das  Abendmahl  mit  seinen  vier  Trabanten 
von  Dirk  Bouts  in  Löwen.  Genau  so  sind  die  Basler  Tafeln  von  Konrad 
Witz  gedacht,  wenn  wir  ihre  typologische  Entsprechung  wiederherzustellen 
versuchen  und  die  zwei  Stockwerke  wieder  aufbauen,  wie  sie  ursprünglich 
dastehen  und  Zusammenwirken  sollten.  Ja,  die  Vergleichung  beider,  der 


4)  Vgl.  Dan.  Burckhardt  a.  a.  O.  und  Schmarsow,  Die  oberrheinische  Malerei 
und  ihre  Nachbarn  um  die  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts.  Leipzig  1903. 


Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 


345 


Zeichnung  hier,  des  aufgelösten  Tafelwerkes  dort,  hilft  zu  gegenseitiger 
Erklärung.  Wie  die  Einzelfiguren  der  Synagoge  und  des  jüdischen  Priesters 
fast  statuarisch  in  einer  Nische  oder  einem  kastenähnlichen  Raum  stehen, 
den  der  Maler  mit  seinen  perspektivischen  Künsten  vertieft  hat,  so  er- 
scheinen hier  die  Propheten  in  Fensterluken  und  heben  sich  in  voller 
Körperlichkeit  mit  ihren  Büchern  und  Schriftbändern  von  dem  Grunde 
ab.  Sie  bewegen  sich  energisch  vorspringend  in  einer  vorderen  Raum- 
schicht, die  auch  perspektivische  Künste  der  Modellierung,  der  Schlag- 
schatten usw.  fordert,  wie  bei  den  Propheten  und  Sibyllen  am  Genter 
Altar.  Die  nämliche,  auf  plastische  Körperwirkung  vor  allem  ausgehende 
Ökonomie  waltet  in  dem  Hauptbilde.  Die , Krönung  Marias  geschieht 
unter  einem  rechtwinkligen  Baldachin,  dessen  vier  Stangen  von  knieenden 
Engeln  gehalten  werden.  Damit  ist  das  kubische  Raumvolumen  klar 
begrenzt  wie  der  Schrein  eines  Schnitzaltares  in  der  Mitte.  Die  beiden 
Gestalten:  der  Erlöser  in  kaiserlichem  Schmuck,  mit  Bügelkrone  und 
Reichsapfel,  und  seine  Mutter,  die  demütig  die  Erhöhung  zur  Königin 
des  Himmels  über  sich  ergehen  läßt.  Es  sind  gedrungene  Figuren  von 
untersetztem  Körperbau,  und  die  breiten  Gewandmassen,  die  von  ihren 
Knieen  ab  selbständig  sich  auf  den  Boden  türmen,  unterstützen  den 
wuchtigen  Eindruck.  Stoffliche  Fülle  bezweckt  hier  die  feierliche 
Wirkung  zu  erzielen,  wie  bei  den  großen  Prophetenköpfen  mit  ihren 
Turbanen,  Sendelbinden  und  Zinkenkronen,  so  auch  bei  den  kleinen 
Engeln  im  Chorknabenkleid.  Noch  größer  ist  die  Ähnlichkeit  mit  den 
zweifigurigen  Bildern  in  Basel  bei  den  alttestamentlichen  Szenen  des 
unteren  Streifens.  Die  Körper  sind  paarweise  einander  gegenüber  auf- 
gereiht wie  Holzskulpturen  oder  Steingebilde  vor  einer  Schmuckwand, 
als  stünden  sie  wie  einzelne  Blöcke  auf  einer  Borte  droben.  Der  Bild- 
rand ist  architektonisch  ausgestaltet,  den  dargestellten  Innenraum  einzu- 
rahmen; aber  dieser  Innenraum  selbst  entwickelt  sich  kaum  irgendwo  über 
die  Vordergrundschicht  hinein  in  die  Tiefe.  Dies  ist  gerade  das  charak- 
teristische Wesen  des  Basler  Altarwerkes  von  Konrad  Witz,  das  nur  durch 
den  Hinweis  auf  Burgund  und  die  Niederlande  erklärt  werden  kann;  ein 
bestimmtes  Entwicklungsstadium  in  der  Kunst  dieses  Malers,  von  dem 
die  Straßburger  Tafel  wie  das  Kirchen-Interieur  in  Neapel  einerseits  und 
die  landschaftlichen  Darstellungen  mit  Christophorus  in  Basel  und  dem 
Fischzug  oder  Petri  Kleingläubigkeit  in  Genf  andererseits  abweichen. 
König  Salomo  und  seine  Mutter  Bathseba  sitzen  einander  gegenüber  wie 
Ahasver  und  Esther  in  Basel,  während  wir  bei  der  nämlichen,  in  der 
Zeichnung  ganz  neu  gestalteten  Szene  vielmehr  an  Julius  Cäsar  und 
Antipater  in  Basel  denken.  Auch  hier  thront  der  Fürst  zur  Rechten, 
und  der  Ankömmling  kniet  links  ihm  gegenüber.  Bei  der  Erwählung 


24’ 


346 


A.  Schmarsow: 


Esthers  vervollständigen  nur  ihre  beiden  Begleiter  die  Gruppe  vor  dem 
Angesicht  des  Gebieters  und  erreichen  durch  ihre  Schrägstellung  vor  der 
Schwelle  des  Thrones  die  stärkste  Tiefenkomposition,  zu  der  sich  der 
Meister  versteigt. 

Alle  drei  Bilder  dieses  Blattes  zeigen,  daß  auch  ihr  Erfinder  ebenso- 
wenig wie  Konrad  Witz  über  einen  mannigfaltigen  Reichtum  der  Motive 
verfügt,  daß  auch  er  nicht  sowohl  die  lebendige  Durchdringung  der 
Geschichten  nach  ihrem  poetischen  Inhalt  als  seine  Aufgabe  ansieht, 
sondern  vielmehr  die  wirklichkeitsgetreue,  doch  ruhige  Schilderung  der 
Situation  mit  allem  prunkvollen  Aufputz  der  Könige  dieser  Erde  Auch 
für  die  Verherrlichung  der  Himmlischen  weiß  er  keine  besseren  Mittel 
den  Glauben  seiner  Gemeinde  zu  stärken,  als  durch  den  weltlichen  Glanz 
und  die  Pracht  der  Stoffe  die  Augen  zu  verblenden.  Der  Ausdruck 
seelischen  Lebens  und  die  Gebärdensprache  seiner  Figuren  beschränken 
sich  auf  wenige  wiederkehrende  Züge;  diese  aber  sind  drastisch  und 
nachdrücklich  genug,  um  die  Phantasie  des  Beschauers  von  der  Existenz 
der  Personen  selbst  da  zu  überzeugen,  wo  er  auf  seine  wirksamsten 
Bundesgenossen,  Farbe  und  Beleuchtung,  verzichten  muß,  wie  in 
diesen  flüchtigen  Entwürfen  mit  Blei  und  Feder  auf  rauhem  Pergament. 
Das  liegt  besonders  an  der  Charakteristik  seiner  Köpfe  und  den  Besonder- 
heiten, mit  denen  er  sie  auszustatten  weiß:  wie  hier  der  eine  Prophet 
rechts  mit  einer  doppelten  Flechte  am  Bart  erscheint  und  mit  großen 
Augen  herausschaut,  während  dort  ein  anderer  im  eifrigen  Lesen  die 
Lider  senkt  oder  triumphierend  die  geöffneten  Seiten  eines  Codex  hin- 
hält, in  dem  geschrieben  steht,  was  nun  Erfüllung  findet.  Die  abenteuer- 
liche Kopfbedeckung  mit  einem  Türkenbund  hier  und  einer  Krone  darauf, 
deren  Zinken  wie  ein  Rehgehörn  abstehen,  trägt  nicht  selten  dazu  bei, 
den  Eindruck  zu  erhöhen.  Energisch,  ja  leidenschaftlich  wirken  einige 
Gebärden,  die  auf  der  Zeichnung  genau  so  wiederkehren,  wie  wir  sie  auf 
den  Tafelbildern  des  »magister  conradus  sapientis  de  basilea«  kennen 
gelernt  haben.  Man  vergleiche  nur  bei  den  Händen  die  mit  dem  weit 
abstehenden  Daumen  und  den  gestreckten  Vorderfingern,  dann  die  flehend 
erhobenen  oder  betend  gefalteten  und  die  krallend  übergreifenden,  nebst 
anderen  Eigentümlichkeiten,  die  bei  dem  kleinen  Repertoir  sofort  auffallen. 
Es  ist  der  Schematismus  angelernter  Haltungen  des  Konrad  Witz,  wie 
seine  Vorliebe  für  jüdische  Gesichter  mit  langen  Nasen  und  langen  Bärten, 
die  er  uns  als  König  David  mit  seinen  Helden  oder  als  Melchisedek  vor 
dem  ritterlichen  Abraham  vorstellt.  Selbst  die  Gewandmotive  lassen  noch 
in  der  flüchtigen  Zeichnung  des  Entwurfes,  den  das  Faksimile  bei  Weigel 
und  Zestermann  wiedergibt,  das  eigentümliche  Gemisch  zweier  verschiedener 
Faltenbehandlungen  erkennen,  die  wir  einerseits  auf  die  Steinplastik  in 


Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 


347 


Burgund  und  Deutschland,  andererseits  auf  die  gemalten  Zickzackfalten 
in  den  Prachtstoffen  der  Niederländer  zurückgeführt  haben. 5) 

Für  diese  Mischung  alter  einheimischer  und  neuer  burgundisch- 
niederländischer  Elemente  ist  wieder  die  vereinzelte,  im  Kunstlagerkatalog 
von  Rudolf  Weigel  1852  abgebildete  Komposition  der  Dornenkrönung 
Christi  sehr  bezeichnend.  Auch  sie  versucht  einen  Aufbau  der  sechs- 
gliedrigen Gruppe  in  plastischer  Geschlossenheit  zu  geben.  Nur  das 
Andringen  der  spöttischen  Verehrer  rechts  öffnet  die  ganze  symmetrische 
Anlage  zu  seitlicher  Beziehung.  Aber  auch  hier  verrät  sich  wieder  der 
Plastiker,  der  alles  in  Körperbewegung  übersetzt  und  nur  mit  Körpern 
im  Raume  zu  rechnen  gewohnt  ist,  in  der  zentralen  Komposition.  Der 
letzte  von  den  Schergen,  der  mit  dem  Stecken  dreinzuschlagen  droht, 
zeigt  in  seiner  perrücken- 
haften Haartracht  wohl 
geradezu  burgundischen 
Schnitt  und  modische 
Rasierung  über  den  Oh- 
ren hin.  Die  Zuspitzung 
des  ganzen  Bildes  oben 
über  dem  Haupte  Christi 
und  das  Niederstampfen 
der  Dornenkrone  zwi- 
schen den  hochragenden 
Pfosten  der  Sitzlehne 
gibt  den  Anklang  an 
die  damals  beliebte 
allegorische  Darstellung 
»Christus  in  der  Kelter«. 

Die  edle  Bildung  des 
Dulders  erinnert  an  die  Vorzüge  schwäbischer  Meister,  wie  auch  Hans 
Multscher  von  Ulm  sie  mitten  zwischen  abschreckenden  Henkersknechten 
noch  zu  bewahren  weiß.  So  gewinnen  wir  mit  dieser  einzigen,  im  Weigel- 
schen  Katalog  abgebildeten  Szene  aus  der  Passion  einen  wünschenswerten 
Einblick  in  das  Verhältnis  des  Konrad  Witz  zu  jenem  wichtigen  Gebiet, 
das  sonst  in  seinen  erhaltenen  Gemälden  so  gar  nicht  vertreten  ist,  und 
erkennen  auch  da  den  Unterschied  von  der  später  hereinbrechenden  pathe- 
tischen Art  eines  Rogier  van  der  Weyden,  zu  der  selbst  Martin  Schongauer 
seine  milder  angelegte  Natur  eine  Zeit  lang  aufzustacheln  strebt. 

5)  Die  oberrheinische  Malerei  und  ihre  Nachbarn.  Abhandlungen  d.  philol.- 
histor.  Klasse  der  K.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften.  Bd.  XXII,  II.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner,  1903. 


34» 


A.  Schmarsow: 


Von  diesem  Beispiel  blicken  wir  am  besten  zurück  auf  die  Tradition 
der  deutschen  Buchmalerei  oder  Handschriftenillustration,  in  die  sich  der 
Weigelsche  Bilderzyklus  vermöge  seines  Typus  einordnet.  Er  teilt  die 
Besonderheit  der  Disposition,  die  beiden  alttestamentlichen  Szenen  unten, 
die  neutestamentliche  oben  inmitten  der  vier  Propheten,  wie  schon  er- 
wähnt ward,  mit  einer  in  München  bewahrten  Handschrift,  die  aus  S.  Ehren- 
trud in  Salzburg  stammt.  Auf  dies  Exemplar  fällt  durch  die  Erkenntnis 
des  Autors  und  der  festen  Datierung,  die  wir  für  den  Weigelschen  Zyklus 
gewonnen  haben,  noch,  ein  willkommenes  Licht,  das  dazu  beitragen  kann, 
Ursprungsort  und  Entstehungszeit  richtiger  festzustellen,  als  es  bisher  ge- 
glückt war.  W.  L.  Schreiber,  der  die  Münchener  Handschrift  (Cgm.  155) 
als  Nr.  19  unmittelbar  vor  dem  ehemals  in  Leipzig  bewahrten  Schatze 
(Nr.  20)  aufführt,  vermutet  in  dem  aus  S.  Ehrentrud  in  Salzburg  gekom- 
menen Manuskript  der  Biblia  Pauperum  auch  ein  Erzeugnis  jenes  Salz- 
burger Klosters  selbst.  Er  datiert,  es  auf  die  Jahre  1450  — 65.  Nun 
besteht  aber  zwischen  der  Weigelschen  Handschrift  und  der  Salzburg- 
Münchener  trotz  all  ihrer  Verschiedenheiten  im  Stil  nicht  nur  die  an- 
erkannte Ähnlichkeit  in  der  Anordnung  und  die  Übereinstimmung  in  dem 
gemeinsamen  Typus  der  ganzen  Reihe  von  zeitlich  sehr  verschiedenen 
Handschriften  (Sehr.  Typus  V),  sondern  es  läßt  sich  auch  ein  Schul- 
zusammenhang in  der  Zeichenweise  beobachten.  Das  tabernakelartige 
Gerüst  der  Bildergruppe  hat  in  der  Salzburger  Handschrift  sogar  strengeren 
Zusammenschluß,  als  die  Leipziger  Zeichnungen  geben.  Der  Künstler 
sparte  sich  bei  seinen  Entwürfen  die  Andeutung  solches  tektonischen 
Rahmens  offenbar,  weil  er  für  ihn  eine  selbstverständliche  Voraussetzung 
war:  an  Altargemälde  und  vielteiligen  Aufbau  gewöhnt,  lag  ihm  nichts 
an  der  zeichnerischen  Wiedergabe  der  Schreinerarbeit,  die  ihm  sonst  von 
anderer  Hand  geliefert  ward.  Der  Zeichner  des  Salzburger  Manuskriptes 
führt  dagegen  diese  Umrahmung  mit  besonderer  Sorgfalt  aus,  aber  nicht 
gerade  in  monumentalem  Sinn,  nicht  mit  architektonischem  Verständnis, 
sondern  in  handwerklicher  Kleinarbeit,  im  Sinne  einer  Drechslerwerkstatt 
oder  eines  Möbelschreiners.  Es  ist  eher  ein  Stück  Gartenlaube  oder  eine 
Schirmwand,  deren  tragende  Teile  wegen  ihrer  Schlankheit  etwas  zu 
schwere  Füße  bekommen  haben.  Aber  in  den  Bildkompositionen  der 
unteren  Reihe  ist  die  Verwandtschaft  mit  den  Gewohnheiten  des  Zeich- 
ners der  Weigeliana  trotzdem  unverkennbar.  Wenn  das  Hauptbild  oben, 
wie  die  Anbetung  der  Könige  in  dem  bei  Schreiber  mitgeteilten  Bei- 
spiele, noch  dieselbe  luftige  Architektur  und  die  schlanken  Körper  zeigt 
wie  das  Tabernakelgerüst,  hinten  aber  in  landschaftliche  Motive  aus- 
mündet, die  völlig  den  Buchmalern  der  süddeutschen  Gegenden  ent- 
sprechen, so  finden  wir  in  den  alttestamentlichen  Vorbildern  mit  den 


Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 


349 


Kindern  Israel  vor  David  und  der  Königin  von  Saba  vor  Salomo  durchaus 
die  Kompositionsweise  vorbereitet,  die  noch  Konrad  Witz  in  seinen 
Altargemälden  zu  Basel  befolgt.  Die  Tracht  erinnert  hier  und  da  noch 
an  die  bekannten  Wandgemälde  des  Schlosses  Runkelstein,  geht  aber  bei 
der  Königin  von  Saba  und  ihrem  Gefolge  schon  in  die  abenteuerlichen 
Kostüme  bei  Konrad  Witz  über  (vgl.  Bathseba  vor  Salomo)  und  zeigt 
die  Kinder  Israel,  die  David  Gaben  darbringen  sollen,  schon  ganz  in  der 
Art  bürgerlicher  Stifterbildnisse,  die  sonst  in  Heiligenbildern,  ja  selbst 
in  Kreuzigungen  knieen,  wenn  auch  in  bescheidenerem  Maßstab  als  die 
Hauptfiguren.  Ganz  besonders  ist  es  aber  die  Zeichnung  der  Kronen 
mit  ihren  geweihähnlichen  Zacken  und  die  Haltung  der  Hände  mit  ihren 
abstehenden  Daumen  und  ihren  langgestreckten  Vorderfingern,  die  genau 
so  bei  Konrad  Witz  wiederkehren. 

Wenn  wir  mit  der  Erkenntnis  des  Meisters  in  dem  Weigelschen 
Faksimile  nicht  irre  gegangen  sind,  sondern  — wie  wir  fest  überzeugt 
sind  — den  augenblicklich  verborgenen  Schatz  für  Konrad  Witz  von 
Basel  gewonnen  haben,  so  rückt  zunächst  auch  das  Datum  der  Salzburger 
Handschrift  von  S.  Ehrentrud  auf  die  Zeit  vor  dem  Tode  des  1447  ver- 
storbenen Konrad  Witz,  d.  h.  von  »1450 — 1465«,  wohl  in  die  erste  Hälfte, 
genauer  in  das  zweite  Viertel  des  Jahrhunderts,  etwa  1430—40,  hinauf. 

Bei  der  Verwandtschaft  zeichnerischer  und  kompositioneller  Eigen- 
tümlichkeiten mit  dem  aus  Rottweil  gebürtigen,  aber  in  Basel  eingebür- 
gerten Meister  kommen  wir  jedoch  zu  dem  weiteren  Schluß,  daß  die 
Salzburger  Handschrift  schwerlich  in  S.  Ehrentrud  entstanden  sein  dürfte, 
sondern  zur  schwäbischen  Schule  zu  rechnen  ist,  wenn  nicht  vollends  zu 
der  oberrheinischen  in  Basel.  Wir  können  kaum  anders  als  in  ihr  einen 
Lehrmeister  des  Konrad  Witz  erkennen.  Und  damit  erhebt  sich  wieder 
die  Frage  nach  der  betriebsamen  Werkstatt  seines  Landsmannes  Nikolaus 
Reusch  von  Tübingen,  genannt  Lawelin.  Nun  meinen  wir  einen  Blick  in  die 
Schulung  des  Konrad  Witz  bei  einem  Buchmaler  und  Illustrationszeichner 
zurückzutun,  d.  h.  in  die  Anfänge,  denen  er  auch  auf  der  Höhe  seiner 
Entwicklung  als  Tafelmaler  für  monumental  gedachte  Altäre  noch  treu 
blieb,  indem  er  sich  als  Zeichner  dem  Bilderzyklus  der  Biblia  Pauperum 
in  achtundvierzig  blattgroßen  Kompositionen  auf  Pergament  widmete, 
einer  wahren  Geduldsprobe  für  erfinderische  Geister. 

Sollten  diese  vierundzwanzig  Pergamentblätter  mit  ihren  dreiteiligen 
Bildgruppen  auf  jeder  Seite,  also,  abgesehen  von  den  je  vier  Propheten- 
köpfen, insgesamt  hundertvierundvierzig  Kompositionen,  deren  selbständige 
und  auch  bei  Wiederholung  desselben  Themas  abwechslungreiche  Erfindung 
ausdrücklich  gerühmt  wird,  für  immer  verschollen  bleiben?  Oder  könnten 
diese  Zeilen  dazu  beitragen,  die  Auffindung  des  gewiß  noch  bei  irgend- 


35° 


A.  Schmarsow:  Konrad  Witz  und  die  Biblia  Pauperum. 


einem  Privatsammler  des  Auslandes  geborgenen  Schatzes  zu  beschleunigen? 
Vielleicht  verlohnt  es  sich,  das  ganze  Verzeichnis  der  Bilder  bei  Weigel 
und  Zestermann  wieder  abzudrucken  und  die  Aufmerksamkeit  der  Spezial- 
forscher des  Auslandes  auf  diesen  Zyklus  der  Biblia  Pauperum  hinzulenken. 
Vor  allem  würde  die  Hebung  dieses  vergrabenen  Pfundes  einen  unschätz- 
baren Gewinn  für  unsere  Kunstgeschichte  des  15.  Jahrhunderts,  einen 
gewiß  fruchtbaren  Zuwachs  für  unsere  deutsche  Kunst  in  den  Tagen  der 
Frührenaissance  bedeuten. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 

Von  Dr.  Christian  Geyer  in  Nürnberg. 

I. 

Die  Ketzel-Sage. 

»Der  Stifter  der  sieben  Kreuzwegstationen  war  der  angesehene 
Bürger  Martin  Ketzel.  Im  Gefolge  des  Herzogs  von  Bayern  soll  er  eine 
damals  recht  beschwerliche  Jerusalemfahrt  unternommen  haben,  um  die 
Entfernung  der  denkwürdigsten  Stätten,  wo  Christus  beim  Kreuztragen 
vom  Hause  des  Pilatus  bis  Golgatha  niedergesunken  war,  nach  Schritten 
auszumessen.  Nur  sagenhaft,  jedoch  nicht  unglaubwürdig  ist  die  weitere 
alte  Sage,  daß  dieser  fromme  Mann  noch  einmal  in  das  heilige  Land 
gepilgert  sei,  weil  er  die  Maße  verlegt  hatte,  und  diese  zweite  Pilgerfahrt 
muß,  wenn  es  wahr  ist,  daß  er  diesmal  im  Gefolge  des  Herzogs  von 
Sachsen  reiste,  im  Jahr  1476  erfolgt  sein.  Nach  seiner  Rückkehr  ließ 
Ketzel  wahrscheinlich  von  einem  nahe  dem  jetzigen  Thiergärtnertor  ge- 
legenen Garten,  der  Besitztum  seiner  Familie  war,  die  jetzige  Burg- 
schmiet-  und  Johannisstraße  entlang  bis  zum  Johanniskirchlein  (!),  das 
damals  schon  von  einem  kleinen  privaten  Begräbnisplatze  umgeben  war, 
die  Strecken  abmessen  und  dort  von  Adam  Krafft  Sandsteinpfeiler  mit 
Reliefs  der  sieben  Fälle  Christi  aufrichten.  Zwar  ist  das  Jahr  ihrer  Auf- 
stellung urkundlich  nicht  nachweisbar,  aber  sehr  plausibel  ist  es  dennoch, 
daß  Ketzel  nach  der  Rückkehr  von  seiner  zweiten  Reise  mit  seiner  be- 
absichtigten Stiftung  nicht  länger  gezögert  haben  wird,  um  die  mühsam 
erworbenen  Maße  gar  noch  einmal  zu  verlieren.  Ende  der  achtziger 
Jahre  werden  die  Stationen  vermutlich  aufgestellt  worden  sein,  wie  auch 
eine  alte,  leider  nicht  mehr  auffindbare  Notiz  verbürgt  haben  soll.«  So 
lesen  wir  in  der  neuesten  Monographie  über  Adam  Krafft.1)  Es  dürfte 
sich  verlohnen,  dieses  Ineinander  von  offenkundiger  Sage  und  angeblich 
zuverlässiger  Geschichte  einmal  genauer  zu  prüfen.  An  Quellen  und 
Hilfsmitteln  dazu  fehlt  es  nicht. 


>)  Daun,  P.  Vischer  und  A.  Krafft.  Künstler-Monographien,  herausgegeben  von 
Knackfuß,  Bd.  LXXV.  Bielefeld  u.  Leipzig  1905,  S.  85  f. 


352 


Dr.  Christian  Geyer: 


In  der  Heidelberger  Bibliothek  befindet  sich  eine  handschriftliche 
Reisebeschreibung  Martin  Ketzels,  die  in  einer  vielfach  sehr  interessanten 
und  anschaulichen  Weise  jene  Pilgerfahrt  vom  Jahre  1476  schildert,  an 
der  sich  Albrecht  der  Beherzte  von  Sachsen  als  der  vornehmste  der  etwa 
200  Pilger  beteiligte,  die  damals  gleichzeitig  Jerusalem  besuchten.  Wir 
kennen  diese  Pilgerfahrt  ziemlich  genau,  da  sich  außer  der  Ketzel  sehen 
Reiseschrift  noch  drei  andere  mehr  oder  weniger  ausführliche  Schilde- 
rungen erhalten  haben,  die  Peregrinatio,  die  Mencken  aus  einer  Gamin- 
ger  Handschrift  in  sein  Werk  »Scriptores  rerum  Germanicarum«  auf- 
genommen hat,* 2 3 4 5)  die  ausführliche  Schrift  des  Hans  von  Mergenthal 3)  und 
die  Eybsche  Pilgerschrift,  die  in  dem  Archiv  des  Bayreuther  Historischen 
Vereins4)  vor  etlichen  Jahren  abgedruckt  worden  ist.  Auch  die  Ketzel- 
sche  Darstellung  ist  längst  durch  den  Druck  veröffentlicht  worden.  Sie 
erschien  in  einer  von  Bothe  und  Vogler  1832  in  Potsdam  eröffneten 
Revue,  die  den  Titel  führte  »Altes  und  Neues  für  Geschichte  und  Dicht- 
kunst«. Im  ersten  Heft  findet  sie  sich,  von  Rhenanus  bearbeitet, 
S.  28  — 103.  Dem  verdienten  Historiker  der  Nürnberger  Pilgerfahrten, 
Kamann,  5)  ist  diese  allerdings  recht  selten  gewordene  Publikation  leider 
entgangen. 

Der  Schreiber  oezeichnet  sich  gleich  zu  Anfang  als  »Martin  Ketzel 
von  Augsburg«.  Die  heiligen  Stätten,  die  er  schildern  wird,  kennt  er 
teils  aus  eigener  Erfahrung,  teils  hat  er  sich  von  den  Barfüßern  auf  dem 
Berg  Sion  in  Jerusalem,  die  auch  an  den  Orten  gewesen  waren,  wohin 
er  nicht  gelangen  konnte  »aygentlich  und  ganz  warlich«  berichten  lassen. 
»Solich  haylig  löblich  Stett  und  auch  den  großen  Antlas  (Ablaß),  den 
man  da  entpfacht,  hab  ich  aus  besunder  Untertänikeit  und  Begirt  ver- 
schriben  dem  durchleichtigen  hochgebornen  Fürsten  und  Herren  Hern 
Johannssen  von  Gottes  Genaden  Phaltzgrave  bey  Rein,  Herzog  in  Bay- 
renn,  meinem  gnedigen,  als  hernach  geschriben  stett«,  lesen  wir  in  der 
Einleitung.  Gemeint  ist  damit  offenbar  Johann  I.,  Pfalzgraf  am  Rhein, 
Herzog  von  Baiern-Simmern,  der  als  Kunst  und  Wissenschaften  liebender 
Fürst  — er  regierte  1480  bis  1509  — gerühmt  wird.  Von  diesem 
Fürsten  ist  er  zu  Trident  am  1.  Mai  1476  geschieden,  um  nach  Venedig 

2)  Pergrinatio  seu  passagium  ad  terram  sanctam  illustrissimi  principis  Alberti 

ducis  Saxoniae.  Mencken  II,  2103 — 2112. 

3)  Gründliche  vnd  warliafiftige  Beschreibung  DEr  löblichen  vnd  Ritterlichen  Reise 
vnd  Meerfart  in  das  heilige  Land  . . . Gestehet  durch  . . . Hansen  von  Mergenthal. 
Leipzig  1586. 

4)  Geyer,  Die  Pilgerfahrt  Ludwigs  des  Jüngeren  von  Eyb  nach  dem  heiligen 
Lände  (1476).  Archiv  für  Gesch.  u.  Altertumskunde  in  Oberfranken,  21.  Bd.,  1902. 

5)  Kamann,  Die  Pilgerfahrten  Nürnberger  Bürger  nach  Jerusalem  im  15.  Jahr- 
hundert. Mitteilungen  des  Vereins  f.  Gesch.  der  Stadt  Nürnberg,  2.  Heft,  S.  82  ff.  (1880). 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


353 


zu  reiten  und  von  da  über  Meer  zum  heiligen  Grab  zu  fahren,  und  diesem 
gibt  er  nun  ausführlichen  Bericht  über  seine  Fahrt  und  Widerfahrt. 

Am  7.  Mai  war  er  nach  Venedig  gekommen.  Da  die  einzige  noch 
verhandene  »Galia«,  ein  Fahrzeug  besserer  Qualität,  von  dem  Herzog 
Albrecht  von  Sachsen  bestellt  war  und  dieser  nur  seine  Landsleute  und 
»die  er  zu  ihm  gefordert  het«  in  die  Galia  aufnahm,  bestellten  die  an- 
deren Edelleute  aus  Schwaben,  Franken,  Thüringen,  Österreich  und  Welsch- 
landen eine  »Naffe«,  ein  schwerfälligeres  und  weniger  bequemes  Schiff, 
das  dem  aus  der  Eyb sehen  Pilgerschrift  bekannten  Patronen  oder  Schiffs- 
eigentümer Antonio  de  Steffani  gehörte.  Jeder  Pilger  mußte  ihm  für 
Fahrt  und  Verköstigung  34  Dukaten  bezahlen,  wozu  später  noch  für 
Tribut,  Geleit  und  Eselsgeld  im  heiligen  Lande  16  Dukaten  kommen 
sollten.  Daß  sich  Ketzel  so  wenig  als  andere  Pilger  auf  eine  aus- 
reichende Verköstigung  durch  den  Patron  verlassen  wollte,  zeigen  uns 
die  umfangreichen  Einkäufe  von  Viktualien,  die  sie  machten.  Am  24.  Mai 
fuhren  die  Galia  des  Herzogs  Albrecht  und  die  Naffe  gleichzeitig  ab. 

Aus  der  Reisebeschreibung  lernen  wir  Ketzel  ziemlich  deutlich 
kennen.  Er  hat  kriegerische  ritterliche  Interessen  und  verweilt  mit  an- 
schaulicher Ausführlichkeit  bei  den  notwendigen  Vorbereitungen  für  den 
Kampf  mit  Seeräubern,  zu  dem  es  jedoch  schließlich  nicht  kam,  weil 
ein  Sturm  die  feindlichen  Schiffe  trennte.  Als  später  noch  einmal  ein 
ähnlicher  Kampf  mit  zwei  Korsarenschiffen  bevorstand  und  die  Schiffs- 
leute die  Aussicht  auf  die  Erbeutung  eines  der  beiden  Schiffe  eröffneten, 
bemerkt  er  »des  ich  meins  Tayls  nie  froer  was«.  Auch  sonst  gab  er 
offenbare  Beweise  seines  Mutes.  Als  sie  von  Zypern  weggefahren  waren, 
wurden  sie  in  der  Nacht  durch  einen  starken  Gegenwind  wieder  zurück- 
geworfen. »Da  ging  ich  an  das  Land.  Also  warent  Hayden  da,  die 

wir  da  fungen«,  berichtet  er  ganz  trocken.  Er  ist  ferner  ein  sprachen- 

kundiger Mann.  Als  die  Schiffspatrone  nach  der  Ankunft  in  Jaffa  ihre 
Fahrgäste  durch  die  Vorspiegelung  eines  in  italienischer  Sprache  ge- 

schriebenen Briefes,  der  schlechte  Nachrichten  enthalten  sollte,  bewegen 
wollten,  gar  nicht  ans  Land  zu  gehen,  sondern  gleich  wieder  die  Heim- 
fahrt anzutreten,  da  war  er  es,  der  den  Betrug  entlarvte.  Er  verdeutschte 
dem  Herzog  Albrecht  die  in  seine  Hände  geratenen  Briefe. 

Es  scheint  mir,  als  ob  an  manchen  Stellen  ein  gewisses  kauf- 
männisches Talent  hervortrete.  Er  rechnet  nach,  was  den  Patronen  ge- 
zahlt werden  müßte;  er  kümmert  sich  um  die  Landesprodukte  der  Inseln, 
auf  denen  sie  landeten,  und  um  die  Kaufmannswaren,  namentliche  Zeuge, 
die  da  gefertigt  wurden  (S.  56).  Nicht  ohne  Humor  erzählt  er,  wie 

die  Heiden,  die  den  Pilgern  das  Geleit  nach  Jerusalem  gaben,  ver- 
sprachen, sie  wollten  ihnen  gar  gute  Gesellschaft  tun,  als  sie  je  Pilgern 


354 


Dr.  Christian  Geyer : 


getan  hätten  und  fährt  fort:  »Des  ich  meins  tayll  woll  innenn  ward, 
wan  ich  altag  rain  und  woll  von  ihn  gestoßen  und  auch  geschlagen 
ward.  Doch  wolt  ichs  also  haben,  wan  ich  zu  Jerus.  nie  recht  einkam 
und  all  Ding  erfaren  wolt,  das  die  andren  Bilgerim  nit  tetten.«  In 
Jerusalem  gelüstet  es  ihn  sehr,  den  Tempel  zu  sehen  — bekanntlich 
glaubte  man  im  Mittelalter,  die  Omarmoschee  sei  eine  getreue  Nach- 
ahmung des  Salomonischen  Tempels  — »den  haben,«  so  erzählt  er,  »die 
Hayden  in,  und  gar  in  großen  Eren,  und  land  (lassen)  kain  Cristen 
darein  gan  (gehen),  wan  sy  maynen,  das  die  Cristen  nit  wirdig  sind. 
. . . Ich  kam  ainsmals  darfür  ...  da  kam  ich  unter  die  fiirsthupfen  (Vor- 
stufen) und  wolt  schawen,  ob  ich  yendrett  (irgend)  hinein  möcht  sechen, 
da  kam  ain  Hayden,  und  gab  mir  gut  Straich«. 

Endlich  ist  er  ein  frommer  Mann,  ganz  im  Sinne  seiner  Zeit.  Er 
bucht  überall  den  Ablaß,  der  an  den  heil.  Stätten  zu  erhalten  ist,  berichtet, 
ohne  den  leisesten  Zweifel  zu  hegen,  die  wunderbarsten  Mirakel,  und 
man  kann  bei  der  Lektüre  seiner  Schrift  zweifelhaft  sein,  ob  er  mehr 
die  Pilgerfahrt  unternommen  hat,  um  den  reichen  Ablaß  zu  erwerben, 
oder  um  Ritter  des  heiligen  Grabes  zu  werden. 

Ketzel  hatte  sich  während  der  Pilgerfahrt  als  Knappe  an  einen 
oder  vielleicht  an  zwei  adelige  Herren  angeschlossen : Heinrich  von  Pyla 
und  Hans  von  Goldacker.  Da  er  zu  Anfang  seines  Reiseberichtes  in  der 
ersten  Person  erzählt  und  erst  von  dem  Augenblick  an,  als  die  Nafife 
bestellt  wurde,  das  Pronomen  »wir«  gebrau'cht,  ist  anzunehmen,  daß  er 
sich  erst  in  Venedig  in  des  Goldackers  Gefolge  begab,  der  mit  seinem 
thüringischen  Landsmann  Heinrich  von  Biela  gemeinschaftlich  reiste. 
Ketzel  erwähnt  die  beiden  Namen  erst,  als  er  von  der  Landung  bei 
Jaffa  erzählt  hat.  Sie  waren  — das  nämliche  berichtet  auch  Eyb  von 
sich  und  anderen  — mit  ihrem  Patron  Antonio  de  Steffani  aus  sehr 
triftigen  Gründen  uneins  geworden  und  fanden  für  die  Rückreise  Auf- 
nahme in  dem  Schiffe  des  Herzogs  Albrecht.  Ketzel  berichtet  darüber: 
»Item,  zu  Hand  für  ich  auf  des  Herzogen  Galya  und  dingt  da  Her 
Hanssen  von  Goldacker,  Her  Heinrich  von  Bila  und  mich  an  den  Patron, 
uns  wyder  herüber  zefuren,  und  gab  ihm  unsser  ainer  XVI  Ducaten«. 
Dazu  stimmt  nun  ganz  das  Pilgerverzeichnis,  das  der  mit  Ketzel  auf 
dem  gleichen  Schiffe  reisende  Eyb  seiner  Schrift  angefügt  hat.  Dort 
lesen  wir:6) 

»Heinrich  von  Pyla 

Hans  von  Goldacker 

Martin  Ketzel  sein  knecht.« 


6)  Geyer,  a.  a.  O.  S.  52. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


355 


Die  Tradition  berichtet,  daß  Martin  Ketzel  zweimal  ins  heilige 
Land  gezogen  sei  und  bringt  seinen  Namen  in  Verbindung  mit  den 
Stationsbildern  Adam  Krafifts.  Es  ist  zuzusehen,  ob  sich  das  uns  vor- 
liegende geschichtliche  Dokument  mit  dieser  Überlieferung  in  Einklang 
bringen  läßt  oder  nicht. 

Hier  ist  vor  allem  eine  wichtige  Vorfrage  zu  entscheiden:  Ist  der 
Martin  Ketzel  der  Nürnberger  Tradition  identisch  mit  dem  Martin  Ketzel 
aus  Augsburg,  dem  Verfasser  des  Itinerars  vor  1476. 

Ich  habe  früher  selber  an  dieser  Identität  gezweifelt,7)  allein  sie 
steht  mir  nunmehr  auf  Grund  archivalischer  Nachforschungen  unzweifel- 
haft fest.  Die  Augsburger  Steuerbücher  des  15.  Jahrh.  und  die  Nürn- 
berger Losungsbücher  lassen  erkennen,  daß  Glieder  der  nämlichen  Fa- 
milie Ketzel  sowohl  in  Augsburg  als  in  Nürnberg  Steuern  zahlten.  Der 
in  Augsburg  noch  im  Jahre  1435  steuernde  Heinrich  Ketzel  der  Ältere 
ist,  wie  sein  am  nordwestlichen  Außenportal  der  Sebalduskirche  vor- 
handener Grabstein  ausweist,  am  14.  Sept.  1438  in  Nürnberg  gestorben. 
Dazu  stimmt,  daß  im  Jahre  1439  im  Augsburger  Steuerbuch  an  Stelle 
seines  Namens  seine  »Bona«  auftreten  (1439 — 62).  Von  seinen  drei 
Söhnen  Heinrich,  Endres  und  Martin  finden  wir  den  ersteren,  Heinrich 
den  Jüngeren  in  Nürnberg  (Losungsbuch  1440.  Die  späteren  Libri  losun- 
garum  sind  nicht  mehr  vorhanden).  Nach  dem  Hallerschen  Geschlechter- 
buch von  1535  ist  er  1453  gestorben  und  zwar,  wie  aus  der  Inschrift 
des  oben  bereits  genannten  Leichensteins  zu  entnehmen  ist,  »am  montag 
nach  der  heiligen  drey  kunig  dag  im  1453  iar«,  also,  am  8.  Januar  1453. 
Die  beiden  anderen  Söhne  Endres  und  Martin  sind  in  Augsburg  ge- 
blieben. Endres  ist  gegen  1466  gestorben,  da  in  diesem  Jahr  sein  »Erb« 
im  Steuerbuch  steht.  Martin  steuert  von  1432  bis  1462.  Die  Ketzlin, 
die  von  1463  — 66  im  Steuerbuch  erscheint,  ist  offenbar  seine  Witwe. 
Unser  Martin  Ketzel  ist  ein  Sohn  dieses  älteren  Martin  Ketzel.  Die  An- 
gaben auf  dem  im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg  aufbewahrten 
(Wegweiser  f.  d.  Besucher  S.  117)  nach  1594  angefertigten  Stammbaume 
der  Familie  Ketzel,  wonach  sich  Heinrich  Ketzel  zu  Augsburg  mit  einer 
Ygelbrechtin  vermählte  und  dessen  Sohn  Martin  Ketzel  der  Ä.  1394  zu 
Augsburg  geboren  sei,  ist  durchaus  glaubwürdig.  Martin  Ketzel  d.  J., 
der  Verfasser  des  Itinerars,  steht  nicht  mehr  in  den  Augsburger  Steuer- 
büchern, daß  er  aber  in  Augsburg  geboren  und  erzogen  worden,  also 
sich  als  »Martin  Ketzel  aus  Augsburg«  bezeichnen  konnte,  steht  außer 
Zweifel.  Er  wird,  wie  das  die  Regel  war,  die  Pilgerfahrt  als  jüngerer, 
noch  nicht  selbständiger  Mann  unternommen  haben.  Wo  er  sich  nach 


7)  Geyer  a.  a.  O.  S.  9. 


356 


Dr.  Christian  Geyer: 


seiner  Rückkehr  verheiratet  und  niedergelassen  hat,  ist  nicht  bekannt 
Da  seine  Frau  eine  Haydnin  aus  Ulm  gewesen,  wird  er  wahrscheinlich 
dort  gelebt  haben;  jedenfalls  läßt  er  sich  später  weder  in  Augsburg  noch 
in  Nürnberg  nachweisen.  Daß  drei  Schwestern  von  ihm,  Anna,  Elsbeth 
und  Veronika  in  Augsburg  verheiratet  waren,  erfahren  wir  aus  dem 
Hallerschen  Geschlechterbuch.  Die  Ketzel  waren  — darin  stimmen  alle 
erhaltenen  Dokumente  und  Nachrichten  überein  — eine  wohlhabende 
sowohl  in  Augsburg  als  in  Nürnberg  seßhafte  Kaufmannsfamilie.  Das 
war  nichts  Außergewöhnliches.  Auch  andere  angesehene  Familien,  z.  B. 
die  Baumgärtner  und  Imhoff  waren  in  beiden  Städten  begütert.  Nach 
dem  bereits  erwähnten,  im  Germanischen  Museum  aufbewahrten  Stamm- 
baum und  dem  Hallerschen  Buch  war  er  ein  Sohn  Martin  Ketzels  d.  Ä. 
Seine  Mutter  war  eine  Ammederin  (Haller)  oder  Anriederin  (Stammtafel). 
Seine  Ehewirtin  ist  eine  Heidnin  aus  Ulm  gewesen,  die  nach  der  Stamm- 
tafel »Eva«  hieß.  Beide  Quellen  berichten,  daß  er  »kein  Erben  hinter 
im  gelassen«.  Während  Haller  einfach  anmerkt:  »er  ist  zum  heyligen 
Grab  gewest«,  sind  auf  der  Stammtafel  zwei  Abzeichen  der  Grabes- 
ritterschaft mit  den  Zahlen  1468  und  1472 ; wir  treffen  hier  auf  die 
Tradition,  daß  Martin  Ketzel  zweimal  am  heiligen  Grab  gewesen  sei. 
Also  Haller  (1535)  weiß  von  dieser  doppelten  Pilgerfahrt  noch  nichts; 
aber  zu  Ende  des  16.  Jahrhunderts  ist  die  Erweiterung  der  Tradition 
geschehen  und  wir  begegnen  ihr  nun  immer  wieder.  Neben  dem  Stamm- 
baum hängt  im  Germanischen  Museum  eine  am  letzten  August  1595  an- 
gefertigte Ketzelsche  Gedenktafel.  Diese  ist  in  zehn  Felder  geteilt; 
die  letzten  beiden  sind  leer,  die  anderen  acht  enthalten  Bilder  und 
Wappen  jener  Ketzel,  die  Pilgerfahrten  nach  Jerusalem  unternommen 
haben.  Die  dazu  gehörigen  Inschriften  lauten: 

»Heinrich  Ketzel  zug  zum  heyligen  Grab  und  auf  Sant  Katherina 
Pergk  Synay  1389  Jar.  Jorg  Ketzel  zug  zum  heyligen  Grab  mit  Mark- 
graf Friderich,  Churfürst  auß  der  Marek,  1453.  Ulrich  Ketzel  für  auf 
dem  Wasser  auß  dem  Niderland  zum  heyligen  Grab  1462  Jar.  Mertein 
Ketzel  zug  zwir  zum  heyligen  Grab  mit  hertzog  Ott  von  Bairn  1468  und 
mit  hertzog  Albrecht  von  Sachsen  1472.  Wolf  Ketzel  zug  zum  heyligen 
Grab  mit  hertzog  Friderich  von  Sachsen  Churfürst  und  hertzog  Christoff 
von  Bairn  1493  Jar.  Jorg  Ketzel  zug  zum  heyligen  Grab  mit  hertzog 
Heinrich  von  Sachsen  1498  Jahr.  Sebolt  Ketzel  zug  auch  mit  herzog 
Heinrich  von  Sachsen  zum  heyligen  Grab  1498.  Michel  Ketzel  zug  zum 
heyligen  Grab  mit  Graf  Herman  von  Henenpergk  1503  Jar.« 

Daß  wir  es,  was  die  Jahreszahlen  der  Ketzelschen  Pilgerreisen  be- 
trifft, mit  einer  recht  zweifelhaften  Tradition  zu  tun  haben,  ist  sofort  er- 
sichtlich. Denn  Herzog  Otto  von  Bayern,  mit  dem  er  die  erste  Fahrt 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


357 


soll  unternommen  haben,  war  nicht  1468,  sondern  1460  in  Jerusalem.8) 
Herzog  Albrecht  von  Sachsen  aber  unternahm  seine  Pilgerfahrt  nicht 
1472,  sondern  wie  wir  wissen  1476.  Die  Tradition,  einmal  entstanden, 
erhielt  sich.  So  finden  wir  jetzt  noch  in  der  »Süden«  (Betsal)  ein  kleines 
Glasbild,  das  ein  Allianzwappen  und  vier  Ordenszeichen  aufweist;  dabei 
steht  »Mertha  ketzell  1468  1472«. 

Wann  dieses  Glasbild  entstanden  ist,  wissen  wir  nicht,  aber  es  ist 
wohl  möglich,  daß  es  noch  etwas  früher  angesetzt  werden  darf,  als  die 
glücklicherweise  datierte  Gedächtnistafel.  Das  Bild  gehörte  zu  einer 
größeren  Serie  zum  Stubenschmuck  bestimmter  Wappen;  ein  weiteres 
(leider  zerbrochenes)  Stück  findet  sich  in  der  »Süden«  mit  der  Inschrift 
Heinrich  ketzell  1389,  fünf  ähnliche  im  Germanischen  Museum  (Kreuz- 
gangflügel 48) 

»Jorg  ketzell  1453 
Vlrich  ketzell  1462 
wolf  ketzell  1493 
Jorg  ketzell  1498 
Sebolt  ketzell  1498«. 

Ganz  ähnliche  an  die  Wand  gemalte  Allianzwappen  der  acht  am 
heil.  Grab  gewesenen  Ketzel  wurden  im  Jahre  1902  im  Zimmer  29/30 
des  ersten  Stockes  im  »Weinstadel«  entdeckt  und  aus  Versehen  wieder 
übertüncht.  Es  scheint,  daß  verschiedene  Kirchen,  Anstalten  usw.  be- 
gründeten Anlaß  hatten,  das  Andenken  der  1588  ausgestorbenen  Familie 
in  Ehren  zu  bewahren.  So  erklären  sich  die  vielen,  immer  auf  die 
Gesamtfamilie  sich  beziehenden  Gedächtnisbilder. 

Will  beschreibt  in  seinen  »Münzbelustigungen«  ein  1696  beim 
Brand  der  Ägidienkirche  zerstörtes  »Rittergedächtnis«  der  Ketzel;  da 
lesen  wir  IV,  183  ff.  übereinstimmend  mit  den  eben  geschilderten  Denk- 
mälern: 

»Das  vornehmste  und  seltenste  von  diesem  Geschlechte  ist,  daß 
ihrer  so  viele  den  Ritterstand  geftihret,  mit  Fürsten  und  Herren  große 
Reisen  getan  und  zum  heiligen  Grabe  gezogen  sind.  Dieser  Ritter  Ge- 
dächtnis war  in  der  alten  Egidien-Kirche,  in  einem  Fenster  daselbst  auf 
der  Emporkirche  an  der  Mittagsseite,  und  verdient,  weil  es  A.  1696  mit 
der  Kirche  abgebrannt  ist,  der  Vergessenheit  entrissen  und  auf  bewahrt 
zu  werden.  Es  ist  folgenden  Inhalts: 

1.  Ich  Heinrich  Ketzel  zug  zum  H.  Grab  und  auf  St.  Catharinä 
Berg  A.  1389. 


*)  Röhricht  u.  Meisner,  Deutsche  Pilgerfahrten  n.  d.  heil.  Lande,  1880  S.  481. 


358 


Dr.  Christian  Geyer: 


2.  Ich  Georg  Ketzel  zug  zum  H.  Grab  mit  Marggraf  Friedrich, 
Churfürsten  aus  der  Mark  A.  1453. 

3.  Ich  Ulrich  Ketzel  fuhr  auf  dem  Wasser  aus  den  Niederlanden 
zum  H.  Grab  A.  1462. 

4.  Ich  Martin  Ketzel  zug  zwier  zum  H.  Grab,  mit  Herzog  Ott  von 
Bayern  A.  1468.  und  mit  Herzog  Albrecht  von  Sachsen  A.  1472. 

Bey  ihm  sitzt  St.  Hieronymus  mit  bloßem  Haubte,  rothem  Cardinal- 
Rocke,  darunter  ein  weißes  Gewand,  auf  seinem  Pult  ein  Cruxifix,  unter 
und  neben  ihm  liegt  ein  Löwe.  St.  Hieronymus  schreibt  in  einem  Buche. 
Neben  ihm  kniet  der  Ketzel,  als  Ritter,  hinter  ihm  das  Wappen  habend.« 

Endlich  finden  sich  mehrfach,  offenbar  auf  dieses  »Rittergedächtnis« 
zurückgehende  alte  Kupferstiche  der  acht  Ketzel,  die  Pilgerfahrten  unter- 
nommen haben.  Martin  Ketzel  ist  im  Harnisch  dargestellt.  Oben  zwei- 
mal das  Zeichen  des  Grabesritterschaft,  unten  die  Embleme  Blumentopf 
und  Schwert  mit  einem  S-förmigen  Band  umwunden,  jenes  vielleicht  das 
Zeichen  des  Arragonischen  Ritterordens  der  Blumentöpfe  ödendes  Navar- 
raschen  Ordens  S.  Maria  von  der  Lilie  (Will  IV,  181),  dieses  das  Ordens- 
zeichen Equitum  Ensiferorum  Cypri.  S = Silentium  (Will  IV,  180  f.)? 

Unter  dem  Bild  ist  das  Wappen  und  in  einer  von  zwei  Adlern 
gebildeten  Umrahmung  die  Schrift: 

»Martin  Kötzel  zug  zwey 
mal  zum  Heiligen  grab  mit 
Hertzog  Ott  von  Bairn  1468. 
und  mit  Hertzog  Albrecht 
von  Sachsen  1472«. 

Was  ist  also  von  der,  wie  Daun  meint,  »nur  sagenhaften, 
jedoch  nicht  unglaubwürdigen  Sage«  von  der  zweimaligen 
Reise  ins  heilige  Land  zu  halten?  Da  die  Pilgerschrift  Ketzels 
davon  auch  nicht  die  leiseste  Spur  enthält,  daß  es  sich  im 
Jahre  1476  um  einen  zweiten  B.esuch  des  heiliger  rabes 
handle,  da  auch  die  zeitlich  ihr  am  nächsten  steheno  Tradi- 
tion (Hallersches  Geschlechterbuch  von  1535)  noch  nichts 
von  einer  zweimaligen  Pilgerfahrt  weiß,  offenbar  gar  nichts. 
Diese  Sage  ist  nicht  nur  »sagenhaft«,  sondern  auch  »unglaub- 
würdig«. Wir  wissen  in  historisch  ein  wandsfi  oder  Weise  ledig- 
lich von  einer  Fahrt  Martin  Ketzels  ins  heilige  Land,  die  im 
Jahre  1476  stattfand. 

Die  Tradition  bringt  Martin  Ketzel  in  Beziehung  zu  den  Adam 
Krafftschen  Stationsbildern  oder,  wie  die  Alten  sagten,  zu  den  sieben 
Fällen  Christi.  Diese  von  Daun  für  pure  Geschichte  genommene  Über- 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


359 


lieferung  dürfte  noch  »sagenhafter«  sein,  als  die  Erzählung  von  den  zwei 
Reisen.  Denn  während  diese  wenigstens  zu  Ende  des  16.  Jahrhunderts  nach- 
weisbar ist,  treffen  wir  erst  ioo  Jahre  später  auf  die  erste  Spur  jener.  Gugel 
bringt  nämlich  in  seinem  1682  zu  Nürnberg  gedruckten  Buche  »Norischer 
Christen  Freydhöfe  Gedächtnis«  S.  310  zuerst  folgende  Geschichte: 

»Im  übrigen  ist  auch  hierbey  zu  wissen,  daß  ein  Uhraltes  Adeliges 
Geschlecht  gewesen,  die  Kötzel  genannt,  deren  8.  allein  von  ihnen  nacher 
Jerusalem  gezogen,  und  Ritter  des  Catharinen  Bergs  und  H.  Grabes  wor- 
den seynd,  darunter  einer,  Martin  Kötzel  genannt,  sich  in  diesen  H.  Landen 
umgesehen  und  alles  fleissig  observiret  und  notiret,  auch  sich  bemühet, 
von  der  Stadt  Jerusalem  die  Schritt  zu  zehlen,  wie  weit  von  des  Pilati 
Hauß  zu  jedem  Ort,  da  der  HErr  Christus  in  seiner  Creutzigung  und 
Tode  gew'andlet.  Als  nun  aber  inzwischen  er  wiederum  hier  angelangt, 
und  die  Bemerckung  verlohren,  ist  solcher  de  novo  wieder  hineingereist, 
und  solches  nochmahlen  abgemessen,  und  zur  Gedächtnus  diese  in  Stein 
durch  damahligen  künstlichen  Meister  und  Steinmetzen  Adam  Krafft  ver- 
fertigen und  zurichten  lassen,  als  noch  vor  Augen  und  zu  sehen  ist,  an 
unterschiedlichen  Gärten-Wanden,  bis  hin  an  S.  Johannis  Kirchhof.  Wiedann 
obgedachter  seel.  herr  Kötzel  von  dem  damahligen  Rietherischen,  nach- 
mals Topplerischen  Hauß  bey  dem  Thürgärtner  Thor,  sowie  das  zu  HErrn 
Christi  Lebszeiten  Pilati  Hauß  zu  Jerusalem  solle  gelegen  und  gebauet 
worden  seyn,  angefangen  hinaus  vor  die  Stadt  zu  rechnen,  auch  den  An- 
fang bei  dem  Rietherischen  Garten  genommen,  daselbsten  die  Ausführung 
Christi,  und  Begegnung  seiner  lieben  Mutter,  welche  in  Ohnmacht  sinket, 
zu  sehen,  mit  dieser  Unterschrift«  usw. 

Sehen  wir  zu,  ob  die  Ketzelsche  Pilgerschrift  von  1476  etwas  ent- 
hält, was  sich  mit  dieser  Tradition  in  Zusammenhang  bringen  läßt. 

Damit  jedermann  selber  urteilen  möge,  sei  die  Beschreibung,  die  Ketzel 
in  seinem  Itinerar  von  der  Via  dolorosa  gibt,  mitgeteilt. 

»Item,  des  ersten  kamen  wir  für  den  Tempel  des  hailigen  Grabs, 
und  der  Verg  Calvaria  ist,  da  Gott  der  Her  worden  ist  gekreuzigot. 
Aber  wurdenn  dismal  nit  darein  gelassen;  doch  kniegten  wir  nider 
und  empfiengen  Ablas. 

Item,  vor  der  Kirchenthür  pey  zechenn  Schritt  her  dan  ist  die 

Statt,  da  Gott  der  Her  untter  dem  Creutz  niedergesuncken  ist.  Er 

hatt  auch  offt  daselbst  geruet,  wan  er  fürgieng  und  da  sach  die  Stat 
Calvarie,  da  er  für  uns  armen  Sünder  sterben  wolt.  Ablas  f. 

Item,  ausserhalb  for  dem  Tempell  stund  fier  Capeln,  die  yetz  die 
Haydenn  inhabent,  und  die  Cristen  kumen  nit  darein.  Die  ain  ist  ge- 
weicht in  der  Eren  der  Muter  Gottes  und  Sant  Johanes  Evangelisten. 
Da  ist  Ablas  f. 

Repertorium  Tür  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


25 


3Öo 


Dr.  Christian  Geyer: 


Item,  die  ander  Capell  ist  geweicht  in  der  Erenn  aller  hayligen 
Engell.  Da  ist  auch  Ablas  f. 

Item,  die  drit  Capell  ist  geweicht  in  der  Erenn  Sant  Johannes  des 
Tauffers.  Ablas  f. 

Item,  die  fiert  Capell  ist  geweicht  in  der  Eren  der  Liebhaberin 
Santa  Maria  Magdalena.  Ablas  f. 

Item,  darnach  gett  man  furbas,  und  get  die  Stat  Jerus.  abwärts, 
so  kumpt  man  des  ersten  zu  Veronica  Haus.  Daselbst  hat  si  unserm 
Heren  das  Tuch  geben,  darein  er  sein  hailiges  Antlit  drucket,  als  es 
dan  noch  zu  Rom  ist.  Ablas  f. 

Item,  darnach  kumpt  man  zu  des  reichen  Mans  Haus,  der  dem 
armen  Lasaro  die  Prossen  versaget,  die  von  seim  Tisch  hellen.  Stett 
noch  gantz  da,  das  ain  Haid  darinn  want.  Ablas  f. 

Item,  darnach  so  schlecht  man  herum  in  der  gelincken  Hant,  und  kumptt 
an  ain  Eg,  gand  drey  Weg  zusamen ; daselbst  zwungen  die  Juden  den  Simonem 
Ziraneum,  das  er  unserm  Heren  must  helffen  das  Creutz  tragen.  Ablas  f. 

Item,  darnach  ain  klain  Weg  fiirbas  kumpt  man  an  die  Statt,  da 
sich  Cristus  untter  dem  Creutz  umbkert,  und  sprach  zu  den  andechtigen 
Frawen,  die  umb  ihn  wainten:  Ir  Töchtern  von  Syon,  waint  nit  über 
mich,  sunder  waint  über  euch  und  ewre  Kinder  u.  s.  w.  Da  ist  Ablas  f. 

Item,  darnach  kumpt  man  zutz . ainer  zerbrochen  Kirchen  ist  unsser 
Frawen  Capell.  Daselbst  ist  die  Mutter  Gottes  gestanden,  als  si  unsern 
Heren  hatt  gesechen  das  Creutz  tragen,  und  ist  da  for  großem  Hertzen- 
layd  in  Unmacht  nidergesuncken.  Ablas  f. 

Item,  darnach  kumpt  man  furbas,  da  stett  ain  Schwibogen  über  die 
Gassen,  dardurch  man  gett;  darinn  stend  zwen  weis  Stain,  darauff  ist 
unser  Her  J.  C.  gestanden,  als  er  ihn  verurtaylt  hatt,  und  als  er  ihn  den 
Juden  zaigt,  da  er  sprach  ecce  homo.  Dieselben  zwen  Stain  hatt  Santa 
Helena  lassen  hineinmauren  zu  ewigen  Gedechtnüs,  wobich  (wo  icht) 
Cristen  da  furgand.  Ablas  f. 

Item,  darnach  kumpt  man  zu  der  Schul,  da  unser  liebe  Fraw  die 
hayligen  Geschrifft  gelernot  hat.  Ablas  f. 

Item,  darnach  kumpt  man  zu  des  Gleisners  Haus,  da  unsser  lieber 
Her  Sant  Maria  Magdalena  ir  Sund  vergeben  hat.  Ablas  f. 

Item,  darnach  kumpt  man  zu  Pilatus  Haus,  stett  zu  der  gelingen 
Hand,  darinn  Got  der  Her  gegaislot  und  zu  dem  Tod  verurtaylt  ward; 
stett  noch,  aber  es  want  Niemant  darinn.  Ablas  f.« 

Man  vergleiche  mit  dieser  Ketzelschen  Via  dolorosa  die  Unter- 
schriften unter  den  Krafftschen  sieben  Fällen: 9) 


9)  r>aun,  Adam  Krafft  und  die  Künstler  seiner  Zeit.  Berlin  1897,  S.  65 — 69. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


361 


»1.  Hir  begegnet  Christus  seiner  wirdigen  lieben  Mutter  die  vor 
großen  herzenleit  anmechtig  ward  II c schrit  von  Pilatus  haws. 

2.  Hir  ward  Simon  gezwungen  Christo  sein  kreutz  helfen  tragen 
IICLXXXXV  (295)  schrit  von  Pilatus  Haus. 

3.  Hir  sprach  Christus  Ir  Dochter  Jherusale’  nit  weynt  über  mich 
sunder  über  euch  un’  ewre  kinder  IIPLXXX  schritt  vo’  pilat’  haws. 

4.  Hier  hat  Cristus  sein  heiligs  angesicht  der  heiligen  Frau  Vero- 
nica  auf  iren  Slayr  gedruckt  vor  irem  Haws  Vc  (500)  Sritt  von  Pilatus 
Haws. 

5.  Hier  tregt  Christus  das  Creutz  und  wird  von  den  Juden  ser 
hart  geslagen  VIICLXXX  (780)  Srytt  von  Pilatus  Haus. 

6.  Hier  feit  Christus  vor  großer  anmacht  auf  die  Erden  bei  Mc 
(iooo)10)  Srytt  von  Pilatus  haus. 

7.  Hier  leyt  Christus  vor  seiner  gebenedeyten  wirdigen  muter,  die 
in  mit  großem  Hertzenieyt  und  bitterlichen  smertz  claget  und  beweynet.« 

Man  sieht  sofort,  daß  Angaben  der  Entfernungen  der  Stationen  von 
einander  oder  vom  Haus  des  Pilatus,  wie  sie  auf  den  Krafftschen  Bild- 
werken stehen,  bei  Ketzel  vollständig  fehlen.  Da  der  Weg  bei  Ketzel 
vom  heiligen  Grab  zum  Pilatushaus  beschrieben  ist,  erscheinen  die  Sta- 
tionen in  entgegengesetzter  Reihenfolge  wie  bei  den  sieben  Fällen.  Zwei 
Stationen  der  Krafftschen  Reihe,  die  siebente  und  fünfte,  werden  von 
Ketzel  nicht  erwähnt.  Während  jene  indes,  wie  begreiflich  ist,  bei  der 
Schilderung  des  Inneren  der  Grabeskirche  noch  genannt  wird,  ist  von 
dieser  überhaupt  nicht  die  Rede.  Ja  noch  mehr;  die  aufgeführten  und 
beiden  gemeinsamen  Stationen  erscheinen  bei  Ketzel  in  der  Reihenfolge 
6 — 4 — 2 — 3 — 1,  die  zweite  und  dritte  Station  haben  den  Platz 
bei  Ketzel  und  Krafft  vertauscht.  Kurz,  die  Differenz  zwischen  dem, 
was  wir  der  Tradition  zufolge  in  einem  Ketzelschen  Itinerar  erwarten 
mußten  und  dem,  was  uns  dieses  in  Wahrheit  darbietet,  könnte  kaum 
größer  sein.  Die  Krafftschen  Stationen  haben  offenbar  mit  Martin 
Ketzel  gar  nichts  zu  schaffen  und  dieser  weiß  nichts  von  jenen- 
Anstatt  einer  jungen  und  in  sich  widerspruchsvollen  Tradition  nachzu- 
gehen und  mit  subjektiver  Willkür  zu  bestimmen,  was  an  derselben 
glaubwürdig  oder  unglaubwürdig  sein  dürfte,  empfiehlt  es  sich  die  Bahn 
der  Geschichte  aufzusuchen  und  zuzusehen,  was  uns  denn  vor  dem 
Auftauchen  der  Ketzelsage  über  die  Stationen  berichtet  wird. 


*°)  Soll  heißen  1 100. 


25 


362 


Dr.  Christian  Geyer : 


II. 

Geschichtliche  Nachrichten  über  die  Krafftschen  Stationen. 

Die  älteste  Nachricht  über  die  Stationen  verdanken  wir  dem  be- 
kannten Schreibmeister  Neudörfer,11)  in  dessen  »Nachrichten  von  Künst- 
lern und  Werkleuten  aus  dem  Jahr  1547  folgender,  von  einem  anderen 
Autor  herübergenommener  Satz  zu  lesen  ist: 

»Vor  dem  Thiergärtner  Thor,  da  hat  er  in  Stein  gehauen  und  auf- 
gerichtet die  sieben  Fälle  Christi  bis  hinaus  ad  montem  Calvariae  zu 
der  Capellen  bei  St.  Johannis,  dasselbige  große  Creuz,  mit  samt  den 
2 Schächern,  auch  die  Bilder  neben  und  gegen  dem  Kreuz,  darnach  die 
Begräbniß  im  Capellein,  samt  den  Bildern  daselbst.« 

Eine  andere,  etwas  erweiterte  und  jüngere  Leseart  der  nämlichen 
Stelle  lautet:12) 

»Ao  1508  hat  er  vor  dem  Thiergärtner-Thor  in  Stein  gehauen  und 
auffgericht  die  Siebenfäll  Christi,  welche  man  gemeinlich  nennet  bei  den 
sieben  Kreuzen,  bis  hinaus  ad  montem  Calvariae,  zu  den  Capellein  bei 
St.  Johannis,  zu  den  heiligen  Grab  genanndt,  dasselbig  grosse  Creuz,  mit 
samt  den  zween  Schäger,  auch  die  Bilder  neben  und  gegen  dem  Creuz, 
darnach  die  Begräbnuß  im  Capellein,  samt  den  Bildern  daselbst.« 

Die  in  der  Nürnberger  Stadtbibliothek  vorhandene,  aus  der  Will- 
schen  Bücherei  stammende,  handschriftliche,  undatierte  »Kurtze  Erzeh- 
lung«T3)  mit  dem  S.  9 beginnenden  »Lob  etlicher  Künstler«  ist  eine 
Entlehnung  aus  Neudörfer  (oder  dessen  Vorlage?): 

»Vorm  Thiergärtner  Thor  hat  Er  in  einem  Stein  gehauen,  die  7 fäll 
Christi,  biß  hinaus  ad  montem  Calvariae,  zum  Capelle  bey  St.  Johannes, 
das  selbe  grose  Creütz  mit  sampt  den  Zweyen  Schechern,  auch  die 
Bilder  neben  und  gegen  den  Creüz  über,  darnach  die  Begräbnus  in  Ca- 
pellein hat  Er  mit  noch  viel  andrer  Sach  gemacht.« 

Auf  lange  Zeit  hinaus  begegnen  wir  nur  dieser  nüchternen  Neu- 
dörferschen  Tradition.  Noch  Sandrart  schreibt  im  Jahre  1675: 

»Vor  dem  Thiergärtner-Thor  in  Stein  die  so  genannte  sieben  Fäll 
Christi  bis  an  den  Berg  Calvariae  hinaus,  zum  S.  Johannes  Capellein, 
wohin  er  auch  das  grosse  Creuz  mit  den  zweyen  Schächern,  und  die 
Bilder  neben  und  gegen  dem  Creuz,  samt  der  Begräbnis  in  dem  Capellein 
gemacht.« 


")  Lochner,  Des  Johann  Neudörfer  Nachrichten  von  Künstlern  und  Werkleuten 
aus  dem  Jahre  1547.  Wien  1875,  S.  ioff. 

”)  Wanderer,  Adam  Krafift  und  seine  Schule.  Nürnberg  1869,  S.  3. 

•3)  Manuscr.  Will  III,  919. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


363 


Das  Charakteristische  dieser  ältesten  Nachrichten  über  das  Stationen- 
werk ist  1.,  daß  die  sieben  Fälle  vom  Tiergärtnertor  bis  zur  Kapelle 
bei  St.  Johannis,  d.  h.  bis  zu  der  sogen.  Holzschuherkapelle,  dem  Ber- 
gungsort der  Krafftschen  Grablegung,  gehen;  2.  daß  die  »Begräbniß  im 
Capellein«,  also  eben  die  von  Krafft  geschaffene  Grablegungsgruppe  in 
der  Holzschuherkapelle,  mit  zu  dem  Stationenwerk  gerechnet  wird,  und 
3.  daß  jede  Beziehung  auf  Martin  Ketzel  als  den  Stifter  des  Kreuz- 
wegs fehlt. 

Um  mit  dem  dritten  Punkt  zu  beginnen,  so  ist  das  Schweigen  über 
den  Stifter  der  Stationen  um  so  merkwürdiger,  als  Neudörfer  bei  den 
anderen  Werken  des  Meisters  fast  immer  angibt,  in  wessen  Auftrag  sie 
gemacht  worden  seien.  Die  Neudörferschen  Nachrichten  sind  mehrfach 
abgeschrieben  und  ergänzt  worden,  worüber  man  Lochners  Ausgabe  nach- 
sehen  möge,  aber  eine  den  Stifter  der  Stationen  betreffende  Ergänzung 
suchen  wir  vergebens.  Schon  zu  Neudörfers  Zeit  war  der  Name 
des  Stifters  vergessen,  aber  die  Sage  hatte  sich  des  Gegen- 
standes noch  nicht  bemächtigt,  um  irgend  ein  berühmtes  Nürn- 
bergisches  Geschlecht  mit  den  Stationen  in  Zusammenhang  zu  setzen. 

Die  ältesten  Nachrichten  bringen  ferner  die  Stationen  in  Verbindung 
mit  der  einstmals  am  St.  Johannisfriedhof  stehenden,  später  aber  in  den 
auch  nach  dieser  Seite  erweiterten  Begräbnisplatz  nachträglich  ein- 
bezogenen Grabkapelle.  Es  ist  dies  selbstverständlich  nicht  das  »Jo- 
hanniskirchlein«, wie  Daun  anzunehmen  scheint,  sondern  die  sogenannte 
Holzschuherkapelle.  Dieselbe  heißt  auch  die  Kapelle  zum  heil.  Grab, 
nach  den  Nürnberger  Fremdenführern  wegen  einer  angeblichen  Ähnlich- 
keit mit  dem  heil.  Grab  in  Jerusalem,  von  der  ich  allerdings  auch  nicht 
die  leiseste  Spur  habe  entdecken  können,  in  Wahrheit  natürlich  wegen 
der  in  ihr  geborgenen  Grablegung  Adam  Kraffts.  Dieses  heilige  Grab 
ist  im  Jahre  1508  jedenfalls  bereits  aufgestellt  gewesen,  denn  die  dazu 
gehörige  Nischenmalerei  trägt  diese  Jahreszahl.  Ob  das  Grab  anfangs 
ebenso  wie  die  Stationen  im  Freien  stand  und  die  Kapelle  erst  später 
angebaut  wurde,  muß  späterer  Untersuchung  Vorbehalten  bleiben.  Daß 
die  Grabesnische  nicht  harmonisch  mit  der  Kapelle  verbunden,  sondern 
ihr  mehr  angehängt  ist,  weiß  ja  jeder  Besucher  aus  eigener  Anschauung. 

Sehr  auffallend  ist  es,  daß  Daun  den  so  natürlichen  und  not- 
wendigen Zusammenhang  der  Stationen  mit  der  Grablegung  übersehen 
hat,  obwohl  er  selbst  davon  redet,  daß  die  Holzschuhersche  Kapelle 
früher  außerhalb  des  Kirchhofes  stand.  J5)  Soviel  mir  bekannt  ist,  findet 

n)  Sandrart,  Teutsche  Academie  der  Edlen  Bau-  Bild-  und  Mahlerey-Künste. 
1675,  S.  221. 

15)  Daun,  Adam  Krafft,  S.  81. 


264  Di'.  Christian  Geyer:  Zur  Gesch.  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 

jedes  alte  Stationenwerk  seinen  Endpunkt  in  einer  Grablegung.  So  en- 
digten beispielsweise  die  Görlitzer  Stationen  beim  heiligen  Grab  in  der 
Kreuzkirche  daselbst.16)  Ebenso  war  es  bei  den  alten  Stationen  in  Rom, 
Venedig  und  Antwerpen.  Auch  das  von  Daun  angeführte  Büchlein  aus 
dem  Jahr  1521  (Daun,  Adam  Krafft,  S.  72)  »Die  maynung  diß  büchleins, 
die  geystlich  Straß  bin  ich  genant  Im  leyden  Christi  wohl  bekant«,  das 
sich  vielfach  an  die  Kraötschen  Stationen  anlehnt,  hat  als  letztes  Bild 
eine  Grablegung,  zu  der  die  Krafftsche  Gruppe  als  Vorbild 
diente. 

Wir  werden  später  sehen,  daß  ein  besonders  naher  Zusammenhang 
zwischen  den  Nürnberger  und  Bamberger  Stationen  obwaltet.  Lediglich 
die  Tatsache,  daß  die  Bamberger  Stationen  mit  einer  großen  Grablegung 
in  der  Kirche  St.  Getreu  abschließen,  hätte  mindestens  die  Frage  nahelegen 
sollen,  was  denn  in  Nürnberg  den  Abschluß  bildet,  wenn  nicht  die  Grab- 
legung. Der  Calvarienberg  sicher  nicht;  denn  nach  ihm  finden  wir  ja 
erst  die  siebente  Station,  die  Beweinung  Jesu.  Wer  heute  noch  den 
Kralftschen  Stationen  folgt  und  sich  vorstellt,  daß  die  Grablegung  mit 
der  Holzschuherkapelle  ehemals  nicht  von  der  Kirchhofmauer  umschlossen 
wurde,  kann  zu  gar  keinem  anderen  Ergebnis  kommen,  als  daß  hier,  wo 
der  gekreuzigte  Leib  seine  Ruhe  findet,  das  Ende  der  Stationen  sei. 
Hätte  Daun  seinen  Augen  und  der  historischen  Tradition  getraut,  statt 
sich  von  einer  ganz  haltlosen  und  widerspruchsvollen  Sage  blenden  zu 
lassen,  die  er  nicht  auf  ihren  Ursprung  verfolgte,  so  hätte  er  der  Wahr- 
heit über  die  Stationen  näher  kommen  müssen,  als  es  nunmehr  ge- 
schehen ist. 


l6)  Hoffmannus,  Script,  rer.  Lusit  1719,  Tom  I,  pars  altera  S.  i6f.  Vgl.  den 
Plan  von  Görlitz  am  Schluß  der  Introductio  und  die  »Abbildung  der  Ausführung  Christi 
zu  seinem  schmertzl.  Leyden,  nebst  Vorstellung  des  so  genannten  heil.  Grabes  und  der 
Creütz-Kirche  in  Görlitz  1719«. 


(Schluß  folgt.) 


Dürers  Dresdener  Skizzenbuch. 

Bemerkungen  zu  der  Ausgabe  von  Dr.  Bruck. 

Von  Ludwig  Justi. 

Während  bisher  nur  wenige  Blätter  des  Dresdener  Skizzenbuches  in 
Photographien  Vorlagen,  ist  jetzt  bei  Heitz  in  Straßburg  eine  umfassende 
Ausgabe  in  vortrefflichen  Reproduktionen  erschienen,  eine  wertvolle  Er- 
gänzung zu  dem  Lippmannschen  Werke.  Den  Tafeln  geht  ein  Text  von 
Dr.  Bruck  voraus:  ein  beschreibendes  Verzeichnis  und  eine  Einleitung; 
beide  sind  durchaus  nicht  so,  wie  sie  sein  sollten.  Aus  der  langen  Ein- 
leitung kann  man  nichts  lernen.  Der  Leser  dürfte  doch  wohl  erwarten, 
in  Kürze  und  Klarheit  über  das  spezielle  Gebiet  dieser  Zeichnungen, 
vor  allem  Dürers  Proportionsstudien,  orientiert  zu  werden:  welche  Prin- 
zipien darin  sind,  wie  diese  sich  gruppieren  und  aufeinander  folgen.  In 
dem  Verzeichnis  wäre  die  einzigartige  Gelegenheit  gewesen,  den  Leser 
ohne  Mühe  in  den  Sinn  dieser  auf  den  ersten  Blick  so  verworrenen 
Bestrebungen  des  Meisters  einzuführen.  Wenn  dem  Herausgeber  diese 
Dinge  nicht  interessant  genug  waren,  so  hätte  er  doch  lieber  seinen  Text 
unterdrücken  sollen,  und  wenn  er  glaubte,  daß  auch  der  Käufer  des 
Werkes  sich  nicht  dafür  interessiere,  so  hätte  füglich  die  ganze  Ausgabe 
unterbleiben  können. 

I. 

Daß  sich  der  Herausgeber  wirklich  nicht  für  seine  Materie  inter- 
essiert, zeigen  zahlreiche  Irrtümer.  Es  ist  von  niemandem  zu  verlangen, 
daß  er  ein  Kenner  Dürerscher  Proportionsstudien  sein  solle,  namentlich 
dieser  späteren  Zeit  (wo  sie  mit  seinem  eigentlichen  künstlerischen  Schaffen 
nichts  mehr  zu  tun  haben);  wenn  man  aber,  wie  es  für  einen  Heraus- 
geber doch  unvermeidlich  ist,  mehrere  Stunden  mit  den  Blättern  hantiert, 
so  verraten  derartige  Irrtümer  eine  eminente  Interesselosigkeit.  Nur  so 
ist  es  zu  erklären,  daß  Bruck  Erscheinungen  falsch  deutet,  die  er  an 
anderen  Stellen  zu  erkennen  nicht  umhin  kann. 

Auf  Tafel  83  ist  eine  Profilfigur  reproduziert.  Die  Maße  sind,  wie 
gewöhnlich,  in  Bogen  hineingeschrieben,  die  einen  Punkt  mit  dem  anderen 
verbinden.  Nun  korrigiert  Dürer  diese  Figur,  verbreitert  sie  an  einer 


366 


Ludwig  Justi: 


Seite,  rechts,  schreibt  wiederum  die  Maße  mit  Bogen  hinein;  so  treffen 
an  den  Hauptstellen  je  zwei  Bogen  zusammen,  von  oben  und  unten: 
Bruck  hält  das  für  Durchschnitte  des  Körpers!  Wer  freilich  das  Blatt 
in  die  Hand  nimmt,  ohne  je  Dürersche  Proportionsstudien  gesehen  zu  haben, 
der  könnte  das  vielleicht  auf  den  ersten  Blick  meinen,  würde  sich  aber 
sofort  bedenken,  wenn  er  die  beigeschriebenen  Maßzahlen  läse,  er  würde 
auch  finden,  daß  die  Bogen  verschieden  lang  sind,  den  Zahlen  entsprechend, 
und  schließlich  daß  Durchschnitte  ganz  anders  aussehen  müßten. 

Ein  anderes  Beispiel. 

Dürer  zeichnet  die  Horizontalschnitte  des  Körpers  an  den  wichtig- 
sten Stellen;  er  zeichnet  diese  Schnitte  alle  nebeneinander;  dann  zeichnet 
er  sie  auch  an  einer  Stelle  aufeinander,  so  daß  der  ganze  Körper 
in  einer  Art  von  Durchsicht  erscheint  (etwa  wie  ein  Schulmodell  eines 
stereometrischen  Körpers,  bei  dem  nur  die  Kanten  aus  Metall  gegeben, 
die  Flächen  weggelassen  sind);  ein  interessanter  Versuch  des  Künstlers, 
sich  eine  sozusagen  dreidimensionale  Vorstellung  vom  Körper  zu  ver- 
schaffen. Während  nun  Bruck  an  zwei  Stellen  (61,  63)  die  Sache  richtig 
erklärt  (wo  sie  freilich  schon  wegen  der  Beischriften  nicht  zu  verkennen 
ist),  erklärt  er  sie  ein  andermal  (Taf.  52)  unbegreiflicherweise  falsch. 

Ein  anderer  Versuch,  das  Dreidimensionale  klar  zu  stellen:  Dürer 
denkt  sich  die  Hauptteile  der  menschlichen  Figur  in  möglichst  einfache 
stereometrische  Körper  hinein;  diese  kann  er  dann  gegeneinander  ver- 
schieben, wenn  er  die  ganze  Figur  in  reiche  Bewegung  bringen  will:  er 
zeichnet  die  einzelnen  stereometrischen  Körper  in  Verkürzung,  und  dann 
bringt  er  die  irrationalen  Kurven  der  menschlichen  Figur  hinein  — ein 
höchst  interessanter  Versuch,  das  praktische  Naturstudium  der  Verkürzung 
durch  theoretische  und  umständliche  Konstruktion  zu  ersetzen  oder  zum 
mindesten  zu  sichern;  theoretische  Konstruktion  und  geduldiges  Handwerk 
sollen  die  Genialität  des  italienischen  scorto  reglementieren.  Bruck  sagt 
hiervon  nichts,  er  findet  nur,  die  Figuren  seien  »gleichsam  wie  aus  nach 
bestimmten  Massen  behauenen  Steinen  aufeinander  geschichtet«,  Dürer 
habe  dabei  an  Steinmetzen  gedacht  (auf  Grund  einer  nebenher  von  Dürer 
gemachten  Bemerkung).  Bei  der  Seitenansicht  der  Figur  erscheinen  jene 
stereometrischen  Körper  als  Rechtecke  u.  dergl.,  und  zwar  fallen  ihre 
Grundlinien  bei  ruhiger  Haltung  der  Figur  zusammen;  ist  sie  bewegt,  so 
bilden  die  Grundlinien  Winkel  miteinander,  und  die  hier  entstehenden 
Schnittpunkte  markiert  Dürer  mit  kleinen  Dreiecken;  sie  bezeichnen  zu- 
gleich anatomische  Stellen  entsprechender  Funktion,  Wirbelsäule  und 
Hüftgelenk.  Bruck  erklärt  diese  Dreiecke  bei  den  bewegten  Seitenfiguren 
als  Gelenke  oder  Hauptgelenkpunkte  (64,  94),  was  mindestens  unklar  ist; 
bei  ruhigstehenden  Seitenfiguren  dagegen  bezeichnet  er  sie  als  Wirbel- 


Dürers  Dresdener  Skizzenbuch. 


367 


Säule  (56,  58;  bei  59  und  61  erwähnt  er  sie  gar  nicht);  das  trifft  wiederum 
für  die  unteren  Punkte  nicht  zu,  da  doch  die  Wirbelsäule  nicht  mitten 
durch  die  Gedärme  läuft.  Vor  allem  aber  ist  wieder  der  Zusammenhang 
gleicher  Erscheinungen  nicht  beachtet,  dem  Betrachter  das  Verständnis 
nicht  erleichtert. 

In  einer  weiteren  Gruppe  von  Studien  macht  Dürer  einen  anderen 
Versuch,  der  Verkürzung  durch  Konstruktion  beizukommen.  Er  zeichnet 
die  Vorderansicht  einer  bewegten,  aber  nicht  verkürzten  Figur;  daneben 
rechts  gibt  er  dann  die  Seitenansicht,  bei  der  nun  verschiedene  Ver- 
kürzungen herauskommen,  z.  B.  verkürzt  sich  der  Kopf,  indem  er  nach 
vorn  geneigt  ist,  während  er  bei  der  ersten  Zeichnung  im  Profil  gesenkt 
erscheint,  also  in  normalen  Maßverhältnissen;  Dürer  findet  nun  die  Ver- 
kürzung, indem  er  von  der  linken  zur  rechten  Figur  Horizontalen  zieht. 
Bruck  erkennt  zwar  nicht  den  Sinn  dieser  Konstruktion,  aber  er  be- 
zeichnet doch  wenigstens  einmal  (96)  die  rechte  als  »dieselbe  Figur«; 
bei  anderen  Blättern  jedoch  bemerkt  er  selbst  dies  nicht  einmal,  ja  er 
bezeichnet  die  rechte  Figur  als  »eine  andere  weibliche  Figur«  (97). 

In  allen  diesen  Fällen  hätte  es  durchaus  keines  Scharfsinns  bedurft, 
da  die  Erklärungen  am  Wege  liegen  und  außerdem  auch  noch  durch  die 
gedruckte  Proportionslehre  gegeben  sind.  Die  Irrtümer  erklären  sich  aus 
der  Flüchtigkeit  des  Autors  und  der  Interesselosigkeit  für  die  Materie. 
Wie  flüchtig  er  gearbeitet  hat,  zeigt  die  Beförderung  von  Greifen  zu 
Adlern  (139):  auch  für  ornamentale  Tiere  scheint  er  sich  leider  nicht 
zu  interessieren,  sonst  hätte  er  wohl  den  »Lindwurmb«  (130)  als  ein 
Werk  fremder  Hand  erkannt,  derselben  Hand,  die  den  Arion  zeichnete 
(Lippmann  41 1). 

Die  auffallendste  unter  diesen  Flüchtigkeiten  ist  die  Wiedergabe 
einer  Dürerschen  Aufschrift,  Tafel  8.  Zuweilen  nämlich  gibt  Bruck 
solche  Aufschriften  wieder,  freilich  ohne  Prinzip  in  der  Schreibweise  wie 
in  der  Auswahl.  Strenge  Richter  würden  die  Wiedergabe  aller  Aufschriften 
fordern,  da  sie  oft  schwer  zu  lesen  sind;  der  Herausgeber  hätte  zweifellos 
damit  mehr  Erleichterung  verschafft  als  mit  der  Beschreibung  von  Be- 
wegungen, die  doch  jeder  ABC-Schütze  erkennt.  (Auch  hätte  er  sich 
und  uns  nicht  damit  bemühen  sollen,  dieselben  Dinge,  die  stereotyp 
wiederkehren,  jedesmal  anders  zu  beschreiben.)  Also  eine  Aufschrift  auf 
Tafel  8 wird  von  Bruck  wiedergegeben:  »Proporz  dick  und  dinn  dy  mag 
man.«  Was  das  heißen  soll,  kann  freilich  der  arme  Leser  nur  mit  viel 
Scharfsinn  herausbringen;  vor  dem  Original  ist  es  schon  leichter.  Tafel  6 u.  8 
stehen  nämlich  in  dem  Dresdener  Buche  nebeneinander  (wie  man  aus  den 
bei  Bruck  eingeklammerten  Seitenzahlen  des  Originals  erforschen  kann),  und 
über  beide  Blätter  weg  ist  die  Unterschrift  gegeben:  »Dz  sind  zweyerley 


368 


Ludwig  Justi: 


pporczn  dick  und  dun  dy  mag  man  pign  wy  man  wil.«  Bruck  gibt  nur 
die  rechte  Hälfte  dieser  Unterschrift!  kaum  begreiflich,  da  die  Zusammen- 
gehörigkeit der  beiden  schon  durch  ihre  Farbigkeit  auffallenden  Zeich- 
nungen in  die  Augen  springt;  auch  die  Absicht  ihrer  Zusammenstellung 
springt  in  die  Augen,  so  daß  man  den  Sinn  der  Unterschrift  schon  bei- 
nahe erraten  könnte.  Übrigens  sind  gerade  diese  Figuren  und  ihre 
Unterschriften  von  besonderem  Interesse  in  der  Entwicklung  der  Dürer- 
schen  Proportionsstudien;  diese  ihre  Stellung  habe  ich  in  meiner  Schrift 
über  »Konstruierte  Figuren  und  Köpfe  unter  den  Werken  A.  Dürers« 
S.  24  dargelegt;  dort  heißt  es:  »Beide  Figuren  geben  schon,  wie  die 
Unterschrift  sagt,  ,zweyerley  proporczn  dick  und  dün‘  — einer  der  ersten 
Versuche  in  dieser  Richtung:  der  bis  jetzt  einheitliche  Kanon  beginnt 
sich  zu  zersplittern.« 

II. 

Es  sei  nun  noch  in  Kürze  dargestellt,  was  wir  von  der  Entwicklung 
der  Dürerschen  Proportionsstudien  an  den  Dresdener  Zeichnungen  be- 
obachten, nämlich  den  Übergang  von  der  frühen  zur  späten  Epoche 
dieser  Studien.  Eine  erschöpfende  Darstellung,  die  hier  natürlich  nicht 
am  Platze  ist,  wäre  m.  E.  die  Aufgabe  der  Bruckschen  Edition  gewesen, 
aber  seine  Einleitung  (auf  die  wir  gar  nicht  eingehen  wollen)  wie  seine 
Beschreibungen  enthalten  von  allem,  was  im  folgenden  skizziert  werden 
soll,  gar  nichts;  auch  die  Reihenfolge  der  Tafeln,  die  doch  nach  seiner 
eigenen  Angabe  »das  Zusammengehörige  zueinander  bringen«  soll,  zeigt 
nur,  wie  unklar  ihm  ist,  was  eigentlich  zusammengehört.  Um  so  merk- 
würdiger, als  in  meiner  vorhin  genannten  Abhandlung  (die  von  Bruck 
mehrfach  zitiert  wird,  wenn  auch  nicht  mit  den  in  Betracht  kommenden 
Seitenzahlen)  schon  auf  die  Hauptmomente  jenes  im  Dresdener  Skizzen- 
buche vorliegenden  Übergangs  hingewiesen  und  seine  Einstellung  in  die 
Gesamtentwicklung  der  Dürerschen  Proportionsstudien  gegeben  wird. 

Anfang  und  Ende  dieser  Studien  sind  recht  verschieden.  Der  An- 
fang ist,  daß  Dürer  seine  Bemühungen  unmittelbar  in  seinen  Werken 
verwertet.  Er  konstruiert  nackte  Figuren  für  seine  Kupferstiche,  z.  T.  ist 
die  Verwendung  tatsächlich  geschehen,  z.  T.  ist  es  bei  Vorbereitungen 
geblieben.  Die  Figuren  sind  leicht  bewegt,  zumeist  in  der  Haltung  des 
belvederischen  Apoll.  Das  Schema  ist  geometrisch,  arbeitet  mit  Kreisen 
und  Rechtecken;  vielfach  gibt  die  Konstruktion  den  Umriß  des  Körpers. 
Die  Hauptmaße  sind  nach  Vitruv  genommen. 

Demgegenüber  ist  das  Ende,  in  der  gedruckten  Proportionslehre 
vorliegend,  rein  theoretisch:  Dürer  arbeitet  nicht  zur  unmittelbaren  Ver- 
wertung in  einzelnen  Werken,  sondern  er  will  ein  Lehrbuch  geben.  Die 


Dürers  Dresdener  Skizzenbuch. 


369 


Haltung  der  Figuren  ist  völlig  starr  (Bewegungen  müssen  erst  durch 
Konstruktion  abgeleitet  werden).  Statt  der  Rechtecke  und  Kreise  finden 
wir  nur  noch  Angaben  von  Entfernungen,  von  rechts  nach  links  und  von 
oben  nach  unten  gemessen,  also  Bestimmung  von  Punkten;  der  Umriß 
des  Körpers  soll  frei  zwischen  den  festgelegten  Punkten  gezogen  werden. 
Endlich  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  Ein  Schema  auf  Grund  der 
Vitruvischen  Maße,  das  ließe  sich  nur  noch  in  der  Aufstellung  einer 
Art  von  Normalgestalt  finden;  vielmehr  sind  eine  ganze  Fülle  von  Möglich- 
keiten der  Proportion  gegeben,  und  es  ist  gar  nicht  die  Reduzierung  auf 
einfache  Maßverhältnisse  angestrebt,  diese  sind  vielmehr  meist  sehr  kom- 
pliziert, wahrscheinlich  häufig  am  Modell  ermittelt;  und  in  der  Einleitung 
sagt  Dürer,  man  könne  auch  andere  Maße  aufstellen.  Die  Umständlichkeit 
und  das  Übermaß  von  Methoden  erinnern,  um  etwas  bekanntes  zu  zitieren, 
an  die  Meistersinger. 

Die  frühe  und  die  späte  Epoche  der  Dürerschen  Proportionsstudien 
sind  also  völlig  entgegengesetzt.  Die  erste  umfaßt  etwa  die  Jahre  1501 
bis  1507;  sie  ist  von  unmittelbarer  Wichtigkeit  für  die  Beurteilung  einer 
ganzen  Reihe  Dürerscher  Arbeiten.  Die  zweite  Gruppe  geht  von  1513 
bis  1528,  sie  hat  mit  Dürerschen  Kunstwerken  nicht  unmittelbar  zu  tun, 
dagegen  gibt  sie  Einblick  in  seine  Art  zu  denken. 

Die  Dresdener  Zeichnungen  nun  stammen  vielfach  aus  der  Zeit  des 
Übergangs  von  der  ersten  zur  zweiten  Epoche.  Die  vorhin  genannten 
Momente,  die  für  die  zweite  Epoche  maßgebend  sind,  kommen  natürlich 
nicht  alle  auf  einmal,  aber  seit  1513  sind  sie  alle  da. 

Geben  wir  den  weiblichen  Figuren  den  Vortritt.  Die  älteste 
finden  wir  Tafel  70,  um  1504  anzusetzen:  das  Schema  stimmt  im  wesent- 
lichen mit  der  Eva  des  Kupferstichs  überein,  in  der  geometrischen  An- 
lage wie  in  der  Proportionierung,  der  Brustkorb  ist  durch  ein  Quadrat 
aus  Ü6  der  Körperlänge  bestimmt,  also  ziemlich  breit  und  kurz. 

Es  folgt  Tafel  74  eine  (der  Berliner  Zeichnung  Lippmann  38  sehr 
ähnliche)  Konstruktion,  mit  stärkster  Benutzung  von  Zirkelschlägen  für 
die  Formen  des  Körpers;  die  Proportionierung,  die  dort  mit  dem  Schema 
des  männlichen  Körpers  nahezu  übereinstimmte,  ist  jetzt  stark  differen- 
ziert; der  Brustkorb  schmaler  und  höher,  die  Hüften  verhältnismäßig 
stärker  ausladend,  die  Beine  kürzer.  (Näheres  in  der  oben  zitierten 
Schrift  S.  x 5 ff.) 

Während  diese  beiden  Konstruktionen  noch  der  ersten  Epoche  an- 
gehören, führt  Tafel  72  in  die  Zeit  des  Übergangs:  man  sieht  noch  den  Zu- 
sammenhang mit  dem  alten  Schema,  doch  ist  schon  eine  völlig  starre  Haltung 
angenommen,  die  in  einem  Kunstwerk  nicht  zu  brauchen  wäre,  also  ein 
Hinsteuern  auf  das  Lehrbuch.  Das  Blatt  dürfte  1507  zu  datieren  sein. 


37° 


Ludwig  Justi: 


Zu  solchen  Übergangserscheinungen  gehört  auch  die  (im  Eindruck 
der  Verhältnisse  recht  unglückliche)  Figur  Tafel  91,  in  der  man  die 
Auflösung  des  alten  geometrischen  Schemas  beobachten  kann.  (Eine 
ähnliche  Erscheinung  in  einer  Zeichnung  des  Londoner  Codex,  Abb. 
Conway,  Literary  remains  of  A.  D.,  S.  234.) 

Ein  Blatt  von  1508,  Tafel  79,  gibt  dann  schon  in  mehreren 
Momenten  die  Charakteristika  der  zweiten  Epoche,  des  Lehrbuchs.  Die 
Haltung  ist  völlig  schematisch  (sie  sei  der  Einfachheit  halber  als  »Buch- 
schema« bezeichnet):  genaue  Frontalansicht,  die  Füße  nebeneinander  ge- 
stellt, der  eine  Arm  nach  unten  ausgestreckt,  die  innere  Handfläche  nach 
vorn,  der  andere  Arm,  weil  entbehrlich,  auf  den  Rücken  gelegt  — die 
ganze  Haltung  ist  also  derart  angeordnet,  daß  sich  die  Mäße  möglichst 
gut  daran  zeigen  lassen.  Des  weiteren  deutet  auf  die  spätere  Epoche 
hin,  daß  es  sich  hier  nicht  mehr  um  eine  Idealfigur  handelt,  höchstens 
um  eine  Normalfigur,  ein  »dickes,  bäurisches  Weib«.  Endlich  drittens 
wirkt  das  geometrische  Schema  nur  noch  vereinzelt  nach,  in  der  Haupt- 
sache werden  Entfernungen  gemessen,  freilich  noch  wenige  und  noch  in 
einfachen  Verhältniszahlen. 

Etwa  auf  derselben  Stufe  des  Übergangs  stehen  zwei  weibliche 
Profilfiguren,  Tafel  86  von  1507,  Tafel  83  von  1509.  Auf  die  spätere 
Epoche  weist  vor  allem  die  starre  Haltung  hin.  (der  Arm  ist  weg- 
geschnitten); die  Proportionen  werden  im  wesentlichen  durch  Messen  von 
Entfernungen  gegeben,  doch  beruhen  diese  noch  auf  einfachen  Bruch- 
teilen der  Körperlänge,  Reste  eines  geometrischen  Schemas  sind  noch 
vorhanden  (die  Figuren  sind  in  ein  Rechteck  eingezeichnet,  dessen 
Breite  I/s  der  Höhe  ist,  d.  h.  gleich  Breite  und  Höhe  des  Kopfes). 

Auf  diese  beiden  Gruppen  weiblicher  Figuren,  von  denen  also  die 
erste  der  »Apollogruppe«,  die  zweite  dem  Übergang  zur  »Lehrbuch- 
gruppe« angehört,  folgt  nun  eine  dritte,  sehr  zahlreiche  Reihe,  der  Lehrbuch- 
gruppe selbst  zugehörend;  die  Blätter  sind  1513  und  später  zu  datieren. 

Die  Folge  von  Konstruktionen  männlicher  Figuren  bis  1513 
entwickelt  sich  nicht  ganz  so  einfach,  ist  aber  darum  nicht  weniger 
interessant. 

Zunächst  eine  Gruppe,  die  etwa  1507  oder  1508  anzusetzen  wäre. 
Tafel  52  finden  wir  eine  Figur  in  starrer  Frontalansicht,  doch  noch  nicht 
genau  in  der  seit  1513  festgelegten  Haltung.  Die  Proportionierung  ge- 
schieht nach  dem  geometrischen  Schema  der  Apollogruppe,  mit  den 
Rechtecken  und  Umrißkreisen;  nur  sind  die  Rechtecke  und  Trapeze  nicht 
gegeneinander  verschoben,  wegen  der  kerzengeraden  Haltung  der  Figur. 
Damit  verlieren  sie  auch  ihre  Selbständigkeit,  ihre  Grund-  und  Seiten- 
linien werden  so  allmählich  zu  einfachen  Maßlinien.  Diese  Entwicklung 


Dürers  Dresdener  Skizzenbuch. 


371 


zeigen  die  vier  folgenden  Figuren  auf  den  Tafeln  20,  46  und  48.  Tafel  20 
sieht  man  noch  die  Umrißkreise;  die  beiden  Figuren  auf  Tafel  46  stehen 
etwa  auf  einer  Stufe  mit  den  vorhin  erwähnten  weiblichen  Figuren  Tafel  91 
und  79  (1508).  Tafel  48  tritt  das  Konstruktive  noch  etwas  weiter  zurück 
gegen  das  Messen,  doch  sind  auch  hier  die  Maßstäbe  noch  einfach. 

Etwa  gleichzeitig  dürfte  eine  Reihe  von  Konstruktionen  anzusetzen 
sein,  bei  denen  der  Körper  in  ein  Netz  von  Horizontalen  und  Vertikalen 
einbeschrieben  ist,  deren  Entfernungen  in  ganz  einfachen  Verhältnissen 
stehen.  Dürer  folgt  bei  ihnen  dem  Vitruvischen  Satz,  daß  die  Entfernung 
der  Fingerspitzen  bei  ausgestreckten  Armen  gleich  der  Körperhöhe  sein 
solle.  So  Tafel  19  eine  Figur  von  vorn  und  von  der  Seite,  aus 
*U>  V6  un<^  x/8  der  Körperlänge  konstruiert;  dasselbe  Schema  im  Auszug 
Tafel  103  rechts.  In  derselben  Art  sind  die  beiden  zusammengehörigen 
Figuren  Tafel  1 (Vorderansicht)  und  Tafel  18  (Seitenansicht)  konstruiert, 
doch  sind  die  Maße  nicht  Bruchteile  der  wirklichen  Körperlänge,  sondern 
der  Entfernung  von  den  Augenbrauen  zu  den  Knöcheln. 

Nun  folgt,  hart  vor  der  endgültigen  Kristallisation  des  »Buch- 
schemas«, eine  Anzahl  von  Konstruktionen,  in  denen  Dürer  frei  auf 
Früheres  zurückgreift,  eine  retrospektive  Gruppe  sozusagen.  Eine  von 
1512  datierte  Figur,  Tafel  2,  lehnt  sich  in  Haltung  und  Konstruktion 
an  die  Apollogruppe  an,  ähnlich  Tafel  n;  man  wird  jedoch  bei 
genauem  Studium  finden,  wie  eng  sich  die  Maße  an  die  Figur  Tafel  48 
anschließen,  also  an  die  letzte  aus  der  vorhin  genannten,  um  1508  zu 
datierenden  Gruppe.  Noch  stärker  erinnert  eine  Figur  von  1513,  Tafel  9, 
an  die  Apollogruppe,  in  Motiv  und  Konstruktion  (doch  weist  der  auf  den 
Rücken  gelegte  Arm  schon  auf  das  Buchschema  hin). 

Die  beiden  gegenübergestellten  Figuren  von  1513  (5  und  7,  Durch- 
zeichnungen 6 und  8,  vgl.  oben)  entlehnen  die  Haltung  von  Kopf  und 
Beinen  dem  Adam,  die  Armhaltung  entspricht  bereits  dem  Buchschema. 
Im  Sinne  des  Lehrbuchs  ist  auch  die  Gegenüberstellung  der  »zweyerley 
proporczn  dick  und  dun«,  wie  Dürer  selbst  daraufschreibt,  mit  einem 
gewissen  Nachdruck.  Vorher  finden  wir  nur  Eine  Norm,  während  bei 
den  weiblichen  Figuren  schon  1508  eine  Abweichung  vom  Idealtypus 
auftaucht,  ein  »dickes  bäurisches  Weib«  — ist  es  Zufall  der  Erhaltung, 
oder  hat  sich  ihm  dieser  weibliche  Typus  besonders  aufgedrängt? 

Wohl  aus  demselben  Jahre  1513  stammen  die  drei  Blätter  54,  50, 
38,  sie  zeigen  das  letzte  Stadium  vor  dem  Fertigwerden  des  Buchschemas. 

Dies  finden  wir  dann  in  den  drei  von  1513  datierten  Blättern  3,  15 
und  27;  das  erste  mit  der  bezeichnenden  Aufschrift:  »Den  beschreib 
der  ist  der  pesser«  — hier  arbeitet  nicht  mehr  der  Künstler,  sondern  der 
Dozent.  — Damit  sind  wir  also  in  den  Kreis  der  gedruckten  Proportions- 


3 72 


Ludwig  Justi : Dürers  Dresdener  Skizzenbuch. 


lehre  eingetreten,  die  freilich  erst  15  Jahre  später  erscheinen  konnte.  — 
Die  folgenden  Gruppen  und  die  Unterschiede  in  ihnen  sind  deshalb  von 
geringerem  Interesse,  da  ja  das  Buch  alles  vollständig  und  deutlich  gibt. 
Zwei  Gruppen  wurden  oben  schon  skizziert:  die  eine  gibt  eine  Über- 
tragung der  Maße  von  der  Figur  in  Vorderansicht  zur  Seitenansicht  (32, 
34,  95;  30,  97;  datiert  von  1519  die  beiden  Durchzeichnungen  Tafel  35 
und  31);  die  andere  sucht  der  Verkürzung  beizukommen  durch  Hinein- 
bringen des  Körpers  in  eine  Anzahl  einfacher  stereometrischer  Körper, 
die  dann  gegeneinander  verschoben  werden  können  (ohne  Verschiebung 
und  Verkürzung:  Tafel  56  bis  59;  mit  Verschiebung,  ohne  Verkürzung: 
Tafel  61,  64:  mit  Verkürzung,  z.  T.  ganz  skizzenhaft:  Tafel  60,  62,  63, 
65,  66,  1 o 1,  115.  Kein  Blatt  datiert).  Beide  Methoden  kennen  wir  aus 
dem  vierten  Buch  der  Proportionslehre.  Eine  Gruppe  endlich  (36,  37,  55) 
sucht  der  Vitruvischen  Forderung  zu  folgen,  daß  ein  Kreis,  den  man  um 
den  Nabel  durch  die  Fußsohlen  (eigentlich  die  Zehenspitzen)  schlägt, 
auch  durch  die  Fingerspitzen  des  ausgestreckten  Armes  gehen  solle. 
(Vgl.  Proportionslehre,  2.  Buch.) 

Charakteristisch  für  die  spätere  Epoche  der  Dürerschen  Prop.ortions- 
studien  ist  auch,  da  sie  eben  für  ein  Lehrbuch  gemacht  wurden,  ihr 
systematischer  Ausbau  nach  allen  Seiten  hin;  auch  dieser  Ausbau  beginnt 
um  1513,  zu  der  Zeit  also,  wo  sich  überhaupt  die  Prinzipien  der  späteren 
Epoche  durchsetzen.  So  findet  sich  auf  einem  Von  15  12  datierten  Blatte  (1 16) 
der  weibliche  Kopf  in  systematischer  Durcharbeitung.  Und  Tafel  99, 
von  1513  datiert,  zeigt  die  Konstruktion  eines  Kinderkörpers  in  der 
Haltung  des  »Buchschemas«.  Auf  eine  Erweiterung  seines  Lehrbuchs 
in  größerem  Stile  deuten  dann  noch  zwei  Datierungen  von  1517:  Tafel  128 
Pferdezeichnungen,  Tafel  107  anatomische  Studien. 

So  bietet  also  das  Dresdener  Skizzenbuch  ein  reiches  Material  für 
die  Geschichte  der  Dürerschen  Proportionsstudien,  insbesondere  deren 
Entwicklung  von  der  frühen  zur  späten  Stufe;  und  diese  Entwicklung  zu 
beobachten  ist  deshalb  nicht  ohne  Interesse,  weil  man  auch  die  Entwicklung 
seiner  ästhetischen  Anschauungen  dabei  verfolgen  kann:  in  der  ersten 
Epoche  strebt  er  nach  einem  einzigen  Idealtypus  auf  Grund  der  Antike, 
in  der  zweiten  stellt  er  zahlreiche  Durchschnittsformen  'nebeneinander  auf 
Grund  von  Beobachtungen  (vgl.  in  der  obengenannten  Abhandlung  S.  25 
und  für  das  Folgende  Anm.  36).  Man  muß  sich  jedoch  hüten,  diese  Ent- 
wicklung seiner  ästhetischen  Anschauungen  einfach  so  zu  denken,  daß 
ein  klar  formulierter  Standpunkt  dem  anderen  gefolgt  sei;  vielmehr  bleiben 
Reste  der  ursprünglichen  Auffassung  als  Widersprüche  stehen:  Dürers 
Denken  hatte  nicht  die  elegante  Klarheit  eines  italienischen  oder  gar 
französischen  Kopfes. 


Literaturbericht. 

Kunstgeschichte. 

Hugo  Kehrer.  Die  »heiligen  drei  Könige«  in  der  Legende  und 
in  der  deutschen  bildenden  Kunst  bis  Alb  recht  Dürer.  Mit 
3 Autotypien  und  1 1 Lichtdrucktafeln  — Studien  zur  deutschen  Kunst- 
geschichte. 53-  Heft.  Straßburg,  I.  H.  Ed.  Heitz  (Heitz  &■  Mündel) 
1904.  132  S. 

Diese  ikonographische  Arbeit  besteht  aus  zwei  Teilen.  Im  1.  Teil 
untersucht  der  Verf.  die  literarische  Tradition,  wesentlich  referierend 
aus  der  theologischen  Literatur,  mit  dankenswerter  Gründlichkeit.  Er 
versteht  es  vortrefflich,  den  Kunstforschern  das  für  sie  Wesentliche  von 
den  Ergebnissen  der  theologischen  Forschung  zu  vermitteln.  Deutlich 
und  höchst  lehrreich  zur  Beurteilung  der  Monumente  enthüllt  sich  das 
Wachsen  der  Legende  aus  dem  schwachen  Keim  im  Matthäus-Evangelium. 
Wir  hören,  wie  allmählich  die  Magier  zu  Königen  werden,  wie  ihre 

Zahl  festgestellt  wird,  wie  sie  Namen  erhalten,  wie  die  auslegende 

Deutung  die  Legende  immer  breiter  und  beziehungsreicher  werden  läßt, 
wie  die  anbetenden  Könige  nach  und  nach  zu  Repräsentanten  des 
Erdballs  werden.  Im  1 2.  Jahrhundert  etwa  hatte  die  Legende  feste 

Form  in  der  allgemeinen  Vorstellung  angenommen.  Das  Weitere  ist 
wesentlich  die  Ausgestaltung  durch  die  Bildner. 

Der  2.  Teil  des  Buches  beschäftigt  sich  mit  den  Monumenten, 
zuerst  mit  der  Entstehung  der  Komposition  in  der  altchristlichen  und 
der  byzantinischen  Kunst,  dann  mit  der  Ausbildung  in  der  deutschen 
Malerei  und  Skulptur  des  Mittelalters.  Der  Verf.  stellt  eine  Anzahl 

charakteristischer  Monumente  aus  jeder  der  aufeinander  folgenden  Perioden 
zusammen.  Mit  dem  9*  Jahrhundert  beginnend,  verfolgt  er  die  Wander- 
ungen der  Komposition  bis  ins  16.  Jahrhundert.  Das  Material  ist 
groß,  wenn  auch  natürlich  keineswegs  vollständig  und  einigermaßen 
durch  den  Zufall  bestimmt,  wie  dem  Verf.  diese  oder  jene  Publikation 
zu  Gesichte  kam. 

Im  2.  Kapitel  des  2.  Teiles  ist  von  der  berühmten  Anbetung 
Rogers  van  der  W^eyden  in  München  ausführlich  die  Rede,  deren  Be- 


374 


Literaturbericht. 


deutung  und  Wirkung  auf  die  deutsche  Kunst  der  Verf.  hoch,  aber 
kaum  zu  hoch  schätzt.  Das  3.  Kapitel  beschreibt  die  deutschen  Bilder 
des  15.  Jahrhunderts.  Hier  ist  nicht  viel  Wichtiges  übersehen.  Das 
vierte,  verhältnismäßig  magere  Kapitel  ist  der  Plastik  desselben  Zeitraums 
gewidmet. 

Auf  Grund  des  historisch  geordneten  Materials  wird  eine  ästhetisch 
urteilende  Schilderung  der  Entwicklung  versucht,  wobei  die  einzelnen 
Motive,  wie  der  Schauplatz,  die  Mutter,  Joseph,  der  Stern,  nacheinander 
betrachtet  werden. 

Im  Schlußkapitel  wird  in  Dürers  Anbetung,  dem  Gemälde  von  1504 
in  Florenz,  die  Krönung  der  deutschen  Bemühungen,  die  Lösung  der 
Aufgabe  gefeiert.  Der  Verf.  bleibt  bei  diesem  einen  Werke  Dürers,  er 
hat  sich  nicht  das  interessante  Thema  gestellt,  die  Entwicklung  der 
Komposition  in  des  Meisters  Schaffen  zu  verfolgen.  Friedlä?ider. 


Architektur. 

Eugene  Lefevre-Pontalis.  L’architecture  gothique  dans  la  Cham- 
pagne meridio nale  au  XIIIe  et  au  XVIe  si^cle.  Paris,  Picard,  rue 
Bonaparte  82.  1904.  8°,  181  S.,  mit  zahlr.  Abb. 

Die  Champagne  hat  in  romanischer  Zeit  keine  eigene  architektoni- 
sche Schule  gehabt  und  noch  ihre  Gotik  war  stark  beeinflußt  von  den 
Nachbarschulen  der  Bourgogne,  der  Ile-de-France  und  des  deutschen 
Ostens.  Sind  doch  charakteristische  Züge,  z.  B.  das  Festhalten  am 
Stützenwechsel  in  Verbindung  mit  dem  gebundenen  System  — und 
die  Türme  mit  vier  Giebeln  germanischen  Ursprungs.  Dennoch  war  hier 
seit  etwa  1160  (Chorbau  von  Notre-Dame-en-Vaux  in  Chalons)  bis  zum  Ende 
des  13.  Jahrhunderts  ein  wahrhaft  klassischer  Boden,  von  dem  starke  An- 
regungen auf  das  Pariser  Zentrum  und  bis  an  die  Grenzen  der  abend- 
ländischen Kultur  ausgegangen  sind.  Ein  Erkennungszeichen  champa- 
gnisch(-burgundischen)  Einflusses:  jene  die  ganzen  Gebäude  umziehenden 
inneren  Laufgänge  unter  den  Fenstern  der  Abseiten  und  Chorkapellen.1) 

Lefevre-Pontalis  meistert  sein  Thema  als  der  große  Kenner,  der  er 
ist.  Sein  Wort  ist  kurz  und  klar,  sein  Tempo  schnell;  im  Vorbeigehen 
werden  zahlreiche  Attributionen  vorgenommen  (S.  6,  11,  21,  28,  30,  35 

*)  Der  Einfluß  der  champagnischen  Plastik  ist  außer  in  Bamberg,  von  wo  er 
übrigens  auf  Magdeburg  weitergewirkt  zu  haben  scheint,  auch  in  Metz  und  Mainz  zu 
spüren.  In  Mainz  wird  insbesondere  die  treffliche  Statue  eines  Baumeisters  (jetzt  im 
Kreuzgang  des  Doms,  vom  Ostlettner  stammend)  von  Friedrich  Schneider  mit  Recht  mit 
den  Atlanten  der  Reimser  Kathedrale  in  Verbindung  gebracht. 


Literaturbericht. 


375 


Anm.  2).  Das  wichtigste  nach  dieser  Seite  ist  die  früher2)  von  ihm  be- 
gründete Zuweisung  des  wunderschönen  südlichen  Querhauses  von  Soissons 
(Kathedrale)  an  den  Meister  des  Chores  von  Saint  Remy  in  Reims.  Mit 
diesem  ist  dann  wahrscheinlich  wieder  der  Schöpfer  des  Chors  von  Notre- 
Dame-en-Vaux  in  Chälons  ein  und  dieselbe  Person  (vgl.  L.  Demaison,  Les 
chevets  des  eglises  N.-D.  de  Chälons  et  St.-Remy  de  Reims,  Extr.  du  Bull, 
archeol.  1899,  S.  8,  26,  dazu  Revue  de  l’art  chretien  1903,  S.  380). 

Wenn  übrigens  der  Chor  von  Chälons,  wie  Demaison  aus  den 
Quellen  folgern  zu  müssen  glaubt,  wirklich  das  älteste  Werk  dieser  Reihe 
und  schon  seit  1157  in  Bau  gewesen  ist,  so  wäre  das  wichtig  auch  für  die 
Geschichte  der  Plastik.  Denn  wir  haben  ja  ein  Portal  Chartreser  Typs 
an  der  Siidfassade  dieser  Kirche.  Obwohl  es  zerstört  ist,  sieht  man,  daß 
es  in  der  feinen  ziselierenden  Art  gearbeitet  war,  die  für  die  ganze 
Gruppe  (Chartreser  Westportal  und  was  dahin  gehört)  charakteristisch 
ist  (Abb.  der  1.  Seite  in  dem  schönen,  viel  neues  Abbildungsmaterial 
bietenden  Werk  Gabriel  Fleurys,  fitudes  sur  les'  portails  images  du  XIIe 
siede,  Marners,  1904,  fol.,  S.  151). 

Ist  es  nun  wahrscheinlich,  daß  dieses  noch  ganz  im  Geiste  des 
gotischen  Archaismus  gearbeitete  Portal  viel  späteren  Datums  ist  als 
der  Chor,  an  dessen  Kapitellen  das  frühgotische,  ins  Breite,  Rundliche, 
Ausgeglättete  strebende  Blattwerk  bereits  so  auffallend  hervortritt,  wenn 
auch  das  scharfzackige,  dichtplissierte  noch  daneben  steht? 

Den  genialen  Schöpfer  von  Saint -Urbain  in  Troyes  identifiziert 
L.-P.  mit  Jean  Langlois,  jenem  Johannes  Anglicus,  der  schon  in  einer 
Papstbulle  von  1267  — 1263  begann  erst  der  Bau!  — als  »quondam 
magister  fabrice  ipsius  ecclesie  Sancti  Urbani«  bezeichnet  wird  (vgl.  neuer- 
dings Lefövre-Pontalis’  Aufsatz  im  Bull,  monum.  1904,  93  ff.). 

Der  zweite  Abschnitt  des  Buchs  ist  der  Baukunst  der  Südchampagne 
im  16.  Jahrhundert  gewidmet.  Das  Interesse  dieser  wertvollen  Studie 
liegt  nicht  zum  wenigsten  darin,  daß  überall  die  Verbindungslinien  von 
der  glänzenden  Spätkunst  von  Troyes  zur  Kunst  des  11. — 14.  Jahrhun- 
derts gezogen  sind  (vgl.  S.  42  und  Anm.  2,  48,  5of.,  53,  5 5 f.,  59h,  61  f., 
68,  72,  76);  insbesondere  erscheint  jener  Johannes  Anglicus  als  der  Vor- 
läufer des  style  flamboyant  (S.  56). 

Der  gradlinige  Chorschluß  von  St.- Jean,  St.-Pantaleon  und  St.- 
Nicolas  in  Troyes  wird  aus  dem  Platzmangel  in  den  engen  Quartieren 
der  großen  Stadt  erklärt. 

Zum  Schluß  sei  bedauert,  daß  die  ausgezeichneten  Schriften  Lefevre- 


2)  In  seinem  für  die  Geschichte  der  Gotik  grundlegenden  Werke:  L’architecture 
religieuse  des  XI  « et  XII e siecles  dans  l’ancien  diocese  de  Soissons,  Paris  1894 — 98. 
Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  26 


376 


Literaturbericht. 


Pontalis’  bei  uns  so  wenig  bekannt  sind;  eine  große  Zahl  von  Aufsätzen 
des  Unermüdlichen  sind  in  Zeitschriften  vergraben,  sogar  eine  gar  statt- 
liche Monographie  de  la  cathedrale  de  Noyon  (publ.  in  der  Bibi,  de 
l’ecole  des  Chartes).  Wärs  nicht  an  der  Zeit,  daß  L.  seine  kleinen 
Schriften  gesammelt  herausgäbe?  Vöge. 


Giulio  Ferrari,  La  Scenografia.  Cenni  storici  dall’evo  classico  ai 
nostri  giorni.  Con  16  incisioni  e 165  tavole  zincotipiche,  in-120  di 
XXIV  e 326  pagine.  Milano,  Ulrico  Hoepli  1902. 

Das  vorliegende  Buch  verdient  in  doppelter  Hinsicht  Beachtung: 
weil  es  zuerst  die  Geschichte  der  Theaterdekoration  in  ihrer  Entwicke- 
lung bis  auf  die  Gegenwart  darzulegen  unternimmt,  und  weil  sein  Ver- 
fasser selbst  durch  praktische  Betätigung  in  dem  fraglichen  Kunstzweige 
mit  dessen  Erfordernissen  durchaus  vertraut  ist.  In  den  ersten  beiden 
Kapiteln,  die  der  Verfasser  gleichsam  nur  als  Einleitung  zu  dem  eigent- 
lichen, die  italienische  Szenographie  seit  der  Zeit  der  Renaissance  be- 
handelnden Gegenstand  seiner  Arbeit  betrachtet,  gibt  er  in  aller  Kürze 
eine  Übersicht  der  bekannten  Nachrichten  über  die  klassische  Bühne, 
sich  dabei  vorzugsweise  auf  Puchsteins  Buch  und  Stracks  Rekonstruk- 
tionen stützend,  ferner  nach  d’Anconas  klassischem  Werke  „Le  origini  del 
teatro  italiano“  — eine  Notiz  über  die  Inszenierung  der  mittelalterlichen 
Mysterienspiele.  Erst  mit  der  Renaissance,  der  das  3.  Kapitel  gewidmet 
ist,  beginnt  die  Entwicklung  der  modernen  Szenographie,  namentlich 
unter  dem  Einfluß  der  von  den  großen  Quattrocentomeistern  begründeten 
und  ausgebildeten  Linearperspektive.  Hier  macht  uns  Ferrari  vor  allem 
mit  den  historischen  Nachrichten  bekannt,  die  Augenzeugen  über  die 
frühesten  theatralischen  Aufführungen  an  den  verschiedenen  Fürstenhöfen 
überliefert  haben  und  schließt  daran  die  schriftlichen  und  zeichnerischen 
Anweisungen  und  Darstellungen  der  „Männer  vom  Fache“,  — Architekten 
vom  Rufe  eines  Peruzzi,  Serlio  und  Sabbadini  von  Pesaro  (Verfassers 
der  frühesten  Spezialschrift  über  den  Gegenstand  unter  dem  Titel:  Pra- 
tica  di  fabricare  scene  e machine  nei  teatri,  Ravenna  1638).  Wir  er- 
sehen aus  letzteren,  welche  Fortschritte  in  der  Struktur  der  Bühne,  in 
der  Erzielung  von  Beleuchtungseffekten,  in  der  Verfeinerung  der  Ver- 
wandlungsmechanismen und  Theatermaschinerien  erzielt,  und  welche 
künstlerische  Vollendung  der  Dekorationen  — dank  der  vollkommenen 
Beherrschung  und  Handhabung  der  Perspektive  — erreicht  worden  war. 
Als  einzige  in  Realität  bestehende  Zeugnisse  dafür  führt  uns  der  Ver- 
fasser am  Schlüsse  dieses  Kapitels  das  olympische  Theater  Palladios, 


Literaturbericht. 


377 


eine  ’ Rekonstruktion  der  antiken  tragischen  Bühne  nach  den  Regeln 
Vitruvs,  sowie  Aleottis  Teatro  farnese  in  Parma  vor,  das  letztere  inso- 
fern interessanter,  weil  es  bei  unleugbarer  Abhängigkeit  vom  Baustil 
Palladios,  sich  von  jedem  Gedanken  einer  Nachbildung  antiker  Muster 
freihält  und  uns  somit  das  Bild  der  Bühne  der  Renaissance  auf  dem 
Kulminationspunkt  ihrer  künstlerischen  und  technischen  Ausbildung  vor 
Augen  führt. 

Das  4.  Kapitel  schildert  das  goldene  Zeitalter  der  architektonischen 
Szenographie  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  Die  gesteigerten  Forderungen 
der  Theateraufführungen  bedingen  eine  radikale  Umwandlung  der  Bühne 
durch  Einführung  der  beweglichen  Kulissen  und  Yersatzstücke,  zu  deren 
Handhabung  die  Erfindung  ebenso  sinnreicher  wie  komplizierter  Mecha- 
nismen nötig  wurde,  der  sich  Genies  vom  Schlage  eines  Bernini,  Torelli 
u.  a.  m.  widmen.  Der  künstlerische  Teil  der  Aufgabe  findet  seine  be- 
rufensten Meister  in  den  großen  Malerarchitekten,  den  sog.  Prospekt- 
malern, Quadraturisten,  die  ihre  Kunst  durch  ganz  Europa  verbreiten. 
Es  genügt  auf  die  Namen  Andrea  Pozzo,  die  Glieder  der  Familien 
Ribbiena  und  Gallieri,  G.  Vigarini  bis  herab  auf  G.  B.  Piranesi,  den 
genialsten  unter  ihnen  allen  hinzuweisen,  dessen  Einfluß  die  Bühnen- 
dekoration durch  die  ganze  zweite  Hälfte  des  Settecento  bis  in  die  30er 
Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  unterworfen  war,  und  zwar  weniger  durch 
direktes  Eingreifen  als  durch  das  Vorbild  seiner  unzähligen,  eine  uner- 
schöpfliche Phantasie  bekundenden  Kompositionen.  Im  folgenden  Kapitel 
gibt  uns  Ferrari  einen  durch  reiche  Illustration  unterstützten  Überblick 
darüber,  wie  diese  für  flüchtige  Augenblicke  bestimmte  Schöpfungen,  von 
der  ersten  hingeworfenen  Skizze  bis  zum  grandiosen,  pompösen  Dekora- 
tionsstück ausreiften.  Dabei  weist  er  auf  die  malerischen  Prospekte  hin, 
wie  sie  sich  noch  heute  in  manchen  Städten  Oberitaliens  (Piacenza, 
Parma,  Modena,  Ravenna),  an  die  Rückwand  des  Hofes  gemalt,  durch 
das  offene  Hausportal  präsentieren,  als  den  einzigen  Rest,  der  sich  von  all 
jener  Pracht  der  Theaterprospekte  erhalten  hat,  aber  auch  von  Jahr  zu  Jahr 
mehr  verbleicht.  — In  den  letzten  Dezennien  des  18.  Jahrhunderts  er- 
obert der  Neuklassizismus  auch  das  Gebiet  der  szenischen  Dekoration. 
Der  Meister,  der  in  der  letzteren  die  Wandlung  hervorbringt,  ist  der 
Venezianer  P.  Gonzaga,  1831  in  St.  Petersburg  als  kaiserlicher  Hof- 
dekorateur in  hohem  Alter  verstorben.  In  seiner  Richtung  wirken  in 
Italien  Fr.  Fontanesi  aus  Reggio,  P.  Landriano  in  Mailand,  A.  Basoli  in 
Bologna,  um  nur  die  Häupter  der  Schulen  zu  nennen.  Ihren  Arbeiten, 
sowie  denen  der  Meister  des  Romantizismus,  der  den  Neoklassizismus 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  ablöst,  eines  Couhi  und  Solmi  in 
Bologna,  Magnani  in  Parma,  C.  Ferrario  in  Mailand  und  Dom.  Ferri 

26* 


378 


Literaturbericht. 


aus  Bologna,  der  um  1850.  in  Paris  mit  seiner  Kunst  Triumphe  feierte, 
geht  unser  Verfasser  im  6.  Kapitel  nach,  während  im  folgenden  neben 
der  Charakteristik  der  lebenden  Hauptvertreter  die  alphabetischen  Ver- 
zeichnisse aller  Künstler  des  Faches  in  den  Schulen  von  Toskana  (mit 
Einschluß  Roms),  Bologna  (samt  Modena,  Parma  Reggio,  Ferrara),  Vene- 
dig, Piemont,  Mailand,  und  — als  allerdings  etwas  dürftig  ausgefallener 
Anhang  — ein  Überblick  der  Szenographie  des  übrigen  Europa  und  ihrer 
vornehmsten  Meister  geboten  wird.  Eine  Bibliographie  der  Werke  über 
Perspektive  von  Piero  della  Francesca  bis  auf  die  Gegenwart  (warum 
nicht  auch  jener  über  Szenographie?)  schließt  das  Buch  Ferraris,  dem 
die  reiche  Illustration  besonderen  Wert  verleiht.  Diesem  wäre  es  übrigens 
bei  dessen  durchaus  ernsten  Charakter  nur  zu  statten  gekommen,  wenn 
die  Wiedergabe  eines  nicht  geringen  Teils  der  bildlichen  Beilagen  in 
knalligem  blauem  und  rotem  Lichtdruck  vermieden  worden  wäre. 

C.  v.  F. 


Malerei. 

Ludwig  Lorenz.  Die  Mariendarstellungen  Albrecht  Dürers.  — 
Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte.  55.  Heft.  Straßburg,  J.  H. 
Ed.  Heitz  (Heitz  & Mündel)  1904.  86  S. 

Der  Verfasser  reiht  die  Madonnen  Dürers  in  historischer  Folge  an- 
einander und  vergleicht  sie  nach  Typus  und  Bewegungsmotiv.  Da  der 
Meister  die  Aufgabe  im  Gemälde,  im  Kupferstiche,  Holzschnitt  und  in 
der  Zeichnung  wieder  und  wieder,  auf  jeder  Stufe  löste,  berührt  der  ver- 
ständige Beurteiler  fast  alle  Wendungen  und  Wandlungen  in  Dürers 
Laufbahn.  Und  weil  die  Gleichheit  des  Vorwurfs  die  Aufmerksamkeit 
auf  die  Abweichungen  der  Gestaltung  konzentriert,  überblickt  der  Leser 
des  anspruchslosen  Textes  recht  bequem  die  Entwicklung  der  Auf- 
fassung und  der  Formensprache.  Im  einzelnen  enthält  das  Heft  wenig 
Neues,  aber  auch  wenig,  das  zu  Bedenken  Anlaß  geben  könnte.  In  der 
Hauptsache  werden  die  in  der  jüngeren  Literatur  allgemein  gewordenen 
Anschauungen  bestätigt.  Nicht  genügend,  wie  mir  scheint,  hat  der  Ver- 
fasser die  wichtigen  Ermittlungen  Ludwig  Justis  berücksichtigt.  Dürers 
Versuch,  den  Frauenkopf  nach  einem  Kanon  zu  gestalten,  hat  doch 
sein  Madonnenideal  hie  und  da,  direkt  und  mittelbar  bestimmt.  Im 
Schluß  verwertet  der  Verfasser  seine  Erfahrungen  bei  der  Prüfung  einiger 
zweifelhafter  oder  bezweifelter  Holzschnitte.  Friedländer. 


Literaturbericht. 


379 


Skulptur. 

Frida  Schottmüller,  Donatello.  Ein  Beitrag  zum  Verständnis 
seiner  künstlerischen  Tat.  München,  F.  Bruckmann  A.-G.,  140  S. 
in  gr.  8°  mit  62  Abbildungen. 

Unter  den  Arbeiten,  die  in  letzter  Zeit  den  großen  Entdecker  zum 
Gegenstand  der  Betrachtung  gemacht  haben,  gebührt  der  vorliegenden 
ein  ausgezeichneter  Platz,  — objektiv,  weil  sie  Seiten  des  künstlerischen 
Wesens  Donatellos  zu  systematischer  Darstellung  bringt,  die  von  seinen 
bisherigen  Biographen  außer  acht  gelassen  oder  nur  im  Vorübergehen 
gestreift  waren,  — subjektiv,  weil  unsere  junge  Kollegin  gerade  die  für 
ihre  Klarlegung  so  wertvollen,  ja  entscheidenden  Talente  der  feinen 
Beobachtung,  sinnigen  Deutung  und  einfach  schlichten  Darstellung  als 
Erbteil  ihres  Geschlechts  in  ganz  hervorragendem  Maße  in  den  Dienst 
ihrer  Aufgabe  stellen  konnte.  In  der  Tat  ist  besseres  zur  Physiologie 
(sit  venia  verbo!)  und  Psychologie  der  Schöpfungen  des  Meisters  bisher 
nicht  gesagt  worden.  Was  uns  hier  vom  künstlerischen  Werdegang 
Donatellos,  — von  der  progressiv  verfeinerten  Erkenntnis  der  Menschen- 
gestalt nach  formaler  und  geistiger  Seite  hin,  von  der  Entwicklung  der 
Darstellungsprobleme  sowohl  in  der  Freifigur  als  im  Relief,  von  dem 
stetigen  Ausreifen  der  Faktoren  des  Raumes  und  der  Form  in  der  Durch- 
bildung des  letzteren,  von  der  organischen  Präzisierung  und  der  stofflichen 
Differenzierung  in  der  Behandlung  der  Einzelformen  einerseits,  — andrer- 
seits von  der,  parallel  mit  der  Vervollkommnung  der  formal-technischen 
Ausdrucksmittel  beständig  wachsenden  psychologischen  Durchdringung 
und  Vertiefung  der  verschiedenen  Typen  und  der  im  Zusammenhang  mit 
diesem  Streben  stattfindenden,  rastlos  immer  wieder  vorgenommenen  Um- 
bildung sowohl  derselben  als  der  kompositioneilen  Gestaltung  des  Stoffes 
auseinandergesetzt  wird,  gehört  nicht  bloß  zum  feinst  Beobachteten  und 
Empfundenen,  was  wir  bisher  vernommen;  es  geht  insofern  darüber  hinaus, 
weil  es  in  systematischen  Zusammenhang  mit  der  Entwicklung  des  Künstlers 
gebracht  ist,  weil  diese  dadurch  als  eine  völlig  einheitliche,  psychologisch 
folgerichtige  erwiesen  wird,  die  in  bewußtem,  unablässigem  Streben  nach 
Vervollkommnung,  im  heißen  Suchen  nach  dem  wurzelt,  was  er  in  der 
Welt  der  äußeren  Erscheinung  und  des  inneren  Erlebens  als  Wesentliches, 
als  Wahrheit  erkannt  hatte. 

»Nicht  künstlerische  Erwägungen  im  engsten  Sinne  bestimmen 
Donatello.  Das  Sichtbare,  Charakteristische,  Überzeugende  wollte  er  in 
der  Kunst  erobern;  er  wollte  erzählen,  so  überzeugend,  wie  das  Leben, 
wie  die  Natur  selbst.  Dazu  waren  ihm  die  Erforschung  von  Raum, 
Funktion  und  stofflicher  Charakteristik  die  Hilfsmittel.  Deshalb  sind 


380 


Literaturbericht. 


seine  Werke  immer  von  höchstem  künstlerischen  Gehalte,  trotz  formaler 
Mängel  am  Detail.«  — Diese  Leitsätze  werden  von  der  Verfasserin  an 
die  Spitze  ihrer  Darlegungen  gestellt,  auf  sie  hin  wird  des  Meisters  Werk 
in  seiner  Entwicklung  durchgeprüft.  Das  erste  Kapitel  behandelt  seine 
Reliefs.  Schon  im  frühesten  an  der  Nische  der  Georgsstatue,  tritt  er  als 
erster  an  das  Problem  der  Raumdarstellung  heran,  vervollkommt  sie  im 
Herodiasrelief  (Siena),  in  der  Marmorgeißelung  (Berlin),  der  Madonna 
bei  Dr.  Weisbach,  bei  Mr.  Shaw,  und  in  der  Himmelfahrt  am  Brancacci- 
grabmal  durch  die  Mittel  der  vertieften  Perspektive,  der  Verkürzung, 
Überschneidung  und  der  Richtungskontraste,  bis  er  im  Liller  Herodias- 
relief vollständige  Raumillusion  erreicht,  die  er  in  der  Schlüsselverleihung 
(South-Kensington)  noch  durch  die  Anwendung  der  Untensicht  steigert,  — 
nicht  als  erster,  denn  Masaccio  hatte  ihr  Prinzip  schon  in  seinem  Trinitäts- 
fresko (S.  Maria  Novella)  in  die  Kunst  eingeführt.«1)  Später  — nach 
seiner  Paduaner  Kampagne  — steigert  Donatello  das  »disotto  in  su« 
noch  weiter  in  einigen  der  Reliefmedaillons  der  Sakristei  von  S.  Lorenzo.2) 

Während  sowohl  die  Paduaner  Reliefs  als  die  der  Kanzeln  von  S.  Lorenzo 
für  das  Problem  des  Raumes  keine  neuen  Hilfsmittel  über  die  schon 
erreichten  ins  Treffen  führen,  bieten  sie  dagegen  für  die  psychologische 
Interpretation  der  Sujets  den  Kulminationspunkt  der  Kunst  unseres  Helden 
dar:  die  seelische  Erregung  flutet  in  diesen  Spätwerken  durch  ganze 
Menschenmassen,  nicht  mehr  sind  Einzelfiguren,  im  besten  Falle  kleine 
Gruppen  ihre  Träger  (wie  in  den  Reliefs  früheren  Datums).  Damit 


')  Florenz  also,  nicht  Padua,  wie  gewöhnlich  behauptet  wird,  ist  seine  Wiege; 
nach  Padua  gelangt  es  erst  durch  P.  Uccellos  dortige  (heut  untergegangene)  Arbeiten. 
Ais  frühestes  datiertes  Beispiel  einer  Darstellung  in  Untensicht,  führt  die  Verfasserin 
Paolos  di  Stefano  thronende  Madonna  von  1426  im  rechten  Schiff  von  S.  Miniato  an. 

2)  Die  Verfasserin  scheint  unsere  Datierung  derselben  gelten  zu  lassen  (Medaillons 
mit  den  Johannesszenen  nach,  alles  übrige  vor  Padua;  vgl.  L’ Arte  VI,  375).  Das 
literarische  Zeugnis,  worauf  wir  uns  a.  a.  O.  berufen,  findet  sich  in  einigen  Versen  des 
im  Cod.  Magliab.  VII.  8,  1121  enthaltenen  Lobgedichtes  auf  Florenz  und  die  Medici 
aus  den  Jahren  1459 — 1464,  worin  es  von  der  alten  Sakristei  in  S.  Lorenzo  heißt: 

Vide  la  sagrestia  chon  magnitudine 
Tal  cli’  ammirarla  avea  nel  chor  piacere 
Di  chi  1’  a fatta  et  fa  chon  dolcitudine. 

Mögen  sich  die  Worte  des  letzten  Verses  auf  den  Bauherrn  (was  wahrscheinlicher  ist) 
oder  auf  die  ausführenden  Künstler  beziehen,  in  jedem  Falle  besagen  sie,  daß  zu  jener 
Zeit  noch  an  dem  Werke  gearbeitet  wurde.  Da  nun  dessen  Architektur  lange  vollendet, 
ja  selbst  die  dekorative  Ausstattung  noch  zu  Lebzeiten  Brunelleschis  weit  vorgeschritten 
war  (s.  unsere  Brunelleschimonographie  S.  161  und  194),  so  kann  es  sich  nur  um  die 
Vollendung  der  letzteren,  die  durch  Donatellos  Berufung  nach  Padua  unterbrochen  worden 
war,  und  dabei  — aus  stilistischen  Gründen  — nur  um  die  Reliefs  mit  den  Geschichten 
aus  dem  Leben  Johannis  d.  Ev.  handeln. 


Literaturbericht. 


38l 

antizipiert  der  Meister  Probleme  des  Cinquecento  und  erreicht  — zum 
mindesten  in  den  Paduaner  Reliefs  — eine  Klarheit  der  Darstellung,  wie 
sie  jenes  selten  aufweist.  In  diesem  Zusammenhang  kommt  die  Verfasserin 
auf  die  Tonskizze  der  Geißelung  und  Kreuzigung  (South-Kensington)  zu 
sprechen,  und  weist  zuerst  nach,  daß  ihr  ein  drittes  Feld  rechts  fehlt, 
sowie  daß  ihre  jetzige  Umrahmung  einer  späteren  Zeit  angehört. 

Ein  folgender  Abschnitt  legt  die  Darstellung  der  einzelnen  Gestalt 
im  Relief  dar.  Er  ist  besonders  reich  an  feinen  wie  scharfen  Appergus, 
die  den  Leser  in  die  intimen  Geheimnisse  donatellesker  Kunst  führen 
und  ihn  zu  weiterer  Enthüllung  derselben  anregen.  Ihr  Ziel:  »das  ein- 
heitliche Sehen  des  Ganzen  in  der  klarsten  Ansicht«,  wird  in  der  fort- 
schreitenden Entwicklung  seiner  Werke  dargelegt.  Namentlich  ist  hier 
die  Analyse  der  Verkündigung,  der  Cantoriareliefs,  der  Bronzegeißelung 
(im  Louvre  und  in  Berlin),  der  beiden  Pietas  in  Padua  und  in  South- 
Kensington,  sowie  die  Würdigung  der  Arbeiten  für  die  Sakristei  von 
S.  Lorenzo  »als  frappanter  Ausdruck  des  neuen  Renaissancegefühls 
gegenüber  den  Gewölbemalereien  der  Gotik«,  endlich  der  Nachweis 
der  stetig  aufsteigenden  Linie  im  Reichtum  der  verwendeten  Motive 
und  in  den  Mitteln  ihres  Gebrauchs  bis  zu  den  Reliefs  der  Lorenzokanzeln 
hervorzuheben. 

Der  zweite  Hauptteil  unseres  Buches  ist  der  Freifigur  gewidmet. 
Im  einleitenden  Abschnitt  wird  ihre  allgemeine  Entwicklung  von  der 
relativen  Gebundenheit  der  Statuen  am  nördlichen  Domportal  und  an 
Or  S.  Michele  bis  zur  letzten  Steigerung  der  freien  und  natürlichen  Be- 
wegung in  den  Täuferstatuen  zu  Venedig  und  Siena  und  der  h.  Magdalena 
im  Baptisterium  von  Florenz  verfolgt.  Hier  findet  auch  die  Judithgruppe, 
»die  schwerste  Aufgabe  kompositioneller  Art,  die  Donatello  gestellt  worden 
ist«,  ihre  Würdigung.  Interessant  ist  die  am  Gipsabguß  gewonnene 
Feststellung,  daß  der  Moment  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Schlag 
dargestellt  ist.  Das  Werk  wird  von  der  Verfasserin  der  letzten  Florentiner 
Epoche  zugeteilt.  Es  sei  uns  gestattet,  hier  unsere  abweichende  Ansicht 
kurz  zu  begründen.  Die  absolute  Eliminierung  des  »Schönheits-Koeffizienten« 
in  den  nachpaduanischen  Arbeiten  entscheidet  u.  E.  für  die  Datierung  der 
Judith  vor  1443.  Bei  ihr  ist  die  »Linie«  noch  mitbestimmender 
Faktor  der  Komposition;  die  Formenschönheit,  das  harmonische  Abwägen 
der  Massen  spielt  hier  noch  mit;  es  fehlt  ihr  »die  momentane  Bewegung, 
schäumend  und  zuckend  bis  zum  Paroxysmus«,  es  fehlt  das  »Groteske« 
der  Schöpfungen  nach  1453,  — sie  ist  zu  »monumental«  für  diese 

Schaffensperiode.  Auch  das  »wirksame  Mittönen  der  Antike«,  das  die 
Verfasserin  an  der  Gruppe  hervorhebt,  ist  nach  1453  nicht  mehr  denkbar, 
ebensowenig  die  antikische  Dekoration.  Die  schlanken,  kleinköpfigen 


382 


Literaturbericht. 


Putten  am  Sockel  gehen  mit  denen  der  Evangelistentondi  in  der 
Sakristei  von  S.  Lorenzo,  nicht  aber  mit  den  gedrungenen,  großköpfigen 
an  den  Kanzeln  ebendort  zusammen. 

Im  folgenden  Kapitel  wird  das  Verhältnis  zwischen  Körper  und 
Gewand  in  den  Werken  Donatellos  analysiert.  Nicht  vom  Aktstudium 
kam  er  — und  die  übrigen  Bahnbrecher  des  Quattrocento  — zu  der 
natürlichen  Bewegung  der  bekleideten  Figur,  sondern  von  der  Antike  her. 
In  den  Lösungen  der  Aufgabe,  zu  denen  ihn  unablässiges  Forschen  führte, 
offenbart  sich  sein  Fortschritt,  sowohl  in  der  Charakterisierung  der  Motive 
durch  das  Gewand,  als  in  der  des  Stofflichen  bei  dem  letzteren.  Es  ergibt 
sich  dies  aus  der  Durchprüfung  seiner  einschlägigen  Schöpfungen,  von 
den  zwei  Prophetenstatuetten  am  Domportal  und  dem  Marmordavid  im 
Bargello  an,  durch  den  h.  Marcus,  den  Ritter  Georg,  den  E^ng.  Johannes, 
den  h.  Ludwig,  bei  dem  zuerst  »Ernst  gemacht  wird,  mit  der  Forderung, 
dem  Gewand  seine  Selbständigkeit  in  räumlicher  und  stofflicher  Hinsicht 
zu  gewähren«,  den  Täufer  für  Orvieto,  worin  das  eben  erwähnte  Problem 
nicht  nur  zuerst  vollkommen  gelöst,  sondern  auch  zur  Akzentuierung  des 
Bewegungsmotivs  ausgenutzt  erscheint,  bis  zu  den  gerade  nach  dieser 
Richtung  grandiosen  Statuen  des  Zuccone  und  Jeremias  und  den  das 
Prinzip  in  abgeklärter  Schönheit  versinnlichenden  Statuen  im  Santo  zu 
Padua. 3)  Eine  gleiche,  stetig  fortschreitende  Vervollkommnung  gilt  auch 
iür  die  Darstellung  der  Gewandfigur  im  Relief.  Hier  wird  besonders  der 
plastische  Schmuck  für  die  Sakristei  von  S.  Lorenzo  hervorgehoben  als 
»erste  ganz  renaissancemäßige  Reliefdarstellungen  der  bekleideten  Figur,  die 
der  Illusion  des  Stofflichen  und  der  Klarlegung  der  Bewegung  in  gleichem 
Maße  gerecht  werden«.  Bei  der  Verkündigung  in  S.  Croce  wird  an  das  feine 
Urteil  Vasaris  erinnert,  worin  das  Entscheidende,  Neue  — Klarheit  der 
Körperbewegung  geeint  mit  Schönheit  des  Faltenwurfs  — treffend  betont 
erscheint.  Endlich  werden  noch  die  Madonnenreliefs  auf  das  Streben,  die 
Formen  sorgfältig  durchzubilden,  zu  differenzieren,  zu  teilen  durch- 


3)  Hier  erwähnt  die  Verfasserin  auch  die  vier  Evangelisten  (nicht  Heiligenstatuen!), 
deren  Stuckmodelle,  für  die  Ausführung  in  Bronze  oder  Marmor  geschaffen,  schon  Billi 
im  Querschiff  (nicht  in  der  Vierung!)  von  S.  Lorenzo  anführt.  Noch  Burkhardt  sah  sie  an 
Ort  und  Stelle,  denn  in  der  ersten  Auflage  des  Cicerone  S.  598  sagt  er  darüber:  »die 
vier  Stuckfiguren  an  beiden  Enden  des  Querschiffs  von  S.  Lorenzo  (oben)  erscheinen 
wie  flüchtige  Improvisationen  für  einen  Zweck  des  Augenblicks  und  dürfen  unbeschadet 
dem  Ruhm  Donatellos  verschwinden«.  Trotz  dieses  herben  Urteils  bleibt  ihr  Verlust 
sehr  zu  bedauern  — waren  es  doch  Arbeiten  des  großen  Meisters!  Sie  wurden  — wie 
wir  aus  dem  Munde  des  seit  fünfzig  Jahren  seines  Amtes  waltenden  Prete  sacrista  von 
S.  Lorenzo  erfuhren  — bei  Gelegenheit  der  letzten  Erneuerung  des  Innern  der  Kirche 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  aus  ihren  Nischen  entfernt  und  zerfielen  bei 
dieser  in  wenig  sorglicher  Weise  vorgenommenen  Operation  in  tausend  Stücke. 


Literaturbericht.  383 

genommen;  denn  auch  bei  ihnen  — namentlich  den  späteren  — tritt 
das  Gewand  als  wesentlich  mithestimmender  Faktor  in  Wirkung. 

Gegenstand  des  nächsten  Abschnittes  bildet  der  nackte  Akt.  Er 
tritt  im  Werk  des  Meisters  gegen  die  gewandete  Figur  zurück,  nur  vier 
selbständige  Arbeiten  solcher  Art  (abgesehen  von  den  kleinen  Putten- 
figuren) hat  er  geschaffen:  die  beiden  Kruzifixe,  den  Bronzedavid  und  — 
gemeinsam  mit  Rosso  — den  Isaak  am  Campanile.  Die  Verfasserin  weist 
bei  den  frühesten  Akten  in  Proportion  und  Formbehandlung  den  unmittel- 
baren Zusammenhang  mit  der  Antike  nach,  wobei  das  Verhältnis  des 
Meisters  zur  letzteren  durch  eine  Reihe  tiefer  Beobachtungen  präzisiert 
wird.  Erst  später  gewinnen  die  Natureindrücke  hier  die  Oberhand,  wofür 
der  Vergleich  der  beiden  Gekreuzigten  lehrreich  erscheint.4)  Für  die 
Putten  — namentlich  die  Sieneser  — wird  besonders  fein  hervorgehoben, 
wie  die  Illusion  des  Lebens  hier  vielmehr  auf  der  intimen  Wiedergabe 
der  kindlichen  Geste  als  der  Präzisierung  der  Einzelform  beruhe,  und 
wie  — um  die  Illusion  des  kindlich  Unentwickelten  zu  erreichen,  mit 
erstaunlichem  künstlerischen  Takt  nur  die  Formen  gegeben  werden,  die 
für  den  Bewegungseindruck  entscheidend  sind.  5) 

Raummangel  verbietet  uns  leider  darauf,  was  in  einem  folgenden 
Kapitel  ergänzend  zu  dem  vorangehenden  über  die  Aktdarstellung  im 
Relief  und  den  Halbakt  ausgeführt  wird,  einzugehen.  Wir  wenden  uns 
zum  Schlußabschnitt  der  von  »Formdurchbildung  und  donatellesker  Psycho- 
logie« handelt.  Er  bietet  gleichsam  eine  Zusammenfassung  von  höherem 
Standpunkt  genommen;  die  »anschauliche  Erkenntnis«,  die  der  große 
Pfadfinder  im  Laufe  von  sechs  Dezenien  erobert  hat,  und  die  in  der 
Präzisierung  der  Einzel  form  ihren  Schwerpunkt  findet,  wird  an  der  Reihe 
seiner  Schöpfungen  nachgewiesen.  Für  die  Durchbildung  des  männlichen 

4)  Wenn  die  Verfasserin  behauptet,  durch  Zahlungsberichte  sei  die  Mithilfe 
Giov.’s  da  Pisa  am  Paduaner  Kruzifixe  erwiesen,  so  beruht  dies  auf  einem  Mißverständnis. 
Jener  »M°:  Zuan  so  compagno«  (Gloria,  p.  4),  der  im  Januar  1444  Metall  für  den  Guß 
des  Werkes  übernimmt,  ist  Giovanni  Nani,  1443  — gleichzeitig  oder  etwas  vor  Donatello  — 
für  die  Ausführung  der  Steinhauerarbeiten  am  Chorlettner  usw.,  nicht  aber  für  die  Mit- 
arbeit an  den  Bronzewerken  nach  Padua  berufen.  Giov.  da  Pisa  tritt  erst  anfangs  1446 
mit  den  übrigen  »garzoni«  in  Aktion  (Gloria,  p.  XX) ; dazumal  war  aber  das  Kruzifix 
schon  vollendet,  denn  Mitte  1447  wird  Giov.  Nani  für  dessen  vor  einiger  Zeit  gearbeitetes, 
aber  erst  jetzt  in  Gebrauch  genommenes  Piedestal  bezahlt.  In  ihrem  chronologischen 
Prospekt  hat  die  Verfasserin  übrigens  diese  Daten  richtig  angegeben  (s.  S.  127). 

5)  Die  Verfasserin  — wie  auch  Bode  im  Jahrbuch  d.  preuß.  Kunstsammlungen 
1902,  S.  77  — spricht  von  drei  Putten  Donatellos  unter  den  fünf  am  Taufbrunnen. 
In  Wirklichkeit  sind  dort  seit  Jahren  bloß  vier  vorhanden  (zwei  fehlen),  und  von  diesen 
nur  zwei  von  Donatello  — eben  die  mit  den  kranzumwundenen  Muscheln  als  Basis 
(die  übrigen  zwei  unzweifelhaft  von  Turini).  Der  dritte  Putto,  den  Donatello  für  das 
Werk  lieferte,  wird  wohl  mit  dem  kürzlich  ins  Berliner  Museum  gelangten  identisch  sein  I 


384 


Literaturbericht. 


Typus  in  seinen  verschiedenen  Varianten  war  das  Leben  sein  Vorbild  und 
Lehrmeister;  für  die  Typen  der  Frau,  des  Jünglings  und  Kindes  ist  er  — 
in  Körper  und  Kopf  — mehr  von  der  Antike  abhängig.  Der  Grund 
davon  wird  geistvoll  dargelegt,  die  Tatsache  namentlich  an  den  Madonnen 
treffend  exemplifiziert.  Den  Gipfelpunkt  der  Formdurchbildung  bezeichnen 
die  Arbeiten  für  Padua  und  die  Statuen  der  Spätzeit  (Täufer  in  Venedig 
und  Siena,  h.  Magdalena,  Judith):  die  Formen  sind  bis  ins  Detail  hinein 
in  ihrer  Funktionsbedeutung  erkannt,  die  Illusion  des  Stofflichen  nach 
jeder  Richtung  vollkommen  erreicht,  die  psychologische  Differenzierung 
in  Tiefe  und  Intensität  des  - Ausdrucks  auf  schier  unglaubliche  Höhe 
gesteigert.  (Erasmo  di  Narni!)  Manches  weniger  befriedigende  in  den 
Santostatuen  ist  auf  Rechnung  von  Schülerhänden  zu  setzen.)6)  Mit  einer 
feinsinnigen  Darlegung  der  Um-  bezw.  Weiterbildung,  die  das  Kind  im 
Verlaufe  von  Donatellos  Entwicklung  erfährt,  und  mit  dem  Nachweis  der 
seelischen  Vertiefung  bei  d'er  Behandlung  erzählender  Stoffe,  wie  der 
immer  wieder  aufgenommenen  Verkörperung  bestimmter  Typen  (Täufer, 
David)  schließt  dieser  Abschnitt,  dem  die  Verfasserin  auf  einigen  Seiten 
noch  eine  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  ihrer  Forschungen  und  eine 
Würdigung  der  »Tat«  ihres  Helden  folgen  läßt. 

Wir  können  von  der  ausgezeichneten  Arbeit  der  Verfasserin  nicht 
Abschied  nehmen,  ohne  noch  mit  Dank  der  sorgfältigen  »chronologischen 
Tabelle«  im  Anhang  zu  gedenken,  wodurch  nunmehr  die  vielfach  lücken- 
hafte in  der  letzten  Vasariausgabe  ersetzt  wird.  C.  v.  Fabriczy. 


Kunsthandwerk. 

Chefs-d’ceuvre  d’Art  Japonais  par  Gaston  Migeon.  Paris,  Ateliers 
photomecaniques  D.  A.  Longuet  (1905).  Folio. 

Die  goldenen  Zeiten  für  das  Sammeln  japanischer  Kunstgegenstände 
sind  vorüber.  Wer  jetzt  noch  derartiges  erwerben  will  — und  die  Staats- 
museen werden  sich  dieser  Pflicht  nicht  entziehen  können,  wenn  sie  das 
Versäumte  nachholen  wollen  — der  muß  auf  einen  harten  Kampf  gefaßt 
sein.  Das  zeigte  schon  die  Versteigerung  Gillot  im  Jahre  1904.  Dafür 
aber  beginnt  sich  auch  endlich  das  Urteil  über  das,  was  wirklich  wert- 
voll an  den  japanischen  Kunstwerken  ist,  zu  klären,  so  daß  die  Gewähr 
für  eine  gute  Anlage  des  Geldes  gestiegen  ist. 

6)  Die  Bestimmung  der  in  diesem  Zusammenhänge  erwähnten  Bronzebüste  des 
Bargello  auf  Contessina  de’  Bardi,  Gattin  Cosimo  Medicis,  läßt  sich  nicht  aufrecht  erhalten, 
da  sie  sieben  Jahre  nach  Donatello  starb.  Neuerdings  ist  ihre  Identifizierung  mit  Ginevra 
Cavalcanti,  der  Gattin  seines  Bruders  Lorenzo  in  Vorschlag  gebracht  worden. 


Literaturbericht. 


385 


In  dieser  Hinsicht  ist  das  vorliegende  Werk  geeignet,  wesentliche 
Dienste  zu  leisten.  Denn  da  es  auf  seinen  100  Lichtdrucktafeln  eine 
Auswahl  von  über  1100  Gegenständen  aus  den  verschiedensten  Arten 
des  Kunstbetriebes  vorführt,  die  durchaus  mit  feinstem  Verständnis  aus- 
gewählt sind,  und  dabei  durch  den  billigen  Preis  von  75  Franken  jedem, 
der  sich  mit  Japan  zu  beschäftigen  hat,  leicht  zugänglich  ist,  so  vermag 
nicht  mehr  die  Entschuldigung  zu  ziehen,  daß  man  sich  eben  unter 
japanischer  Kunst  etwas  ganz  anderes  denke,  nämlich  jene  übertrieben 
zierliche,  wohl  immer  gedankenreiche,  aber  durch  die  zu  starke  Betonung 
des  Technischen  handwerksmäßig  gewordene  Behandlungsweise,  welche 
die  japanische  Kunst  wohl  in  Europa  bekannt  gemacht  hat,  doch  aber 
nur  ein  Erzeugnis  der  mit  dem  18.  Jahrhundert  bereits  beginnenden  Ver- 
fallzeit gewesen  ist. 

Wie  der  japanische  Künstler  der  guten  alten  Zeit  stets  vor  allem 
auf  eine  kräftige,  dabei  im  höchsten  Grade  persönliche  Wirkung  aus- 
gegangen ist,  seine  unglaublich  entwickelte  Technik  also  nur  als  Mittel 
für  den  Ausdruck  ganz  bestimmter  künstlerischer  Absichten  benutzte,  die 
jedem  Gegenstände  sein  ganz  besonderes  individuelles  Gepräge  verliehen, 
das  kann  man  hier  in  leichtem  Überblick  lernen.  Jede  solche  Schöpfung 
prägt  sich  ohne  weiteres  dem  Gedächtnis  ein  und  bekundet  sich  dadurch 
als  ein  echtes  Kunstwerk,  dessen  Bedeutung  weit  über  die  technischen 
Vorzüge  hinausgeht. 

An  den  Anfang  sind  die  Zeichnungen  und  Holzschnitte  gestellt, 
auf  nicht  weniger  als  21  Tafeln,  die  116  Gegenstände  enthalten.  Da 
sind  buddhistische  Malereien  des  11.  und  i2.Jahrh.  (Nr.  4,  5),  ein  kraftvoller 
Setzschirm  von  Keno  Yeitoku  (18),  andere  aus  dem  17.  Jahrh.  (30,  31,  33, 
38,  43,  44),  die  besonders  zierlichen  Blumendarstellungen  Sotatsus  (42, 
57,  71),  ein  Schirm  von  Hokusai  (73),  eine  Schneedarstellung  von  San- 
setsu  (76),  eine  Genreszene  von  Kiyonaga  (96);  unter  den  Holzschnitten 
ein  schöner  Kiyonobu  (84). 

Die  Holzskulpturen  hätte  man  vielleicht  noch  zahlreicher  gewünscht, 
doch  wird  man  dafür  durch  die  Wiedergabe  der  großen  frühen  Kolossal- 
figur aus  dem  Louvre  (118)  und  das  wunderbare  Bildnis  eines  sitzenden 
Priesters  (142)  entschädigt. 

Dann  folgen  Masken,  weiterhin  Lacke.  Unter  den  frühen  sind  die 
Nrn.  214,  218,  230  hervorzuheben,  ferner  der  Korin  Nr.  279.  Die  Töpfe- 
reien lassen  natürlich  am  meisten  die  Farben  vermissen;  immerhin  ist 
es  erwünscht,  hier  koreanische  abgebildet  zu  finden  (426,  431),  sowie 
schöne  Kenzans  (487,  500  fg).  Das  Porzellan  spielt  eine  geringere  Rolle. 

Für  die  Kenntnis  der  Entwickelung  des  Stichblattes  ist  die  hier 
abgebildete  Reihe  (Nr.  564 — 685  auf  8 Tafeln)  sehr  belehrend.  Unter 


386 


Literaturbericht. 


den  Bronzen  befindet  sich  ein  archaisches  Stück  (688);  neben  einem 
chinesischen  Spiegel  (706)  auch  japanische  (694  fg.)  und  die  interessante 
Reihe  von  kleineren  Tieren  aus  dem  Besitz  von  Ch.  Haviland.  Den  Be- 
schluß machen  einige  Waffen  und  eiserne  Tiere  mit  beweglichen  Glied- 
maßen. 

Reich  ist  die  Zahl  der  Netskes  aus  Holz  und  aus  Elfenbein,  der 
Schwertzieraten  und  der  Messergiffe.  Endlich  ist  auf  den  Tafeln  90  — 98 
eine  große  Menge  ausgewählter  Stoffe  abgebildet. 

Mit  Ausnahme  zweier  Stücke  sind  alle  aus  Pariser  Sammlungen 
entnommen.  Freilich  ist  auch  in  dieser  Stadt  das  Verständnis  für  den 
eigenartigen  Reiz  und  die  besondere  Schönheit  der  japanischen  Kunst- 
erzeugnisse zuerst  gepflegt  und  unausgesetzt  genährt  worden. 

W.  v.  Seidlitz. 


Kunsttopographie. 

Die  Markgrafschaft  Mähren  in  kunstgeschichtlicher  Beziehung. 
Grundzüge  einer  Kunstgeschichte  dieses  Landes  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der  Baukunst.  Von  August  Prokop.  — 
Druck  und  Kommissionsverlag  von  R.  Spies  & Co.,  Wien  1904.  Vier 
Bände  mit  einer  Karte,  1660  Text-  und  Vollillustrationen,  genealogischen 
Tabellen,  chronologischen  Baudaten  usf. 

Österreich  entbehrt  trotz  dem  mehr  als  fünfzigjährigen  Bestände 
seiner,  k.  k.  Zentralkommission  für  Erforschung  und  Erhaltung  der  Kunst- 
und  historischen  Denkmale  noch  immer  auch  nur  der  Anfänge  einer 
wissenschaftlichen  Kunsttopographie.  An  Vorarbeiten  und  zum  Teil  recht 
verdienstlichen  Anläufen  fehlt  es  ja  nicht.  Aber  ihre  Ergebnisse  liegen 
in  den  zahlreichen  Jahrbüchern  und  Mitteilungen  jener  Kommission,  dann 
der  Altertumsvereine,  in  allen  Zeitschriften  der  Kunst-  und  Weltgeschichte 
zusammenhanglos  verstreut,  so  daß  es  selbst  dem  Einheimischen  schwer 
wird,  sich  in  kunsttopographischer  Hinsicht  ein  verläßliches  Bild  seiner 
nächsten  Umgebung  lückenlos  zu  verschaffen. 

Der  Fehler  liegt  darin,  daß  die  amtlich  bestellten  Konservatoren 
ihre  viel  zu  weit  ausgedehnten  Bezirke  nur  im  Nebenamt  verwalten.  Es 
fehlt  eben  vor  allem  auch  an  Geld  und  hängt,  so  seltsam  es  in  diesem 
Falle  klingen  mag,  von  der  privaten  Wohltätigkeit  und  dem  Opfermute 
einzelner  ab,  um  zu  zeit-  und  kostspieligen  Aufnahmen  zu  gelangen. 

Daß  unter  solchen  Umständen  jede  Arbeit,  wie  immer  sie  auch 
beschaffen  sein  mag,  als  Vorstoß  willkommen  sein  muß,  ist  klar.  Denn 
von  Fehlern  wimmelt  es  ja  über  österreichische  Kunstverhältnisse  in  allen 
Kunsthandbüchern,  nicht  zumindest  auch  z.  B.  in  Ebes  Cicerone.  Mit 


Literaturbericht. 


387 


Recht"  hat  man  den  in  erster  Linie  dazu  berufenen  österreichischen  For- 
schern deshalb  stets  den  Vorwurf  gemacht,  daß  sie  zu  wenig  über  ihr 
Heimatland  selbst  arbeiten  und  veröffentlichen. 

Es  ist  deshalb  immer  zu  begrüßen,  wenn  sich  beherzte  Männer 
finden,  welche  die  großen  materiellen  Schwierigkeiten  einer  solchen  Arbeit 
auf  sich  nehmen  und  kühn  in  die  Bresche  springen,  wie  es  der  Verf. 
getan.  Dazu  kommen  die  unleugbar  hohen  Anforderungen,  welche  an 
Werke  wie  etwa  das  vorliegende  unbedingt  gestellt  werden  müssen.  Denn 
bei  den  großen  Kosten,  die  allein  seine  reiche  Ausstattung  erfordert,  ist 
eine  Wiederholung  eines  derartigen  Experimentes  auf  Jahre  hinaus  aus- 
geschlossen. Wenn  man  überdies  bedenkt,  daß  hierzu  ebensosehr  ein 
genauer  und  verläßlicher  Kenner  aller  archivalischen  Quellen  wie  ein 
technisch  geschulter  Praktiker  und  nicht  zuletzt  ein  genauer,  gewissen- 
hafter Beobachter  der  fortschreitenden  wissenschaftlichen  Forschungen  bis 
in  ihre  letzten  Ergebnisse  unbedingt  erforderlich  ist,  so  wird  man  es  von 
vornherein  für  menschenunmöglich  halten,  daß  ein  einzelner  ein  ganzes 
Land  allein  in  gleichmäßiger  Gründlichkeit  zu  durchforschen  vermag. 
Am  allerwenigsten,  wenn  er  wie  der  Verf.  als  Professor  der  technischen 
Hochschulen  (zuerst  in  Brünn,  dann  in  Wien),  zugleich  eine  Zeitlang 
auch  als  Direktor  des  Mährischen  Gewerbemuseums  und  vor  allem  als 
ausführender  Architekt  auf  vielen  Gebieten  gleichzeitig  sich  umfassend 
betätigt  hat. 

In  diesem  jahrzehntelangen  Fleiß,  mit  welchem  der  Verf.  in  zäher 
Tatkraft  seiner  schwierigen  Aufgabe  nachging,  in  der  darin  ‘lebhaft 
bekundeten  Liebe  zu  seiner  engeren  Heimat  liegt  die  Größe  der  Arbeit 
und  auch  der  Grund,  warum  sie  jede  eingehendere  Kritik  entwaffnet. 
An  einem  Lebenswerke  nörgelt  man  nicht,  auch  wenn  man  es  anders 
wünscht.  Überdies  ist  sich  der  Verf.  seiner  Verantwortlichkeit  vollkommen 
bewußt  und  nennt  dieses  1492  Druckseiten  umfassende  Werk  ausdrücklich 
bloß  eine  Studie  und  ein  Nachschlagewerk.  Diesen  Anspruch  kann  es 
erheben,  wenngleich  es  betreffs  der  letzteren  Absicht  bedauert  werden 
muß,  daß  die  vom  Verf.  selbst  gewünschte  Umarbeitung  des  Stoffes  nicht 
zustande  kam. 

Der  erste  Band  dieses  groß  angelegten  und  ungewöhnlich  reich 
illustrierten  Werkes  behandelt  das  Mittelalter  bis  hinunter  in  die  Vor- 
geschichte, dann  namentlich  den  romanischen  Stil,  den  Burgenbau  und 
die  bedeutenden  Reste  frühmittelalterlichen  Kirchenbaues  (Kloster  Bruck 
bei  Znaim,  Welehrad,  Trebitsch,  Tischnowitz)  mit  einer  topographischen 
Aufzählung  aller  Bauwerke  und  zahlreichen  weitausgesponnenen  Ver- 
gleichen mit  außermährischen  Arbeiten,  auch  Seitenblicken  auf  Handel, 
Gewerbe  und  Kunsthandwerk.  Es  liegt  nun  in  der  Natur  eines  der- 


388 


Literaturbericht. 


artigen  Unternehmens,  dem  staatlich  unterstützte  Ausgrabungen  nicht  von 
Schritt  zu  Schritt  zur  Seite  gehen,  daß  gerade  für  jene  älteste  Zeit  jeder 
Tag  neue  Überraschungen  bringen  und  die  besten  Hypothesen  Umstürzen 
kann.  So  haben  die  jüngsten  Nachforschungen  in  Welehrad,  der  heiß- 
umstrittenen Grabstätte  des  hl.  Methodius  und  der  Residenz  der  groß- 
mährischen Herrscher,  neuerdings  ergeben,  daß  der  vom  Yerf.  seinerzeit 
rekonstruierte  Plan  der  alten  Kirchenanlage  einer  Richtigstellung  bedarf. 

Mit  noch  größerer  Spannung  wird  man  den  zweiten  Band  zur  Hand 
nehmen,  der  die  Gotik  behandelt.  Gibt  es  da  doch  noch  eine  Unzahl 
einschneidender  ungelöster  Fragen,  deren  Durchforschung  von  großer 
Bedeutung  wäre.  Leider  ist  es  auch  dem  Fleiße  des  Yerf.  nicht  gelungen, 
die  sagenhafte  Beteiligung  Heinrichs  von  Gmünd  am  Bau  der  Brünner 
Jakobskirche  auf  sicheren  Grund  zu  stellen.  Ebenso  bleibt  die  Gestalt 
des  hervorragendsten  Brünner  Steinmetzen  Anton  Pilgram  verschwommener, 
als  man  nach  seiner  so  bedeutsamen  Beteiligung  an  der  Wiener  Stephans- 
kirche vermuten  durfte.  Der  Verf.  beklagt  bei  diesem  Anlasse  freilich 
mit  gutem  Grunde  das  vorläufige  Schweigen  archivalischer  Nachrichten 
und  den  Zeitmangel,  der  ihm  versagte,  deren  Spuren  nachzugehen.  Er 
trifft  sich  darin  mit  unserer  Anschauung,  daß  es  infolgedessen  eigentlich 
verfrüht  ist,  eine  Gesamtgeschichte  zu  schreiben,  so  lange  es  noch  an 
einer  genügenden  Zahl  verläßlicher  Monographien  fehlt.  Mähren  ist  einer- 
seits an  Bauwerken,  andererseits  an  Archiven  ja  so  reich,  daß  noch 
manches  Menschenleben  an  ihre  Durchforschung  gewendet  werden  muß. 
Überdies  kann  die  strenge  Stilkritik  mit  der  Beschränkung  auf  die  Grenzen 
eines  Landes  — das  noch  dazu  den  Charakter  eines  Durchzugslandes 
trägt  — sich  nie  zufrieden  geben.  Gerade  diese  Abhängigkeit  aber  von 
der  Entwicklung  andernorts  steigert  die  Schwierigkeiten,  wenigstens  für 
den  einzelnen,  fast  ins  Unüberwindliche. 

Der  dritte  Band  ist  der  Renaissance,  der  vierte  dem  Zeitalter  der 
Barocke  gewidmet,  welch  letzteres  für  Mähren  wie  für  andere  Teile 
Österreichs  die  Glanzzeit  bedeutet.  Nie  hat  die  Kirche  und  die  große 
Zahl  reichbegüterter  Adelsgeschlechter  mehr  getan  als  damals.  Was  die 
Boskowitz,  Bukuwka,  Zierotin  begonnen,  setzen  die  Liechtenstein,  Dietrich- 
stein, Rottal,  A Ith  an  u.  s.  v.  a.  fort.  Es  ist  die  Zeit  der  Fischer  von 
Erlach,  Fontana,  Gran,  die  neben  anderen  auch  in  Mähren  wirken,  das 
bewundernswerte  Ringen  zwischen  wälscher  und  deutscher  Kunst,  ein 
wahrer  Frühling  für  den  Schloß-  und  Kirchenbau,  der  in  Frain,  Auster- 
litz, Butschowitz  usf.,  in  Olmütz,  Kremsier,  Brünn,  ja  in  allen  Teilen 
des  Landes  eine  mächtige,  früher  nie  beachtete  Baubewegung  zutage 
fördert.  Es  ist  das  Verdienst  dieses  Werkes,  ohne  wesentlich  neues  bei- 
zubringen, doch  darauf  zum  ersten  Male  im  Zusammenhänge  hingewiesen 


Literaturbericht. 


38  9 


zu  haben.  Zahlreiche,  zum  teil  recht  gute  Abbildungen  unterstützen  hier- 
bei die  Beschreibung  in  zweckdienlicher  Weise.  Besonders  willkommen 
sind  auch  die  Grundrißaufnahmen  zahlreicher  Gebäude. 

Betrachtungen  über  die  Malerei  und  Bildhauerei  sollen  das  Bild 
der  Baukunst  ergänzen.  Hier  wächst  nun  trotz  der  Nähe  der  Zeit  die 
Schwierigkeit  ins  ungemessene  mit  der  Zahl  der  Arbeiten  ohne  Künstler- 
namen und  der  Künstlernamen  ohne  Arbeit.  Schon  ein  Blick  in  das 
Namensverzeichnis  überzeugt,  daß  es  noch  angestrengter  Arbeit  bedarf, 
um  die  so  umfassende  Vorarbeit  des  Verf.  in  alle  Einzelheiten  zu  ver- 
folgen. Betreffs  des  bedeutenden  Freskomalers  Thaddäus  Supper  mag 
deshalb  nur  nebenbei  bemerkt  werden,  daß  es  einen  Trebitscher  Maler 
dieses  Namens  nicht  gab  und  es  wohl  auch  nur  ein  Irrtum  ist,  anzu- 
nehmen, dieser  1712  in  Müglitz  geborene  Künstler  sei  schon  mit  vier 
oder  fünf  Jahren  in  die  Lehre  gekommen. 

Man  müßte  noch  größere  Arbeit  wie  der  unermüdliche  Verf.  selbst 
leisten,  wollte  man  jede  seiner  Angaben  in  dieser  Weise  kritisch  prüfen. 
Sein  Zweck  war  ja  auch  vielmehr,  sagen  wir,  ein  agitatorischer:  er  wollte 
sein  Heimatland,  dessen  Kunstschätze  bisher  viel  zu  wenig  bekannt, 
geschweige  denn  geschätzt  waren,  weiten  Kreisen  rühmen.  Mit  der  Liebe 
eines  begeisterten  Sohnes.  Das  ist  ihm  gelungen,  und  dafür  gebührt  ihm 
Dank  und  Anerkennung.  Julius  Leisching  (Brünn). 


Bei  der  Redaktion  eingegangene  Werke. 


Ambrosoli,  Solone.  Atlantino  di  Monete  Papali  Moderne.  Con 
200  fotoincisioni.  Milano.  Ulrico  Hoepli.  L.  2.50. 

Atti  del  Congresso  inter nazionale  di  scienze  storiche.  (Roma, 
1 — 9 Aprile  1903.)  Volume  VII.  Atti  della  Sezione  IV:  Storia 
dell’  Arte.  Roma.  Ermanno  Loescher  & Co.  Fr.  12. 

Bergner,  Heinrich.  Kirchliche  Kunstaltertümer  in  Deutschland. 
Mit  2 Tafeln  in  Farbendruck  und  Autotypie  sowie  über  500  Abb. 
im  Text.  Lieferung  5 und  6 (Schluß).  Leipzig.  Chr.  Herrn. 
Tauchnitz.  M.  5 und  3. 

Brunn.  Heinrich  Brunns  kleine  Schriften.  Gesammelt  von  Hein- 
rich Bulle  und  Hermann  Brunn.  2.  Band.  Zur  griechischen 
Kunstgeschichte.  Mit  69  Abbildungen.  Leipzig  und  Berlin. 

B.  G.  Teubner. 

Craig,  E.  Gordon.  Die  Kunst  des  Theaters.  Berlin  und  Leipzig. 

Hermann  Seemann  Nachfolger.  M.  1.50. 

Dresdener  Jahrbuch  1905.  Beiträge  zur  bildenden  Kunst. 
Herausgegeben  von  Karl  Koetschau  und  Fortunat  von  Schu- 
bert-Soldern.  Mit  Lichtdrucktafeln  und  Textabbildungen.  Dres- 
den. Wilhelm  Baensch. 

Hevesi,  Ludwig.  Rudolf  von  Alt.  Variationen.  Wien.  Carl  Konegen. 
I Monasteri  di  Subiaco.  I.  P.  Egidi,  Notizie  storiche.  P. 
Giovannoni,  L’  architettura.  F.  Hermanin,  Gli  Affreschi. 
II.  Vincenzo  Federici,  La  Biblioteca  e 1’  archivio.  Roma. 
A cura  e spese  del  Ministero  della  pubblica  istruzione.  Jeder  Band 
L.  15. 

Petkowic,  Wladimir.  Ein  frühchristliches  Elfenbeinrelief  im 
Nationalmuseum  zu  München.  Inauguraldissertation.  Halle  a.  S. 

C.  A.  Kaemmerer  & Co. 

Schmarsow,  A.  Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft  am  Über- 
gang vom  Altertum  zum  Mittelalter,  kritisch  erörtert  und 
in  systematischem  Zusammenhang  dargestellt.  Leipzig  und 
Berlin.  B.  G.  Teubner. 

Siren,  Osvald.  Don  Loren  zo  Monaco.  Mit  54  Lichtdruck  tafeln.  Straß- 
burg. J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  20. 

Wehner,  Heinrich.  Über  die  Kenntnis  der  magnetischen  Nofd- 
weisung  im  frühen  Mittelalter.  Berlin.  C.  A.  Schwetschke 
& Sohn. 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro 

bei  Ferentillo. 

Von  August  Schmarsow. 

Von  den  gewohnten  Wegen  unsrer  italienischen  Studienfahrten  etwas 
abseits  liegt  an  der  Straße  von  Terni  nach  Spoleto,  sechs  Kilometer  jen- 
seits Ferentillo  in  Val  Nerina  die  alte  Abteikirche  der  Benediktiner 
S.  Pietro,  deren  Inneres  sozusagen  von  oben  bis  unten  mit  Wandmalereien 
aus  verschiedenen  Zeiten  bedeckt  ist.  Nur  wenige  Forscher  scheinen 
sie  überhaupt  zu  kennen,  und  das  Urteil  über  die  ältesten  und  wert- 
vollsten Bestandteile  ist,  bis  auf  eine  allzu  rücksichtsvolle  und  deshalb 
unbeachtet  gebliebene  Stimme,  ein  gänzlich  verfehltes,  das  dringend  der 
Berichtigung  bedarf.  Erst  eine  zutreffende  Zeitbestimmung  des  ursprüng- 
lich das  ganze  Langhaus  und  wahrscheinlich  auch  das  übrige  erfüllenden 
Bilderzyklus  vermag  den  Überresten  dieses  umfassenden  Denkmals  der 
Malerei  ihre  volle  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Kunst  und  ihren 
Platz  in  der  Entwicklung  zu  sichern. 

Als  im  Laufe  der  sechziger  Jahre  des  verflossenen  Jahrhunderts  (?)  die 
Familie  Ancajani,  in  deren  Besitz  die  Abtei  schon  lange  übergegangen 
war,  das  Kirchendach  erneuern  ließ,  um  das  Innere  vor  weiterem  Ver- 
derben zu  schützen,  kamen  oben  zwischen  den  Fenstern  unter  der  Tünche, 
die  sie  versteckt  hatte,  Wandmalereien  zum  Vorschein.  Giovanni  Battista 
de  Rossi  hat  wohl  das  Verdienst,  ihre  sorgfältige  Freilegung  veranlaßt  zu 
haben.  Aber  bei  dem  ersten  Besuch  interessierten  ihn  mehr  die  sechs 
antiken  Sarkophage,  die  hier  und  da  zu  christlichen  Grabstätten  verwertet 
waren,  — der  eine  zeigt  die  Eberjagd  Meleagers,  wenn  auch  nur  zur 
einen  Hälfte  leidlich  erhalten,  der  andere,  leider  zerbrochene,  schon  jene 
Genreszenen  auf  Segelboten  spielender  Eroten,  wie  sie  auch  altchristliche 
Mosaiken  in  römischen  Basiliken  wiederholen,  — und  die  Fragmente  von 
Reliefplatten  mittelalterlicher  Steinmetzarbeit,  die  zu  einem  Altaraufbau 
gehört  zu  haben  scheinen,  den  Hildericus  Dagileopa,  ein  Longobarden- 
fürst,  gestiftet,  und  Magister  Ursus  als  sein  Werk  bezeichnet  hat1).  Einer 
jener  antiken  Sarkophage,  mit  Herkulesarbeiten  und  Einzelfiguren  unter 

')  Bullettino  di  archeologia  christiana  1875  p.  155  ff. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


27 


392 


August  Schmarsow: 


flachgehaltener  Arkadenstellung,  enthielt  die  Gebeine  des  Gründers  der 
Benediktinerabtei,  Herzog  Farualdus  II.  von  Spoleto,  der  nach  Angabe 
der  spät  darüber  gemalten  Inschrift  (XVII.  Jh.)  im  Jahre  728  als  Abt  des 
Klosters  S.  Pietro  gestorben  ist.  Dieses  Datum  verleitete  de  Rossi  zu  der 
Angabe,  auch  die  Wandgemälde  seien  aus  dieser  Zeit.  „Cette  abbaye 
fut  construite  au  huiti£me  si£cle  par  Faroalde,  duc  de  Spoleto,  et  c’est 
vers  le  meine  temps  que  les  murailles  de  l’eglise  furent  recouvertes  de 
fresques  representant  tout  le.  grand  cycle  biblique,  de  la  Genese  au 
Nouveau  Testament.“2) 

Diese  Datierung  entstand  also  durch  die  Annahme,  der  Bau  der 
Kirche  selbst  sei  noch  der  ursprüngliche,  der  Gründung  des  728  hier  un- 
weit des  Hochaltars  bestatteten  Farualdus.  Aber  schon  dies  ist  ein  Irrtum, 
dem  sich  der  heutige  Stand  der  Forschung  von  vornherein  wiedersetzt: 
nur  einzelne  Bestandteile  mit  antiken  Gesimsstücken  oder  antikisierendem 
Skulpturenschmuck  mögen  bewahrt  oder  wiederverwertet  sein.  »L’eglise 
a la  forme  oblongue  des  anciennes  basiliques;  eile  se  termine  par  une 
abside«,  heißt  es  freilich  unter  de  Rossis  Einfluß  noch  in  einem  folgen- 
den Bericht  von  Descemet  (8  Decbr  1878.  Bullet,  ed.  fran§.  Paris  1880. 
p.  60 f.).  Aber  die  weitere  Beschreibung  fügt  hinzu:  »eile  est  flanquee 
de  deux  petites  chapelles«  — d,  h.  zu  den  Seiten  der  Chortribuna  be- 
finden sich  zwei  Nebenabsiden,  die  sich  gegen  die  Kreuzflügel  öffnen, 
so  daß  die  charakteristische  Benediktineranlage  mit  zwei  quadratischen 
Kapellen  neben  dem  Mittelquadrat  des  Querhauses  entsteht.  Und  ferner: 
»sur  l’angle  gäuche  de  l’edifice,  vers  l’extremite  s’eDve  un  clocher  qui 
ne  parait-pas  anterieur  au  XD  si£cle«.  Ja,  zur  Bestätigung  noch  die 
historische  Notiz:  »L’abbaye  fut  d’abord  consacree  ä l’apötre  Pierre  et 
ä saint  Gregoire,  puis  aux  saints  apötres  Pierre  et  Paul«. 

Wir  können  diesen  Wechsel  der  Titulatur  sofort  chronologisch  ver- 
werten: das  Seitenportal  des  Langhauses,  der  ursprüngliche  Haupteingang 
vom  Klosterhof  her,  enthält  links  und  rechts  an  den  Pfosten  die  Ge- 
stalten der  Apostelfürsten:  links  Petrus  mit  dem  Schlüssel,  barfuß,  rechts 
Paulus  mit  dem  Schwert,  beschuht.  Die  kleinen,  ungeschickt  hoch  und 
hülflos  angebrachten,  vom  Steinmetzen  aus  dem  Werkstück  herausge- 
meißelten Figuren  sind  Zeugen  einer,  in  diesen  Gegenden  vielleicht  etwas 
zurückgebliebenen,  Skulptur  des  1 2.  Jahrhunderts,  mit  denen  Beispiele  zu 
Spoleto  verglichen  werden  können.  Nun  aber  befindet  sich  eine  andre 
Reliefdarstellung  des  hl.  Petrus,  allem  Anschein  nach  aus  derselben  Lom- 
bardenwerkstatt,  hoch  oben  am  Glockenturm  als  Schmuckstück  zwischen 


l)  Bulletin  d’archeologie  ehret.  ed.  frangaise,  Paris  1879.  p.  136  (IVe.  Annee,  seance 
1 dec.  1878). 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo. 


393 


den  Fenstern  eingelassen.  Und  hier  sind  zu  demselben  Zweck,  rein 
dekorativer  Art,  in  der  bekannten  nachlässigen,  nicht  streng  symmetri- 
schen Verteilung  zwischen  dem  Ziegelmauerwerk  zwei  Arten  von  Marmor- 
skulpturen verwertet:  antike,  wie  z.  B.  die  Hälfte  einer  Aschenurne,  mit 
Tür  zwischen  Säulen  unter  Guirlandengehänge,  deren  andere  Hälfte  im 
Innern  der  Kirche  eingelassen  ist,  — und  sogenannte  »longobardische«, 
d.  h.  mit  Bandgeschlinge  in  geometrischer  Musterung  aus  ganz  flacher 
Reliefarbeit,  deren  Beziehung  zu  »byzantinischer«  Tradition  wohl  nicht 
mehr  zweifelhaft  sein  kann,  und  deren  Verbreitung  hier  in  der  Sabina 
bis  unmittelbar  an  die  Tätigkeit  der  Cosmaten  herabreicht.  Es  sind 
ohne  Zweifel  Fragmente  von  Chorschranken,  die  beim  Neubau  der  Kirche 
wegfielen,  und  ganz  verwandt  ist  mit  ihnen  noch  die  flache  Arbeit  der 
Platten,  die  den  Namen  des  Magister  Ursus  tragen;  genauer  eines  Pfostens 
mit  seitlichen  Rillen  zum  Einfügen  der  dünnen  Platten,  die  dazwischen 
die  Schranken  bildeten,  und  einer  solchen  Platte,  mit  dem  Namen  jenes 
Longobardenherzogs  Hildericus.  Dieser  Altar  scheint  (vielleicht  als  Laien- 
altar) im  vorderen  Teil  der  Kirche  seinen  Stand  gehabt  zu  haben,  wo 
in  der  Achse  des  Seiteneingangs  vom  Kloster  her  und  der  ursprünglich 
gewiß  kleineren  Tür  an  der  Frontseite  noch  heute  Stumpfe  antiker  Säulen 
aus  dem  Boden  ragen  und  mit  der  Aufmauerung  dazwischen  die  Stätte 
bezeichnen  mögen.  Die  ganze  reich  geschmückte  und  vielfach  durch 
brochene  Anlage  des  Glockenturms  bezeugt  aber  eine  verhältnismäßig 
späte  Entstehungszeit  im  entwickelten  romanischen  Stil. 

Für  uns  jedoch  bleibt  dieser  Bestandteil  ebenso  weit  außer  Betracht, 
wie  die  später  veränderte  Chorpartie  und  die  erst  im  15.  Jahrhundert 
eingewölbte  Vierung,  wo  nur  die  Grenzpfeiler  der  ehemaligen  Apsis  und 
ihre  lichte  Weite  von  nahezu  fünf  Metern  noch  einen  Anhalt  zur  Rekon- 
struktion des  romanischen  Baues  gewähren.  Für  die  Frage  nach  dem 
Alter  der  frühesten  Bilderreihen  ist  allein  das  Langhaus  entscheidend:  es 
bildet  einen  einzigen  großen  Raum,  ohne  Säulen  oder  Pfeiler  zur  Trennung 
eines  Mittelschiffes  und  seiner  Abseiten.  Die  Länge  vom  Eingang  bis 
an  den  Triumphbogen  beträgt  27,34  Meter,  die  Breite  von  einer  Um- 
fassungsmauer zur  anderen  7,94,  also  nahezu  8 Meter.  Je  sieben  Fenster 
durchbrachen  einst  die  Obermauern  in  nicht  ganz  regelmäßigen  Abständen. 
Es  ist  also  eine  vereinfachte  romanische  Klosterkirche,  die  von  Anfang 
an  für  den  Zyklus  von  Wandgemälden  bestimmt  gewesen  sein  muß,  je 
mehr  sie  weiterer  Gliederung  der  Wände  und  der  Arkaden  in  der  Mitte 
entbehrt. 

Um  so  wichtiger  ist  die  Tatsache,  daß  die  Malerei  selbst  mit 
bewußter  Entschiedenheit  die  Aufgabe  der  rhythmischen  Gliederung  auf- 
nimmt. Sie  beginnt  oben  an  der  Längswand  mit  der  Herstellung  eines 


27 


394 


August  Schmarsow: 


Bogenfrieses  und  ganz  überraschender  Ausfüllung  der  Lünetten,  die  dadurch 
entstehen:  jedes  dieser  Bogenfelder  ist  durch  perspektivisch  gemaltes  Stab- 
werk, wie  etwa  das  Rohrdach  einer  Pergola  von  unten  gesehen  sich 
ausnimmt,  in  einen  eigenen  luftigen  Raum  verwandelt,  und  darin  steht 
oder  fliegt  irgend  ein  Vogel,  der  sich  dort  oben  im  eigenen  Element 
ergeht.  Diese  Luftbewohner  sind  nicht  so  anspruchsvoll  und  ausführlich 
gemalt,  wie  die  stolzierenden  Pfauen  in  der  Renaissance,  aber  in  schlichter 
Färbung  und  summarischer  Behandlung  doch  so  sicher  hingesetzt,  daß 
nur  an  die  Nachahmung  eines  altererbten  Dekorationsmotives  gedacht 
werden  kann,  für  das  wir  heutzutage  allein  auf  pompejanische  Beispiele, 
wieder  allzu  herausfordernden  Wesens,  verweisen  können.  Dieser  Fries 
in  S.  Pietro  bei  Ferentillo  will  keine  perspektivisch-realistischen  Bravour- 
stücke auftischen,  nicht  das  Auge  des  Beschauers  vexieren  #und  die  Raum- 
phantasie zu  unterhaltendem  Spiel  einladen,  sondern  nur  der  rhythmischen 
Gliederung  der  Fläche  dienen  und  zugleich  der  befreienden  Wirkung,  die 
der  Ausblick  in  die  Luftregion  droben  über  den  ernsten  Bildern  gewähren 
muß.  Dies  aber  wird  mit  der  ganzen  idealen  Unbefangenheit  altchrist- 
licher Katakombenkunst  geleistet,  indem  sich  zu  der  ersten  Bogenreihe 
noch  eine  zweite  gesellt,  diesmal  kleiner  und  abwärts  gerichtet,  und 
solcher  Lage  entsprechend  nicht  mit  Luft,  sondern  mit  Wasser  gefüllt, 
in  dem  sich  delphinartige  Fische  bewegen.  Mag  jene  obere  Reihe  den 
Kenner  der  altchristlicher  Kunst,  wie  Giovanni  Battista  de  Rossi,  an  die 
Deckenmalereien  der  Katakomben  erinnert  haben,  so  daß  er  das  Alter 
dieses  ganzen  Zyklus  darnach  möglichst  früh,  auf  das  achte  Jahrhundert 
bestimmte,  diese  zweite  Reihe  von  schwimmenden,  schnellenden,  tauchenden 
Fischen,  in  denen  immer  die  Bogenlinie  lebendige  Gestalt  gewinnt,  belehrt 
uns  vielmehr,  daß  schon  ein  bewußter  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der 
romanischen  Kunst  zugrunde  liegt.  Vergleichen  wir  den  gemalten  Bogen- 
fries zunächst  mit  einer  romanischen  Arkadenreihe  über  den  Säulen  im 
Mittelschiff  oder  in  einer  Empore,  so  schneiden  die  Platten  der  Säulen- 
kapitelle jedesmal  mit  ihrer  Horizontallage  die  Schwingung  der  Bogen- 
linie unvermittelt  ab.  Es  bleibt  ein  scharfer  Gegensatz,  ein  harter  Kampf 
zwischen  der  Geraden  und  der  Kurve,  zwischen  wagerechter  Lage  und 
freibewegtem  Umschwung  bestehen.  Eben  dieser  Widerspruch  ist  hier 
aufgehoben  oder  doch  vermittelt,  indem  die  Bogenlinie  sich  durch  die 
Horizontale  hindurch  nach  unten  fortsetzt  und  in  kürzerem  Umschwung 
wieder  aufsteigend,  abermals  durch  die  Horizontale  hindurchgeht.  Die 
größeren  Bögen  oben,  die  kleineren  unter  der  Wagrechten,  ergeben  so 
einen  lebendigen  Rhythmus,  dessen  fortlaufende  Wellenlinie  hier  die 
beiden  Elemente,  der  Luft  und  des  Wassers,  miteinander  verbindet. 
Nehmen  wir  zu  diesen  ästhetischen  Gedanken  noch  die  spielende  Herr- 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo. 


395 


schaft  über  die  perspektivische  Untensicht  des  ganzen  Frieses,  so  kann 
gar  nicht  daran  gezweifelt  werden,  daß  hier  ein  Erbteil  aus  der  Spät- 
antike vorliegt,  zugleich  aber  eine  eigene  Erfindung  der  romanischen  Kunst 
auf  italienischem  Boden,  die  sonst  gerade  hier  weniger  Freiheit  und 
Reichtum  des  eigenen  Schaffens  aufzuweisen  hat  als  im  Norden,  in 
Frankreich  oder  in  Deutschland. 

Mit  diesem  gemalten  Bogenfries  aber  ist  die  Gliederung  der  Wand 
mittels  vor-  und  zurückspringender  Teile  nur  ganz  oben  eingeleitet,  noch 
nicht  beendet.  Unter  ihm  folgt  die  Fensterreihe  und  die  erste  Bilder- 
reihe: acht  Darstellungen  und  sieben  Öffnungen.  Auf  der  glatten,  von 
keinem  Fenster  mehr  durchbrochenen  Wandfläche,  darunter  solften  noch 
zwei  Reihen  von  Bildern  Platz  finden,  und  zwar,  soweit  sich  aus  den 
erhaltenen  Szenen  und  aus  dem  übrigbleibenden  Raum  erschließen  läßt, 
jede  Reihe  zu  elf  oder  gar  zwölf  etwas  schmäleren  Darstellungen.  Diese 
Verschiebung  gegen  die  obere  Reihe  der  Fensterregion  wird  künstlerisch 
wieder  ausgeglichen  durch  perspektivische  Mittel.  Unter  den  Fenstern 
läuft  ein  Gesims  mit  Konsolen  hin;  dies  wird  zwischen  den  Bildfeldern 
von  vortretenden  Säulen  getragen,  die  in  heller  Marmorfarbe  sich  gegen 
den  dunkel  gehaltenen  Grund,  die  Schattentiefe,  abheben.  Ihre  Stämme 
sind  teils  senkrecht  kanneliert,  teils  mit  Spiralwindungen  umzogen.  Ver- 
kröpftes  Gebälk  über  den  Kapitellen,  in  schräger  Ansicht  gemalt,  wie 
vorgekröpfte  Postamente  unter  den  Basen  erhöhten  diese  kräftig  gliedernde 
Wirkung,  die  nur  durch  unverständiges  Überschmieren  von  späterer  Hand 
hier  und  da  veruntreut  worden  ist.  Auch  hier  vermögen  wir  allein  auf  ähnliche 
Erscheinungen  in  der  pompejanischen  Wandmalerei  zurückzuweisen,  wenn 
auch  zweifellos  in  byzantinischen  Kirchen,  wie  z.  B.  im  Hagios  Demetrios 
zu  Thessalonike  (vgl.  Texier  & Pullan,  Byzantine  Architecture,  Taf.  XVIIIf.) 
das  Fortbestehen  der  spätantiken  Tradition  im  christlichen  Kunstbetrieb 
bezeugt  wird. 3)  Es  ist  wieder  ein  bezeichnendes  Beispiel  für  die  Pflege 
der  Malerei  und  aller  ihrer  Kunstmittel,  bis  in  die  Dekoration  hinein, 
bei  den  Klöstern  des  Benediktinerordens,  als  deren  Mittelpunkt  wir 
Montecassino  zu  denken  gewöhnt  sind. 

Als  Schlußstück  in  dieser  Reihe  raumgliedernder  Faktoren,  die  eine 
wohlüberlegte  Disposition  des  Bilderkreises  in  sich  aufnehmen  sollten, 


3)  Auf  der  anderen  Seite  empfangen  die  perspektivischen  Bravourstücke  im  Licht- 
gaden der  Basilika  S.  Piero  a grado  bei  Pisa  durch  unser  Beispiel  in  Valnerina  will- 
kommene Erklärung.  Vor  allen  Dingen  aber  leuchtet  die  Wichtigkeit  der  umbrischen 
Wandgemälde  mit  perspektivischer  Scheinarchitektur  als  Rahmengerüst  eines  Bilder- 
zyklus ein,  wenn  man  sich  an  den  Versuch  von  O.  Wulff  erinnert,  solches  Verfahren  in 
der  Oberkirche  zu  Assisi  aus  dem  Vorbild  von  Miniaturen  herzuleiten.  Repert.  XXVII 
p.  239ff. 


396 


August  Schmarsow : 


muß  endlich  die  Ausmalung  des  Triumphbogens  hervorgehoben  werden. 
An  den  Mauerpfeilern  begegnen  uns  die  großartigsten  Überreste  einer 
architektonisch-plastischen,  meist  grau  in  grau  gehaltenen  Malerei;  die 
ganze  Üppigkeit  der  Formensprache  und  die  Häufung  der  Motive,  wie 
die  Spätantike  sie  darbot,  tritt  uns  hier  entgegen,  so  daß  diese  unteren 
Fragmente  mit  ganzen  und  halben  Figuren  von  Heiligen  dazwischen 
(Petrus  rechts  vom  Altar  zerstört,  Paulus  links  erhalten)  an  die  Bestre- 
bungen eines  Mantegna  im  späteren  15.  Jahrhundert  gemahnen.  Darüber 
in  der  Leibung  des  Bogens  und  an  der  Stirnseite  außen  erscheinen 
Bestandteile,  die  keinen  Zweifel  über  den  Zusammenhang  der  romanischen 
Kunst  mit  den  damals  noch  zahlreich  erhaltenen  Monumenten  altchrist- 
licher und  vielleicht  auch  karolingischer  Zeit  übrig  lassen.  An  der  Stirn- 
seite perspektivisch  gemalte  Säulenarchitektur,  deren  tragende  Glieder 
schlank  wie  Kerzen  gebildet  sind,  daß  man  meinen  könnte,  es  seien  die 
sieben  Leuchter  der  Apokalypse,  durch  die  wir  ins  Allerheiligste  hin- 
durchschauten. Und  in  der  Leibung  der  große,  prächtig  gefärbte,  per- 
spektivisch behandelte  Mäanderfries,  den  wir  auch  in  den  Wandgemälden 
der  Reichenau  wiederfinden,  wie  in  der  Apsis  von  S.  M.  la  Libera  bei 
Carinola  unweit  Sessa,  wo  die  Abhängigkeit  von  Monte  Cassino  ebenso 
klar  ist,  wie  in  S.  Angelo  in  Formis. 

Nun  aber  befindet  sich  oben  im  Scheitel  des  Bogens  ein  Rund  in 
diesem  Mäanderfries,  wie  ein  Medaillon,  ja  eine  Fensteröffnung  gedacht, 
und  hier  erscheint  die  große  Hand  des  Allmächtigen,  wie  hineingestreckt 
aus  der  Höhe.  Und  diese  Rechte  Gottes  segnet  in  griechischer  Form. 
Das  ist  eine  entscheidende  Tatsache,  die  für  den  byzantinischen  Urquell 
dieser  Überlieferung  um  so  größere  Beweiskraft  erhält,  als  sie  noch  einmal 
an  wichtiger  Stelle  wiederkehrt:  auf  einem  der  letzten  erhaltenen  Bilder 
der  untersten  Reihe  der  anderen  Wand,  beim  Einzug  Christi  in  Jerusalem, 
wo  das  Antlitz  des  Herrn  besonders  groß  und  ganz  von  vorn  gegeben 
ist,  wie  in  voller  Majestät. 

Darnach  war  der  Maler  Descemet,  der  für  de  Rossi  Durchzeich- 
nungen nach  den  aufgedeckten  Malereien  gefertigt  hat,  auf  viel  richtigerem 
Wege  als  de  Rossi  selbst,  wenn  er  aussprach:  »Le  peintre  etait,  je  crois, 
un  des  nombreux  el£ves  de  l’ecole  greco-latine,  qui  domina  en  Italie 
jusqu’au  XIVme  si£cle;  son  procede  technique  le  prouve  amplement.  11 
rappelle  le  faire  des  maitres  mosa'istes,  avec  le  formalisme  hieratique  des 
anciennes  oeuvres  byzantines.  — Les  contours  de  toutes  les  figures  sont 
marquds  par  un  large  trait  noir,  comme  sur  les  mosaiques  anterieures  au 
Xffle  si£cle.« 

Noch  entschlossener  lautet  das  Urteil  über  das  Fresko  in  der 
Nebentribuna,  vom  Hochaltar  aus  links.  Vor  einem  ausgespannten  Teppich 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo.  397 

thront  überlebensgroß  die  Madonna  mit  dem  Jesuskind  in  reich  ver- 
ziertem Kleide  auf  den  Knien.  Zu  ihrer  Rechten  steht  ein  Erzengel  mit 
dem  Szepter,  zu  ihrer  Linken  eine  jungfräuliche  Heilige  mit  Zweig 
(Descemet  hält  auch  sie  für  einen  Engel)  und  zu  ihren  Füßen  kniet, 
unter  dem  Schutz  dieser  Patronin,  in  kleinem  Maßstab  die  Figur  des 
Stifters  der  Kapelle,  ein  Abt  des  Klosters  mit  der  Mitra  auf  dem  Haupt 
und  einem  roten  Pluviale  um  die  Schultern,  in  dem  kreisrunde  Medaillons 
mit  dem  einköpfigen  Adler  in  streng  heraldischer  Zeichnung  eingewebt 
sind.  »Cette  fresque  par  le  style  et  l’execution  semble  remonter  au  XID 
si£cle;  eile  est  antdrieure  ä l’ücole  de  Giotto.« 

Damit  sind  wir  an  dem  entscheidenden  Punkt  für  die  eigentlich 
kunsthistorische  Einordnung.  Diese  Malerei  der  Madonnenkapelle  ist  die 
späteste- Zutat,  die  aus  der  ersten  Periode  der  Ausmalung  erhalten  ist. 
(Einige  aufgereihte  Heiligengestalten  an  der  inneren  Stirnwand  des  Triumph- 
bogens im  Chore  sitzen  zu  hoch  und  sind  so  eingestaubt,  daß  man  sie 
kaum  genügend  erkennen  kann;  doch  sind  auch  sie  romanisch,  mit 
Namensinschriften  in  senkrechter  Reihung  der  Buchstaben  neben  sich.) 
Und  diese  thronende  Madonna  mit  dem  Abbas  mitratus  zu  ihren  Füßen 
ist  sicher  aus  dem  12.,  vielleicht  gar  aus  dem  Anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts. Sie  ist  nicht  allein  früher  als  die  Schule  Giottos,  sondern  auch 
früher  als  Duccio  und  Cimabue,  früher  als  Jacopo  Torriti4)  und  seine 
Genossen  in  der  Oberkirche  von  S.  Francesco  zu  Assisi.  Nicht  die 
Beziehung  zur  altchristlichen  Kunst,  die  Giovanni  Battista  de  Rossi  und 
seine  archäologischen  Mitarbeiter  suchten,  sondern  die  Beziehung  zu  der 
besser  bekannten  späteren  Kunstperiode,  zur  Vorgeschichte  Giottos  ist  das 
bedeutsame  Moment,  auf  das  es  hier  ankommt.  Die  Wandgemälde  im 
Langhaus  der  Abteikirche  von  S.  Pietro  bei  Ferentillo  sind  Werke  des 
reinsten  romanischen  Stiles  auf  italienischem  Boden.  Sie  zeigen  uns 
jenen  umfassenden  Bilderzyklus  von  der  Schöpfung  der  Welt  bis  zur  Passion 
Christi  in  einer  früheren  Redaktion  als  jene  unter  sich  so  ungleichartigen 
Malereien  in  S.  Francesco.  Hier  in  der  Benediktinerabtei  bei  Ferentillo 
war  der  Madonna  nicht  die  Chorapsis,  sondern  die  Nebenapsis  zur  Linken 
des  Hochaltars  geweiht,  aus  persönlicher  Verehrung  eines  Abtes,  noch 
ehe  der  überschwängliche  Madonnenkultus  die  vornehmste  Stelle  für  sie 
und  ihren  Lebenslauf  in  Anspruch  nahm.  Gerade  deswegen  besitzen 
diese  Überreste  im  Langhaus  von  S.  Pietro  in  Valnerina  eine  so  außer- 


4)  Der  Ort  Torrita,  nach  dem  sich  dieser  römische  Künstler  wohl  benennt,  liegt 
nicht,  wie  M.  G.  Zimmermann  (Giotto,  I 269,1)  meint,  in  Toscana,  unweit  Montepulciano, 
sondern  im  Patrimonium  Petri,  am  Tiber,  unweit  Poggio  Mirteto,  d.  h.  in  der  Gegend 
der  Cosmaten  um  Civita  Castellana  und  Fara  Sabina. 


39» 


August  Schmarsow: 


ordentliche,  fast  einzigartige  Wichtigkeit  für  die  Geschichte  der  roma- 
nischen Malerei  in  Italien. 

Hoch  oben  in  der  Fensterregion  beginnt  an  der  Längswand,  links  vom 
Laieneingang,  die  Schöpfungsgeschichte.  Schon  dies  erste  Bild  (2,60  m br.) 
ist  ein  Unikum  ganz  eigener  Art.  Zwei  schwebende  Engel  mit  großem 
Schriftblatt  zwischen  sich  geben  unten  vorn  das  Programm:  I PRINCIPIO 
I CELV  ET  TERRA(E)  FECIS  | SE  FIGV|  RAM.  Hinter  dem  Schriftblatt 
in  der  Mitte  erheben  sich  zwei  rote  Stützen,  die  einen  nach  unten  ge- 
wölbten, ebenso  roten  Halbkreisbogen  tragen.  Hier  erscheint  die  Gestalt 
des  bartlosen  Schöpfers,  in  weißem  Gewand,  eine  Schriftrolle  in  der 
Linken,  also  der  Logos.  Er  erhebt  die  Rechte  weisend  nach  links  und 
blickt  abwärts  in  die  Tiefe.  Innerhalb  der  Sphäre  erscheinen  die  Sterne 
und  zwei  größere  Himmelskörper,  die  wir  wohl  als  Sonne  und  Mond 
ansprechen  dürfen.  Außerhalb  des  roten  Bogens  aber  schwebt  in  dem 
Blau  des  Äthers  rechts  ein  grau  in  grau  gemalter  Ball,  mit  dem  wir  allein 
auskommen  müssen,  da  das  entsprechende  Objekt  links  zerstört  ist,  gerade 
dasjenige,  auf  das  sich  die  befehlende  Handbewegung  des  Weltordners 
richtet.  Die  Kreisform  rechts  zeigt  uns  das  Innere  einer  Halbkugel. 
Aus  dem  Zentrum  der  Kalotte  gehen  strahlenförmige  helle  Streifen  bis 
an  die  Peripherie  und  zwischen  ihnen  erscheint  in  der  Mitte  die  eben- 
falls licht  gemalte  Gestalt  eines  Jünglings  mit  erhobenen  Armen,  im 
Laufschritt  nach  rechts  hinaus.  Das  soll,  dem  Wbrtlaut  der  Inschrift 
entsprechend,  offenbar  das  Himmelsgewölbe  sein,  mit  seinem  Träger 
darinnen,  während  wir  leider  nicht  mehr  zu  sehen  bekommen,  wie  der 
Künstler  die  Gestalt  der  Erde,  terrae  figuram,  wiedergegeben  hat.  Jede 
andere  Erklärung,  wie  etwa  die  Scheidung  von  Licht  und  Finsternis,  die 
Erschaffung  der  Himmelskörper  usw.  würde  ja  nicht  mit  dem  Text  des 
Programms,  das  die  Engel  zeigen,  in  Einklang  stehen;  sonst  könnte  man 
meinen,  der  Uranos  sei  schon  durch  die  Sphäre  mit  Sternen,  Sonne  und 
Mond,  aus  der  die  Gestalt  des  Schöpfers  hervorkommt,  hinreichend  be- 
zeichnet. Die  Figur  des  Logos  mit  ovalem  Antlitz  und  schlichter  Ge- 
wandung ist  noch  sehr  klassisch  resp.  altchristlich,  die  schwebenden 
Engel  mit  flatternden  Zipfeln  bezeugen  jedoch  den  entwickelten  roma- 
nischen Stil  so  bestimmt,  wie  bei  Niccolö  Pisano  an  der  Kanzel  zu  Pisa 
tiotz  aller  Nachahmung  der  Antike  ganz  ähnliche  Faltenmotive. 

Das  zweite  Bild,  zwischen  dem  ersten  Fensterpaar,  gibt  die  Schöp- 
fung des  Menschen,  die  G.  B.  de  Rossi  (Bull.  IV.  1879  pl.  XII.)  publi- 
ziert hat.  Der  ebenso  bartlose  Schöpfer  mit  Schriftrolle  in  der  Linken 
sitzt  auf  einer  grün,  rot,  weiß  geränderten  Sphäre,  deren  Inneres  wieder 
blau  ist  wie  der  Grund  der  Bildfläche.  Er  erhebt  die  Hand  gebietend, 
und  von  seinen  Lippen  geht  ein  Strahl  zum  Munde  des  rechts  auf  einem 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Forentillo. 


399 


Erdhügel  gelagerten  Menschen,  neben  dem  HADAM  geschrieben  steht. 
Unterhalb  dieser  Gestalt  liegen  vier  gewundene  Muscheln,  die  nur  die 
Paradiesesströme  bedeuten  können.  Hinter  dem  Erdklos  und  hinter  dem 
Schöpfer  erhebt  sich  je  ein  kleiner  Baum,  in  der  Mitte  zwischen  den 
beiden  Hälften  des  Bildes  wächst  ein  größerer  mit  braunem  Stamm  und 
gelben  Früchten  zwischen  den  grünen  Blättern,  offenbar  der  verhängnis- 
volle Baum,  der  hier  schon  zwischen  beiden  Parteien  die  Wage  hält,  ja 
als  Dominante  das  Gleichgewicht  der  beiden  Bildhälften  beherrscht  Ganz 
ähnlich  ist  die  Komposition  mit  der  Erschaffung  Evas,  unter  der  wir 
lesen:  f SIC  PRIMOGENITI  COSTA  HEVA  ...  Aus  der  Seite  des 
schlummernd  zurückgesunkenen  Mannes  geht  die  Büste  des  Weibes  hervor, 
mit  erhobenen  Händen  der  Gebärde  des  Schöpfers  entsprechend.  Da 
die  Bildfläche  etwas  größer  war,  ist  nur  der  Baum  zur  rechten  breiter 
ausgeführt. 

Noch  breiter  ist  der  Zwischenraum  bis  zum  folgenden  Fenster,  der 
einen  ebenso  seltenen  wie  charakteristischen  Vorgang  schildert:  Die  Namen- 
gebung aller  Tiere  durch  den  Menschen.  Adam  steht  nackt  auf  einem 
Felsblock,  der  aus  dem  grünen  Grunde  hervorragt,  wo  einzelne  rote  und 
weiße  Blumen  aufgereiht  sind.  Links  kriecht  die  Schlange  heran,  gucken 
die  Köpfe  von  Pferd,  Rind,  Hirsch  usw.  herein,  während  das  Schwein, 
das  soeben  aufgerufen  wird,  wie  aufrecht  hängend  unter  der  Hand  des 
Gebieters  seine  Stimme  erschallen  läßt.  5)  Rechts  der  Widder,  die  Ziege, 
das  Dromedär,  der  Adler  — rot,  und  fast  einem  Greifen  ähnlicher,  aber 
doch  ein  Vogel,  wie  Gans,  Reiher  oder  Kranich,  die  wir  unter  den  großen 
unterscheiden,  während  unter  den  kleinen  von  links  wohl  die  Schnepfe 
heranschießt. 

Das  fünfte  Bild  ist  gänzlich  zerstört,  muß  aber  den  Sündenfall  dar- 
gestellt haben;  denn  das  folgende  zeigt  die  Ertappung  der  Flüchtlinge 
im  Gebüsch.  Gott  schreitet  gewaltig  von  links  herein  und  streckt  die 
Hand  gegen  Adam  und  Eva  aus,  die  zur  Linken  unter  dem  Baum  im 
Grünen  kauern.  Das  siebente  Bild  gibt  die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese 
sehr  merkwürdig:  die  hohe  Umfassungsmauer,  über  der  hinten  noch  andere 
Bauten  hervorragen,  erfüllt  die  Fläche  und  öffnet  in  der  Mitte  ein  rot- 
umrandetes Tor  mit  flachem  Halbkreisbogen,  in  der  Größe  der  wirklichen 
Fenster  der  Kirche.  In  diesem  Rahmen  sehen  wir  die  Ausstoßung:  eng 
gedrängt  die  drei  Gestalten.  Ernst  und  ältlich  der  Engel,  Adam  stark 
bewegt  im  Schreiten,  mit  schmerzlichem  Ausdruck  in  den  Zügen,  Eva  voll 
und  üppig,  in  blonder,  fast  junonischer  Schönheit,  sich  anschmiegend  (nur 


5)  Vgl.  die  Rolle  des  Schweines  in  dem  Monatszyklus,  besonders  in  den  Portal- 
skulpturen der  Comasken  in  Oberitalien  und  longobardischen  Besitzungen  sonst. 


400 


August  Schmarsow: 


die  Büste  ist  erhalten,  aber  besonders  wertvoll  für  den  Stil  Charakter).  Das 
letzte  ganz  zerstörte  Feld  muß  die  Arbeit  der  ersten  Familie  enthalten 
haben;  denn  die  zweite  Reihe  an  derselben  Wand  setzt  links  mit  d-em 
Opfer  des  Brüderpaares  Kain  und  Abel  ein.  Nur  der  Altarstein  in  der 
Mitte  mit  der  Flamme  darauf  und  die  vorderen  Beine  der  links  und 
rechts  knienden  Jünglinge  sind  erhalten. 

Außerordentlich  lebhaft,  wie  ein  Ausbruch  des  eigenen  Tempara- 
mentes  einer  wilderen  Generation,  ist  die  Darstellung  des  Brudermordes, 
die  zu  den  beiden  notwendigen  Personen  noch  einen  entsetzten  Zuschauer 
fügt.  Im  Lauf  von  links  her  holt  Kain  mit  dem  Stecken  aus;  Abel  ist 
schon  zu  Boden  gestürzt  und  hält  kniend  die  Hand  vor  die  Augen. 
Auf  den  Stab  gestützt  steht  der  Dritte  dabei,  doch  wohl  ein  Hirt,  nicht 
Adam  selber,  die  Hand  erhebend,  aber  nicht  eingreifend,  wie  vom 
Schreck  gebannt.  Künstlerisch  betrachtet,  ist  dieser  Lückenbüßer  und 
Eindringling  sehr  wichtig,  als  ruhiger  Widerhalt  gegen  die  stürmische 
Bewegung  und  als  Abschluß  der  Gruppe  in  ihrem  festbegrenzten  Rahmen.  — 
Auch  diese  roten  Randstreifen  sind  perspektivisch  behandelt,  die  Öffnung 
in  der  Wandfläche  zu  betonen. 

Daneben  überrascht  es,  in  der  folgenden  Metope  nur  eine  einzige 
mächtig  große  Gestalt  zu  sehen,  die  in  weitem  nachflatterndem  Gewände 
nach  rechts  ausschreitet  und  nach  oben  schaut.  Es  ist  Noah,  zu  dem  Jehova 
redet.  Er  erhält,  wie  das  folgende  lehrt,  den  Befehl  zum  Bau  der  Arche. 

Hier  sitzt  (XII)  Noah  links  auf  hohem  Thron  und  leitet  mit  seinen 
Angaben  die  Arbeiter,  die  Bretter  zu  behauen  und  die  Pfosten  zusammen 
zufügen.  Die  Komposition  verläuft  wieder  mehrfigurig  der  Grundlinieparallel. 

Den  Einblick  in  das  Innere  der  Arche,  wie  in  ein  Gemach  mit 
Dachrand  oben  gewährt  das  XIII.  Feld.  Drinnen  sitzt  Noah  mit  seiner 
Familie  ganz  von  vorn  gesehen  am  Tisch,  wie  es  scheint,  die  Botschaft 
der  Taube  empfangend. 

Auf  dem  folgenden  sehen  wir  Abraham  vor  den  drei  Engeln  knien, 
die  ihm  die  langersehnte  Verheißung  bringen.  Das  XV.  enthält  die 
Opferung  Isaaks,  wo  wenigstens  der  Patriarch  in  seiner  lebhaften,  weit 
ausholenden  Bewegung  noch  deutlich  erkennbar  ist.  Das  nächste  ist  so- 
weit zerstört,  daß  nur  aus  der  Anordnung  der  in  Resten  erscheinenden 
Figuren  geschlossen  werden  kann,  was  es  enthielt:  wahrscheinlich  Eleazar 
mit  Rebekka  am  Brunnen.  Denn  das  XVII.  gibt  die  Täuschung  des 
alten  Isaak,  der  auf  seinem  Lager  liegt,  durch  Jakob  und  Rebekka. 
Außerhalb  des  Gemaches,  das  mit  Marmorfries  am  Pfosten  geschmückt 
ist,  kommt  Esau  der  Jäger  zum  Vorschein.  Der  Rest  bis  zum  Ende  der 
Wand,  wo  noch  für  zwei  bis  drei  Darstellungen  Platz  wäre,  ist  völlig 
abgefallen. 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo. 


401 


In  der  dritten  Reihe  darunter  hat  sich  nur  das  eine  Bild  erhalten, 
das  den  dritten  Platz,  unter  Noah,  innehat.  Hier  erkennen  wir  Joseph 
in  Ägypten  mit  seinen  Brüdern,  und  zwar  die  Szene,  wie  Benjamin,  mit 
seinem  Sack  über  dem  geschulterten  Stecken,  beschuldigt  wird,  den 
Becher  gestohlen  zu  haben.  Rechts  sitzt  Joseph  auf  dem  Thron  von 
Zeugen  umgeben,  deren  einer  den  Verdacht  ausspricht  und  auf  den 
Jüngsten  deutet,  der  allein  von  den  Brüdern  und  auch  nur  als  Halbfigur 
erhalten  ist.6) 

Auf  der  andern  Langseite,  linker  Hand  vom  Hochaltar  aus,  setzt 
nicht,  wie  die  bisherigen  Berichterstatter  angeben,  sogleich  das  Neue 
Testament  ein,  sondern  zuoberst  zwischen  den  Fenstern  begann  jedenfalls 
die  Geschichte  der  Könige.  Das  zweite  Bild  ist  einigermaßen  erhalten 
und  die  Unterschrift  hilft  es  zu  bestimmen:  SAMVHEL  PPHA  DAT.  . . 
lesen  wir;  es  kann  sich  also  nur  um  die  Erwählung  Sauls  oder  Davids 
zum  Könige  handeln.  Auf  dem  vierten  Bilde  erkennen  wir  noch  zwei 
Engel  nach  rechts  schreitend. 

Erst  in  der  zweiten  Reihe  darunter,  d.  h.  an  vierter  oder  fünfter 
Stelle  dieses  Streifens  begegnet  wieder  ein  erhaltenes  Stück:  die  Ver- 
kündigung an  die  Hirten.  Es  folgt  die  Reise  oder  das  Zusammentreffen  der 
Könige  aus  Morgenland,  und  daneben  die  Anbetung  der  »Magier«,  — wie 
es  scheint  durch  Herstellungsversuche  entstellt,  doch  in  üblicher  Komposition 
wenigstens  die  Gruppe  rechts,  Maria  mit  dem  Kinde,  noch  zuverlässig. 

Höchst  charakteristisch  und  für  die  entwickelte  romanische  Kunst- 
weise dieser  Malereien  entscheidend,  besonders  da,  wo  es  sich  um 
freiere  Erweiterung  des  althergebrachten  und  geheiligten  Bilderkreises 
handelt,  ist  die  Rückkehr  der  Könige  in  ihre  Reiche.  Wir  sehen 
drei  Tore,  das  mittlere  ganz  von  vorn,  die  seitlichen  schräg  gestellt. 
Links  kommt  der  Reiter  von  innen  heraus,  in  der  Mitte  reitet  er  dem 
Tore  parallel  ruhig  nach  rechts;  der  letzte  wird  auf  lebhaft  sich  bäumen- 
dem Rosse  von  hinten  gesehen,  wie  er  durch  das  Tor  nach  links  hinein- 
sprengt. Das  ist  zweifellos  eine  germanische  Abwandlung  im  Geschmack 
des  ritterlichen  Lebens  der  Machthaber  im  Lande.  An  das  8.  bis 
10.  Jahrhundert  kann  bei  der  exemplarischen  Wahrheit  dieser  Schilderung, 
— drei  Momentaufnahmen  in  ganz  bewußter  Eroberung  der  Wirklichkeit, 
nicht  gedacht  werden.  Den  Wurzeln  dieses  Strebens  begegnen  wir  ja 
schon  in  der  karolingischen  Kunst,  wie  im  Codex  aureus  von  St.  Gallen; 
aber  wie  weit  ist  es  von  jenen  Anfängen  bis  zu  dieser  überraschenden, 
wenn  auch  mehr  leidenschaftlich  outrierten  als  völlig  durchgearbeiteten 

6)  Hier  am  Ende  des  Schiffes  steht  auf  einem  Altar  die  Kopie  des  Gemäldes 
von  Giov.  Io  Spagna,  das  sich  in  Berlin  befindet  und  lange  als  Rafael  galt,  auch  eine 
Stiftung  der  Ancajani. 


402 


August  Schmarsow: 


Leistung.  Wir  müssen  schon  an  die  Reitergestalten  in  den  Handschriften 
der  Apokalypse  erinnern,  um  das  erforderliche  Vergleichsmaterial  zu  ge- 
winnen, das  hier  in  Betracht  kommt 

Von  starker  Heftigkeit,  wenigstens  in  Einzelfiguren,  scheint  auch  der 
Kindermord  gewesen,  dessen  Gesamtkomposition  mir  nicht  zu  erfassen  gelang. 

Über  der  Eingangstür  ist  aber  ein  breiteres  Bildfeld  der  Taufe 
Christi  eingeräumt.  Johannes  schreitet  weit  ausholend  von  links  heran, 
die  Engel  beugen  sich  zur  Rechten.  Die  Mitte  ist  verloschen. 

Das  letzte  erkennbare  Stück  dieses  Streifens  war  das  Wunder  der 
Verwandlung  von  Wasser  in  Wein  auf  der  Hochzeit  zu  Kana.  Die 
Machtgebärde,  nicht  das  Festmahl,  ist  hier  die  Hauptsache  gewesen. 

In  der  dritten  Reihe  dieser  Wand  sind  nur  die  letzten  vier  Dar- 
stellungen erhalten,  da  die  andern  Teile  durch  Fresken  des  15.  Jahr- 
hunderts bedeckt  oder  andern  Veränderungen  preisgegeben  wurden.  Nur 
neben  dem  Triumphbogen  in  einer  Pfeilernische  ist  noch  ein  Brustbild 
des  Erlösers  hervorzuheben. 

Unter  der  Anbetung  der  Könige  befindet  sich  d^r  Einzug  in 
Jerusalem,  von  dessen  Christus  schon  die  Rede  war.  Er  ist  ausschließ- 
liche Hauptperson  der  Szene,  ganz  von  vorn  gesehen,  während  der  Arm 
sich  seitwärts  ausstreckt,  — also  wieder  in  byzantinischer  Weise.  Nur 
drei  Jünger  folgen  links  dem  Esel,  auf  dem  der  Herr  reitet,  während 
rechts  sich  das  Stadttor  öffnet,  aus  dem  wenige  Gestalten  in  kleinerem 
Maßstab  mit  lebhafter  Gestikulation  hervordrängen.  Dies  Mißverhältnis  zum 
Übrigen  verrät,  daß  die  Vorlage  oder  ihr  byzantinisches  Original  stärker 
perspektivisch  in  die  Tiefe  entwickelt  war,  durch  Aufreihung  aller  Bestand- 
teile im  selben  Vordergrund  jedoch  verschoben  und  sinnlos  entstellt  ward. 

Daneben  ist  das  Abendmahl  als  stille  Feier  gehalten:  »celebrat 
convivium  Paschae  cum  discipulis  suis«  steht  darunter,  aber  auf  dem 
gedeckten  Tische  liegt  ein  großer  Fisch.  In  der  offenen  Pilasterhalle 
mit  rotem  Dach  und  einer  Giebelfront  rechts  sitzt  Christus  ganz  zur 
Linken  mit  Johannes  an  seiner  Brust.  Das  stark  ausladende  Profil  des 
Meisters,  wie  die  ausdrucksvollen,  mit  großen  Augen  dreinschauenden 
Köpfe  der  Jünger  verraten  die  griechische  Schulung  ganz  deutlich.  Wie 
weit  Judas  als  Verräter  kenntlich  gemacht  oder  gar  zu  Jesus  in  Beziehung 
gebracht  war,  ist  nicht  mehr  zu  ersehen.  Die  ganze  Partie  unterhalb  der 
Tischfläche  ist  verdorben. 

Bis  an  die  Eingangstür  vom  Kloster  her  reicht  dann  die  Szene  der 
Fußwaschung,  die  gleich  dem  Abendmahl  an  die  reichen  Kompositionen 
in  Duccios  Altarwerk  erinnert:  Petrus  und  Christus  rechts,  die  Gruppe 

der  übrigen  Jünger  lipks,  also  absichtlich  im  Gegensatz  zu  dem  ruhigen 
Mahl  wieder  als  fortschreitende  Handlung  gegliedert. 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo. 


403 


Jenseits  der  Tür  ist  nur  noch  das  letzte  Stück  der  Wand  mit  der 
Kreuztragung  erkennbar,  als  deren  Besonderheit  sich  nur,  da  die  Köpfe 
verloschen  sind,  die  auffallende  Tatsache  feststellen  läßt,  daß  Christus  in 
einer  Reihe  mit  den  beiden  Schächern  dahin  schreitet.  So  kann  kein 

Zweifel  bleiben:  die  Fortsetzung  der  Bilderreihe  mußte  rechts  anschließen 
auf  der  Schmalwand  der  Kirche,  und  der  Platz  über  der  Eingangstür 
mochte  für  die  Kreuzigung  bestimmt  sein.  Sicheres  läßt  sich  jedoch 
darüber  ebensowenig  aussagen,  wie  über  die  andere  Frage,  die  sich  auf- 
drängt, ob  etwa  die  oberen  Teile  dieser  Eingangswand  dem  Jüngsten 
Gericht  und  der  Glorie  der  Wiederkunft  gewidmet  waren.  Die  ganze 
Schlußmauer  wurde,  wie  die  jetzige  Größe  der  Tür,  die  Portaleinfassung 
außen  und  deren  Lünettenfresko  darüber,  sowie  die  Steinskulptur  des 
mächtigen  Rundfensters  bezeugen,  um  1500  erneuert  und  verstärkt,  wobei 
nicht  allein  die  Bemalung  der  Innenseite  bedeckt,  sondern  auch  ein  Streifen 
der  anstoßenden  Bilder  auf  den  Längswänden  geopfert  ward.  An  der  Innen- 
seite, wo  wir  die  weiteren  Szenen  des  Ganges  nach  Golgatha  erwarteten, 
befindet  sich  ein  Wandgemälde  der  Madonna  mit  Heiligen  von  einem 
peruginesken,  dem  Spagna  verwandten  Meister  mit  der  Jahreszahl  1513. 
Über  der  Eingangstür  außen  war  eine  Steinplatte  mit  dem  Wappen  der 
Ancajani  angebracht,  die  ausgebrochen  ist,  doch  im  Hofe  aufbewahrt  wird 
Sie  beweist,  daß  dieses  Herstellungswerk  mit  ähnlichen  Arbeiten  im  Chor 
der  Kirche  zusammenhängt,  wo  eine  ganz  verwandte  Steinmetzenhand  auf 
einer  skulpierten  Seitentür  das  Datum  1499  eingegraben  hat. 

Beide  Bestandteile,  an  der  Front  und  im  Chorhaupt  gehören  zu- 
sammen, bezeichnen  jedoch  nur  den  Abschluß  einer  längeren  Fürsorge  der- 
selben Familie.  Das  Wappen  der  Ancajani  ist  gemalt  auch  zu  den  Seiten 
der  Chortribuna  zu  erkennen  und  bezieht  sich  auf  die  Stiftung  des  Fresken- 
schmuckes im  Allerheiligsten.  Ganz  oben  in  den  Zwickeln  der  Apsisöffnung 
erscheinen  die  Figuren  der  Annunziata  und  des  Engels  Gabriel.  In  dem 
Halbkuppelgewölbe  ist  ein  kolossaler  Christus  stehend,  von  schwebenden 
Engeln  umgeben,  dargestellt.  An  der  halbzylindrischen  Wand  darunter  ist 
eine  Madonna  in  trono  zwischen  zwei  Engeln  angebracht,  daneben  rechts 
Petrus,  links  Paulus  und  je  zwei  andere  Apostel  in  schmalen  Einzelkom- 
partimenten. Die  noch  lesbaren  Teile  der  gemalten  Inschrift  lauten: 

de  Nobilibus  de  fabriano  MCCCC  liiij.  Es  ist  ein  etwas 

zurückgebliebener  Vertreter  der  Schule  von  Fabriano,  den  wir  ohne  die 
sichere  Datierung  auf  1454  etliche  Zeit  früher  angesetzt  haben  würden.7) 
In  der  untersten  Reihe  thront  S.  Benedictus  umgeben  von  S.  Placidus  und 


7)  Ricci,  Memorie  delle  arti  . . . della  Marca,  Macerata  1834,  kennt  nur  einen 
Maler  Durante  de  Nobili  da  Caldarola  aus  dem  16.  Jahrhundert.  1568.  II,  155,  162. 


404 


August  Schmarsow: 


S.  Maurus(?),  weiterhin  je  drei  andere  Benediktinerheilige,  wie  Abbas  Martialis, 
Eleuterius,  Lazzarus,  Ysaccus  und  zwei  andere  zu  den  Seiten,  Werke  einer 
spätem  Hand,  die  wir  schon  dem  16.  Jahrhundert  zurechnen  müssen. 

Dagegen  stoßen  wir  an  den  Pfeilern  des  Chores  neben  dem  Hoch- 
altar auf  eine  andere  umbrische  Schule  des  Quattrocento,  die  von  Fuligno. 
Der  Art  sind  schon  die  Einzelgestalten  des  »Benedictus  de  Nursia,  des 
Petrus  und  Paulus,  S.  Lazarus  Abbas,  Sta.  Scolastica«.  Ganz  besonders 
aber  ein  Fresko  mit  der  Beweinung  des  Gekreuzigten  im  Sakristeiraum, 
dessen  Magdalena  dem  Niccolö  da  Fuligno  ganz  nahe  kommt. 

Die  kleine  Nebenapside  rechts  vom  Hochaltar,  in  der  Nachbar- 
schaft des  Turmes,  führt  uns  hingegen  mit  der  Jahreszahl  1455  wohl  zu 
dem  Meister  de’ Nobili  da  Fabriano  zurück.  An  die  Art  des  Gentile  da 
Fabriano  und  des  Ottaviano  Nelli  von  Gubbio  erinnert  <Jie  Madonna  in 
trono  mit  S.  Petrus  und  S.  Johannes,  unter  der  zu  lesen  steht  »hoc  opus 
fecit  fieri  frater  laoren  ....«,  ganz  besonders  aber  der  schwebende  Engel 
in  der  Concha  mit  dem  langen  Schriftband  voll  gedrängter  spätgotischer 
Buchstaben,  mit  weiten  wie  ausgezaddelten  Gewändern  und  dem  rein 
ornamentalen  Schwung  in  der  Haltung  des  Körpers. 

Doch  diese  späten  Zutaten  erwähnen  wir  nur  nebenbei,  um  über 
den  Ersatz  der  ursprünglichen  Malereien  durch  andere  Rechenschaft  zu 
geben,  und  kehren  so  schnell  wie  möglich  zu  den  mittelalterlichen  Wand- 
gemälden im  Langhaus  zurück. 

Es  muß  vor  allen  Dingen  vermieden  werden,  die  Zeitbestimmung 
des  großen  Bilderzyklus  ausschließlich  auf  die  wenigen  hergebrachten  Dar- 
stellungen der  Schöpfungsgeschichte  zu  gründen,  wie  dies  den  christlichen 
Archäologen  nahe  liegt,  die  sich  bis  dahin  mit  diesem  Denkmal  der 
italienischen  Malerei  allein  beschäftigt  haben.  Auch  Descemets  Ansatz 
»depuis  le  IXme  si£cle,  — peut-etre!«  — den  M.  G.  Zimmermann 
(Giotto  1,50  u.  272),  ohne,  wie  ich  gern  annehme,  das  Werk  selber  gesehen 
zu  haben,  wiederholt,  ist  um  drei  Jahrhunderte  zu  früh  gegriffen.  Diese 
stets  wiederkehrenden  Szenen  der  Vorgeschichte  des  Erlösungswerkes  werden 
eben  beibehalten,  nach  den  überlieferten  Vorlagen  kopiert,  nur  je  nach 
dem  Format  der  verfügbaren  Bildflächen  leise  verschoben.  Am  Anfang 
pflegt  außerdem  jede  neue  Redaktion  befangen  zu  bleiben  und  respektvoll 
den  geheiligten  Kanon  zu  bewahren.  Im  Verlauf  aber  erwächst  dann  die 
Freiheit,  und  das  Eigene  drängt  sich  kühn  zwischen  die  feststehenden 
Kompositionen,  wie  z.  B.  der  Brudermord,  Noah,  die  Rückkehr  der  Könige 
und  ähnliches  beweisen.8)  Je  lebendiger  die  Szenen  sich  unter  der  Hand 


8)  Soeben  sehe  ich,  daß  auch  Guardabassi,  Indice  Guida  dei  Monumenti  . . . . 
dell’  Umbria,  Perugia  1872,  p.  72  diese  Wandmalereien  ins  12.  Jahrhundert  datiert,  deren 


Romanische  Wandgemälde  der  Abteikirche  S.  Pietro  bei  Ferentillo. 


405 


des  romanischen  Malers  gestalten,  desto  entschiedener  tritt  die  Absicht 
auf  rhythmische  Bewegung  von  links  nach  rechts,  dem  Vorüberschreiten 
des  Betrachters  oder  dem  Dahingleiten  des  ablesenden  Blickes  entsprechend 
hervor.  Und  eben  durch  diesen  kontinuierlichen  Fortschritt  der  Bilder- 
reihen unterscheidet  sich  der  Zyklus  der  Benediktinerabtei  S.  Pietro  in 
in  Valnerina  von  dem  späteren  in  der  Oberkirche  von  Assisi,  wo  der 
Strophenbau  der  großen  gotischen  Gewölbejoche  den  Verlauf  unterbricht 
und  Gruppen  enger  zusammenzufassen  zwingt,  so  daß  immer  ein  Paar 
von  Szenen,  links  und  rechts  vom  Fenster,  auch  als  Gegenstücke  wirken 
können  (wie  in  den  rechteckigen  Feldern  unten)  oder  gar  wirken  müssen 
(wie  in  den  dreieckigen  Bogenfeldern  oben).  Nehmen  wir  dazu  noch 
Duccios  großes  Altarwerk,  — wo  die  horizontale  Reihung  auf  der  Mitteltafel 
die  vertikale,  und  zwar  von  unten  nach  oben  aufsteigende,  an  den  Eck- 
pfosten^ miteinander  kontrastieren,  — so  ergibt  sich  die  Aufgabe,  einmal 
zusammenhängend  zu  untersuchen,  wie  weit  die  rhythmische  Gliederung 
der  Bilderzyklen  auch  einen  Wandel  in  der  Komposition  hervorgebracht 
hat,  die  mit  den  Bedingungen  und  Absichten  der  raumschaffenden  Archi- 
tektur Hand  in  Hand  gehen  mußte,  wo  immer  eine  Einheit  im  Sinne  des 
herrschenden  Stiles  erreicht  ward.  Auch  die  Zurückführung  der  Fresken 
und  Tafelbilder  auf  Vorlagen  der  Buchmalerei  kann  nur  befriedigen,  wenn 
sie  diese  Gesichtspunkte  berücksichtigt,  womöglich  auch  im  höchsten  Eifer 
gegenwärtig  hält.  Auch  Wandgemälde  müssen  ja  durch  Entwürfe  in 
kleinem  Maßstab  vorbereitet  sein,  so  daß  aus  Residuen  dieses  kleineren 
Formates  allein  in  großen  Bildern  nicht  schon  auf  ihren  Ursprung  aus 
Miniaturen  geschlossen  werden  darf.  Die  umbrische  Tradition  der  Kirchen- 
malerei steht  angesichts  dieses  Denkmals  im  Tal  der  Nera  ganz  anders 
da,  als  mit  dem  Miniaturisten  Oderisi  allein  gesehen  (wie  Rep.  XXVII,  248). 

Die  vollständige  Publikation  der  Wandgemälde  in  S.  Pietro  bei 
Ferentillo  ist  eine  Ehrenpflicht  der  italienischen  Forscher.  Erst  sie  wird 
der  vergleichenden  Untersuchung  aller  Einzelheiten  ermöglichen,  dies  einzig- 
artige Denkmal  echt  romanischer  Malerei  auf  italienischem  Boden  vollauf 
zu  würdigen  und  chronologisch  genauer  einzuordnen,  als  es  hier,  ganz 
ohne  Vergleichsmaterial  am  Orte,  versucht  werden  konnte.  Mir  genügt 
es,  die  monumentale  Gesamtdisposition  des  Zyklus,  um  die  sich  niemand 
bekümmert  hat,  in  ihr  Recht  wieder  eingesetzt  zu  haben. 

Bedeutung  jedoch  unterschätzt:  »sembraci  che  questi  dipinti  emanino  dalla  scuola  degli 
alluminatori  umbri  fondata  dai  monaci  che  vennero  d’Oriente.«  Venturi  erwähnt  das 
Werk  in  seiner  Storia  dell’  Arte  italiana  II  und  III  garnicht. 

9)  Dies  zur  Rekonstruktion  der  getrennten  Bilderreihen  1 Auch  Nr.  61  gehört  dazu. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli 

di  Arduino  Colasanti. 

Solevano  gli  antichi,  per  uso  quasi  costante,  tenere  un  libro  nel 
quäle  registravano  con  esattezza  minuta  le  loro  entrate  e spese,  i loro  con- 
tratti  e affari,  i fatti  di  famiglia  piü  degni  di  memoria,  gli  onorevoli 
uffici  ottenuti  e i piü  notevoli  avvenimenti  della  cittä.  Fra  i piü  im- 
portanti  di  questi  libri  di  ricordanze  si  deve  senza  dubbio  annoverare 
quello  in  cui  dal  1233  al  1261  vengono  dichiarate  le  entrate,  le  spese 
e le  memorie  di  madonna  Moscada,  vedova  di  Spinello  e tutrice  de’  suoi 
figliuoli  Spinello,  Aldobrando,  Matasala  e Ugolinella.1)  Qui  ancora  la 
parte  piü  importante  del  libro  ü costituita  dai  ricordi  della  finanza  do- 
mestica  e dalla  esatta  registrazione  dei  debiti  e dei  crediti,  cosi  che  da 
quelle  pagine  scaturisce  la  chiara  visione  dei  bisogni,  delle  abitudini,  dei 
criteri  economici  di  una  famiglia  toscana  nella  seconda  metä  del  dugento. 

Ma  non  mancano  documenti,  della  stessa  natura  e allo  stesso  modo 
antichi,  in  cui,  vicino  alle  note  della  spesa  e dell’  entrata,  appariscono 
notizie  di  avvenimenti  familiaii  e cittadini,  veri  accenni  alla  cronaca  e, 
quello  che  a noi  piü  importa,  all’  autobiografia.  Ci  basti  a questo 
proposito  di  citare  i ricordi  di  Guido  di  Filippo  di  Ghidone  dell’  Antella, 
che  vanno  fino  all’  anno  1298,  e le  memorie  di  ser  Cristofano  di  Gal- 
gano  Guidini  da  Siena.2)  I primi  conservano  ancora  una  forma  embrionale 
e schematica  e,  in  brevi  capoversi,  vi  si  notano  fatti  della  vita  del- 
l’autore,  riassunti  di  carte  di  negozi,  nude  e semplici  notizie  dei  matri- 
moni  delle  sorelle  e delle  morti  dei  parenti,  i nomi  delle  serve,  delle 
balie  e delle  schiave,  locazioni  di  botteghe  e di  poderi.  Nelle  memorie 
di  Cristofano  Guidini,  comprendenti  un  ragguardevole  periodo  della 
seconda  metä  del  secolo  decimoquarto,  la  intenzione  autobiografica 
assume  in  vece  carattere  e forma  di  vera  narrazione,  che  risale  alle  origini 
della  famiglia  dell’  autore,  si  trattiene  sulla  giovinezza  di  lui  e sulle 
relazioni  che  egli  ebbe  con  S.  Caterina,  di  cui  viene  financo  riportata 

')  N.  Tommaseo-G.  Milanesi,  Ricordi  di  una  famiglia  senese  del 
secolo  decimoterzo,  in  Archivio  storico  italiano,  Appendice,  v.  V,  Serie  I. 

2)  F.  Polidori,  Ricordi  di  cose  familiari  scritti  da  varie  persone, 
in  Arch.  stör,  it.,  ser.  I,  v.  IV,  p.  3 e segg. 


Arduino  Colasantk-  II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


407 


una  lettera,  da  conto  particolareggiato  di  quanto  si  riferisce  ai  figli  e 
alla  famiglia  di  messer  Cristofano. 

Piü  tardi,  vicino  alle  memorie  di  Bartolomeo  di  Michele  vinattiere, 
che  si  iniziano  nel  1405  e giungono  fino  al  1438,3)  vicino  alle  ricor- 
danze di  Luca  drMatteo  di  messer  Luca  Firidolfi  da  Panzano,4)  a quelle 
di  Tribaldo  de’  Rossi,  comprendenti  un  periodo  di  quindici  anni,  dal 
,1484  al  1499,5)  e alle  altre  di  un  anonimo  mercante  pisano,3 4 5 6 7)  le  quali 
tutte  si  riferiscono  piü  speeialmente  a partite  di  amministrazione  domestica, 
troviamo  il  libro  in  cui  Giovanni  Ruccellai,  da  sü  o per  mano  di  altri, 
lasciö.  scritti  i ricordi  della  sua  vita,  della  sua  famiglia,  dei  suoi  amici, 
.registrö  avvenimenti  pubblici  dei  quali  fu>  testimone,  descrisse  Roma 
durante  il  giubileo  dei  1450,  prese  nota  di  quanto  trovava  di  piü  memo- 
rabile  nei  libri  che  leggeva,  palesö  i pensieri  e gli  affetti  propri  con  sem- 
plicitä,  espose  il  frutto  della  sua  lunga  esperienza  in  savie  osservazioni.7) 

Cosf  a poco  a poco  si  veniva  determinando  una  vera  e propria 
forma  autobiogralica,  nella  cui  formazione  gli  elementi  popolari  non 
hanno  meno  importanza  di  quelli  letterari,  perchü  si  vedono  muovere  da 
puati  diversi  e poi  confluire  quelle  correnti  che  risalgono  da  un  lato 
alla  famosa  lettera  dei  Petrarca  ad  Posteros,  dälf  altro  a questi  umili 
scrittori  di  commentari  domestici,  di  diari,  di  ricordi  e di  cronachette 
familiari.8 9) 

Fra  gli  autori  di  tali  ricordanze,  vicino  a mercanti  di  ogni  condizione, 
figurano  spesso  artisti,  per  i quali  ogni  notizia  di  viaggi,  di  relazioni,  di 
acquisti  e di  contratti  puö  avere  capitale  importanza,  quando  serva  a 
lumeggiare  meglio  la  loro  attivitä,  la  cronologia  delle  opere  e,  sovente, 
anche  la  ragione  di  alcuni  speciali  atteggiamenti  dell’  arte  loro,  che 
altrimenti  riuscirebbero  inesplicabili.  Sono  note,  in  tatti,  le  memorie  di 
Oderigo  di  Andrea  di  Credi,  orafo  fiorentino,  che  vanno  dal  1405  al 
1425,9)  non.  meno  dei  ricordi  di  Neri  di  Ricci  conservati  nella  Galleria 


3)  Muratori,  Rerum  italicarum  scriptores,  v.  XIX. 

4)  Carnesecchi,  Un  fiorentino  del:  secolo  decimoquinto  e le  sue 
ricordanze  domestiche,  in  Arch.  stör,  it.,  s.  V,  v.  IV,  p.  X45  e segg.* 

5)  P.  Ildefonao  di  S.  Luigi,  inDelizie  degli  eruditi  toscani,  v.  XXIII. 

6)  E.  P.icpolom  ini,  Cronachetta  pisana,  Pisa  1877,  per  nozze  Teza. 

7)  G.  Temple  Leader,  in  Arch.  stör.  it.  s.  III,  v.  XV;  G.  Marcotti,  Un 
mercante  fiorentino  e la  sua  famiglia  nel  secolo  decimoquinto,  Firenze, 
Barbera,  1881.  Per  nozze  Nardi-Amaldi. 

8)  Cfr.  a questo  proposito:  Vita  di  Benvenuto  Cellini,  con  introduzione  e 
note  di  O.  Bacci,.  Firenze,  Sansoni,  1901,  p.  LXXIV;  le  osservazioni  di  S.  Salvini 
premesse  alla  Cronica  di  B.  Pitti,  Firenze,  Manni,  1720;  E.  Leporati,  B.  Cellini 
e la  sua  autobiografia,  J1898. 

9)  F.  Polidori,  art.  cit. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


28 


408 


Arduino  Colasanti. 


degli  Uffizi,  del  giornale  di  Maso  di  Bartolomeo,  scultore  fiorentino, 
pubblicato  dall’  Yriarte,10)  dei  frammenti  finora  ritrovati  delle  ricordanze 
di  Alessio  Baldovinetti11)  e del  diario  di  Jacopo  Carrucci  detto  il  Pon- 
tormo,  da  noi  recentemente  illustrato.12) 

Non  £ qui  il  luogo  di  mostrare  tutto  il  pregio  singolare  di  queste 
memorie,  specialmente  in  rapporto  con  i grandi  documenti,  quali  il  codice 
dell’  Anonimo  .Gaddiano *  *3),  i Commentarii  del  Ghiberti  *4),  gli  scritti  del 
Filarete  e dell’  Anomino  Morelliano^)  e il  libro  di  Antonio  Billi,  che  non  ci 
iniziano  ai  segreti  della  vita  privata  dell’  artista.  Ma,  riferendoci  a quanto 
giä  da  altri  e da  noi  fu  scritto  sull’  argomento,  ci  basta  di  far  rilevare  che 
1’  importanza  di  tali  scritture  non  solo  6 strettamente  storica,  ma  psicologica, 
e che,  anche  quando  esse  non  ci  forniscono  notizie  dirette  su  questa  o su 
quell’  opera  di  un  maestro,  chiariscono  le  condizioni  morali  e materiali, 
1’  ambiente  in  cui  quelle  opere  furono  pensate  e create,  lumeggiando  quei 
fatti  minuti,  quelle  piccole  cause,  onde  spesso  traggono  origine  le  grandi 
cose;  anche  quando  non  ci  offrono  materiali  utili  per  risolvere  i problemi 
relativi  allo  svolgimento  dell’  attivitä  di  un  artista,  ci  aiutano  mirabilmente 
a ricostruire  la  sua  personalitä  interiore,  mostrandoci  1’  uomo  fra  gli  affetti, 
i pensieri,  le  abitudini  che  egli  ebbe  familiari. 

Questa  speciale  importanza  nessuno  vorrä  ragionevolmente  negare 
al  Memoriale  di  Baccio  Bandinelli,  che  oggi  per  la  prima  volta  esce 
dall’  oblfo  in  cui  fu  tenuto  per  piü  di  tre  secoli  e mezzo. 

Nelle  cinquanta  pagine  dettate  al  figliuolo  Cesare,  il  quäle  tutte  le 
scrisse  di  sua  mano,  Baccio  Bandinelli  ci  appare  veramente  quäle  a noi  fu 


I0)  Yriarte,  Journal  d’un  sculpteur  florentin.  Livre  de  Souvenirs 
de  Maso  di  Bartolommeo  dit  Masaccio,  in  Arch.  stör,  it.,  s.  V,  v.  XV,  p.  391 
e segg. 

")  H.  P.  Home,  A newly-disco vered  »Libro  di  ricordi«  of  Alesso 
Baldovinetti,  in  Burlington  Magazine,  1903,  nn.  4 — 5,  p.  22  e segg.,  167 
e segg. 

I2)  A.  Colasanti,  Il  Diario  di  Jacopo  Carrucci  da  Pontormo,  in  Bollet- 
tino  della  Societä  filologica  romana,  1902,  n.  2. 

*3)  C.  De  Fabriczy,  Il  codice  dell’  Anonimo  Gaddiano  (cod.  maglia- 
bechiano,  XVII,  17)  nella  biblioteca  nazionale  di  Firenze,  in  Arch.  stör, 
ital.  1893,  P-  35»  C.  Fry,  Il  codice  magliab.  CI.  XVII,  17,  contenente  no- 
tizie sopra  1’ arte  degli  antichi  e quella  dei  fiorentini  da  Cimabue  a 
Michelangelo  Buonarroti  scritte  da  Anonimo  fiorentino,  Berlin,  Grote,  1892. 

J4)  Vita  di  Lorenzo  Ghiberti  scultore  fiorentino  scritta  da  Giorgio 

Vasari  con  i Commentari  di  Lorenzo  Ghiberti  herausg.  von  Carl  Frey, 

Berlin,  Hertz,  1886. 

*5)  Jacopo  Morelli,  Notizia  delle  opere  di  disegno  di  un  Anonimo, 
ediz.  del  Frizzoni,  Bologna  Zanichelli,  1884. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


409 


descritto  con  insuperabile  vivezza  dal  Vasari,16)  dal  Cellini  e dai  versi  di 
Alfonso  dei  Pazzi.  In  un’  epoca  nella  quäle  il  concetto  della  personalitä 
umana  era  tanto  elevato  che  negli  epistolari  degli  Umanisti  e nei  versi 
dei  poeti  filologi  assume  spesso  tutte  le  apparenze  della  vanagloria,1?)  il 
Bandinelli  appare  addirittura  invasato  dal  desiderio  di  far  rilevare  l’im- 
portanza  della  sua  persona.  Ricerca  studiosamente  e vanta  la  sua  origine 
nobile,  ostenta  ad  ogni  passo  la  protezione  di  cui  gli  era  larga  la  casa 
de’  Medici,  pone  in  luce  la  benevolenza  dimostratagli  dall’  imperatore 
Carlo  V,  col  piü  vivo  compiacimento  si  dichiara  amico  di  papi,  di  principi 
e di  ambasciatori,  con  falsa  modestia  finge  di  non  voler  parlare  delle 
proprie  opere,  ma  le  pone  al  di  sopra  di  quelle  della  maggior  parte 
degli  artisti  dei  suo  tempo. 

Questa  presunzione  che  Baccio  mise  in  ogni  atto  della  sua  vita  e 
che  sembrö  toccare  il  colmo  quando  egli,  poco  sapendo  di  architettura, 
osö  di  offrire  1’  opera  sua  per  la  nuova  fabbrica  dei  Palazzo  mediceo  di 
Pisa,1^)  questa  insaziabile  brama  di  voler  sembrare  sempre  piü  grande 
dei  vero,  che  nel  Memoriale  si  rivela  palesemente  a ogni  pagina,  che 
anzi  fu  1’  impulso  maggiore  onde  il  Bandinelli  fu  tratto  a dettare  le  ricor- 
danze  sue  e quelle  de’  suoi  maggiori  ai  figliuoli,  condussero  a volte 
1’  autore  a esagerare  alcuni  fatti,  a tacerne  altri  o ad  alterare  addirittura 
la  veritä.  Cosi,  a proposito  della  vantata  cordialitä  dei  papa  Clemente  VII 
a riguardo  di  lui,  noi  abbiamo  sufficienti  ragioni  che  c’  inducono  a credere 
come  talvolta  avvenisse  precisamente  il  contrario.  Sappiamo,  in  fatto,  che 
gli  operai  dei  Duomo  di  Firenze  avevano  allogata  nel  1514  ad  Antonio 
di  Salvi  e a Michelagnolo  di  Viviano,  padre  di  Baccio,  una  croce  d’  argento  * 
con  alcune  storie  della  passione  di  Cristo.^)  Morto  Michelagnolo,  il 
Bandinelli  chiese  al  papa  che  desse  a finire  quell’  opera  a Francesco 
dei  Prato,  ma  Clemente  bruscamente  ordinö  che  si  saldasse  il  conto 
e che  gli  Operai  fondessero  tutto  1’  argento,  per  servirsene  ne;  bisogni 
della  chiesa.20)  Queste  notizie  ci  furono  tramandate  dal  Vasari,  e 
molto  precisamente  appariscono  confermate  in  una  lettera  che  lo  stesso 
Baccio  il  29  dicembre  dei  1528  indirizzö  da  Roma  al  Gonfaloniere 
Niccolö  Capponi.21) 


*6)  Vasari,  Le  Vite,  ed.  Sansoni,  VI. 

17)  Burckhardt,  La  civiltä  dei  secolo  dei  Rinascimento  in  Italia, 
Firenze,  Sansoni,  1876,  I,  193  e segg. 

»*)  Gaye,  Carteggio  inedito  d’ artisti,  III,  p.  4. 

19)  Archivio  dell’ Opera  dei  Duomo  di  Firenze,  Deliberazioni  dal  1507  al 
1515,  a c.  74. 

*°)  Vasari,  op.  cit.  VI,  p.  156 — 157» 
ai)  Gaye,  op.  cit.  II,  p.  175. 


28* 


4io 


Arduino  Colasanti: 


Era  naturale  che  tale  esagerata  vanitä,  1’  ambizione  smodata  e quel 
suo  andar  vantando  il  favore  e la  protezione  dei  potenti,  che  sapeva 
procacciarsi  piü  con  1’  abilitä  delle  parole  che  con  1’  eccellenza  delle  opere,' 
suscitassero  intorno  al  Bandinelli  un  grande  numero  d’  inimicizie  e d’  in- 
vidie,  le  quali  trovarono  sfogo  da  un  lato  nelle  prose  del  Varchi,  nei 
giä  citati  sonetti  satirici  di  Alfonso  de'  Pazzi  e di  altri  rimatori  e nel- 
1’  autobiografia  del  Cellini,  dall’  altro  nel  Memoriale  di  Baccio  e in  alcuni 
suoi  versi  che,  per  riverenza  all’  arte,  non  intendiamo  di  riesumare.  Chi 
vorrä  ricordare  tutti  i particolari  e rievocare  la  storia  di  questa  banale 
lotta  di  interessi  colpiti, . di  ambizioni  deluse,  di  malignitä  impotenti, 
dovrä  rifarsi  dall’  episodio,  narrato  nel  Memoriale,  di  un’  acerba  critica 
fatta  dal  Vasari  a un  disegno  del  Bandinelli,  dalla  tempesta  d’  invidie  e di 
odi  suscitati  contro  Baccio  allorche  dall’  imperatore  Carlo  V gli  fu  con- 
ferita  la  dignitä  di  cavaliere  di  S.  Jacopo,  dalle  controversie  le  quali 
sorsero  fra  lo  scultore  toscano  e gli  Operai  del  Duomo  di  Firenze, 
dalla  tracotanza  sfacciata  onde  lui,  ignorante  scalpellino,  fu  tratto  a rim- 
beccare  il  Varchi,  in  presenza  del  Duca,  a proposito  della  interpretazione 
di  un  passo  di  Tacito. 

Ma  a queste  miserabili  competizioni  non  avremmo  noi  neppure 
accennato,  se  esse  non  ci  aiutassero  a comprendere  meglio  la  natura 
dell’  uomo,  che  tanto  apertamente  ci  si  manifesta  nel  Memoriale,  e non 
spiegassero  il  livore  e la  parzialitä  di  cui  il  Vasari  non  seppe  spogliarsi 
scrivendo  la  vita  di  Baccio. 

A tacere  del  giudizio  esageratamente  severo  dato  sulla  produzione 
artistica  del  Bandinelli,  la  quäle,  per  quanto  disuguale  e meritevole  troppo 
spesso  di  biasimo,  ha  pur  diritto  qualche  volta  a una  maggiore  consi- 
derazione,  £ nostro  fermo  convincimento  che  non  tutte  le  affermazioni 
dello  storico  aretino,  riguardanti  il  Bandinelli,  possano  accettarsi  a öcchi 
chiusi.  Il  Vasari,  ad  esempio,  dopo  avere  rimproverato  a Baccio  di  essersi 
procacciata  per  mezzo  di  intrighi • la  commissione  di  eseguire  le  tombe 
di  Leone  X e di  Clemente  VII,  afferma  che  lo  scultore  vi  attese  allst 
peggio,  sollecitando  piu  il  riscuotere  1’  argento  che  il  lavorare  il  marmo. 
I cardinali  Innocenzo  Cibo  e Giovanni  Salviati  gli  avrebbero  in  particolar 
modo  raccomandato  di  modellare  bene  le  statue  dei  due  pontefici,  ma 
il  Bandinelli,  avendo  giä  riscosso  tutto  il  suo,  per  mezzo  del  vescovo  di 
Cörtona  avrebbe  fatto  pratiche  di  partirsi  da  Roma,  per  ottenere  lavoro 
dal  duca  Cosimo  nella  fonte  di  Cestello  e nella  sepoltura  di  Giovanni  sua 
padre.* 23)  Il  che  6 smentito  dai  fatti,  perch6  da  una  lettera  scritta  nel 


22)  Cfr.  Memoriale;  Vasari,  op.  c}t  VI,  175;  Gaye,  II,  498. 

2 3)  Vasari,  op.  cit.,  VI,  pag.  167. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


4 II 

marzo  1540,  con  la  quäle  Baccio,  che  stava  in  Roma,  prega  Cosimo  I di 
mandargli  le  misure  esatfe  dei  marmi,  si  conosce  che  fino  da  allora  egli 
aveva  preso  a costruire  il  monumento  di  Giovanni  delle  Bande  nere,  la 
cui  formale  allogazione  gli  fu  data  con  contratto  de!  26  maggio  dello 
stesso  annoA4) 

II  fatto  £ che  il  Bandinelli  parti  da  Roma,  lasciando  incompiute  le 
statue  di  Leone  X e di  Clemente  VII,  e il  Vasari  aggiunge  subito 
malignamente  che  per  questo  fatto  egli  «ebbe  per  forza  a rendere  con 
suo  disagio  i danari,  i quali  aveva  sopmppresi  per  quelle  statue  e figure»A5) 
Ma  anche  questa  volta  le  parole.  dell’  Aretino  sono  contraddette  da 
testimonianze  meno  sospette,  dalle  quali  risulta  che,  allontanatosi  Baccio 
dalla  cittä  eterna,  Baldassarre  Turini  si  adöperö  prima  presso  il  cardinale 
Innocenzo  Cibo,  poi  presso  Cosimo,  perch£  lo  scultore  fosse  inviato  a 
compiere  il  suo  lavoro,  e da  Cosimo  F ottenne,  E,  in  vero,  nell’  aprile 
del  1541  il  Bandinelli  lavorava  ai  monumenti  dei  due  papi  con  piena 
soddisfazione  dei  committenti,  come  il  suddetto  Turini  scrive  da  Roma  a 
Cosimo  IA6)  Piccole  cose  queste,  ma  che  pur  valgono  a gittare  una  viva 
luce  sul  complesso  della  biografia  di  Baccio  Bandinelli  e sui  sentimenti 
dai  quali  il  Vasari  doveva  essere  ancora  ispirato  nello  scriverla. 

Gon  questo  non  iritendiamo  contrapporre  un  nuovo  Bandinelli  di 
maniera,  a quello  giä  descritto  dallo  Storico  dell’  arte  italiana,  come 
non  vogliamo  scagionare  Baccio  da  ogni  accusa  di  indelicatezza,  il  che 
sarebbe  reso  impossibile  dallo  stesso  racconto  che  egli  nel  suo  Memoriale 
fa  delle  ragioni  onde  fu  indotto  a lasciare  incompiuti  a Genova  i lavori 
ottenuti  per  mezzo  del  cardinale  Doria.  Ma  ci  sembra  innegabile  che 
il  Vasari,.  parlando  del  Bandinelli  dopo  la  morte  di  lui,  non  seppe  del 
tutto  spogliarsi  di  quell’  odio  che,  del  resto,  lo  scultore  gli  aveva  ricam- 
biato  fieramente. 

Pur  tuttavia  sull’  autoritä  e sulla  fede  del  Vasari  ancora  si  conti- 
nuano  ad  affermare  fatti,  i quali,  se  fossero  provati,  dovrebbero  condan- 
nare  alla  ignominia  il  nome  del  Bandinelli.  Vogliamo  alludere  all  odio 
feroce  che  Baccio  avrebbe  nutrito  contro  Michelangelo  e che  in  due 
-occasioni  egli  principalmente  avrebbe  dimostrato,  quando,  avuto  fra  le 
mani  il  celebre  cartone  della  battaglia  di  Anghiari,  lo  distrusse,  e quando, 
avendo  fatto  chiedere  a Michelangelo,  per  mezzo  del  Duca,  alcuni  marmi, 
trovö  fra  questi  una  statua  condotta  molto  innanzi  e varie  bozze  di 


*4)  Le  condizioni  di  questo  contratto  furono  pubblicate  dal  Milanesi  nelle  sue  note 
al  Vasari  (luog.  cit.). 

2 5)  Vasari,  op.  cit.  VI,  p.  169. 
l6)  Gaye,  op.  cit.  II,  p.  286. 


412 


Arduino  Colasanti: 


figure  e ogni  cosa  tagliö  in  pezzi  e tritö,  »parendogli  in  questo  modo 
vendicarsi  e fare  a Michelagnolo  dispiacere«.a7) 

Sembra  a noi  che  cid  si  possa  per  lo  meno  revocare  in  dubbio. 
Invero  in  tutto  il  Memoriale  ogni  volta  che  Baccio  ha  occasione  di 
nominare  Michelangelo  adopera  parole  di  alto  riguardo  e di  ammirazione, 
si  dichiara  con  ostentazione  suo  amico,  lo  chiama  »il  grande  Buonaruoti«, 
e il  »buon  Buonaruoti«,  mostra  di  essere  stato  in  relazione  con  lui  allor- 
quando  si  trattava  di  scegliere  a Carrara  i marmi  per  i sepolcri  di  Leone  X 
e di  Clemente  VII,  riporta  non  solo  i giudizi  lusinghieri  di  lui  come. 
titolo  di  altissima  lode,  ma  ascrive  a suo  onore  il  biasimo  che  talora  ne 
ebbe,  scrivendo:  »Mi  occorre  ancora  dirvi,  figlioli  mia,  come  talvolta 
ero  biasimato  da  molti  e particolarmente  dal  buon  Buoniaruoti,  il  giuditio 
del  quäle  stimavo  sopra  ogni  altro,  si  perchd  era  intelligente,  come  perchd 

non  si  moveva  da  animo  malignio Una  volta  tanto,  adunque, 

la  vanagloria  di  Baccio  si  inchinava  umilmente  dinanzi  al  genio  sovrano 
e alla  rettitudine  del  terribile  scultore. 

Tutto  cid  d certo  molto  lontano  dall’  odio  mortale  e dalT  invidia 
feroce  di  cui  il  Vasari  vorrebbe  mostrarci  invasato  il  Bandinelli  contro 
Michelangelo,  poichd  non  sapremmo  davvero  comprendere  per  quali 
motivi  Y uomo  vanitoso,  che  parlava  ai  suoi  figli  e che  non  aveva 
avuto  nessun  ritegno  di  dichiararsi  avversario  dello  Zani,  di  Alfonso 
de  Pazzi,  dello  stesso  Vasari  e del  Varchi,  avrebbe  doVuto  a un  tratto 
mascherare  fino  a questo  punto  i suoi  sentimenti.  E,  se  le  nostre 
deduzioni  sono  giuste,  crediamo  che  almeno  sia  ancora  da  invocare 
un  poco  di  luce  su  un  fatto  che,  in  base  alla  sospetta  testimonianza 
dello  Storico  aretino,  fu  dato  come  certo  dai  piü  recenti  biografi  del 
Buonarroti. 


Il  Memoriale  di  Baccio  Bandinelli  si  conserva  nella  Biblioteca  cen- 
trale nazionale  di  Firenze,  in  un  codice  autografo  del  secolo  decimosesto, 
segnato:  Palat.  Bandinelli  12;  cartaceo,  di  forma  rettangolare  e delle  di- 
mensiom  di  mm.  210  di  larghezza  per  mm.  275  di  altezza.  Compongono 
il  codice  cinquanta  pagine  numerate  e ventuno  carte  non  numerate, 
divise  in  tre  fascicoli  di  otto  fogli  ciascuno;  le  ultime  due  carte  servono 
da  foglio  di  guardia.  Il  codice  ha  una  rilegatura  coeva  in  pergamena 
e si  chiude  con  due  lacci  di  stoffa  gialla.  Sulla  rilegatura  si  legge  il 
seguente  titolo: 


*7)  Vasari,  op.  cit.  VI,  p.  168. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


413 


MEMORIALE 
DEL  SIG.  CA  VAL.  BAR- 
TOLOMMEO  BANDI- 
NELLI 

DELL’  ANNO  MDL 
SEG.  B. 

A FIGLIVOLI 

evidente  che  questo  titolo  fu  aggiunto  al  codice  in  epoca  tarda, 
perch£  la  data  1550  non  corrisponde  al  contenuto.  Infatti  due  volte 
nel  Memoriale  si  parla  della  cappella  che  il  Bandinelli  aveva  scelta  per 
tomba  della  sua  famiglia  nella  chiesa  dell’  Annunziata.  Ebbene,  noi  sap- 
piamo  che  il  regolare  contratto  con  i frati  per  la  cessione  di  quella 
cappella  fu  stipulato  soltanto  il  2 maggio  del  1559  e che  il  28  febbraio 
dell’  anno  antecedente  Lelio  Torelli  scriveva  al  duca  Cosimo,  perch£  il 
Bandinelli  voleva  togliere  dalla  chiesa  dell  Annunziata  la  tomba  di  un 
soldato  morto  in  duello,  per  collocarvi  la  sua  Pie tä  eseguita  in  marmo. 

Al  titolo  sopra  riportato  segue  un  frontispizio  con  un  giglio  di 
Firenze,  rozzamente  delineato  a penna  e colorito  con  matita  rossa;  quindi 
nella  carta  seguente  ha  principio  il  Memoriale  con  le  seguenti  parole: 
»Adi  18  di  maggio  1552«  e lo  scritto  continua  fino  alla  metä  della 
pagina  quarantesima  sesta,  dove  termina  con  le  parole  che  seguono: 
»viviate  lungamente  felici  e nel  cielo  co’  padri  vostri  nel  secolo  de’  secoli.« 

Lungo  il  margine  delle  pagine  corrono  richiami  posteriori  e d’  altra 
mano,  contenenti  un  breve  compendio  del  testo. 

Insieme  con  altre  filze  di  memorie  e lettere  e documenti,  spettanti 
alla  famiglia  Bandinelli,  il  codice  contenente  il  Memoriale  entrö  nella 
biblioteca  fiorentina  nel  dicembre  dell’ anno  1850,  acquistato  dal  biblio- 
tecario  Francesco  Palermo. 

Trascrivendo  il  manoscritto  abbiamo  voluto  scrupolosamente  ripro- 
dume  il  testo,  rispettando  1’  ortografia  dell’  autore.  Solo,  per  agevolarne 
1’  intelligenza,  abbiamo  creduto  di  aggiungere  apostrofi,  accenti  e segni 
di  interpunzione,  e di  dividere  le  parole  secondo  1’  uso  moderno. 

Quanto  alle  note,  non  abbiamo  creduto  di  apporre  che  quelle  le 
quali  ci  sono  sembrate  assolutamente  necessarie  per  togliere  di  mezzo 
possibili  equivoci  e per  la  migliore  lettura  del  testo. 

* * 

* 

Adi  18  di  maggio  1552 

Al  nome  di  Dio,  della  Gloriosa  Madre;  di  S.o  Giovambatista,  e di 
S.a  Caterina  da  Siena  miei  avvocati.  Questo  libro  chiamato  Memoriale 
segniato  B,  e di  me  Care  Bartolomeo  Bandinelli,  nobile  fiorentino,  tenuto 


414 


ATduino  Colasanti: 


e scritto  per  le  mani  di  Cesare  miö  figliolo,  da  me  dettatogli,  dove  saranno 
scritte  piü  e diverse  memorie  slcome  hanno  fatto  Bartolomeo  e Francescho 
di  Bandinello  miei  avoli;  e tutto  per  inteligentia  de’  miei  successori,  acciö 
sappino  chi  sono  e quanto  devono  bene  portare,  e tutto  a Gloria  de  Dio. 

Al  nqme  de  Dio. 

Memoria  prima.  Sapranno  i mia  discendenti,  sicome  troveranno  per 
diversi  ricordi  di  Michelagniolo  mio  padre,  Bartolomeo  mio  bisavolo  e Fran- 
cescho. di  Bandinello  mio  archavolo,  in  un  libro  di  ricordi  in  cartapecora 
segniato  A di  loro  propria  mano  e cominciato  in  Siena  l’anno  1430,  quäle 
appresso  di  me  si  conserva,  e raccomandolo  a miei  figlioli,  qome  la  casa 
nostra  ha  avuto  origine  da  Bandinelli  di  Siena;  e per  loro  inteligentia; 

Da  un  conte  Bandinello  avolo  di  papa  Alessandro  III,  il  quäle 
discendeva  da  un  conte  di  Franchonia,  ehe  venne  eon  Carlo  Magno 
imperatore  de  Lamagnia,  dal  quäle  riceve  in  Toschana  castelli  e signorie, 
et,  essendo  de  Grandi,  i suoi  discendenti  si  feciono  cittadini  di  Siena, 
dove  dagli  imperadori  vegnenti  furno  fatti  Vicari  in  Toschana  e conti 
di  Siena:  da  questo  Conte,  dico,  nacque  lo  conte  Guido,  quäle  ebbe 
per  figliolo  lo  conte  Aldobrandino,  e questi  Guido,  che  fu  in  Terra  Santa 
con  molti  Ciocisegnati,  a quali  comandava;  et  ebbe  in  suo  retaggio  pi Ci 
castella,  e fu  padre  di  Bandinello,  che  vend£  quello  d,ella  Selva  alla  Si- 
gnoria  di  Siena;  lo  quäle  fu  padre  di  messere  Sozzo,  cavre  di  Retaggio 
e del  Senato,  quäle,  fra  gli  altri  figlioli,  ebbe  Francescho  Senatore  e cavre 
molto  famoso,  ricco  e splendido,  eome  si  vede  per  un  trionfo  di  un 
Gentiluomo  de’  Rossi  mostratomi  - in  Siena  da  messere  Belisario  e messere 
Niccholö  Bandinelli  di  Siena,  miei  parenti,  che  lo  conoscevano  e me 
ne  hanno  promesso  copia,  Dallo  cavre  Francescho  nacque  uno  altro 

Bandinello,  che,  imparentatosi  con  Madonna  Claudia  Forte  Guerri,  mori 
giovane  e lasciö  trancescho  suo  figliolo,  il  quäle  Francescho,  avendo  in 
Siena  pr .0  mA8),  dal  quäle  nacque  tre  figlioli  chiamati  Bartolomeo.  Ban- 
dinello e Claudia;  Bandinello  mori  in  fasce,  e Claudia  si  fece  monaca 
in  Siena,  hora  Bartolomeo,  diventato  discolo  e di  una  compagnia  chia- 
mata  Chiassa,* 29)  il  padre  lo  mandö  a Firenze,  lo  raccommandö  alla 

l8)  preso  moglie? 

29)  Allude  evidentemente  a qualcuna  di  quelle  Compagnie  godereccie  di  cui  par- 
lano  G.  Villani  (Cronica,  VII,  89)  e Buoncompagno  Gramatico  (Cedrus)  e che  Dante 
flagellö  nei  versi  in  cui  parla  di  Folgore  da  S.  Gemignano.  Queste  Compagnie  di  lieto 
vivere,  che  parvero  contrapporsi  alle  confraternite  dei  DiscipKnati,  abbondarono  in  Siena, 
dove  furono  celebri  quelle  della  Consuma,  dello  Scricca,  del  Lano  e altre,  fra  le  quali 
non  ci  e avvenuto  di  trovar  notizia  di  questa  »Chiassa«  di  cui  parla  il  Bandinelli  (Cfr. 
la  ricca  bibliografia  su  Folgore.  da  S.  Gemignano,  e inoltre:  Aqüarone,  Dante  in 
Siena,  Gati,  1865;  Falletti-Fossati,  Costumi  senesi  nella  seconda  meta  del 


II  mcmoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


415 


protezione  di  Cosimo  de’  Medici,  che  allora  dominava  quasi  tutto  lo 
statö  fiorentino,  avendo  i Bandinelli,  per  avere  dato  altre  vuolte  soccorso 
a quella-  Repubblicha,  amicizia  seco  e con  Giovanni  suo  padre,  detto 
Piccarda;  ma  Bartolomeo,  pocho  attendendo  a’  ricordi  del  padre  e alla 
nobiltä.  del  sangue  suo,  si  innamorö  di  una  giovane  de’  Ceccherini,  Maria 
addomandata,  e presela  per  moglie  senza  saputa  di  nessuno,  onde  il  padre, 
venuto  in  collera  ne  acquietato  alle  persuasioni  di  Cosimo,  che  lo  esor- 
tava,  da  che  il  fatto  era  fatto,  all'  avere  pazienza,  si  per  questo  come 
per  altre  cagioni,  vedendo  le  discordie  della  sua  cittä,  le  private  nimicizie 

e il  popolo  avere  tolto  il  maneggio  a’  grandi 3°)  se  ne  ando 

per  diverse  parte  del  mondo,  di  Europa  e di  Asia,  come  si  vede  da’  ri- 

cordi sopra  nominati  de  detto  Francescho  e Bartolomeo,  a carte  7 e 12, 
e finalmente  tornato,  e vedendo  essere  nato  un  figliuolo  a Bartolomeo, 
chiamato  Viviano,  per  1’  anticho  Viviano  fratello  di  papa  Alessandro  30 
e di  Oddo  Bandinelli,  alle  preghiere  di  Cosimo  venne  ad  abitare  a f'irenze 
intorno  all’  anno  1450  et  aperse  casa  tolta  a pigione  in  via  Larga;  ebbe 
Bartolomeo  tre  altri  figlioli,  Francescho,  Fulgenzio  e Bandino. 

Fulgenzio  studiö  in  Parigi,  si  addottrinö  dalla  Sorbona  in  utroque 
jure  e,  tornato  a Firenze,  se  ne  ando  a Siena  dai  suoi  parenti  Bandi- 
nelli, e doppo  alcuni  mesi  si  fece  e vesti  in  S.  Tomm£  di  Siena,  dove 
fatto  professione;  fu  mandato  a Milano,  ove  doppo  alcuno  tempo  nel 
Capitolo  Generale  fu  fatto  presidente  di  quell’  ordine:  era  homo  di  grande 
scienzia,  di  buona  vita,  e compose  molte  opere  in  prosa,  in  rima,  latine 

e toschane,  delle  quali  ne  £ alcune  in  casa:  e perch£  la  religione  e fra- 

teria  delli  Humiliati  era  in  quei  tempi  molto  relassata  per  esservi  molte 
ricchezze,  pochi  conventi  e molti  de’  grandi  scapestrati,  volendola  ridurre 
all’  osservanza,  vi  pati  molte  persecutioni,  e,  volendo  il  papa  a sue  pre- 
ghiere rimuoverlo  e farlo  vescovo,  venne  di  relassatione  a morte  e fu 
sotterrato  in  Braida:  gli  fu  fatto  un  epitaffio  dall’  Averoldo.  Francescho 
mori  in  fasce  e Bandino  ando  in  Francia,  dove  sotto  il  Capitano  Brisso- 
netto  fu  alfiere,  chiamato  da’  Francesi  Bandino  di  Toschana.  Si  trova 
del  generale  fra’  Leone  una  ode  in  Scherzo  contro  agli  Humiliati  etc. 
Quanto  a Viviano,  primogenito  di  Bartolomeo,  preso  moglie  in  Roma 
madonna  Smeralda  Donati,  nobile  fiorentina,  ne  ebbe  due  figlioli:  Michela- 
gniolo  e Giovambatista,  che  fu,  come  si  dirä,  capitano  in  Francia,  non 
ebbe  figlioli  ne  prese  moglie;  ma  Michelagniolo,  colta  madonna  Caterina 
di  Taddeo  Ugolini,  rnia  amatissima  madre,  quäle  ebbe  me  Bartolomeo, 

secolo  decimoquarto,  Siena,  1882,  p.  189;  Zdekauer,  Il  giuoco  in  Italia  nei 
secoli  decimoterzo  e decimoquarto,  in  Arch.  stör.  ital.  Serie  IV,  vol.  XVIII, 
20 — 74,  XIX,  3 — 22). 

3°)  Lacuna  di  un  quarto  di  riga  nel  testo. 


416 


Arduino  Colasanti: 


Ruberto,  e Giovambatista  e Lucretia,  che,  monacha  in  S°  Vincentio  di 
Prato,  fu  chiamata  suora  Piera.  Ruberto  mori  piccolo,  Giovambatista, 
cassiere  della  banca  de’  Medici,  venne  a morte  di  18  anni,  et  io,  avendo 
presa  per  moglie  madonna  Jacopa  di  Giovambatista  Doni,  ne  ebbi  Ce- 
sare,  Caterina  prima,  Caterina  seconda,  Scipione,  Alessandro,  Giulio, 
Leonora  e Michelagniuolo  e Lucretia. 

Tutto  quanto  e detto  di  sopra  si  prova  et  vede  da’  sopra  detti 
ricordi  e scritture  private  e pubbliche  di  Siena  e di  Firenze,  älbore  della 
casa,  testamenti  appresso  di  me  et  a’  Bandinelli  mia  di  Siena;  con  tutto 
cid,  per  dare  maggiore  notizia  della  casa,  facendoci  da  principio,  rino- 
veremo  alla  memoria  alchuni  particolari  de’  principali  sopra  nominati, 
rimettendo  perö  i mia  successori  al  suddetto  libro  di  ricordi  tenuto  am- 
pliamente  da  detti  Francescho,  che  cominciö  la  nostra  Genealogia,  e da 
Bartolomeo  suo  figliolo. 

Memoria  II. 

Quanto  a Francescho,  questo,  come  si  detto,  andö  in  Grecia,  nel- 
1’  Asia  Minore  e,  ritornando  in  Europa,  passö  in  Germania  e in  Francia: 
quando  venne  a fermarsi  a Firenze  messe  su  la  bancha  de  Medici,  come 
al  loro  libro  grande  segniato  C.  coregge  rosse,  carte  332,  ducati  cin- 
quemila  di  suggello  di  piu  beni  venduti,  come  al  suo  libro  di  ricordi  a 
12  e testamento  del  figliolo  Bartolomeo.  Pariava  piü  linguaggi,  cioe 
latino,  greco  e schiavone,  e fu  grande  amicho  di  Cosimo  il  Magnifico: 
il  resto  vedasi  a’  sua  ricordi,  per  un  contratto  fatto  nell’  Asia  Minore 

rogato 31)  e per  una  Sanitä  de’  Conservadori  di  Marsiglia 

1’  anno 3a)  scritture  a presso  di  me. 

Memoria  III. 

Quanto  a Bartolomeo  sopra  detto  suo  figliolo,  doppo  la  morte  del 
padre  ritornato  a Siena,  vi  stette  circa  a dua  anni,  di  dove,  fatta  la 
ritornata,  volle  ancora  lui  andare  a vedere  il  mondo,  et,  arrivato  in  Ger- 
mania, proccurö  et  ottenne  da  Federigo  terzo  imperatore  un  privilegio 

dato  in 33)  per  lo  quäle  Federigo,  con- 

siderando  a’  favori  fatti  a’  suoi  passati  diversi  Imperatori,  e 1’  avere  avuto 


31)  Lacuna  di  mezza  riga  nel  testo.  Questa  e la  maggior  parte  delle  lacune  che 
seguono  traggono  origine  da  un  fatto  facilmente  spiegabile.  Citando  nomi  e date, 
Baccio  non  ricordava  con  precisione  I,  e lasciö  in  bianco  uno  spazio  che  certo  poi  si 
riprometteva  di  riempire,  ma  che  in  vece  restö  vuoto  per  ragioni  a noi  ignote. 

31)  Lacuna  di  un  terzo  di  riga  nel  testo. 

33)  Lacuna  di  un  quarto  di  riga  nel  testo. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


417 


un  Papa  e tanti  conti  e Signiori,  lo  fece  con  tutti  i,  sua  descendenti 
per  sempre  Conte  Palatino  e cavre  a sproni  d’  oro,  con  potere  di  creare 
giudici,  notari,  legittimare  bastardi  etc.  Allorch£  fu  anche  favorito  dal- 
1’  arcivescovo  di  Colonia  che  aveva  in  Roma  conosciuto,  come  si  vede  per 
detti  ricordi  a 15  e per  lo  detto  privilegio  in  pergamena  ed  uno  stagnio 
con  1’  arme  imperiale  (£  aquila  d’  oro  a due  teste  in  cera  rossa),  e di 
qui  tornato  a Firenze  e stato  alcuno  tempo,  se  ne  andö  a Parigi,  dove 
era  a Studio  il  suo  figliolo  Fulggenzio,  dove,  ammalato  di  male  di  fianco, 

venendo  a morte,  fu  sotterrato  nella  chiesa  de 34)  doppo 

avere  avuto  tutti  i santi  sacramenti  della  chiesa  e fatto  testamento  sotto 

di  — — 35),  che  il  figliolo  dottore  Fulggenzio  tornö  a Firenze  e 

lo  consegnö  alla  madre  e a Viviano  suo  fratello,  come  si  vede  dal  detto 
etstamento  e altre  memorie. 


Memoria  IV. 

Quanto  a Viviano  mio  Bisavolo,  e figliolo  di  detto  Bartolomeo, 
doppo  la  morte  del  padre,  prese  per  moglie  in  Roma  madonna  Smeralda 

Donati  figliola  di  messere 36)  ed  avutone  Michelagniolo  mio 

padre  e Giovambattista  mio  zio,  e vedendo  come  i sua  danari  lascia- 
tegli  dal  padre  o per  dire  meglio  dall’  avolo  Francescho  in  su  il  Bancho 
de’  Medici  erano  assai  diminuiti  n£  piii  restato  da  vendere  in  su  il  Sanese, 
avendo  fatto  Bartolomeo  del  resto,  deliberö  di  tentare  la  sua  fortuna  e, 
raccomandatosi  alla  stessa  ricca  e potente  casa  de’  Medici,  con  quello 
che  aveva,  con  1’  aiuto  della  stessa,  de’  Donati  sua  parenti  e altri  amici, 
caricö  sopra  la  nave  S°  Giorgio,  capitano  Andrea  da  Sestri  Genovese, 
pannine,  drappi  e altre  mercanzie,  e,  fatto  vela,  ne  spedi  parte  in  Costanti- 
nopoli,  e parte  volendone  spacciare  in  Bursia  per  farne  maggiore  guadagno, 
ricev£  nella  detta  cittä  un  passaporto  da  Mustaffä  figliolo  di  Zizimo, 
nipote  dell’  imperatore  Amorasto,  e questo  perch£  fece  alcuni  presenti  di 
dammascho  e rascie  a due  Bastagi,  amati  sua  Eunuchi;  che  perö  ebbe 
accesso  a lui,  che  gli  piacque  di  discorrere  seco  per  via  di  interprete; 
e nel  detto  privilegio  in  lingua  Turcha  et  sopra  coperta  Araba,  Turcha 
e Hebrea,  che  potessi  andare,  stare  e nigotiare  per  tutto  lo  Imperio  del 
gran  Turcho,  come  appare  per  detto  privilegio,  e di  piü  gli  donö  un 
fanciullo  castrato  Persiano,  quäle  ritornando  vend£  in  Abido.  Mentre 
che  gli  era  dimorato  in  Grecia  et  in  Bursia  fu  scritto  di  Costantinopoli 
che  elli  facendo  del  grande,  donando,  giocando  e dandosi  bei  tempo 


34)  Lacuna  di  mezza  riga  nel  manoscritto. 

35)  Lacuna  come  sopra. 

36)  Lacuna  come  sopra. 


Arduino  Colasanti: 


418 

aveva  fatto  poco  bene,  per  cid  gli  interessati  gli  scrissono  doppie  lettere 
che  se  ne  dovessi  tornare,  protestandoli  di  ogni  interesso  e danno;  mon- 
tato  adunque  sopra  una  greca  Rangea,  chiamata  il  Delfino  del  Mare, 
padrone  Demetrio  Candiotto,  si  imbarco  con  quanto  aveva  e,  vicino  a 
Venezia  fatto  naufragio,  infante  e nudo  se  ne  tornö  a Firenze,  ove,  ancora 
che  avessi  le  sue  fedi  fatte  in  Venezia,  fu  messo  prigione,  di  dove  poi 
cavato,  trovando  morta  madonna  Smeralda  sua  moglie  e trovarsi  in  cattivo 
stato,  prese  per  seconda  una  certa  Domenicha,  ancora  che  erede  di  si 
bassa  conditione,  che  perde  affattö  la  grazia  de’  Medici,  de’  sua  parenti, 
de’  Donati,  e particolarmente  i Bandinelli  di  Siena,  che  non  ne  vollero 
piü  intendere  verbo:  il  fratello  Fulggenzio,  in  collera  piii  di  ogni  altro, 
che  si  trovava  allora  in  Siena  padre  Umiliato  in  S°  Tomm^,  lo  rinunziö 
per  fratello,  gli  scrisse  mille  obbrobri,  lo  rimö,  e in  particolare  in  quel 
sonetto  che  comincia: 

Parenti  miei  se  alcun  ce  n’  £ restato  etc. 

Che  si  conserva  fra’  mia  sonetti.  Hora  Viviano,  principale  rovina 
e äbbassamento  della  nostra  casa  come  bene  mi  scrisse  mio  padre  a Roma, 
pieno  di  rabbia  poco  si  curö  di  tutti,  e,  preso  ad  affitto  dalli  eredi  di 
Filippo  De’  Ricasoli  e Stefano  di  Antonio  Cecherini,  nelia  villa  di.Gaiole, 
Podesteria  di  Prato,  stette  alcuni  anni,  dove  cresciuti  i dua  sua  figlioli 
Michelagniolo  e Giovambatista  per  mädre  de’  Donati;  i quali  davano 
mostra  di  buona  indole,  il  primo  tutto  quieto  a dilettarsj  del  disegno  e 
1’  altro  di  animo  piü  fiero  alle  cacce  et  all’  armi,  se  ne  ritornö  alla  cittä 
et  andb  ad  abitare  da  Sa  Lucia  de’ Magnioli,  e,  vedendo  persa  la  spe- 
ranza  mantenuta  in  sino  allora  di  rimpatriare  a Siena,  si  fece  eittadino 
fiorentino,  ‘ e doppo  alcuno  tempo,  stando  il  piü  di  quello  in  villa,  an- 
dato  Giovambatista  alla  guerra  in  Francia,  di  una  calda  per  andare  alla 
detta  villa  venne  a morte:  il  resto  delle  sue  aziohi,  e quanto  udiasi  il 
nome  stesso  nonch^  tutti  i Bandinelli  dato  in  anima  e corpo  a’  Ceche- 
rini parenti  materni,  e quanto  fussi  amato  e stimato  da’  Bandinelli  di  Siena 
e Donati  suoi  parenti  per  la  moglie,  vedesi  per  diverse  scritture  quali 

si  conservano  appresso  di  me:  et  alla  decima  delle  quali  per  — 37) 

feci  fare  alla  sua  posta  una  aggiunta  in  margine. 


Memoria  V. 

Quanto  a Michelagniolo,  morto  il  padre,  essendo  riuscito  huomo  di 
valore  nel  disegnio,  nelia  cognizione  delle  gioie,  de’  minerali,  delle  me- 
daglie,  curioso  investigatore  dell’  antichitä  et  inteligente  della  lingua 


37)  Lacuna  di  un  quarto  di  riga  nel  manoscritto. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinclli. 


419 


latina,  rientrato  in  gratia  della  casa  de’  Medici,  cosi  amato  da  Lorenzo 
il  Magnifico  che  lo  prepose  älla  sua  nobile  Galleria  n£  mai  averebbe 
mostrato  che  quella  o altre  raritä  delle  quali  abbondava  ad  alcuno  Prin- 
cipe o Sigre  segnialato  dell’  Europa,  che  non  vi  fussi  stato  (si  come  io  dissi 
piü  volte  a bocca  e scrissi  al  duca  Cosimo)  il  detto  Michelagniolo,  che 
con  la  eloquentia,  pratica  e dimostratione  dava  diletto  maraviglioso,  onde 
Lorenzo  il  Magnifico,  Piero  1’  amavano  e reputavano  fra  i piii  cari  amici. 
Prese  per  moglie  madonna  Caterina  di  Taddeo  Ugolini  nobile  fiorentina, 
della  quäle,  oltre  a me  Bartolomeo  suo  figliolo,  ne  ebbe  tre  altri,  cio£ 
Ruberto,  che  mori  piccolo,  Giovambatista,  che,  andato  alla  guerra  in  Ger- 
mania con  Ottavio  Bardini,  mori  sotto  Francherale,  e Lucrezia,  la  quäle 
fece  monacha  in  S.o  Vincentio  di  Prato,  chiamata  suora  Piera,  e dove 

10  per  tale  conto  feci  ancora  una  delle  mia  figliole.  Trovandosi  il  detto 
Michelagniolo  non  molto  benestante,  a cagione  del  padre  come  si  e detto, 

e volendolo  i Medici  e sua  parenti  aiutare,  massime  per  conoscerlo  attivo,  • 
di  bello  ingegno  e cognitore,  gli  feciono  aprire  un  bancho  di  gioie  e altre 
mercantie  con  gli  interessi  degli  Ugolini  e altri,  ma  particolarmente  del 
Magnifico  Piero  di  Lorenzo  de’  Medici,  il  quäle,  avendo  molti  vasi,  gioie 
et  anticaglie  preziose,  spendendo  assai,  desiderava  per  tale  mezzo  cela- * 
tamente  riuscirsene,  onde  Michelagniolo,  facendo  buono  profitto,  cominciö 
a comprare  e torre  affitto  de’  beni,  e in  particolare  andato  a Siena  da’ 
sua  Bandinelli,  ebbe  per  mezzo  loro  dal  cardinale  Francescho  Piccho- 
lomini  nel  1502  affitto  certi  beni  che  teneva  il  cardinale  a Pinzi  di  Monte, 
Podesteria  di  Prato,  come  si  vede  per  una  scritta  di  mano  di  messere 
Bernardo  Capacci,  canonico  di  Siena,  e per  una  ricevuta  del  detto  Cardi--» 
nale,  in  materia  della  vendita;  il  quäle  cardinale  fu  poi  Pio  III;  si  come 
ancora  si  vede  la  scritta  del  detto  banco  aperto,  la  copia  della  quäle 
appresso  di  me  si  conserva.  Abitö  il  detto  Michelagniolo  e facendola 
molto  bene,  ancora  che  talvolta  fussi  aggravato  di  rimesse  dal  capitano 
Giovambatista  suo  fratello.  Avenne  nel  27  la  mutatione  dello  Stato  e 
Republica  Fiorentina,  e cacciato  di  Firenze,  mentre  era  a Roma  al  ser- 
vizio  di  Clemente  VII,  il  detto  Michelagniolo  mio  padre,  come  partiale  de’ 
Medici,  fü  tormentato,  et  andato  in  esilio  si  ritiro  sotto  1’ aiuto  di  detti 
signiori  da’  quali  fu  sempre  favorito,  come  ancora  da  Lorenzo  duca  di 
Urbino,  il  quäle  se  ne  servi  in  diverse  occorentie,  come  si  vede  per  una 
patente  data  dal  campo.  Finalmente  ritornato,  nell’  andare  in  villa,  presa 
una  calda,  stette  22  giorni  ammalato  e mori  a 13  di  agosto  1528.  Fece  ‘ 
testamento  molti  anni  avanti  sia  nel  1491,  rogato  sere  Carlo  di  Piero  da 
Firenzuola,  lasciando  suoi  tutori  testamentari  Luca  Ugolini,  Gianozzo  Pucci 
e Lorenzo  Benintendi,  me  suo  erede  universale  et  in  defetto  senza  figliol: 

11  capitano  Giovambatista;  non  lasciando  di  dire  che  in  quella  rivolutiom 


420 


Arduino  Colasanti: 


di  stato  perde  di  molte  robe,  andorno  male  di  molte  scritture  e sarebbe 
andata  peggio,  se  non  fussino  stati  gli  Ugolini  suoi  parenti,  che  da  quel 
popolo  arrabbiato  e tumultuoso  gli  difese:  si  come  del  tutto  ne  detti 
piü  volte  conto  al  duca  Cosimo,  dimostrandoli  quanto  i mia  avessino 
servito  et  amato  la  sua  casa. 


Memoria  VI. 

Quanto  al  capitano  Giovambatista  mio  zio,  giä  ve  n’ho  detto  di  sopra: 
fu  homo  di  gran  valore,  servi  il  re  Francesco  primo,  dal  quäle  doppo 
molti  anni  ebbe  la  condotta  di  100  fanti,  come  si  vede  per  le  patenti 
a presso  di  me,  lo  servi  in  diverse  guerre,  particolarmente  in  Piccardia 
et  a Fontenabbia,  chiamato  per  l’ordinario  da’ Franzesi  Bandino  e Bandino 
di  Toschana,  equivocando  da  Bandino  suo  zio  cosi  chiamato,  che  vi  guer- 
reggiö  et  ebbe  grado  di  alfiere  sotto  il  capitano  Bussonetto:  duellö  in 
Leone  contro  a Monsii  Claudio  cavo.  della  Chartre,  a cagione  di  Piero  de’ 
Medici,  del  quäle  aveva  sparlato,  e l’ammazzö;  si  come  ancora  fece  molte 
altre  quistioni,  e guerreggiö  a Milano;  fu  in  Tolosa  grande  amicRo  e rico- 
nosciuto  per  parente  da  Girolamo  Bandinelli  signore  di  Paulei,  che  era 
venuto  da  Siena,  e di  Fulgentio,  di  Guido  suo  nipote;  come  si  vede  per 
una  proccura  appresso  di  me  per  riscuotere  a Roma:  dove  essendo  andato, 
e dove  mi  trovavo  ancora  io,  venne  a morte,  e volle  essere  sotterato  alla 
Minerva,  per  divotione  che  aveva  a San  Domenicho  e santa  Caterina  da 
Siena;  non  fece  testamento  e gli  trovai  570  scudi  d’oro  del  sole,  e presi 
Arrigo  suo  servitore  e stette  meco  2 anni  e poi  ritornö  in  Francia.  Mi 
portö  alcune  lettere  de’ Bandinelli  di  Tolosa,  e,  passando  per  Firenze,  dette 
alla  mia  moglie  uno  oriuolo  di  Parigi  e dua  ufitioli  di  quelle  parti.  Ottenne 
dal  Re  Francescho  per  bene  merito  del  suo  servire,  proccurandolo  poi 
ancora  io  di  aggiungere  all’  arme  nostra,  la  quäle  era  in  campo  giallo 
arabato,  la  palla  azzurra  col  Cavaliere  d'argento  come  hanno  i nostri  Bandi* 
nelli  di  Siena  e di  Francia,  e come  si  vede  da’  sigilli  o armi  de’ mia 
passati,  alla  quäle,  fatto  io  Cav*e  di  Santo  Jacopo,  aggiunsi  la  croce, 
ottenne,  dico,  di  potere  aggiungere  i Gigli,  come  appare  per  il  privilegio 
del  re  Francescho,  appresso  di  me,  e per  una  memoria  in  rischi  di  morte 
fatta  dallo  stesso  Capitano  e Michelagniolo  suo  fratello  a Guidone  Bandi- 
nelli, che  andö  in  Terra  santa  sotto  all’ arme  antica  Bandinelli,  che  comin- 
cia:  »Guidoni  comitis«  etc.  Fu  ancora  grande  amico  del  magnifico  Piero 
de’  Medici,  col  quäle  passavano  molti  negozi  per  via  di  lettere  mandate 
allo  Spinelli  sua  gente38)  in  Lione  e con  una  cifra  fra  di  loro  con  questi 
caratteri: 


38)  Suo  agente. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


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La  quäle  ebbi  delle  sue  mani  doppo  morte  con  molte  scritture 
lasciate  a mia  moglie  in  Firenze,  pregandomi  che  dovessi  per  piü  rispetti 
abbruciarle,  si  come  feci,  Dio  gli  abbi  dato  requie:  ed  lasciando  di  dire 
che  Monsignore  Paulo  Giovio,  del  quäle  ero  grande  amico  e che  mi  fece 
una  impresa  di  uno  monte  di  diaccio  col  suo  motto,  mi  disse  avanti  al 
sacco  di  Roma  aveva  fatto  di  esso  capitano  onoratissima  mentione,  ma 
seppi  poi  che  nello  stesso  sacco  di  Borbone  erano  andati  male  molti  libri 
delle  sue  storie  ancora  in  penna. 


Arduino  Colasanti: 


42  2 

Memoria  VII. 

Quanto  a me  Bartolomeo  vcstro  padre  averei  mcltc  ehe  dire,  ma, 
perchö  la  mia  opera  e fatti  sono  piü  nuovi,  cercherö  presto  di  spedirmi. 

Siccome  era  mio  padre  di  vivace  ingegnio  et  attivo,  cosi  a pena 
uscito  dalle  fasce  che  mi  cominciö  ad  istruire,  e vedendomi  con  disegni 
su  per  fogli  e con  la  neve  e con  la  terra  al  solito  de’  fanciulli  formare 
un  leone,  ora  una  figura,  ora  un’altra,  dalle  quali  congetturando  gli  in- 
centivi  et  inclinatione  della  natura,  che,  fomentati,  rare  volte  falliscono, 
cominciö  ad  insegniarmi  a disegniare,  e perchö  voleva  che  io  attendessi 
alli  studi  delle  lettere  e particolarmente  alla  latina,  quello  che  mancava 
del  giorno  volera  che  io  supplissi  di  notte,  facendomi  ancora  insegniare 
al  Rustici  la  scultura:  ebbi  per  maestro  nella  gramatica  messere  Francesco 
Bartoli,  et  avendo  fatto  buono  progresso  nel  disegnio,  nella  scultura  e nelle 
lettere,  mi  mandö  a’  servizi  di  Clemente  settimo  1’  anno  primo  del  suo 
pontificato,  acciö  che  quivi  m’impiegassi  nella  professione  stabilita;  et  al 
quäle  Clemente,  come  figliuolo  di  antichi  amici  e servidori  della  casa,  fui 
raccolto  cortesemente,  dandomi  la  parte  e stanze  in  Vaticano,  e del  quäle  fui 
tanto  in  gratia  che  col  tempo  mi  diede  titolo  di  cortigiano,  una  Commenda 
e Cavalierato  di  S.o  Piero,  essendo  giä  nota  la  mia  virtü  non  solo  al  Papa 
ma  a tutta  Roma  per  1’ opere  giä  fatte,  e per  un’altra  volta  ch’ io.  ero 
stato  nella  stessa  Roma. 

Quanto  alle  mie  opere  di  scultura  e disegno,  essendo  apparenti  in 
Francia,  in  Spagnia,  in  Germania,  in  Roma  e particolarmente  in  Firenze 
a’  tempi  di  Alessandro  e di  Cosimo,  delle  quali  il  Laocoonte39),  fatto  ad 
instantia  di  Clemente,  la  Venere  donata  a Carlo  V4°),  l’Ercole  di  piazza 4*)  e 
altre  di  bronzi  e marmi,  lascerö  lodarli  a 1’  altrui  penne  ed  alle  lettere 
che  troverete  scritte  dalli  accellentissimi  Sign  Duchi,  Cosimo  e Leonora, 
che  appresso  di  me  si  conservano,  e di  altri  principi  e particolari:  di  queste, 
dico,  non  occorre  che  io  parli,  perchö  sono  apparenti  in  luoghi  pubblici 
e privati. 

Dirö  solo  de’  gradi  ottenuti  e di  altri  mia  studi  particolari,  a’  quali 
sarei  stato  inclinatissimo,  se  mi  fussi  stato  dato  piü  tempo,  che  posso  dire 
in  ciö  notturno  e rubato,  o la  fortuna  m’  avessi  dato  parte  di  quelle  su- 
stantie  che  giä  troppo  largamente  spesono  i mia  passati  e particolarmente 
il  cavre  Francescho,  che  nel  pigliare  1’  ordine  usö  piü  tosto  largheza  e 
mano  regia  che  di  privato  cavre,  si  che,  essendosi  in  Siena  grossamente 

39)  Il  Laocoonte  si  conserva  nella  Galleria  degli  Uffizi,  fra  le  Statue  antiche. 

4°)  Ne  ignoriamo  la  sorte. 

41)  Si  trova  ancora  in  piazza  della  Signoria,  dinanzi  alla  porta  di  Palazzo  Vecchio, 
dove  fu  trasportata  il  1°  maggio  1534,  secondo  annota  il  Settim  anni-  nelle  sue 
Memorie  (cfr.  Vasari,  VI,  158;  Gaye,  II,  177). 


11  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


423 


indebitato,  fu  buona  chagione  dello  abbassamento  della  casa  nostra,  oltra 
agli  errori  di  Viviano,  che  gli  dette  quasi  1’  ultimo  tracollo. 

Desiderando  io  adunque  e avendo  intenso  il  desiderio  di  rendere 
qualche  splendore  alla  mia  casa,  presa  1’  occasione  della  venuta  di  Carlo  V 
in  Italia,  1’  anno  che  in  Bologna  fu  coronato  da  Clemente  VII  e fu  resti- 
tuito  lo  stato  di  Milano  a Francescho  Sforza,  richiesi  lo  Imperadore  che 
mi  volesse  fare  cav^e  di  So  Jacopo,  avendogli  attestato  il  papa,  quäle 
in  tale  occasione,  come  suo  cortigiano,  aveva  accompagniato,  che  io  era 
nato  di  antichissimo  e nobilissimo  sangue  de’  Bandinelli  di  Siena,  e 
che  papa  Allessandro  30,  quäle  combattö  con  Federigo  Barbarossa,  era 
stato  della  mia  casa;  ma  perchö  molti  principi  e signori  che  portavano 
l’abito  di  S°  Jacopo  si  opposero  igniorantemente,  dicendo  come  scutore 
non  lo  meritassi,  non  considerando  che  la  pittura  e la  scultura  da’Fabij 
ed  altri  nobili  esercitata  e che  in  un  nobile  ogni  arte  ö nobile,  come 
Epaminondo  nobilitö  in  Tebe  un  vilissimo  ofizio,  esercitandolo;  ma  il 
papa  offerse  a Carlo  che  io  farei  le  debite  provanze,  conforme  agli  ordini, 
onde  lo  imperadore  mi  disse:  Si  provereis  que  sois  noble,  os  dare  el  avito: 
e cosl  comesse  a Don  Grazia  Manriquez,  suo  cortigiano,  che  venissi  a Firenze 
e come  cavre  e Commendatore  di  S°  Jacopo  pigliassi  le  provanze,  e,  fatte, 
gliene  dovessi  mandare,  onde  io,  venuto  seco  a Firenze  e ricevuto  in  casa 
mia,  la  quäle  avevo  concesso  a Antonio  Francescho  Doni  mio  grande 
amico,  che  si  tratteneva  in  Firenze,  e non  potendo  andare  a Siena  per  non 
lasciare  il  detto  Sign:  Commendatore,  scrissi  caldamente  a Siena  a Niccolö, 
Belisario  ed  altri  de’ Bandinelli,  acciö  volessino  fare  pubblica  attestazione 
e scrittura  come  io  ero,  per  Francescho  di  Bandinello  che  venne  a Firenze, 
disceso  dal  conte  Bandinello  e cosl  del  proprio  e vero  sangue  loro, 
et  avendo  pregato  il  detto  messere  Antonio  Francescho  Doni  a volere  por- 
tarle  e proccurarne  la  speditione,  e cosl  lo  spedij  a’  10  di  gennaio  1530, 
dove,  presentate  in  Siena  le  lettere  e stato  ivi  alcuni  giorni,  i detti  Sign 
Bandinelli  fecero  la  desiderata  scrittura,  provando  come  io  ero  de’ loro, 

rogata  da 42),  con  1’  atestatione  e validitä  del  Capitano 

del  popolo  ed  in  forma,  la  quäle  (avendone  serbata  copia)  la  detti  al 
sigre  Don  Grazia,  e altre  scritture  acciö  appartenenti,  favorito  anchora  da’ 
Medici,  il  quäle  Don  Grazia  restato  chiaro  ed  apieno  soddisfatto,  ci  partimo 
insieme  per  Roma,  e di  quivi  mandö  le  scritture  all’  Imperadore,  il  quäle 
con  quei  signori  dell’  Ordine  resi  certi  delle  mie  provanze  e nobiltä;  sua 
Maestä  Cesarea  dal  Tirolo  e cittä  d’Ispruch  mi  mandö  il  privilegio  se- 
gniato  di  sua  mano,  acciö  mi  fussi  dato  1’  abito,  avendo  ritrovato  in  me 
per  sua  commessione  le  naturalitä,  cioe  la  mia  nascita  e sangue  conforme, 


4»)  Lacuna  di  un  terzo  di  riga  nel  testo. 
Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


29 


424 


Arduino  Colasanti: 


a che  per  giustizia  i canoni  dell’  ordine  dispongono,  commettendo  ad 

Pietro  di  Pina,  frate  dell’  ordine  e cappellano  di  sua  Maestä,  che  allora 

si  ritrovava  assente  per  alcuni  negozi  cesarei  in  Roma;  e cosi  nella  cappella 

del  sacro  palazzo  in  Vaticano,  presenti  tre  cardinali,  Salviati,  Ridolfi  e 

di  Sa  Maria  in  Portico,  che  mi  volsono  favorire,  dicendo  la  messa  il  detto 

Cappellano  Cesareo,  calzandomi  gli  sproni  il  suddetto  sigre  Don  Gratia 

Manriguez,  cigniendomi  la  spada  il  sigre  Don  Ferrante  Caracciolo,  presente 

il  Sigre  Jacopo  Biusco  ed  altri  cavri  dell’ ordine  di  So  Jacopo,  mi  diedono 

1 abito,  avendomi  Sua  Santitä  mandato  la  Beneditione;  ove,  doppo  le  ciri- 

monie,  fatte  con  molta  solenitä,  il  Cardinale  di  S.  Maria  in  Portico  mi 

convitö  a pranzo  con  gli  altri  Cavri  che  si  trovorno  a dare  1’  abito,  ed  in- 

sieme  banchettö  i dua  suddetti  Cardinali,  e doppo  il  pranzo  il  suddetto 

Sigre  Don  Gratia,  il  quäle  sapeva  e aveva  visto  che  io  mi  dilettavo  della 

poesia,  mi  .diede  e lesse  un  sonetto  in  mia  lode  sopra  1’  abito,  il  quäle 

comincia  rp  . . , 

lus  mentos,  virtud,  y la  noblica,  etc. 

al  quäle  poi  risposi  con  uno  altro 

Grazia,  con  mia  virtü,  con  egual  merto 

i quai  sonetti  fra  gli  altri  mia  si  conservano. 

L imperadore  mi  concesse  poi  per  gratia  che  io  non  andassi  a 
Veles  Ispagnia,  ma  facessi  la  professione  in  Roma,  nella  quäle  cittä 
ritrovandosi  poi  1’  anno  1536  Imperadore  Carlo  quinto,  et  andato  a baciare 
la  veste  a sua  Cesarea  Maestä.,  mi  disse:  yo  os  6 dado  un  avito  y crux 
de  Principes:  al  che  risposi:  d vero,  invittissimo  Cesare,  ma  bisognia  che 
vostra  Cesarea  Maestä  mi  dia  da  poterla  mantenere  da  principe;  al  che, 
rivolto  ad  alcuni  Sigri,  ridendo  replicö : Mucho  sabe  esto  Cavallero.  Con 
tutto  cid  mai  potetti  nd  allora  nd  poi  avere  da  Siia  Maestä,  anchora  che 
me  ne  avessi  data  buona  intentione,  che  don  Gratia  sopradetto,  il  Sigre 
Don  Francescho  de  los  Covos,  el  Vescovo  di  Miscone,  allora  ambascia- 
tore  del  Cristianissimo,  1’  avessino  di  cid  supplicato,  con  tutto  cid  mai 
potetti  ottenere  nd  pensioni  nd  comende  nd  donativo  alcuno  per  conto 
dell’  abito:  d bene  vero  questo  che,  avendoli  fatto  dono  di  una  bellissima 
Venere,  stimata  al  pari  di  quella  di  Fidia,  la  quäle  mandd  in  Germania, 
e che  gli  fu  carissima,  mi  diede,  e di  sua  propria  mano,  un  nicchio 
tutto  d’  oro  smaltato  e incastrato  con  pietre  preziose  e dentro  rilevata  la 
Croce  di  Sto  Jacopo  con  catenella  d’  oro,  stimato  che  valessi  ducati  500, 
che  mi  fu  grato  per  venire  da  quella  mano,  il  quäle  lascio  a voi,  mia 
figlioli,  e prego  i posteri  in  mia  memoria  a conservarlo. 

Fui  anchora  da  piü  pontefici  favorito:  Monsignore  Revmo  Vescovo  di 
Cassana,  Datario  del  Papa  e Presidente  dell  Annona  di  Roma,  grado  che  non 
si  dava  se  non  a soggetti  segnialati  e volendo,  come  quello  che  aspirava 


11  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


425 


al  Cardinalato,  per  sgravarsi  renuntiare  il  detto  ofizio,  il  quäle  dal  Papa 
mi  fu  concesso  con  tutti  i soliti  emolumenti  e grazie  solite,  il  quäle 
ofitio,  mentre  io  stetti  in  Roma,  esercitai  con  molta  soddisfatione,  proc- 
curando  con  i miei  colleghi  che  la  cittä  stessi  abbondante,  e perciö 
feci  impresa  di  un  Bue,  schieroglifico,  appresso  gli  antichi,  di  grassezza 
et  abbondantia,  come  si  interpreta  ancora  nel  sognio  di  Faraone,  e gli 
feci  porre  al  collo  delle  spighe  col  motto:  Ubertati.  Sopra  le  quali 
imprese,  mi  servii  prima  di  quella  del  Giovio,  che  era  un  monte  di 
diaccio  col  motto:  ex  glacie  neves,  quasi  volendo  significare,  come  io 
dissi  al  suo  nipote  messer  Giulio,  che,  essendo  fatto  diaccio  per  la 
fortuna  e casi  successi  de’  miei  passati,  ero  diventato  neve  per  la  can- 
didezza  delle  mie  virtü  e gradi  ottenuti;  e poi  nelle  medaglie  con  la 
mia  effigie  di  bronzo  posi  dall’  altra  parte  — — — 43) 

delle  quai  medaglie  ne  sono  dieci  con  quelle  del  duca  Cosimo 
mio  signore  nel  fondamcnto  del  coro  di  S.  Maria  del  Ficrej  da  me 
disegniato  e tirato  a fine  con  l’Addamo  ed  Eva 44)  e bassirilievi  etc.  Hora 
vedendo  come  le  mia  opere,  le  quali  erano  lodate  da  Michelagniolo, 
come  confessö  al  Cardinale  di  Sa  Maria  in  Portico,  come  si  vede  per 
un  suo  detto  mandatomi  dallo  stesso  Cardinale,  e per  lettere  scritteci, 
si  come  dagli  altri  intelligenti,  con  tutto  cid,  non  mancando  molti  in- 
vidiosi  e maligni  che,  per  mostrare  di  sapere,  le  biasimavano,  come  per 
piü  lettere  scritte  all’  Eccellentissimi  Sigri  Duchi  Cosimo  e Leonora  e 

43)  Lacuna  di  un  terzo  di  riga.  La  mancanza  della  leggenda  impedisce  di 
identificare  con  assoluta  certezza  questa  medaglia.  Molto  probabilmente  perö  si  tratta 
della  medaglia  cosi  descritta  dall’  Armand  (Les  Medailleurs  italiens  des 
Quinzieme  et  seizieme  siecles,  Paris,  Pion,  1883,1,  163):  Dia.  41.  »BACClVS- 
BAN  • SCVLP  • FLO-  — LEO«  fy  »CHANDOR- ILLESVS«  Nel  retto  si  vede  il  busto  del 
Bandinelli,  vecchio,  a capo  scoperto,  con  lunga  barba.  Nel  rovescio  1’  iscrizione  e cir- 
condata  da  una  corona  di  alloro.  Si  osservi  che  la  leggenda  di  questa  medaglia  richiama 
quel  concetto  di  bianchezza  immacolata  di  cui  il  Bandinelli,  con  significazione  morale, 
parla  nel  Memoriale. 

44)  Sembra  che  piü  volte  il  Bandinelli  abbia  tentato  un  gruppo  di  Adamo  ed 
Eva,  ma,  poco  soddisfatto  dell’  opera  sua,  mutö  gli  abitatori  dell’  Eden  in  imagini  di 
Deitä  pagane  (Vasari,  VI,  179 — 80).  Finalmente  riusci  a collocare  i due  progenitori 
della  stirpe  umana  dietro  1’  altar  maggiore  di  S.  Maria  del  Fiore,  ma  le  nuditä  di  quelle 
figure  sollevarono  scandalo,  cosi  che,  mentre  lo  scultore  veniva  fatto  bersaglio  di 
mordaci  poesie,  un  anonimo  contemporaneo  scriveva:  »19  dimarzo  1549  si  scopri  le  lor 
de  et  sporche  figure  di  marmo  in  S.  Maria  del  Fiore,  di  mano  di  Baccio  Bandinello, 
che  furono  un  Adamo  et  un  Eva : della  quäl  cosa  ne  fu  da  tutta  la  cittä  biasimato  grande- 
mente et  con  seco  il  Duca,  comportassi  una  simile  cosa  in  Duomo  dinanzi  a 1’  altare 
e dove  si  posa  il  Santissimo  sacramento«  (Gaye,  Carteggio  ine  dito,'  II,  500).  Le 
Statue  furono  tolte  dal  loro  luogo  nel  1722,  ma  anche  questo  provvedimento  forni 
pretesto  alla  mania  versaiuola  di  Giovan  Battista  Fagiuoli  e di  altri  belli  spiriti  del 
tempo.  Attualmente  le  due  imagini  si  conservano  nel  cortile  del  Bargello. 


29' 


42Ö 


Arduino  Colasanti: 


loro  risposte  apparisce,  per  le  quali  mi  scrissero  piü  volte  e dissero  a 
bocca  che  io  me  ne  dovessi  burlare,  essendo  nota  la  mia  virtü,  che  era 
proprio  de’  suggetti  grandi  di  essere  invidiato,  e che  la  virtü  di  un  homo 
insigne  aveva  questo  di  male,  che  non  era  conosciuta,  e massimo  nella 
patria,  se  non  doppo  morte:  onde  io  per  ultima  impresa,  la  quäle  con- 
servai  e conserverö  insino  a morte,  feci  una  torre  da  venti  combattuta 
col  motto : Nü  per  soffiare  de’ venti,  il  quäle  tolsi  da  Dante,  dove  dice: 
Sta  come  torre  ferma  che  non  crolla 
Giä  mai  la  cima  per  soffiar  de’  venti 
e la  feci  gettare  in  bronzo,  con  la  mia  effigie  da  una  parte  con  questa 
inscrizione  nella  circonferentia : 

»Baccius  Eq.  S.  J.  ex  Com.  Bandinellis«  e nell’  altra  1’  impresa.45) 

E perche,  essendo  chiamato  dal  Duca  Cosimo  per  servirlo,  ne 
potendo  assistere  in  Roma,  godetti  per  gratia  speciale  molti  anni  titolo 
di  Presidenten)  con  i sua  emolumenti,  come  si  vede  dalle  riscossioni  fatte 
per  me  in  Roma  gli  Strozzi,  Altoviti  e Benintendi. 

Tornato  adunque  in  Firenze,  e preso  per  moglie  Manna  Jacopa  di 
Giovambatista  Doni,  nobile  fiorentino,  bene  provvisionato  ed  accarezzato 
da’  detti  Sign  Duchi,  e servendoli  in  tutto  quello  che  mi  comandavano 
nel  disegno,  scultura  e altri  importantissimi  negozzi,  essendo  da  loro  tanto 
familiarmente  amato  che  piü  volte  si  degniorno  di  venire  alla  mia  casa 
et  alla  mia  villa  delle  Tre  pulzelle,  la  sigm  Duchessa  a’  balli  e colezioni, 
gli  supplicai,  dico,  che  mi  volessino  concedere  o di  Siena  o di  Firenze 
quei  magistrati  che  avevano  ricevuto  i miei  passati:  ma  il  sigre  Ducha, 
che  stimava  assai  1’  opera  mia,  temeva  (come  disse  piü  volte  alla  sigra 
Duchessa  e Vescovo  di  Marsiche,  che  perciö  mi  pregorno  ad  avere  un 
pocho  di  pazzientia)  temeva,  dico,  che  con  i gradi  civili  non  abbando- 
nassi  1’  opere  e cosi  gran  frutto,  andava  renitente,  pure,  importunato,  mi 
concesse  gli  Otto  47),  avendo  voluto  che  io  rinunziassi  al  foro  ecclesiastico,  e 
permesso  che  nel  magistrato,  in  cambio  del  lucco,  portassi  1’  abito  del- 
l’ordine  e sedessi  doppo  al  Proposto,  e cosl,  avendomi  poi  concesso  altri 
nobili  ofizzi,  per  1’  ultimo  m’  ha  fatto  Capitano  di  parte  Guelfa  e Ofizziale 
de’  fiumi,  a beneplacito,  fidandosi  totalmente  in  me,  come  intelligente  per 
i disordini  che  nascevano:  e mi  ha  promesso  e datone  parola  alla  Sigra 
Duchessa,  non  volendo  piü  affaticarmi  e che  io  mi  riposi  giä  fatto 
vecchio,  che  doppo  averö  fatto  il  Gigante  di  piazza48)  di  volermi  fare 

45)  Non  trovasi  registrata  nell’ Armand,  nello  Heiss  e nel  Friedländer. 

46)  Ciae  Presidente  dell’  annona,  come  poco  sopra  ha  detto. 

47)  Cioe  degli  Otto  di  Balia. 

48)  11  Gigante  non  fu  esegnito  da  Baccio,  ma  da  Bartolomeo  Ammannati,  e si 
trova  ancora  sulla  fonte  di  piazza  della  Signoria. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


427 

Quarantotto 49),  siccome  io  lo  supplicato,  e dare  al  mio  figliolo  Giulio,  che 
attende  alli  studi,  un  veschovado,  e a Ceseri  un  luogo  in  quello  di  Siena, 
con  titolo  di  Conte,  per  rinnovare  la  memoria  de’  mia  passati  e riconoscere 
in  me  e mia  figlioli  1’  antica  servitü  che  da  Francescho  di  Bandinello,  ceppo 
del  mio  ramo,  abbiamo  fatto  alla  eccellentissima  casa:  piaccia  a Dio  che 
io  viva,  cosi  segua. 

Mi  occore  ancora  dire  che  sono  stato,  tornato  e ritornato  piü  volte 
a Roma,  come  quando  il  papa  mi  mandö  a chiamare  per  una  lettera 
scrittami  per  lo  Ambasciatore  Galeotto  de’  Medici,  e,  passando  da  Siena, 
stetti  in  casa  messere  Belisario  Bandinelli,  dove  da  messere  Giulio, 
Niccholö  e altri  mi  fu  fatto  mille  carezze,  come  ancora  loro  erano  stati 
e piü  volte  sono  venuti  a casa  mia,  accarezzandoci  come  amati  parenti, 
non  lasciando  di  dire  che  sempre  ho  amato  quella  cittä  come  patria 
de’  mia  passati,  n£  ho  mancato  alle  occasioni  di  favorirla  appresso  il 
Sigre  Duca,  e massime  quando,  vinto  Piero  Strozzi,  Monluc  patteggiö  coi 
marchese  di  Marigniano5°),  che  perciö,  essendo  venuti  per  ambasciatori 

di  Siena 51)  per  patteggiare  con  Sua  Excellentia, 

fui  con  esso  loro,  dettigli  da  desinare  e sa  il  Sigre  Duca  quello  che  io 
facessi,  e sempre  mi  sono  servito  di  qualche  sanese.  Doppo  la  cacciata 
de’  Medici  di  Firenze  e mutatione  dello  Stato,  volendo  Clemente  settimo 
mandarmi  a Firenze  per  alcuni  negozi  segreti  e dicendoli  io  che  temevo 
non  m’  intravenissi  come  a mio  padre,  essendo  il  popolo  infuriato  e 
nobili  di  male  animo,  mi  disse  il  papa:  Montate  sopra  la  mia  mula, 

andate  a Firenze,  ch£  temeranno  di  farmi  dispiacere.  E,  fattomela  dare 

con  la  sella  e fornimenti  pontificij,  venni  a Firenze,  negotiai  e non  mi 
fu  detto  cosa  alcuna;  i fornimenti  di  velluto  nero  con  le  borchie  e 

ferramenti  messi  a oro  si  conservano  ancora  in  casa,  e prego  i miei 
successori  a tenerne  conto  per  memoria,  si  come  anchora  di  un  vaso 
d’  agata  che  mi  donö  il  Cardinale  di  Sa  Maria  in  Portico,  al  quäle 

1’  anno  1520  feci  in  Roma  un  lavoro  stimato  mirabile  da  tutta  Roma. 

Memoria  VIII. 

Ricordo,  £ memoria  a voi,  figliuoli  miei  e successori,  se  a Dio  pia- 
cerä  di  darvene,  come  fonte  di  ogni  bene  a ricordarvi  le  grandi  fatiche 
che  ha  durate  il  padre  vostro  dall’  ora  che  nacque,  per  lasciarvi  non 
solo  in  buono  stato,  ma  ridurvi  in  parte  allo  splendore  de’  Sigd  vostri 
antenati,  onde  posso  ben  dire  che,  per  voi  felicitare,  sia  caduta  in  me  la 

49)  E noto  che  quarantotto  erano  i componenti  il  Senato  fiorentino  istituito  nel  1532. 

5°)  Biagio  di  Monluc,  capitano  dei  francesi  che  erano  a Siena  in  aiuto  dei  fuo- 
rusciti.  Jacopo  de’  Medici,  marchese  di  Marignano,  comandante  le  forze  di  Cosimo. 

51)  Lacuna  di  due  terzi  di  riga  nel  manoscritto. 


428 


Arduino  Colasanti: 


maledizione  data  nella  Sacra  Genesi  al  nostro  primo  padre:  »in  sudore 
vultus  tui,  etc.«. 

Fra  le  mie  fatiche  non  tratterö  di  quelle  che  ne’  disegni,  ne’  marmi, 
ne’  bronzi  e ne’  colori  sono  giä  note  al  mondo  e che  forse  doppo  la 
morte  mia  saranno  fra  gli  inteligenti  in  quella  estimatione  che  devono, 
ma  tratto  di  quelli  che,  in  vece  di  riposo,  ho  rubato  al  sonno  ed  alla 
quiete;  perch£,  non  essendo  io  dedito  a Cerere,  Bacco  e Venere,  non 
mi  ricordo  (assuefatto  da  piccolo  col  terrore  di  mio  padre)  avere  mai 
dormito,  e questo  nelle  notti  maggiori,  piü  di  cinque  ore,  usando  questo 
termine  e massime  nel  verno,  conformandomi  poi  secondo  i tempi;  da 
1’  una  alle  tre  attendevo  a leggere  o istorie,  fra  le  quali  ho  sempre 
stimato  Tito  Livio,  Tacito,  Sallustio  ed  altri;  in  Erodoto  stimavo  piü  lo 
Stile  che  la  materia:  de’  poeti,  quanto  a’  latini  Horatio  e Vergilio  erono 
i miei  amori;  quanto  a Homero,  anchora  che  io  avessi  un  poco  di  prin- 
cipio  della  lingua  greca,  con  tutto  ciö  non  lo  intendevo  molto  in  greco, 
n£  piacendomi  le  traduzioni  latine  nü  avendo  tempo  da  perdercci,  poco 
lo  studiai;  fra  tutti  i poeti  vulgari  Dante  mi  pareva  amirabile,  ma  Fran- 
cescho  Petrarcha  fu  il  mio  amore,  quäle  ho  cercato  sempre  di  immitare, 
e in  vari  tempi  e vane  occasioni  ho  composto  da  200  sonetti,  diciotto 
canzoni  e sei  sestine  e dua  trionfi,  uno  sopra  a Carlo  Quinto  nella 
vittoria  contro  a’  principi  protestanti  e 1’  altro  nella  vittoria  di  Siena  che 
ebbe  il  duca  Cosimo,  e,  se  viverö,  forse  ne  farö  delli  altri,  avertendo  che 
i sonetti  parte  sono  sacri,  essendomi  assai  dilettato  di  leggere  la  scrittura 
sacra  ed  alcuni  de’  Santi  Padri,  perchü,  avendo  avuto  a trattare  co’ 
Principi,  e in  particolare  con  Ecclesiastici,  dove  continovamente  assistono 
grandi  personaggi,  ho  voluto  sempre  potere  in  parte  comparire,  oltre 
che  la  pratica  importa,  assai:  parte  sono  morali,  non  mi  essendo  di- 
lettato delli  amorosi,  poich£  il  tempo  e la  natura  non  lo  concedevano, 
e di  questi  alcuni  sono  in  dialogo.  Tutti  gli  altri  versano  intorno  a 
lodi  o ringratiamenti,  come  a Carlo  V,  al  Duca  Cosimo,  a’  Bandinelli  di 
Siena,  al  Doni  etc.,  ovvero  contro  al  Zati  provveditore  dell’  opera,  a 
Benedetto  Varchi,  a Alfonso  de’ Pazzi  e Giorgio  Vasari,  non  perchü'io 
fussi  d’  animo  e lingua  satiricha,  ma  perchü,  come  scrissi  piü  volte  al 
duca  Cosimo,  nacque  fra  Sforza  e me  grave  inimicitia,  perch£  mi  voleva 
usurpare  1’  acque  che  avevo  ritrovate  a Fiesoie  nella  mia  villa  delle  Tre 
pulzelle,  onde  tanto  litigamo,  e si  ebbe  a decidere  con  1’  autoritä  del 
Sigr  Duca,  per  mezzo  dell’  auditore  Torelli:  e contro  al  Vasari,  non 
essendo  abile  nel  disegno  a sciormi  le  scarpe  n£  essere  mio  discepolo, 
voleva  fare  del  saccente  e del  saputo,  onde  io  piü  volte  gli  mostrai  la 
sua  buassaggine,  e particolarmente,  avendomi  Sua  Eccelentia  chiesto  un 
disegno  della  fabbrica  che  voleva  fare  de’  Pitti,  e mandatogliene  per  il 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


429 


mio  figliolo,  Giorgio,  che  vi  si  abbatt£,  poco  intendendo,  mi  ebbe  a 
riprendere,  onde  io  ne  scrissi  al  sigre  Duca,  come  si  vede  fra  le  mie 
copie,  e a bocca  gliene  parlai,  mostrando  che  Giorgio  in  ciö  non  sapeva 
dove  si  avessi  il  capo,  e questo  avenne  ancora  in  altre  occasioni,  onde 
mi  odiava  a morte,  mi  biasimava  e detraeva,  ma  alla  sfuggiasca,  perch£ 
aveva  paura  di  me.  Contro  al  Varchi  fu  accagione  di  un  luogo  di 
Tacito,  il  quäle,  ancora  che  fussi  dotto,  gli  dissi  in  presentia  del  Duca 
che  egli  era  piü  poeta  che  istorico.  Contro  al  Pazzi  perchü  era  s opra 
ogni  altro  satirico  n£  1’  averebbe  perdonata  a Dio52).  Al  Zati  perch£  nel- 
1’  opera  mi  faceva  storiare  e ritardava  le  provvisioni  concesse  dal  Sigre 
Duca  a’  giovani  che  nella  mia  Academia  particolare  del  disegno  sotto 
di  me  studiavano,  come  si  vede  in  una  carta  da  me  disegniata  e fatta 
stampare  in  Roma  con  le  parole : Academia  Bacci  ex  Senariis  comitibus 
Bandinellis ; onde  io  fui  forzato  ricorrere  al  Duca,  il  quäle  perciö  ordinö 
e passö  per  partito  delli  operai,  che  erono  Lorenzo  Strozzi,  Lionardo 
Ridolfi,  Ugo  della  Stufa,  a’  6 di  Dicembre  1540,  rogato  sere  Francesco 
Sacci,  che  il  Provveditore  et  operai  non  potessino  disporre  cosa  alcuna 
senza  licentia  del  sigre  Duca  e mia,  massime  intorno  alla  fabbrica  di 
S.  Maria  del  Fiore,  come  apparisce  da  piü  scritture  a presso  di  me.  53) 
Occorrendo  di  dire  quanto  a’  giovani  della  mia  accademia,  amai  tutti 
eggualmente,  ma  perchü  non  omnium  est  adire  Corin tum,  non  tutti 
fecero  riuscita,  si  come  la  fece  Vincentio  de’  Rossi  e Bartolomeo  Am- 
mannati;  ma  questo  nell’  ultimo  non  si  portö  molto  bene  verso  di  me54) 

5»)  Due  di  questi  sonetti,  crediamo  inediti,  abbiamo  letti  nel  Codice  Capponiano 
n.  421  (Biblioteca  nazionale  centrale  di  Firenze);  a c.  224  v.: 

Bandinello,  ha’ tu  fatto  quel  gighante 

e a c.  518  v.: 

O Baccius  faciebat  Bandinello. 

Dello  stesso  Alfonso  de’  Pazzi,  in  un  altro  codice  della  Nazionale  di  Firenze,  il  Palatino 
n.  248 , abbiamo  trovato,  a c.  80  r.,  un  feroce  epitaffio,  che  ancor  esso  crediamo  inedito, 
contro  Baccio  Bandinelli.  Eccolo: 

Al  Bandinello, 

Il  mazzuol,  ch’  e qui  intorno,  e lo  scarpello 
Mostran  che  qui  sepolto  e ’l  Bandinello, 

Di  cui  la  fama  assai  si  pregia  e stima. 

Felice  a lui,  se  fosse  morto  prima! 

53)  Il  Gaye  (Carteggio  inedito,  II,  298)  e il  Milanesi  nelle  sue  note  al 
Vasari  (VI,  179)  ricordano  l’ordine  dato  dal  duca  Cosimo  agli  operai  sotto  la  data  del 
24  novembre  1540. 

54)  I primi  segni  ben  palesi  della  inimicizia  fra  il  Bandinelli  e Bartolomeo  Am- 
mannati  si  mostrarono  nel  1555,  quando  l’Ammannati  fu  dal  Vasari  raccomandato  al 
Duca,  che  gli  diede  da  lavorare  in  Palazzo  Vecchio;  1’ odio  fra  i due  artisti  si  accrebbe 
di  poi,  quando  essi  entrarono  palesemente  in  gara  per  1' esecuzione  del  gigante,  da 
collocarsi  sulla  fonte  di  piazza  della  Signoria  (Vasari,  VI,  186  e segg.) 


430 


Arduino  Colasanti: 


Ancora  Anfolso  Rodriguez  tolledano,  che  mi  dette  la  sigra  Duchessa, 
riusci  assai  valente,  come  si  vidde  da  una  testa  fatta  di  Carlo  V molto 
al  vivo,  raa  parendoli  di  essere  maestro  avanti  al  tempo,  se  ne  tornö 
alla  patria  e di  lä  mi  scrisse  che  faceva  buono  profitto.  Ho  composto 
e scritto  altre  opere  la  maggior  parte  di  mia  mano,  con  tutto  non  avessi 
buono  carattere,  o,  per  meglio  dire,  con  il  tempo  1’  avessi  guasto,  assi- 
curandovi  in  coscientia  mia,  che,  se  non  fussi  stata,  oltre  la  inclinatione, 
la  dura  necessitä,  averei  auto  molto  piü  gusto,  che  adoperando  il  ferro, 
immortalarmi  con  la  penna,  come  Studio  veramente  ingenuo  e liberale. 
Fra  le  altre  cose,  figlioli  mia,  che  io  vi  lascio,  sono  prima  alcuni  Dialoghi 
con  Giotto  sopra  la  scultura  e disegno,  quali  cominciäno : Una  gran  lode 
meritano  quelli  che  dell’  arti  preclari  sono  stati  inventori  etc.  Un  libro, 
quäle  sia  piü  nobile,  la  Pittura  o la  Scultura,  con  la  dedicatoria  al  Duca 
Cosimo  Sigre  Nostro,  la  quäle  comincia:  Perchü  sei  capacissimo  di  ogni 
altra  speculatione  e sai  quanto  1’  anime  de’  mortali  cerchino  di  sapere 
per  vivere  sempre  e farsi  immortali  etc.  Un  libro  del  disegno  in  70  ca- 
pitoli  che  comincia:  Il  disegno  ü una  superficie  piana  etcr  Un  altro 
libro  pure  del  disegno,  il  principio  del  quäle  ü questo:  Disegno  ü una 
disposizione  di  infinite  e varie  specie,  formate  in  tanti  e varii  modi,  come 
la  maestä  della  natura  ci  mostra  di  continuo,  le  quali  specie  e nelle 
umane  menti  si  formano  etc.  L’  Accademia,  che  comincia : 1’  uomo  nasce 
col  desiderio  di  imparare  per  vivere  e farsi  immortale  etc.  Item  della 
Architettura,  tömpi,  colonne,  colossi  etc.  Un  libro  della  vera  nobiltä 
alla  Sigra  Duchessa  Leonora,  nel  quäle,  concludendo  che  non  dal  sangue 
solamente,  ma  dalla  virtü  dipende,  incidentemente  gli  dimostro  la  nobiltä, 
de’  mia  passati  venuti  da  Sign  Bandinelli  di  Siena,  e quanto  abbi 
illustrato  il  mio  ramo  con  1’  ordine  di  S.  Jacopo,  del  quäle  si  gloriö  il 
padre  di  Sua  Eccellentia,  con  la  dedicatoria  che  comincia:  Si  come  io 
pretendo  il  primo  grado  nell’  essere  de’  piü  obbligati  servitori  della 
Eccellentia  Vostra,  cosi  stimo  di  non  avere  1’  inferiore  nella  Sua  grazia  etc. 
Un  raccolto  di  piü  sermoni  fatti  in  diverse  Compagnie.  Un  raccolto  di 
lettere  a diversi,  e di  diversi  Principi  e particolari,  per  le  quali  potete 
vedere  in  che  istimazione  io  fussi,  e di  molte  opere  da  me  fatte  etc.  E 
perchü  infino  adesso  mi  e mancato  il  tempo  di  poterle  ridurre  a per- 
fetione,  ripulirle,  rivederle  e riscriverle,  e Dio  sa  se  1’  averö  per  1’  avvenire, 
ritrovandomi  giä  vecchio  e affaticato,  vi  prego,  vi  scongiuro,  figliuoli  miei, 
per  le  viscere  di  Giesü  Christo,  per  1’  obbligo  che  mi  avete  come  vostro 
benefattore,  per  1’  amore  che  dovete  come  a padre,  che  doppo  la  morte 
mia  e che  sarö  passato  da  questa  valle  di  miserie,  doviate  e vogliate 
ridurle  insieme,  farle  riscrivere  e rivedere  a persone  intelligenti  della 
professione  che  trattano,  avertendoli  che,  essendo  scritti  la  maggior  parte 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


431 


di  mia  mano,  di  prima  penna,  et  avendo  io  come  ho  detto  carattere 
male  agevole,  di  materie  non  volgari  e parte  non  finiti,  1’  opera  sarä 
piü  difficile  di  quello  che  vi  potete  immaginare:  ma  che  non  puö 
1’  amore?  Eseguite  adunque  il  comandamento  di  vostro  padre,  e,  ridottoli 
a termine,  conservategli  in  memoria  mia,  lassando  in  vostra  libertä  pubbli- 
carli;  e dovete  maravigliarvi  che  fra  tanti  disegni,  sculture,  ofizi  e altro, 
abbi  potuto  scrivere  tanto;  perchü  io,  ritornando  dove  cominciai  nel- 
1’  istitutione  della  mia  vita,  in  fino  alle  tre  leggevo  istorie,  poeti  escrittura 
sacra,  e doppo  andavo  a cena;  doppo  cena,  ritiratomi  mio  oratorio, 
ringratiavo  Dio  de’  benefizi  ricevuti  e lo  pregavo  a tenermi  in  capo  la 
sua  Santa  mano:  intorno  alle  cinque  ore  (tratto  del  verno)  dormivo  insino 
alle  dieci,  et  alle  dieci  chiamato  o dalla  sveglia  o da  chi  ne  aveva  il 
carico,  davo  la  mano  per  dua  ore  a comporre  e scrivere  sopra  quello 
che  avevo  prima  determinato ; in  su  le  dodici  venivano  i giovani  et 
insino  al  di  si  attendeva  a disegniare,  e doppo,  udita  messa,  si  andava 
a 1’  opere,  in  casa,  ne  1’  Opera  o dove  bisognava;  e di  piü  la  state 
andavo  spesso,  come  ancora  vo,  a’  capitani  di  Parte  fuora  del  Magistrato, 
e,  chiamati  i capo  maestri,  volevo  da  loro  intendere  e vedere  i rapporti 
e disegni  delle  fabbriche  e ripari  de’  fiumi,  insegniavo  loro  e riprendevo 
dove  avessino  errato,  cosa  molto  grata  a’  mia  colleghi,  molti  de’  quali,  per 
la  mutatione  e varietä  de’  traffichi,  erano  pochi  esperti,  e cosl  era 
gratissimo  al  Sigre  Duca,  come  si  vede  per  piü  sue  lettere  e tutto  a 
gloria  del  S.  Dio. 


Memoria  VIIII. 

A’  miei  figliuoli  come  essendomi  in  piü  tempi  et  in  diverse  occa- 
sioni  valuto  dall’  opera  di  Sa  Maria  del  Fiore  di  piü  legniami,  marmi  e 
altro,  non  solo  per  servitio  della  chiesa,  ma  mio  proprio  e de’  giovani 
che,  per  concessione  di  Sua  Eccellentia,  imparavano  sotto  la  mia  disci- 
plina,  come  ü detto:  perciö,  se  detti  operai  pretendessino  cosa  alcuna 
contro  a voi  mie  eredi  per  le  suddette  cose  valsemi,  avvertite  che  non 
debbo  loro  cosa  alcuna  per  una  fine  e supplica  di  Sua  Eccelenzzia,  come 
potete  vedere  fra  le  mie  scritture,  ove  anchora  la  sopra  intendentia  del- 
Opera,  come  per  partita  de’  6 di  dicembre  i54o:  e fra  dette  scritture 
e libri  di  quoio  rosso  e nero  e bianco  potrete  vedere  diversi  accordi 
fatti  con  principi,  duchi  e cardinali,  a cagione  dell’ opere,  come  per 
esempio  col  Sigre  Ducha  nostro  del  coro  di  S.  Maria  del  Fiore,  del  Sepol- 
chro  del  Sigre  Giovanni  suo  padre,  quäle  e in  S.  Lorenzo,  la  cui  base  ü 
ridotta  a perfetione,  ma  non  la  statua,  per  avere  disegniato  di  metterla 
in  su  la  piazza  di  S°  Lorenzo,  ove  prima  voleva  che  andassi  in  una 
capella,  perö  bisogna  farlo  in  altra  positura,  e cosi  imperfetto  si  conserva 


Arduino  Colasanti: 


43  2 

nell’  Opera. 55)  Si  come  ancora  l’accordo  fatto  co’  Sigri  Genovesi,  quali  in 
quel  tempo  governavano  Genova,  per  farmi  fare  una  statua  di  marmo 
circa  a quattro  braccia  con  la  effigie  del  Sigre  principe  Andrea  Doria, 
onde  io,  partendomi  male  volentieri  dalla  servitü  di  papa  Clemente,  che 
dificilmente  perciö  mi  dava  licentia,  a richiesta  del  cardinale  Doria  mi 
condussi  infino  a Genova,  dove,  aspettando  nü  comparendo  il  principe, 
anchora  che  il  Sigre  Cardinale  mi  avessi  dato  stanze  nel  suo  palazzo  e 
per  onorarmi  come  cavre  la  sua  propria  tavola,  mi  volli  partire  da  Genova, 
e andato  a Carrara  feci  levare  il  marmo;  in  quel  mentre  mi  mandö  al 
vivo  r effigie  del  Principe  et  avendola  cominciata  e persistendo  la  Si- 
gnoria  e il  Cardinale  che  io  la  dovessi  fare  condurre  a Genova,  venimo 
in  disparere,  e richiamato  segretamente  dal  Papa,  la  lassai  cosi  imperfetja 
in  Carrara,  come  anchora  si  puö  vedere,  e credo  che  si  vedrä,  perchü, 
se  bene  avevo  animo  di  finirla  et  ero  in  qualche  obligo  per  una  scritta 
fatta  in  Genova  fra  il  cardinale  e me  per  mano  di  Luigi  Alamanni,  che 
allora  vi  si  ritrovava,  e promesso  darmene  mille  scudi,  con  tutto  ciö  la 
servitü  della  gran  casa  de’  Medici  et  impedimenti  di  malättie  non  lo 
premessono:  e,  se  bene  io  avevo  ricevuto  da’ Signori  Genovesi  ducati 
quattrocento,  chi  considererä  senza  passione  le  spese  e le  fatiche  fatte 
in  sino  allora  troverä  che  io  piü  tosto  sono  creditore  di  detti  Sigri,  come 
ne  scrissi  al  Cardinale  e si  puö  vedere  per  diverse  lettere.  5&) 

Trovarete  anchora  per  conto  de’  dua  sepolchri  per  la  memoria  de’ 
Pontefici  Leone  e Clemente,  in  torno  a’  quali  mi  soleva  dire  Clemente 
che  di  mia  mano  gli  avevo  a fare  se  moriva  avanti  di  me,  e perö,  sapendo 
i cardinali  Cibo,  Medici,  Ridolfi  e Salviati,  esecutori  testamentarij  di 
Clemente  1 intentione  del  papa,  vollero  che  col  mio  disegnio  ed  opera, 
onde  io  volli  una  libera  scrittura  di  fare  quanto  mi  piacessi  intorno  al 
quadro  o intagli,  istorie  grande  e piccole,  con  piena  autoritä  di  fare 
modelli  e disegni,  ordinäre,  mettere  e rinnovare  operanti  e maestri  di  ogni 
sorte  come  a me  pareva57)  cosi  ne  feci  molti  disegni  e modelli,  et  andato 
a Carrara  a levare  i marmi,  ebbi  una  nota  anchora  da  Michelagniolo 
Buoniaruoti,  mio  amico,  di  quanti  volevano  essere  secondo  il  parere 
suo,  non  molto  distante  dal  mio;  ove,  cavati  tutti  i marmi,  essendovi 

55)  La  base  servi  ad  uso  di  fontana  fino  all’  anno  1851,  in  cui  vi  fu  collocata  sopra 
la  statua  di  Giovanni  dalle  Bande  Nere,  che  sino  allora  era  stata  nel  salone  di  palazzo 
Vecchio. 

56)  Il  Vasari,  a questo  proposito,  si  diffonde  in  piü  ampi  particolari  (VI, 
p.  157  e 161  e segg.).  Documenti  relativi  a questa  statua  allegorica  di  Andrea  Doria, 
la  quäle  verosimilmente  fu  allogata  a Baccio  nel  1523,  furono  pubblicati  dal  Milanesi 
nelle  sue  note  al  Vasari  (luog.  cit.,  p.  157). 

57)  Il  contratto  originale,  citato  dal  Milanesi,  si  conserva  nell’ Archivio  di  Stato 
di  Firenze,  fra  le  carte  dei  Bandinelli,  filza  7,  p.  309. 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


433 


stato  molti  mesi,  non  perö  sempre  a Carrara,  ma  quando  a Pisa  e Firenze, 
me  ne  tornai  a Roma,  onde  trovai  che  tutti  i sopradetti  esecutori  avevano 
dato  piena  autoritä  e rimessosi  totalmente  nel  Cardinale  Ridolfi,  col 
quäle  avendo  trattato,  conforme  ai  miei  disegni  ordinai  qualunque  cosa,  et 
avendo  ridotto  il  tutto  a buon  termine,  per  una  grave  indispositione,  pregai 
il  cardinale  Ridolfi  che  si  consegniassi  ad  altri  molte  cose  che  restavono 
a fare,  vedendo  non  le  potere  finire  cosi  presto  come  desideravono.58) 

Vedranno  anchora  diverse  altre  opere  fatte  da  me  per  la  Eccellentia 
del  Sigre  Duca,  la  Pietä  per  il  mio  sepolcro,  fatta  in  gran  parte  con 
1’  aiuto  di  Clemente  mio  figliolo,59)  il  quäle  Clemente,  se  fussi  andato  per 
vita  non  ho  dubbio  che  non  avessi  arrivato  nella  scultura  alla  fama  de1 
piü  famosi  Grecij,  e cosi  mi  diceva,  amirandolo,  il  grande  Buonaruoti, 
ch’  era  venuto  in  tanta  reputatione,  etiandio  che  fussi  naturale,  la  con- 
tessa  di  Pietra,  la  quäle  restata  vedova  e del  disegnio  si  dilettava,  me 
lo  chiese  per  marito,  ma  io  ncn  lo  volli  acconsentire  perchd  era  troppo 
giovane  e si  sarebbe  deviato  dalle  virtü;  ma  Dio  in  Roma  di  febre  e 
catarro  me  lo  volle  levare;  ora  si  riposi  in  cielo. 

Avvertendovi  ancora  che  se  bene  si  veggono  alchune  pitture  di 
mia  mano  stimatissime,  con  tutto  cid  non  ci  sono  stato  molto  dedico, 
come  piü  volte  lo  dissi  e scrissi  a loro  Eccellentie,  e fra  queste  vi  prego  a 
tenere  conto  del  quadro  che  vi  lascio  in  casa,  ove  col  mezzo  di  una 
spera  dipinsi  me  stesso;  conservandolo,  di  me  vi  ricordiate  e preghiate 
per  1’  anima  mia.5 6°) 

Tutto  il  mio  intento  era  nel  disegniare  e nel  quäle,  al  giudizio  di 
Michelagniolo,  de’  nostri  Principi  e de’  migliori,  tanto  prevalsi:  gran  quan- 
titä  ne  hanno  loro  Eccellenziej  altri  mandati  in  Germania  et  altri  in 
Francia,  ed  altri  sparsi  per  1’  Italia,  alchuni  dei  quali  so  che  si  sono  ven- 
duti  sino  a dugento  scudi:  alchuni  ancora  sono  stati  stampati,  come  So 
Lorenzo  in  Roma  sopra  la  graticola,  la  Sconficcatione  e altri;  con  tutto 
cid  ve  ne  lascio  quasi  pieno  un  cassone,  quali  terrete  come  tante  gioie, 
nd  ve  li  lasciate  uscire  di  mano,  poi  che  verrä  tempo  che  varranno  tesori; 
e Dio  vi  benedica;  avvertendovi  perd  di  uno  errore  che  nacque  nella 
stampa  di  So  Lorenzo,  ove  1’  intagliatore,  in  cambio  di  intagliare  Band., 


58)  Circa  1’  incarico  della  esecuzione  delle  sepolture  di  Leone  X e di  Clemente  VII, 
che  prima  dovevano  essere  collocate  nella  basilica  di  S.  Maria  Maggiore  in  Roma  e 
poi  furono  invece  poste  nella  chiesa  della  Minerva,  il  Vasari  (VI,  162  e segg.)  narra 
che  esso  fu  con  male  arti  dal  Bandinelli  carpito  ad  Alfonso  Lombardi  ferrarese. 

59)  La  Pietä  si  conserva  ancora  al  suo  luogo. 

60)  Che  Baccio  abbia  dipinto'  ci  e attestato  anche  dal  Vasari  (VI,  139)  e da  un 
documento  publicato  dal  Milanesi  (ibid.  n.  1).  L’  autoritratto  si  conserva  nella 
raccolta  degli  Uffizi. 


434 


Arduino  Colasanti: 


intagliö  Brand.,  onde  molti  che  non  sapevano  lo  interpretavano  per  Brandi, 
Brandini  e Brandinelli,  onde  io  ne  feci  ristampare  un’  altra  in  piü  piccola 
e migliore  forma,  col  nome  finito  Bandinelli.61) 

Mi  occorre  ancora  dirvi,  figlioli  mia,  come  talvolta  ero  biasimato 
da  molti  e particolaremente  dal  buon  Buoniaruoti,  il  giuditio  del  quäle 
stimavo  sopra  ogni  altro,  si  perch£  era  intelligente,  come  perch£  non  si 
moveva  da  animo  malignio,  che  cominciando  e bene  disegniando  1’  opere 
piü  irnportanti,  vi  facessi  mettere  le  mani  dal  Rossi,  dall’  Ammannati,  da 
Clemente  e da  altri:  io  non  nego  che  in  gran  parte  non  avessi  ragione, 
perch£  talvolta  1’  opere  non  riuscivono  di  quella  gran  perfetione  che  sareb- 
bono  state  con  la  mia  mano,  ma  bisognia  considerare  che  ebbi  e ho 
sempre  auto  molti  disturbi,  perch£,  tralasciando  le  infermitä  e la  cura 
familiäre  della  casa  e figliuoli,  gli  studi  ne  erano  buona  parte  cagione, 
a’  quali,  come  giä  vi  ho  detto,  ero  molto  inchinato,  e in  varie  occasioni 
mi  feci  molto  onore,  particolaremente  nelle  istorie  e poesia,  come  v’  ho 
accennato,  avendo  fatto  molte  compositioni  volgari  e alcune  ancora  latine, 
ma  poche,  come,  verbigratia,  al  Sigre  Don  Pietro  di  Pina  frate  dell’  Ordine 
e Capellano  dell’  Imperadore  Carlo,  dal  quäle  ricevetti  1’  abito,  che  feci 
in  mia  lode,  doppo  avere  presa  la  santissima  comunione,  avanti  all’  abito, 
nel  Inno  che  comincia: 

Bacci,  foelix  et  amplius  etc. 

Come  ancora  mi  feci  grande  onore  con  le  lingue,  perch£  parlavo 
mediocremente  latino,  leggevo  un  pocho  di  greco,  parlavo  bene  la  lingua 
spagniuola  et  avevo  qualche  principio  della  franzese,  tutte  esercitate  in 
Roma:  mi  era  ancora  di  grande  impedimento  1’  avere  assistere  e corteg- 
giare  il  papa,  oltre  a’  viaggi  fatti  seco  a Bologna  e in  altre  occasione, 
oltre  che  la  Presidentia  e cura  che  la  cittä  di  Roma  e il  popolo  romano 
impatiente  e libero  stessi  abbondante,  oltre  1’  occupationi  datemisi,  come 
ne  ebbi  e ne  ho  non  poche  in  Firenze,  essendo  impiegato  dal  Sigre  Duca 
ora  per  lo  stato  di  Siena,  ora  per  una  cosa,  ora  per  un’  altra,  oltre  a’ 
Capitani  di  Parte  e altri  ofizi  che  assai  mi  distoglievano;  e non  poco 
talvolta  i principi  che  da  loro  mi  volevano,  si  che,  aggiunto  il  disegniare, 
che  era  il  maggiore  mio  intento,  non  molto  potevo  attendere,  aggiungesi 
diverse  indispositioni,  piü  di  uno  sdegnio  e qualche  inimicizia,  intorno 
alle  quali  fui  piü  di  una  volta  forzato  a pore  le  mani  alla  spada,  la 
quäle  ebbi  per  uso  non  di  portare,  ma  la  facevo  torre  sotto  il  braccio 

6l)  L’  incisione  del  martirio  di  S.  Lorenzo  fu  eseguita  da  Marcantonio  Raimondi 
e il  Bandinelli  se  ne  mostro  molto  malcoltento  e ne  mosse  lagnanza  col  papa  (cfr. 
Vasari,  op.  cit.  V),  il  quäle  conobbe  1’  irragionevolezza  di  Baccio  e la  somma  valentia 
di  Marcantonio.  Circa  1’  errore  del  nome,  anche  il  Vasari  vi  incorre,  scrivendo  che 
prima  il  Bandinelli  si  faceva  chiamare  Brandini  (VI,  195). 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


435 


ad  uno  dei  rniei  servitori,  che  sempre  mi  seguiva,  non  volendo,  come 
Cavre  e nobile,  portare  basto;  ed  oltre  a due  quistioni  fatte  in  Roma,  in 
una  delle  quali  restai  ferito,  e nell’  altra  ebbi  precetto  dal  Governatore 
di  Roma,  sotto  pena  di  mille  ducati,  di  non  mi  partire  di  casa,  la  quäle 
fu  accomodata  dal  cardinale  Salviati,  1’  insolenza  dello  Zati  mi  sforzö 
ad  assaltarlo  su  la  piazza  di  S.  Maria  del  Fiore,  e,  se  non  eramo  sparti 
da  alcuni  gentiluomini,  qualcuno  di  noi  vi  restava  morto,  perch£  1’  avevo 
deliberato,  ma  il  Sigre  Duca  1’  accomodö  e ci  fece  fare  la  pace,  ripren- 
dendo  molto  il  Zati.  E in  questo  immitavo  il  capitano  Giovambatista 
mio  zio,  il  quäle  fu  cosi  risentito  che  non  solo  per  s£,  ma  per  altri 
ancora,  e massime  per  gli  amici  e per  la  patria,  soleva  pigliare  le  brighe: 
questa  fu  la  cagione  che,  avendoli  riferito  Monsigre  di  Vidame  come  il 
capitano  Claudio  della  Ciart£  aveva  in  Lione  in  presentia  del  Senesciallo, 
di  esso  Vidame  e di  altri  sparlato  di  Piero  de’  Medici  e detto  che  era 
un  folle  e a tutti  disleale  e nel  progresso  del  parlare  che  in  Firenze 
non  era  vera  nobiltä,  perch£  quelli  che  vi  erano  chiamati  nobili  non 
attendevano  all’  arti  liberali,  ma  alle  meccaniche,  come  £ la  lana,  la  seta 
e la  merchatura,  tanto  abborrita  dalla  nobiltä  franzese  e da  tutti  i veri 
nobili  dell’  altre  nazioni,  onde  il  capitano,  difesa  con  vive  ragioni  la  sua 
patria  e 1’  amico  al  sigre  Vidame,  venne  in  tanto  sdegnio  che  gli  mandö 
questo  cartello  di  disfida,  da  me  tradotto  dal  Franzese:  »Cavre  Capitano 
della  Ciartre,  se  e vero  quanto  m’  ha  riferito  monsu  Vidame,  dell’  avere 
voi  al  Senescial  di  Lione  et  ad  altri  Sigri  detto  e sparlato  in  pregiuditio 
del  Maco  Piero  de’  Medici  e della  patria  mia,  e lo  vogliate  mantenere, 
avete  tante  volte  mentito,  mentite  e mentirete  quante  parole  vi  sono 
uscite,  escono  e di  bocca  a tale  proposito  esciranno,  e,  per  mostrare  a 
tutti  la  malvagitä  della  vostra  intentione,  vi  disfido  a morte  e per  questo 
cartello  vi  impegno  la  mia  fede;  eleggete  l’armi,  sarä  il  campo  la  pubblica 
piazza  di  Lione,  il  tempo  lunedi  prossimo  futuro. 

Giovambatista  Bandinelli 

Capitano.  Mano  propria.« 

La  Ciastre,  non  potend o negare  le  parole  che  aveva  dette  pubblica- 
mente  e volendole  mantenere,  accettö  la  disfida:  si  condussero  in  campo 
con  spada  e cappa  al  concorso  di  quasi  tutta  la  cittä,  e,  come  mi  riferi 
piü  volte  il  sopra  detto  capitano  mio  zio,  egli  restö  malamente  ferito  in 
un  braccio,  ma  La  Ciastre,  alla  quinta  stocchata  passato  da  una  parte 
all  altra,  vi  restö  morto;  e mi  soleva  dire  che,  quando  lo  vedde  esangue 
e spirato,  si  penti  del  suo  furore,  ne  per  uno  tempo  se  lo  pot£  levare 
dal  tardo  pen timen to  e fantasia:  successe  a me  quasi  il  simile  nella  prima 
quistione  che  feci  in  Roma,  avendola  fatta  per  Clemente  settimo,  tassato 
per  una  estrema  avaritia  e 1’  avere  venduto  i cappelli  rossi,  con  poco 


4 36 


Arduino  Colasanti: 


decoro  della  Chiesa,  a piü  offerenti;  ma,  vero  o no,  sempre  si  hanno  a 
difendere  i padroni  e gli  amici.  E il  Capno  ne  ricevü  da  cittadini  molti 
ringratiamenti,  ma  particolaremente  dal  Magco  Piero,  una  lettera  del 
quäle  ancora  si  conserva,  e io  come  ho  gia  detto  continovi  favori  dal 
papa  mio  benefe.02)  Non  ho  mancato,  dove  ü stata  forza,  di  vendicarmi 
per  altre  strade,  come  sa  il  sigre  Duca,  che  con  la  sua  gratia  vi  ebbe  a 
mettere  le  mani. 

Memoria  VIIIII. 

Come  altre  volte  vi  ho  accennato,  avendo  piü  volte  scritto  all’Am- 
basciatore  del  Cristianissimo  in  Roma,  acciö  mi  favorissi  col  capitano 
Giovambatista  mio  zio  che  per  me  lo  proccurava,  da  che  tanti  della  mia 
famiglia  erano  stati  e sono  in  Francia  servitori  di  loro  Maestä,  come  il 
Signore  Girolamo  di  Paulel  in  Tolosa  et  i Signori  di  Figueret  (se  perö 
sono  de’nostri)  e prima  Bartolomeo  Fulgentio,  1’  Alfiere  Bandino  e,  piü  di 
ogni  altro,  il  suddetto  capitano  Giovambatista,  che  di  presente  lo  serve, 
di  potere  aggiungere  a 1’  arme  nostra,  ch’  ü come  ho  detto  la  palla  azzurra 
col  cavre  di  argento,  che  acquistö  Guido  generale  in  Terra  Santa  per  il 
suo  valore,  di  concedere,  dico,  che  potessimo  aggiungere  i tre  gigli,  come 
era  stato  concesso  a molte  famiglie  illustri,  onde  potessimo  dimostrare  di 
essere,  sotto  il  loro  patrocinio,  servitori  della  reale  casa,  onde  per  ultimo 
mi  scrisse  a’ cinque  di  aprile  1537  e,  fra  1’ altre  cose,  dice:  »Io  ho  scritto 
alla  corte  e replicato  per  il  caso  vostro  de’  Gigli,  et  ho  scritto  di  modo 
che  doverrä  essere  secondo  il  vostro  intento : non  avendo  altra  commes- 
sione,  non  partirö  di  questo  paese  che  non  sia  fatto  Puasqua,  ma  vi  voglio 
soggiungere  che  non  vi  affrettiate  in  questa  cosa  vostra,  perchü  il  Cristia- 
nissimo era  in  Normandia  per  1’  ultima  che  ho  veduto  che  ü a’  confini 
d’  Inghil terra  etc.«  E la  Sigra  Ambasciatrice  in  carattere  francese  mi  dä 
nuova  del  capitano  mio  zio  e promette  favorirmi  etc.,  data  di  Bagniara. 
Ove  poi,  tornato  in  Francia,  operö  mediante  i meriti  del  capitano,  la 
nobiltä  della  casa  e la  mia  virtü  con  il  Re,  che  mi  concesse  la  grazia, 
dandoci  titolo  di  nobili,  et  il  capitano  meritevole  di  quella  corona,  come 
si  vede  per  privilegio  in  carta  pecora  di  sua  maestä,  con  il  grande  sigillo 
di  cera  rossa  de’  3 gigli  in  stagno,  dato  in  Parigi  a’  3 di  marzo  153g, 
il  quäle  potete  vedere  insieme  con  quello  dell’  Imperadore  Federigo  30  a 
Bartolomeo  di  Francescho  e quello  di  Carlo  V a me  concesso,  ma  in 
foglio;  che  fu  errore  in  Inspruck,  fatto  dal  Commendatore  di  Leone  don 
Francescho  de  los  Covos;  ma  fece  errore,  perchü  simiglianti  privilegii 
devono  essere  fatti  in  cartapecora,  per  il  pericolo  che  portano  di  non 
rompersi;  questo  fu  tanto  piü  facile  ottenerlo,  quanto  il  capitano  Gio- 


6l)  Benefattore? 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


437 


vambatista  molti  anni  prima,  cioü  nel  1518,  1’ aveva  ottenuto  di  moto 
proprio  dal  re  Francescho,  ma  per  lui  proprio,  senza  nominare  me  nü 
miei  discendenti;  onde  io  poi,  risentitomi  col  zio,  mi  lamentai  seco  e gli 
ne  scrissi,  al  che  mi  rispose  non  ci  avere  avvertito,  e che  mi  aiutassi  al 
che  sarebbe  in  mio  favore;  ma  per  allora  non  lo  tentai  per  avere  altre 
occupationi,  il  che  avendo  poi  fatto,  mi  riusci  per  la  grazia  di  Dio  e dei 
miei  avvocati,  come  giä  vi  ho  detto,  essendo  nel  privilegio  concesso  a 
tutti  i nostri  discendenti,  onde  d’  allora  in  qua  feci  l’arme  con  la  croce 
di  S.  Jacopo  nel  mezzo  le  palle  antiche  de’  Bandinelli  e li  tre  gigli  rin- 
quartata:  ma  voi,  figlioli  miei,  doppo  la  morte  mia,  non  essendo  cavd  di 
S°  Jacopo,  non  potrete  usare  le  croce,  ma  vi  consiglio,  ritenendo  il  solito 
campo  giallo  con  arabeschi  d’  oro,  la  palla  azzurra  col  cavre  di  argento 
che  nella  nostra  arma  antica  che  ü in  un  canto  dell’-arme,  a man  dritta, 
la  mettiate  nel  mezzo,  due  gigli  di  sopra  e uno  di  sotto,  e cosi  sarä  una 
bella  arme.  I nostri  antichi  messero  la  palla  dal  canto  destro  per  dimo- 
strare  ch’  era  uno  aggiunto,  poichü  1’  arme  antica  di  quelli  che  vennero  con 
Carlo  Magno  dalla  Francia  orientale  usorno  per  arme  il  semplice  scudo 
giallo  con  arabeschi  d’oro;  cosi  l’usö  nel  1040  il  conte  Bandinello  e gli 
altri  conti  della  medesima  casa,  cosi  papa  Alessandro  III,  cosi  gli  altri 
insino  a Guido  che  andö  in  Terra  Santa  con  le  pubbliche  bandiere  e 
comandö  da  900  sanesi,  segniati  con  la  croce,  il  quäle  per  lesueopere  illustri, 
doppo  la  presa  di  Damiata,  fu  fatto  dai  Re  e Principi  della  conquista 
cav*e  e datogli  per  segno  della  sua  valentia  la  palla  e il  cavre,  quasi 
volessero  dire  che  egli  fussi  allora  uno  dei  piü  valorosi  cavalieri  del 
mondo,  avvertendovi  che  i signori  Bandinelli,  si  come  si  divisero  in  piü 
colonelli,  cosi  alcuni  di  loro  col  nome  mutaro  1’  arme,  perchü,  essendo  da 
principio  che  furno  lasciati  in  Toschana  da  Carlo  Magnio,  dal  quäle  furno 
fatti  Signori  di  molte  castella  e terre  e lasciati  vicarii  dell’  Imperio,  ove 
stettano  piü  secoli  potenti  e grandi,  si  ridussero  al  fine  in  Siena,  ove, 
connumerati  fra’  grandi,  illustrarono  e resero  lo  splendore  alla  cittä,  dove 
col  tempo,  godendo  pure  i loro  stati  e signorie  e il  vicariato  dello 
imperio  nella  stessa  cittä  e suo  dominio,  nella  quäle  fabbricorno  superbi 
palazzi,  torri,  piazze  e altri  edefitii,  in  quella,  dico,  dalla  antica  patria 
loro  furno  prima  chiamati  franzesi:  questi  si  chiamorno  poi  Bandinelli 
da  due  voci  tedesche  che  denotano  Banda  veloce:  et  i Bandinelli  si  divi- 
sero in  piü  consorterie;  prima  in  Paparoni,  da  papa  Alessandro  III,  onde 
in  Siena  ü piazza  Paparona;  in  Palazzesi,  dal  Palazzo  che  fabbricö  il  gene- 
rale Guido,  de’  quali  propriamente  siamo  noi,  Belisario  e Niccholö  di  Siena 
e quelli  di  Tolosa  in  Francia,  avendo  poi  ripreso  il  nome  antico  Bandi- 
nelli; in  Cerretani,  per  la  signoria  di  Cerreto  Crampoli;  in  Muciatti  etc. 
I Paparoni,  come  si  vede  per  1’  arme  di  papa  Alessandro,  ritennero  il 


43^ 


Arduino  Colasanti: 


semplice  scudo  con  arabeschi;  i Cerretani,  in  cambio  della  palla  col 
cavaliere,  un  castello  a man  dritta,  come  gli  altri  ritengono  la  palla; 
i Palazzesi  e Bandinelli  la  suddetta  palla,  si  come  hanno  ritenuto  i mia 
insino  a me,  che  la  mutai  come  giä  vi  ho  detto. 

Memoria  XI. 

A voi,  carissimi  et  amatissimi  figlioli,  pregandovi  di  tenerlo  a mente 
non  meno  di  quello  che  con  tutto  il  cuore  mi  sono  ingegniato  lasciar- 
velo  scritto,  cio£  che,  considerando  quanta  fatica  habbi  durato  il  padre 
vostro  per  farvi  racquistare  quanto  in  un  secolo  vi  hanno  fatto  perdere, 
parte  per  fortuna  e parte  per  imprudenza  i vostri  antecessori,  cerchiate 
prima  con  il  timore  di  Dio,  perch£:  initium  Sapientiae  est  timor  Domini, 
e doppo  con  quel  cauto  modo  economico  di  procedere,  (il  che  sempte 
aiuta)  che  a giovani  nobili  e di  umana  prudentia  dotati  si  richiede:  assi- 
curandovi  che  quando  in  una  casa  manchano  le  facultä  si  finiscono  ancora 
gli  onori,  i gradi,  gli  amici  e la  reputatione,  primo  nervo,  come  scrive 
Tacito,  della  stessa  nobiltä,  la  quäle  in  quel  modo  che  si  acquista  nello 
stesso  si  perde. 

Io  vi  lascio  uno  stato  da  potervi,  se  sarete  savi,  nobilemente  man“ 
tenere,  e che  come  da  parte  di  Sua  Eccellentia  mi  scrisse  Monsre  di 
Marsico,  pochi,  ancora  che  nobilissimi,  havevano;  poich£  io  vi  lascio 
tutrice  vostra  madre,  le  virtü  e amore  della  quäle  non  ho  termini  da 
esplicare,  se  non  fussi  talvolta  guasta  dal  suo  fratello;*vi  lascio,  dico,  una 
bella  casa  nella  via  de’  Ginori,  una  da  So  Michele  Bisdomini,  una  in  Pinti, 
una  in  sul  Renaio,  un  podere  a Fiesoie  con  l'osterie  e fonte  con  la  mia 
arme,  detto  le  Tre  pulzelle,  un  podere  a So  Gervasio  detto  Malcantone; 
un  podere  alle  Gualchiere  a Remoli;  due  poderi  a-So  Lorenzo  a Pinzi  di 
Monte  con  casa  da  Sigre,  che  fu  abbruciata  in  parte  .nello  assedio  di 
Firenze* 63),  con  monti  e piü  case,  un  podere  alla  casa64)  fuora  della  porta  del 
Prato,  detta  Gualdimari,  una  bella  e comoda  casa  in  Prato,  döve  tengo  il 
fattore  generale,  un  fitto  annuale  di  staia  116  di  grano  da’ frati  delle  Sacca, 
i beni  compri  dalla  mansione  dell’  Altopascio  per  cinque  mila  scudi  e 
altri  fitti  e terre  spezzate,  come  potete  vedere  per  un  libro  in  cartapecora 
con  coperte  rosse  ed  uno  nero  in  foglio  ed  altri,  dove  sono  (oltre  a molti 
particolari,  come  testamenti,  patenti,  memorie  e altro  appartenenti  a’mie 
passati)  tutti  i contratti,  conventioni  e compre  fatte  da  Michelagniolo  mio 
padre  e da  me  in  particolare,  quai  beni  non  mancano  di  bestiame,  pre- 
stite  e ogni  altra  cosa  necessaria,  si  come  le  case  piene  di  mobili,  ma 

63)  Lacuna  di  una  parola  nel  testo. 

64)  Guasti,  La  villa  Bandinelli  a Pizzidimonte.  Lettera  al  prof. 
Antonio  Marini,  nel  Calendario  Pratese,  1828. 


II  memoriäle  di  Baccio  Bandinelli. 


439 


in  particolare  quella  di  Firenze  cosi  ripiena  che,  se  computerete  i quadri, 
le  statue,  la  Sconficcatione  che  io  tanto  stimo,  il  Nicchio  d’  oro  e pietre 
donatomi  da  Carlo  Quinto,  alcuni  vasi  d’  agate  e ametisti,  quali  giä  furno 
del  Maco  Piero  e restati  in  mano  a Michelagniolo  mio  padre  per  un 
credito  che  aveva  seco  di  800  ducati,  et  altri  a me  stati  donati  con 
1’  argenterie  et  altri  mobili,  in  parte  fatti  venire  di  Francia  per  via  del 
Sigre  Girolamo  Bandinelli,  con  quattro  muli  e tre  cavalli  in  non  poco 
prezzo,  troverete  ascendere  il  tutto  a piü  di  5000  ducati.  Io  ho  cercato 
di  legarvi  al  possibile  con  fidecommissi,  acciö  non  sia  nel  potere  vostro 
dissipare  le  mie  fatiche,  come  potete  vedere  dal  testamento  doppo  la 
morte  mia,  la  quäle  sia  rimessa  nelle  mani  della  Infinita  sapientia:  ma 
conosco,  figlioli  miei,  con  l’esempio  di  tante  altre  case,  che,  se  da  voi 
stessi  non  vi  legate,  non  ü cosa  al  mondo  che  vi  possa  ritenere  dal 
precipitio. 

Di  molti  figlioli  che  ho  auto,  alchuni  mi  sono  morti,  ne’  quali 
avevo  grandissima  speranza,  ed  in  particolare  di  Clemente,  il  quäle, 
ancora  che  fussi  naturale  et  aquistato  fuora  di  una  legittima  intemperanza, 
onde  posso  dire  col  Profeta:  »Delictos  juventutis  mee  et  ignorantias 

meas  ne  memineris,  Domine«  era  per  riuscire  di  gran  valore;  ma,  quando 
io  mi  ricordo  della  morte  di  Alessandro,  le  lagrime  mi  vengono  ägli  occhi, 
nü  me  lo  posso  levare  dal  cuore:  era  questo  fanciullo  dotato  di  tanta 
bellezza,  che  mi  ebbe  a dire  piü  volte  la  signora  Duchessa  non  avere 
veduto  un  simile,  e,  quando  fu  alla  mia  villa  di  Fiesoie,  lo  volle  sempre 
da  sü  e piü  volte  lo  baciö;  perche,  oltre  essere  bello,  era  ancora  gratioso 
et  avendoli  fatto  insegniare  tutto  quello  che  poteva  comportare  1’  etä,  col 
favore  di  Monsre  Revmo  di  Mantova,  lo  mandai  per  paggio  al  Sigre  Duca 
Guglielmo,  raccomandato  ancora  dalla  Sigra  Duchessa.  Stette  quivi  dua 
anni,  attendendo  ad  imparare  e ben  servire,  tanto  amato  da  quella  corte, 
che  piü  non  si  poteva  desiderare,  quando  Atropo  maligna,  troncando  con 
febbre  acuta  il  filo  della  sua  vita,  la  tolse  a lui,  ed  a’  suoi  genitori  la 
concetta  speranza:  dolse  a tutta  quella  cittä  e Corte  a meraviglia.  Che 
egli  fussi  amato  da  quei  principi  vedesi  non  solo  da  una  lettera  del  Sigre 
Duca  appresso  di  me,  ma  da  un  madrigale,  fatto,  mentre  Alessandro  era 
infermo,  dal  Sigre  Don  Luigi  Gonzaga  che  allora  si  ritrovava  in  Mantova, 
mandatomi  dal  Maro  de’  Paggi,  di  questo  tenore: 

Parca,  deh!,  di’  che  fai? 

A che  cerchi  eclissare 
D’ Alessandro  gentil  gli  umili  rai? 

Deh,  perchü  vuoi  turbare 
Con  si  maligno  ardore 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


30 


440 


Arduino  Colasanti: 


Ove  han  seggio  le  gratie  e Dio  d’  Amore? 

Sarä  dunque  trofeo.  sarä  tuo  vanto 

Di  torre  a Flora  un  giglio,  a Rosa  un  manto? 

Ebbe  male  quindici  giorni;  fu  sotterrato  in  So  Francescho  di  Man- 
tova con  tanto  nostro  dolore  che  la  madre  ne  fu  per  uscire  dal  sentimento. 
Fra  gli  altri  che  restarono  se’  tu,  Cesare,  al  quäle,  come  maggiore,  ho 
voluto  fare  scrivere  queste  memorie,  acciö  le  tenga  bene  a mente.  Ricor- 
dati  che,  dopo  averti  fatto  ammaestrare  nelle  scienze  degne  di  gentilomo, 
ti  ho  insegniato  io  proprio  tanto  della  geometria,  prospettiva  e disegno 
che  nelle  misure,  nelle  divisione,  ne’  numeri,  nelle  proportioni  e levare 
le  piante  hai  pochi  che  ti  pareggino;  conosco  che  sei  di  bello  ingegnio, 
ma  nello  spendere,  se  non  fussi  il  timore  che  hai  di  me,  poco  conside- 
rato.  Veggo  Giulio  avere  molto  studiato,  ma  dalli  studi  avere  tratta  una 
grande  intemperanza  nel  gettare  via,  di  Michelagniolo  non  ho  che  dire, 
essendo  cosi  piccolo,  e mi  piace  crederne  ogni  bene.  Pregovi  adunque 
di  essere  accorti,  nö  vi  paia  di  stare  sopra  di  cavallo  cosi  grosso  che,  per 
imprudenza  vostra,  non  si  possa  trasformare  in  quello  di  Seiano,  e vogliate 
ricordarvi,  come  giä  vi  ho  detto,  dell’  esempio  di  alcuno  de’  passati 
vostri  e in  particolare  del  senatore  Cavaliere  Francescho,  1’  uve  agreste 
del  quäle,  cioö  la  superfluitä  delle  spese,  avendo  in  un  solo  banchetto, 
quando  prese  1'  ordine,  a corte  bandita  posto  de  dieci  a dodici  mila 
taglieri  in  tavola  e dato  mangiare  fra  questo  e altri,  oltre  a’  forastieri, 
quasi  a tutta  la  cittä  di  Siena,  onde  si  allegorno  i denti  a’  suoi  figlioli 
e a noi  altri.  Cosi  di  Viviano  vostro  bisavolo,  il  quäle,  come  soleva  dire 
mio  padre,  et  io  dico  piü  di  lui,  col  mandare  male,  con  lo  stare  in  villa, 
col  secondo  parentado,  con  1’  odiare  tutti  i Bandinelli,  col  darsi  in  preda 
a’  Cecherini,  parenti  suoi  materni,  fu  la  rovina  e spiantamento  della  casa 
nostra,  onde  io  fui  forzäto  fare  aggiungere  in  margine  al  libro  delle 
decime  quanto  mi  pareva  a tale  effetto  necessario;  ö bene  vero  che  nella 
morte  ne  moströ  un  terribile  pentimento;  havendo,  come  si  ö detto,  cercato 
di  farvi  riacquistare  il  tutto,  cosi  con  la  ricognitione  de’  nostri  Bandi- 
nelli di  Siena  coli’  autentica,  come  per  le  provanze  di  nobiltä,  cavalierato 
illustre  e altri  nobilissimi  gradi  di  presidentie,  capitanati  etc.,  solo  ba- 
stanti  a dichiararvi  nobili,  e,  se  piacerä  a Dio  che  io  viva,  ne  accrescerö 
delli  altri  senatorii  e titolari. 

Vi  ho  ridotto  a memoria  tutto  questo,  figlioli  miei  carissimi,  ossa 
dell’  ossa  mie  e scopo  di  ogni  mia  fatica  acciö  siate  prudenti,  temiate  e 
amiate  Dio,  obbedendo  a’  suoi  precetti,  ricorriate  per  la  intercessione  alla 
Vergine  Santissima  et  abbiate  per  particolari  avvocati  So  Giovambatista 
protettore  della  cittä  nostra  e S.  Caterina  da  Siena,  avvertendovi  che  da 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


441 


Francescho  di  Bandinello,  dal  cav.  Francescho,  dal  cav.  Sozzo  etc.,  nostro 
antenato  e primo  capo  del  nostro  ramo  di  Firenze,  ö sempre  stato  solito 
ed  inviolabilmente  osservato  di  padre  in  figliolo  che  la  vigilia  di  detta 
Sa  Caterina,  in  memoria  della  antica  et  amatissima  patria  nostra  Siena, 
tutta  la  casa  digiuni  in  pane  et  acqua,  e cosi  vi  comando  di  osservare, 
ricordandovi  di  obbedire  a’  precetti  del  padre  vostro  come  nell’  antica 
legge  obbedirno  i Recabiti  a quelli  del  padre  loro;  e,  se  venissi  presto 
a morte,  non  trasgredite  quelli  della  prudente  madre  vostra,  acciö  non 
vi  sommergiate  in  quello  naufragio,  ove  tanti,  per  giusto  giudizio  di  Dio, 
periscono,  ne  dovete  insuperbirvi  delle  ricchezze,  perchö  sono  beni  di 
fortuna,  che  vanno  e vengono,  e che  se  il  figliolo  di  Perseo,  re  di  Mace- 
donia,  doppo  la  vittoria  di  Emilio,  si  ridusse  in  Roma  a guadagniare  il  pane 
sotto  un  notaio,  come  nota  Ammiano  Marcellino,  et  i figlioli  di  Giugurta, 
re  di  Numidia,  vinto  da  Silla,  mendicörno  il  pane,  che  puö  succedere 
a voi,  a paralello  numero  ed  ombra?  Dio  ve  ne  guardi,  figlioli  miei. 

Io,  figlioli  miei,  averei  voluto  che  tutti  attendessi  al  disegno,  perchö 
t necessario  a quäle  si  voglia  professione,  ed  uno  solo  alla  scultura,  quello 
che  avessi  veduto  dalla  natura  inclinato,  che  perö  feci  bonissima  elezione 
di  Clemente,  perchö,  avendo  fatto  di  bonissimi  suggetti  stranieri,  tanto 
piü  averei  avuto  caro  che  uno  di  voi  avessi  seguito  i miei  vestigij, 
ma,  morto  Clemente  e doppo  Scipione,  tu,  Cesare,  ci  sei  stato  poco  in- 
clinato, Alessandro  andö  a servile  e Giulio  ho  voluto  che  attenda  alli 
studi,  avendolo  perciö  mandato  all’  Universitä  di  Parigi,  dove  stette  ancora 
fra’  Leone.  Ve  lo  tenni  tre  anni  e piü  ve  1’  averei  tenuto,  ma  perchö 
faceva  del  principe  e spendeva  piü  che  non  erano  le  forze  mia,  fui  for- 
zato  a farlo  richiamare,  acciö  finisca  i suoi  studi  od  in  Pisa,  Bologna  o 
Padova,  che  rimetto  in  sua  electione.  Pigli  il  grado  del  dottorato  ed 
attenda  alla  prelatura,  non  vedendo  mezzo  piü  efficace  a pervenire  che 
il  mezzo  delle  lettere  o delle  armi,  non  essendo  1’  arti  abili  a questo  se 
non  dove  ö qualche  grado  d’  eccellentia  e principi  che  se  ne  dilettino, 
come,  fra  gli  altri,  ha  fatto  e fa  1’  eccellentissimo  Sigre  Duca  Cosimo 
nostro,  dal  quäle  sono  stato  sempre  amato,  stimato  e continovamente  bene 
provvisionato  infino  alla  somma  di  ducati  300  1’  anno;  col  quäle  ho 
sempre  trattato  e scritto  con  tanta  famigliaritä,  come  se  non  fussi  stato 
mio  principe  e sigre,  al  quäle  prego  Dio  che  conceda  ogni  maggiore  feli- 
citä,  perchö  ö principe  che  in  questo  secolo  per  tante  parti  rarissimo, 
che  non  ha  alcuno  paragone  e forse  non  1’  averä  per  molti  secoli;  al 
quäle  si  accompagnia  la  Sigra  Duchessa  che  amo  e riverisco  con  tutto 
il  quore;  e veramente  che  da  lei  e dal  suo  padre  eccellentissimo  e tutta 
la  casa  Tolledo  sono  stato  sempre  favorito,  avendomi  per  mezzo  spa- 
gniolo  e per  piü  che  cosa  loro.  Se  piacessi  a Dio  di  tirarmi  presto  a sö, 


30 


442 


Arduino  Colasanti: 


in  ogni  vostro  bisognio  ricorrete  alla  loro  clemenza  e patrocinio,  come 
da  Francesco  di  Bandinello  in  qua  hanno  sempre  fatto  tutti  i nostri,  con 
ridurli  a memoria  la  mia  lunga  servitü,  e quanto  abbi  auto  sempre  a 
quore  la  fama  di  esso  Sigre  Duca,  essendo  stato  il  primo  che  sotto  la 
sua  testa,  collocata  sopra  la  porta  della  mia  casa  in  via  de’  Ginori,  abbi 
messo  il  titolo  di  Magnio,  perch£  £ veramente  e sarä  sempre.  Vi  racco- 
mando  ancora  Michelagniolo,  mio  ultimo  figliolo,  che  apena  e uscito 
dalle  fasce,  che  lo  facciate  istruire  nelle  arti  liberali  e col  tempo  lo  indi- 
riziate  ove  vedrete  che  abbi  1’  inclinazione,  e sopra  tutto  avvezzatelo  nel 
timore  de  Dio,  senza  il  quäle  non  £ possibile  fare  cosa  buona. 

Quanto  alle  mia  figliole  femmine  e vostre  sorelle,  vi  prego  e scon- 
giuro  a tenerne  conto  come  pupille  degli  occhi  vostri,  e,  sopra  tutto, 
nel  prenderne  partito,  dato  che  mi  morissi  avanti  fussero  allogate,  di  non 
violentarle  da  quello  che  le  chiama  Dio  e la  loro  inclinatione,  come  ho 
fatto  della  Lucretia,  la  quäle,  essendo  molto  bella  et  avendo  partiti  princi- 
pali  de’  Martelli  e Pandolfini,  vedendo  esser  disposta  farsi  monaca,  la 
volli  contentare  e farla  in  S°  Vincentio  di  Prato,  dove  era  Sigra  Piera 
mia  zia,  donna  di  gran  santitä  e non  mediocre  lettere.  A quelle  che  si 
vorranno  maritare  lascerö  dota  competente,  e se  alle  qualitä  de’  tempi  e 
de’  partiti  non  bastassi,  supplite  voi  con  la  parsimonia  delle  entrate  e in 
tutti  quelli  migliori  modi  che  vi  parrä  a proposito,  rimettendomi  in  ciö 
alla  vostra  prudentia  e discretione.  Se  vorranno  servire  a Dio  proccurate 
di  metterle  in  conventi  che  non  abbino  a mendicare  il  pane.  Volendo 
maritarsi,  proccurate  di  darle  a nobili  pari  vostri,  perch£  nella  nobiltä  6 
naturalmente  insita  la  virtü,  la  quäle  impedisce  a fare  atti  indegni  del- 
l’essere  loro,  e quando  ne  maritassi  una  a qualche  nobile  sanese,  non  mi 
dispiacerebbe,  n£,  credo,  ancora  a’  signori  Bandinelli  di  Siena,  per  conti- 
novare  la  memoria  della  patria  antica;  e crediatemi,  che,  se  il  Sigre  Duca 
mi  avessi  fatto  e facessi  (come  gli  ho  chiesto  e voi  potrete  Vedere  per 
la  copia  di  alcune  lettere  scritte  a Sua  Eccellentia)  Senatore  di  Siena, 
non  so  se  io  tornassi  a rimpatriarmi;  pregandovi  e con  lettere  e con  visite 
e con  ogni  possibile  dimostratione  cerchiate  mantenervi  i suddetti  sigri 
cosi  di  Siena  come«  di  Tolosa,  perch£  non  potrete  se  non  acquistare,  e, 
come  io,  potresti  ancora  averne  di  bisogno. 


Memoria  XII. 

Se  avanti  alla  morte  mia  (la  quäle  sia  rimessa  nella  bontä  infinita, 
la  quäle  per  il  Sangue  sparso  non  voglia  riguardare  a’  commessi  errori  di 
me  misero  peccatore,  ma  per  sua  pietä  voglia  condurmi  alla  eletta  patria 
de’  viventi)  non  avessi  dato  fine  d’  ornare  la  capella  nostra  della  Sma  Non- 


II  memoriale  di  Baccio  Bandinelli. 


443 


tiata,  quäle  era  giä  della  nobile  famiglia  de’  Pazzi,65)  vi  prego  e comando 
di  tirarla  a fine  col  mettere  sopra  1’  altare  la  Pietä,  fatta  a quest’  effetto 
nell’  Opera,  e collocare  da  man  dritta  il  bellissimo  S.  Giovanni  che  per 
questo  ho  condotto  in  casa  mia,  e da  mano  manca  S.  Caterina  da  Siena, 
che  sarä  con  la  Pietä  finita  in  breve,  ornandola  con  le  mie  armi  e con 
quella  inscritione  che  piü  vi  piacerä,  non  avendo  il  maggiore  desiderio 
che  di  finirla  avanti  al  fine  mio,  ma  sia  rimesso  il  tutto  nel  Signore, 
quäle  (si  come  in  terra  io  vi  benedico)  vi  dia  la  Sua  beneditione  in  cielo 
e nella  stessa  terra,  accio,  vivendo  bene  et  operando  da  nobilmente  nati, 
viviate  lungamente  felici  e nel  cielo  co’  padri  vostri  nel  secolo  de’  secoli. 

65)  Circa  1’  epoca  in  cui  il  Bandinelli  entrö  in  possesso  della  cappella  nella  chiesa  del 
1’ Annunziata,  abbiamo  una  lettera  del  28  febbraio  1558  in  cui  Lelio  Borelli  scriveva  al 
duca  Cosimo  che  Baccio  desiderava  togliere  da  quella  chiesa  la  sepoltura  di  un  soldato 
morto  in  duello,  per  collocarvi  il  suo  gruppo  della  Pieta  (Gaye,  Carteggio  ine- 
dito,  III,  14).  Ma  la  convenzione  con  i frati  del!’  Annunziata  fu  stipulata  regolarmente 
solo  il  2 maggio  dell’ anno  seguente  (Gaye,  op.  cit.  II,  283 — 84). 


Unbekannte  Fresken  des  Paolo  Veronese. 

Mitteilungen  zum  Kapitel  »Venezianische  Freskomalerei« 

von  Bernhard  Patzak. 

Nicht  weit  ab  vom  Terraglio,  jener  prächtigen,  mit  venezianischen 
Patriziervillen  besetzten,  von  Treviso  nach  Mestre  führenden  Heerstraße, 
liegt  das  Dörfchen  Zerman,  dessen  Kirchlein  noch  heute  einen  trefflichen 
Palma  Vecchio  besitzt. 

In  diesem  stillen,  weltabgeschiedenen  Flecken  schmückte  Paolo 
Veronese  die  Fassade  und  das  Innere  der  Villa  da  Riva,  welche  dem 
großen  Künstler  eine  Zeitlang  Zuflucht  und  Obdach  vor  gerichtlichen 
Verfolgungen  geboten  haben  soll.1)  Diese  heute  der  Familie  Giuliani 
gehörige  Villa  war  nach  Pietro  Caliaris  Mitteilung  a)  früher  viel  statt- 
licher und  erhob  sich  in  einem  Haine  uralter  Bäume,  der  eine  Zierde 
der  Gegend  war. 

Die  bauliche  Anlage  war  weitläuftiger  als  jetzt  Das  Casino  wurde 
von  zwei  Flügelbauten  (sogenannten  barchesse)  flankiert,  die  reich  mit 
Stuckornamenten  und  gemalten  Wandfeldern  dekoriert  gewesen  sein 
sollen.  Hinter  dem  Herrenhause  zogen  sich  schattendunkle  Buchenalleen 
hin,  deren  Gezweig  sich  zu  Laubgängen  wölbte.  Keine  Spur  von  diesem 
berühmten  Park  ist  mehr  vorhanden.  Die  malerischen,  hundertjährigen 
Baumriesen  sind  niedergeschlagen  und  als  Nutz-  oder  Brennholz  verkauft 
worden.  Auch  das  Casino  wurde  im  Laufe  der  Zeit  geschmacklos 
modernisiert. 

Doch  hat  man  glücklicherweise  an  der  Vorderfassade  einige  be- 
deutende Freskenreste  verschont.  Nicht  allzu  lange  dürfte  es  allerdings 
währen  und  auch  die  letzten  Spuren  dieser  gewiß  ehemals  prachtvollen 
Gemälde  werden  durch  Witterungseinflüsse  ausgelöscht  sein.  Lorenzo 
Crico,  der  die  Bilder  noch  in  unversehrtem  Zustande  gesehen  hat,  äußert 
sich  über  sie  folgendermaßen: 3) 


0 Lettere  sulle  belle  arti  Trivigiane  del  Canonico  Lorenzo  Crico.  Treviso  MDCCC 
XXXIII  Seite  170.  Lettera  XIV. 

a)  Paolo  Veronese,  sua  vita  e sue  opere,  studi  storico-estetici  di  Pietro  Caliari. 
Roma  1888.  Seite  148. 

3)  op.  cit.  Seite  171. 


Bernhard  Patzak:  Unbekannte  Fresken  des  Paolo  Veronese. 


445 


»Sehr  schön  sind  die  architektonischen  Ornamente  in  Chiaroscuro- 
manier,  gelb  in  gelb;  und  in  zwei  großen  Wandfeldern,  die  naturgemäß 
zwischen  den  Säulen  der  Hauptordnung  entstehen,  malte  Caliari  zwei 
schöne  Vorgänge  mit  Figuren  in  natürlicher  Größe  und  Farbe,  die  auf 
die  köstlichsten  Vergnügungen  des  Landlebens  anspielen  . . . « 

Von  der  Säulenarchitektur,  welche  also  diese  Darstellungen  um- 
rahmte, ist  heute  nichts  mehr  zu  erblicken.  Sie  steckt  jedenfalls  unter 
der  dicken  Übermalung.  Die  beiden  von  Crico  erwähnten  Bilder  dagegen 
sind  leidlich  erhalten. 

Auf  dem  linken  Wandfelde  sieht  man  zwei  liebliche  Frauen  in  falten- 
reicher Gewandung  sich  umarmen.  Vielleicht  haben  wir  in  dieser  Darstellung 
die  biblische  Szene  der  Begegnung  Mariens  mit  Elisabeth  zu  erkennen. 

Auf  dem  andern  Fresko  erblickt  man  einen  von  einem  weißen, 
faltigen  Mantel  umwallten  Patrizier  in  etwas  gebeugter  Haltung,  als  ob 
er  eine  Treppe  heraufsteige.  Eine  liebreizende,  junge  Frau,  die  auf  einem 
Sessel  sitzt  und  eine  Spindel  zwischen  den  zarten  Fingern  dreht,  scheint 
ihn  zu  erwarten.  Es  handelt  sich  also  hier  offenbar  um  die  »Heimkehr 
des  Gatten«.  In  der  männlichen  Gestalt  soll  sich  Paolo  selbst  porträtiert 
haben.  Den  Hintergrund  bildet  wie  auf  dem  andern  Gemälde  eine  Land- 
schaft mit  einer  hochragenden,  das  Bild  durchschneidenden  Säulenarchi- 
tektur im  Mittelgründe. 

Beide  Fresken  zeigen  deutlich  Paolos  Eigenart  bezüglich  seiner 
Kompositionsweise.  Die  Gestalten  sind  weit  in  den  Vordergrund  gerückt 
und  heben  sich  als  malerische  Silhouetten  scharf  vom  Himmel  ab,  in  den 
sie,  den  tief  genommenen  Horizont  überschneidend,  in  monumentaler  Größe 
hineinragen.  Auf  dem  Bilde  der  Begegnung  der  beiden  Frauen  sind  die 
Figuren  zwanglos  in  das  ideelle  Liniengefüge  eines  gleichschenkligen 
Dreiecks  hinein  komponiert. 

Auf  dem  Fresko  »Die  Heimkehr«  wird  die  Bewegung  des  An- 
kömmlings in  der  Diagonale  zu  der  tiefer  angeordneten,  die  Ruhe  ver- 
körpernden Frauengestalt  hingeleitet.  Die  auf  beiden  Gemälden  sicht- 
baren Architekturen  haben  die  Funktion  von  Kulissen,  die  den  Blick 
in  die  Tiefe  lenken,  also  die  Tiefenvorstellung  erwecken  sollen.  Unter 
der  modernen,  bossagenartigen  Bemalung  des  Erdgeschosses  schimmern 
jetzt  wieder  zwei  allegorische  Frauengestalten  hervor.  Also  ist  auch 
diese  Wandfläche  mit  Figuren  bemalt  gewesen.  Ein  Blick  auf  die  drei 
zwischen  den  Luken  des  Mezzaninstockes  befindlichen  Wandfelder  be- 
lehrt einen  sofort,  daß  sie  mit  reizenden  Putten  dekoriert  waren.  Am 
mittleren  Wandfelde  sind  noch  ganz  deutlich  zwei  dieser  Flügelknaben 
zu  erkennen,  die,  einen  Fuß  auf  einen  Volutengiebel  stützend,  das  Wappen- 
schild des  ehemaligen  Villenbesitzers  halten. 


446 


Bernhard  Patzak: 


Die  früher  jedenfalls  sehr  wertvollen  Fresken  des  mittleren  Saales 
im  ersten  Stockwerk  sind  leider  in  geradezu  barbarischer  Weise  dick 
übermalt  worden.  Doch  die  schwungvollen  Konturen  verraten  sich  unter 
dem  Leichentuch  der  Tünche. 

Der  Plafond  zeigt  einen  Putto  mit  Libellenflügeln,  darüber  eine 
klora  mit  Blumenkörbchen,  die  von  blütenstreuenden  Engeln  umringt  ist. 
Fingierte  Bronzebüsten  »a  chiaroscuro«  zieren  die  Türgiebel.  Auf  den 
von  einer  Scheinarchitektur  umrahmten  Wandflächen  erblickt  man  drollige 
Kinderszenen,  so:  ein  Mädchen,  das  mit  einem  kläffenden  Hunde  über 
die  Brücke  eines  malerischen  Wiesenbaches  schreitet  Daneben  ist  ein 
Bauernhof  abgebildet,  auf  dem  Kinder  am  Ziehbrunnen  spielen.  Ein 
Hahn  sieht  dem  muntern  Treiben,  auf  dem  Zaune  sitzend,  zu  und  kräht. 
Auf  einem  andern  Bildchen  reiten  Kinder  auf  einem  Schweine,  dem  sie 
ein  weißes  Tuch  als  Sattel  übergelegt  haben,  und  das  sie  mit  einem  an 
die  Ohren  geknüpften  Bande  zügeln.  Daneben  erblickt  man  ein  nacktes 
Kind,  das  mit  Schafen  spielt.  Auf  der  gegenüberliegenden  Wand  lehrt 
ein  Alter  einem  Putto  Lautenspiel  und  Gesang.  Das  Notenblatt  ist  an 
einem  Baumast  festgespießt.  Hier  zanken  sich  zwei  Knaben  an  einem 
Brunnen.  Dort  führen  Kinder  um  eine  bekränzte  Bacchusherme  einen 
übermütigen  Reigentanz  auf,  während  andere,  vom  Weine  trunken,  am 
Boden  liegen.  Daneben  kämmen  Kinder  einen  Hund.  Leider  sind  all 
diese  heiteren  Szenen  aus  der  Kinderwelt,  die  gewiß  früher  wahre  Kabinett- 
stücke paolesken  Humors  waren,  mit  sehr  pastosem  und  grellem  Farben- 
auftrag überklext.  Das  genannte  Bildchen,  welches  das  muntere  Treiben 
der  Kleinen  auf  dem  Hühnerhofe  darstellt,  zeigt  Paolos  Hand  auch  am 
ursprünglichsten. 

Die  übrigen  Zimmer  der  Villa  sind  weiß  getüncht.  Sie  scheinen 
aber  ebenfalls  ausgemalt  gewesen  zu  sein;  denn  ein  im  städtischen 
Museum  zu  Treviso  befindliches  Freskenfragment,  eine  anmutige  Lauten- 
spielerin, stammt,  wie  mir  der  Direktor  der  Pinakothek  mitteilte,  aus  der 
Villa  da  Riva.  — 

Paolo  Veronese  hat  außerdem  noch  an  der  Fassade  der  Pfarrkirche 
und  an  zwei  Wegkapellen  des  genannten  Dörfchens  reizvolle  Spuren 
seiner  Tätigkeit  hinterlassen.  So  entdeckte  ich  auf  der  äußeren  Sopra- 
porte der  Dorfkirche  eine  interessante  heilige  Helena. 

Die  mit  faltenreicher  Gewandung  bekleidete  Heilige  scheint  aus 
einer  Architekturnische  herauszutreten,  die  ein  von  Pilastern  getragenes 
Giebelgebälk  durchschneidet.  Das  von  Helena  gehaltene  Kreuz  über- 
schneidet die  Archivolte  der  Nische.  Der  trefflich  beobachtete  Schlag- 
schatten der  Gestalt  läßt  sie  in  plastischer  Rundung  erscheinen. 

Im  Innern  der  hinter  der  Kirche  stehenden  Wegkapelle  wird  unter 


Unbekannte  Fresken  des  Paolo  Veronese. 


447 


der  starken  Übermalung  der  Umriß  einer  Pietä  sichtbar,  die  sicher  von 
Paolo  herrührt. 

Die  am  Eingänge  des  Dorfes  gelegene  »Cappella  del  Capite'llo« 
dagegen  zeigt  besser  erhaltene  Freskenreste  von  Veroneses  Hand.  An  der 
Hinterwand  erblickt  man  im  vertieften  Felde  eines  Blendbogens  den  Ge- 
kreuzigten, zu  seinen  Füßen  Maria  und  Johannes.  Die  Heilandsgestalt 
erinnert  sehr  an  Paolos  bekanntes  Altarbild  in  San  Sebastiano  in  Venedig. 
In  die  Bogenzwickel  der  Kapellenrückwand  hat  der  Künstler  zwei  präch- 
tige, bärtige  Prophetengestalten  hineinkomponiert.  Sie  sind  sitzend  dar- 
gestellt, stützen  den  einen  Arm  auf  die  Bogenarchitektur  und  rollen  mit 
der  andern  Hand  Pergamentstreifen  auseinander,  auf  denen  sie  lesen. 
Auch  diese  beiden  Figuren  sind  gute  Beispiele  für  das  Problem  der  »Über- 
schneidung« : Köpfe  und  Arme  ragen  über  die  gemalte  Architektur  hinaus. 
Das  bekrönende,  vertiefte  Giebelfeld  schmückt  ein  von  Wolken  umgebenes 
Brustbild  Gottvaters,  der  die  Hände  segnend  ausbreitet. 

Die  eine  Seitenwand  der  Kapelle  zeigt  einen  heiligen  Sebastian  in 
prächtigem,  weichgerundetem  nackten  Akt  und  einen  heiligen  Bischof, 
dessen  Attribute  ich  nicht  bestimmen  konnte.  Die  der  Wetterseite  zu- 
gekehrten Fresken  sind  bis  auf  zwei  schöne  Mönchsköpfe  gänzlich  ver- 
blichen. 

Das  Innere  der  Kapelle  war,  wie  mir  zwei  dick  übermalte  Domini- 
kanergestalten nahelegten,  ebenfalls  von  Paolo  mit  Freskenschmuck  versehen. 

Alle  diese  Freskenreste  sind  bezüglich  ihrer  Stilqualitäten  verwandt 
mit  den  Innendekorationen  der  Villa  »Da  Mula«  in  Romanziol,  die  ich 
jüngst  an  anderer  Stelle  eingehend  besprochen  habe,  und  die,  wie  ich 
glaube,  um  1574  entstanden  sind. 4)  Die  Fresken  in  Zerman  sind  zwar 
nicht  mit  Paolos  schönheitstrunkenen  Schöpfungen  in  der  Villa  Fanzolo 
und  Mas£r  zu  vergleichen.  Doch  sind  sie  reizvoll  und  bedeutsam  genug, 
anziehende  Züge  zu  dem  Schaffensbilde  des  Freskomalers  Veronese  zu 
liefern  und  damit  auch  wertvolle  Ergänzungen  zu  dem  kärglich  bedachten 
Kapitel  über  »venezianische  Freskomalerei«  darzubieten. 

4)  Vgl.  »Die  christliche  Kunst«,  München  1905.  Jahrg.  II.  Heft  1.  Seite  10 — 22 
und  Heft  2 Seite  14 — 18. 


Archivalisches  zur 

fränkisch  - schwäbischen  Kunstgeschichte : 

I.  Eichstädter  und  öttinger  Meister  in  Kloster  Heidenheim. 

II.  Peter  Strauß  und  Sebastian  Dayg  in  Kloster  Heilsbronn. 

Von  Alb.  Gümbel. 

I. 

Dicht  an  der  Grenzscheide  des  fränkischen  und  schwäbischen 
Stammesgebietes,  jedoch  schon  auf  schwäbischem  Boden,  gründete  im 
Jahre  748  der  erste  Bischof  des  kurz  vorher  errichteten  Bistums  Eichstädt, 
der  hl.  Willibald,  das  Benediktinerkloster  Heidenheim  und  setzte  zu  dessen 
erstem  Abt  seinen  Bruder,  den  hl.  Wunibald,  ein.  Zwölf  Jahre  später 
entstand  hier  auch  ein  Nonnenkloster,  dessen  erste  Vorsteherin  die 
Schwester  des  Bischofs,  Walburgis,  war,  deren  Gebeine  später  durch 
Bischof  Odgar  von  Eichstädt  von  hier  nach  seinem  bischöflichen  Sitze 
überführt  wurden.  Einem  allgemeinen  Zuge  der  Zeit  folgend,  verwandelte 
sich  das  Mönchskloster  schon  sehr  bald  in  ein  Chorherrenstift,  mußte 
aber  um  1155  trotz  heftigen  Widerstandes  die  Regel  des  hl.  Benedikt 
wieder  annehmen.  Von  der  Blüte  des  Klosters  und  dem  Bausinn  der 
Äbte  geben  uns  noch  heute  die  eindrucksvoll  am  Südrande  'des  Hahnen- 
kammes auf  welligem  Gelände  gelagerten,  die  Stadt  überragenden  Bau- 
lichkeiten des  Klosters,  dann  deren  Kirche  mit  schönem  Chor  eine  ein- 
dringliche Vorstellung;  den  Schmuck  der  Altäre  im  Innern  der  Kirche 
hat  freilich  leider  eine  vor  etwa  40  Jahren  vorgenommene  Restaurierung 
allzu  gründlich  beseitigt;  von  Schnitzereien  und  Gemälden  ist  nichts 
mehr  erhalten,  nur  einige  steinerne  Grabdenkmäler  von  Mitgliedern  der 
Familie  der  alten  Klostervögte,  der  Grafen  von  Hohentrüdingen,  dann  die 
Grabdenkmäler  des  hl.  Wunnibald  und  der  hl.  Walburgis  aus  dem  Jahre 
1483  und  1484  und  einiger  Äbte:  Wilhelms  von  Vestenberg  (reg.  1428  bis 
1445),  Eberhard  Mülfingers  (1446 — 1482)  und  eines  älteren  Albrecht 
(c.  1418 — 1427)1),  dann  das  Denkmal  einer  Agnes  von  Treuchtlingen (71349) 

')  Die  Geschichte  des  Klosters  liegt  bisher  noch  ziemlich  im  argen;  die  ange- 
führten Regierungszahlen  ergeben  sich  auf  Grund  von  Urkunden  und  einzelnen  Akten- 
stücken; die  Mitteilungen  über  die  in  der  Kirche  noch  vorhandenen  Grabmäler  verdanke 


Alb.  Gümbel:  Archivalisches  zur  fränkisch-schwäbischen  Kunstgeschichte. 


449 


sind  noch  vorhanden.  Nachfolger  der  Grafen  von  Hohentrüdingen  in 
der  Yogteiherrschaft  waren  die  Burggrafen  von  Nürnberg  bezw.  die  Mark- 
grafen von  Ansbach,  welche  im  Jahre  1537  das  Kloster  säkularisierten. 

Unter  den  heute  im  k.  Kreisarchiv  Nürnberg  verwahrten  Archiva- 
lien des  Klosters  befinden  sich  nun  eine  Reihe  von  Rechnungsbüchern 
der  Abtei  Heidenheim,  welche  uns  über  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
des  stillen  Benediktinersitzes  im  15.  und  16.  Jahrhundert  getreuen  Auf- 
schluß bieten  und  auch  durch  einzelne  Notizen  für  den  Kunsthistoriker 
wertvoll  erscheinen.  Von  den  Einträgen  dieser  letzteren  Art  soll  hier 
die  Rede  sein.  Sie  entstammen  den  Einnahme  und  Ausgabebüchern  aus 
der  Zeit  der  oben  genannten  Äbte  Wilhelm  und  Eberhard  (c.  1428  bis 
1482)  dann  Peter  Hagen  (1482  — 1503)  und  Christoph  (1503  — 1528). 

Nachstehend  seien  diese  zerstreuten,  teilweise  mit  starken  Abkür- 
zungen geschriebenen  Rechnungsposten,  soweit  sie  kunstgeschichtliches 
Interesse  bieten,  wiedergegeben. 

Ausgaberegister  der  Abtei  Heidenheim  (kgl.  Kr.  Arch. 
Nürnberg,  Ansbacher  Oberamtsakten  Nr.  707),  angefangen  im 
Jahre  1427.2) 

fol.  103a  (c.  1429).  Item  ich  hab  verliehen  maister  Jorigen, 
moler  von  Aystet,  die  tafelen  auf  Sand  Reychortz  alter  zu  machen 
umb  20  gülden. 

Item  und  von  4 pilden  an  das  gewelb3)  zu  machen  gib  ich  im 
10  gülden. 

Item  an  dem  allem  hab  ich  im  geben  6 gülden. 


ich  der  Freundlichkeit  des  dortigen  Herrn  prot.  Pfarrers  Rutz,  doch  bedürfen  die  Lesung 
der  Jahreszahl  auf  den  Grabmälern  der  Äbte  Albrecht  (1340)  und  Wilhelms  (1346) 
wohl  einer  Korrektur,  letztere  ist  wohl  bestimmt  1446  zu  lesen.  Die  Zahlen  1483  und 
1484  finden  sich  auf  einer  im  k.  Kreisarchive  Nürnberg  befindlichen  alten  Zeichnung 
der  Grabmäler  des  hl.  Willibald  und  der  hl.  Walburgis. 

*)  Zu  Eingang  des  Codex  findet  sich  die  Überschrift:  Anno  domini  M°  CCCCrao 
vicesimo  septimo  in  vigilia  sanctorum  apostolorum  Phylippi  Et  Jacobi  et  sancte  Wal- 
purgis factum  est  hoc  Registrum  et  continentur  in  eo  omnia  distributa  .et  omnes  expense 
tocius  domus  Abbacie  Heydenheim. 

3)  Dieses  »Gewölbe«  war  von  dem  Baum  ei  s ter  Hanns  Vischer  von  Weißen- 
burg — so  wird  seine  Heimat  an  anderer  Stelle  genannt  — 1429  erbaut  worden,  wie 
die  folgenden,  unter  der  Überschrift  »Was  alles  pawen  kostet«  zum  Jahre  1429  vorge- 
tragenen Rechnungsposten  erweisen: 

Item  maister  Hansen  Vischer  hon  ich  geheysen  von  einem  gewelb  zu  sand 
Richartzaltar  25  flor. 

Item  daran  hab  ich  im  3 flor.  geben  an  des  h.  creutzs  tag. 

Item  dedi  sibi  3 flor.  in  vigilia  assumptionis. 

Item  dedi  sibi  20  flor.  von  dem  gewelb  und  von  dem  venster  und  peleib  im 
noch  11  flor.  (Unten  wiederholt:  Item  ich  gib  maister  Hannsen  Vischer  von  einem 


45° 


Alb.  Gümbel: 


Einnahme-  und  Ausgaberegister  der  Kustorei  der  Abtei 
Heidenheini  (ebenda  Nr.  704),  angefangen  im  Jahre  1467. 
föl.  47  a4).  Nota  anno  domini  M°  CCCC°  LXXX°  primo. 

Item  ich  hab  gekauft  drei  kunig  und  ein  mariapild  von  dem  hafner 
Vogel  zu  Dietfurt5)  für  6 gülden  und  ist  gar  und  ganz  bezalt  und  den 
letzten  gülden  hab  ich  im  geben  in  foro  Pasche  anno  etc.  81  in  parva 
stuba,  quem  tulit  mihi  der  Gertner  de  Hohentruhdingen  vom  Rudolf 
Port.  (Am  Rande:  Est  pagatum  totum  81  in  die  Viti  martiris).* * * 4 5 6 7) 

Item  Lienhar[t],  maler  von  Ottingen,7)  hat  mir  gemalt  zwai  pild 
ad  s.  Katherinam,  daran  hat  er  5 tt.  in  cena  domini  81  in  parva  stuba 
presentibus  Behemo  et  aliis;  et  10  d[enarios]  dedi  servo,  qui  portavit. 
(Am  Rande:  Est  pagatum  totum  Viti  81) 

fol.  55a.  Debita  custodie  anno  domini  etc.  79. 

Item  obligor  cuidam  civi  de  Nurmberga,  nomine  Pawls  Hetzel, 
an  der  Vischgass  1 aureum  für  ein  stück  debichs.  Est  pagatus  per 
dominum  abbatem  in  capitulo  Nurmbergensi. 

Item  obligor  der  maierin  von  Ottingen  4 Ifc.  für  wachs,  direxi  sibi 
4 tt.  bei  einem  boten  von  Ottingen  in  vigilia  translacionis  Wunibaldi. 


gewelb  zu  Sant  Reychartz  alter  und  von  sand  Kathreyen  venster  31  gülden,  daran  hab 
ich  im  geben  20  gülden.) 

Item  dem  maister  Stenglen  von  Nordlingen  han  ich  an  dem  grabstein 
(für  Abt  Albrecht?)  geben  9 flor. 

Item  obligor  sibi  adhuc  2 flor.  er  ist  pezalt. 

4)  Ich  gebe  die  Einträge  nach  der  jetzigen  Seitenzahl  des  Codex,  dessen  einzelne 
Bestandteile  zeitlich  nicht  streng  geordnet  sind. 

5)  Eine  kleine,  sö.  von  Heidenheim  gelegene  gräflich  Pappenheimsche  Ortschaft 
an  der  Altmühl. 

6)  Unzweifelhaft  die  gleiche  Angelegenheit  ist  gemeint  mit  einem  weiter  rück- 
wärts (fol.  60 a)  eingetragenen  »Nota  bene«: 

Item  ich  hab  recht  (!)  3 kunig  und  ein  mergen  (1)  pild  von  dem  hafner  Vogel 
zu  Dietfurt  umb  6 gülden  und  sol  mir  die  malen  und  fassen  von  olfarb  nach  aller  notturft. 

Item  er  hat  daran  1 2 <tfc.  geltz  uf  ein  rechnung  79. 

Item  ich  hab  im  geben  8 ft.  12  dn.  quarta  feria  penthecostes  80. 

Item  ich  bin  schuldig  aller  rechnung  dem  hafner  zu  Dyettfurt  1 aureum,  den 
sol  ich  im  geben  hinein  auf  den  summer  oder  wen  ich  mag.  computatum  [est]  cum  eo 
in  parva  stuba  infirmarie,  do  ich  im  gelt  gab  in  ebdomada  nativitatis  Christi  anno 
eiusdem  81.  Est  pagatus  ex  toto  anno  81. 

7)  Über  die  im  folgenden  genannten  Öttinger  Maler  und  Bildschnitzer  vermochte 
ich  bisher  weiteres  nicht  in  Erfahrung  zu  bringen.  Nach  gfl.  Mitteilung  des  mit  Aus- 
arbeitung einer  Öttinger  Chronik  befaßten  Herrn  Justizrates  Wörlein  in  Ottingen  wurde 
daselbst  um  die  Jahre  1471 — 1480  die  St.  Sebastianskirche  mit  Turm  erbaut  und  um 
das  Jahr  1490  die  St.  Jacobskirche  einer  größeren  Reparatur  unterworfen.  Möglicher- 
weise gehörten  die  hier  Genannten  dem  Kreise  der  bei  diesen  Arbeiten  beschäftigten 
Meister  an. 


Archivalisches  zur  fränkisch-schwäbischen  Kunstgeschichte. 


451 


fol.  55  b.  Computavi  cum  maierin  in  Ottingen  et  obligor  sibi  Om- 
nibus [comjputatis  6 th  in  domo  pictoris  presente  domino  Johanne 
capellano  s.  Georii  et  Balsar8)  lapicida  anno  etc.  79  post  Scolastice 
virginis. 

Item  computavi  cum  pictore  et  obligor  sibi  Omnibus  computatis 
30  <U>.  24  dn.  presente  domino  Sebaldo  et  domino  Johanne  et  aliis  anno 
etc.  79  post  purificacionis. 

Item  direxi  sibi  an  diser  schuld  2 <tl>.  cum  quodam  nuncio  de 
Otingen. 

Item  dedi  pictori  an  seiner  schuld  ut  supra  22  <tt>.  in  die  Mathie 
apostoli  anno  etc.  79  presente  domino  Wilhelmo  et  aliis  in  domo  superiori 
infirmarie. 

fol.  56a.  Item  emi  20  tt.  wachs  und  wachs  von  der  maierin 

zu  Ottingen,  ein  tt.  für  38  dn. 

Item  hat  daran  ein  gülden  in  domo  sua  ante  festum  Galli  presente 
suo  viro  et  capellano  s.  Georii  78. 

Item  dedi  sibi  60  dn.  in  domo  sua  in  vigilia  Katherine  anno 
ut  supra. 

Item  dedi  sibi  6 tt.  1 2 dn.  in  6 a feria  post  festum  epiphanie  domini 
79  presente  domino  Georio  capellano  s.  Georii. 

Item  obligor  adhuc  8 <ü>.  6 dn.  an  disem  wachs. 

Item  obligor  der  maierin  6 <tt>.  Omnibus  computatis.  act.  Letare  79. 

fol.  56 b.  Nota  anno  d.  etc.  78. 

Item  ich  hab  verlihen  ein  hungertuch  zu  malen  dem  alten  Hansen, 
mäler  zu  Ottingen,  umb  hab  im  kauft,  für  2 gülden  neus  tuch  und 
das  hungertuch  wird  haben  30  quarten  und  ich  gib  im  von  einer  iglichen 
quarten  60  dn.  zu  malen. 

Item  er  hat  von  mir  1 gülden  eingenomen  am  ersten  presente 
domino  plebano  in  Wechingen  post  nundinas  Nordlingenses  78. 

Item  ich  hab  im  zu  andermal  geben  1 gülden  in  foro  s.  Viti  78 
presente  fratre  Johanne  ...  in  monasterio. 

Item  ich  hab  auch  in  die  illo  s.  Viti  dem  maler  geben  3 <&.,  das 
er  tuch  kauf  zum  hungertuch. 

Item  ich  hab  geben  dem  Hansen,  maler,  auch  zu  Ottingen, 
1 gülden  invencionis  s.  Stephani  78  in  domo  Schmid  Parbelen  presente 
plebano  in  Westhaim. 

Item  ich  hab  dem  maler  aber  geben  4 zu  Heidenheim,  da 
er  mit  her  Niclas  gen  Mariabrunn  ging  von  Ottingen  ante  nativitatem 
Marie  virginis. 


8)  Soll  wohl  heißen  Balthasar. 


452 


Alb.  Gümbel: 


Item  ich  hab  im  auch  geben  4 tt.  in  stuba  sua  ante  festum  Galli 
presente  domino  Johanne  capellano  s.  Georii  in  Otting,  qui  sibi  nume- 
ravit  78. 

Item  dedi  sibi  3 tt.  in  vigilia  Katherine  in  domo  filii  sui  anno  ut 
supra.  summa  summarum  3911.  6 dn.  comput[atum]  in  festo  Katherine  78. 

Item  dedi  dem  Hans  maler  zu  Ottingen  1 gülden  in  domo  sua 
presente  domino  Johanne  capellano  s.  Georii  et  aliis  presentibus  6a  feria 
post  epiphanias  domini  79. 

Item  obligor  dem  maler  ex  toto  adhuc  1 2 16  dn. 

Item  ich  han  verlihen  ein  tefelen  zu  machen  gen  sand  Anna  dem 
jungen  Lienhart,  maler  zu  Ottingen,  und  das  gemeld  soll  sein 
assumpcio  beate  virginis  und  gib  im  für  das  gemeld  1 gülden. 

Item  er  hat  ein  kes  (!)  daran,  constat  3 grfoschen]. 

Item  ich  hab  im  geben  60  dn.  in  seinem  haus  darauf  78  post  nun- 
dinas  Nordlingenses. 

Item  ich  hab  im  3 «tt.  geschickt  bei  her  Methäusen  post  Viti  78. 

fol.  57 b.  Item  comparavi  unam  tabulam  ad  sanctum  Benedictum, 
constat  4 gülden,  ab  antiquo  Johanne  pictore  de  Ottingen. 

Item  dedi  primo  3 <tt.  dem  schreiner. 

Item  dedi  pretacto  pictori  primo  6 ‘tt.. 

Item  dedi  sibi  secundo  1 florenum.  direxi  sibi  cum  scolari  meo  Petro. 

Item  dedi  sibi  tertio  unum  aureum  per  me  in  domo  plebani  in 
Ottingen  infra  octavas  epifanie  domini. 

Item  dedi  sibi  2 metzen  habern. 

Item  dedi  sibi  2 caseos,  constabant  50  dn.  act.  anno  77. 

Item  dedi  sibi  ein  fuder  holz. 

Item  comparavi  unum  asinum  cum  salvatore  ad  diem  palmarum 
pro  florenis  7. 

Item  dedi  primo  sculptori  Ludwico  in  Ottingen  6 <ö>,. 

Item  dedi  secundo  4 uxori  sue  in  domo  sua  ante  nativitatem  domini. 

Item  Nycolas  dedit  sibi  unum  aureum  in  infirmaria  presente  con- 
ventu  77. 

Item  der  pildschnitzer  ist  bezalt  bis  an  2*/2  gülden,  computatum 
[est]  coram  conventu  in  stuba  superiori  post  fipifaniam  domini  78  pre- 
sente conventu. 

fist  pagatus  ex  toto  ante  Invocavit  78  in  stuba  parva  a Nicolao. 

Item  den  salvator  cum  asino  hab  ich  verlihen  maister  Hansen  dem 
alten  moler  zu  Ottingen  zu  fassen  und  zu  malen. 

Item  datur  sibi  in  summa  3 flor.  et  cum  hoc  . . . plus. 

Item  habet  darauf  primo  V2  gülden  ante  nativitatem  domini;  dedi 
sibi  in  domo  sua  anno  77. 


Archivalisches  zur  fränkisch-schwäbischen  Kunstgeschichte. 


453 


Item  post  hoc  dedit  sibi  Nicolaus  i florenum  in  refectorio  octava 
post  Epiphaniam  domini,  cum  fuit  hic  nobiscum  in  claustro  78. 

Est  pagatus  ex  toto. 

fol.  58  a.  Item  obligor  dem  pildschnitzer  57  dn;  dedi  sibi  15  dn. 
in  domo  sua. 

Item  obligor  maister  Ludwig  pildschnitzer  21  dn.  an  einer  arbeit. 

fol.  58 b.  Item  obligor  Pauls  Hetzler  de  Nuremberga  1 gülden  für 
ein  debich. 

Ausgaberegister  der  Abtei  Heidenheim  15 00 — 1529.  (Ebenda 
Nr.  703.) 

fol.  182  a (c.  1500).  Den  Malern. 

Item  her  (!)9)  Mathes  6 gülden  für  tafel  in  capella  beate  virginis. 

II. 

In  meinem  Aufsatz:  Peter  Strauß  (alias  Trünklein)  von  Nördlingen, 
der  Schnitzer  des  Peter-  und  Paulsaltares  in  Kloster  Heilsbronn,9 10)  habe 
ich  zum  Schlüsse  die  Vermutung  geäußert,  daß  eine  weitere  Umschau 
unter  den  Altären  der  Klosterkirche  uns  noch  andere  Belege  für  die 
Tätigkeit  dieses  Meisters  daselbst  liefern  könnte.  Ich  glaube  nun  in  der 
Tat  auf  solche  Schnitzereien  von  seiner  Hand  an  einem  zweiten  Altäre 
der  Kirche  hinweisen  zu  können.  Im  südlichen  Seitenschiffe  des  Chores 
befindet  sich  ein  Marienaltar,  dessen  künstlerische  Ausstattung  Muck  auf 
den  Abt  Johann  Wenk  (reg.  1518 — 1529)  zurückführen  will.  In  der 
Mitte  des  Schreines  treten  uns  in  Rundbildern  die  Gestalten  Marias  mit 
dem  Kinde  und  links  und  rechts  davon  die  hl.  Ottilia  und  die  hl.  Brigitta 
entgegen.  Die  Innenseiten  der  beiden  Flügel  sind  bemalt  und  führen 
Szenen  aus  dem  Leben  Marias  (Tempelgang,  Mariä  Barmherzigkeit,  Ge- 
burt Jesu  und  Vermählung)  vor.  Öffnet  man  nun  die  beiden  Predella- 
türchen,  so  zeigen  sich  in  erhöhter  Schnitzerei  rechts  die  Flucht  nach 
Ägypten,  links  die  Anbetung  der  Könige.11)  Ich  glaube,  es  dürfte  wohl 
kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  daß  diese  Reliefs  gleichfalls  von  der 
Hand  Peter  Strauß’  herrühren.  Hier  wie  beim  Peter-  und  Paulsaltär  die 
gleiche  künstlerische  und  technische  Unbeholfenheit,  ja  oft  Roheit.  Wesent- 
lich günstiger  müßte  aber  auch  hier,  wie  bei  dem  anderen  Altäre,  das 
Urteil  über  den  Künstler  lauten,  wenn  die  drei  Rundfiguren  der  Maria 
und  der  beiden  Heiligen  gleichfalls  von  ihm  herrühren.  Wie  dort  die 

9)  Der  Ausdruck  »herr«  deutet  auf  einen  Geistlichen.  Personallisten  des  Heiden- 
heimer  Klosters  sind  uns  für  die  Zeit  um  1500  leider  nicht  erhalten,  so  daß  es  nicht 
möglich  ist  zu  entscheiden,  ob  dieser  geistliche  Maler  dem  Kloster  selbst  angehörte. 

1°)  Rep.  f.  K.  W.  Bd.  XXVIII. 

'*)  Der  Predellaschrein  selbst  ist  leer. 


454 


Alb.  Gtimbel: 


Gestalten  der  beiden  Apostelfürsten,  stehen  hier  die  drei  Frauengestalten 


bezw.  Predellaflügel. 

Kunstgeschichtlich  freilich  wichtiger  als  die  Frage  nach  dem  Ur- 
heber der  Schnitzereien  scheint  bei  dem  Heilsbronner  Marienaltare  die 
nach  dem  Maler  jener  reizvollen  Bilder  aus  dem  Marienleben  zu  sein. 
Glücklicherweise  können  wir  nun  diese  Frage  befriedigend  lösen.  Wir 
besitzen  in  diesen  Bildern  Jugendwerke  des  Sebastian  Dayg  von 
Nördlingen.  Der  Maler  selbst  ist  es,  der  uns  dies  mitteilt,  indem  er 
sich  in  einer  auf  dem  Altäre  hinter  der  Marienstatue  befindlichen 
Inschrift  nennt.  Da  die  kunstgeschichtliche  Forschung,  soviel  ich  sehe, 
von  dieser  Inschrift12)  noch  keine  Notiz  genommen  hat,  so  möge  sie 
nachstehend  — die  Jahrzahl  stark  verkleinert  — nach  einer  vom  Verfasser 
gefertigten  Pause  wiedergegeben  sein: 


Sebastian  Dayg,  für  dessen  Beurteilung  bisher  vor  allem  die  auf 
dem  Rathaus  seiner  Vaterstadt  hängenden  großen  Darstellungen  aus  dem 
Marienleben  (Verkündigung,  Heimsuchung,  Darstellung  im  Tempel  und 
Tod)  in  Betracht  kamen,*  *3)  wird  in  den  Nördlinger  Steuerlisten  1508  bis 
1554  als  Maler  und  Glaser  aufgeführt.  Bis  1510  und  dann  wieder  von 
1540  an  erscheint  ausschließlich  die  letztere  Bezeichnung,  die  Steuerliste 
von  1510  nennt  ihn  »glasser  oder  maller«,  in  den  weiteren  Jahrzehnten 
bis  1540  wird  er  dann  ausschließlich  »Maler«  genannt.  Die  Schreibart 
wechselt  zwischen  Tayg,  Taig,  Dayg  und  Daig.  Auch  in  den  Nördlinger 
Stadtrechnungen  erscheint  er  von  1512  — 1546  fast  Jahr  um  Jahr  unter 

II)  Von  ihr  gab  mir  Herr  Vikar  Schmidt  in  Heilsbronn  erstmals  freundliche  Kunde. 

*3)  Im  Katalog  der  Gemäldesammlung  des  Germanischen  Museums  (1893)  sind  fünf 
Bilder  als  der  Art  des  Sebastian  Daig  in  Nördlingen  zugehörig  bezeichnet.  Schon  im 
Jahre  1904  hatte  Herr  Dr.  Fr.  Dörnhöffer,  Leiter  des  Kupferstichkabinetts  in  Wien,  die 
Freundlichkeit,  mich  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  die  Nummern  241  und  242  dieses 
Katalogs,  Szenen  aus  dem  Leben  des  hl.  Sebaldus  darstellend,  zu  den  von  mir  im  16.  Heft 
der  Mitteilungen  des  Vereins  für  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg  beschriebenen  Schwä- 
biscli-Gmündener  Schreyeraltar  gehören. 


in  bemerkenswertem  Gegensatz  zu  den  unbeholfenen  Reliefs  der  Seiten- 


nwet 


Archivalisches  zur  fränkisch-schwäbischen  Kunstgeschichte.  455 

den  zu  städtischen  Arbeiten  herangezogenen  Handwerkern,  bald  unter 
den  Glasern,  bald  den  Malern,  doch  überwiegt  bis  1540  seine  Tätigkeit 
als  Maler;  1541  — 1546  finden  wir  ihn  nur  noch  als  Lieferanten  für  aller- 
lei Glassachen,  insbesondere  Trinkgläser.  Bei  seiner  Verwendung  als 
Stadtmaler  handelt  es  sich  freilich,  wo  näheres  erwähnt  wird,  um  ganz 
handwerkliche  Tätigkeit.  1512,  wo  er  erstmalig  genannt  wird,  erhält  er 
eine  kleine  Summe  (V4  fl.)  für  das  Anstreichen  der  Uhr  in  der  Recht- 
stube, 1513  3 fl.  10  <ü>.  und  einige  Pfennige  für  das  Anstreichen  der 
Decke  im  Rechnungsstüblein  und  Verzieren  mit  goldenen  Sternen,  1516 
werden  ihm  14  Gulden  ausbezahlt  »von  dem  neuen  danzhaus  zu  malen 
und  den  kaiser1**)  zu  vergulden«,  1521  malt  er  »der  richter  tafel«  für 
2 tt.  3 dn.,  1530  vergoldete  er  die  Ofengitter  im  Bundstüblein  usw.  1554 
dürfte  er  verstorben  sein,  da  1555  »Bastian  Daygs,  glaser,  wittib«  ge- 
nannt wird. 

In  den  Heilbronner  Rechnungsbüchern  und  insbesondere  beim  Jahre 
15 11  erscheint  der  Name  Daygs  nicht;  es  ist  schließlich,  da  die  Jahres- 
zahl keinen  Zweifel  über  die  Entstehungszeit  des  Heilbronner  Marienaltares 
läßt,  auch  von  geringerer  Bedeutung,  wann  derselbe  wirklich  in  der  Kirche 
zur  Aufstellung  gelangte.  Muck  gibt  an,  daß  im  Jahre  1519  vom  Abte 
Wenk  24  fl.  für  eine  »Misericordia  und  U.  L.  Fr.  Bild  mit  7 Schwertern 
zu  schneiden  und  zu  malen«,  verausgabt  wurden  und  bezieht  diesen 
Rechnungsposten  auf  unseren  Altar. 

Inwieweit  auch  bei  anderen  Heilsbronner  Altären  ein  Zusammen- 
arbeiten Daygs  und  Strauß’  stattfand,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden, 
doch  glaube  ich,  daß  eine  weitere  Verfolgung  der  Sache  wohl  zu  neuen, 
fruchtbaren  Ergebnissen  führen  würde. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  auf  ein  heute  leider  nicht  mehr 
an  Ort  und  Stelle  befindliches  Kunstwerk  aufmerksam  machen,  das  wohl 
zweifellos  aus  der  Werkstatt  Peter  Strauß’  hervorgegangen  ist.  Im  Jahre 
1503  bestellten  die  Heiligenpfleger  der  Heilsbronner  Patronatspfarrei 
Weißenbronn  (ein  halbes  Stündchen  von  Heilsbronn  entfernt)  für  den 
Chor  ihrer  dem  hl.  Michael  geweihten  Kirche  einen  Altar  in  NördlingenI5) 
und  brachten  die  »tafel«  am  18.  August  dieses  Jahres  auf  dem  Choraltar 
zur  Aufstellung.  Der  Altar  wurde  erst  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts (!)  aus  der  Kirche  entfernt.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  daß 
die  Darstellungen  dem  Leben  des  Kirchenpatrons,  des  hl.  Erzengels,  ent- 
nommen waren  und  vielleicht  führen  diese  Zeilen  erneut  auf  eine  Spur. 


14)  Vgl.  Anm.  13  meines  Aufsatzes  über  Peter  Strauß. 

•5)  Schon  Muck  gibt  diese  Nachricht  ohne  weitere  Quellenangabe.  Die  Notiz 
über  das  Schicksal  des  Altares  verdanke  ich  Herrn  Vikar  Schmidt  in  Heilsbronn. 


Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


31 


Alb.  Gümbel:  Archivalisches  zur  fränkisch-schwäbischen  Kunstgeschichte. 


Der  im  »Registrum  parrochialis  ecclesie  in  Weißenprunn«16)  be- 
findliche Eintrag  lautet: 

fol.  6**7).  Was  die  tafel  kost  auf  dem  koeraltar  des  heiligen  sant 
Michaelis,  in  gezeucht  und  gemacht  im  15°  und  trei  jar;  am  freitag  vor 
Bartholomei  wurd  si  aufgesetzt  zum  ersten: 

Item  ausgeben  einem  boten,  der  zwhe  (zog)  gen  Nordlingen,  der 
wurd  mit  in  eins  aller  ding  des  leikaufs  und  geltz  halber  von  der  tafel, 
verzert  3 <ö>.. 

Item  den  weibern  zu  leikauf  3 <tfc.  und  23  dn. 

Item  den  knechten  zu  leikauf  2 

Item  dem  furman,  der  die  tafeln  herfurt  von  Nordlingen  hieher  1 1 tt.. 

Item  für  den  bildschnitzer  und  den  schreiner  und  für  den  furman 
haben  sie  herre  verzert,  do  sie  die  tafeln  aufsetzten,  verzert  8 20  dn. 

Item  dem  bildschnitzer  und  dem  schreiner  haben  wir  geben  für 
tafel  18  fl. 

Item  dem  schlosser  für  band  und  zu  henken  die  tafeln  3 

Item  als  mir  die  tafeln  am  ersten  angedingt  haben,  hab* *en  sie  ver- 
zert 77  dn. 

Summa  in  toto,  was  die  tafel  gesteet  18  fl.  3 3 <ö>. l8)  17  dn.18) 

,6)  K.  Kr.  Arch.  Nürnberg,  Acta  des  Klosterverwaltungsamtes  Heilsbronn,  S.  XVI  V3 
Nr.  179. 

*7)  Schon  auf  fol.  2a  findet  sich  eine  hierhergehörige  Notiz:  Item  postea  anno 
15 c und  trew  jar  haben  wir  kauft  die  tafel,  die  do  steet  auf  dem  körealtar,  umb 
18  fl.  reinisch. 

l8)  Wieder  gestrichen. 


Die  Flügel  des  Landauer-Altars 

in  der  Münchener  Pinakothek  und  der  Augsburger  Galerie. 

Von  Dr.  I.  Beth. 

Einleitung. 

Der  Flügel  eines  verschollenen  Mittelbildes  der  Landauer-Stiftung, 
der,  jetzt  in  zwei  Teile  zersägt,  auf  der  Vorderseite  die  Vermählung  der 
heiligen  Katharina  mit  dem  Christuskinde,  auf  der  Rückseite  eine  Geburt 
Christi  darstellt,  wird  mit  dem  anderen  Flügel  der  Augsburger  Galerie, 
welcher  die  Auferstehung  und  Kreuzigung  zeigt,  offiziell  in  den  Kata- 
logen dem  Hans  Pleydenwurff  zugeschrieben,  mit  dem  Vermerk,  daß  diese 
»von  Thode  stammende  Zuteilung  nicht  völlig  gesichert«  erscheint.  In 
der  Tat  ist  diese  Zuteilung  auf  Thodes  »Malerschule  von  Nürnberg« 
zurückzuführen.  Seine  Präzisierung  der  Gestalt  von  Hans  Pleydenwurff 
hatte  auch  die  Taufe  dieser  beiden  Flügel  zur  Folge,  und  wenn  sich 
auch  mit  der  Zeit  Zweifel  ob  der  Richtigkeit  der  Benennung  geregt 
haben,  hätte  man  es  nur  sehr  ungern  darauf  ankommen  lassen,  nach  dem 
Namen  Wolgemut,  unter  dem  sie  seit  ihrer  Übertragung  von  der  Nürn- 
berger Burg  geführt  wurden  und  nach  Hans  Pleydenwurff  jetzt  etwa  eine 
neue  Taufe  vorzunehmen. 

Obschon  durch  das  erschütterte  Vertrauen  zu  so  vielen  als  unzweifel- 
hafte »Wolgemuts«  geltenden  Werken  allerdings  zu  größter  Vorsicht  ge- 
mahnt worden  ist,  und  das  Werk  des  Meisters  wohl  auf  lange  Zeit  hinaus 
auf  einen  usuellen  Kollektivbegriff  gesunken  ist,  so  muß  trotzdem  — 
und  vielleicht  eben  deshalb  — nicht  genug  vor  einem  starren  Festhalten 
an  hergebrachten  Namen  gewarnt  werden.  Ein  derartiges  Vorgehen  bean- 
sprucht fast  nur  einen  methodischen  Vorteil  und  will  vor  weiteren  Unter- 
suchungen nicht  abschrecken.  Man  bleibt  ja  übrigens  in  den  meisten 
Fragen  und  Benennungen  der  vordürerischen  Nürnberger  Malerei  — nach 
wie  vor  Thode  — auf  den  glücklichen  Zufall  angewiesen,  der  hie 
und  da  in  das  dunkle  Gewimmel  von  Namen  und  Werken  einen  Licht- 
strahl wirft. 

Jetzige  Zuteilung. 

Die  Landauer-Altarflügel  wurden  als  Arbeiten  Wolgemuts  in  den 
aufeinanderfolgenden  Auflagen  der  Galeriekataloge  von  Männlich,  dann 


3i 


458 


Dr.  I.  Beth. 


Dillis,  Markgraf  und  bis  auf  die  neueste  Zeit  von  Reber  bezeichnet  und 
zu  verschiedenen  Zeiten  von  Fachleuten  anerkannt.  So  haben  Waagen 
und  Janitschek  an  der  hergebrachten  Zuteilung  nichts  geändert  und  sie 
bleibt  aufrecht  in  der  Soldanschen  Folge  von  Bildern  Wolgemuts  und 
Dürers,  mit  Text  von  Riehl.  Robert  Vischer  hat  schon  die  Vermutung 
ausgesprochen,  sie  könnten  von  einem  »Wolgemut  verwandten  Maler 
herrühren,  der  eine  Zeitlang  sein  Gehilfe  war,  aber  auch  Fühlung  mit 
dem  Meister  des  Würzburger  Kreuzigungsbildes  zeigt«;1)  endlich  hat 
Thode,  trotzdem  er  seine  Einschüchterung  infolge  der  allgemeinen 
Meinungsverschiedenheit  gesteht,  sie  rückhaltlos  dem  Hans  Pleydenwurff 
zugeschrieben.  Zwar  haben  sich  später  Bedenken  darüber  ergeben;  so 
hat  beispielsweise  v.  Seidlitz  im  Repertorium  f.  K.  einen  starken  Zweifel 
über  diese  Zuteilung  geäußert,  doch  sie  bleibt  — wie  gesagt  — bis  heute 
bestehen. 

Ohne  auf  die  Möglichkeit  einer  anderen  Zuteilung  vorerst  einzu- 
gehen, wollen  wir  versuchen,  die  auffallendsten  Merkmale  der  Bilder 
zusammenzufassen  und  sie  auf  die  Richtigkeit  der  ersten  und  dann  der 
zweiten  Benennung  prüfen. 

Erwägung  der  Pleydenwurf fschen  Urheberschaft. 

Im  allgemeinen  weisen  sie  die  für  jene  Zeit  charakteristische 
Formenbehandlung  und  Farbengebung  auf  und  reihen  sich  den  Werken 
der  genannten  zwei  Meister  an,  jedoch  bei  näherem  Eingehen  auf  die 
Einzelformen  wird  ein  bestimmtes  stilkritisches  Urteil  durch  gewisse  Merk- 
male erschwert,  deren  wichtigstes  wohl  ein  gewisser  Zug  von  Innigkeit  und 
Beschaulichkeit  ist,  welcher  am  stärksten  in  der  Vermählung  der  hl.  Ka- 
tharina, am  wenigsten  dagegen  in  der  Augsburger  Kreuzigung  zutage  tritt. 

Nach  Thode  sind  »großer,  wenn  auch  etwas  nüchterner  Ernst,  Kraft 
und  Energie  die  hervorstechendsten  Eigenschaften  von  Pleydenwurffs  Ge- 
stalten, in  denen  manches  von  der  Großartigkeit  und  Leidenschaftlichkeit 
der  älteren  Nürnberger  Schöpfungen  fortlebt,  wenn  auch  in  gehaltenen, 
beschwichtigten  Formen.«2)  Mit  dem  besten  Willen  muß  man  gerade 
die  zitierten  Eigenschaften,  die  übrigens  ganz  treffend  zusammengefaßt 
scheinen,  bei  diesen  Bildern  vermissen.  Außerdem  wendet  Thode  (welcher 
der  Morellischen  Methode  gelegentlich  einer  Besprechung  seiner  »Studien« 
volles  Lob  zuteil  werden  läßt)  auch  sehr  sorgfältig  ein  Verfahren  an,  das 
seinen  Morellischen  Ursprung  nicht  verleugnet,  und  stellt  für  die  Lippen 
bei  Pleydenwurffs  Gestalten  fest,  daß  sie  dicker  und  röter  sind  als  bei 


>)  Vischer,  Studien  zur  Kunstgeschichte. 

2)  Thode,  Malerschule  v.  N.  S.  105. 


Die  Flügel  des  Landauer-Altars. 


459 


Wolgemut  und  leise  geöffnet,  wogegen  man  hier  zierlicheren  und  feineren 
Lippen  begegnet,  auf  welche  zurückzukommen  auch  noch  Gelegenheit 
sein  wird. 

Bezeichnend  ist  ein  Merkmal,  so  zufällig  es  auch  erscheinen  mag. 
Es  kommt  nämlich  auf  flandrischen  Bildern,  die  für  Pleydenwurff  und 
seine  Nachfolger  gewiß  vorbildlich  waren,  wiederholt  eine  Gestalt  vor, 
die  von  Wolgemut  auf  vielen  Bildern  aufgenommen  wird,  auf  keinem 
aber  von  Pleydenwurff.  Es  ist  dies  der  gewisse  Alte  mit  der  roten  Haut- 
farbe, mit  einer  Glatze  und  weißem  Knebel-  oder  Spitzbart,  der  z.  B.  in 
der  Rogerschen  Anbetung  der  Könige  viermal  wiederkehrt  und  sonst 
für  den  hl.  Joseph  gerne  gebraucht  wird.  Bei  der  großen  Zahl  der 
männlichen  Gestalten,  die  bei  Pleydenwurffs  drei  Kreuzigungsszenen  ver- 
sammelt sind,  ist  das  Fehlen  dieses  Alten  zu  auffallend,  als  daß  sein 
Vorkommen  bei  der  Geburt  des  Landauer-Flügels  nicht  gegen  die  Ur- 
heberschaft dieses  Meisters  sprechen  sollte,  namentlich,  da  er  bei  Wol- 
gemut zum  Überdruß  oft  variiert  sich  vorfindet. 

Hervorzuheben  wäre  ferner  die  Zusammenstellung  der  beiden  Stifter- 
figuren: des  Kanonikus  Schönborn  auf  der  Kreuzigung  des  Germanischen 
Museums  mit  dem  alten  Landauer  der  Geburt  Christi.  Der  geistliche 
Herr  bei  Pleydenwurff  hat  ein  nervös  erregtes  Gesicht,  wogegen  der  Kauf- 
mann Landauer  eine  unbeschreibliche  Milde  zur  Schau  trägt.  Man  sollte 
meinen,  es  hätte  hier  ein  Rollenaustausch  stattgefunden. 

Nun  aber  ist  die  Zahl  der  authentischen  Bilder  von  Pleydenwurff 
so  gering,  daß  das  eben  Gesagte  nur  unter  der  Voraussetzung  zu  Recht 
besteht,  wenn  man  beispielsweise  die  Kreuzigung  der  Pinakothek  diesem 
Meister  der  beglaubigten  Breslauer  Kreuzabnahme  zuteilt.  Solange  aber 
für  seine  Unterschrift  mit  den  Anfangsbuchstaben  J.  und  P.  (Johannes 
Pleydenwurff?)  die  sonderbaren  Schnörkel  am  Turban  eines  Soldaten  auf 
jenem  Bilde  gelten  sollen,  was  doch  wohl  nicht  überzeugend  genug  ist, 
darf  das  Fragezeichen  bei  dieser,  methodisch  wohl  zweckmäßigen  Benen- 
nung nicht  außer  acht  gelassen  werden.  3) 

Erwägung  der  Wolgemutschen  Urheberschaft. 

Wenn  man  nun  die  Flügel  für  Wolgemut  beanspruchen  wollte,  so 
ließe  sich  ja  mancher  Grund  dafür  anführen.  Um  einige  nur  zu  nennen, 
verraten  die  Frauentypen  ihre  allgemeine  Verwandtschaft  mit  den  Wol- 
gemutschen, was  Schädelbau,  Augen-  und  Mundform  anbelangt,  nament- 


3)  Solche  buchstabenähnliche  Schnörkel  kommen  nämlich  auf  diesem  Bild  und 
dann  bei  der  Kreuzigung  des  Germanischen  Museums  vor,  ohne  daß  man  darin  etwas 
anderes  als  eine  orientalisch  sein  wollende  Randleiste  zu  sehen  genötigt  wäre. 


460 


Dr.  I.  Beth: 


lieh  aber  die  Frauenhände,  welche  bei  ihm  meistens  einen  starken  Hand- 
teller mit  zu  langen,  stabartigen  Fingern  aufweisen.  Andererseits  ist  die 
Landschaft  der  Landauer-Flügel  mit  der  Wolgemut  eigentümlichen  über- 
einstimmend. Auch  verleugnet  die  Gruppierung  der  Gestalten  bei  der  Auf- 
erstehung oder  der  Kreuzigung  ihren  Wolgemutschen  Ursprung  nicht, 
wobei  allerdings  das  strenge  Festhalten  an  der  schulmäßigen  Überlieferung 
berücksichtigt  werden  muß. 

Wenn  man  endlich  die  Übereinstimmung  des  technischen  Verfahrens 
berücksichtigt,  beispielsweise  des  streng  zeichnerischen  — mittels  kleiner 
Pinselstriche  — Bemalens  der  Hautpartien,  auch  die  kühle  Lichtgebung, 
dann  wird  es  klar,  warum  die  Bilder  fast  ein  Jahrhundert  lang  unter 
seinem  Namen  geführt  wurden  und  auch  später  man  die  neue  Bezeich- 
nung nur  ungern  gelten  ließ. 4) 

Man  muß  nicht  gerade  mit  Thode  dem  alten  Wolgemut  »die  heim- 
tückische Boshaftigkeit  des  Philisters«  oder  ein  Wirken  »nur  auf  den 
Effekt  und  oberflächlichen  Schein«  zuschreiben,  um  einzusehen,  daß  eine 
von  der  seinen  verschiedene  Hand  bei  diesen  Bildern  tätig  war  und  dies 
sowohl  in  manchen  Einzelheiten,  wie  auch  im  allgemeinen  Eindruck.  Was 
die  ersteren  betrifft,  so  kommen  sowohl  die  Kopftypen,  wie  auch  Land- 
schaftsmotive und  anderes  in  Betracht.  Ohne  hier  genauer  auf  die  für 
Wolgemut  charakteristische  Frauenkopf bildung  einzugehen,  muß  doch 
bemerkt  werden,  daß  sowohl  der  Marienkopf,  wie  der  der  hl.  Katharina 
eine  längliche  Nase  und  einen  Mund  haben,  wie  er  sonst  bei  Wolgemut 
nicht  zu  finden  ist. 

In  jener  Zeit  der  sich  verbreitenden  Holzschneidekunst  mußten 
besonders  solche  arg  beschäftigten  Meister  sich  eine  gewisse  Routine 
aneignen,  mit  der  sie  sozusagen  mechanisch  einzelne  Partien  ausführen 
konnten;  zu  diesen  Partien  gehörten  jedenfalls  die  Lippen,  die  auch  bei 
Wolgemut  eine  schematische  Form  annehmen,  wobei  der  Teilungsstrich 
eine  bestimmte  gewölbte  Linie  bildet,  die  mit  einer  dunkleren  Farbe 
bezeichnet  wird.  Dies  läßt  sich  bei  ihm  durchweg  verfolgen.  Nun 
haben  die  Lippen  hier,  abgesehen  davon,  daß  sie  — wie  vorher  erwähnt 
wurde  — zierlicher  sind,  nicht  den  dunklen  Strich,  sondern  sind  erst  in 
den  Mundwinkeln  dunkler  gehalten,  was  allerdings  der  Wirklichkeit  mehr 
entspricht  und  den  Maler  als  einen  kennzeichnet,  der  sich  den  Fesseln  der 
Manier  entziehen  will. 


4)  Zu  bemerken  wären  auch  solche  äußerliche  Momente  wie  das  Wiederholen 
des  Namens  Mariae  am  Kleidsaum  in  der  Vermählung  und  der  Hofer  Kreuzigung,  oder 
der  Aufschrift:  »Sancta  Virgo  intemerata«  auf  der  Landauer  Geburt  Christi  und  wieder 
bei  der  rückseitigen  Verkündigung  des  Hofer  Altars. 


Die  Flügel  des  Landauer-Altars. 


461 

Was  den  Männertypus  Wolgemuts  anbelangt,  so  ist  er  zur  Genüge 
bekannt,  diese  griesgrämigen,  bärtigen  Gesichter,  von  denen  auf  allen 
diesen  drei  Bildern  kein  einziges  vorkommt!  Sie  scheinen  ins  Milde 
und  Geklärte,  wohl  auch  manchmal  ins  Unbeholfene  und  Weichliche 
übersetzt  worden  zu  sein,  sogar  in  der  mehrfach  erwähnten  Kreuzigung. 
Am  deutlichsten  tritt  der  Umstand  in  der  Behandlung  des  Christuskopfes 
hervor,  der  bei  Wolgemut  meist  nicht  ohne  herben  Ernst  und  Strenge 
ist,  hier  aber  in  der  Auferstehung  vor  Anmut  und  Milde  strahlt.  Der 
Vergleich  mit  der  Hofer  Auferstehung  oder  noch  mehr  mit  der  von  der 
Hellerschen  Heiligenkreuzkapelle  in  Nürnberg  läßt  dies  zur  Genüge  er- 
kennen. 

Im  Anschluß  an  die  oben  festgestellte  naturalistische  Tendenz  wäre 
hier  die  Auffassung  und  Behandlung  der  Bäume  zu  erwähnen,  deren 
Stilisierung  mittels  horizontaler  Striche  einen  höheren  Entwicklungsgrad 
in  der  Beobachtung  bedeutet,  da  ja  auch  Dürer  und  dann  der  treffliche 
Baummaler  Altdorfer  in  dieser  Richtung  fortschreiten.  Dem  gegenüber 
wäre  eine  rundliche,  schnörkelartige  Baumbehandlung  bei  Wolgemut  eine 
ältere,  routinenmäßige. 

Zuletzt  muß  noch  die  äußerst  sorgfältige  und  liebevolle  Art  der 
Behandlung  vom  Raum  hervorgehoben  werden,  ein  miniaturartiges 
Eingehen  auf  die  feinsten  Details  der  verschiedenen  Holzarten  der  Ge- 
räte auf  dem  Katharinenbilde,  wozu  schwerlich  ein  Gegenstück  in  der 
Kunst  Wolgemuts  zu  finden  wäre. 

Schnaase,  dem  doch  wohl  jede  polemische  Absicht  fernlag,  äußert 
sich  über  Wolgemut5): 

»Es  fehlt  bei  ihm  der  belebende  Hauch  der  Poesie,  der 

rechte  Brustton  tiefer  Empfindung.  Die  Würde  streift  an  spießbürger- 
liche Steifheit,  die  Schönheit  an  Leere,  die  Gleichförmigkeit  heiligen 
Ernstes  ist  ermüdend,  und  es  ruht  auf  den  meisten  seiner  Tafeln  eine 
Schwere,  die  uns  keine  volle  Freude  empfinden  läßt.« 

Nun,  könnten  diese  Worte  auf  den  Landauer -Altar,  was  man  auch 
von  ihm  sagen  würde,  schwerlich  angewendet  werden. 

Verwandtschaft  mit  dem  Peringsdörffer  Altar. 

Bekanntlich  hat  Thode  den  Peringsdörffischen  Altar  des  Germani- 
schen Museums,  obwohl  er  als  im  Jahre  1487  aus  der  Werkstätte  Wol- 
gemuts hevorgegangen  beglaubigt  ist,  diesem  abgesprochen  und  dem 
Sohne  Hans  Pleydenwurffs,  Wilhelm,  seinem  Stiefsohne  also,  zugeteilt. 
Diese  Benennung  setzt  allerdings  eine  sonderbar  rückschreitende  Ent- 


5)  Geschichte  d.  bild.  Künste,  VIII,  383. 


4Ö2 


Dr.  I.  Beth: 


Wicklung  von  Wolgemuts  Schaffen  voraus,  auch  dürfte  die  sonst  so 
seltene  urkundliche  Beglaubigung  seiner  Hand  an  dem  Altäre  nicht  über- 
zeugend genug  wegargumentiert  sein.  Solange  sie  aber  keine  end- 
gültige Widerlegung  erfährt,  ist  man  gezwungen,  den  Anteil  des  53  jähri- 
gen Meisters  an  dieser  »großartigsten  Schöpfung  der  Nürnberger  Maler- 
schule in  der  zweiten  Hälfte  des  XV.  Jhs.«  (Thode)  zum  mindesten 
stark  anzuzweifeln,  ohne  zu  der  Wilhelm  Pleydenwurff-Frage  besonders 
Stellung  nehmen  zu  müssen. 

Nun  treten  aber  derartig  nahe  Beziehungen  zwischen  den  Landauer- 
Flügeln  und  dem  Peringsdörffischen  Altar  auf,  daß  sich  die  Vermutung 
derselben  Malerhand  bei  beiden  einfach  aufdrängt. 

So  hat  die  Hauptfigur  der  Vermählung,  die  hl.  Katharina,  nicht 
nur  dasselbe  Gesicht  wie  die  hl.  Katharina  des  Flügels  des  Peringsdörffi- 
schen Altars,  denselben  gesenkten  Blick,  die  wellenförmige  Lidspalte 
der  Augen,  aber  auch  die  vorgeschobene  Oberlippe  und  auch  denselben 
Handtypus.  Diese  Ähnlichkeit  wird  noch  auffälliger  bei  der  Zusammen- 
stellung ihres  Kopfes  mit  denen  der  Frauen  auf  dem  äußeren  Flügel,  der 
Versuchung  des  hl.  Vitus,  und  zwar  deshalb,  weil  diese  den  gleichen 
Kopfputz  tragen,  ein  turbanartig  um  das  Haupt  gewickeltes  Tuch,  das 
mit  feinen  Fäden  und  Perlen  reich  geziert  ist.  Zur  Gegenprobe  stelle 
man  etwa  den  Kopf  der  Heiligen,  mit  anderen  köpfen  Hans  Pleyden- 
wurffs  oder  aber  Wolgemuts  mit  dem  nämlichen  Kopfputz  zusammen; 
die  Verschiedenheit  der  Auffassung  der  zu  vergleichenden  Gesichter  tritt 
dann  klar  zutage. 

Ebenso  läßt  sich  bei  den  männlichen  Gestalten  eine  auffallende 
Ähnlichkeit  der  beiden  Altäre  aufweisen. 

Die  beiden  Wärter  am  Christusgrabe  im  Auferstehungsbilde  finden 
ihre  Gegenstücke  in  den  Heiligengestalten  des  Nürnberger  Altars  und 
zwar  entspricht  dem  jüngern  genau  der  hl.  Georg  und  dem  ältern, 
der  die  Armbrust  spannt,  der  hl.  Sebald;  nebenbei  bemerkt,  findet 
sich  auf  einem  Bilde  der  St.  Vitus-Legende  genau  dieselbe  Armbrust, 
die  ein  Atelierbestandteil  zu  sein  scheint.  Überhaupt  läßt  sich  fest- 
stellen, wie  der  kräftige,  energievolle  Typus  des  Hans  Pleydenwurff  hier 
von  seiner  Intensität  nachläßt,  wie  die  stark  gebogene  Nase  hier  nur 
mehr  gedankenlos  wiederholt  wird,  ebenso  die  kräftigen  Lippen,  die  ihre 
Spannung  eingebüßt  haben.  Wie  darunter  eine  Kreuzigungsszene  leiden 
mußte,  läßt  sich  leicht  denken.  Das  Hauptaugenmerk  des  Malers  war 
eben  auf  ganz  andere  Momente  gerichtet. 

Das  reizende  Kämmerlein  mit  allerlei  Geräten,  mit  den  blanken 
Schüsseln  und  den  säubern  Schränken,  das  hat  es  dem  Künstler  angetan, 
und  diese  feine  Interieuerstimmung  findet  man  auf  dem  St.  Lukasbilde 


Die  Flügel  des  Landauer-Altars. 


463 


des  Nürnberger  Altars  wieder,  ja,  die  Aussicht  ins  Freie  ist  hier  ganz 
ähnlich  behandelt,  wie  denn  überhaupt  die  stark  entwickelte  Vorliebe  für 
das  Landschaftliche,  die  wohl  noch  auf  Wolgemut  zurückzuführen  ist, 
für  beide  kennzeichnend  ist.  Die  hohe  Burg,  die  die  Augsburger  Auf- 
erstehung überragt,  bedeutet  eben  eine  Entwicklung  im  Betonen  der 
Landschaft,  welche  im  Peringsdörffischen  Altar  bereits  eine  bedeutende 
Rolle  spielt. 

Alle  die  Einzelheiten,  deren  wichtigste  nur  hier  angeführt  wurden, 
und  außerdem  ein  undefinierbarer  Eindruck  vom  Ganzen  lassen  auf 
einen  Künstler  schließen,  der  unter  starkem  Einfluß  Wol- 
gemuts  und  des  altern  Pleydenwurff,  es  zwar  nicht  wagt,  die 
hergebrachten  Schultradi tionen  und  Schranken  zu  sprengen, 
jedoch  schon  mächtig  genug  seine  — sozusagen  — lyrische 
Empfindungsweise  ihrer  dramatisch  bewegten  oder  breit  er- 
zählenden Art  gegenüber  zu  behaupten  anfängt  und  sich  keine 
Gelegenheit  entgehen  läßt,  diese  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Es  wäre 
nicht  schwer,  sich  den  Künstler  als  einen  jungen  Gesellen  in  Wolgemuts 
Werkstatt  vorzustellen,  der  noch  auch  das  Schaffen  Hans  Pleydenwurffs 
vor  Augen  hat,  aber  schon  selbst  schüchtern  seine  eigenen  Wege  sucht. 

Urkundliche  Indizien. 

Thode  sieht  Wilhelm  Pleydenwurff  als  den  Schöpfer  des  Perings- 
dörffischen Altars  an.  Er  sucht  diese  Taufe  aufrecht  zu  halten,  indem 
er  ihn  als  den  beglaubigten  Mitarbeiter  Wolgemuts  an  der  Weltchronik 
Schedels  im  Jahre  1492  anführt  und  den  Schluß  zieht,  der  Holzschneider 
könnte  diesem  auch  beim  Bildermalen  behilflich  gewesen  sein.  Ohne 
auf  die  sehr  umständliche  Beweisführung  Thodes  in  der  Ausschaltung 
von  Holzschnitten  Wilhelms  in  der  Weltchronik  einzugehen,  da  sie  ja 
für  viele  nicht  überzeugend  genug  erscheint,  soll  hier  die  Wahrscheinlich- 
keit dieser  Hypothese  um  noch  eine  Fährte  bereichert  werden. 

Die  vor  drei  Jahren  im  Repertorium  f.  K.  von  Gümbel  veröffent- 
lichten Aufsätze  über  das  Schreyersche  Denkmal  von  Adam  Krafft,  haben 
ein  neues  Licht  auf  das  Verhältnis  des  Sebald  Schreyer  und  Mathias 
Landauer  zu  Wolgemut  und  Pleydenwurff  geworfen.  Es  erhellt  nämlich 
aus  eigenhändigen  Aufzeichnungen  Schreyers,  daß  seine  und  des  Mathias 
Landauer  geschäftliche  Beziehungen  zu  dem  Künstlerpaar  sehr  rege  waren. 
Einerseits  kommt  zwischen  beiden,  als  Stiftern  des  Denkmals,  und  Krafft 
ein  Vertrag  zustande,  dann  aber  tritt  Schreyer  und  sein  Schwager 
Kammermeister  mit  den  beiden  Malern  in  Verbindung,  behufs  geschäft- 
lichen Betriebes  der  Schedelschen  Weltchronik.  Die  Landauer-Familie, 
die  auf  dem  Grabdenkmal  mit  ihrem  Hauptvertretern,  mit  dem  alten 


464 


Dr.  I.  Beth: 


Marx,  dessen  beiden  Frauen  und  Kindern  abgebildet  ist,  wird  wohl  schon 
vor  dem  Jahre  1492  mit  der  »Firma«  Wolgemut  in  Beziehungen  gewesen 
sein,  ja,  sie  hat  diese  wohl  den  nächsten  Verwandten,  den  Schreyern, 
die  auf  derselben  Platte  mit  der  ganzen  Sippschaft  getreulich  konterfeit 
sind,  als  solide  Malerwerkstatt  bestens  empfohlen,  da  ja  der  sonst  zu 
vorsichtige  alte  Sebald  sich  in  demselben  Jahre  in  ein  — sozusagen  — 
sehr  riskantes  Unternehmen  der  Weltchronik-Ausgabe  eingelassen  hat. 
Verlockend  ist  nun  die  Versuchung,  den  Altar  der  Landauer  - Stif- 
tung als  ein  Hauptbild  der  Werkstätte  anzunehmen,  welches 
ihren  Ruf  in  diesem  Familienkreise  gefestigt  hat. 

Und  zwar  hat  es  allen  Anschein,  daß  der  alte  Herr  mit  Rosen- 
kranz, der  auf  der  Münchener  Geburt  Christi,  als  Stifter  knieend  er- 
scheint, niemand  anders  ist  als  der  alte  Marx  Landauer,  der  sich 
auf  seine  alten  Jahre  in  das  Schottenkloster  bei  St.  Egidien  zurückzog 
und  dem  wohltätigen  Wirken  widmete,  und  daß  die  Nonne  auf  der 
Augsburger  Auferstehung  seine  Tochter  Elsbeth  ist,  die  als  Kloster- 
frau im  Katharinenkloster  lebte.6 *)  Die  letztere  scheint  eben  den  Altar 
für  die  Klosterkirche  gestiftet  zu  haben,  zwar  nach  dem  Ableben  des 
Vaters  (der  noch  in  den  sechziger  Jahren  des  15.  Jahrh.  starb),  doch 
wohl  nicht  ohne  dessen  Auftrag,  wie  das  aus  seinem  Testamente  zu 
schließen  wäre. 7)  Würfel8 *)  führt  sie  in  seinen  -Namenverzeichnissen 
nicht  an,  doch  scheint  sie  in  ihren  letzten  Jahren  in  das  reformierte 
Kloster  Engel thal  übersiedelt  worden  zu  sein,  da  dieses  1513  »wegen 
lüderlichen  Lebenswandels«  mit  S.  Katharina-Nonnen  neu  besetzt  wurde.9) 
Würfel  nennt  einen  Katharinen-Altar  in  der  Kirche  und  Thode  bezeich- 
net den  Landauer- Altar  als  unzweifelhaft  denselben,  den  auch  Murr  in 
seiner  »Beschreibung«  ausführlich  beschreibt,  wonach  zwei  andere  Flügel 
mit  vier  Scenen  verschollen  wären.  Es  soll  auch  nicht  unbemerkt  bleiben, 
daß  Hans  Behaim  für  Mathias  Landauer  viele  Bauten  ausgeführt  hatte 
(unter  anderen  das  bekannte  Zwölfbrüderhaus)  und  ein  Fritz  Behaim  (sein 
Sohn?)  eine  Pfründe  für  jenen  Katharinenaltar  gestiftet  hat.10)  Die  Ver- 
mutung liegt  nahe,  daß  er  es  aus  Erkenntlichkeit  für  die  Landauer 
getan  hatte,  da  er  sah,  daß  der  Altar  in  der  Klosterkirche,  die  bald 


6)  W.  Vogt,  Geschichte  des  Landauer-Zwölfbrllderhauses. 

7)  Nürnberger  Städtisches  Archiv,  L.  I,  2. 

8)  A,  Würfel,  Diptychorum  ecclesiarum  Norimbergiensium  succincta  enucleatio 

etc.  1766.  (»Ausführliche  Beschreibung  aller  und  jeder  Kirchen in  und  vor 

Nürnberg.«) 

9)  E.  Reick e,  Geschichte  der  Reichsstadt  Nürnberg. 

10)  Vogt,  Geschichte  des  Landauer  Zwölf brüderhauses.  E.  Reike,  Geschichte 
der  Reichsstadt  Nürnberg. 


Die  Flügel  des  Landauer- Altars.  465 

von  den  Nonnen  verlassen  werden  sollte,11)  in  immer  verwahrlosteren 
Zustand  geriet. 

Die  Zeit  des  Entstehens  des  Altars,  etwa  1470  — 1840,  die  sich 
aus  vorher  Angeführtem  ergibt,  stimmt  mit  der  stilkritischen  sowohl,  wie 
mit  der  kostümlichen  Betrachtung  überein.  Die  Rüstungen  beispiel- 
weise, die  bei  dem  alten  Hans  noch  die  Merkmale  der  Mitte  des  Jahr- 
hunderts haben,  sind  veraltet  gegen  diejenigen  des  Landauers- Altars,  der 
schon  Armets  (Visierhelme)  und  mehrfach  »geschobene«  Panzerteile 
aufweist. 

Schl  ußfolgerung. 

Um  diese  Zeit  steht  wohl  der  alte  Pleydenwurff  auf  der  höchsten 
Stufe  seines  Könnens,  jedoch  sein  Ruhm  läßt  ihn  nicht  ruhig  in  der 
Heimat  seinen  künstlerischen  Problemen  nachgehen.  In  den  sechziger 
Jahren  d.  15.  Jhs.  wird  ihm  der  ehrenvolle  Antrag  des  Breslauer  Rates 
zuteil : im  fernen  Schlesien  für  die  Elisabethkirche  einen  Altar  zu  malen. 
WernerWeisbach  hat  in  der  »Zeitschrift  für  bildende  Kunst«  im  Jahre 
1898  die  höchst  wahrscheinliche  Vermutung  zu  begründen  versucht,  daß 
der  Künstler  in  den  ersten  siebziger  Jahren  im  benachbarten  Polen,  nament- 
lich in  Krakau,  das  ja  in  dieser  Zeit  den  regsten  Verkehr  mit  Nürnberg 
unterhält  (Veit  Stoß  kommt  1477  nach  Krakau)  viel  beschäftigt  wird. 
Somit  ergibt  sich  noch  ein  Grund  mehr,  dem  vielbegehr,ten  alten  Meister 
einen  Altar  abzusprechen,  der  eher  ein  schüchternes  Betreten,  als  ein 
selbstbewußtes  Beenden  einer  künstlerischen  Laufbahn  bedeutet. 

Wolgemut  wird  wohl  in  dieser  Zeit  noch  rüstig  und  voll  Energie 
gewesen  sein,  wie  das  sein  Porträt,  des  achtzigjährigen,  in  der  Pinako- 
thek lehrt,  doch  es  ist  kaum  anzunehmen,  daß  er  plötzlich  einer  An- 
wandlung von  Milde  und  Sanftmut,  wie  sie  über  das  Werk  ausgebreitet 
sind,  erlegen  wäre,  um  dann  wieder  auf  seinen  mürrischen  und  strengen 
Gesichtstypus  zurückzukommen.  Es  ist  in  den  Bildern  zu  viel  von  ent- 
wicklungsfrohem Anlauf,  als  daß  er  ohne  Folgen  geblieben  wäre. 

Nicht  ausgeschlossen  aber  ist  die  von  Seidlitz  ausgesprochene 
Vermutung,  daß  Wolgemuts  Schüler  „die  Ausführung  der  einzelnen 
Bilder  im  Wesentlichen  besorgt  haben,  er  selbst  aber  an  alle  die  vollen- 
dende Hand  gelegt  und  dadurch  jenen  gleichmäßigen  Charakter  verliehen 
habe,  welcher  uns  im  ersten  Augenblick  entgegentritt«. 

Ob  dieser  Schüler  Wilhelm  Pleydenwurff  war,  — wer  könnte  es 
heute  bestimmt  sagen? 

“)  Sie  wurde  1525  »versperrt«  und  es  ward  verboten,  mehr  Nonnen  aufzunehmen. 
Die  letzte  war  1596  gestorben.  Würfel,  a.  a.  O.  Fr.  Truckenbrot,  Nachrichten 
zur  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg,  1785. 


Das  Gothaer  Liebespaar. 

Von  Carl  Gebhardt. 

Seit  wenigen  Jahren  erst  in  die  kunstwissenschaftliche  Literatur 
eingeführt,  ist  das  herrliche  Doppelbildnis  des  Jünglings  mit  dem  Mäd- 
chen im  herzoglichen  Museum  zu  Gotha  doch  schon  Gegenstand  einer 
lebhaften  Kontroverse  geworden,  die  ebenso  seinen  Meister  wie  den  In- 
halt seiner  Darstellung  betraf.  Auch  auf  der  Düsseldorfer  Ausstellung, 
durch  die  es  zuerst  weiteren  Kreisen  im  Original  bekannt  wurde,  hat 
es  die  entgegengesetztesten  Beurteilungen  erfahren,  ein  Zeugnis  dafür, 
daß  es  dem  Beschauer,  indem  es  ihn  durch  seinen  unbeschreiblichen  Lieb- 
reiz bezaubert,  zugleich  eine  Frage  in  die  Seele  senkt,  die  ihn  nicht 
wieder  losläßt.  Es  sei  nur  auf  die  zwei  neuesten  Deutungsversuche 
verwiesen,  die  Schubring  in  den  Preußischen  Jahrbüchern  (1904  III, 
S.  50/51)  und  Scheibler  im  Repertorium  (XXVII,  S.  569h)  aufgestellt 
haben.  Schubring  erklärt  das  Bild  schlechtweg  für  eine  Courtisanen- 
szene:  das  Mädchen  hat  dem  Jüngling  ein  Schnürlein  geschenkt  und  jetzt 
überwindet  er  ihren  letzten  Widerstand  durch  ein  goldenes  Armband. 
Man  wird  aber  Mühe  haben,  sich  die  Liebe  einer  Dirne  vorzustellen, 
die  dem  Galan  als  Zeichen  ihrer  Zuneigung  ein  Schnurwerk  gearbeitet 
hat  und  deren  Widerstand  danach  noch  durch  einen  Wertgegenstand 
überwunden  werden  muß.  Auch  möchte  man  dem  Jüngling  die  Ge- 
schmacklosigkeit nicht  gerne  Zutrauen,  daß  er  sein  Familienwappen  auf 
die  Darstellung  einer  lockeren  Szene  habe  setzen  lassen.  Scheibler 
findet  dagegen  in  dem  Gemälde  etwas  zu  einfach  ein  Familien-  und  Ver- 
lobungsbild, bei  dem  die  gegenseitigen  Verlobungsgeschenke  zur  Schau 
getragen  werden  sollen.  Es  fällt  ihm  wie  auch  den  anderen  Beurteilern 
nicht  auf,  daß  neben  dem  einen  Wappen  das  andere,  das  Allianzwappen 
der  Braut,  fehlt.  Wenn  aber  wirklich  das  Bild  etwas  anderes  als  einen 
flüchtigen  Rausch  der  Sinne  festhält  — und  es  ist  eine  der  wunder- 
vollsten Verherrlichungen,  die  je  der  Pinsel  eines  Malers  der  reinsten 
Liebe  geweiht  — jedenfalls  kann  die  Verbindung  der  beiden  Menschen 
nur  eine  im  Sinne  der  Konvention  unebenbürtige  gewesen  sein,  mag  sie 
nun  die  in  der  damaligen  Zeit  noch  mehr  fluktuierenden  Formen  der 


Carl  Gebhardt : Das  Gothaer  Liebespaar. 


467 


morganatischen  Ehe  oder  des  Konkubinats  angenommen  haben.  Daher 
kann  man  nicht  schlechthin  von  einem  Verlobungsbilde  sprechen.  Der 
Lösung  des  Rätsels  käme  man  jedenfalls  näher,  wenn  es  gelänge,  die 
Persönlichkeit  der  Dargestellten  festzustellen,  wozu  bisher,  soviel  ich  sehe, 
noch  nirgends  ein  Versuch  unternommen  wurde.  Dazu  bieten  sich  uns 
zwei  Wege,  die  sich  vielleicht  zu  einem  Ziele  vereinigen.  Da  das  Bild 
etwa  in  dem  ersten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  entstanden  sein  dürfte 
und  der  Jüngling  ein  Alter  von  ungefähr  20  Jahren  hat,  so  mag  er  gegen 
1480  bis  1490  geboren  sein.  Außerdem  ist  uns  sein  Familienwappen 
bekannt.  Es  fragt  sich  nun,  ob  aus  diesen  beiden  Indizien  eine  zweifel- 
lose Bestimmung  seiner  Persönlichkeit  möglich  ist. 

Das  über  den  Spruchbändern  angebrachte,  in  Rot  und  Gold  ge- 
sparrte  Wappen  ist  das  der  Grafen  von  Hanau  (vgl.  das  Weigelische 
Wappenbuch  sowie  Hefner,  Handbuch  der  Heraldik  Abb.  186).  Wohl 
gibt  es  eine  Reihe  ähnlicher  Wappen  wie  die  der  Häuser  Eppstein  (Sieb- 
machers Wappenbuch  VI.  7,  Taf.  5),  Rollingen  (ebenda  II.  ii,  Taf.  9) 
und  Dorth  (ebenda  III.  4,  Taf.  6);  aber  kleine  Abweichungen  in  Form 
oder  Farbe  lassen  sie  als  ausgeschlossen  erscheinen.  Zweierlei  kommt 
unseren  Nachforschungen  zu  gute.  Einmal  haben  wir  eine  genaue  und 
zuverlässige  Genealogie  des  hanauischen  Geschlechtes,  die  selbst  die  illegi- 
timen Sprossen  nicht  unberücksichtigt  läßt,  in  den  Arbeiten  von  Dr.  Kamill 
von  Behr  »Genealogie  des  Hanauer  Grafenhauses«  (in  den  Mitteilungen 
des  Hanauer  Bezirksvereins  für  hessische  Geschichte  und  Landeskunde 
Nr.  6,  1880)  und  von  Dr.  Reinhard  Suchier  (mit  gleichem  Titel,  in  der 
Festschrift  des  Hanauer  Geschichtsvereins,  1894).  Ein  günstiger  Umstand 
liegt  sodann  darin,  daß  das  hanauische  Grafengeschlecht  nicht  weit  zer- 
splittert und  zahlreich  an  Mitgliedern  war.  Die  hanauische  Hausverfas- 
sung, wie  sie  von  Ulrich  II.  1339  und  l343  und  von  Ulrich  IV..  1375 
dem  früher  geübten  Herkommen  gemäß  festgesetzt  wurde,  verordnete  die 
Primogenitur-Erbfolge  und  erlaubte  nachgeborenen  Söhnen  nur  dann,  sich 
zu  vermählen,  wenn  der  Erstgeborene  keine  successionsfähigen  Nach- 
kommen hatte  (Wegener,  Kurzgefaßte  Geschichte  der  Herren  und  Grafen 
zu  Hanau,  1782,  S.  11,  14,  23).  Trotzdem  spaltete  sich  das  Haus  im 
Jahre  1458,  da  man  ein  Aussterben  befürchtet  und  vorschnell  auch  dem 
zweiten  Sohne  die  Ehe  erlaubt  hatte.  Seitdem  bestanden  zwei  Linien: 
die  von  Hanau-Münzenberg,  die  als  die  ältere  den  größten  Teil  der  Be- 
sitzungen am  Main  behielt,  und  die  von  Hanau-Lichtenberg,  der  die 
Gebiete  am  Oberrhein  zufielen  und  die  durch  Erbschaft  den  Besitz  des 
ausgestorbenen  Dynastengeschlechts  derer  von  Lichtenberg  im  Elsaß  an 
sich  brachte.  Unter  den  Mitgliedern  dieser  beiden  Häuser  werden  wir 
also  den  Jüngling  des  Gothaer  Bildes  zu  suchen  haben. 


468 


Carl  Gebhardt: 


Die  sämtlichen  männlichen  Mitglieder  der  Münzenberger  Linie,  die 
in  dem  Jahrhundert  von  1450  bis  1550  gelebt  haben,  sind  diese: 

Philipp  I.  1449 — 1500; 

sein  Sohn  Reinhard  IV.  1473 — 1512; 

dessen  Söhne  Berthold  1499  — 1504;  Philipp  II.  1501  — 1529;  Bal- 
thasar 1508 — 1534; 

Philipps  II.  Söhne  Reinhard  1524 — 1525,  Philipp  III.  1526 — 1561, 
Reinhard  1528 — 1554»  (Behr,  a.  a.  O.  S.  44 — 46;  Suchier,  a.  a.  O.  S.  13/14). 
Von  allen  diesen  könnte  der  Zeit  nach  einzig  Reinhard  IV.  in  Frage 
kommen,  wenn  man  sich  entschließen  könnte,  das  Bild  schon  in  die 
neunziger  Jahre  des  1 5.  Jahrhunderts  zu  setzen.  Reinhard  hat  sich  1496 
mit  Katharina,  der  Tochter  Günthers  XXXVIII.  von  Schwarzburg  ver- 
mählt. Wir  würden,  wollten  wir  das  Gemälde  als  sein  Verlobungsbild 
deuten,  das  schwarzburgische  Wappen  neben  dem  hanauischen  ver- 
missen. Noch  mehr  spricht  gegen  diese  Deutung,  daß  wir  ein  Konterfei 
des  Grafen  Reinhard  und  seiner  Gemahlin  besitzen  in  zwei  sehr  gut  und 
sorgfältig  aus  Holz  geschnitzten  Chorstühlen  in  der  reformierten  Kirche 
zu  Hanau  (vgl.  Suchier,  Die  Grabmäler  und  Särge  der  in  Hanau  bestatte- 
ten gräflichen  und  fürstlichen  Personen  aus  den  Häusern  Hanau  und 
Hessen,  1879,  S.  9/ 1 ° ; Abb.  in  der  Festschrift  des  Hanauer  Geschichts- 
vereins 16  und  17  a).  Diese  zeigen  aber  von  dem  Gothaer  Bild  voll- 
kommen abweichende  Züge:  der  Graf  hat  mit  seinen  breiten  Backen- 
knochen und  den  flachliegenden  Augen  nichts  mit  dem  Jüngling  gemein, 
so  wenig  wie  die  Gräfin  mit  ihrem  herben,  unschönen  Gesicht  uns  an 
das  Mädchen  erinnern  kann.  Philipp  II.  oder  Balthasar,  die  Söhne  Rein- 
hards IV.,  können  der  Zeit  nach  nicht  mehr  in  Betracht  kommen;  auch 
ihr  Porträt,  das  uns  in  ihren  Grabsteinen  in  jener  Kirche  erhalten  ist 
(Abb.  in  der  Festschrift  18  und  20),  ließe  eine  solche  Deutung  nicht  zu. 
Wir  dürfen  also  als  unzweifelhaftes  negatives  Ergebnis  dieser  Durch- 
musterung feststellen,  daß  der  Jüngling  des  Gothaer  Gemäldes  dem  in 
Hanau  residierenden  Hause  von  Hanau-Münzenberg  nicht  angehören  kann. 

Die  hanau-lichtenbergische  Linie  ist  in  demselben  Zeitraum  1450 
bis  1550  durch  folgende  männliche  Glieder  vertreten: 

Philipp  I.  1417  — 1480; 

seine  Söhne  Johann  1460 — 1473,  Philipp  II.  1462  — 1504,  Lud- 
wig 1464 — 1484,  Diether  etwa  1468 — 1473,  Albrecht  I474 — 1491; 

Philipps  II.  Söhne  Philipp  III.  1482  — 1538,  Ludwig  1487  bis 
1553;  Reinhard  1494—1537; 

Philipps  III.  Sohn  Philipp  IV.  1514 — 1590.  (Behr,  a.  a.  O.  S. 
50 — 52;  Suchier,  a.  a.  O.  S.  18  — 20;  Lehmann,  Urkundliche  Geschichte 
der  Grafschaft  Hanau  - Lichtenberg,  1863,  2.  Bd.  Stammtafel  Nr.  4.) 


Das  Gothaer  Liebespaar. 


469 


Von  diesen  können  wiederum  der  Zeit  nach  nur  die  drei  Söhne 
Philipps  II.  in  Betracht  kommen:  Philipp  III.,  Ludwig  und  Reinhard. 

Philipp  III.  hat  sich  1505  mit  Sibylle,  der  Tochter  Christophs  I. 
von  Baden,  vermählt.  Als  sein  Verlobungsbild  dürfen  wir  aber  das 
Liebespaar  keinesfalls  deuten.  Dagegen  spricht  das  Fehlen  des  badischen 
Wappens  ebenso  sehr  wie  ein  erhaltenes,  beglaubigtes  Bild  der  Sibylle 
(Abb.  in  der  Festschrift  35),  das  eine  völlig  andere  Gestalt  zeigt.  Auch 
von  Philipps  zweitem  Bruder  Reinhard,  der  allenfalls  noch  in  Frage 
kommen  könnte,  haben  wir  ein  Abbild  in  einer  guten  Medaille  aus  der 
Zeit  des  Bauernkrieges  (1525)  (vgl.  Suchier,  Die  Münzen  der  Grafen  von 
Hanau,  1897,  S.  45;  Abb.  ebend.  Taf.  VI,  176),  deren  harte  Züge  mit 
dem  energischen,  zusammengepreßten  Mund  sehr  mit  der  Zartheit  und 
Milde  unseres  Jünglings  kontrastieren.  Nun  bleibt  allein  noch  der  zweite 
Sohn  Philipps  II.,  Ludwig,  übrig,  und  von  ihm  glaube  ich  in  der  Tat, 
daß  wir  ihn  mit  dem  Jüngling  des  Gothaer  Bildes  identifizieren  dürfen. 

Dieses  auf  dem  Wege  der  Exklusion  gewonnene  Resultat  findet 
eine  bedeutsame  Unterstützung  in  dem,  was  wir  über  das  Leben  des 
Grafen  Ludwig  von  Hanau-Lichtenberg  wissen.  In  der  an  menschlich 
Anziehendem  nicht  eben  reichen  Geschichte  seines  Hauses  tritt  er  als  eine 
ziemlich  klar  umrissene  Gestalt  hervor.  Er  »scheint  viele  Eigenheiten 
besessen  zu  haben  und  in  seinen  Entschließungen  etwas  rasch  gewesen 
zu  sein«,  so  urteilt  über  ihn  Lehmann,  welcher  auf  Grund  der  im  Darm- 
städter Haus-  und  Kabinettsarchive  aufbewahrten  Urkunden  eine  fleißige 
Geschichte  der  Elsässer  Grafschaft  geschrieben  hat.  Ludwig  ist  am 
5.  Oktober  1487  geboren  (Wegener,  a.  a.  O.  S.  78;  Suchier,  a.  a.  O.  S.  19; 
Lehmann,  a.  a.  O.  2.  Bd.  Stammtafel  Nr.  4 und  Behr,  a.  a.  O.  S.  51 
geben  den  4.  Oktober  an).  Danach  müßte  sein  Bild  gegen  1507  gemalt 
sein,  wogegen  sich  wohl  nichts  einwenden . läßt.  Um  eine  Teilung  der 
Grafschaft  oder  Unfrieden  in  der  Familie  zu  verhüten,  ließ  Philipp  II.  in 
seiner  letzten  Krankheit  1503  von  seinen  Söhnen  Philipp  und  Ludwig 
sich  feierlich  versprechen,  »wesse  der  berurte  Ire  hre  vatter  zwuschen  Ine 
den  gebrudern  der  Herschafft  Hanawe  vnd  Lichtenbergs  halben,  thu 
setzen  ordenn  vnd  machen,  vnd  Besunder  vmb  gemeynes  Nutzs  willen, 
domidde  bede  Herschafften  nit  zertrent  oder  In  eynchen  verdurplichen 
schaden,  Auch  zwuschen  Ine  den  gebrudern  solicher  Herschafft  halber 
nit  eynicher  zwytracht  oder  widderwille  erwüchse«,  solchem  allem  woll- 
ten sie,  mit  Verzicht  auf  ihre  Rechte  u.  s.  w.,  treu  und  gewissenhaft  nach- 
kommen  (Lehmann,  a.  a.  O.  2.  Bd.  S.  433).  Nach  dem  1504  erfolgten 
Tode  ihres  Vaters  einigten  sich  die  Söhne  durch  Abkommen  vom 
22.  November  1505  dahin,  daß  Philipp  (III.)  als  einziger  regierender 
Herr  die  Grafschaft  erhalten  solle,  wogegen  er  seine  Brüder,  die  von  allen 


470 


Carl  Gebhardt: 


Ansprüchen  an  väterliches  und  mütterliches  Erbe  abstanden  und  Dom- 
herrnstellen in  Straßburg  erhalten  sollten,  durch  eine  angemessene  Apa- 
nage entschädigte.  — Sodann  wissen  wir  aus  dem  Leben  des  Grafen 
Ludwig,  daß  er  in  Beziehungen  zu  einer  Frau  getreten  ist.  Wer  sie 
gewesen,  wann  er  in  Beziehungen  zu  ihr  trat,  ist  unbekannt;  da  Ludwig 
nach  den  Quellen  in  ehelosem  Stande  starb,  kann  jene  Verbindung  auch 
nicht  die  Form  einer  morganatischen  Ehe  angenommen  haben.  Dem 
Liebesbunde  ist  ein  Sohn  entsprossen,  Gaspar  von  Hanau  (Behr,  a.  a.  O. 
S.  51;  Suchier,  a.  a.  O,  S.  19).  Diese  beglaubigte  Tatsache  kann  uns 
berechtigen,  in  dem  Gothaer  Liebespaar  ein  Bild  des  Grafen  Ludwig 
und  seiner  Geliebten  zu  sehen.  Man  darf  sich  nicht  darüber  wundern, 
daß  der  Jüngling  in  ausgesprochen  weltlicher  Tracht  dargestellt  ist,  die 
ihm  als  Domherrn  doch  schlecht  anstünde.  Wir  wissen  ja  nicht  be- 
stimmt, wann  er  in  den  geistlichen  Stand  eintrat.  1505  war  er  noch  Laie, 
und  das  päpstliche  Dekret,  das  seinem  Bruder  Reinhard  den  Dispens  er- 
teilt, trotz  seiner  Jugend  Domherr  zu  werden,  ist  erst  von  1507  datiert. 
So  könnte  das  Bild  ganz  gut  entstanden  sein,  ehe  Ludwig  mit  der  geist- 
lichen Würde  bekleidet  wurde.  Aber  selbst  als  Domherr  kann  er  sich 
auch  wohl  im  weltlichen  Gewand  haben  malen  lassen;  bedeutete  ihm 
doch  seine  Würde  nur  eine  Pfründe,  kein  Amt.  Er  muß  großen  Sinn 
für  kostbare,  mondäne  Kleidung  gehabt  haben,  denn  in  dem  Erbteilungs- 
vertrag von  1505  bedingt  er  sich  ausdrücklich  von  seinem  Bruder  aus 
dem  Nachlasse  des  Vaters  einen  »Perlinhut«,  10  Lot  Perlen  und  die 
schwarze  sammtne,  mit  Gold  verbrämte  »Schauben«  (Lehmann,  a.  a.  O. 
2.  Bd.  S.  437).  — Ludwig  ist  dem  geistlichen  Stande  nicht  treu  geblieben. 
I5I3  gab  er  seine  Präbende  auf,  um  Land  und  Leute  zu  regieren.  Viel- 
leicht hat  ihn  der  Gedanke  an  seinen  Sohn  zu  diesem  Schritt  bewogen. 
Philipp  III.  räumte  ihm,  »wiewol  ers  nit  schuldig  gewest«,  gegen  sein 
Leibgeding  im  April  1513  einen  beträchtlichen  Teil  der  hanau-lichten- 
bergischen  Besitzungen  ein.  Aber  Ludwig  regierte  nur  anderthalb  Jahre 
lang,  dann  tauschte  er  den  Landbesitz  wieder  gegen  sein  früheres  Leib- 
geding um,  »dieweyll  wir  in  zeyt  der  anderthalb  Jhar  .befunden,  das  die 
berurten  graff-  vnnd  herschafften  nutzbarlicher  vnnd  fruchtbarlicher 
durch  ein  person  geregirt  werden  mögen,  dan  das  sie  getheylt  seyen«. 
Er  muß  ein  schlechter  Wirtschafter  gewesen  sein,  denn  die  Hauptbedin- 
gung dieses  Vertrags  war:  »das  vnnser  bruder  Graue  Philipps  one  allen 
vnsem  costen  vnd  schaden  ausrichten  vnnd  bezalen  soll  alle  versessen 
zinss,  dienstlon  vnnd  schulden,  so  wir  die  zeytt  der  anderthalb  Jar 
schuldig  worden  vnnd  gemacht«  (Lehmann,  a.  a.  O.  2.  Bd.  S.  442  — 444). 
Er  ist  am  3.  Dezember  1553  zu  Willstatt  gestorben  und  wurde  in  der 
Kirche  zu  Neuweiler  beigesetzt  (Wegener,  a.  a.  O.  S.  78;  Behr,  a.  a.  O. 


Das  Gothaer  Liebespaar. 


471 


S.  51;  Suchier,  a.  a.  O.  S.  19;  Lehmann,  a.  a.  O.  2.  Bd.  Stammtafel 
Nr.  4 gibt  wohl  irrtümlich  1543  als  Todesjahr).  Das  Geschlecht  seines 
Sohnes  Gaspar  ist  1602  erloschen  (Behr,  a.  a.  O.  S.  51;  Suchier,  a.  a. 
O.  S.  i9). 

Die  ausführliche  Inschrift  der  Spruchbänder,  die  wohl  zu  einer 
richtigen  Erklärung  des  Inhalts  der  Darstellung  hatte  führen  können, 
scheint  im  Gegenteil  eine  Quelle  der  Verwirrung  geworden  zu  sein.  Ihr 
bekannter  Wortlaut  ist  dieser: 

Sie  spricht: 

Sye  • hat  • uch  • nyt  • gantz  • veracht  • 

Dye  • üch  • dasz  • schnürlin  • hat  • gemacht  . 

Er  spricht: 

Un  • byllich  • het  • Sye  • esz  • gedan  • 
want  • Ich  • han  • esz  • sye  • genissen  lan  • 

Lehmann  in  seinem  Buche  über  das  Bildnis  bei  den  altdeutschen 
Meistern  (S.  86)  übersetzt  sie  so: 

Sie:  Sie  hielt  Euch  doch  ein  wenig  wert, 

Die  Euch  das  Schnürlein  hat  verehrt. 

Er:  Und  billig  hat  sie  es  getan, 

Hat  sie  doch  selbst  die  Freude  dran. 

Bock  sieht  darin  ein  schalkhaftes  Liebesgeflüster  (Die  Werke  des 
Mathias  Grünewald,  1904,  S.  72).  Schubring  hat  sich  wohl  durch  eine 
falsche  Deutung  der  Worte  zu  seiner  Auffassung  einer  Courtisanenszene 
verleiten  lassen.  Scheibler  weist  mit  vollem  Recht  die  häßliche  Miß- 
deutung des  genießen  lassens  in  obszönem  Sinn  zurück,  aber  auch  seine 
Deutung,  nach  der  der  Jüngling  dem  Mädchen  sagt,  mit  Recht  habe  sie 
ihm  das  Schnürlein  gearbeitet,  denn  er  habe  ihr  ja  schon  vorher  ein 
Geschenk,  das  Armband  nämlich,  gegeben;  auch  diese  Deutung  kann  ich 
nicht  sehr  sinnig  finden.  Das  ganze  Rätsel  löst  sich,  sobald  man  genau 
auf  den  Wortlaut  achtet.  »Sie  hat  Euch  nicht  ganz  verachtet,  die  Euch 
das  Schnürlein  hat  gemacht«  sagt  sie,  und  er  antwortet  ihr:  »Und  billig 
hätte  sie  es  getan,  denn  ich  habe  es  sie  genießen  lassen.«  Was  hätte  sie 
billig  getan?  Ihm  das  Schnürlein  gemacht?  Nein!  Denn  das  hat  sie 
ihm  ja  wirklich  gemacht.  Das  »es«  kann  sich  zweifellos  nur  auf  den 
Vordersatz  ihrer  Rede  beziehen  und  der  Sinn  kann  nur  sein:  sie  hätte 
das  Recht  dazu  gehabt,  ihn  zu  verachten.  Weil  er  es  sie  hat  genießen 
lassen.  Wiederum  kann  das.  »es«  nichts  anderes  bedeuten:  er  hat  sie 
früher  seine  Verachtung  genießen  lassen.  Mit  dieser  Deutung,  die  nicht 
ein  Produkt  der  Phantasie,  sondern  der  strengen  Worterklärung  ist,  scheint 
mir  der  Sinn  des  Bildes  vollkommen  klargestellt.  Welcher  konkrete 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVlII. 


32 


472 


Carl  Gebhardt: 


Vorgang  zugrunde  liegt,  das  vermag  und  braucht  man  auch  gar  nicht  in 
Erfahrung  zu  bringen;  doch  erinnern  wir  uns  immerhin  daran,  daß  der 
Jüngling  aus  gräflichem  Hause  und  das  Mädchen  eine  Wappenlose, 
Bürgerliche  ist.  Jedenfalls  aber  spricht  aus  den  schlichten  Reimen  des 
Zwiegesprächs,  die  der  Liebende  auf  sein  Bild  setzen  ließ,  nicht  die  zwei- 
deutige Sprache  eines  Lüstlings,  auch  nicht  ein  schalkhaftes  Scherzwort, 
sondern  ernst  genug  die  Sprache  der  Reue  und  der  Versöhnung  in  der 
Liebe.  Das  hätte  schon  der  Ausdruck  der  Gesichter  lehren  können,  in 
denen  nichts  Leichtes,  Tändelndes,  sondern  ein  stiller,  fast  schwermütiger 
Ernst  uns  erscheint.  Es  liegt  ein  Menschenschicksal  in  diesem  Bilde. 

Noch  weniger  wo  möglich  als  über  den  Gegenstand  des  Bildes  hat 
man  sich  über  seinen  Meister  einigen  können.  Sch  ei  bl  er  gab  seiner 
Zeit  der  Vermutung  Raum,  daß  es  von  der  Hand  Schtichlins  stamme, 
und  wenn  er  auch  heute  das  nicht  mehr  aufrecht  erhält,  so  scheint  es 
ihm  doch  dem  Kolorit  nach  am  meisten  an  jenen  erinnernd.  Flechsig 
hat  in  seinem  Aufsatz  über  den  Meister  des  Hausbuchs  als  Maler  (Zeit- 
schrift für  bildende  Kunst,  N.  F.  8.  Jahrg.  S.  9 und  15  — 17)  das  Bild 
in  Gotha  geradezu  zum  Ausgangspunkt  seiner  Forschungen  über  die 
Werke  dieses  Meisters  gemacht,  ohne  durch  anderes  als  ziemlich  ober- 
flächliche sachliche  Übereinstimmungen  dazu  berechtigt  zu  sein.  Wie 
sehr  man  sich  aber  hüten  muß,  dem  Hausbuchmeister  lediglich  auf  in- 
haltliche Übereinstimmung  hin  Gemälde  zuzuschreibep,  zeigt  das  Beispiel 
der  Nürnberger  Allegorie  des  Lebens  und  des  Todes,  die  ihm  ja  auch 
gelegentlich  einmal  zugesprochen  worden  ist.  Die  Ansicht  Flöchsigs 
wurde  dann  auch  von  Lehrs  zurückgewiesen  (Jahrbuch  der  kgl.  preuß. 
Kunstsammlungen,  20.  Bd.  S.  174).  Thode,  der  die  Urheberschaft  des 
Hausbuchmeisters  ebenfalls  für  ausgeschlossen  hält,  sieht  darin  das  Werk 
eines  mittelrheinischen  Meisters,  von  dem  ein  Altar  in  Aschaffenburg  mit 
der  Geburt  Christi  als  Mittelbild  herrühre  und  der  der  unmittelbare  Vor- 
gänger und  Lehrer  Grünewalds  gewesen  sei  (Jahrbuch  der  kgl.  preuß. 
Kunstsamml.  21.  Bd.  S.  i33f.).  Eine  Bestätigung  dieser  Ansicht  findet  er 
darin,  daß  es  für  die  Grafen  von  Hanau,  also  für  die  Nachbarstadt  von 
Aschaffenburg  ausgeführt  sei.  Aber  gerade  dieses  Argument  scheint  mir 
nicht  mehr  aufrecht  zu  erhalten,  denn  wen  auch  immer  das  Bild  darstellen 
möge,  für  Hanau  kann  es  doch  wohl  nicht  gemalt  worden  sein.  Schließ- 
lich hat  Bock  in  seinem  interessanten  Versuche,  einen  beträchtlichen  Teil 
der  erhaltenen  altdeutschen  Gemälde  und  Zeichnungen  dem  Oeuvre  Grüne- 
walds einzureihen,  sich  auch  das  Gothaer  Liebespaar  nicht  entgehen 
lassen  (Die  Werke  des  Mathias  Grünewald,  1904,  S.  71  — 73).  »Grüne- 
wald und  kein  anderer  hat  das  Bild  gemalt«.  Vielleicht  kann  ihm 
hierin  nicht  jeder  folgen,  wenn  er  sich  dann  auch  von  ihm  »den 


Das  Gothaer  Liebespaar. 


473 


Vorwurf  gefallen  lassen  muß,  auf  einem  veralteten  Standpunkt  zu  stehen« 
(a.  a.  O.  S.  3). 

Ich  muß  bekennen,  daß  mir  von  allen  angeführten  Ansichten  die- 
jenige Scheiblers  am  meisten  zusagt.  Allerdings  glaube  ich  nicht  an  die 
Urheberschaft  Schiichlins,  ja  nicht  einmal  an  einen  direkten  Schul- 
zusammenhang mit  ihm.  Aber  ich  glaube,  daß  das  Gothaer  Bild  auf 
demselben  Boden  erwachsen  ist  wie  die  Außenseiten  des  Tiefenbronner 
Hochaltars:  auf  dem  Boden  der  oberrheinischen  Kunst.  Bei  unserer  noch 
sehr  unvollkommenen  Kenntnis  vom  Entwicklungsgang  der  oberrheinischen 
Malerei  läßt  sich  diese  Ansicht  einstweilen  stilkritisch  noch  kaum  be- 
gründen. Aber  wenn  meine  Deutung  des  Dargestellten  richtig  ist,  dann 
ist  das  Bild  jedenfalls  am  Oberrhein  entstanden.  Durch  den  erwähnten 
Erbteilungsvertrag  vom  22.  November  1505  erhielt  Graf  Ludwig  den 
Gebrauch  des  den  Grafen  von  Hanau-Lichtenberg  gehörigen  Hofes  in 
Straßburg  zugestanden,  damit  er  daselbst  als  Domherr  residiere  (Lehmann, 
a.  a.  O.  2.  Bd.  S.  437).  Auch  in  der  kurzen  Zeit  seiner  selbständigen 
Regierung,  die  für  die  Entstehung  unseres  Bildes  kaum  mehr  in  Betracht 
kommt,  kann  seine  Residenz  nur  im  Elsaß  selbst  gelegen  haben,  denn 
seine  Besitzungen  erstreckten  sich  nicht  darüber  hinaus;  wahrscheinlich 
war  es  die  Stadt  Neuweiler,  der  bedeutendste  ihm  gehörende  Ort,  wo 
er  auch  begraben  wurde.  Ist  aber  das  Bild,  wie  ich  vermute,  in  Straß- 
burg gemalt  worden,  warum  sollten  wir  da  Bedenken  tragen,  es  einem 
uns  noch  unbekannten  Straßburger  Künstler  aus  dem  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts zuzuschreiben?  Wohl  könnte  der  Hausbuchmeister  ebensogut 
wie  Grünewald  um  jene  Zeit  in  Straßburg  gewesen  sein,  aber  die  Über- 
einstimmungen mit  ihnen  müßten  doch  wohl  schlagender  sein,  um  uns 
zu  veranlassen,  diesen  nächstliegenden  Gedanken  aufzugeben.  Darin  darf 
uns  auch  der  Umstand  nicht  beirren,  daß  wir  bisher  noch  kein  anderes 
Werk  dieses  zarten  und  poetischen  deutschen  Meisters  aufweisen  können. 
Wissen  wir  doch  aus  Bühelers  Chronik  auf  das  Jahr  1529:  es  haben  die 
Herren  von  Straßburg  erkannt,  »daß  man  alle  Altär,  taufstein,  bi  1 der 
und  crucifix  solle  in  allen  Kirchen  hinwegbrechen,  wie  daß  auch  solches 
geschehen«  (Janitschek,  Geschichte  der  Deutschen  Malerei  S.  244).  Auch 
als  der  Meister  eines  Werkes  wird  der  Maler  des  Gothaer  Liebespaares 
unter  den  Größten  seiner  Zeit  seine  Stelle  einnehmen. 


32 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 

Von  Paul  Kalkoff. 

3.  Albrecht  Dürer,  Sebastian  Brant  und  Konrad  Peutinger 
in  Antwerpen  im  Sommer  1520.1) 

Nachdem  der  neugewählte  Kaiser  Karl  V.  am  1.  Juni  1520  in 
Vlissingen  gelandet  war,  um  im  Herbst  zu  seiner  Krönung  und  Abhaltung 
des  ersten  Reichstags  auf  deutschem  Boden  zu  erscheinen,  vergingen 
noch  mehrere  Wochen,  ehe  die  deutschen  Fürsten  oder  ihre  Vertreter, 
sowie  die  Botschaften  der  Reichsstädte,  die  ihn  zu  seiner  Wahl  beglück- 
wünschen und  Bestätigungen  ihrer  Freiheiten  erbitten  wollten,  an  seinem 
Hoflager  eintreffen  konnten.  Erst  als  er  von  einer  Begegnung  mit  Hein- 
rich VIII.  am  11. — 14.  Juli  aus  Calais  zurückkehrte,  wurden  zunächst  in 
Brügge,  wo  er  vom  24. — 29.  Juli  weilte,  und  sodann  in  Gent,  wohin 
der  Monarch  den  30.  übersiedelte,  um  am  7.  August  nach  Brüssel  auf- 


1)  Vgl.  Bd.  XX,  443  ff.  und  XXVII,  346  fr.  dieser  Zeitschr.  — Zu  der  folgenden 
Untersuchung  wurde  ich  angeregt  durch  Herrn  Museumsdirektor  Dr.  J.  Janitsch,  der  in 
einer  im  Kupferstichkabinett  zu  Berlin  aufbewahrten  Zeichnung  des  Skizzenbuchs  der 
niederländischen  Reise  (Lippmann  Nr.  63)  das  Porträt  Seb.  Brants  erkannt  hatte  und  den 
ihm  zufallenden  Teil  des  Beweises  unter  Wiedergabe  der  übrigen  Bildnisse  im  Jahrbuch 
der  Kgl.  Pr.  Kunstsammlungen  veröffentlicht. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  ich  den  Grund  nachweisen  zu  können  glaube,  warum 
der  Erzbischof  Albrecht  von  Mainz  das  zweite  ihm  von  Dürer  1523  übersandte  Porträt 
so  kühl  aufgenommen  hat,  daß  er,  wie  Dürer  in  seinem  Schreiben  vom  4.  September 
(Lange-Fuhse  S.  69)  klagte,  dessen  in  seiner  Antwort  nicht  einmal  Erwähnung  getan 
hatte,  so  daß  der  Künstler  fürchtete,  das  »Conterfet«  möchte  ihm  »vielleicht  nit  gefällig 
sein«.  Nun  hatte  sich  aber  der  Kurfürst  schon  Ende  1520  um  eine  Änderung  seines 
zuvor  von  einem  schmählich  abgesetzten  Kardinal  geführten  Titels  bemüht  und  den 
Papst  gebeten,  die  Titelkirche  S.  Petri  ad  vincula  als  »apud  Germanos  celebratior  et 
potioris  nominis«  eintauschen  zu  dürfen,  die  ihm  denn  auch  am  3.  Januar  1521  feierlich 
verliehen  wurde  (vgl.  die  Akten  zu  meiner  Arbeit  über  »die  Beziehungen  der  Hohen- 
zollern  zur  Kurie«  usw.  in  »Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen  Archiven  und 
Bibliotheken«,  Rom  1906).  Nun  aber  hatte  Dürer  unter  seinem  »großen  Kardinal«  — 
gewiß  zum  schweren  Ärger  des  eitlen  Herrn  — einfach  die  Legende  des  Kupferstichs 
von  1519  mit  dem  fatalen  Titel  von  S.  Chrysogonus  wiederholt  und  auch  gleich  500  Ab- 
züge gemacht  und  eingesandt,  so  daß  das  Übel  auch  nicht  durch  eine  Korrektur  der 
Platte  wieder  gutzumachen  war. 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 


475 


zubrechen,  die  feierlichen  Empfänge  abgehalten.2)  Die  Gesandten  von 
Augsburg  wurden  schon  in  Brügge  gehört;  auch  Nürnberg  und  Metz 
wurden  von  dem  englischen  Gesandten  als  hier  vertreten  erwähnt,  und 
am  6.  August  meldet  er: 

»Gesandte  von  Worms,  Speier  und  Straßburg  sind  auch  hier- 
her gekommen,  um  alle  ihre  Macht  zur  Erhaltung  der  kaiserlichen  Würde 
anzubieten.« 

Die  Stadt  Straßburg  hatte  diese  Botschaft  gründlich  vorbereitet. 
Schon  im  Januar  hatte  ein  Ausschuß  des  Rates  unter  Anleitung  des  in 
den  Geschäften  der  Stadt  ergrauten  Stadtschreibers  und  bewährten  Rechts- 
gelehrten Dr.  Sebastian  Brant  die  Privilegien  nachgeprüft  und  die 
Wünsche  der  Stadt  in  betreff  einer  Erweiterung  derselben  festgestellt.  Da 
der  weltkundige  Dichter  am  Hofe  des  verstorbenen  Kaisers  in  hohem 
Ansehen  gestanden  hatte,  auch  von  ihm  mit  der  einträglichen  Würde 
eines  Pfalzgrafen  des  heiligen  Reichs  (comes  sacri  palatii)  ausgezeichnet 
worden  war,  so  war  es  selbstverständlich,  daß  er  auch  dem  Enkel 
Maximilians  I.  gegenüber  die  Stadt  vertreten  und  das  Wort  führen 
mußte. 

Einige  Angaben  über  die  Dauer  dieser  Reise  glaubte  man  bisher 
einem  1870  beim  Brande  der  Stadtbibliothek  Straßburgs  vernichteten 
Geschichtswerke  des  Dichters  und  Stadtschreibers,  seinen  sogenannten 
»Annalen«  zu  verdanken,  die  A.  W.  Strobel  in  einer  seiner  Ausgabe  des 
Narrenschiffs  vorausgeschickten  Lebensbeschreibung  verwertet  hatte.  3) 
Neuerdings  hat  nun  L.  Dacheux  gezeigt,  daß  es  sich  hier  vielmehr  um 
das  großartig  angelegte  Werk  einer  Straßburger  Chronik  handelt,  das  in 
den  uns  interessierenden  Teilen  auf  einem  von  Jakob  Wencker  hergestellten 
Auszug  aus  den  Ratsprotokollen  und  einigen  Notizen  aus  den  »Gedenk- 


a)  Die  von  Chr.  Fr.  Stalin  (Aufenthaltsorte  Karls  V.)  in  den  Forschungen  zur 
Deutschen  Gesch.  V,  S.  567  ff.  gegebene  Zusammenstellung  beruht  auf  älteren  Werken 
und  ist  unzureichend;  sie  wird  schon  wesentlich  vervollständigt  durch  das  Journal  des 
voyages  de  Charles-Quint  von  J.  de  Vandenesse  bei  Gachard,  Collection  des  voyages 
des  Souverains  des  Pays-Bas,  Brüssel  1874,  II,  p.  27.  Die  genauesten  Daten  aber  finden 
sich  in  den  Depeschen  der  englischen  oder  der  venetianischen  Botschafter,  im  vorliegen- 
den Falle  in  denen  des  englischen  Gesandten  Spinelli  vom  27.  Juli  und  6.  August. 
J.  S.  Brewer,  Letters  and  Papers,  foreign  and  domestic,  of  the  reign  of  Henry  VIII. 
(London  1867)  vol.  III,  Nr.  925  p.  339 — 341  und  Appendix  Nr.  8 p.  156359.  Deutsche 
Reichstagsakten,  Jüngere  Reihe,  Band  II  (Gotha  1896);  Einleitung  von  J.  Bernays,  S.  72. 

3)  Bibliothek  der  gesamten  deutschen  Nationalliteratur  XVII.  Das  Narrenschiff. 
Quedlinburg  und  Leipzig  1839,  S.  32  h Hier  auch  die  Grabschrift  Brants  mit  Angabe 
seiner  Titel  und  Würden.  Auf  Strobel  gehen  die  Mitteilungen  aller  andern  Forscher 
zurück,  so  Charles  Schmidt,  Histoire  litteraire  de  l’Alsace,  Paris  1879,  I,  p.  235,  250  s<|. 
mit  der  Feststellung  des  Untergangs  der  »Annalen«,  K.  Gödeke  u.  a. 


476 


Paul  Kalkoff: 


büchlein«  Brants  beruht. 4)  Da  hier  die  bisher  bekannten  Daten  noch 
einige  Ergänzung  erfahren,  so  ist  es  bei  Heranziehung  einer  zweiten  von 
Brant  selbst  herrührenden  Quelle  möglich,  seine  Gesandtschaftsreise  dem 
zeitlichen  Verlauf  nach  genau  festzulegen  und  auch  über  seine  in  den 
Niederlanden  angeknüpften  Beziehungen  manches  zu  gewinnen. 

Das  von  Karl  V.  am  12.  April  von  Santjago  aus  erlassene  Rund- 
schreiben an  alle  Stände  des  Reichs,  in  dem  er  sie  ersuchte,  für  eine 
glückliche  Überfahrt  nach  Deutschland  Bittgänge  abhalten  zu  lassen,  5) 
wurde  in  Straßburg  am  7.  Mai  verlesen  und  gewissenhaft  befolgt.4 5 6) 

Zwei  Monate  später  konnte  man  den  Dankgottesdienst  für  die  Er- 
hörung  dieser  Gebete  abhalten,  und  an  demselben  Tage  war  es  auch 
schon  beschlossene  Sache,  daß  nunmehr  die  von  Dr.  Brant  anzuführende 
Botschaft  sich  auf  den  Weg  machen  müsse. 

Denn  schon  hatte  der  betriebsame  Geschäftsmann  Mittel  und  Wege 
ins  Auge  gefaßt,  um  auch  für  sich  einen  erwünschten  Vorteil  bei  dieser 
Hofreise  zu  erlangen.  Ähnlich  wie  Dürer  bei  der  neuen  Regierung  die 
Anerkennung  seines  durch  umfangreiche  Arbeiten  für  den  verstorbenen 
Kaiser  redlich  erworbenen  Leibgedinges  zu  erwirken  hoffte,  wollte  auch 
Brant  unter  Berufung  auf  seine  im  Verlauf  von  »dreißig  Jahren«  dem 
Ahnherrn  Karls  V.  erwiesenen  Dienste  einen  ihm  vor  Jahren  verliehenen 
»Bestallbrief«  über  jährlich  50  Gulden  rhein.  Dienstgelds,  den  ihm  Maxi- 
milian bei  einer  Abschiedsaudienz  in  Innsbruck  [1505]  verliehen,  aber 
höchstwahrscheinlich  nie  [jedenfalls  bis  1517  nicht]  honoriert  hatte, 
geltend  machen.  Maximilian  hatte  ihn  damals  beauftragt,  »das  löblich 
herkommen  und  Wesen«  der  römischen  Kaiser  Titus  und  Trajanus  zu 
beschreiben  und  ihm  dann  durch  einen  Brief  mit  eigener  Unterschrift 
und  mit  Instruktion  seines  »allergeheimsten  Sekretärs«,  des  Reichsvize- 
kanzlers Nikolaus  Ziegler,  befohlen,  für  den  mit  Vergünstigung  Papst 
Julius’  II.  aufgestellten  Heiligenkatalog  und  Kalendarium  von  etwa 
130  Mannen,  Frauen  und  Jungfrauen  aus  dem  »Ursprung  und  Zugewandt- 
schaft des  Hauses  Österreich«  nun  noch  Antiphonien  (»Antiphen«)  unter 
Benutzung  der  Legenden  über  das  Leben  dieser  Heiligen,  auch  dazu 

4)  L.  Dacheux,  La  Chronique  strasbourgeoise  de  J.  Trausch  et  de  Jean  Wencker.  VI. 
Annales  de  Sebastien  Brant:  Jac.  Wencker,  Extractus  ex  protocollis  Dom.  XXI  vulgo 
Sebastian  Brants  Annalen.  In  den  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  Erhaltung  der  ge- 
schichtlichen Denkmäler  im  Elsaß  (Bulletin  de  la  societe  etc.)  II.  Folge,  XV.  Bd.  (Straß- 
burg 1892),  S.  209  ff.  und  XIX.  Bd.  (1899),  S.  33  ft'.  (Auszüge  des  Bibliothekars  Jung 
aus  den  Protokollen  der  XXI  für  die  Jahre  1517 — 36);  hier  S.  44  die  Mitteilung,  daß 
Ende  Januar  schon  ein  »Auszug  der  Freiheiten  der  Stadt«  geprüft  wurde,  um  bei  dem 
neuen  König  deren  Konfirmation  zu  erlangen. 

5)  Reichstagsakten  II,  S.  65  h 

6)  Dacheux,  a.  a.  O.  XIX,  S.  44,  Nr.  4400. 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 


477 


passende  »Versikel  und  Kollekten«  in  »neufränkischer  Form  und  Ver- 
griff« zu  verfassen.  Brant  hatte  sich  dieser  Aufgabe  unterzogen  und  dem 
Kaiser  durch  dessen  gelehrten  Berater  und  Mitarbeiter  am  Heiligen- 
kalender, den  Freiburger  Historiker  Dr.  Jakob  Mennlin  (Mennel,  Man- 
Hus)  eine  Probe  zugehen  lassen. 7)  Noch  ehe  das  Werk  ganz  vollbracht 
war,  hatte  ihn  der  Kaiser  aufgefordert,  die  Abstammung  des  Geschlechtes 
der  Habsburger  von  Noah  her  mit  Fleiß  zu  untersuchen ; und  auch 
dieser  »schweren  und  bürdlichen  Arbeit«  hatte  sich  Brant  schon  unter- 
zogen, aber  »bald  darauf«  starb  der  Kaiser. 

Diese  ganze  Erzählung  zeigt  ja  nun  klärlich,  zu  welchem  Zweck 
der  greise  Literat  jetzt  sein  Manuskript  mit  den  Historien  der  beiden 
römischen  Kaiser  hervorsuchte;  auch  war  es  recht  geschickt  angelegt, 
wenn  er  die  geplante  Huldigungsgabe  durch  ein  Widmungsschreiben 
seines  Sohnes  Onufrius,  der  den  alten  und  wohl  schon  etwas  gebrech- 
lichen Herrn  Stadtschreiber  auf  der  beschwerlichen  Fahrt  begleiten 
sollte, 9)  einleitete:  so  ließ  sich  die  Erinnerung  an  jene  finanziellen  An- 
sprüche ungezwungener  Vorbringen,  und  zugleich  wurde  der  Sohn  in  an- 
gemessener Weise  dem  Herrscher  vorgestellt.  Diese  »Vorred  Onophrii 
Brandt,  Burgers  zu  Straßburg  in  die  Beschreybung  der  Tugenden  beyder 
römischen  Kaiser  Tyti  und  Trajani«  an  »Herrn  Carolen,  . . . namens  den 
ftinfften,  erwölten  Römischen  Kiinig  und  baldkünftigen  Kaiser«  klingt 
dann  aus  in  die  übliche  überschwengliche  Beglückwünschung  und  schließt 
mit  der  feierlichen  Datierung: 

»Datum  auf  den  zehenden  Tag  Junii,  als  die  fröhliche  und  von 
Gott  . . . fürgesehene  Meerüberfahrt  und  Ankunft  des  Kaisers  gon  Gändt 
in  Flandern  mit  hoher  Freude  in  die  Stadt  Straßburg  verkündet  und 

7)  Nach  Obigem  dürfte  denn  doch  der  die  Heiligen  betr.  Brief  v.  17.  Dez.  1517 

an  Villinger  mit  der  Beziehung  auf  den  1505  verliehenen  »Bestellbrief«  über  »järlich 

I.  guldin«,  von  Brant  und  nicht  von  Manlius  herrühren.  Ergänzung  zu  Laschitzer,  die 

Heiligen  ...  im  Jahrbuch  der  kunsthistorischen  Sammlungen  des  . . . Kaiserhauses  IV, 

S.  71,  77—79,  86  u.  V,  S.  2 2of.  H.  Ulmann,  Kaiser  Maximilian  I.,  II.  Bd.  (Stuttgart 
1891)  S.  727,  751  f.  Wenn  hier  S.  752  gesagt  wird,  daß  für  die  Heiligenbilder  Manlius 

die  erzählende  Grundlage  beschaffte,  während  andere  Gelehrte,  »nicht  aber  S.  Brant« 
Zensur  übten,  so  dürfte  es  nicht  überflüssig  sein,  die  dem  Straßburger  Dichter  zugeteilte 

Aufgabe  nach  seinen  eigenen  Mitteilungen  festzustellen.  — Das  »new  Hämische  form« 
im  Drucke  ist  nach  dem  mhd.  vrenkisch,  vrensch  zu  deuten. 

*)  Vgl.  dazu  Ulmann,  a.  a.  O.  S.  75 1 * * * S. * * * * 10 - 

9)  Brant  starb  am  10.  Mai  152t  im  vierundsechzigsten  Lebensjahre.  — Am 
14.  Juli  wurde  über  die  Vertretung  seines  Sohnes  in  der  Verwaltung  des  Pfennigturms 
Beschluß  gefaßt  (als  der  doctor  sin  sun  mit  ime  zum  künig  genomen)  Dacheux,  a.  a.  O. 
XV,  Nr.  3453.  Ob  der  Besitz  des  Hauses  zum  Nesselbach  als  kaiserlichen  Lehens  (vgl. 
Nr.  3456  zum  27.  April  1521),  das  dann  auf  Onufrius  Brant  überging  (ebenda  zum 

10.  Juni)  mit  jenem  Bestallbrief  Zusammenhängen  mag: 


478 


Paul  Kalkofif: 


gehört,  auch  mit  zierlicher  und  andechtiger  Procession  und  Lobsagung  . . . 
celebriert  und  begangen  worden  ist.  Anno  1520.« 

Die  von  Strobel  a.  a.  O.  aufbewahrte  Stelle  aus  Brants  Notizen 
gestattete  nun  noch  keinen  genauen  Schluß  auf  die  Zeit  des  Beginns  der 
Reise;  es  heißt  da: 

»Ab  isto  tempore  usque  Simphoriani  (also  bis  zum  Feste  der 
Märtyrer  Timotheus  und  Symphorianus  am  22.  August)  absens  fui,  missus 
Gandavum  ad  Caes.  Maiestatem.  Redii  sanus  et  incolumis,  gratiam 
Caesaris  adeptus  ex  congratulatione«  . . . 

Im  Auszuge  Wenckers  lautet  der  Satz  vollständiger:  quae  in  chro- 
nica nostra  habetur.  Laus  deo  optimo  maximo.  5a  post  Johannis  vigilia 
Petri  et  Pauli  152010).  Letzteres  Datum,  der  28.  Juni,  dürfte  nun  von 
dem  Bearbeiter  zur  Erläuterung  des  im  Eingang  enthaltenen  Hinweises 
nachgetragen  worden  sein  und  also  die  Abreise  der  Botschaft  zeitlich 
bestimmen.11) 

Zweifellos  sind  nun  die  Herren,  wohl  schon  in  Gesellschaft  derer 
von  Worms  und  Speier,  zum  mindesten  von  Mainz  abwärts  bis  Köln 
bequem  und  schnell  zu  Schiffe  gereist,12)  und  so  kamen  sie  wohl  spätestens 
nach  vierzehn  Tagen  auf  der  großen  Handelsstraße  von  Köln  her  nach 
Antwerpen  und  also  zu  einer  Zeit,  als  eben  der  Kaiser  mit  dem  gesamten 
Hofe  zu  feierlicher  Begegnung  mit  König  Heinrich  VIII.  und  Wolsey  in 
Calais  weilte. 

Auffällig  ist  es  nun,  was  weiterhin  seine  Erklärung  finden  wird, 
daß  die  Straßburger  Gesandten  sich  nicht  zugleich  mit  den  Augs- 
burgern und  Nürnbergern  schon  in  Brügge  ihres  Auftrags  entledigten, 
zumal  ihnen  so  die  großartigen  Festlichkeiten  entgingen,  mit  denen  der 
junge  Kaiser  hier  empfangen  wurde.  Zur  Kennzeichnung  des  geselligen 
Kreises,  der  sich  hier  schon  gebildet  hatte  und  in  dessen  Mitte  dann  in 
Antwerpen  zu  einer  Begegnung  Brants  mit  Albrecht  Dürer  sich 
reichliche  Gelegenheit  finden-  mußte,  empfiehlt  es  sich  aber,  zunächst 


10)  L.  Dacheux  in  den  Mitteil,  der  Ges.  usw.  Bd.  XV,  S.  242,  Nr.  3453. 

")  Auch  abgesehen  von  der  Nachricht  des  englischen  Gesandten  kann  also  der 
erste  Aufenthalt  Karls  V.  in  Gent  vom  6.  bis  10.  Juni  hier  nicht  in  Betracht  kommen. 

“)  Die  Augsburger  Gesandtschaft,  bestehend  aus  neun  Personen  mit  neun  Pferden 
unter  dem  Altbürgermeister  Georg  Langenmantel  und  dem  berühmten  Stadtschreiber 
Dr.  Konrad  Peutinger  verrechnete  außer  der  Zehrung  für  Mann  und  Pferd  und  Fuhr- 
lohn  für  einen  sie  begleitenden  Fuhrmann  »auch  für  schefflon  von  Mentz  gen 
Köln  und  herrader«.  Die  beiden  Repräsentanten  wurden  zugleich  mit  »burgermeister 
Hansen  Imhof  von  Nürmberg«  am  1.  September  in  Augsburg  mit  dem  üblichen 
Geschenk  an  Rheinfall  und  Malvasier  empfangen.  (Stadtarchiv  von  Augsburg,  Bau- 
meisterrechnung von  1520  S.  36a,  44a.) 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 


479 


einige  bisher  noch  nicht  kombinierte  Quellen  über  die  Tage  von  Brügge 
heranzuziehen. 

Da  erzählt  denn  der  bekannte  Straßburger  Prediger  und  Geschicht- 
schreiber Kaspar  Hedio  in  seiner  lateinisch  wie  deutsch  vielfach  gedruckten 
»Chronik  des  Abtes  von  Ursberg«  und  zwar  in  der  als  Paralipomena 
bezeichneten  Fortsetzung,1 3)  deren  auf  die  Niederlande  bezügliche,  sehr 
wertvolle  Angaben  er  von  dem  später  als  Glaubensflüchtling  in  Straß- 
burg weilenden  Gerhard  Geldenhauer  (Noviomagus,  von  Nym- 
wegen)  erhalten  hat,  der  .damals  als  Sekretär  des  Bischofs  von  Utrecht, 
Philipp  von  Burgund,  schon  seit  dem  27.  Juni  sich  am  Hofe1* *)  aufhielt: 

»Durch  eine  vom  Pfalzgrafen  Friedrich  geführte  Gesandtschaft 
berufen,  landete  Karl  V.  im  Jahre  1520  in  Flandern;  im  Gefolge  des 
Königs  befanden  sich  die  gelehrtesten  Männer,  Erasmus,  Hutten,  der 
geheime  Rat  des  Kaisers  Aloisius  Marliano,^)  Joh.  Ludovico 
Vi v e s [ein  spanischer  Humanist  und  vertrauter  Korrespondent  des 
Erasmus]  und  Georg  Haloinus.  Der  Kaiser  kam  bei  tiefer  Nacht16) 
nach  Brügge  unter  großem  Jubel  der  Zuschauer.  Sein  Bruder  Ferdinand 
und  der  Kardinal  [Wilhelm]  von  Croy,  [Erzbischof  von  Toledo,  ein  dem 
Erzherzog  gleichaltriger  junger  Herr]  ritten  ihm  voraus,  die  Kaisertochter 
Margareta  folgte  ihm.  Am  nächsten  Tage  wurde  das  Fest  des  heiligen 
Jakob  [25.  Juli],  des  Schutzpatrons  der  spanischen  Reiche,  mit  großer 
Feierlichkeit  begangen,  wobei  der  Bischof  von  Cordova  [Alonso  Manrique] 
die  Messe  las.  Der  hochgelehrte  Doktor  Thomas  Morus  hatte  eine 
Botschaft  an  die  deutschen  Kaufleute  auszurichten;  auch  waren  in  Brügge 
Gesandte  von  Venedig,  Köln,  Nürnberg  und  Lübeck,  Herzog  Heinrich 
von  Braunschweig  und  Gesandte  des  Herzogs  von  Lüneburg  und  des 

'3)  Casp.  Hedio,  Chronicon  abbatis  Urspergensis  . . . Paralipomena  rerum  memo- 
rabilium.  Straßburg  1537  fol.,  p.  476.  In  den  Arbeiten  von  J.  Prinsen,  Gerardus  Gelden- 
liauer  Noviömagus,  ’sGravenhage  1898,  und  Collectanea  van  Ger.  Geld.  N.  (Werken  uitg. 
door  het  hist.  Genootschap  te  Utrecht  III.  Ser.  Nr.  16)  Amsterdam  1901  sind  die  ersten 
aus  den  Coli.  G.s  in  die  Paralip.  übergegangenen  und  uns  so  erhaltenen  Stücke  nicht 
nachgewiesen  worden.  — G.  de  Halewyn  (Halluin)  auf  Schloß  Comines  in  Flandern 
(1536-}-),  gelehrter  Freund  des  Erasmus.  Biogr.  nationale  ...  de  Belgique  VIII,  628. 

J4)  Brewer  a.  a.  O.  III,  p.  317. 

*5)  Mit  dem  Sekretär  dieses  aus  Mailand  stammenden  Bischofs  von  Tuy,  dem 
auch  mit  Erasmus  befreundeten  Augustin  Scarpinello,  dem  »Meister  Augustin 
Lumbarth«  des  niederländischen  Tagebuchs,  wurde  Dürer  in  Antwerpen  bekannt. 
Vgl.  meinen  Nachweis  in  Repert.  f.  Kunstwissensch.  XXVII,  S.  347,  Anm.  3. 

l6)  Der  englische  Gesandte  Spinelli  suchte  den  Kaiser  schon  einige  Tage  vorher 
in  der  Nähe  der  Stadt  auf  (Collect,  des  voy.  II,  p.  28)  und  berichtet  dann:  »Der  Kaiser 
will  heute  Abend  mit  großem  Pomp  und  großem  Gefolge  von  deutschen  und  nieder- 
ländischen Edelleuten  und  Gesandten  einziehen« ; der  Anfang  der  Depesche  wurde  also 
am  24.  niedergeschrieben.  Brewer  a.  a.  O.  S.  339. 


480 


Paul  Kalkoff: 


Landgrafen  von  Hessen,  endlich  Konrad  Peutinger  anwesend.  Am 
Montag  nach  Jakobi  [30.  Juli]  brach  der  Kaiser  nach  Gent  auf.«  (Es 
folgt  noch  ein  abfälliger  Bericht  über  eine  vom  Beichtvater  des  Kaisers, 
dem  französischen  Franziskaner  Jean  Glapion,  in  Brügge  gehaltene  Predigt). 

»Später  [am  23.  September]  wurde  der  Kaiser  von  den  Antwerpenern 
mit  höchster  Pracht  (summo  cum  triumpho)  empfangen,  wie  es  ja  Petrus 
Ägidius  beschrieben  hat.  Auch  von  den  Bürgern  und  dem  Bischof  von 
Lüttich,  Eberhard  von  der  Mark,  wurde  er  [am  11.  Oktober]  ehrenvoll 
aufgenommen«.  I7) 

Der  berühmte  Augsburger  Gelehrte  wurde  nun  hier  in  Brügge 
schon  am  26.  Juli  vom  Kaiser  empfangen  und  durfte  ihn  mit  einer 
sauber  ausgearbeiteten  Rede  begrüßen,  in  der  er  in  gedrängter  Übersicht 
die  Ahnen  Karls  V.  aus  den  Häusern  von  Österreich,  Spanien  und  Bur- 
gund vorführte,  den  Tod  Maximilians  beklagte  und  den  Hoffnungen 
Deutschlands  auf  die  Tugenden  des  jugendlichen  Nachfolgers  Ausdruck 
gab;  am  Schlüsse  ließ  er  in  der  Aufforderung,  dem  Reiche  die  Ruhe 
wiederzugeben  und  die  Friedensstörer  zur  Ordnung  zu  bringen  *(a  tumul- 
tuosis  sedet  ac  cuncta  ...  ad  tranquillitatem  redigat)  die  besonderen 
Wünsche  der  Städte  durchklingen,  die  er  deutlich  genug  erläuterte,  wenn 
er  von  Rudolf  von  Habsburg  rühmte,  wie  er  durch  Vernichtung  der 
Räuber  und  Wegelagerer  in  Deutschland  friedliche  Zustände  geschaffen 
habe. l8) 


J7)  Der  nächste  Abschnitt  der  Chronik,  der  Bericht  über  die  Krönung  in  Aachen, 
findet  sich  dann  wörtlich  in  den  ihrem  Eingänge  nach  nicht  vollständig  erhaltenen 
Collectanea  Geldenhauers.  Prinsen,  Coli.  S.  X.  — Gesandtschaften  von  Köln,  Lübeck 
und  Hessen  werden  in  den  Reichstagsakten  II,  S.  72  h nicht  nachgewiesen. 

l8)  Celeberrimi  viri,  D.  Chonrajdi  Peutingeri,  Augustani,  Juris  utriusque  j Doctoris 
et  Oratoris  Disertissimi  Oratio  | pro  sacrosancti  Romani  imperii  Civi  tate  Augusta  Vinde- 
licorum,  Imp.  j Caes.  Charolo  semper  |Aug.  Brugis  in  Comitatu  j Flandrensi  pronunciata.j  — 
Eiusdem  Epistola  olim  scripta  ad  Reue  | rendissimum  in  Christo  Patrem  et  | Dominum, 
D.  Bernhardinum | Caruasalum  [sic!]  Episcopum  Tusjculanum,  SS.  Ro.  Ecclejsiae  Car- 
dinalem  | S.  Crucis,  j Patriarcham  hierosolvmitanum.  Randeinfassung  mit  Arabesken,  in 
deren  oberer  Leiste  zwei  Bocksköpfe  sich  hervorheben.  8 Bl.  8°.  Am  Ende  die 
Angabe  des  Druckorts  Antwerpen  in  folgender  Fassung:  Simon  Cocus  et  Gerhardus 
Nicolaus  Ciues  Anduerpienses  commorantes  in  vico  vulgariter  nuncupato  die  Boxstege 
excudebant,  Kalendis  Maii,  Anno  supra  Millesimum  Quingentesimum,  XXI0.  (Nach 
dem  Exemplar  der  Augsburger  Stadtbibliothek;  ausführlich  erwähnt  und  danach  die 
Gesandtschaft  Peutingers  in  der  Historia  vitae  ac  meritorum  Conradi  Peutingeri  Aug. 
von  Jo.  Georg  Lotter,  Lipsiae  X729,  p.  18  sq.  50  sq.  und  kurz  auch  bei  Fr.  Roth, 
Augsburgs  Reformationsgeschichte,  2.  Aufl.  S.  109  Anm.  30.  — Simon  Cock  als 
Drucker  von  Erbauungsschriften  in  Antwerpen  bei  Hoop  Scheffer,  Gesch.  der  Reform, 
in  den  Niederlanden,  Leipzig  1886,  S.  39.  — Das  Datum  der  Audienz  in  der  Über- 
schrift Bl.  2 a : Oratio  Chuonradi  Peutinger  . . . apud  Caesarem  . . , A,  Sal.  MDXX,  VII. 
Kalendas  Augusti  Brugis  . . . habita. 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 


481 


Kein  anderer  als  Peutinger  war  also  der  »weise  Mann«,  mit  dem 
sich  Spinelli  in  Brügge  über  die  mutmaßliche  Haltung  des  Reiches  gegen- 
über den  Forderungen  und  Plänen  des  Kaisers,  der  Romfahrt  und  der 
Reichssteuer  unterhielt,  wobei  er  auch  zu  hören  bekam,  daß  man  eine 
großartige  Rüstung  bewilligen  werde,  wenn  der  Kaiser  gut  Gericht  im 
Reiche  vollziehe;  worauf  der  Engländer  treffend  erwiderte, *  * daß  in  einer 
strengeren  Handhabung  der  Justiz  die  deutschen  Fürsten,  die  ja  doch  die 
Beschützer  und  Nährväter  des  Raubrittertums  (the  keppers  and  fydders 
[=  feeders]  of  all  robbers)  seien,  eine  Beeinträchtigung  ihrer  schranken- 
losen Freiheiten  (excessive  liberties)  sehen  würden.  Der  Doktor  aber, 
der  die  Stimmung  im  Schwäbischen  Bunde  kannte,  meinte,  es  seien  ihrer 
mehr,  die  Justiz  wünschten,  als  solche,  die  sie  nicht  wünschten.  Auch 
die  Kaufleute  von  Nürnberg  versicherten,  die  Reichsstädte  würden  dem 
Kaiser  gern  eine  ganz  bedeutende  Subsidie  zahlen,  wenn  die  Rechtspflege 
reformiert  und  die  Räuber  bestraft  würden.1!*) 

Diese  Rede  Peutingers  wurde  nun  einige  Monate  später  von  dem 
Sekretär  des  Antwerpener  Schöffenrates,  dem  gelehrten  Juristen  und  fein- 
sinnigen Poeten,  Magister  Petrus  Ägidius20),  dem  intimen  Freunde  des 
Erasmus,  mit  einer  empfehlenden  Vorrede  als  Muster  einer  von  den 
niederländischen  Gelehrten  lange  vernachlässigten  rednerischen  Gattung 
herausgegeben,  und  dabei  der  besonderen  Verdienste  des  süddeutschen 
Kollegen  um  die  Erforschung  des  Altertums  (omnis  antiqitatis  indaga- 
toris)  gedacht.21)  Außerdem  aber  hatte  dieser  seinem  Antorfer  Gast 
freunde  noch  ein  anderes  Prunkstück  seiner  politischen  Rhetorik  als 
Xenion  übersandt,  ein  Schreiben,  in  dem  sich  Peutinger,  unzweifelhaft 
im  Aufträge  Kaiser  Maximilians,  am  18.  Dezember  1507 22)  an  den  im 
August  aus  Rom  an  den  kaiserlichen  Hof  entsandten  Legaten  Bern- 
hardin Carvajal23)  wandte,  um  ihn  und  den  Papst  durch  den  mit 
großartigem  Aufwand  historischer  Gelehrsamkeit  geführten  Nachweis  der 
zahlreichen  Verdienste  der  römischen  Kaiser  deutscher  Nation  um  den 
heiligen  Stuhl,  den  sie  stets  eifrig  beschützt  und  gefördert  hätten,  zur 


*9)  Brewer  a.  a.  O.  (Bericht  vom  27.  Juli). 

20)  Vgl.  über  »Meister  Gielis«  und  seine  Beziehungen  zu  Erasmus  meine 
Untersuchungen  »Zur  Lebensgeschichte  A.  Dürers«  im  Repert.  f.  Kunstwisschaft  XX 
C1 897),  S.  453,  Anm.  38.  XXVII  (1904),  S.  347,  Anm.  3.  S.  349,  Anm.  6 und  meine 
»Anfänge  der  Gegenreformation  in  den  Niederlanden«  (Sehr.  d.  Vereins  f.  Ref.-G.). 
Halle  1903  und  1904.  I,  S.  56. 

**)  Bl.  ib:  Petrus  Aegidius  ab  actis  curiae  Andverpiensis  lectoribus  . . . S. 

*2)  Ex  Augusta  Vind.  XV.  Kal.  Januarii  A.  hum.  Sal.  M.Dc.VII.  (Bl.  Biiijb). 

*3)  Zu  seiner  Sendung  L.  Pastor,  Gesch.  d.  Päpste,  III.  Bd.  (3.  und  4.  Aufl.) 
Freiburg  1899,  S.  626  f. 


482 


Paul  Kalkoff: 


Vornahme  der  damals  von  Max  emsig  betriebenen  Kaiserkrönung  zu 
bestimmen.  24) 

Da  beide  Schriften  erst  am  1.  Mai  1521  erschienen,  so  wird  wohl 
Peutinger  das  zweite  Stück,  das  sich  so  trefflich  zur  Veröffentlichung 
aus  Anlaß  der  bevorstehenden  Krönung  eignete,  im  Sommer  1520  nicht 
bei  sich  gehabt  haben;  er  ist  aber  offenbar  an  diese  seine  alten  Beziehungen 
zu  dem  spanischen  Kardinal,  einem  der  merkwürdigsten  Staatsmänner 
am  Hofe  Leos  X.,  erinnert  worden  durch  Erasmus,  der  damals  ganz 
besondere  Hoffnungen  auf  die  von  Carvajal  bei  den  Beratungen  über 
die  Verdammungsbulle  im  Schoße  des  Kardinalskollegiums  betätigte 
Opposition  setzte  und  diese  allzu  optimistische  Auffassung  auch  • dem 
Wittenberger  Reformator  und  seinem  fürstlichen  Beschützer  suggeriert 
hatte.  25) 

Wir  sehen  also,  daß  auch  Peutinger,  an  den  sich  Erasmus  bald 
darauf  (am  9.  November)  von  Köln  aus  mit  einer  bedeutsamen  Auf- 
forderung zur  Unterstützung  seiner  kirchlichen  Vermittlungspolitik 
wandte,26)  zu  diesem  selbst  und  seinem  Antwerpener  Freundeskreise  auf 
jener  niederländischen  Gesandtschaftsreise  in  nahe  Beziehungen  getreten 
ist;  es  liegt  denn  auch  nahe,  an  ihn  als  die  Mittelsperson  zu  denken,  die 
den  Straßburger  Amtsgenossen  im  Hause  des  Ägidius  in  Antwerpen 
einführte,  sofern  nicht  die  alten  Beziehungen  des  Elsässer  Humanisten  zu 
Erasmus  schon  dazu  genügt  haben  sollten. 

Der  Straßburger  Gesandte  ist  aber  nun  offenbar  deswegen  nicht 
schon  in  Brügge  zugleich  mit  den  Augsburgern  vor  dem  Kaiser  er- 
schienen, weil  seine  mit  einem  so  wichtigen  persönlichen  Anliegen  ver- 
quickte literarische  Huldigung  27)  noch  nicht  im  Druck  vollendet  war. 

h)  Es  sei  als  eine  besondere  Gunst  der  Caesares  Germani  zu  betrachten,  daß  sie 
nur  von  den  Päpsten,  ab  ipsis  solis  diademate  et  corona  Augustali  hactenus  insigniri 
voluerunt  . . . und  der  Zweck  des  Schreibens  wird  deutlich  damit  bezeichnet:  Julius 
ut  Augustum  propriis  suis  manibus  Caesarem  inungat,  coronaqu  e Augustali 
et  insigni  decoret  (Bl.  Biij).  Zur  damaligen  politischen  Lage  Ulmann,  Maximilian  I, 
II,  S.  333. 

*5)  Vgl.  dazu  meine  Untersuchung  »Zu  Luthers  römischem  Prozeß«,  Zeitschr.  f. 
Kirchengeschichte,  herausgegeben  von  Th.  Brieger  und  B.  Beß,  Bd.  XXV,  Gotha  1904, 
S.  1 20 ff.,  512fr. 

l6)  Zeitschr.  f.  K.  G.  XXV,  S.  582  Anm.und  meine  »Vermittlungspolitik  des  Erasmus« 
in  W.  Friedensburgs  Archiv  f.  Ref.-Gesch.  I,  S.  12.  17  (Berlin  1903).  Es  ist  dies  merk- 
würdigerweise der  einzige  Brief  des  Erasmus  an  Peutinger  geblieben;  vgl.  P.  Joachimsen, 
Peutingeriana,  in  der  Festgabe  an  K.  Th.  v.  Heigel,  München  1903,  S.  279. 

*7)  An  den  alerdurchleuch|tigsten  Großm  echtigisten  Fürsten  vn  | 
herren,  Herrn  Carolum  den  fünfften  Römischen  Keiser  vnd  Hy-| 
spanischen.  Auch  der  gantzen  Welt  Imperatoren,  Künigen  | vnd  Regierer. 

In  das  leben,  vnd  tugendtliche  geschich|ten  Keyser  Tyti  Vespasiani  des  milten.  Durch 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 


483 


Denn  am  Schluß  des  für  damalige  Verhältnisse  prächtig  ausgestatteten 
Heftchens,  das  die  Lebensbeschreibungen  jener  beiden  Kaiser,  jede  mit 
besonderem  stattlichen  Titelblatte  enthält,  findet  sich  der  Vermerk:28) 

»Labor  Sebastiani  Brant.  Ex  Argentoraco  Anno.  XX’.  supra  MD. 
Kalendis  Augusti.« 

Schon  die  typographisch  vollendete  Ausführung  des  Druckes  deutet 
nun  darauf  hin,  daß  ihn  der  Verfasser  gleich  nach  seiner  Ankunft  durch 
eine  der  leistungsfähigen  Antwerpener  Offizinen  besorgen  ließ;  auch 
kann  er  schon  deshalb  die  Arbeit  nicht  etwa  in  Gent  haben  vornehmen 
lassen,  weil  er  ja  damals  noch  gar  nicht  wußte,  wo  er  den  Hof  zu  er- 
warten haben  würde.  Nun  aber  konnte  er  von  den  aus  Brügge  nach 
Antwerpen  zurtickkehrenden  Landsleuten  erfahren,  daß  er  sich  nunmehr 
nach  Gent  zu  begeben  habe,  und  dahin  wird  er  sich  also  nach  Abschluß 
des  Druckes  ohne  Säumen  gewandt  haben. 

Hier  hat  er  sich  nun  bis  zum  6.  August  seines  Auftrags  in  einer 
lateinischen  Rede  entledigt,  die  er  seiner  »Chronik«  einverleibte,  die  uns 
jedoch  nicht  erhalten  ist.  Aus  seinen  weiteren  von  Strobel  leider  nicht 
wörtlich  aufbewahrten  Mitteilungen  entnehmen  wir  noch,  daß  der  Kaiser 
den  Straßburgern  bei  Beginn  und  beim  Schlüsse  der  Audienz  die  Hand 
reichte  und  sie  durch  den  »Statthalter  von  Burgund«,  oder  richtiger  durch 
Gattinara,  den  Großkanzler  von  Burgund  seiner  Huld  und  seines  Schutzes 
versichern  ließ. 


Sebastianum  Brandt  verteutschet.  Exemplar  der  Straßburger  Univ.-Bibl.;  20  Bl.  fol., 
das  letzte  leer.  Unter  dem  Titel  ein  Holzschnitt,  in  dessen  oberer  Hälfte  das  Brustbild 
des  jungen  Königs  mit  Szepter  und  Kette  des  Vließordens,  im  Hintergründe  Landschaft 
mit  Stadt  und  Burg;  in  der  unteren  Hälfte  der  Reichsadler  mit  derselben  Kette  in  einem 
von  zwei  Löwen  gehaltenen  Schilde;  im  Rande  die  Wappen  aller  Länder  des  Kaisers 
und  darüber  die  Worte  »Carolus  — R.  Künig«.  Auf  jeder  inneren  Blattseite  eine  prächtige 
Randleiste.  Bl.  9a:  ein  zweites  Titelblatt  mit  zwei  Randleisten,  am  obern  Rande  eine 
Szene  aus  einem  römischen  Triumphzuge,  ein  Kaiser  von  Soldaten  getragen;  unten  das- 
selbe Brustbild  Karls,  dazwischen:  Ad  Carolum  Quintum  Imperatorem  destinatum  etc. 
In  laudem  Traiani  Caesaris  Tetrastichon  Sebastiani  Brant.  Aus  dem  nun  folgenden 
Leben  Trajans  ist  auf  der  vorletzten  Seite  der  am  Rande  durch  Handzeichen  hervor- 
gehobene Satz  bemerkenswert:  »Wie  ein  keiser  sich  gegen  den  Unterthan  halten  soll«: 
Trajan  habe  gesagt:  »ein  Keiser  soll  sich  also  gegen  den  gemeinen  Mann  halten  und 
erzeigen,  als  ein  keyser  begert,  das  sich  der  gemein  man  gegen  ime  beweisen  sol.« 

l8)  Die  Mitteilung  des  Titels  bei  Ch.  Schmidt,  Hist,  litteraire  de  l’Alsace  II, 
Index  bibliogr.  p.  354,  Nr.  125,  nach  welcher  auf  die  Inhaltsangabe  des  Titelblatts 
unmittelbar  zu  folgen  scheint  die  noch  dazu  unvollständige  Angabe:  Ex  Argentoraco 
A.  XX  supra  MD.  ist  irreführend:  man  mußte  danach  annehmen,  daß  die  Schrift  in 
Straßburg  gedruckt  wurde,  was  indessen  schon  durch  das  genauere  Datum  ausgeschlossen 
ist.  Auch  die  Anbringung  des  burgundischen  Hausordens  als  Schmuck  des  Reichsadlers 
deutet  auf  die  Niederlande. 


484 


Paul  Kalkoff: 


Von  Gent  aus  mußten  die  Gesandten  nun  wieder  über  Antwerpen 
zurückreisen,  und  da  sie  gut  beritten  waren,  wie  es  sich  bei  so  statt- 
licher Sendung  geziemte,  so  brauchten  sie,  um  am  22.  August  wieder  in 
der  Heimatstadt  einzutreffen,  erst  nach  einigen  Rasttagen  aus  der  prächti- 
gen und  gerade  damals  durch  das  Zusammenströmen  so  vieler  bedeuten- 
der Personen  fesselnden  Scheldestadt  aufzubrechen.  Jedenfalls  hat  Brant 
jetzt  noch  in  aller  Muße  mit  dem  Drucker  abrechnen,  von  den  gelehrten 
Freunden  Abschied  nehmen  und  bei  dieser  Gelegenheit  auch  noch  die 
Bekanntschaft  Albrecht  Dürers  machen  können. 

Denn  schon  am  2.  August  war  der  große  Nürnberger  Künstler  in 
Antwerpen  eingetroffen  und  alsbald  von  den  verschiedensten  Seiten,  von 
den  Kunstgenossen  wie  vom  Stadtregiment,  von  dem  Vertreter  der  Fugger 
und  reicher  Nürnberger  Handelshäuser  wie  von  Männern  der  Wissenschaft 
begrüßt  und  gefeiert  worden,  bis  er  am  26.  August  einen  Abstecher  nach 
Brüssel  machte,  wo  wir  ihn  sogleich  im  Verkehr  mit  den  Gesandten 
seiner  Vaterstadt  am  kaiserlichen  Hoflager  antreffen. 29) 

Als  Anlaß  zu  einer  Begegnnng  zwischen  dem  Straßburger  Dichter 
und  dem  Nürnberger  Maler  ließe  sich  nun  sehr  wohl  der  Verkehr  der 
Städteboten  unter  einander  denken,  die  sich  am  Hofe  in  Gent  begegnet 
waren  und  nun  gemeinschaftlich  über  Antwerpen  zurückkehrten;  aber  noch 
sicherer  mußte  eine  Berührung  herbeigeführt  werden  durch  die  Beziehungen 
beider  zu  dem  größten  Sohne  der  Niederlande,  dem  gefeierten  Gelehrten 
und  Publizisten  Erasmus  von  Rotterdam. 

Schon  um  die  Mitte  des  Monats  ist  Dürer  mit  diesem  in  näherem 
und  gewiß  auch  häufigem  Verkehr  und  wird  von  ihm  durch  Verehrung 
eines  spanischen  Mäntelchens  und  einiger  Bildnisse  ausgezeichnet.  Mit 
der  Straßburger  gelehrten  Gesellschaft  wiederum  und  ihrem  Mitgliede, 
dem  Dichter  des  dem  Lob  der  Narrheit  so  nahe  verwandten  Narrenschiffs 
stand  Erasmus  ja  schon  seit  Jahren  in  freundschaftlichen  Beziehungen.  3°) 

Auch  läßt  sich  noch  eine  andere  Spur  von  eigenen  Beziehungen 
Brants  zu  dem  Antwerpener  Kreise  von  Erasmianern  nachweisen.  Schon 
1519  hatte  der  kaiserliche  Sekretär  Jakob  Spiegel,  Mitglied  der  huma- 
nistischen Gesellschaft  von  Schlettstadt,  die  dem  Straßburger  Kreise  sehr 
nahe  stand,  ein  Trauergedicht  auf  den  Tod  Maximilians  I.,  verfaßt  von 
Petrus  Ägidius,  jenem  intimsten  Freunde  des  Erasmus,  neu  heraus- 


29)  Lange-Fuhse,  Dürers  schriftlicher  Nachlaß.  Halle  1893,  S.  in — 122. 

3°)  Lange-Fuhse,  S.  116,  3f.  Strobel  a.  a.  O.  S.  8of.:  Das  Schreiben  des  Erasmus 
an  die  sodalitas  literaria  von  Straßburg.  Schon  1514  war  Erasmus  in  Straßburg  höchst 
ehrenvoll  aufgenommen  und  gefeiert  worden.  Ch.  Schmidt  1.  c.  I,  86.  M.  Reich  in  der 
Westdeutschen  Ztschr.  Ergänzungsheft  IX,  S.  155 ff. 


Zur  Lebensgeschichte  Albrecht  Dürers. 


485 


gegeben  und  in  Straßburg  drucken  lassen.  31)  Dieser  Berufsgenosse  Brants 
und  Peutingers,  in  dessen  Hause  Erasmus  abzusteigen  pflegte,  32)  ist  nun 
von  dem  Straßburger  in  einem  kurzen  lateinischen  Gedicht  wegen  seiner 
dem  verstorbenen  Kaiser  bewährten  Pietät  belobt  worden : Brant  sagt  da 
mit  leichtem  Spott,  daß  Maximilian  bei  seinen  Lebzeiten  Unzähligen 
die  Ehre  der  Dichterkrönung  erwiesen  habe;  von  diesen  verdiene  Ägidius 
vor  allen  andern  Lob,  weil  er  sich  durch  die  Verherrlichung  des  Dahin- 
geschiedenen dankbar  gezeigt  habe.  33) 

Nun  hat  sich  weiter  nachweisen  lassen,  daß  Dürer,  der  noch  im 
Februar  1521  verzeichnet,  wie  er  mit  Erasmus  bei  ihrem  gemeinschaft- 
lichen Freunde  Petrus  Ägidius  speiste,  diesen  schon  im  August  kennen 
gelernt  hat,  denn  ihm,  dem  »Meister  Gilgen«,  verehrte  er  damals  »den 
Eustachius  und  die  Nemesis«. 34) 

Wenn  es  also  geradezu  selbstverständlich  ist,  daß  Sebastian  Brant 
bei  seinem  Aufenthalt  in  Antwerpen  nicht  versäumte,  sich  mit  Erasmus 
und  Ägidius  in  Verbindung  zu  setzen,  so  ist  es  nach  den  aus  den  ge- 
schichtlichen Quellen  erwiesenen  Umständen  nicht  nur  möglich,  sondern 
auch  höchst  wahrscheinlich,  daß  er  in  diesem  Kreise  den  Nürnberger 
Maler  kennen  lernte;  und  wenn  nun  in  dem  künstlerischen  Nachlaß 
Dürers  sich  Spuren  einer  solchen  Berührung  ebenfalls  als  zum  mindesten 
wahrscheinlich  nachweisen  lassen,  so  dürfte  sich  aus  der  Vereinigung 
beider  Beweisgruppen  die  Gewißheit  einer  von  Dürer  mit  dem  Stifte  fest- 
gehaltenen Begegnung  mit  dem  Verfasser  des  Narrenschiffs  ergeben. 

31)  J.  A.  Riegger,  Amoenitates  litterariae  Friburgenses,  Ulmae  1775,  p.  474=  Lamen- 
tatio  Petri  Aegidii  in  obitum  Caes.  Maximiliani.  Die  parallele  Schrift  Sebastian 
Brants  von  1520:  In  laudem  divi  Maximiliani  Caesaris  etc.  bei  Ch.  Schmidt  1.  c.  II, 
P-  354. 

32)  Das  Haus  des  Ägidius  als  Sammelpunkt  deutscher  Humanisten  in  Antwerpen 
auch  in  einem  Brief  des  J.  A.  Brassikanus;  s.  meine  Anfänge  der  Gegenreformation  II, 
S.  108,  Nachträge,  und  zu  der  bedeutsamen  Rolle  der  oberdeutschen  Kaufleute  in  Ant- 
werpen Repert.  f.  Kunstwissenschaft  XX,  S.  457h  XXVII,  S.  355 f. 

33)  Unter  Brants  Varia  Carmina  abgedruckt  und  neuerdings  wiedergegeben  von 
Fr.  Zarncke  in  seiner  Ausgabe  des  Narrenschiffs,  Leipzig  1854,  S.  199:  E quibus,  Aegidi, 
tua  laus,  tua  gloria  prima  est,  . . . Daß  auch  Seb.  Brant  gerade  im  Jahre  1520  der  in 
den  Kreisen  des  Erasmus  herrschenden  kritischen  Stimmung  gegenüber  den  kirchlichen 
Zuständen  nicht  fern  stand,  zeigt  ein  frommer  Spruch  über  die  gefahrdrohende  Lage 
Deutschlands,  »Anno  1520«,  in  dem  er  klagt: 

Gott  helff  der  heiligen  Christenheit  1 
O Pfaffheit,  lass  dirs  sein  gekleit, 
das  du  nit  werdst  vertilkt,  zwstreit. 

(Zarnckes  Ausg.  des  Narrenschiffs,  S.  1 6 1 f.) 

34)  Lange-Fuhse,  S.  121,  18.  151,4;  und  dazu  Repert.  f.  Kunstwissensch.  XXVII, 
S.  349  Anm.  6. 


Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom. 

Von  K.  Lange. 

Kürzlich  habe  ich  einen  vorübergehenden  Aufenthalt  in  Ulm  zur 
Besichtigung  des  Dreifaltigkeitsbildes  in  der  Sakristei  des  dortigen 
Münsters  benutzt,  das  neuerdings  wiederholt  von  Kunsthistorikern  besprochen 
worden  ist.  Es  gilt  jetzt  allgemein  als  ein  Werk  des  Ulmer  Malers  Hans 
Multscher.  Der  verstorbene  Bayersdorfer  hatte  diese  Bestimmung  aufge- 
bracht, und  Fr.  von  Reber  sowohl  wie  August  Schmarsow  haben  sich 
seiner  Ansicht  angeschlossen.1)  Schon  Reber  freilich  meinte,  der  vollen 
Sicherheit  der  Zuteilung  stehe  nur  im  Wege,  daß  dieses  Werk  eine  weit- 
gehende Restauration  erfahren  habe,  welcher  gerade  die  wichtigsten  Teile, 
wie  namentlich  die  Köpfe  (?),  zum  Opfer  gefallen  seien.  Die  wünschens- 
werte Abnahme  der  Übermalungen  würde  voraussichtlich  die  Identität 
des  Meisters  des  schönen  Werkes  mit  jenem  des  t neuerdings  bekannt 
gewordenen  Altarwerkes  in  Sterzing  von  1457/58  sichern,2)  doch  lasse 
die  Behandlung  des  Körpers  Christi  wie  der  Engelgestalten  auch  jetzt 
schon  kaum  einen  Zweifel  übrig.  Auch  Schmarsow  sagt,  das  Bild  stelle 
sich  dem  Kennerauge  gewiß  als  eng  mit  den  Sterzinger  Tafeln  zusammen- 
gehörige Leistung  dar,  und  benutzt  die  Eigentümlichkeiten  seiner  Kom- 
position — Anordnung  der  Figuren  in  einer  nischenartigen  Architektur, 
Imitation  von  architektonischer  Steinmetzenarbeit,  plastisch  charakterisierte 
Erdkugel  zu  den  Füßen  Christi  — , um  damit  seine  Theorie  von  dem 
plastischen  Stil  der  Multscherschen  Malerei  zu  stützen.  Nach  seiner 
Meinung  wären  die  neuerdings  dem  Multscher  zugeschriebenen  Bilder  zwar 
nicht  von  ihm  selbst,  der  nur  als  Bildhauer  beglaubigt  sei,  aber  doch 
von  einem  jüngeren  Künstler  seiner  Werkstatt,  vielleicht  einem  Familien- 
mitgliede,  das  den  Einfluß  der  niederländischen  realistischen  Malerei 

J)  F.  v.  Reber,  Hans  Multscher  von  Ulm.  Sitzungsberichte  der  philos.-philol.  und 
der  histor.  Klasse  der  k.  bayr.  Akad.  d.  Wiss.  1898  Bd.  II  Heft  1 S.  60  und  A.  Schmarsow, 
Die  oberrheinische  Malerei  und  ihre  Nachbarn  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts, 
Bd.  XXII.  der  Abhandl.  d.  philol.-hist.  Klasse  d.  kgl.  sächs.  Gesellsch.  d.  Wiss.  in 
Leipzig  1903  S.  44  und  58. 

*)  Dieses  ist  abgebildet  im  Jahrgang  1903  der  kunsthistorischen  Gesellschaft  für 
photograph.  Publikationen  nach  Aufnahmen,  die  während  der  von  Prof.  Hauser  besorgten 
Restauration  der  Bilder  in  München  gemacht'  sind. 


K.  Lange:  Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom. 


487 


erfahren,  sich  aber  dann  in  Ulm  in  der  Werkstatt  des  älteren  Meisters 
dessen  plastischen  Tendenzen  und  der  ganzen  Tradition  der  Ulmer 
Münsterbauhütte  angeschlossen  habe. 

Diese  ganze  Argumentation  wird,  soweit  sie  sich  auf  dieses  Bild 
stützt,  schon  dadurch  hinfällig,  daß  das  Werk,  wie  mich  die  neue  Unter- 
suchung überzeugt  hat,  sicher  nicht  von  dem  Meister  der  Sterzinger  Altar- 
tafeln herrührt.  Und  da  ich  mich  nun  gleichzeitig  davon  überzeugt  habe, 
daß  kein  anderer  als  Zeitblom  dieses  ursprünglich  gewiß  sehr  hervor- 
ragende Bild  gemalt  hat,  so  erhält  es  hierdurch  eine  ganz  andere,  aber 
ebenfalls  unverächtliche  kunsthistorische  Bedeutung.  Denn  es  bestätigt 
in  schlagender  Weise  die  schon  früher  von  mir  ausgesprochene  Vermutung, 
daß  Zeitblom,  dessen  Kunst  man  bisher  immer  mit  der  seines  Schwieger- 
vaters Schüchlin  in  Zusammenhang  gebracht  hat,  vielmehr  ein  Schüler  oder 
Ateliergenosse  Multschers  gewesen  ist. 3) 

Die  Dreieinigkeit  ist  etwas  abweichend  von  der  typischen  Weise 
(die  bekanntlich  den  von  Gott  Vater  gehaltenen  Crucifixus  verlangt)  so 
dargestellt,  daß  der  sitzende  Gott  Vater  mit  beiden  Händen  den  vom 
Kreuz  abgenommenen,  auf  seinem  Schoß  ruhenden  Leichnam  Christi  hält. 
Zwischen  den  Köpfen  beider  schwebt  die  Taube  des  heiligen  Geistes. 
Gott  Vater  sitzt  auf  hohem  Thron  in  einer  gotischen  Steinnische;  diese 
wird  nach  oben  und  vorn  durch  einen  mit  kleinen  Kleeblattbögen 
verzierten  Rundbogen  abgeschlossen,  der  auf  Porphyrsäulen  mit  ver- 
goldeten Kapitalen  ruht.  Ihre  Rückwand  ist  ganz  nach  Art  einer  Kapelle 
von  einem  dreigeteilten  Fenster  durchbrochen.  Gott  Vater  trägt  eine 
Krone,  die  halb  Kaiserkrone,  halb  päpstliche  Tiara  ist,  eine  Form,  die 
auch  in  der  damaligen  niederländischen  Malerei,  z. ' B.  bei  dem  Meister 
von  Flemalle  vorkommt,  woraus  man  aber  noch  nicht  auf  einen  Anschluß 
des  Malers  an  dessen  Kunstweise  schließen  darf.  Ein  roter  Mantel  bedeckt 
den  Körper  und  bildet  den  Hintergrund  für  den  schlanken  feingliedrigen 
Leichnam  Christi,  dessen  einer  Fuß  eine  plastisch  mit  Schlagschatten  usw. 
herausgearbeitete  Erdkugel  berührt,  ein  Mittel,  durch  das  der  Künstler 
die  Illusion  des  frei  vor  der  Bildfläche  vortretenden  Beines  steigern 
wollte.  Der  Leichnam  ist  nackt  bis  auf  das  weiße  Lendentuch.  Die 
Gestalt  Gott  Vaters  setzt  sich  auf  dem  Hintergründe  eines  Brokatteppichs 
ab,  der  von  vier  im  Brustbilde  sichtbaren  Engeln  gehalten  wird,  während 
zwei  in  weiße  Gewänder  gekleidete,  die  von  rechts  und  links  herbei- 
fliegen, als  Symbole  des  Opfertodes  die  Leidenswerkzeuge  des  Heilands 
herbeibringen,  derjenige  links  das  Kreuz,  derjenige  rechts  die  Lanze  und 


3)  Vgl.  K.  Lange  im  Verzeichnis  der  Gemäldesammlung  im  kgl.  Museum  d.  bild. 
Künste  zu  Stuttgart  (W.  Spemann)  1903  S.  15. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIU. 


33 


488 


K.  Lange: 


die  Säule.  Vorn  kniet  zu  Füßen  der  Gruppe  in  kleinem  Maßstab  die 
Familie  des  Stifters,  links  der  Vater  mit  sieben  Söhnen,  rechts  die  Mutter 
mit  vier  Töchern.  Leider  sind  die  beiden  Wappen  — bei  dem  Manne  ein 
gespaltener  Schild  mit  (heraldisch)  rechts  einem  gelben  Hecht  in  Blau, 
links  einem  blauen  in  Gelb,  bei  der  Frau  ein  gespaltener  Schild  mit 
einem  vierblumigen  Rosenstock,  links  zwei  rote  Rosen  in  Gelb,  rechts 
zwei'  gelbe  in  Rot  — noch  nicht  gedeutet,  trotz  der  Mühe,  die  sich  Herr 
Stadtarchivar  Dr.  Müller  und  Herr  Stadtpfarrer  Dr.  Pfleiderer  damit 
gegeben  haben  und  noch  immer  geben.  Nur  soviel  geht  aus  der 
Form  der  Wappenschilde  und  des  Laubes  unwiderleglich 
hervor,  daß  das  Bild  night  vor  der  Wende  des  Jahrhunderts 
gemalt  ist,  also  auf  keinen  Fall  von  dem  1427  in  Ulm  als 
Bürger  aufgenommenen  und  1467  gestorbenen  Bildhauer  Hans 
Multscher  resp.  demjenigen  seiner  Ateliergenossen,  der  die  Sterzinger 
Bilder  gemalt  hat,  herrühren  kann.  Und  das  wird  durch  die  stilistische 
Analyse  des  Bildes  vollkommen  bestätigt. 

Was  Bayersdorfer  zu  der  Bestimmung  Multscher  verführt  hat,  ist 
wohl  die  inhaltliche  Verwandtschaft  mit  dem  Schleißheimer  Ecce  homo, 
dessen  richtige  Zurückführung  auf  Multscher  wir  Wilhelm  Schmidt  ver- 
danken. Aber  schon  Schmarsow  muß  die  Verschiedenheit  im  Stil  empfun- 
den haben.  Denn  obwohl  er  an  der  Bestimmung  festhält  und  das  Bild 
mit  dem  Schleißheimer  Ecce  homo  zusammenstellt,  meint  er  doch,  es  weiche 
von  diesem  und  den  Sterzinger  Bildern  so  weit  ab,  daß  kaum  gleichzeitige 
Entstehung  angenommen  werden  könne,  es  sei  denn  unter  dem  Vor- 
walten ganz  anderer  Hilfskräfte.  Nach  ihm  hätten  wir  also,  da  er 
trotzdem  an  der  Urheberschaft  Multschers  festhält,  ein  Werk  aus  der 
spätesten  Zeit  des  »Malers  des  Multscherschen  Altars«  zu  erkennen,  nach 
Schmarsow  übrigens  ein  Hauptwerk  des  Meisters.  Ich  möchte  nun  noch 
einen  Schritt  weitergehen  und  behaupten,  daß  das  Bild  von  einem 
jüngeren  Nachfolger  Multschers  herrührt  und  daß,  wenn  dieser  ein  Atelier- 
genosse Multschers  gewesen  sein  sollte,  dieser  Ateliergenosse  nur 
Bartholomaeus  Zeitblom  geheißen  haben  kann.  Denn  das  Bild 
trägt  in  allen  Zügen  den  Stempel  seiner  Kunst.  Man  braucht  nur  den 
Kopf  Gott  Vaters,  den  eigentümlichen  Blick  seiner  etwas  unbehilflich 
gezeichneten  Augen,  die  schlanken  Formen  des  Christuskörpers,  die 
Zeichnung  der  Mantel-  und  Tuchfalten  zu  vergleichen,  um  sich  davon 
zu  überzeugen.  Und  gerade  die  Köpfe  sollen  leidlich  gut  erhalten  sein. 
Ich  konnte  das  allerdings  nicht  selbst  feststellen,  da  keine  Leiter  zur 
Hand  war  und  das  Licht  in  der  Sakristei  zu  einer  genauen  Untersuchung 
nicht  ausreichte.  Aber  der  Ingenieurhauptmann  a.  D.  Geiger  aus  Neu- 
Ulm,  in  desen  Begleitung  ich  das  Bild  untersuchte,  und  der  mit  seiner 


Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom. 


489 


Geschichte  genau  vertraut  ist,  versicherte  mich  dessen  ausdrücklich.  Das, 
was  ich  von  dem  Bilde  genau  untersuchen  konnte,  die  unteren  Partien 
mit  den  Stifterfigürchen,  erweist  sich  als  so  stark  retouchiert,  daß  man 
schon  fast  von  Übermalung  reden  kann.  Und  das  ist  auch  sehr 
begreiflich.  Denn  das  Bild  wurde  in  den  fünfziger  Jahren  vom  Major 
Cammerer  in  Bruchstücken  erworben,  von  denen  das  eine  als  Teil  einer 
Backmulde  verwendet  war.  Bei  der  Zusammensetzung  ist  es,  wahrscheinlich 
von  Aigner  in  Augsburg,  restauriert  worden,  was  für  den  Kenner  der 
altdeutschen  Malerei  schon  genug  sagt.  Der  Sohn  des  Besitzers  hat  es 
dann  längere  Zeit  in  Stuttgart  gehabt,  und  von  hier  aus  wurde  es  zu 
Anfang  der  achtziger  Jahre  durch  Geigers  Vermittlung  dem  Ulmer 
Altertumsvereine  zum  Kauf  angeboten.  Anfangs  wurde  der  Ankauf  ab- 
gelehnt. Endlich,  nachdem  das  Bild  durch  mehrere  Ausstellungen 
bekannt  geworden  war,  wurde  es  erworben  und  dem  Münster  überlassen. 
Diese  Geschichte  beweist  schon,  daß  wir  den  Erhaltungszustand  des 
Bildes  mit  großem  Mißtrauen  betrachten  müssen.  Schadhafte  Bilder, 
die  nicht  zur  rechten  Zeit  in  den  Besitz  von  staatlichen  Museen  über- 
gehen, werden  meistens  mehr  oder  weniger  übermalt.  In  Württemberg 
wenigstens,  wo  die  Stuttgarter  Galerie  erst  seit  einigen  Jahren  syste- 
matisch alte  schwäbische  Bilder  sammelt,  kann  man  es  als  Regel  an- 
sehen,  daß  Altarbilder,  die  in  den  Kirchen  verblieben,  oder  in  die  Hände 
von  Nichtkennern  geraten  sind,  nicht  etwa  nur  retouchiert,  sondern  sogar 
völlig  neu  angestrichen  werden.  Man  betrachtet  das  hierzulande  als  das 
selbstverständliche  Recht  jedes  Bilderbesitzers  und  ist  sehr  erstaunt,  wenn 
man  erfährt,  daß  das  so  zugerichtete  Bild  damit  völlig  wertlos  geworden 
ist.  So  ist  es  z.  B.  auch  mit  der  Sammlung  des  Kirchenrats  Dursch  in 
Rottweil  gegangen,  die  später  in  das  bischöfliche  Palais  nach  Rottenburg 
gelangte.  An  den  zu  ihr  gehörigen  Bildern  ist,  wie  ich  mich  vor 
einigen  Jahren  überzeugen  konnte,  kaum  ein  Pinselstrich  alt.  Ein  Maler 
wie  Jakob  Acker,  von  dem  sich  ein  bezeichneter,  1483  datierter  Altar 
in  Ristissen  bei  Ulm  und  vielleicht  ein  zweiter,  nicht  datierter,  in  dem 
benachbarten  Ersingen  befindet,  ist  für  die  Kunstgeschichte  so  gut  wie 
verloren  oder  kann  wenigstens  nur  durch  umständliche  Kombinationen 
gerettet  werden,  da  niemand  mehr  genau  sagen  kann,  wie  seine  noch 
erhaltenen  Bilder  einst  ausgesehen  haben.  Nimmt  man  dann  noch  dazu, 
daß  solche  übermalten  oder  stark  retouchierten  Bilder,  wie  unser  Beispiel 
zeigt,  statt  in  helle  Museen  in  dunkle  Kirchen  oder  Sakristeien  gehängt 
werden,  so  darf  man  sich  nicht  darüber  wundern,  daß  die  Forschung  in 
bezug  auf  sie  so  lange  Zeit  in  der  Irre  tappt. 

Das  eine  Gute  hatte  aber  doch  die  falsche  Bestimmung  Bayers- 
dorfers,  daß  sie  wieder  einmal  den  Zusammenhang  der  Zeitblomschen  mit 


33 


49° 


K.  Lange: 


der  Multscherschen  Kunst  ad  oculus  demonstriert  hat.  Bekanntlich  wissen 
wir  von  Zeitbloms  Jugendentwicklung  gar  nichts  Genaueres.  Weder  sein 
Geburtsjahr  noch  ein  datiertes  Werk  aus  seiner  Jugend  ist  bekannt.  Und 
daß  die  Verwandtschaft  mit  Schüchlin,  als  dessen  Tochtermann  er  im 
Jahre  1499  (nicht  1483)  genannt  wird,  indem  er  damals  mit  ihm  für 
einen  Kirchenstuhl  im  Münster  Miete  zahlte,  kein  Beweis  für  Schülerschaft 
ist,  würde  auch  dann  einleuchten,  wenn  der  Stil  beider  Meister  nicht  so 
grundverschieden  wäre,  wie  er  tatsächlich  ist.  Dürfte  man  in  dem  Drei- 
einigkeitsbilde der  Ulmer  Sakristei  ein  Jugendwerk  Zeitbloms  erkennen, 
so  wäre  die  persönliche  Schülerschaft  Zeitbloms  bei  Multscher  gewiß 
sehr  wahrscheinlich.  Aber  da  das  Bild  beiläufig  30 — 40  Jahre  nach 
Multschers  Tode  entstanden  ist,  kann  es  vielmehr  als  Beweis  dafür  be- 
nutzt werden,  daß  die  Traditionen  des  alten  Meisters  in  der  Kunst  des 
jüngeren  auch  noch  später  lebendig  geblieben  sind.  Und  das  wird  sich 
schwerlich  ohne  die  Annahme  persönlicher  Schülerschaft  erklären.  In 
der  Tat  geht  die  Vorliebe  Zeitbloms  für  schlanke  Körperverhältnisse, 
für  große  gerade  Faltenzüge,  die  an  den  Enden  scharf  und ‘flach  ge- 
knittert sind,  der  feine  aber  etwas  leere  Typus  seiner  Gesichter,  die 
ruhige  monumentale  Würde  seiner  Komposition,  auf  Multscher,  und  zwar 
den  Multscher  der  Sterzinger,  Stuttgarter  und  Karlsruher  Bilder  zurück. 4) 

Ob  sich  dieser  Stil  in  Schwaben  autochthon  entwickelt  hat  oder 
von  irgendeinem  wandernden  schwäbischen  Maler  aus  den  Niederlanden 
mitgebracht  worden  ist,  ob  vielleicht  der  Meister  von  Flemalle,  etwa 
durch  seine  Tätigkeit  in  Basel  während  des  Konzils  einen  gewissen  Ein- 
fluß auf  die  schwäbische  Malerei  ausgeübt  hat,  was  man  neuerdings  an- 
zunehmen geneigt  ist,  will  ich  dahingestellt  sein  lassen.  Doch  möchte 
ich  wenigstens  nebenbei  andeuten,  daß  die  Frage  nach  dem  Einfluß 
des  niederländischen  Realismus  auf  die  schwäbische  Malerei  des  15.  Jahr- 
hunderts durch  ein  neuerdings  von  der  Stuttgarter  Gemäldegalerie  erwor- 
benes Altarbild  aus  der  Pfarrkirche  von  Ehningen  bei  Böblingen  5)  in  ein 
neues  Stadium  getreten  ist.  Dieses  Bild,  das  ich  erst  dann  eingehender 
besprechen  möchte,  wenn  ich  etwas  Genaueres  über  seinen  Meister  mit- 
teilen  kann,  stellt  auf  dem  Mittelstück  die  Auferstehung  Christi,  auf  den 
Flügeln  innen  den  Unglauben  des  Apostels  Thomas  und  den  Abschied 
Christi  von  seiner  Mutter,  außen  die  Verkündigung  dar.  Es  ist,  wie  das 
noch  erhaltene  Wappen  zeigt,  von  der  Erzherzogin  Mechthild  von  Öster- 
reich, verwitweten  Gräfin  von  Württemberg  und  Mutter  Herzog  Eberhards 

4)  Die  Ansicht  Schmarsows  über  die  chronologische  Entwicklung  von  Multschers 
Stil  basiert  auf  Annahmen,  die  ich  nach  der  Publikation  der  frühen  Berliner  Bilder  für 
erledigt  halte. 

5)  Noch  nicht  in  dem  Verzeichnis  von  1903  aufgeführt. 


Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom. 


491 


im  Barte  bestellt,  die  1482  in  Rottenburg  a.  Neckar  starb,  nachdem  sie 
dort  jahrelang  der  Mittelpunkt  eines  geistig  sehr  angeregten  Hoflebens 
gewesen  war.  Höchstwahrscheinlich  war  der  Maler  des  Bildes  in  Rotten- 
burg selbst  ansässig,  was  ich  daraus  schließe,  daß  ein  aus  der  benach- 
barten Wurmlinger  Kapelle  stammendes  Bild,  die  Herabkunft  des  Heiligen 
Geistes,  das  sich  jetzt  in  der  Stuttgarter  Galerie  befindet  (Nr.  107  des 
Katalogs),  ein  allerdings  nicht  besonders  gut  erhaltenes  Werk  seiner  Hand 
oder  seines  Ateliers  ist.  Sonst  kenne  ich  bis  jetzt  nichts  von  diesem 
merkwürdigen  und  sehr  bedeutenden  Anonymus,  für  dessen  Stil  nicht  der 
Meister  von  Flemalle,  sondern  Dirck  Bouts  in  Löwen  die  Quelle  darstellt. 
So  malte  ums  jahr  1480  ein  Schwabe,  der  sicher  persönlich  in  den  Nieder- 
landen war  und  längere  Zeit  in  einer  niederländischen  Werkstatt  gearbeitet 
hatte.  Man  wird  zugeben,  daß  der  niederländische  Einfluß  bei  den  älteren 
Schwaben,  Konrad  Witz  und  Multscher,  viel  geringer  ist  und  sich  mög- 
licherweise auch  ohne  persönlichen  Austausch  der  Meister  erklären  läßt. 

Ein  zweites  bisher  unbekanntes  Bild  von  Zeitblom  habe  ich  kürz- 
lich im  Ulmer  Gewerbemuseum  entdeckt.  Es  ist  ein  Christuskopf,  en  face, 
40  cm  hoch  und  33,6  cm  breit  auf  Tannenholz  gemalt,  rechts  und  links 
beschnitten,  oben  und  unten  nicht,  etwas  verrieben  und  hier  und  da 
retouchiert.  Daß  das  Bild  unvollständig  ist,  ergibt  sich  aus  dem  Zustand 
der  Rückseite  und  aus  den  Falten  des  Tuches,  die  den  Hintergrund  des 
Kopfes  bilden  und  auf  die  ursprüngliche  Existenz  zweier  Engel  zu  beiden 
Seiten  hinweisen,  die  das  Tuch  hielten.  Die  Komposition  war  also  wahr- 
scheinlich ähnlich  dem  Schweißtuch  der  Veronica  auf  den  Predellen- 
rückseiten des  Eschacher  und  Heerberger  Altars  in  Berlin  und  Stuttgart. 
Zu  einer  Vergleichung  hatte  ich  die  Photographien  nicht  zur  Hand,  doch 
glaube  ich,  daß  das  Bild  nicht  viel  Neues  für  Zeitblom  lehrt. 

Sehr  wichtig  würde  dagegen  eine  dritte  Entdeckung  eines  Zeit- 
blomschen  Bildes  in  der  fürstlich  Fürstenbergischen  Gemäldegalerie  in 
Donaueschingen  sein,  die  ich  vor  etwas  über  zwei  Jahren  gemacht  habe, 
wenn  meine  damalige  Vermutung,  daß  es  sich  dabei  um  ein  Selbstporträt 
Zeitbloms  handelte,  sich  bewährt  hätte.  Doch  muß  ich  leider  — und  nur 
dies  veranlaßt  mich  hier  noch  einmal  auf  dieses  Bild  zurückzukommen,  — 
das  Geständnis  ablegen,  daß  ich  mit  dieser  »Entdeckung«  glänzend  her- 
eingefallen bin.  Möchten  wenigstens  die  beiden  jüngeren  Fachgenossen, 
die  erfreulicherweise  gegenwärtig  über  Zeitblom  arbeiten,  nicht  unter 
meiner  Führung  ebenso  in  der  Irre  gehen.  Immerhin  handelt  es  sich  um 
ein  echtes  bisher  unbekanntes  Bild  von  Zeitblom,  und  das  wird  ein  näheres 


6)  K.  Lange,  Ein  neuentdecktes  Selbstbildnis  Zeitbloms.  Schwäbische  Chronik, 
10.  Juni  1903,  Nr.  263. 


492 


K.  Lange : 


Eingehen  darauf  auch  an  dieser  Stelle  rechtfertigen.  Es  ist  ein  Breit- 
bild auf  Tannenholz,  43  cm  hoch  und  5 4I/a  cm  breit,  in  Öl,  wahrschein- 
lich auf  Temperauntermalung  ausgeführt:  zwei  Brustbilder  nebeneinander, 
rechts  in  Vorderansicht  Petrus,  der  ein  — eben  noch  sichtbares  Buch 
in  der  Linken  und  einen  großen  Schlüssel  in  der  Rechten  hält,  schräg 
gegen  ihn  gewendet  ein  betender  Mann  mit  langem,  weißem,  zweigeteiltem 
Spitzbart,  hoch  gewölbtem,  kahlem  Schädel  und  langen,  weißen  Haaren, 
die  in  breiter  Masse  über  die  Ohren  herabfallen.  Petrus,  dessen  lebhaftes 
sprechendes  Gesicht  — eine  Seltenheit  bei  Zeitblom  — den  bekannten 
Typus  mit  rundem  Vollbart  und  kahlem,  nur  von  einer  Haarlocke  unter- 
brochenem Schädel  zeigt,  ist  mit  rotem  Untergewand  und  blauem  Mantel 
bekleidet.  Seine  linke  Hand,  die  das  Buch  hält,  ist  nicht  sichtbar  (viel- 
leicht ist  das  Bild  unten  etwas  beschnitten),  die  Rechte,  die  den  Schlüssel 
hält,  legt  er  gleichzeitig  dem  alten  Manne  wohlwollend  auf  die  Schulter. 
Dieser,  dessen  ruhige  und  ernste  Züge  keinerlei  Gemütsbewegung  zeigen, 
faltet  die  Hände  vor  der  Brust  und  schaut  voll  ruhigen  Gottvertrauens  auf 
den  Heiligen.  Er  trägt  eine  schwarze  Schaube  mit  braunem  Pelz  und  da- 
runter ein  goldbrokat.enes  Wams,  über  dem  eine  goldene  Kette  sichtbar  wird. 
Der  Anhänger  der  letzteren  sowie  ihre  einzelnen  Glieder  bestehen  aus 
einem  Falken,  der  einem  auf  dem  Schwanz  stehenden  Fisch  gegenübersitzt. 
Zwischen  beiden  Tieren  erscheint  ein  mit  einem  Schwert  gekreuzter  Streit- 
kolben (Turnierkolben?). 

Was  mich  bei  der  Entdeckung  verführte,  in  diesem  Manne  ein  Selbst- 
bildnis Zeitbloms  zu  erkennen,  war  die  Inschrift  auf  dem  Spruchbande, 
das  über  seinem  Kopf  erscheint:  O scte  (sancte)  petre  ora  pro  me  indigno 
pictori.  Ich  mußte  zwar  zugeben,  daß  die  Ähnlichkeit  mit  dem  flüchtig  ge- 
malten Selbstporträt  Zeitbloms  auf  der  Rückseite  des  Heerberger  Altars 
in  der  Stuttgarter  Gemäldegalerie  (Verzeichnis  Nr.  69)  nicht  über  die 
ungefähre  Form  des  zweigeteilten  Spitzbarts  hinausgeht,  und  daß  der 
Mann  in  Donaueschingen  eine  ausrasierte  Oberlippe  hat,  während  Zeit- 
blom auf  dem  genannten  Selbstporträt  auch  einen  Schnurrbart  trägt. 
Aber  ich  glaubte  mir  dies  aus  der  Zeitdifferenz  erklären  zu  können,  in- 
dem das  Donaueschinger  Bild  dem  Stil  nach  in  die  letzten  Jahre  Zeit- 
bloms zu  gehören  scheint,  während  der  Heerberger  Altar  von  1497 
stammt.  Vor  allen  Dingen  aber  glaubte  ich  die  Inschrift  nicht  anders 
lesen  zu  können,  und  darin  wurde  doch  Petrus  ganz  offenbar  zugunsten 
des  »unwürdigen  Malers«  angefleht,  und  dieser  Maler  konnte  nach  dem 
Stil  des  Bildes  nur  Zeitblom  sein. 

Leider  hatte  diese  Beweisführung  zwei  Löcher,  die  ich  jüngeren 
entdeckungslustigen  Fachgenossen  nicht  vorenthalten  will.  Erstens  war 
die  Inschrift  sehr  schlecht  erhalten  und  zum  großen  Teil  übermalt  und 


Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom. 


493 


diese  Übermalung  betraf  besonders  ihren  zweiten  Teil.  Wäre  ich  etwas 
vorsichtiger  gewesen,  so  hätte  ich  erkennen  müssen,  daß  das  Wort  pctori, 
welches  ich  = pictori  las,  auch  = peccatori  gelesen  werden  konnte,  und 
daß  in  diesem  Stoßgebet  der  »unwürdige  Sünder«  mindestens  ebenso 
gut  am  Platze  war,  wie  der  »unwürdige  Maler«. 

Auf  das  zweite  Loch  hat  mich  Herr  Baron  von  Gaisberg-Schöckingen, 
Mitglied  der  Wiirttembergischen  Abgeordnetenkammer,  aufmerksam  gemacht. 
Die  Kette  mit  dem  Fisch  und  Falken  nämlich  ist  das  Abzeichen  der 
Turniergesellschaft  im  Fisch  und  Falken,  die  sich  vorwiegend 
aus  dem  oberschwäbischen  und  Schwarzwälder  Adel  und  dem  des  Hegaus 
rekrutierte.  Zeitblom  hat  diesen  Orden  ohne  Zweifel  niemals  tragen  können. 
Wahrscheinlich  ist  der  Mann  also  ein  Adeliger,  der  dieses  Bild  seinem 
Namensheiligen,  dem  Petrus,  geweiht  hat. 

Damit  fällt  meine  ganze  schöne  Entdeckung  zusammen.  Man  wird 
nunmehr  nach  einem  oberschwäbischen  Adeligen  mit  dem  Vornamen  Peter 
suchen  müssen,  der  der  Turniergesellschaft  im  Fisch  und  Falken  angehört 
hat.  Bisher  ist  es  nicht  gelungen,  einen  solchen  zu  finden,  doch  bringt 
uns  vielleicht  die  Erforschung  der  Turnier-  und  Adelsgesellschaften,  die  den 
Heraldikern  am  Herzen  liegt,  mit  der  Zeit  Licht.  Köpfe,  die  unserem 
Porträt  ähnlich  sind,  kommen  zuweilen  in  Zeitbloms  Bildern  vor,  z.  B.  der 
Joseph  in  der  Darbringung  des  Heerberger  Altars.  Doch  müßte  die  rasierte 
Oberlippe  und  die  Zweiteilung  des  Bartes  der  Hauptanhalt  sein. 

Eine  Bezeichnung  Zeitbloms  ist  nicht  vorhanden.  Die  Inschrift  aut 
dem  Hemdsaume  des  Petrus  ist  sinnlos  aus  lateinischen  Majuskeln  zu- 
sammengestellt. Das  Bild  ist,  wie  mir  Herr  Galerieinspektor  Wagner  seiner 
Zeit  mitteilte,  im  Jahre  1876  durch  den  Fürsten  Karl  Egon  III.  von  Fürsten- 
berg von  dem  Hofrat  Rehmann  in  Donaueschingen  erworben  worden,  der 
es  aus  dem  Nachlaß  des  Dekans  Engesser  hatte.  Dieser  lebte  von  1814  bis 
zu  seinem  Tode  1867  (mit  einer  siebenjährigen  Unterbrechung)  in  Mundel- 
fingen in  Baden,  zwei  Stunden  südlich  von  Donaueschingen.  Aus  dieser 
Herkunft  läßt  sich  freilich  kein  Beweis  für  die  Ulmer  Herkunft  des  Bildes 
entnehmen.  Denn  der  Dekan  Engesser  scheint  niemals  aus  Baden  heraus- 
gekommen zu  sein  und  die  noch  lebenden  Töchter  des  Hofrats  Rehmann 
haben  erklärt,  das  Bild  solle  aus  dem  bekannten  Kloster  St.  Blasien  im 
Schwarzwald  stammen.  Wäre  das  richtig,  so  könnte  man  aus  ihm  vielleicht 
eine  Tätigkeit  Zeitbloms  für  einen  ziemlich  fern  von  seiner  Heimat  Ulm 
ansässigen  Besteller  erschließen.  Bisher  hat  sich  kein  Werk  von  ihm  nach- 
weisen  lassen,  dessen  Lokalisierung  über  Ulm  und  Oberschwaben  hinaus- 
ginge. Doch  ist  die  Tradition  zu  unsicher,  um  darauf  weitere  Vermutungen 
zu  bauen.  Jedenfalls  gehört  das  Bild  dem  Stil  nach  in  seine  spätere 
Zeit,  in  die  Zeit  um  1510  — 1515,  aus  der  die  Bilder  in  Adelberg  stammen. 


494 


K.  Lange:  Einige  Bilder  von  Bartholomäus  Zeitblom. 


Von  diesen  ist,  nebenbei  gesagt,  die  Predella  mit  den  Brustbildern  Christi 
und  der  Apostel,  wie  sich  neuerdings  herausgestellt  hat,  das  Original  der 
schwachen  Kopie  in  der  Stuttgarter  Gemäldegalerie  Nr.  70. 

Endlich  will  ich  noch  erwähnen,  daß  der  plastische  Mittelschrein 
des  Kilchberger  Altars  Nr.  49  — 52  der  Stuttgarter  Gemäldegalerie,  der  in 
der  Schloßkapelle  zu  Kilchberg  (bei  Tübingen)  zurückgeblieben  war,  im 
Jahre  1903  ebenfalls  in  den  Besitz  der  Stuttgarter  Gemäldegalerie  über- 
gegangen ist.  Dieser  Mittelschrein  ist  insofern  wichtig,  als  er  auf  der 
Staffel  links  die  Namensbezeichnung  Zeitbloms  enthält  und  seine  Zusammen- 
fügung mit  den  Flügeln  jetzt  jedermann  überzeugen  kann,  daß  diese,  die 
bekanntlich  auf  der  Vorderseite  die  Figuren  der  Heiligen  Georg  und 
Johannes  des  Täufers  vor  einem  goldenen  Vorhang,  auf  der  Rückseite 
die  Heiligen  Florian  und  Margaretha  vor  einem  roten  Vorhang  enthalten, 
tatsächlich  zu  diesem  plastischen  Mittelschrein,  der  die  Krönung  der 
Maria  enthält,  gehören.  Bekanntlich  wurde  das  früher  einmal  bestritten 
und  man  glaubte  vielmehr,  die  vier  (durch  Auseinandersägen  gewonnenen) 
Flügel,  die  mit  der  Abelschen  Sammlung  nach  Stuttgart  gekommen 
waren,  mit  einer  noch  jetzt  in  der  Pfarrkirche  zu  Kilchberg  vorhandenen 
Predella  vom  Jahre  1478  in  Zusammenhang  bringen  zu  können,  woran 
gar  nicht  zu  denken  ist.  Zu  den  durch  das  Entgegenkommen  des  jetzigen 
Schloßherrn  von  Kilchberg,  des  Freiherrn  von  Tessin,  für  Stuttgart 
geretteten  Teilen  des  Altars  gehört  auch  das  sdhr  zerstörte  und  deshalb 
in  Stuttgart  nicht  mit  ausgestellte  Stifterporträt  des  knienden  Ritters 
Georg  von  Ehingen,  das  sich  noch  in  der  Kapelle  befand.  Das  Gegen- 
stück dazu,  das  Porträt  seiner  Gemahlin,  hat  sich  nicht  erhalten.  Georg 
von  Ehingen,  der  1428  geboren  war,  erscheint  hier  als  unbärtiger  Mann 
im  Alter  von  etwas  über  60  Jahren,  was  auf  eine  Entstehung  des  Bildes 
um  1490  weisen  würde.  Leider  ist  die  Inschrift  auf  der  Predella  nur 
noch  in  ganz  geringen  Resten  vorhanden  und  trotz  aller  Anstrengung 
nicht  zu  entziffern.  Der  Anfang  dürfte  gelautet  haben:  »Im  jar  1490 
ward«.  Genaueres  über  den  Altar  und  seine  Geschichte,  sowie  über  die 
sich  än  ihn  anknüpfenden  Kontroversen  enthält  der  Katalog  der  Stutt- 
garter Galerie.  Zur  Ergänzung  will  ich  nur  hervorheben,  daß  die  Figuren 
der  Flügel  durch  den  Restaurator  Dürr  in  Ulm,  der  viele  Bilderrestau- 

rationen  in  Württemberg  auf  dem  Gewissen  hat,  nicht  nur  einen  neuen 

gelblichen  Firnis  erhalten  haben,  sondern  auch  an  vielen  Teilen  über 

malt  sind.  So  erschienen  Dürr  z.  B.  die  Beine  des  Johannes  zu  dürr, 

was  ihn  veranlaßte,  sie  dicker  zu  malen.  Man  kann  die  alten  Konturen 
noch  deutlich  unter  der  Übermalung  erkennen.  Für  die  Beurteilung  des 
Stils  und  die  chronologische  Einreihung  des  Altars  in  die  Reihe  der 
Zeitblomschen  Werke  ist  dies  nicht  ohne  Bedeutung. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 

Von  Dr.  Christian  Geyer  in  Nürnberg. 

(Schluß.) 

III. 

Die  ominöse  Jahreszahl  1490. 

Lochner  bemerkt  in  seiner  Neudörferausgabe  (S.  13)  zu  der  die  Stationen 
betreifenden  Notiz:  »Es  bleibt  das  Jahr  1490  als  das  erste,  aus  welchem 
mit  völliger  Sicherheit  eine  Arbeit  Meister  Adams  nachgewiesen  werden 
kann.  Es  sind  das  die  durch  Martin  Ketzel  (Kötzel)  veranlaßten  sieben 
Stationen,  die  vom  Pilatus-Haus  ausgehend  sich  auf  dem  Weg  nach 
St.  Johannis  hinziehen,  wo  damals  wohl  schon  eine  zum  Siechkobel  ge- 
hörige Kirche  mit  einem  kleinen  Begräbnisplatze  war,  aber  noch  keines- 
wegs ein  allgemeiner  Kirchhof,  an  den  damals  noch  niemand  dachte.« 
Auf  diese  Worte  Lochners  spielt  Daun  an,  wenn  er  in  der  eingangs 
angeführten  Stelle  davon  redet,  daß  die  Stationen  vermutlich  Ende  der 
achtziger  Jahre  aufgestellt  worden  seien,  »wie  auch  eine  alte,  leider  nicht 
mehr  auffindbare  Notiz  verbürgt  haben  soll.«  Diese  alte  Notiz  ist  durch- 
aus nicht  unauffindbar,  wie  Daun  annimmt.  Es  verhält  sich  damit  also. 

Zwischen  Stein  15  und  16  der  7.  Zeile  des  Johannisfriedhofes  von 
Norden  gegen  Süden  herunter  stand  nach  TrechseD7)  ein  angeblich  von 
Adam  Krafft  gefertigtes  Kreuzbild  »nach  der  richtigen  Größe  und  Länge, 
wie  solche  von  dem  ....  Herrn  Stiffter,  dem  Herrn  Martin  Ketzel,  unter 
andern  besonderen  Merkwürdigkeiten  aus  Jerusalem  mit  hieher  gebracht 
worden.«  Dieses  Kreuz  ist  in  der  Tat  1490  errichtet  worden  und  trug 
auf  einer  Metallplatte  folgende  Inschrift: 

»Hie  seh  ein  yder  crist~an 
Die  recht  war  leng  cristi  persan 
Die  hoch  des  creutz,  die  weyt  de’  stat 
Die  her  vom  newen  tho’  schrit  hat 
So  vil  vnd  von  pilati  haus 
Do  crist’  mit  dem  kreutz  ging  auß 


*7)  Trechsel,  Verneuertes  Gedächtnis  des  Nürnbergischen  Johannis-Kirch-Hofs. 
1736.  S.  159  f. 


496 


Christian  Geyer : 


Sint  an  die  stat  caluarie 
Dar  vm  welch  crist  alhie  für  ge 
Wiß  sulch  sein  fuß  drit  so  zu  ern 
Sein  angst  vn  als  sein  plut  vrern 
Sein  an  naglung  vn  den  sper  stich 
Das  er  dar  durch  vnß  gnediklich 
Im  dod  am  kreutz  erschein  allnsame 
Vnsz  ewig  zu  befriden  amen. 

1490«. 

Auch  Gugel18)  führt  Jahreszahl  und  Verse  an,  jedoch  ohne  auf  Ketzel 
Bezug  zu  nehmen.  Wenn  wir  im  folgenden  dieses  von  den  Stationen 
und  der  zu  ihnen  gehörigen  Kreuzigungsgruppe  durchaus  verschiedene 
Kreuz  kurzweg  als  »Ketzelkreuz«  bezeichnen,  so  wollen  wir  damit  keines- 
wegs sagen,  daß  das  Kreuz  in  der  Tat  irgend  etwas  mit  der  Familie 
Ketzel  zu  tun  gehabt  habe.  Aber  vielleicht  war  der  an  diesem  Kreuze 
wie  an  den  Stationen  haften  gebliebene  Name  der  Grund,  daß  man 
dieses  Ketzelkreuz  mit  den  Stationen  in  Verbindung  brachte.  Wir 
können  diesen  Vorgang  noch  beobachten.  Melchior  Adam  Pastorius1^ 
berichtet  nämlich  1702  über  das  hohe  steinerne  Kreuz,  dessen  Inschrift 
er  abdruckt,  und  fährt  fort:  »Sölch  Crucifix  samt  noch  7 steinernen 

Statuis  oder  Monumentis  hat  einer  des  wohladeligen  Geschlechts  derer 
Kötzel  durch  den  guten  Steinmetzen  Adam  Krafften  verfertigen  lassen.« 
Die  Nürnberger  protestantische  Kirchenverwaltung  war  noch  am  11.  Fe- 
bruar 1861  der  Ansicht,  daß  das  »Ketzel-Kreuz«,  das  Sommer  1860  ein- 
gelegt worden  war,  der  eigentliche  Schlußpunkt  der  Stationen  sei.  Fast 
scheint  es,  als  ob  es  auch  heute  noch  Leute  gebe,  die  an  diesen  durch 
nichts  gerechtfertigten  Zusammenhang  glauben,  denn  sonst  hätte  bei 
der  Wiederherstellung  der  Krafftschen  Kreuzigungsgruppe  nicht  vor  einigen 
Wochen  die  alte  Metallplatte  mit  der  Jahreszahl  1490  und  den  oben 
mitgeteilten  Versen  am  Kreuz  des  Krafftschen  Calvarienberges  angebracht 
werden  können.  Glücklicherweise  hat  der  Stadtmagistrat  die  Inschrift 
alsbald  wieder  entfernen  lassen,  ehe  sie  neue  Verwirrung  anrichten  konnte. 
Offenbar  hat  auch  Lochner  an  die  vermeintliche  Zugehörigkeit  des  Ketzel- 
kreuzes  zu  den  Stationen  geglaubt  und  darum  behauptet,  daß  das  Jahr  1490 
»mit  völliger  Sicherheit«  als  das  Geburtsjahr  der  Stationen  bezeichnet 
werden  könne.  Hoffentlich  ist  es  mir  gelungen,  die  Fabel  vom  Jahre  1490 
hiermit  endgültig  aus  der  Welt  zu  schaffen! 

Daun  hat,  offenbar  beeinflußt  durch  die  von  Lochner  so  sicher 


l8)  Gugel,  Norischer  Christen  Freydhöfe  Gedächtnis.  1682,  S.  176. 
*9)  Pastorius,  Franconia  rediviva  S.  258  f. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


497 


hingesetzte  ominöse  Jahreszahl,  versucht,  die  Stationen  ,aus  stilistischen 
Gründen  in  Kraffts  frühere  Zeit  zu  verlegen.  Zu  den  plastisch  ge- 
dachten Stationen  trete  das  Schreyersche  Grabmal,  das  malerisch  ge- 
schaut sei,  in  Kontrast  und  die  späteren  Arbeiten  zeigten  alsdann  den 
versöhnenden  Ausgleich  des  plastischen  und  malerischen  Moments.20) 
Dagegen  ist  nur  einzuwenden,  daß  ein  in  der  Tat  sicher  datierbares 
Krafftsches  Werk  späterer  Zeit,  die  Kreuztragung  in  der  Sebalduskirche, 
die  nach  dem  Harsdörferschen  Bericht21)  aus  dem  Jahre  1506  stammt, 
den  Charakter  der  Stationsbilder  zeigt.  Die  alte  Tradition  nennt  uns 
das  Jahr  1508  für  die  Sieben  Fälle  und  an  der  Nische,  in  der  die  nach 
der  nämlichen  alten  Tradition  zu  den  Stationen  gehörige  Grablegung  in 
der  sog.  Holzschuherkapelle  ihre  Aufstellung  gefunden  hat,  steht  diese 
Jahreszahl  jetzt  noch  deutlich  zu  lesen.  Wir  haben  bis  jezt  keinen  Grund 
gefunden,  Ketzelsage  und  Ketzelkreuz-Fabel  dieser  Überlieferung  vorzu- 
ziehen. Wollen  wir  Zuverlässiges  über  die  Stationen  in  Erfahrung  bringen, 
so  müssen  wir  dem  Fingerzeige  der  geschichtlichen  Tradition  folgen  und 
nach  dem  Erbauer  der  sog.  Holzschuherkapelle  forschen.  Es  ist  von 
vornherein  nicht  unwahrscheinlich,  daß  dieser  uns  vorerst  ganz  unbe- 
kannte Mann  irgend  etwas  mit  den  Stationen  werde  zu  tun  haben. 

IV. 

Die  sogenannte  Holzschuherkapelle. 

Im  Jahre  1788  veröffentlichte  Joh.  Carl  Sigmund  Holzschuher  . ein 
Schriftchen  unter  dem  Titel:  »Sammlung  einiger  Nachrichten  von  der 
Capelle  auf  dem  Gottesacker  zu  St.  Johannis  bey  Nürnberg,  als  dem 
Familienbegräbnisse  des  Geschlechts  der  Holzschuher  aus  Familien-Auf- 
zeichnungen  und  andern  historischen  Schriften  zusammengetragen  und 
berichtigt.«  Hierin  ist  zu  lesen,  daß  der  am  7.  Januar  15  n gestorbene 
Friedrich  Holzschuher  und  seine  am  13.  September  1521  gestorbene  Ge- 
mahlin, eine  geborne  Kreß,  noch  nicht  in  der  Kapelle,  sondern  auf  dem 
Friedhof  selbst  im  Grabe  Nr.  1109  bestattet  worden  seien;  erst  Lazarus 
Holzschuher  (f  6.  Mai  1523)  habe  in  der  Kapelle  seine  Ruhestätte  ge- 
funden. Das  sieht  fast  so  aus,  als  ob  die  Holzschuher  nicht  von  Anfang 
an  im  Besitz  der  Kapelle  gestanden  seien.  In  der  Schrift  findet  sich 
ferner  der  Hinweis  auf  einen  1593  bis  1604  zwischen  den  Imhoff  und 
den  Holzschuhem  geführten  Prozeß.  Wenn  auch  Joh.  Carl  Sigmund 
Holzschuher  nachdrücklich  darauf  hinweist,  daß  dieser  Prozeß  zugunsten 
seines  Geschlechtes  ausgegangen  sei  und  die  damals  von  den  Imhoffs 

*°)  Daun  in  Repert.  f.  Kunstw.  XX,  5.  1897. 

ll)  Daun,  Ad.  Krafft,  S.  79. 


498 


Christian  Geyer : 


erhobenen  Ansprüche  als  ganz  unbegründet  erscheinen  lassen  möchte, 
man  spürt  doch  alsbald,  daß  man  es  mit  einer  sehr  starken  Retouche 
zu  tun  hat;  und  so  lag  mir  daran,  die  Prozeßakten  zu  Gesicht  zu  be- 
kommen. Ich  war  so  glücklich,  sie  im  hiesigen  Kreisarchiv  zu  finden 
(S.  I.  L.  201  Nr.  39).  Nach  diesen  alten  Dokumenten  nahm  die  Sache 
folgenden  Verlauf. 

Am  4.  Dezember  1593  bitten  »Sebastian  Imhoffs  seeliger  nachge- 
lassene Erben«  den  Rat  um  Nachforschungen,  »wann,  welcher  gestalt 
vnd  weiß,  durch  wenn  vor  zeitten  vnnd  anfänglich  solche  Capellen  zu 
bawen  Zweifels  ohne  von  einem  Erbarn  Raht  vergönntt  vnnd  zuegelaßen 
worden.«  Der  Rat  beschließt  (27.  Dezember  1593)  dieser  Bitte  Folge 
zu  leisten,  und  ordnet  zugleich  an,  daß  den  Holzschuhern  von  der  Sache 
Mitteilung  gemacht  werde.  Am  14.  Januar  1594  liegt  eine  Beschwerde 
der  Holzschuher  gegen  Alexander  Imhoff  vor,  der  ein  Schloß  an  die 
Kapelle  hat  legen  lassen.  Der  Rat  beschließt,  daß  Imhoff  das  Schloß 
abtue;  zugleich  aber  macht  er  den  Holzschuhern  die  Auflage,  »daß  si 
es  im  alten  stand  richten,  zwen  Schlüssel  wider  dozu  machen,  einen  für 
sich  behalten,  vnnd  den  andern  den  höfischen,  biß  zu  außtrag  der  Sachen 
zustellen.«  Man  sieht  hieraus  und  aus  einem  undatierten  Schriftstück, 
daß  sich  auch  die  Imhoff  beschwert  hatten,  weil  die  Holzschuher  ein 
Schloß  angelegt  hatten.  Nun  tut  auch  die  vom  Rat  beschlossene  Mit- 
teilung der  Imhoffschen  Anfrage  an  die  Holzschuher  ihre  Wirkung:  die 
Holzschuher  bitten  nämlich  ebenfalls  um  Mitteilung  des  dem  Rate  zu- 
gänglichen Materials.  Einen  tieferen  Einblick  in  die  Streitsache,  die  dem 
Rate  von  Anfang  an  recht  mißlich  war,  gewährt  eine  Supplikation  der 
Imhoff  an  die  Herrn  »Elttern«  vom  14.  Oktober  1594.  Wir  erfahren 
hier  nämlich  nicht  nur,  daß  die  Holzschuher  trotz  obrigkeitlicher  An- 
ordnung den  Imhoffs  den  Schlüssel  nicht  ausgehändigt  hatten,  sondern 
auch,  was  den  Anlaß  zu  der  ganzen  Dissidie  bildete.  Hieronymus  Holz- 
schuher hatte  seine  Stellung  als  Mitglied  des  Baumeisteramts  dazu  be- 
nutzt, sich  einen  Schlüssel  zur  Kapelle  »eigens  gewalts«  zu  verschaffen, 
hatte  die  Kapelle  erneut,  dabei  die  Imhoffschen  Wappen  aus  den  Fenstern 
getan,  sowie  die  Imhoffschen  Schilde  und  Epitaphien  entfernt;  bei  dieser 
Gelegenheit  hatte  er  auch  Veit  Holzschuhers  Erben,  die  also  vorher 
offenbar  nicht  anteilberechtigt  waren,  einen  Grabstein  überlassen.  Wir 
lesen  in  diesem  Aktenstücke  nun  folgende  merkwürdige  Worte:  »Als 

haben  wir  in  Betrachtung,  daß  unser  Uhranherr,  Peter  im  Hof  seliger, 
als  deme  weiland  Heinrich  Marschalckh  zu  Raueneckh,  so  solche 
Capellen  zu  bauen  angefangen,  hernach  aber  vor  gänzlicher  Er- 
bauung derselben,  auf  zwischen  ihnen  erfolgte  Vergleichung  solche  Ca- 
pellen übergeben  und  also  wegen  vollführter  Erbauung  Stifter  solcher 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafiftschen  Stationen. 


499 


Capellen  ist,  wie  solches  der  Schild,  Altar  und  Grabstein  mit  seinem 
Wappen,  dem  auch  Sebastian  Imhof  seliger  Memorial  so  mit  seiner  eigenen 
Hand  geschrieben,  und  Schlüssel,  so  seither  gehabt,  bezeugen,  dasselbe 
auch  zweifelsohne  in  Ew.  Herrn  Registratur  also  zu  finden  sein  wird, 
dann  gemelter  unser  Gegenteil  Fundament  nur  ist,  weil  gemelter  unser 
Uhrahnherr  ein  Holtzschuherin  gehabt,  und  aus  Vergünstigung  dessen 
Schweer  seligen  hineinkommen,  dadurch  andere  abzutreiben,  da  doch 
unsere  liebe  Eltern  und  Geschwistericht  den  Unkosten  zu  bäulicher  Er- 
haltung solcher  Capellen  ausgelegt,  welches  sie  zweifelsohne  nit  wurden 
getan  haben,  wo  sie  dessen  nit  befugt,  dann  auch  dieselben  darinnen 
begraben  liegen,  derwegen  nicht  umgehen  können«  usw.  usw. 

Vielleicht  hat  das  Eintreffen  dieser  neuerlichen  Imhoffschen  Zu- 
schrift den  Rat  veranlaßt  an  eben  diesem  14.  Oktober  1594  die  noch  nicht 
erledigte  Bitte  der  Holzschuher  zu  beantworten.  Es  soll  weiter  nach- 
gesucht werden  »in  der  Schreinertruhen  so  in  der  Kirchen  bei  St.  Sebald 
stehet«  und  anderwärts;  zugleich  wird  darauf  bestanden,  daß  die  Holz- 
schuher den  alten  Stand  hersteilen,  was  sie  bis  jetzt  noch  nicht  getan 
hatten.  Auch  hält  man  es  für  geraten,  die  Sache  etlichen  hochgelehrten 
Herren  vorzulegen. 

Die  Holzschuher  konnten  auf  die  von  den  Imhoff  geltend  ge- 
machten Ansprüche  wenig  antworten;  sie  beschränkten  sich  in  einer 
Supplikation  an  die  Herrn  Eltern  darauf,  ihren  rechtmäßigen  Besitz  der 
Kapelle  zu  behaupten  ohne  auf  die  Frage,  wer  dieselbe  gebaut  und  wie 
sie  in  ihre  Hände  gekommen  sei,  einzugehen. 

Dem  Rat  wäre  es  wohl  das  liebste  gewesen,  wenn  er  eine  Sache, 
in  der  es  für  ihn  peinlich  sein  mußte,  so  oder  so  eine  Entscheidung 

zu  treffen,  hätte  einschlafen  lassen  können.  Ein  ganzes  Jahr  ruhte  der 

Streit,  wenigstens  in  den  Akten,  da  griffen  die  Augsburger  Imhoffs  ein 
um  eine  Verschleppung  der  Angelegenheit  zu  hindern  und  nun  verfügte 
der  Rat  am  8.  Januar  1596  die  »Versperr«  der  Kapelle  bis  zum  Aus- 
trag des  Streits.  Jetzt  scheint  man  auch  erst  recht  in  der  Schreiner- 
truhe bei  St.  Sebald  und  wo  sonst  etwas  zu  finden  war,  gesucht  zu 
haben.  Bei  den  Akten  liegt  ein  vom  4.  März  1596  datierter  »Extrakt 
aus  in  blab  (blau)  gebundenen  Pietanzbuch«  mit  Nr.  F 1 bezeichnet, 
fol.  15: 

»Ao  1513.  Wer  die  Capellen  zu  St.  Steffan  genannt  auf  dem 
Gottesacker  bei  St.  Johannes  gebauet  hat.  Item  Heinrich  Marschalck  zu 
Raueneck  aus  der  Schney  hat  von  neuem  (d.  h.  neu)  gebaut  diese  Ca- 
pellen im  Jahr  wie  ob.«  Auf  Grund  dieser  für  die  Imhoff  nicht  un- 

günstigen Notiz,  der  eine  »Copia  aus  Sebastian  Im  Hoffs  Memorial- 
büchlein«; beigegeben  ist  (»1570.  Item  der  Stifter  der  Capellen  bei  St. 


500 


Christian  Geyer: 


Johannes,  S.  Stefifan  genannt,  soll  sein  Heinrich  Marschalck  zu  Raueneck 
aus  der  Schney,  der  soll  solche  Capellen  gebaut,  doch  ehe  die  ausge- 
macht gestorben  und  dem  Peter  Im  Hoff  meinem  lieben  Ahnherrn, 
der  sich  mit  ihrne  verglichen,  übergeben  haben,  nachmals  folgends 
ausgebaut«),  ferner  auf  Grund  der  notariellen  Beurkundung  einer  Loch- 
nerin,  daß  nach  ihrem  Wissen  Peter  Imhoff  in  der  Ledergassen  die 
Kapelle  gebaut,  das  Jerusalem  conterfeyisch  darin  malen  und  daß  die 
Erben  dieses  anno  1521  haben  erneuern  lassen,  und  endlich  unter 
Beibringung  des  Nachweises,  daß  die  Imhoff  1564  und  1571  Kosten 
auf  die  Reparatur  der  Kapelle  verwendet  hatten,  machte  der  Vertreter 
dieser  Familie  am  5.  Mai  1596  von  neuem  unter  Widerlegung  der  Holz- 
schuherschen  Ansprüche  sein  Recht  geltend. 

Die  Rechtsgelehrten  D.  Straßburger  und  D.  Held,  denen  die  Akten 
zugestellt  wurden,  empfahlen  die  Verweisung  der  Parteien  an  das  Stadt- 
gericht (22.  Februar  1597)  und  im  nämlichen  Sinne  sprachen  sich  zwei 
weiterhin  von  Frörer  und  Hinderhofen  noch  erholte  juristische  Gutachten 
aüs.  So  konnte  sich  der  Rat,  obgleich  die  Sache  für  die  Imhoffs  sehr 
günstig  lag,  der  summarischen  Entscheidung  entziehen  und  die  Parteien 
am  1.  August  1597  an  das  Gericht  verweisen,  wobei  er  ihnen  anheim- 
stellte, welche  von  ihnen  mit  der  Klage  den  Anfang  machen  wolle. 
Allein  hierzu  konnten  sich  weder  die  Imhoff  noch  die  Holzschuher  ent- 
schließen. Daß  sich  die  ersteren  wenigstens  mit  dem  Gedanken  trugen, 
zeigt  eine  Bitte  an  den  Rat  vom  12.  Juli  1598,  weitere  Recherchen  im 
Salbuch,  in  den  Forstbüchern  usw.  vornehmen  zu  lassen.  In  der  Tat 
wurde  nun  noch  einiges  über  die  Stephanskapelle  gefunden,  und  so  hat  der 
alte  Streit  zwischen  den  beiden  Geschlechtern  wenigstens  das  Gute  gehabt, 
daß  die  damals  noch  zugänglichen  Notizen  aus  Büchern  und  Akten,  die 
inzwischen  verloren  gegangen  sind,  auf  uns  kamen.  Es  sind  folgende. 

»Extract  aus  einem  In  grün  Pergamen  eingebundenen,  vnd  mit 
lit.  F.  1.  signirtem  Buch.  fol. : 15.  1513.  F.  1. 

10.  Die  Pfleg  vnnd  Handlung  der  Cappellen  zu  Sanct  Steffan  auf 
dem  Gottesacker. 

Wer  Pfleger  daselbst  sein  soll. 

Item  ein  Erbar  Rath  wählt  allweg  den  Pfleger,  das  ist  gewöhnlich 
ein  Jeder  Pfleger  der  sondersiechen  zu  Sanct  Johannes. 

Der  Pfleger  hat  zu  gewaldt  alle  Zugehörung  der  Cappellen,  vnd 
was  die  Cappelen  von  Meßgewandt,  Zugehörung  der  Meß  hat,  das  ist 
eingeschrieben  Im  Buch  auff  dem  Rathauß,  mit  Nr.  1.  verzeichnet,  am 
180  Plat. 

Der  Pfleger  versihet  auch  die  Cappellen  mit  aller  notturfft,  von  dem 
Almosen,  das  dahin  gefeilt. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen.  50 1 

Wer  die  Cappellen  gepawt  hat. 

Item  Heinrich  Marschalck  zu  Rawheneck  aus  der  Schney  hat  ge- 
pawt von  newen  diese  Cappellen  Im  Jahr.« 

»Extract,  aus  dem  Stifftbucli  lit:  A:  Fol.  215. 

»In  Sanct  Steffans  Cappellen  auf  dem  Gottsacker.  Item  zu  Sanct 
Steffan  auf  dem  Gottsacker,  Ist  kein  gestiffte  Pfründe,  Jedoch  ist  dahin 
gestifft,  das  man  alle  wochen  soll  daselbst  lesen  zwo  Meß,  das  soll  be- 
zahlen von  der  Handt  ein  Jeder  Pfleger  der  Sondersiechen  zu  Sanct 
Johannes  von  den  Zinsen,  die  darzu  erkaufft  sein,  die  derselb  Pfleger 
einnimbt,  wie  denn  die  sein  eingeschrieben  im  Zinß  vnd  Gült  buch 
mit  Nr.  1.  bezeichnet  am  180  Plat.«  Der  Pfleger  kann  die  Messen  lesen 
lassen,  von  wem  er  will.  Der  Priester  hat  nach  der  Messe  unter  die  Kirchen- 
thtire  zu  treten,  oder  dabei  zu  stehen,  De  profundis  und  Pater  noster  zu 
sprechen  und  die  Kollekte  für  die  Almosenspender  zur  Messe,  für  die 
»do  begraben  liegen,  vnd  für  alle  Christgläubig  seel,  vnd  den  Weich- 
prunnen  (zu)  werffen  auf  den  Gottesacker.« 

Nach  diesen  Feststellungen  kam  es  begreiflicherweise  zu  keiner 
Klage  mehr.  Dies  bedauerte  schließlich  der  Rat  noch;  denn  da  nun 
eruiert  war,  daß  die  Kapelle  »von  einem  Fremden  vom  Adel  erbauet« 
und  von  den  Pflegern  des  Siechkobels  bei  St.  Johannes  jederzeit  ver- 
waltet worden,  wobei  weder  der  Holzschuerischen  *noch  Höfischen 
gedacht  werde  (Ratsverl.  v.  15.  Febr.  1603),  hätte  er  Lust  gehabt,  dem 
Pfleger  zu  befehlen,  sich  dabei  pro  Interesse  einzulassen,  damit  an  Tag 
kommen  möcht,  wer  die  beste  Gerechtigkeit  zu  dieser  Capellen  hab. 
Die  Imhoffs  ließen  jedoch  die  Sache  ruhn;  da  sie  zugleich  die  schöne 
Kapelle  auf  dem  Rochusfriedhof  besaßen,  mochte  ihnen  nicht  allzuviel 
an  der  Stephanskapelle  gelegen  sein;  so  kam  dieselbe  an  die  Holzschuher 
und  blieb  bis  heute  in  deren  Besitze.  Wir  könnten  heute  den  damals 
unerledigt  gebliebenen  Streit  zugunsten  der  Imhoff  entscheiden;  denn  es 
existiert  ein  vom  18.  Mai  1515  datierter  damals  unbekannt  und  unge- 
nutzt gebliebener  Ablaßbrief,22)  der  einem  Franz  Imhoff  für  die  Stephans- 
kapelle ausgestellt  ist  und  deren  Besuchern  an  drei  Tagen  des  Jahres 
je  100  Tage  Ablaß  gewährt.  Darnach  waren  die  Imhoff  im  Jahre  1515 
unzweifelhaft  Besitzer  der  Kapelle  und  die  Aufzeichnung  Sebastian 
Imhoffs  in  seinem  Memorialbuch  von  1570,  die  wir  vorhin  mitteilten, 
wird  wohl  als  zutreffend  angesehen  werden  können.  Ein  Heintz  Mar- 
schalck von  Rauheneck  aus  der  Schney  erbaute  über  der  Adam  Krafft- 
schen Grablegung,  die  vorher  unter  einem  einfacheren  Schutzdache  ge- 
standen haben  wird,  die  Kapelle,  starb  jedoch  vor  deren  Vollendung. 


“)  Theophilus  Sincerus,  Notitia  Historico-Critica  1748  S.  28  f. 


502 


Christian  Geyer: 


Da  übernahm  Peter  Imhoff  den  weiteren  Ausbau  und  Franz  Imhoff  erwarb 
dazu,  sowie  zur  würdigen  Ausstattung  derselben  mit  den  zum  Kultus 
notwendigen  Gegenständen  (ut  ...  in  suis  structuris  et  edificiis  debite 
reparetur  conservetur  et  manuteneatur  nec  non  libris  calicibus  luminaribus 
ornamentis  ecclesiasticis  ac  rebus  aliis  divino  cultui  inibi  necessariis 
decenter  muniatur)  den  iootägigen  Ablaß. 

Dauns  Meinung, 23)  als  ob  der  1529  gestorbene  Georg  Holzschuher 
die  Stephanskapelle  gebaut  habe,  hat  sich  als  irrig  erwiesen.  Der  Er- 
bauer des  unter  dem  Namen  Holzschuherkapelle  bekannten  Grabkirchleins, 
das  auch,  wegen  des  in  ihm  geborgenen  künstlerischen  Schatzes  »zum  h. 
Grab«  ferner  »zur  Mutter -Angst«  und  »zu  St.  Rochus«  hieß  (Holz- 
schuher a.  a.  O.  S.  1 1),  anfänglich  aber  als  Stephanskapelle  benannt  wurde, 
ist  Heintz  Marschalck  v.  Rauheneck  aus  der  Schney.  O 

V. 

Heintz  Marschalck  von  Rauheneck. 

Die  Marscnaick  von  Ebnet,  Rauheneck  und  Schney  waren  ein 
kürzlich  erst  ausgestorbenes,  ehemals  aber  weitverzweigtes  Geschlecht, 
dessen  Gliedern  wir  häufig  in  der  Umgebung  und  in  den  Diensten  der 
Bamberger  Kirchen  fürsten  begegnen.  Nach  dem  »Stammbuch  des  Adels 
in  Deutschland«  (III,  i8f.)  nannten  sich  die  Marschalck  von  Ebenat 
(Ebneth  liegt  x/a  Stunde  von  Burgkundstadt  in  Oberfranken)  zum  Teil 
auch  von  Raveneck  (Rauheneck  1 Stunde  von  Ebern  in  Unterfranken), 
führten  mit  den  Redwitz  das  gleiche  Wappen  und  verwalteten  statt  Kur- 
sachsen das  Erbmarschallamt  im  Stift  Bamberg.  Von  1503  bis  1505 
war  ein  Marschalck  von  Ebnet  als  Georg  II.  Bischof  von  Bamberg.  Ein 
»Heintz  Marschalck  zu  Rawhenecke«  verkaufte  1478  seine  Güter  zu 
Echerbach  um  1100  fl.  rh.  an  die  Abtei  Michelsberg. 24)  Da  dieser  Heintz 
Marschalck  nach  der  Schney  benannt  wird,  ist  er  wohl  jener  Sohn  Heintz 
des  Wilhelm  Marschalck,  von  dem  bekannt  ist,  daß  er  zusammen  mit 
seinem  Bruder  Contz  Marschalck  die  Veste  zu  der  Schney  an  Wilwolt 
von  Schaumburg  verkauft  hatte,  1503.  (Loshorn  IV,  452).  Da  sich  ein 
»Geschlechtslehensbrief  des  Kuntz  Marschalk  von  Ebnet  nach  dem  Tode 
seines  Bruders  Heintz  Marschalk  von  Ebnet  sei«  vom  Jahr  1514  erhalten 
hat,  in  welchem  u.  a.  auch  ein  »Pochendorf«  erwähnt  wird,  können  wir 
als  wahrscheinlich  annehmen,  daß  dieser  Heintz  Marschalck  in  eben 
diesem  Jahr  gestorben  sei.  Wir  erinnern  uns,  daß  nach  den  Erhebungen 


*3)  Daun,  Ad.  Krafft  S.  82. 

*4)  Loshorn,  Gesch.  des  Bist.  Bamberg  IV,  344 f. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


5°3 


des  Rats  Heinrich  Marschalck  von  Rauheneck  aus  der  Schney  1513  die 
Grabkapelle  gebaut  hat,  und  daß  diese  1515  bereits  in  den  Besitz 
des  Franz  Imhoff  übergangen  war.  Die  verschiedenen  Angaben  und  Daten 
stimmen  so  aufs  beste  überein  und  erlauben  wenigstens  eine  magere 
Chronologie  des  Lebensganges  unseres  Heintz  Marschalck  zu  entwerfen. 
Große  Güterverkäufe,  wie  sie  uns  von  ihm  wiederholt  urkundlich  bezeugt 
sind,  deuten  auf  außerordentliche  Ausgaben  hin,  und  man  mag  sich  wenn 
man  will,  vorstellen,  daß  die  1478  frei  gemachte  Summe  zu  einer  Pilgerfahrt 
ins  heilige  Land,  die  um  1503  flüssig  gewordenen  Gelder  zur  Bezahlung 
einer  außergewöhnlichen  Schuld  verwendet  worden  seien,  nur  darf  man 
nicht  vergessen,  daß  das  Möglichkeiten,  keineswegs  aber  historisch  nach- 
gewiesene Tatsachen  sind.  Vorsicht  ist  hier  um  so  mehr  geboten,  als 
der  Name  Heintz  bei  verschiedenen  Linien  der  Marschalck  begegnet. 
Im  Bamberger  Archiv  liegt  z.  B.  ein  Aufsendbrief  des  Heintz  Marschalck 
von  Rauheneck  gegen  Bischof  Georg  von  Bamberg  (auch  der  Nachfolger 
Georgs  II.  hieß  Georg)  für  Heintz  Marschalk  von  Ebnet  seinen  Vetter. 

Nach  Biedermann,  Geschlechtsregister  der  Reichs-Frey-unmittel- 
baren Ritterschaft  Landes  zu  Francken  Löblichen  Orts-Gebürg  (Bam- 
berg 1847)  Tab.  329fr.  wäre  ein  Heimich  Marschalk  von  Ebneth  zu 
Schney  und  Raueneck,  der  1505  alle  seine  Güter  in  Rodhausen,  Thein- 
feld und  Poppenlauer  verkauft,  ein  Sohn  des  Wolfram  iun.  des  Stifters 
der  Linie  Schney.  Die  genealogischen  Fragen,  von  denen  die  genauere 
Feststellung  der  Persönlichkeit  unseres  Heintz  Marschalck  abhängt,  werden 
wohl  erst  entschieden  werden  können,  wenn  einmal  der  kürzlich  an  das 
Bamberger  Archiv  gekommene  Nachlaß  des  f Freiherrn  von  Marschall 
geordnet  sein  wird. 

In  Nürnberg  haben  die  Marschalk  keine  solche  Rolle  gespielt,  daß 
sich  etwa  ihr  Andenken  hätte  lebendig  erhalten  müssen.  Allein  Doku- 
mente aus  der  Wende  des  15*  und  16.  Jahrhunderts  beweisen  immerhin, 
daß  Beziehungen  der  Bambergischen  Adelsfamilie  zu  Nürnberg  nicht 
ganz  fehlten,  auch  abgesehen  von  jenem  übelberüchtigten  Raubritter  Erhärt 
Marschalk,  25)  dem  Schwestersohn  des  Bischofs  von  Bamberg,  derhier  in 
Nürnberg  im  September  1472  mit  dem  Schwerte  hingerichtet  wurde.  Das 
Bamberger  Archiv  verwahrt  von  ihnen  eine  ganze  Reihe  von  Geschlechts- 
lehenbüchern (Rep.  187.  S.  237).  Unter  den  dortselbst  namhaft  gemachten 
Orten  findet  sich  wiederholt  auch  Nürnberg,  so  in  denen  der  Jahre  1429 
und  1465.  Der  Eintrag  in  dem  letzterwähnten  Lehenbuch  lautet: 

»Norenberg. 

Item  Heintz  kammermeister  hat  entpfangen  von  sein  vnd  seiner 

*5)  Reicke,  Gesch.  der  Reichsstadt  Nürnberg  S.  452  f. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVTII. 


34 


504 


Christian  Geyer: 


brtider  wegen  siben  gutlein  vnd  siben  ecker  besonder  die  da  ligen  zu 
clwckav  mit  allen  iren  zugehören  vnd  gerechtikeyt  vnd  waß  sie  zu 
ciwckav  haben  darvber  haben  sie  ein  lehnbrif«;  und  ebendort  etwas 
später: 

»Norenberg. 

Item  iorg  zölner  hat  entpfangen  von  sein  vnd  seiner  brtider  wegen 
ein  gutlein  mit  sampt  dem  zehent  darüber  gehören  mit  aller  seiner  ge- 
rechtikeyt das  da  leyt  zu  bochendorf.«  Dieses  Buchendorf  wird  auch 
in  dem  Lehenbuch  von  1514  genannt.  Es  ist  mir  nicht  über  allen 
Zweifel  erhaben,  ob  das  Norenberg  der  Lehenbücher  mit  unserer  alten 
Reichsstadt  identisch  ist.  Ich  verzichte  darum  darauf  die  »siben  gutlein 
und  siben  ecker«  mit  den  sieben  Stationen  in  Zusammenhang  zu  bringen. 
Ganz  unzweifelhafte  Beziehungen  aber  zu  unserem  Nürnberg  sind  durch 
Urkunden  des  hiesigen  Kreisarchivs  verbürgt,  nach  denen  im  Jahr  1508 
und  15 11  ein  Hartung  Marschalck  Ritter  Landrichter  des  kaiserlichen 
Landgerichts  des  Burggrafentums  zu  Nürnberg  war,  und  — was  für 
unsere  Untersuchung  von  weit  größerer  Bedeutung  ist,  durch  die  Vertrags- 
urkunde26) unseres  Adam  Krafft  mit  Peter  Imhoff  vom  25.  August  1505, 
in  der  er  verspricht  von  seiner  310  fl.  betragenden  Schuld  »in  einem 
jar,  oder  alsbald  des  Marschalks  arbayt  ausgemacht  (=  vollendet)  wirt« 
100  fl.  abzuzahlen.  Es  ist  mir  unverständlich,  weshalb  Daun  diesem 
für  die  Krafift-Forschung  doch  sicherlich  nicht  gleichgiltigen  Fingerzeig 
nicht  folgte.  Doch  was  er  versäumte,  hat  ein  andrer  getan,  nämlich 
Philipp  M.  Halm27)  in  dem  Aufsatz:  »Die  Kreuzwegstationen  zu  Bam- 
berg und  Adam  Krafft«.  Ich  kann  diese  vielfach  sehr  dankenswerte  und 
hochinteressante  Arbeit  nicht  anführen  ohne  auszurufen:  Ach  wenn  doch 
unsere  Kunsthistoriker  ein  klein  wenig  mehr  Nachdruck  auf  die  drei 
Silben  »Historiker«  legen  und  sie  nicht  gar  zu  sehr  durch  die  erste 
Silbe  »Kunst«  zudecken  lassen  wollten!  Alle  Achtung  vor  den  inter- 
essanten stilistischen  Ausführungen,  wie  sie  Halm  gibt,  wenn  sie  zu 
Worte  kommen,  nachdem  die  historischen  Fragen  gelöst  sind.  Allein 
gerade  daran  fehlt  es  bei  ihm.  Ohne  einen  anderen  Beleg  beizubringen 
als  die  Berufung  auf  Jäcks  Taschenbuch  von  Bamberg  1813,  und  Hellers 
Taschenbuch  von  Bamberg  1831,  rechnet  er  von  Anfang  an  mit  der 
völlig  unerwiesenen  Angabe,  daß  die  von  Heinrich  Marschalk  von  Ebnet 
und  Raueneck  gestifteten  Bamberger  Stationen  1507  errichtet  worden 
seien.  Und  indem  er  ein  ganz  künstliches  und  scheinbar  sehr  befrie- 


l6)  Daun,  a.  a.  O.  S.  79 f. 

*7)  Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  herausgegeben  von  Graul  u.  Thieme,  io.  Jahrg. 
Leipzig,  Seemann  1898 — 99.  S.  57 — 65. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


505 

digendes  Gebäude  aufführt,  ohne  das  Fundament  gelegt  zu  haben,  hat 
er  es  in  der  Tat  nur  zur  Errichtung  eines  Kartenhauses  gebracht,  das 
von  der  ernsthaften  geschichtlichen  Kritik  zunächst  zusammengeblasen 
werden  muß. 

In  Bamberg  finden  sich  Stationsbilder,  die  mit  unsern  Nürnberger 
Stationen  eine  frappante  Ähnlichkeit  haben.  Wie  die  unsrigen  finden 
sie  in  einer  Kreuzigungsgruppe,  Beweinung  und  Grablegung  ihren  Ab- 
schluß. Sie  beginnen  in  der  Sandstraße  an  der  St.  Elisabeth-Kapelle,  da 
wo  ehemals  das  Sandthor  stand,  gehen  durch  die  Aufseesgasse  (Hader- 
gasse), wo  sich  4 befinden,  die  sechste  ist  am  Irrenhause  bei  St.  Getreu 
in  die  Mauer  eingelassen,  die  Kreuzigüngsgruppe  und  die  siebente  Station 
sind  nachmals  an  die  vom  Chor  aus  gesehen  rechte  Schiffswand  der 
Kirche  St.  Getreu  verlegt  worden.  Die  zweite,  dritte,  vierte  und  fünfte 
Bamberger  Station  entsprechen  der  ersten,  zweiten,  dritten  und  vierten 
Nürnberger.  Die  erste  Bamberger  fehlt  in  Nürnberg;  dafür  vermißt  man 
die  fünfte  Nürnberger  in  Bamberg.  Die  sechsten  und  siebenten  Stationen 
entsprechen  sich  wieder.  Daß  auch  in  Bamberg  eine  große  Grablegung 
den  Abschluß  bildet,  wurde  bereits  erwähnt.  Das  Grab  selbst  zeigt  an 
der  Vorderwand  drei  Grabeswächter  in  Relief  ausgeführt;  der  mittlere, 
mit  einem  Spieß  ausgerüstete  Kriegsmann  wacht  eben  aus  seinem  Schlafe 
auf,  die  beiden  anderen  schlummern  noch.  Am  Grab  steht  oben  und 
unten  ein  bärtiger  Mann,  diese  beiden  halten  das  Tuch,  auf  dem  Jesu 
Leichnam  ausgestreckt  mit  übereinander  gelegten  Händen  eben  in  das 
Grab  gelassen  werden  soll.  Die  Fußwunden  Jesu  sind  stark  aufgeschwollen. 
Hinter  dem  Grabe  stehen  vier  große  weibliche  Figuren;  in  der  Mitte 
Johannes  die  Mutter  Jesu  haltend.  Den  Hintergrund  bildet  dort  ein  er- 
neuertes Glasgemälde  Jerusalem  darstellend.  An  dem  über  dem  Grab 
sich  wölbenden  Mauerbogen  erblicken  wir  Gott  Vater  mit  der  Weltkugel, 
zu  seinen  Seiten  je  6 Engel  mit  den  Emblemen  des  Leidens  Christi  und 
den  sie  deutenden  Inschriften  (von  links  unten  an):  Triginta  argenteis 
venditus  — Spinis  coronatus  — Flagellis  caesus  — Clavis  confixus-  — 
Felle  aceto  potatus  — Lancea  transfixus  — Osculo  traditus  (Judaskopf, 
Jesus  küssend)  — Fustibus  ligatus  (Seil)  — Blesphematus  et  illusus 
(Säule)  — Percussus  et  attritus  (Hammer)  — Morte  crucis  condemnatus 
(INRI)  — Propitiatio  nobis  factus  (Kreuz). 

Daß  die  Bamberger  Stationen  in  der  Komposition,  die  aber  roher 
und  figurenärmer  ist  als  die  Nürnberger,  mit  den  Krafftschen  überein- 
stimmen, sieht  man  auf  den  ersten  Blick.  Die  Unterschriften  der  Stationen 
sind  in  Bamberg  bis  auf  den  Wortlaut  denen  in  Nürnberg  gleich.  Wir 
teilen  sie  vollständig  mit,  damit  ein  Vergleich  mit  den  oben  bereits 
wiedergegebenen  Nürnbergischen  angestellt  werden  könne. 


34 


Christian  Geyer: 


506 

»1.  Hir  wirt  Cristus  außgefurt  von  Pilatus  Haws  sein  kreutz  tragend. 
[Laßt  uns  hinausgehen  auser  dem  Thore  und  seine  Schmach  tragen.] 

2.  Hir  begegnet  Cristus  seiner  wirdigen  lieben  muter  die  vor 
großem  hertzenleyd  amechtig  ward.  11°  schrit  von  pilatus  haus. 

3.  Hie  ward  Symon  gezwungen  Cristo  sein  kreutz  helfen  tragen 
IICLXXXXV  (295)  schrit  von  Pilatus  haws. 

4.  He  sprach  Cristus  jr  Tochter  von  Jherusalem  nit  weinet  über 
mich  sondern  über  euch  und  eur  kinder  IIICLXXX  (380)  schrit  v.  p.  haus. 

5.  Hir  hat  Cristus  sein  heiliges  angesicht  der  Frawen  Feronica 
jn  iren  slayr  gedruckt  vor  jrem  Haws.  vc  (500)  schrit  von  Pilatus  haws. 

6.  Hie  velt  Cristus  vor  großer  amacht  vnter  dem  kreutz  ernider 
vff  die  erde  bey  Eylfhundjet  schriten  vö  pilatus  haus.« 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auch  die  merkwürdige  Tatsache  erwähnt, 
daß  die  angeblich  aus  Tilmann  Riemenschneiders  Werkstatt  stammenden 
Stationen  des  Wallfahrtsortes  Kirchberg  bei  Volkach  in  Unterfranken, 
die  aus  den  Jahren  1520,  1521  und  153X  stammen,  gleichfalls  Inschriften 
enthielten,  die  mit  den  Bambergischen  und  Nümbergischen  nicht  nur 
dem  Inhalt,  sondern  teilweise  auch  dem  Wortlaute  nach  übereinstimmten. 

Verschwunden  sind  im  Laufe  der  Zeit  die  sowohl  in  Bamberg  als 
Nürnberg  dem  Kreuze  gegenüber  aufgestellten  figurenreichen  Frauen- 
gruppen (mit  Johannes).  In  Nürnberg  stand  unter  dem  Kreuze  bekannt- 
lich der  römische  Hauptmann  zu  Pferde  mit  seinen  Kriegsknechten;  als 
diese  Gruppe  verwittert  war,  setzte  man  die  aus  der  gegenüberstehenden 
Gruppe  stammenden,  in  den  Proportionen  gar  nicht  dazu  passenden 
Figuren  des  Johannes  und  der  Maria  unter  das  Kreuz,  die,  man  jetzt 
auch  wieder  mit  erneuert  hat. 

Auf  die  Frage,  wann  wohl  der  mit  den  Nürnberger  Stationen  so 
merkwürdig  übereinstimmende  Bamberger  Kreuzweg  angelegt  worden  ist, 
gibt  uns  — was  Halm  nicht  beachtet  hat  — das  Werk  selbst  eine  Ant- 
wort. Am  mittleren  Kreuz  sind  zwei  Jahreszahlen  eipgegraben  1500  und 
1613,  offenbar  ist  die  erstere  die  Zahl  der  Stiftung,  letztere  die  der 
Restauration  der  Kreuzigungsgruppe.  Aber  wir  haben  auch  urkundliche 
Belege,  die  ich  der  Reihe  nach  anführe: 

i„  Am  27.  Juli  1500  ist  im  ElisabethspitaL  eine  Messe  zum  Ge- 
dächtnis der  Ausführung  aus  Pilati  Haus  gestiftet  worden.*8)  Die  be- 
treffende Urkunde  findet  sich  im  städtischen  Archiv  Bamberg  und  bestimmt: 

»Ich  Martein  Ganns  und  Ich  Heintz  Kemptnater,  Pfleger  Sannd 
Elsbetenn  Spitals  im  Sand,  wir  bekennen,  das  uns  der  erber  und  veste 


*8)  Haas,  St.  Martin  S.  449  f.  Bericht  des  histor.  Vereins  in  Bamberg  1860. 

S.  143. 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


507 


Heinrich  Marschalck  zu  Rawheneck29)  am  baren  Golde  behenndigt  hat 
60  fl.,  davon  wir  zum  Nutz  des  gen.  Spitals  3 fl.  jerlicher  Zins  erkauft. 
Daraus  sollen  wir  bestellen,  daß  alle  Freitag  im  gen.  Spitall  ein  Messe 
von  unserm  libenn  Herrn  Jhesu  Cristi  Leydenn  und  sunderlich  zu  Be- 
trachtung Seiner  ausfurunge  aus  Pilatus  Hawse  zu  Seiner  Crewtzunge  mit 
andacht  gelesen  werde.  Bei  solchem  Ampt  soll  ein  Collecten  für  des 
gen.  Heinrichen  Marschalk,  auch  Vaters  und  Mutter  etc.  Seelen  Seligkeit 
eingelecht  werden  und  Solichs  in  das  Messpuch  des  Spitals  zu  ewiger 
gedechtnus  eingeschrieben  werden.  — Sig.  des  Spitals.  — Geben  am 
Montag  nach  Sand  Jacobstag  1500.« 

2.  Im  Bamberger  Archiv  ist  eine  mit  3 Siegeln  versehene  Original- 

urkunde (Kiste  25,  Lade  8,  Ziffer  3),  ein  Revers  des  Abts  Wolffgang, 
des  Priors  Jacob  und  des  Convents  des  Klosters  auf  dem  Michelsberg 
wegen  einer  für  Heinrich  Marschalk  zu  Raweneck  wöchentlich  am  Freytag 
zu  lesenden  Meß  in  der  Probstey  St.  Getreu  auf  dem  neuen  Altar  bey 
dem  Grabe  Jhesu  Cristi  inwendig  des  eisernen  Gitters,  durch  genannten 
Marschalck  aufgerichtet.  Gegeben  am  Samstag  nach  der  heyligen  drey 
konigtag  1503.  (7.  Jan.  i503.)3°) 

3.  Montag  nach  St.  Gertraudentag  1509  (8.  Oktober  1509)  bekennen 
die  Pfleger  Michel  Paul  und  Bartholomäus  Holt,  daß  derselbe  Heinrich 
Marschalk  im  Elsbetenspital  mit  60  fl.  eine  Messe  durch  das  ganze  Jahr 
auf  den  Samstag  gestiftet  habe.31) 

4.  Am  Donnerstag  nach  St.  Bärtholomäustag  1519  hat  wieder  ein 
(anderer?)  Heinrich  Marschalk  zu  Raueneck  5 fl.  jährlichen  Zins  ver- 
macht »die  Figuren  vor  dem  Sandthor  aus  bis  St.  Getreuen  zu  erhalten, 
Gott  zu  lob  und  ehren  des  bittem  Leiden  Christi.«  32) 

*9)  Heinrich  Marschalk  war  (Haas,  a.  a.  O.  S.  450)  auch  sonst  ein  großer  Wohl- 
täter des  Hospitals  der  heil.  Elisabeth.  In  den  Rechnungen  figuriert  unter  seinem  Na- 
men (z.  B.  1547  und  1568)  eine  Stiftung,  da  werden  z.  B.  5 fl.  verausgabt  für  42  Ellen 
Tuch  zu  der  Armen-Rockstiftung  Heinrich  Marschalks.  An  den  4 Quartalen  werden 
verausgabt  an  18  oder  19  Pfründner  sowie  an  4 bis  6 Priester,  die  zu  Vigil  und  Seelen- 
messe amtierten,  Präsente  in  Geld,  Weißbrot,  Karpfen,  Heringen,  grün  Kraut,  Äpfeln 
und  Birnen;  an  St.  Johannis-Nacht:  Erbsen,  Kirschen,  Amarellen  usw.,  am  Elisabethen- 
Tag  Karpfen  usw.  Im  Jahr  1574 — 75  begegnet  hiebei  auch  ein  Posten  von  25  Pf.  für 
»Quetzchka«  (Zwetschgen). 

3°)  Weber,  Die  ehern.  Benediktiner-Probstei  St.  Getreu  in  Bamberg.  Sep.-Abdr. 
a.  d.  Kal.  f.  kathol.  Christen.  1885.  Sulzbach  i.  d.  Oberpf.  S.  12:  »also  vnd  mit 
der  Bescheidenheit,  das  solche  wöchentliche  meß  von  vnsers  lieben  herrn  vnd  Seelig- 
machers  Jesu  Cristi  leyden,  demselben  zu  lobe  vnd  Eren  vndt  sonderlich  in  Betrachtung 
undt  gedächtnus  seiner  ausfuhrung  aus  pillatus  hawß  zu  seiner  Crewtzigung  vff  den  Bergk 
Calvarie,  seines  Bittern  Todts  vndt  Begräbnus«  gefeiert  werde. 

3')  Haas,  Gesch.  der  Pfarrei  St.  Martin  in  Bamberg  1845.  S.  449  f. 

3l)  Bamberger  Ratsregistratur.  Weber  a.  a.  O.  S.  12. 


Christian  Geyer: 


508 


Daraus  geht  mit  aller  nur  wünschenswerten  Deutlichkeit  hervor, 
daß  die  Bamberger  Stationen  im  Jahre  1500  bereits  aufgestellt  waren, 
oder  eben  aufgestellt  wurden.  Jedenfalls  war  zu  Anfang' des  Jahres  1503 
das  ganze  Stationenwerk  einschließlich  der  Grablegung  fix  und  fertig,  denn 
die  Meßstiftung  zum  Gedächtnis  der  Ausführung  aus  Pilatus  Haus,  seines 
Todes  und  Begräbnisses  vom  7.  Januar  dieses  Jahres  in  der  Probstei 
St.  Getreu  als  dem  Endpunkt  des  Kreuzweges  setzt  die  Vollendung  vor- 
aus. Mit  dieser  schlichten  historischen  Konstatierung  aber  fällt  Halms 
ganze  Beweisführung,  daß  die  in  der  Vertragsurkunde  zwischen  KrafFt 
und  Imhofif  vom  25.  August  1505  erwähnte  Arbeit  für  den  Marschalk 
die  Bamberger  Stationen  seien,  in  sich  selbst  zusammen.  Ein  Werk,  das 
die  Inschrift  1500  trägt  und  von  1500  an  urkundlich  durch  mit  ihm 
verbundene  Meßstiftungen  usw.  bezeugt  ist,  kann  nicht  1505  in  Arbeit' 
gewesen  sein. 

Wenn  aber  des  »Marschalk  Arbeit«  nicht  die  Bamberger  Stationen 
waren,  diese  vielmehr  bereits  1500  die  Werkstatt  ihres  unbekannten 
Schöpfers  verlassen  hatten,  was  ist  dann  darunter  zu  verstehen?  Jeden- 
falls eine  große  Arbeit;  dafür  spricht  die  hohe  Summe,  die  Krafft  nach 
ihrer  Vollendung  und  damit  nach  Ausbezahlung  keineswegs  des  ganzen 
Arbeitslohnes  sondern  von  dessen  letzten  Rate  zurückzubezahlen  ver- 
spricht. Aber  ich  füge  hinzu:  auch  eine  bekannte  Arbeit.  Die  Art,  wie 
zwischen  Krafft  und  Imhofif  von  des  Marschalks  Arbeit  gesprochen  wird, 
ohne  daß  man  es  für  nötig  hält,  sie  zu  benennen,  deutet  darauf  hin,  daß 
es  sich  um  eine  allgemein  bekannte  Sache  handelt.  Wenn  ein  auswärts 
gearbeitetes  Werk,  wie  die  Bamberger  Stationen  gemeint  wäre,  so  müßte 
uns  der  Ausdruck  befremden;  handelt  es  sich  -aber  um  ein  hier  in 
Arbeit  gegebenes  und  die  Allgemeinheit  interessierendes  Werk,  dann  ist 
er  verständlich. 

Wir  hielten  es  von  Anfang  an  für  sehr  wahrscheinlich,  daß  der 
Stifter  der  Grabkapelle  augh  der  Stifter  der  Stationen  sei.  Der  Erbauer 
der  Kapelle  ist  Heinrich  Marschalk  von  Rauheneck.  Indem  wir  diesen 
Heinrich  Marschalk  im  Jahr  1505  als  Auftraggeber  für  ein  großes  aber 
bisher  unbekanntes  Werk  Kraffts  sehen  — den  Versuch,  als  das  gesuchte' 
für  den  Marschalk  bestimmte  Werk  die  Bamberger  Stationen  in  Anspruch 
zu  nehmen,  haben  wir  in  seiner  Haltlosigkeit  erkannt  — schließt  sich 
der  Ring  unserer  Beweisführung:  Im  Jahre  1505  arbeitete  Adam 
Krafft  hier  in  Nürnberg  mit  der  Aussicht  in  einem  Jahre  etwa 
damit  zu  Ende  zu  kommen  im  Aufträge  des  Heinrich  Marschalk 
von  Bamberg  an  den  zu  einem  Wahrzeichen  Nürnbergs  gewor- 
denen Stationen. 

Dieses  Ergebnis  .stimmt  vortrefflich  zu  der  einzigen  bisher  schon 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen. 


509 


bekannten  auf  das  Stationenwerk  bezüglichen  Angabe,  nämlich  der  in 
der  Nischenmalerei  der  Grabkapelle  angebrachten  Jahreszahl  1508.  fraß 
diese  Malerei  nach  Fertigstellung  der  Grablegung  efitstanden,  ist  ebenso 
selbstverständlich,  als  es  wahrscheinlich  ist,  daß  sie  nicht  allzu  lange 
nach  dieser  gemacht  wurde.  Wenn  der  Zusammenhang  zwischen 
Grablegung  und  Stationen  früher  bereits  unter  Berufung  auf  die  ältesten 
Nachrichten,  insonderheit  auf  Neudörfers  »Nachrichten  von  Künstlern  und 
Werkleuten«  (1547)  behauptet  wurde,  so  dürften  jetzt  alle  etwa  noch  ge- 
hegten Zweifel  durch  die  Tatsache  verscheucht  werden,  daß  die  Bamberger 
Stationen,  die  nichts  anderes  als  etwas  ungelenke  Vorläufer  der  künst- 
lerisch vollkommeneren  Nürnberger  Bildwerke  sind,  ebenfalls  in  einer 
groß  angelegten  Grablegung  ihren  Abschluß  gefunden  haben.  Eben  des- 
halb braucht  darüber  kaum  mehr  ein  Wort  verloren  zu  werden,  daß  die 
über  die  Grabkapelle,  Heinrich  Marschalk  und  sein  Verhältnis  zu  Krafft 
eruierten  Tatsachen  etwa  nur  auf  die  Grablegung,  nicht  aber  auf  die 
Stationen  überhaupt  ein  neues  Licht  zu  werfen  geeignet  seien.  — Daß 
die  Kreuztragung  in  der  Sebalduskirche,  die  ganz  den  Charakter  der 
Stationsbilder  zeigt,  im  Jahre  1506  entstanden  ist,  sei  dabei  noch  ein- 
mal in  Erinnerung  gebracht. 

Eine  Schwierigkeit  bleibt  allerdings  bestehen,  von  der  wir  bisher 
noch  nicht  gesprochen  haben.  Wenn  man  die  Bamberger  und  die  Nürn- 
berger Stationen  miteinander  vergleicht,  so  sieht  man  alsbald,  daß  diese 
künstlerisch  hoch  über  jenen  stehen.  Halm  macht  in  dem  angeführten 
Aufsatz  darauf  aufmerksam,  daß  in  Bamberg  die  Körper  schlanker,  die 
Bewegungen  unruhiger  sind,  das  Mienenspiel  ist  vielfach  geradezu  fratzen- 
haft und  die  Gewandung  entbehrt  des  großen  Zuges.  Die  Ebene,  auf 
der  die1  Figuren  stehen,  steigt  viel  schräger  an  als  hier  und  daß  überall 
viel  mehr  unverdeckte  Rückwand  zu  sehen  ist,  stört  den  lebensvollen 
Eindruck  der  Komposition.  Ob  Halm  wohl  Recht  haben  wird,  wenn  er 
in  den  Bamberger  Stationen  eine  Arbeit  aus  der  Werkstatt  Kraffts  sieht,  an 
der  der  Meister  selbst  freilich  keinen  Hammerschlag  tat?  In  diesem  Falle 
scheint  sich  allerdings  das  zusammenfassende  Urteil  aufzudrängen,  daß 
die  Bamberger  Stationen  eine  Werkstattwiederholung  des  Nürnberger 
Kreuzwegs  seien.  Allein  diesem  ästhetisch  geschöpften  Endspruch  ent- 
sprechen nun  eben  einmal  die  urkundlichen  Daten,  mit  denen  der 
Historiker  zu  rechnen  hat,  keineswegs.  Das  Ergebnis  der  geschichtlichen 
Nachforschung  geht  dahin,  daß  die  Bamberger  Stationen  den  Nürnberger 
vorausgehen.  Es  ist  meine  Aufgabe  nicht,  in  die  ästhetische  Würdigung 
der  beiden  Arbeiten  einzutreten.  Die  Beobachtung,  die  Ich  bei  Daun 
Und  bei  Halm  machte,  daß  ästhetische  Gründe  zur  Entscheidung  ange- 
rufen werden,  bevor  der  historische  Sachverhalt  festgestellt  ist,  hat  mich 


Christian  Geyer : 


5 10 

in  dieser  Beziehung  sehr  vorsichtig  gemacht.  Ist  es  eine  geschichtlich 
eruierte  Tatsache,  daß  die  Bamberger  Stationen  um  1500,  die  Nürnberger 
um  1506  entstanden  sind,  dann  haben  eben  die  ästhetischen  Betrach- 
tungen damit  zu  rechnen  und  ich  zweifle  nicht,  daß  man  in  der  Kunst- 
geschichte Parallel-Erscheinungen  finden  wird.  Wenn  wir  den  beiden 
aus  der  Werkstatt  Peruginos  hervorgegangenen  Sposaliziobildern  gegenüber- 
gestellt würden  und  wir  sollten  — ohne  alle  Kenntnis  der  geschicht- 
lichen Tatsachen  — einfach  aus  ästhetischen  Gründen  urteilen,  wie  die 
beiden  wohl  zusammenhingen,  würde  vielleicht  mancher  Raffaels  Arbeit 
als  das  Original  und  die  Peruginos  als  die  weniger  geschickte  Werkstatt- 
wiederholung bezeichnen,  und  doch  verhält  es  sich  damit  bekanntlich 
umgekehrt.  Es  kann  wohl  sein,  daß  Krafft  auf  Wunsch  seines  Auftrag- 
gebers ein  vorher  auswärts,  sei  es  durch  seine  Gesellen  sei  es  durch 
sonst  jemand,  ausgeführtes  Werk  in  der  Wiederholung  zur  Höhe  künst- 
lerischen Vollendung  hinanführte.  Jedenfalls  hat  er  die  Nürnberger 
Arbeit  selbst  geleitet  und  ihr  mit  eigener  Hand  die  letzte  Weihe  ge- 
geben. Keinesfalls  dürfen  etwaige  ästhetische  Schwierigkeiten  der  ge- 
schichtlichen Erforschung  der  Dokumente  von  vornherein  den  Weg  ver- 
legen. 

VI. 

Ergebnisse. 

Was  wir  geschichtlich  mit  Sicherheit  von  den  Nürnberger  Stationen 
wissen,  ist  folgendes: 

1.  Die  Sage,  daß  Martin  Ketzel  sie  gestiftet  habe,  ent- 
behrt jeglichen  geschichtlichen  Kerns; 

2.  Die  Stationen  und  die  Grablegung  in  der  sog..  Holz- 
schuherkapelle  gehören  zusammen; 

3.  Ihr  Stifter  ist  Heinrich  Marschalk  von  Rauheneck,  der 
früher  bereits  in  Bamberg  ein  ähnliches  Werk  hatte  er- 
richten lassen; 

4.  Die  Vollendungszeit  ist  annähernd  das  Jahr  1506. 

Wenn  sich  zum  Schluß  die  Frage  aufdrängt,  wie  es  denn  nur  ge- 
schehen konnte,  daß  ein  jetzt  noch  so  klar  erkennbarer  Sachverhalt  von 
der  Sage  verdunkelt  werden  konnte,  so  dürfte  die  Antwort  hierauf  nicht 
schwierig  sein.  Der  Name  des  in  Nürnberg  nur  vorübergehend  auf- 
tauchenden Stifters  konnte  um  so  schneller  vergessen  werden,  als  die 
Grabkapelle  bald  nach  Fertigstellung  der  Stationen  in  einen  anderen  Be- 
sitz überging.  Da  lag  es  nahe,  später  das  große  Werk  mit  einem  be- 
kannteren und  geläufigeren  Namen  in  Beziehung  zu  bringen,  und  so  trat 
Martin  Ketzel  an  die  Stelle  des  vergessenen  Heintz  Marschalk.  Von 


Zur  Geschichte  der  Adam  Krafftschen  Stationen.  5 1 1 

diesem  Heintz  Marschalk  geht  — worüber  wir  uns  nicht  wundern 
können  — die  nämliche  Sage,  die  sich  später  an  Martin  Ketzels  Namen 
geknüpft  hat.  Bei  Haas33)  lesen  wir  unter  Anftihrungsstrichen,  ohne 
daß  uns  indes  die  Quelle  angegeben  würde,  also:  »Im  Munde  des  Volkes 
herrscht  noch  die  Überlieferung,  daß  ein  frommer  Mann,  welcher  in 
Jerusalem  war,  die  Schritte  gemessen  habe,  welche  vom  Hause  des  Pilatus 
bis  zur  Richtstätte  auf  dem  Kalvarienberge  sind,  und  daß  er  zu  Bamberg 
von  der  Elisabethen-Kapelle  bis  nach  St.  Getreu  gleiche  Entfernungen 
entdeckt,  zum  Andenken  daran  Abbildungen  aus  der  Leidensgeschichte 
Jesu,  anfangend  mit  der  ersten  an  gedachter  Kapelle,  längs  der  Hader- 
Dotter-)  Gasse  und  den  Michelsberg  hinan  bis  an  die  St.  Getreu-Kirche 
habe  errichten  lassen.  Mehrere  sind  noch  vorhanden.  Dieser  Stifter  war 
Heinrich  Marschalk.« 


33)  Haas,  Geschichte  der  Pfarrei  St.  Martin  zu  Baihberg,  1845,  S.  448  h 


Ein  wiederentdeckter  Landschaftsmaler. 

Eine  Anregung  von  Ernst  Sigismund-Dresden. 

Bei  meinen  Nachforschungen  über  Leben  und  Werke  des  Dresdner 
Hofmalers  Chilian  Fabritius,  deren  Resultate  unterdessen  im  »Dresdner 
Jahrbuch  1905«  gedruckt  vorliegen,  mußte  ich  mich  auch  mit  der  Frage 
nach  dem  Urheber  einiger  landschaftlicher  Darstellungen  beschäftigen,  die 
dem  genannten  kursächsischen  Meister  fälschlich  zugeschrieben  worden 
sind.  Die  Frage  erscheint  mir  doch  wichtig  genug,  daß  ich  hier  zu  ihrer 
Nachprüfung  auffordern  möchte.  Die  in  Betracht  kommenden  Bilder 
sind,  nach  der  Zeitfolge  ihrer  Erwähnung  angeordnet,  folgende: 

x.  Christian  von  Männlich  nennt  in  der  »Beschreibung  der  Chur- 
pfalzbaierischen  Gemälde-Sammlungen  zu  München  und  zu  Schleißheim« 
Band  2 (Münch.  1805)  S.  6 als  in  München  befindlich: 

Nr.  22.  Fabritius  (Kilian).  »Eine  Landschaft  mit  Ruinen.  Auf 
Leinwand.  Höhe  1 Sch.  3 L.  Breite  1 Sch.  3 Z.« 

Über  den  angeblichen  Urheber  macht  der  Verfasser  im  1.  Bande 
(S.  150)  die  üblichen  falschen  Angaben,  die  ich  schon  in  meinem  oben 
zitierten  Aufsatze  widerlegt  habe.  Das  Gemälde  scheint  mit  der  gleich 
zu  nennenden  Schleißheimer  Nr.  332  identisch  zu  sein,  wie  Sujet  und 
Größenverhältnis  vermuten  lassen. 

2.  In  der  kgl.  bayrischen  Galerie  zu  Schleißheim  befanden  sich 
nach  dem  Verzeichnis  von  1831  (S.  60  und  131): 

im  Zimmer  X:  Nr.  332.  Fabritius,  Kilian.  »Eine  Landschaft 
mit  einem  zerfallenen  Gebäude.  Auf  Leinwand.  H.  1 Fuß;  Br.  1 Fuß 

3 Zoll  3 Linien«; 

im  Zimmer  XVIII:  Nr.  790.  Ders.,  »Eine  waldige  Gebirgsgegend 
mit  Figuren  geziert.  Auf  Leinwand.  Höhe  2 F.  6 Z.  6 L.;  Breite  3 F. 

4 Z.  3 L«. 

Das  Schicksal  dieser  beiden  Gemälde,  die  1775  in  der  »Beschrei- 
bung der  Churfürstlichen  Bildergallerie  in  Schleisheim«  noch  nicht  erwähnt 
werden,  ist  mir  unbekannt.  Die  Nachlässigkeit  der  Zuweisung  ergibt 
sich  schon  aus  der  S.  282  beigefügten  biographischen  Notiz,  in  welcher 
der  Delfter  Carel  Fabritius  (f  1654)  mit  dem  angeblich  »um  1660  zu 
Dresden  arbeitenden«  Chilian  Fabritius  identifiziert  wird. 


Ernst  Sigismund:  Ein  wiederentdeckter  Landschaftsmaler. 


513 


Während  ich  die  bisher  genannten  Landschaften  nicht  mehr  nach- 
zuweisen vermag,  möchte  ich  die  Aufmerksamkeit  auf  zwei  erhaltene  land- 
schaftliche Darstellungen  lenken,  die  noch  heute  auf  den  Namen  des 
Chilian  Fabritius  (f  1633)  getauft  sind. 

3.  Der  vom  Galeriedirektor  Erasmus  Engert  verfaßte  »Catalog  der 
k.  k.  Gemälde-Gallerie  im  Belvedere  zu  Wien«  (1.  Aufl.  Wien  1858; 
zweite  verb.  Aufl.  1864)  verzeichnet  S.  62  unter  den  »Niederländischen 
Schulen« : 

Nr.  26.  Kilian  Fabritius.  »Gebirgslandschaft  mit  einer  Ruine. 
Lw.  1 Elle  8 Zoll  hoch,  2 E.  6 Z.  breit.« 

Diese  Darstellung  befindet  sich  in  der  Wiener  Gemäldegalerie 
(Nr.  1773).  Im  »Schatzkammer-Inventar«  von  1773  (Nr.  102)  wird  sie 
kurz  »Mittere  Landschaft  von  Fabricio«  genannt.  ' Chr.  v.  Mechel  (»Ver- 
zeichniß der  Gemählde  — « Wien  1783»  S.  225  Nr.  100)  dachte  schon 
1783  an  Karl  Fabritius.  Erst  Er.  Engert  hat  die  falsche  Zuweisung  an 
Kilian  Fabritius  aufgebracht,  die  sich  bis  heute  erhalten  hat.1)  Das 
Bild  stellt  ein  von  Höhenzügen  umschlossenes  Gebirgstal  Italiens  dar. 
Rechts  und  fern  im  Hintergrund  erblickt  man  steil  abfallende  Felsen,  zur 
Linken  eine  sanft  ansteigende  bewaldete  Bodenerhebung,  an  der  entlang 
die  nach  dem  Vordergründe  links  abbiegende  Straße  führt.  Ein  Maul- 
tiertreiber kommt  mit  seinen  beiden  bepackten  Tieren  des  Weges  daher. 
Er  zieht  gerade  bei  einem  hohen  steinernen  Bauwerke  vorüber,  das  wahr- 
scheinlich eine  antike  Zisterne  vorstellt.  Der  vorderste  Teil  der  Straße 
ist  durch  eine  Baumgruppe  verdeckt,  die  den  Vordergrund  schmückt: 
eine  breitästige  Eiche  und  drei  Birken.  Rechts  neben  der  Birkengruppe 
rauscht  zwischen  felsigem  Gestein  ein  breiter  Bach  daher.  Von  ihm  aus 
reicht  ein  Wiesengrund,  mit  Baumzügen  durchsetzt,  bis  zu  den  Felsen 
zur  Rechten.  Das  Ganze  ist,  obwohl  etwas  konventionell  komponiert,  ein 
Naturbild  von  packender  Stimmung,  das  in  seinem  Meister  einen  routi- 
nierten Landschafter  erkennen  läßt. 

4.  Endlich  weist  die  Gemäldesanimlung  des  Großherzoglichen 
Museums  zu  Darm  Stadt  (vgl.  Rud.  Hofmanns  Verzeichnis  1872  S.  3) 
ein  hierher  gehöriges  Bild  auf: 

Nr.  7.  Kilian  Fabritius.  »Landschaft  in  der  Abendstimmung. 
Auf  Leinwand,  hoch  12  cm,  breit  164  mm.« 

Den  ganzen  linken  Mittelgrund  nimmt  ein  dichter  Wald  von  hohen 
Bäumen  ein.  Vor  ihm  streckt  sich  ein  Kornfeld  hin,  an  dem  ein  Schnitter 

0 Der  Direktor  der  Wiener  K.  K.  Gemäldegalerie,  Herr  K.  und  K.  Regierungsrat 
Aug.  Schaffer,  selbst  als  trefflicher  Landschaftsmaler  bekannt,  stellte  mir  in  liebens- 
würdigster Weise  eine  sehr  gute  Photographie  des  Bildes  zur  Verfügung  und  unterstützte 
mich  .auch  sonst  durch  wertvolle  Mitteilungen. 


Ernst  Sigismund: 


514 

und  ein  Weib  tätig  sind,  während  ein  zweiter  Schnitter  sich  auf  der 
Wiese  zur  Seite  des  Feldes  gelagert  hat.  Zu  seinen  Füßen  dehnt  sich 
nach  rechts  der  glatte  Spiegel  eines  Sees,  dessen  hinteres  Ufer  von 
Gebüsch  und  einem  in  Ruinen  liegenden  Gebäude  umrahmt  wird.  Dar- 
über hinaus  schaut  man  in  das  weite  Land:  nur  ganz  in  der  Ferne 
hemmen  niedere  Hügel  den  Ausblick.2)  — Eine  zweite  Landschaft  unter 
dem  gleichen  Künstlernamen  besaß  die  Sammlung  zu  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts;  schon  im  Jahre  1843  at>er  fehlte  diese. 

Die  Tatsache,  daß  der  Dresdner  Meister  Chilian  Fabritius  nach 
Ausweis  der  Archivalien  nur  als  Historien-  und  Porträtmaler,  nicht  als 
Landschafter  zu  betrachten  ist,  regte  in  mir  die  Frage  an:  Wer  ist  der 
Urheber  der  oben  verzeichneten  Darstellungen?  Eine  kurze  Notiz  Hage- 
dorns in  den  »Eclaircissemens  historiques«  (Dresd.  1755  p.  197  Anm.)3) 
führte  mich  auf  einen  von  Hagedorn  zuerst  genannten,  jetzt  aber  gänz- 
lich vergessenen  Wiener  Landschaftsmaler  des  17.  Jahrhunderts,  C.Fabricius, 
von  dem  der  kundige  Verfasser  schreibt:  »Les  beaux  Paisages  de 

C.  Fabricius  m^ritent  encore  l’attention  des  Amateurs.«  Durch  freund- 
liche Vermittelung  des  Herrn  Regierungsrates  SchäfFer  hatte  Herr  K.  und 
K.  Majorauditor  A.  Haidecki  in  Wien  die  Güte,  mir  seine  den  genannten 
Maler  betreffenden  Aushebungen  aus  den  Wiener  Kirchenbüchern  mitzu- 
teilen. Nach  diesen  Einträgen  erhalten  wir  folgendes  Lebensbild  des  von 
Hagedorn  angeführten  Künstlers. 

Carl  Ferdinand  Fabritius  ist  ein  Pole.  Er  wurde  1637  zu 
Warschau  geboren.  In  Wien  studierte  er  — wie  wir  mit  größter  Wahr- 
scheinlichkeit annehmen  können  — bei  dem  jetzt  ebenfalls  unbekannten 
»bürgerlichen«,  d.  h.  zünftigen  Maler  Johann  Ludwig  Kegl.  [Letzteren 
erwähnt,  allerdings  unter  zu  später  zeitlicher  Ansetzung,  zuerst  Hagedorn 
(a.  a.  O.  S.  137)  der  auch  (nach  S.  14)  ein  Gemälde  von  ihm  besaß;  der 
ältere  Füßli  hat  sodann  1779  diese  Angaben  in  seinem  »Allgemeinen 
Künstlerlexikon«  S.  339  verwendet.  Nach  Hagedorn  ist  Kegl  oder  Kegel 
ein  flandrischer  Maler,  der  einige  Zeit  in  Wien  lebte,  vielleicht  auch  dort 
starb.  Ein  Zeitgenosse  Joseph  Orients  (f  Wien  1747),  ahmte  er  die  Manier 
des  Holländers  Jan  Griffier  (geb.  1656  in  Amsterdam)  besonders  in  dessen 
Rheinansichten  nach,  indem  er  Landschaften  aus  der  Vogelschau  schuf.] 
Am  29.  Juli  1659  vermählte  sich  Fabritius,  erst  22  Jahre  alt,  in  der 
St.  Stefanskirche  mit  der  Witwe  seines  vermutlichen  Lehrmeisters,  Frau 
Regina  Köglin,  wobei  ihm  die  bürgerlichen  Maler  Johann  Miller  und 

a)  Auch  dieses  Bild  wurde  mir  durch  die  Güte  des  Galeriedirektors,  Herrn  Prof. 
Dr.  Back,  in  Photographie  zugänglich  gemacht. 

3)  Bezug  genommen  ist  auf  diese  Notiz  in  der  »Bibliothek  der  schönen  Wissen- 
schaften und  der  freyen  Künste.  Zweyten  Bandes  2.  Stück«  (Leipz.  1758)  S.  279. 


Ein  wiederentdeckter  Landschaftsmaler. 


515 


Johann  Modisee  als  Zeugen  dienten.  Bemerkenswert  ist,  daß  Fabritius 
nicht  als  zünftiger  Maler  bezeichnet  wird:  er  fühlte  sich  offenbar  auf 
einer  höheren  Kunststufe  stehend.  Dies  wurde  später  auch  offiziell  an- 
erkannt, indem  er  vom  Kaiser  Leopold  I.  die  »Hoffreiheit«  erhielt,  also 
den  Titel  »Hofmaler«  führen  durfte.  In  den  siebziger  Jahren  wohnte  er 
in  der  Leopoldstadt  »in  Matthias  Scholzen  Haus«.  Hier  ereilte  ihn,  der 
noch  in  jugendlichen  Jahren  stand,  ein  tragisches  Ende,  indem  er  sich 
am  21.  Januar  1673  »selbst  unversehens  erschoß«.  Er  hatte  nur  ein  Alter 
von  36  Jahren  erreicht. 

Aus  den  vorstehenden  Mitteilungen  ist  für  uns  besonders  die  von 
Wert,  daß  der  jugendliche  Meister  durch  seinen  Lehrer  Kegl  unter  nieder- 
ländischem Einflüsse  stand.  Wenden  wir  diese  Angaben  auf  die  noch 
erhaltenen  beiden  Gemälde  in  Wien  und  Darmstadt  an! 

Das  Wiener  Bild  gehört  offenbar  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts an.  Es  weist,  wie  ich  mich  mehr  und  mehr  überzeugt  habe,  etwa 
auf  die  Schule  des  Jacques  d’Arthois  (1613  bis  1686)  hin.  Diese  stilisti- 
schen Gründe,  unterstützt  durch  Mechels  Annahme  von  1783,  lassen  uns 
das  Bild  der  Wiener  Galerie  mit  Recht  dem  Carl  Ferdinand  Fabritius 
zuschreiben.  Es  wäre  dann  in  diesem  Werke  auch  ein  Maßstab  für  die 
künstlerische  Fähigkeit  des  Malers  gegeben. 

Anders,  als  bei  dieser  Darstellung,  liegen  die  Verhältnisse  bei  der 
Landschaft  in  Darmstadt.  Sie  ist  offenbar  von  anderer  Hand.  Als  ihren 
Urheber  möchte  ich  lieber  einen  rein  deutschen  Meister  bezeichnen;  oder 
sollte  gar  an  einen  frühen  englischen  Landschaftsmaler  zu  denken  sein? 
Eine  außerordentliche  Zartheit  der  Auffassung  und  Ausführung  zeichnet 
diese  Darstellung  aus.  Der  herniedersinkende  Abend  breitet  eine  fast 
schwermütige  Stimmung  über  die  stille  Landschaft.  Die  Frage  nach  dem 
Urheber  des  Bildes  muß  vorderhand  offen  bleiben.  Doch  möchte  ich 
ausdrücklich  hierdurch  zu  einer  genaueren  Prüfung  dieser  Frage  anregen. 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  unserer  Untersuchung  kurz  zusammen! 
Der  jetzt  ganz  vergessene  Wiener  Maler  Carl  Ferdinand  Fabritius  (1637 
bis  1673)  muß  ein  seinerzeit  hochgeschätzter  Künstler  von  guten  Qualitäten 
gewesen  sein  — war  er  doch  in  jungen  Jahren  schon  kaiserlicher 
Hofmaler.  Jetzt  können  wir  allerdings  nur  noch  ein  Gemälde,  die  Land- 
schaft in  Wien,  mit  ziemlichem  Rechte  ihm  zuweisen.  Vielleicht  entreißt 
aber  eine  tiefergehende  Forschung  auch  andere  Werke  des  Meisters  der 
unverdienten  Vergessenheit. 


Zur  Geschichte  der  Nürnberger  Malerfamilie 
Praun-Löblich. 


Ein  Nachtrag. 

Ich  habe  in  meinen,  im  laufenden  Jahrgang  des  Repertoriums  ver- 
öffentlichten »Archivalischen  Beiträgen  zur  älteren  Nürnberger  Malerei- 
geschichte« alles  urkundliche  Material  zu  sammeln  versucht,  das  uns  über 
die,  dem  15.  Jahrhundert  angehörige  Malerfamilie  Praun-Löblich  über- 
liefert ist.  Ein  Zufall  führte  mir  noch  den  unten  wiedergegebenen  Nach- 
trag in  die  Hände. 

Für  den  Montag  nach  St.  Veitstag  (19.  Juni)  1458  hatte  der  Nürn- 
berger Rat  ein  großes  Armbrustschießen  ausgeschrieben  und  wertvolle 
Preise,  darunter  4 Pferde  und  3 Ochsen,  diese  mit  vergoldeten  bzw.  ver- 
silberten Hörnern,  aüsgesetzt.  In  der  offiziellen  Rechnungsablage  über  die 
Ausgaben  des  Festes  (Register  vnd  ordenung  vff  dem  Schießen,  hie  zu 
Nürnberg  gehalten,  anno  etc.  1458  r)  findet  sich  nun  der  folgende  Eintrag: 

Item  70  tb.  alt  21  dn.  dem  Prawn,  maler,  für  25  panier,  für  14 
schilt  auf  die  deck,* 2)  von  dem  kalterlein  zu  malen,  darin  das  orlein  gewest 
ist,  und  von  dem  kleinen  zeltlein  zu  malen,  darunter  man  die  bolz  trüg, 
und  von  dem  panier  daruf,  auch  von  den  drew  par  horner  an  die  ochsen, 
der  warn  zwei  vergült  und  das  ein  par  mit  silber  überzogen;  facit  17 
novi  13  sh.  6 hl. 

Item  17  sh.  6 hl.  dem  Prawn,  maler,  von  dem  panier  zu  malen 
den  buchsenschützen. 

Welches  der  zahlreichen  Glieder  dieser  Familie  gemeint  ist,  läßt 
sich  leider  nicht  feststellen;  zeitlich  wäre  wohl  am  ehesten  an  den  älteren 
Fritz  Löblich,  vermutlich  Sohn  des  1441  verstorbenen  und  bei  St.  Lorenz 
begrabenen  Praun-Löblich  zu  denken.  Gümbel. 


’)  Kgl.  Kreisarchiv  Nürnberg  Saal  1,  Lade  180,  No.  11. 

2)  D.  h.  die  bis  auf  die  Erde  herabwallenden,  rot  und  weißen  Decken,  mit  welchen 
die  Preistiere  überhangen  waren. 


Neues  für  Jan  Mostaert. 

Der  Meister  des  Oultremontschen  Altares  scheint  mit  Jan  Mostaert 
identisch  zu  sein.  Gustav  Glück  ist  nicht  müde  geworden,  die  von 
ihm1)  und  von  Camille  Benoit  aufgestellte  Hypothese  zu  stützen  und 
au^zubauen,  zuletzt  mit  seinem  Beitrage  zu  der  Franz  Wickhoff  gewid- 
meten Festschrift.2)  Nicht  mit  Unrecht  ist  er  zu  dem  Schlüsse  gekommen, 
die  Vermutung  wäre  reif,  in  den  Bezirk  der  anerkannten  Wahrheiten  ein- 
zutreten. Unter  den  Bildern,  die  Glück  mit  einem  Versuche,  die  Folge 
der  Entstehung  festzustellen,  aufreiht,  scheint  mir  nichts  Fremdes  zu 
sein,  abgesehen  von  den  an  letzter  Stelle  genannten  »zwei  Gegenstücke(n), 
Bildnisse  eines  Ehepaares,  im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg  (Nr.  63 
und  64)«.  Dieses  Paar,  das  unrichtig  unter  dem  Namen  des  Meisters 
vom  Tode  Mariae  katalogisiert  ist,  stammt,  wie  ich  glaube,  nicht  von 
Jan  Mostaert,  sondern  von  Jan  Joest  van  Haarlem,  dessen  Kunst  neben 
der  des  Hofmalers  menschlich,  bürgerlich  und  lebensprühend  erscheint. 
Einige  Bilder,  die  ich  gelegentlich  dem  Meister  zugeschrieben  hatte, 
sind  von  Glück  freundlich  aufgenommen  worden.  Heute  möchte  ich  die 
schon  recht  stattliche  Liste  vergrößern,  auch  manches  früher  allzu  flüchtig 
Notierte,  das  keine  Beachtung  finden  konnte,  deutlicher  machen,  alles 
in  der  Hoffnung,  die  Identifizierung  sicherer  erscheinen  zu  lassen. 

1.  Vor  etwa  15  Jahren  wurde  im  Londoner  Kunsthandel  als  »Schon- 
gauer«  eine  Kreuzigung  Christi3)  angeboten,  die  aus  dem  Besitze 
Lord  Northwicks  kam  und  die  Waagen  (Art  Treasures  III  p.  205)  sehr 
kurz  notiert  hat  (»early  netherlandish  school.  — the  crucifixion;  an  interesting 
picture,  of  great  artistic  value.«)  Diese  Tafel  gehört  zu  den  bedeutendsten 
Werken  Mostaerts,  ist  vielleicht  die  Mitteltafel  eines  Flügelaltars,  noch  etwas 
größer  als  das  mittlere  Stück  des  Oultremontschen  Triptychons,  nämlich 
143  cm  hoch  und  106  cm  breit.  Ursprünglich  oben  geschweift  ähn- 
lich wie  jener  Altar,  ist  sie  zum  Rechteck  ergänzt  worden.  Dargestellt 
ist  der  Gekreuzigte  und  das  dichte  Getümmel  unter  dem  Kreuze. 
Rechts  vom  Stamme,  den  Magdalena  umfaßt,  die  Gruppe  der  Feinde 

*)  Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  1896. 

*)  Beiträge  zur  Kunstgeschichte,  Wien  1903,  Anton  Schroll  & Co. 

3)  Eine  alte  Kopie  dieser  Komposition  im  Besitze  der  Familie  v.  Barfuß  auf 
Batzlow  bei  Wriezen  a.  O.  — Hier  sind  unten  Stifterportraits  hinzugefügt. 


Friedländer: 


518 

Christi,  vorne  zwei  Kinder.  Links  die  Gruppe  der  Trauernden,  die  ohn- 
mächtige Mutter  mit  Johannes  und  einer  reich  gekleideten  Frau.  Links 
am  Rande  eine  stehende  klagende  Frau.  Auf  dieser  Seite  weiter  hinten  der 
Befehlshaber  zu  Pferde  mit  hermelingefüttertem  Hut  und  weißen  Hand- 
schuhen. Zwei  stürmisch  bewegte  Engel  fliegen  um  das  Kreuz.  Oben  aus 
den  Wolken  erscheint  die  Halbfigur  Gottvaters.  Gebirgslandschaft  unter 
schwer  bewölktem  Himmel.  — Die  Anordnung  ist  wesentlich  lockerer,  minder 
streng  als  etwa  im  Oultremontschen  Altäre.  Das  Bild  sieht  jünger  aus- 
In  der  Zeichnung  ist  alles  für  Mostaert  charakteristisch:  die  Köpfe  etwas 
zu  groß,  die  Hände  ein  wenig  zu  klein,  die  mit  strenger  Vermeidung  eckiger 
Zusammenstöße  geschwungenen  Faltenlinien.  Die  Auffassung  ist  kühl 
und  allzusehr  durch  Äußerlichkeiten,  wie  das  Kostüm,  in  Anspruch  ge- 
nommen, die  Landschaft  kleingliedrig.  Hoffentlich  taucht  das  Bild,  das 
vermutlich  im  englischen  oder  amerikanischen  Privatbesitze  versteckt  ist, 
auf  und  erobert  sich  den  Platz,  den  meine  Andeutungen  ihm  kaum  ver- 
schaffen werden. 

In  dem  Werke  über  die  Berliner  Renaissance-Ausstellung  4)  sprach 
ich  von  mehreren  Ecce  homo-Darstellungen  im  Stile  Mostaerts.  Eines 
der  Stücke,  an  die  ich  dabei  dachte,  erschien  auf  der  Brügger  Leihaus- 
stellung 1902  und  wurde  von  allen  Sachverständigen  zu  dem  Oultremont- 
schen Altäre  gestellt. 5)  Vier  ähnliche  Stücke,  deren  ich  mich  nicht  genau 
genug  entsinne,  um  sie  mit  Bestimmtheit  als  Originale  von  der  Hand 
Mostaerts  bezeichnen  zu  können,  notiere  ich: 

2.  Verona  (Nr.  382):  Christus  als  Schmerzensmann,  Halbfigur  auf 
rotem  Grund,  oben  Engel  mit  Marterwerkzeugen. 

3.  Moskau,  Sammlung  des  Herrn  Dimitri  Stschoukine:  Christus  als 
Schmerzensmann  in  Halbfigur. 

4.  London,  1897  bei  dem  Kunsthändler  Martin  Colnaghi:  Christus 
in  Halbfigur  mit  der  Dornenkrone,  in  annähernd  natürlicher  Größe,  mit 
vielen  kleinen  Engeln,  auf  zinnoberrotem  Grunde,  in  blaßviolettem 
Gewände. 

5.  Köln  a.  Rh.,  Versteigerung  Lanfranconi  bei  Lempertz  1895,  als 
»Gerard  David«  Nr.  46  (Lichtdruck  im  Auktionskataloge):  Der  domen- 
gekrönte Christus  in  Halbfigur.  49 — 28,5  cm. 

6.  Weit  wichtiger  als  diese  Tafeln,  die  ich  bisher  nicht  miteinander 
vergleichen  konnte,  da  nur  von  dem  Exemplar  aus  der  Sammlung  Lan- 
franconi eine  Abbildung  existiert,  ist  der  Altar  aus  Helsingor,  den  ich, 


4)  Berlin,  G.  Grote,  1898,  S.  23. 

5)  Nr.  338  der  Brügger  Ausstellung,  aus  H.  Willetts  Besitz.  (Pigmentdruck. 
Bruckmann.) 


Neues  für  Jan  Mostaert. 


5X9 


ohne  das  Original  zu  kennen,  in  diesen  Zusammenhang  zu  bringen  wage. 
Ich  bin  in  bezug  auf  dieses  jetzt  im  Nationalmuseum  zu  Kopenhagen 
bewahrte  Bild  auf  die  Lichtdrucke  in  der  schönen  Publikation6)  von 
Francis  Beckett  angewiesen. 

Falls  die  Prüfung  des  Originals  meine  Vermutung  bestätigt,  daß 
unser  Meister  den  von  Christian  II.  von  Dänemark  gestifteten  Altar  ge- 
schaffen habe,  ist  viel  gewonnen.  Der  dänische  König  hatte  eine  Schwester 
Karls  V.  zur  Frau,  stand  dadurch  in  Verbindung  mit  dem  Hofe  der 
niederländischen  Statthalterin,  deren  Maler  Jan  Mostaert  war.  Nach  den 
überzeugenden  Ausführungen  Becketts  ist  der  Altar  zwischen  1517  und 
1520  entstanden. 

Dargestellt  ist  das  Jüngste  Gericht  und  unten  die  königlichen 
Donatoren.  Der  Zustand  der  Malerei  ist  leider  schlecht,  der  Stil  des- 
halb zum  Teil  unklar.  Einige  Partien  wie  namentlich  die  Landschaft 
sprechen  sehr  bestimmt  für  unseren  Meister,  und  die  Komposition  im 
ganzen  erinnert  entschieden  an  das  Triptychon  in  der  Wesendonckschen 
Sammlung. 

Die  schon  beträchtliche  Zahl  der  Bildnisse,  die  dem  Meister  mit 
Recht  zugeschrieben  worden  sind,  glaube  ich  mit  folgenden  Stücken  ver- 
größern zu  können. 

7.  8.  Ein  Bildnispaar  aus  Wiesbadener  Privatbesitz,  das  im  vorigen 
Jahre  in  die  Sammlung  des  Herrn  R.  v.  Kaufmann  übergegangen  ist. 
Mann  und  Frau,  auf  Bildtafeln  von  absonderlicher  Form  (oben  in  Klee- 
blatYbogen  geschlossen)  mit  den  Originalrahmen.  Je  49x31  cm  mit  den 
Rahmen.  Charakteristisch  in  der  zarten,  sauberen  Malerei,  die  leicht  zu 
verreiben,  hier  wie  öfters  etwas  verrieben  ist.  Dunkelgrüner  Grund.  Der 
Ausdruck  würdevoll,  steif  und  etwas  blöde,  die  Formen  ziemlich  leer,  die 
Augen  flach  liegend.  Im  Kostüm  gewässerte  Seidenstoffe.  Nach  der 
Tracht  wohl  nicht  vor  1520  gemalt. 

9.  Würzburg,  Sammlungen  der  Universität,  Porträt  einer  vor- 
nehmen Dame,  als  »Mabuse«  katalogisiert.  Die  Dame  ist  in  etwa  halber 
Größe  des  Lebens,  in  Halbfigur  dargestellt,  etwas  nach  links  gewandt. 
Die  Arme  liegen  auf  einem  Kissen,  das  den  Abschluß  unten  bietet,  ähn- 
lich wie  in  den  Männerporträts  Mostaerts  zu  Brüssel  und  Liverpool.  Die 
Frau  steht  zu  der  sehr  reichen  Hintergrundslandschaft  in  ähnlichem  Ver- 
hältnis wie  der  Herr  in  Liverpool,  nur  daß  der  Grund  hier  nicht  mit 
Figuren  belebt  ist.  Ein  einsamer  storchartiger  Vogel  ist  sichtbar.  Die 
Tafel  ist  gut  erhalten,  wenn  auch  vernachlässigt  und  trübe  geworden. 


6)  Altertavler  i Danmark  . . . Kjobenhavn,  1895.  Trykt  hos  J.  Jorgensen  & Co. 
(M.  A.  Hannover)  Taf.  68,  69. 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII. 


35 


520 


Friedländer: 


Der  reiche  Schmuck  und  die  Kopftracht  lassen  wohl  ein  Mitglied  der 
Hofgesellschaft  erkennen. 

10.  Am  12.  Dezember  1888  wurde  bei  Lepke  in  Berlin  als  »Hol- 
bein« das 'Porträt  eines  jungen  Mannes  versteigert  (Holz,  52X26  cm, 
oben  rund),  das  ich,  soweit  die  Abbildung  im  Auktionskatalog  ein  Urteil 
gestattet,  unserem  Meister  zuschreiben  möchte.  Brustbild  auf  dunklem 
Grunde.  Mit  der  Linken  hält  der  von  vorn  gesehene  bartlose  Herr 
einen  Ring  empor,  die  mit  weißem  Handschuh  bekleidete  Rechte  hält 
den  zweiten  Handschuh.  Er  trägt  den  großen  flachen  Hut,  der  in  der 
kaiserlichen  Familie  um  1520  beliebt  war  Der  Handschuh  ist  über  dem 
Fingerring  geschlitzt  wie  in  den  Männerporträts  Mostaerts  in  der  Berliner 
Galerie  und  in  Liverpool.  Ist  etwa  Ferdinand  I.  oder  Karl  V.  dargestellt? 

11.  Das  Rijksmuseum  zu  Amsterdam  besitzt  außer  der  kleinen 
Anbetung  der  Könige  (Nr.  1694),  die  schon  vor  dem  Oultremontschen  Altäre 
dem  Meister  zugeschrieben  wurde,  ohne  daß  sich  ein  Widerspruch  er- 
hoben hat,  und  dem  kleinen  1903  auf  der  Versteigerung  Fievez  erworbenen 
Triptychon  mit  der  nach  Geertgen  kopierten  Beweinung  Christi  (Nr.  1675)7) 
noch  ein  Männerporträt  (Nr.  145),  dessen  Aufnahme  unter  die  Werke 
Jan  Mostaerts  ich  befürworte.  Die  unter  den  Namenlosen  der  holländi- 
schen Schule  katalogisierte  Halbfigur,  annähernd  in  natürlicher  Größe, 
auf  dem  höchst  charakteristischen  zinnoberroten  Fond,  ist  wohl  nur  des- 
halb noch  nicht  als  Arbeit  Mostaerts  erkannt  worden,  weil  die  Malerei 
arg  gelitten  hat.  Mit  Hülfe  des  Wappens  im  Grunde  wird  sich  hoffent- 
lich die  dargestellte  Persönlichkeit  ermitteln  lassen.  Der  neue  Katalog 
des  Rijksmuseums  datiert  das  Porträt  1535  nach  einer,  mir  nicht  ganz 
verständlichen  Inschrift  auf  den  Originalrahmen  der  Bildtafel.  Soweit  ich 
sehe,  ist  die  dritte  Stelle  der  Zahl  nicht  mehr  lesbar,  und  schließlich  ist 
es  auch  nicht  sicher,  daß  die  Zahl  sich  auf  die  Entstehung  des  Porträts 
bezieht. 

12.  In  dem  unvergleichlichen  Museum  zu  Antwerpen,  das  als 
Denkmal  für  den  früh  dahingeschiedenen  leidenschaftlichen  Sammler 
Chev.  Mayer  v.  d.  Bergh  errichtet  ist,  findet  man  eine  Tafel  von  behag- 
licher Breite  mit  dem  hl.  Christoph  in  reich  gestalteter  Landschaft,  unter 
dem  Namen  Pateniers.  Dieses  auffallende  Werk,  das  leider  nicht  tadellos 
erhalten  ist,  erscheint  mir  als  eine  charakteristische  Schöpfung  des 
Holländers,  den  wir  Jan  Mostaert  zu  nennen  uns  gewöhnen.  Die  schöne 

7)  Die  Mitteltafel  ist  von  anderer,  schwächerer  Hand  als  die  Flügel.  Die  Flügel 
mit  den  Donatoren  scheinen  in  der  Hauptsache  von  Jan  Mostaert  der  unbedeutenden 
Kopie  nach  Geertgen  hinzugefügt  zu  sein.  Charakteristisch  für  unseren  Meister,  wenn 
auch  etwas  grob,  sind  die  biguren  auf  den  Flügeln  und  die  Landschaft  rechts,  während 
die  Landschaft  links  sich  mehr  an  den  Hintergrund  der  Mitteltafel  anschließt. 


Neues  für  Jan  Mostaert. 


521 


Flußlandschaft  enthält  viele  Einzelheiten,  die  aus  anderen  Werken  des 
Meisters  bekannt  sind,  ist  aber  in  der  Gesamterscheinung  nicht  gerade 
charakteristisch  für  ihn.  Dabei  ist  zu  berücksichtigen,  daß  wir  sonst  nur 
Landschaften  des  Meisters  kennen,  die  er  mit  einiger  Mühe  in  das  Hoch- 
format gezwängt  hat,  zum  ersten  Male  ihn  bei  der  mehr  natürlichen  Auf- 
gabe beobachten,  die  Landschaft  im  Breitformate  zu  entwickeln.  Die 
Figur  des  Heiligen  mit  dem  schlecht  verkürzten  dicken  Kopfe,  der 
plumpen,  etwas  aufgestülpten  Nase,  dem  offenen  Munde  mit  wulstigen 
Lippen,  dem  leeren  Ausdrucke,  dann  der  Faltenwurf,  den  der  Meister  mit 
keinem  anderen  gemein  hat:  alles  ist  so  bezeichnend,  daß  ich  Wider- 
spruch nicht  befürchte.  Der  Baumstamm  und  das  Laub  kehren  sehr 
ähnlich  in  dem  Liverpooler  Porträt  wieder.  Nun  lesen  wir  bei  van  Mander 
in  der  Biographie  Jan  Mostaerts:  tot  Jan  Claesz.  Schilder  j en  Discipel 
van  Cornelis  Cornelisz.  is  onder  ander  oock  eenen  S.  Christoffei  met  een 
Landtschap  | en  is  een  groot  stuck..  — Landschaften  mit  dem  hl.  Christoph 
sind  häufig,  solche  in  größerem  Format  aber  sehr  selten.  Das  Bild  in 
der  Sammlung  Mayer  v.  d.  Bergh  ist  106  cm  hoch,  140  cm  breit!  Sollten 
wir  damit  nicht  etwa  das  von  v.  Mander  erwähnte  Bild  Mostaerts  besitzen? 

Friedländer. 


35 


Zu  Nicolaus  von  Neufchatel. 


In  Zahns  Jahrbüchern  für  Kunstwissenschaft,  V,  p.  143  f.,  habe 
ich  über  den  vlämischen  Maler  Neufchatel  gesprochen.  Ich  wüßte  nicht, 
daß  sich  bisher  andere  Daten  als  die  in  dem  Aufsatze  angegebenen 
herausgestellt  hätten.  Neufchatels  Sterbejahr  ist  nicht  bekannt  geworden, 
und  als  frühestes  Gemäldedatum  mußte  immer  noch  1561  gelten,  in 
welchem  Jahre  er  zufolge  Doppelmayer  nach  Nürnberg  gekommen  ist. 
Jedenfalls  hat  er  1561  in  der  Pegnitzstadt  den  Mathematiker  Neudörfer 
(Münchener  Pinakothek  No.  663)  gemalt,  und  zwar  als  »Hospes«,  was 
tatsächlich  anzudeuten  scheint,  daß  er  in  Nürnberg  noch  nicht  seßhaft 
und  erst  damals  dorthin  gekommen  war.  Daß  er  jedoch  schon  im  Jahre 
1556  sich  im  oberdeutschen  Sprachgebiet  aufgehalten  hat,  geht  aus  dem 
nachstehenden  Bildnisse  hervor,  falls  meine  Ansicht,  daß  es  sich  um  ein 
Werk  des  Neufchatel  handle,  richtig  ist.  Im  Besitze  der  Erben  des  Herrn 
Henny  Ammann  auf  Schloß  Seeburg  bei  Kreuzlingen  (Thurgau)  befindet 
sich  das  Bildnis  einer  Frau.  Sie  ist  lebensgroß;  dreiviertel  nach  links-; 
die  Hände  sind  auf  einer  roten  Brüstung  zusammengelegt;  sie  trägt  eine 
weiße  Haube,  eine  weiße  kleine  Hemdkrause,  schwarzes  Gewand  mit 
grauem  Pelze  besetzt.  Oben  links  eine  Inschrift  in  Rot  auf  dunkel- 
grauem Grund:  VERONICA  • DIE  ERST  WEINETIN  IRS  ALTERS  IM  • XXV  • 
IAR  • M • D • LVI.  Die  beiden  letzten  Zahlen  (VI)  waren  übermalt  und 
kamen  erst  bei  der  Restauration  durch  Herrn  Mathes  heraus.  Das  Bild 
sollte  eben  einmal  als  Holbein  gelten,  und  da  man  früher  als  dessen 
Todesjahr  1554  betrachtete,  waren  die  störenden  letzten  Zahlen  über- 
strichen worden.  Leider  ist  die  Erhaltung  keine  gute.  Vielleicht  läßt 
es  sich  nach  dem  Namen  Weinet  herausbringen,  wo  das  Bild  entstanden 
ist.  Ob  nun  der  Maler  schon  ständig  in  Oberdeutschland  ansäßig  war, 
oder  ob  es.  sich  damals  nur  um  einen  vorübergehenden  Aufenthalt  handelte, 
steht  gleichfalls  noch  dahin.  Wilh.  Schmidt. 


Literaturbericht. 

Skulptur. 

Fritz  Burger.  Geschichte  des  florentini sehe n Grabmals  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  Michelangelo.  XIV  und  421  S.S.  in  gr.  Quart 
mit  2 Heliogravüren,  37  Lichtdrucktafeln  und  239  Abbildungen  im  Text. 
Straßburg,  J.  H.  Ed.  Heitz  (Heitz  & Mündel),  1904. 

Wie  fast  in  sämtlichen  Zweigen  und  Offenbarungen  der  bildenden 
Künste,  so  weist  Florenz  auch  in  der  Sepulkralskulptur  eine  stetige  Ent- 
wicklung aus  eigener  Kraft  auf,  von  den  frühsten,  aus  dem  antiken  Sar- 
kophag und  der  Grabstätte  der  Katakomben  hergeleiteten  Anfängen  bis 
zum  Höchsten,  Vollkommensten,  was  menschlicher  Hand  bisher  zu  schaffen 
vergönnt  war  — den  Mediceergräbern  Michelangelos.  An  keiner  andern 
Kunststätte  Italiens  wurde  das  Problem  so  selbständig,  so  unabhängig 
von  fremden  Einflüssen  oder  gar  Vorbildern  gelöst,  auf  so  mannigfachen 
Stufen  der  Evolution  durchgebildet,  wie  eben  in  Florenz.  In  der  Lom- 
bardei, in  Rom,  in  Neapel  werden  die  Typen  fast  ausnahmslos  anders- 
woher — nicht  zuletzt  aus  Toskana  — übernommen;  im  besten  Falle 
empfangen  sie  durch  Hinzufügung  einzelner  unabhängig  erfundener  Kom- 
positionsmotive selbständige  Bedeutung.  Venedig  allein  kann  sich  einer 
annähernd  gleich  reichen  Entfaltung  der  Gräberskulptur  berühmen  wie 
Florenz;  allein  auch  dort  hat  diese  der  Herübernahme  mancher  Typen 
und  Motive  von  den  Ufern  des  Arno  her  nicht  entraten  können.  Über- 
dies vollzieht  sich  die  Evolution  hier  viel  organischer  und  durchaus 
selbständig  — ist  doch  nur  ausnahmsweise  einmal  der  Ursprung  eines 
in  der  Kunst  von  Florenz  heimisch  gewordenen  Typus  in  Pisa  bezw. 
Siena  naejizuweisen  — , also  doch  auch  hier  immerhin  innerhalb  der 
Grenzen  des  alten  Etruriens. 

Es  war  somit  gewiß  ein  glücklicher  Gedanke  des  Verfassers  vor- 
liegenden Buches,  das  florentinische  Grabmal  zum  Gegenstand  seiner 
ersten  größeren  Arbeit  zu  wählen  und  dessen  Geschichte  und  Ausbildung 
in  eindringenderer  Weise  nachzugehen,  als  es  seither  geschehen  war.  Ist 
doch  — allerdings  neben  einer  Anzahl  wertvoller  Einzelabhandlungen  — 
bisher  noch  immer  dasjenige,  was  Burckhardt  im  Cicerone  , und  in  der 


524 


Literaturbericht. 


Geschichte  der  Renaissancebaukunst  ausgeführt  hat,  das  einzige  gewesen, 
was  darüber  im  Zusammenhänge  geboten  worden  war. 

Unser  Verfasser  hat  seine  Aufgabe  in  keiner  Weise  und  nach  keiner 
Richtung  leicht  genommen.  Mit  ebenso  großem  Fleiße  als  tüchtiger 
Literaturkenntnis  ist  er  der  historischen  Seite  seines  Gegenstandes  nach- 
gegangen;  mit  ernstem  Bemühen  und  eindringendem  Verständnis  hat  er 
getrachtet,  die  Fäden  der  Entwicklung  überall  klarzulegen,  die  künstle- 
rische Bedeutung  der  einzelnen  Stadien,  die  sie  durchläuft,  zu  fixieren. 
Vielleicht  ist  er  in  den  beiden  letzteren  Beziehungen  zuweilen  zu  weit 
gegangen  — uns  zum  mindesten  wollte  bei  einzelnen  Fällen  seiner  scharf- 
sinnigen Erörterungen  das  Goethesche  »Legt  ihr’s  nicht  aus,  so  legt  was 
unter«  in  den  Sinn  kommen.  Doch  dies  nur  nebenbei  und  keineswegs 
in  der  Absicht,  den  Wert  seiner  gewissenhaften  Arbeit  im  mindesten  zu 
schmälern.  — Raummangel  verbietet  uns,  den  Inhalt  des  umfänglichen 
Buches  Burgers  ausführlich  darzulegen.  Wir  müssen  uns  im  folgenden 
auf  die  Hervorhebung  seiner  wichtigsten  Forschungsergebnisse,  wie  auf 
einige  Bemerkungen,  betreffend  abweichende  Ansichten,  richtigzüstellende 
Daten  u.  dgl.,  beschränken. 

Wichtig  ist  die  aus  dem  Candelabrum  eloquentiae  des  in  Bologna 
lehrenden  Florentiners  Buoncampagni  zuerst  festgestellte  Tatsache,  daß 
die  Darstellung  des  liegenden  Toten  auf  Grabmälern  frühestens  in  die  zweite 
Hälfte  des  zwölften,  spätestens  in  das  erste  Jahrzehnt  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts fällt  — also  mindestens  ein  halbes,  wo  nicht  ein  ganzes  Säkulum 
vor  den  ältesten  erhaltenen  Monumenten  dieser  Art  (Arnolfos  di  Cambio 
Brayedenkmal  in  Orvieto  v.  J.  1282,  das  seine  Herkunft  von  vorher- 
gehenden Schöpfungen  unstreitig  Pisaner  Ursprungs  herleitet,  wovon 
sich  indes  nichts  erhalten  hat).  In  Florenz  unterscheidet  der  Verfasser 
für  das  Trecento  zwei  Formen  des  Grabmals,  beide  in  Anlehnung  an  die 
»arche«1)  oder  »avelli«  an  den  Außenmauern  der  Kirchen  (z.  B.  an 
S.  Maria  Novella)  entstanden:  das  Wandnischengrabmal  und  das  Konsolen- 
grabmal.  Ersteres  ist  vertreten  durch  drei  Bardi-  und  das  Baroncelli- 
monument von  1326  in  S.  Croce  — dieses  der  früheste  Vorläufer  des 
Nischengrabmals  der  Frührenaissance;  der  zweite  Typus  kommt  am 
frühesten  vor  im  Grabmal  Gast,  della  Torre  von  1317  im  Chiostro  von 
S.  Croce,  sodann  im  Falconierimonument  von  1341  im  Klosterhof  der 
Annunziata,  ferner  in  den  Denkmälern  der  Bischöfe  Orso  von  1321 
(nicht  1336!)  und  Tedice  Aliotti  (f  1336)  im  Dom  bezw.  S.  Maria  Novella, 
endlich  im  Acciaiuoligrab  der  Certosa  (1336)  und  dem  des  Tomaso 


*)  Die  Deutung,  die  der  Verfasser  S.  45  dem  Worte  als  »Bogen«  gibt,  ist  irrtüm- 
lich: es  bedeutet  selbstverständlich  die  »Todtenlade«,  den  Sarkophag. 


Literaturbericht. 


525 


Corsini  in  der  Familienkapelle  des  zweiten  Chiostro  von  S.  Spirito 
(136 7)  — ' diese  beiden  letzten  die  klassisch- originale  Vollendung  des 
Typus  des  Konsolengrabmals  repräsentierend  (eine  zehn  Jahre  jüngere 
Nachbildung  des  zweiten  von  viel  schwächerer  Hand  ist  das  Monument 
Neri  Corsinis  ebendaselbst).  Von  der  durch  die  Lokaltradition  behaupteten 
Autorschaft  Orcagnas  für  beide  Denkmäler  kann  nicht  die  Rede  sein; 
Burger  möchte  das  Acciaiuoligrabmal  auf  einen  Entwurf  Siinone  Talentis, 
dasjenige  Tom.  Corsinis  auf  einen  sienesischen  Meister  (Cellino  di  Nese?) 
zurückführen. 

Das  Grabdenkmal  des  Quattrocento  wird  vom  Verfasser  treffend  als 
»Apotheose  des  Menschen  als  geistiger  Persönlichkeit«  charakterisiert, 
und  es  werden  die  neuen  Momente,  die  infolge  davon  für  dessen  Aus- 
gestaltung — gegenüber  dem  kirchlich-religiösen  Charakter  des  Trecento- 
grabes  — maßgebend  werden,  präzisiert.  Donatellos  Cosciamonument 
erfährt  eine  seiner  Bedeutung  entsprechende  Analyse,  als  »Wiege  der 
beiden  wichtigsten  Grabmalstypen  des  Quattrocento:  des  monumentalen 
Nischengrabmals  und  des  Arcosoliengrabmals«.  Sein  Einfluß  auf  die 
Komposition  anderer  Monumente  in  Venedig,  Bologna,  Perugia,  Lucca, 
Padua,1 2 3)  ja  selbst  Messina  (Grabmal  Bellorado  im  Dom  v.  J.  1513)  wird 
nachgewiesen.  Was  das  Brancaccimonument  betrifft,  so  stimmen  wir  mit 
dem  Verfasser  darin  überein,  daß  dessen  Entwurf  Donatello  selbst  an- 
gehört, können  ihm  aber,  was  seine  Beteiligung  an  der  Ausführung  an- 
betrifft, nur  zum  Teil  folgen,  da  wir  — außer  dem  Sarkophagrelief  und 
dem  Kopf  des  Toten  — bestenfalls  nur  noch  in  den  zwei  Posaunen- 
bläsern des  Giebels  des  Meisters  Hand  erkennen,  sie  dagegen  in  den 
beiden  Vorhangengeln  ebensowenig,  wie  in  der  linken  Sarkophagträgerin 
zu  sehen  vermögen.  Auch  die  Zuteilung  der  Lunettenmadonna  an  Pagno- 
di  Lapo  findet  in  den  beglaubigten  Arbeiten  des  Künstlers  keine  Stütze 3) 
Viel  näher  der  Wahrheit  kommt  u.  E.  die  zuerst  von  Schmarsow  vor- 
geschlagene Attribution  an  Isaia  da  Pisa,  mit  dessen  fragmentierten  Reliefs 
in  den  vatikanischen  Grotten  das  in  Rede  stehende  Werk  unleugbar  Stil- 
analogien zeigt.  Daß  Donatello  während  der  Arbeit  am  Brancaccimonu- 


1)  Das  Grabmal  Fulgoso  wird  als  Werk  der  »Donatello  wesensverwandten  Schule 
Giovanni  Pisanos«  bezeichnet.  Der  Verfasser  wollte  gewiß  sagen  »Giovannis  da  Pisa« 
— obgleich  er  auch  damit  im  Unrecht  ist.  Noch  mehr  ist  dies  der  Fall,  wenn  er 
wiederholt  (S.  75  u.  98)  Giovanni  Pisano  als  Schöpfer  des  Grabmals  Kaiser  Heinrichs  VII. 
bezeichnet.  Ebensowenig  kann  für  Bologna  von  dem  S.  105  behaupteten  Schülerver- 
hältnis Sperandios  zu  dem  — sehr  wahrscheinlich  sogar  jüngeren  — Niccolb  dell’  Area 

die  Rede  sein. 

3)  Unter  diese  gehört  — wie  wir  unlängst  nachgewiesen  haben  — keinesfalls 
das  Monument  Chellini  in  S,  Miniato  al  Tedesco,  wie  der  Verfasser  S.  130  behauptet. 


52<5 


Literaturbericht. 


ment  in  Pisa  (Juli  1426  — August  1428)  mit  Isaias  Vater  Pippo  di  Gante 
in  Berührung  kam,  ist  durch  Tanfanis  urkundliche  Mitteilungen  erwiesen. 
Liegt  es  da  gar  so  fern,  eine  Beteiligung  seines  jungen  Sohnes  an  dem 
für  Neapel  in  Arbeit  befindlichen  Werke  anzunehmen,  dessen  Besteller 
(es  war  der  Kardinal  selbst,  nicht  — wie  Burger  schreibt  — seine  Erben) 
wohl  im  Vorgefühl  seines  baldigen  Todes  (1427)  auf  möglichst  rasche 
Vollendung  des  Werkes  gedrängt  haben  wird?  Vom  Aragazzigrabmal  gibt 
der  Verfasser  eine  Rekomposition,  die  der  Wirklichkeit  u.  E.  näher  kommt, 
als  irgendeiner  der  seitherigen  ähnlichen  Versuche.  Auf  alle  Fälle  kam 
in  diesem  Werke  zum  erstenmal  die  »Nische«  klar  und  deutlich  zur  Er- 
scheinung, und  es  teilen  sich  von  da  an  die  Wege  der  florentinischen 
Sepulkralplastik  nach  zwei  Richtungen:  die  eine  sucht  ihre  Aufgaben  durch 
die  architektonische  Form,  unter  beschränkter  Teilnahme  der  Skulptur, 
zu  lösen  (die  Arbeiten  Desiderios  und  seiner  Schule,  Minos  spätere  Werke 
und  — als  Endpunkt  der  Entwicklung  — Michelangelos  Mediceergräber); 
während  die  andere,  unter  Zurücktretenlassen  der  Architektur,  der  Plastik 
die  erste  Stimme  gibt  (Grabmal  des  Kardinals  von  Portugal,  4)  des  Nicc. 
Forteguerri  und  die  ursprüngliche  Konzeption  des  Juliusdenkmals).  Neben 
diesen  beiden  Typen  (deren  Repräsentanten  natürlich  sämtlich  eingehend 
behandelt  werden)  macht  sich  in  dem  »Arcosoliengrabmal«  ein  Rück- 
greifen auf  eine  ursprünglich  frühchristliche  Form,  bei  der  der  schlichte 
Sarkophag  das  Hauptmotiv  der  Komposition  abgibt,  geltend.  Vorgebildet 
im  Lanfranigrab  in  S.  Domenico  zu  Bologna  1347,  tritt  sie  in  Florenz 
am  frühsten  im  Grabmal  Onofrio  Strozzis  in  S.  Trinita  auf,  sodann  in 
seiner  definitiven,  oft  nachgeahmten  Gestaltung  durch  B.  Rossellino  im 
Denkmal  Orlando  Medici  (f  1455)  in  der  SS.  Annunziata  und  in  klassi- 
scher Durchbildung  ein  Jahr  darauf  in  demjenigen  des  Gian.  Pandolfini, 
das  wir  zuerst  als  eine  Arbeit  Desiderios  erkannt  haben  — der  Verfasser 
schließt  sich  hierin  unserer  Ansicht  an.  Wie  sodann  auch  hier  die  An- 
tike mit  Macht  eindringt  und  zum  Cinquecento  hinüberleitet,  wird  an  den 
Sassettigräbern  in  S.  Trinita  aufgezeigt.  Außer  dem  schon  von  Warburg 
für  die  Hauptdarstellung  als  vorbildlich  erkannten  Sarkophag  im  Pal. 
Montauto,  werden  — Dank  der  unvergleichlichen  Denkmalkenntnis 
Professor  Roberts  — auch  für  sämtliche  übrigen  plastischen  Details  die 
direkten  antiken  Vorbilder  beigebracht.  Bei  der  Besprechung  von  Ver- 
rocchios  Medicigrabmal  in  der  alten  Sakristei  von  S.  Lorenzo  befremdet 
die  unvollständige  und  durch  Fehler  entstellte  Wiedergabe  der  Inschrift 

4)  Interessant  ist  hierfür  der  von  Burger  gelieferte  Nachweis,  daß  die  nackten 
Putten  an  der  Bahre  ihr  Vorbild  an  einem  römischen  Sarkophog  des  Museo  Torlonia 
finden,  ebenso  die  Füllhörner  tragenden  Genien  des  Sockels  das  ihrige  in  der  Gestalt 
einer  Tellus  an  einem  ähnlichen  antiken  Werke. 


Literaturbericht. 


527 


(selbst  das  Datum  1472  ist  weggeblieben).  Schon  hier  übrigens  und 
noch  früher  am  Martellisarkophag  in  der  Gruftkirche  von  S.  Lorenzo 
kommt  die  Übernahme  des  H.  M.  H.  N.  S.  aus  dem  römischen  Recht  vor, 
nicht,  wie  der  Verfasser  S.  220  angibt,  erst  bei  Minos  1481  vollendetem 
Monument  des  Grafen  Hugo.  Des  ebengenannten  Künstlers  Würdigung 
in  seiner  Bedeutung  als  Denkmalbildner  ist  eine  der  Glanzpartien  unseres 
Buches.  Hier  bietet  sich  dem  Verfasser  zugleich  Gelegenheit  zu  einem 
Exkurs  über  die  Entwicklung  des  römischen  Quattrocentograbmals.  Sehr 
richtig  ist  die  Beobachtung,  wie  unter  dem  Einfluß  des  römischen  Triumph- 
bogens als  Vorbildes  schon  bei  einem  der  frühesten  Specimina  des  letzteren 
— Isaias  da  Pisa  Denkmal  für  Eugen  IV.  (1447)»  das  für  die  folgende 
Entwicklung  von  durchgreifender  Bedeutung  wird  — die  Architektur  an 
erste  Stelle,  der  figürliche  Teil  aber  in  strenge  Gebundenheit  zu  ihr  tritt. 
Damit  wird  die  Hochrenaissance  in  ihrem  Streben  nach  streng  monu- 
mentalem Ausdruck  vorbereitet.  Später  ist  dafür  Minos  Grabmal  Pauls  II. 
von  Wichtigkeit  und'  von  grundlegender  Bedeutung  für  das  Cinquecento 
geworden.  In  seiner  rhythmischen  Teilung  in  einen  stark  betonten 
Mittelbau,  der  von  schmäleren  Seitenteilen  flankiert  wird,  erscheint  es  als 
unmittelbare  Vorstufe  zu  Sansovinos  Schöpfungen  5),  ebenso  wie  Polla- 
iuolos  Innozenzgrabmal  zuerst  einen  vom  Barock  weitergebildeten  Gedanken 
aufweist:  nämlich  die  thronende  Figur  des  Lebenden,  umgeben  von  den 
seine  Tugenden  personifizierenden  allegorischen  Gestalten.  In  den  San- 
sovinograbmälern  findet  die  traditionelle  Form  des  Nischengrabmals  ihre 
dem  Geist  der  Hochrenaissance  angepaßte  klassische  Vollendung:  statt 
des  Rhythmus  der  Linien  im  Grabmal  der  Frührenaissance  tritt  der  Rhyth- 
mus der  Massen  in  Wirkung.  Lehrreich  ist  hier  der  Vergleich  mit  dem 
wenige  Jahre  vorher  entstandenen  Grabmal  Vendramin  in  S.  Giov.  e Paolo 
zu  Venedig,  bei  dem  von  einem  Rhythmus  der  Massen  noch  keine  Rede 
ist,  das  sich  im  Gegenteil  noch  ziemlich  sklavisch  an  das  Vorbild  des 
Triumphbogens  hält.  Nichts  was  die  Hochrenaissance  in  Florenz  gezeitigt 
hat,  kann  sich  auch  nur  entfernt  mit  Sansovinos  Meisterschöpfungen  im 
Chor  von  S.  Maria  del  popolo  zu  Rom  messen;  die  Arbeiten  Rovezzanos 
oder  gar  Andrea  Ferruccis  und  seiner  Schüler  tragen  den  Stempel  trockenster 
Routine  zur  Schau,  in  der  die  Sepulkralskulptur  des  Cinquecento  in  Florenz 
erstickt. 

Das  letzte,  umfangreichste  Kapitel  (S.  313  — 375)  widmet  der  Ver- 
fasser den  Grabmälern  Michelangelos,  in  denen  er,  wie  schon  oben  an- 

5)  Für  die  Lage  der  nicht  tot  sondern  schlafend  Dargestellten  mit  auf  den  Arm 
gestütztem  Haupt  und  angezogenen  Beinen  nahm  Sansovino  römische  Grabreliefs  zum 
Muster,  wie  deren  eines  der  Verfasser  im  Vatican  nachweist.  Das  Motiv  wurde  für 
die  ganze  Folgezeit,  bis  tief  ins  17.  Jahrhundert  von  großer  Bedeutung. 


528 


Literaturbericht. 


gedeutet,  die  End-  und  Zielpunkte  der  zwei  auseinanderlaufenden  Rich- 
tungen der  florentinischen  Denkmalplastik  aufweist.  Die  Geschichte  beider 
Monumente,  die  Entwicklung  ihrer  Komposition  nach  den  erhaltenen 
Entwürfen,  die  Idee  der  letzteren  und  ihr  Verhältnis  wie  auch  das  der 
dekorativen  Architektur  der  Mediceergräber  zum  Quattrocento,  alles 
dies  wird  eingehend  behandelt.  Wir  müssen  den  Leser  indes  hierfür  auf 
das  Buch  selbst  verweisen,  da  wir  den  uns  zugerftessenen  Raum  schon 
weit  überschritten  haben. 

Im  Anhang  sind  sechzehn  wertvolle  Exkurse  zu  einigen  der  hervor- 
ragendsten behandelten  Kunstwerke  nach  urkundlichen  und  literarischen 
Quellen  vereinigt.  Was  die  illustrative  Ausstattung  unseres  Werkes  betrifft, 
so  können  wir  den  Verleger  nicht  unbedingt  loben.  Die  Lichtdrucktafeln 
zwar  entsprechen  im  großen  ganzen  billigen  Anforderungen,  dagegen  steht 
die  Qualität  der  Netzdrucke  im  Texte  durchaus  nicht  im  Einklang  mit 
der  sonstigen  vornehmen  Erscheinung  unseres  Buches. 

C.  v.  Fabriczy. 


Malerei. 

Der  illustrierte  lateinische  Äsop  in  der  Handschrift  des 
Ademar  Codex  Vossianus  Lat.  Oct.  15,  Fol.  195  — 205;  Einlei- 
tung und  Beschreibung  von  Dr.  Georg  Thiele.  In  photographischer 
Reproduktion.  Leiden,  A.  W.  Sijthoff  1905. 

Der  Titel  läßt  nicht  vermuten,  daß  im  Buch  eine  sehr  wichtige 
kunsthistorische  Arbeit  verborgen  ist.  Die  behandelte  Handschrift  der 
Leydener  Bibliothek  ist  ein  Fabelbuch,  dessen  Inhalt  aus  Phädrus  und 
Romulus  (der  lateinischen  Bearbeitung  des  Äsop)  kompiliert  ist.  Der 
Anonymus  Ad,  wie  Thiele  den  Kompilator  der  Leydener  Handschrift 
nennt,  hat  aber  die  beiden  antiken  Fabelsammlungen  in  Fassungen  be- 
nutzt, die  umfangreicher  waren  als  die  uns  überlieferten  Texte  des 
Phädrus  und  Romulus.  Für  viele  Fabeln  soll  der  Anonymus  Ad  ein- 
zige Quelle  sein.  Die  sehr  gründliche  philologische  und  literarische 
Lntersuchung  über  den  Inhalt  des  Leydener  Kodex  interessiert  den 
Kunsthistoriker  nicht,  er  wird  ihr  auch  schwer  folgen  können.  Das 
sichere  Resultat  ist,  daß  der  Anonymus  Ad  nach  einer  älteren  Vorlage 
gearbeitet  hat. 

Das  Fabelbuch  ist  aber  mit  Federzeichnungen  geschmückt  und  diese 
Illustrationen  geben,  um  die  Worte  des  Herausgebers  zu  zitieren,  »zum 
erstenmal  eine  Vorstellung  von  der  antiken  Äsopillustration«. 

Der  Codex  Vossianus  latinus  oct.  15  der  Universitätsbibliothek  zu 
Leyden  ist  ein  Sammelband,  der  im  Anfang  des  n.  Jahrhunderts  im 


Literaturbericht. 


529 


Kloster  St.  Martial  bei  Limoges  entstanden  ist.  Ein  aufgenommenes 
Verzeichnis  der  Bischöfe  von  Tours  schließt  mit  dem  Jahr  1023.  Eine 
etwa  gleichzeitige  Notiz  nennt  als  Verfasser  des  Buches  den  Presbyter 
Ademar  von  Chabanais,  vielleicht  hat  er  die  Sammlung  selbst  ge- 
schrieben. 

Wie  der  Text  in  seinem  wesentlichen  Teil  von  einem  sehr  vollstän- 
digen Romulus  abgeleitet  ist  mit  nur  gelegentlichen  Interpolationen  aus 
einem  Prosa-Phädrus,  so  sind  auch  die  Illustrationen  aus  einer  Romulus- 
handschrift  kopiert  worden.  Auch  da,  wo  der  Text  die  Fassung  des 
Phaedrus  gibt,  folgt  die  Illustration  der  abweichenden  Erzählung  des 
Romulus.  Das  zeigt  Thiele  an  mehreren  Beispielen.  Die  Federzeich- 
nungen sind  von  einer  unbeholfenen  Hand  ausgeführt,  die  auch  für  das  elfte 
Jahrhundert  dilettantisch  erscheint.  Auf  jeder  Seise  sind  die  Illustrationen 
zu  mehreren  Fabeln  zusammengestellt,  ziemlich  willkürlich  über  den 
Raum  verteilt.  Den  Figuren  sind  Buchstaben  eingeschrieben  zur  Be- 
zeichnung der  Farben.  Der  Text,  der  später  geschrieben  ist,  füllt  den 
freien  Platz  neben  und  zwischen  den  Zeichnungen  aus  und  ist  in  kleinen 
Zeilen  oft  zwischen  die  Füße  der  Tiere  verteilt.  Daß  diese  Illustrationen 
nicht  im  11.  Jahrhundert  im  Limousiner  Kloster  erfunden  sind,  ist  ohne 
weiteres  klar.  Vieles  weist  auf  karolingische  Kunstübung  hin.  Die  ge- 
nauere Untersuchung  ergibt  aber,  daß  sehr  viel  ältere  Zeichnungen  zu- 
grunde liegen  müssen,  die  nach  Thieles  im  wesentlichen  gelungener 
Beweisführung  bis  ins  5.  Jahrhundert  zurückzu  führen  sind,  die  jedenfalls 
entstanden  sind,  als  die  heidnisch-römische  Kultur  wenigstens  auf  künst- 
lerischem Gebiet  noch  nicht  überwunden  war.  Die  Formen  der  spät- 
klassischen Kunst  der  angenommenen  Vorlage  werden  keineswegs  in 
exakter  Kopie  wiedergegeben,  sie  sind  vom  Zeichner  (ganz  abgesehen 
von  seiner  künstlerischen  Unzulänglichkeit,  die-  Originale  einigermaßen  in 
seinen  Nachzeichnungen  zu  treffen)  in  der  Auffassung  seiner  Zeit  moderni- 
siert worden.  Daneben  finden  sich  aber  bedeutende  Zutaten  im  charak- 
teristischen Stil  der  karolingischen  Kunst.  Architektur,  Möbel,  Geräte, 
haben  antikes  Gepräge,  oft  aber  mit  karolingischer  Beigabe  oder  in 
karolingischer  Umformung.  Die  Tracht  ist  provinziell-römisch  oder 
karolingisch. 

Daneben  muten  wieder  einzelne  Figuren  in  Haltung  und  Gesten 
ganz  antik  an:  in  der  Fabel  vom  zärtlichen  Esel  auf  Tafel  V der  Mann 
links,  der  Säemann  der  Fabel  von  den  Vögeln  und  dem  Flachs  Tafel  VI, 
der  Dieb  in  der  Fabel  vom  treuen  Hund  und  vom  Dieb  Tafel  VII,  der 
Kahlkopf  in  der  Fabel  vom  Kahlkopf  und  der  Fliege  Tafel  XVIII.  Wer 
sehr  vorsichtig  konstruiert,  wird  aus  dieser  Zusammensetzung  der  Bilder 
vielleicht  auf  ein  Zwischenglied  schließen  und  annehmen,  daß  dem 


530 


Literaturbericht. 


Zeichner  des  n.  Jahrhunderts  das  Fabelbuch  des  5.  Jahrhunderts  in  einer 
karolingischen  Kopie  Vorgelegen  hat 

Über  die  Art  der  antiken  Buchillustration  unterrichten  uns  einige 
frühmittelalterliche  Handschriften  (die  mailändische  Ilias,  die  wiener 
Genesis,  die  beiden  Virgilcodices  in  der  Vaticana)  und  ferner  byzantinische 
Handschriften,  die  wenigstens  in  der  äußeren  Anordnung  den  antiken 
Typus  bis  ins  1 1.  Jahrhundert  festhalten.  In  allen  diesen  Büchern  ist 
die  Illustration  von  der  Schrift  getrennt  bildartig  in  den  Text  eingefügt 
worden.  Eine  solche  Vermengung  von  Bild  und  Text,  wie  sie  der 
Leydener  Äsop  zeigt,  kennt  wohl  erst  das  11.  Jahrhundert.  Dem  Zeichner 
lag  ein  farbig  illuminiertes  Manuskript  vor,  das  beweisen  die  Farbenan- 
weisung durch  Anfangsbuchstaben.  Er  kopierte  die  Illustrationen  in  den 
wichtigsten  Bestandteilen,  so  gut  es  seine  ungelenke  Hand  vermochte, 
und  fügte  dann  in  der  ihm  geläufigen  Weise  den  Text  hinzu.  Also  auch 
in  der  äußeren  Form,  in  der  Verteilung  von  Bild  und  Text  auf  der 
Seite,  dürfte  die  Vorlage  modernisiert  worden  sein.  Ich  vermute,  daß 
der  Verfertiger  der  Handschrift  keinen  Äsop  herstellen  wollte,  sondern 
ein  ikonographisches  Handbuch  für  Fabelillustration.  Aber  ob  das  oder 
jenes,  ob  ein  Kodex  des  5.  Jahrhunderts  im  Original  oder  in 
einer  späteren  Kopie  benutzt  wurde,  jedenfalls  besitzen  wir  in  den  Feder- 
zeichnungen der  Leydener  Handschrift  Äsopillustrationen,  die  trotz  aller 
Änderungen  und  trotz  der  unkünstlerischen  und  abgekürzten  Wiedergabe 
einen  Rückschluß  darauf  gestatten,  wie  antike  Maler  Fabeln  im  Bilde 
zeigten.  Es  ist  das  große  Verdienst  von  Georg  Thiele,  diese  Zeich- 
nungen bekanntgegeben  und  in  so  gründlicher  Weise  erforscht  zu  haben. 

Ich  möchte  bei  dieser  Gelegenheit  auf  einen  noch  ganz  unbe 
kannten  Band  mit  Zeichnungen  hinweisen,  in  denen  meiner  Meinung 
nach  Kopien  frühmittelalterlicher  Malereien  erhalten  sind.  Das  Buch 
trägt  die  Aufschrift:  Historiae  Titi  Livi,  es  wurde  1892  für  das  Berliner 
Kupferstichkabinett  von  Friedrich  Lippmann  im  Londoner  Kunsthandel 
erworben.  Der  Band  umfaßt  35  Blatt  Papier  mit  weißgehöhten  Pinsel- 
zeichnungen in  Tusche  auf  grünlichem  Grund  auf  beiden  Seiten  der 
Blätter.  Die  Zeichnungen  mit  Darstellungen  aus  der  römischen  Ge- 
schichte gehören  der  2.  Häfte  des  16.  Jahrhunderts  an,  sie  sind  wahr- 
scheinlich italienischen  Ursprungs  und  künstlerisch  von  geringem  Wert. 
Die  Architekturen  und  landschaftlichen  Gründe  sfhd  Zugaben  des  sech- 
zehnteh  Jahrhunderts,  die  Figuren  aber  halte  ich,  für  freie  Kopien  nach 
altchristlichen  Miniaturen.  Jaro  Springer . 


Literaturbericht. 


531 


Selected  drawings  from  old  masters  in  the  University  Galleries 
and  in  the  library  at  Christ  Church  Oxford  . . . chosen  and 
described  by  Sidney  Colvin  M.  A.  . . . Oxford:  at  the  Clarendon 
Press  — London:  Henry  Frowde  — Part  I.  II.  III  (1903.  1904.  1905). 

Unter  allen  Publikationen  alter  Zeichnungen  darf  die  Oxforder 
den  ersten  Preis  in  Anspruch  nehmen,  falls  das  Ganze  auf  der  Höhe  der 
drei  ersten  — vorliegenden  — Mappen  bleibt.  Die  Durchschnittsqualität 
der  abgebildeten  Zeichnungen  ist  höher  als  in  irgend  einer  anderen  er- 
schienenen oder  im  Erscheinen  begriffenen  Veröffentlichung  dieser  Art, 
dank  dem  Umstande,  daß  in  den  beiden  Sammlungen  der  britischen 
Universitätsstatt  fast  alle  großen  Zeichner  glänzend  vertreten  sind,  und 
dank  der  Auswahl,  die  von  ebensoviel  Geschmack  wie  universellem 
kunsthistorischem  Interesse  zeugt.  Die  wissenschaftliche  Verarbei- 
tung des  unvergleichlichen  Materials  folgt  überall  den  letzten  Resul- 
taten der  Spezialforschung  und  bietet  schon  damit  keine  kleine  Leistung, 
da  ja  Schöpfungen  vieler  Länder  und  vieler  Perioden  in  dem  kritischen 
Texte  beurteilt  werden,  der  auf  dem  Schutzblatt  jeder  abgebildeten  Zeich- 
nung beigefügt  ist.  Sidney  Colvin  begnügt  sich  aber  nicht,  mit  muster- 
hafter Klarheit  zu  beschreiben  und  über  Streitfragen  zu  berichten,  er 
geht  in  vielen  Fällen  mit  besonnener  selbständiger  Kritik  vor. 

Wie  reich  der  Oxforder  Schatz  an  Zeichnungen  der  drei  italienischen 
Hochrenaissance-Meister  ist,  weiß  man  allgemein.  Über  diesem  Reichtum 
ist  verhältnismäßig  unbeachtet  geblieben,  was  an  Blättern  der  Quattrocento- 
Meister,  an  deutschen  Zeichnungen  und  an  Arbeiten  der  besten  nieder- 
ländischen Maler  des  17.  Jahrhunderts  dort  bewahrt  wird.  Die  neue 
Publikation  schöpft  aus  der  Fülle  des  Berühmten,  fügt  aber  relativ  Un- 
bekanntes hinzu,  jede  Mappe  bietet  Vollkommenes  und  Interessantes,  An- 
erkanntes und  Umstrittenes  in  anregender  Mannigfaltigkeit. 

Die  Serie  der  Raphael-  und  Michelangelo-Zeichnungen  entstammt 
der  Lawrence-Sammlung.  Die  weniger  berühmten  Quellen  der  Douce- 
und  Chambers  Hall -Schenkungen  führten  wichtige  und  merkwürdige 
Blätter  dem  Bestände  der  University  Galleries  hinzu,  dabei  eine  ganze 
Anzahl,  die  in  der  Publikation  Sidney  Colvins  zum  ersten  Male  abge- 
bildet sind.  Die  große  Sammlung  in  der  Bibliothek  von  Christ  Church, 
eine  Stiftung  des  Generals  Guise  von  1765,  ist  minder  gewählt  als  die 
Sammlung  in  den  University  Galleries,  doch  hat  die  kluge  Wahl  des 
Herausgebers  auch  aus  diesen  Mappen  eine  stattliche  Reihe  von  Meister- 
werken herausgesucht. 

Die  von  der  rühmlich  bekannten  Clarendon  Press  hergestellten 
Faksimile-Lichtdrucke  (»chromocollotypes«),  die  mit  erstaunlichem  Auf- 
wande  die  Mehrfarbigkeit  der  Originale  wiedergeben,  stehen  hinter  keiner 


532 


Literaturbericht. 


ähnlichen  Leistung  zurück.  Fast  allzu  luxuriös  und  für  die  wissenschaft- 
liche Benutzung  kaum  nötig  erscheint  die  Verwendung  mehrerer  Druck- 
platten, wo  es  sich  nur  darum  handelt,  die  abweichende  Färbung  etwa 
eines  Sammlerstempels  in  der  Nachbildung  hervortreten  zu  lassen.  Doch 
zeigt  solche  Bemühung  jedenfalls,  wie  ernst  die  Herausgeber  ihre  Auf- 
gabe nahmen,  und  gewinnt  das  Vertrauen  derer,  die  nicht  in  der  Lage 
sind,  die  Abbildungen  mit  den  Originalen  zu  vergleichen. 

Fürs  nächste  sind  vier  Mappen  mit  je  20  Blättern  geplant.  Der 
Preis  von  63  M.  (3  Gs.)  für  die  Lieferung  erscheint  bei  Berücksich- 
tigung der  Kosten,  die  aus  der  komplizierten  Druckleistung  erwachsen, 
nicht  hoch. 

Den  Inhalt  der  drei  vorliegenden  Mappen  hier  vollständig  zu  no- 
tieren, scheint  mir  nicht  nötig  zu  sein,  doch  möchte  ich  auf  einige  für 
die  kunstgeschichtliche  Forschung  besonders  wichtige  Gaben  hinweisen, 
um  dem  Werke  Freunde  zu  gewinnen. 

Unter  den  Zeichnungen  aus  dem  Florentiner  Quattrocento  tritt  der 
erst  seit  zwei  Jahren  bekannte  lebensgroße  Kopf  einer  Frau  zu  jener 
kleinen  Gruppe  von  Zeichnungen,  die  ernstlich  Anspruch  erheben,  für 
Arbeiten  Verrocchios  gehalten  zu  werden.  Das  in  der  Christ  Church 
Library  bewahrte,  in  den  Umrissen  durchstochene,  also  als  Vorzeichnung 
zu  einem  Gemälde  entstandene  oder  doch  verwendete  Blatt,  wird  von 
Colvin  gegen  Berenson,  der  hier  die  Hand  eines  bestimmten  Verrocchio- 
Schülers  erkennen  will,  wie  ich  glaube,  mit  Recht,-  dem  Meister  selbst 
gegeben  oder  gelassen.  Übrigens  drückt  sich  der  Herausgeber,  nament- 
lich mit  Rücksicht  auf  den  Zustand  der  Zeichnung,  sehr  vorsichtig  aus. 
Das  emporflatternde  Kopftuch  läßt  erkennen,  daß  die  Figur  in  Bewegung 
dargestellt  ist.  Also  wohl  keine  Vorzeichnung  zu  einem  Gemälde  der 
Maria  mit  dem  Kinde. 

Aus.  derselben  Sammlung  wie  die  Verrocchio-Zeichnung  stammen 
zwei  malerisch  und  skizzenhaft  mit  der  Feder  entworfene  Kompositionen, 
die  unter  Filippino  Lippis  Namen  publiziert  sind.  Hier  wird  niemand 
widersprechen.  Beide  Blätter  gehörten  einstmals,  wie  aus  der  bekannten 
Umrahmung  geschlossen  wird,  zu  Vasaris  Sammlung;  auf  dem  einen  ist 
die  Madonna  mit  Heiligen  dargestellt,  auf  dem  andern  in  zwei  Gruppen 
Hiob  in  seinen  Leiden. 

Von  den  oberitalienischen  Zeichnungen  aus  der  Übergangszeit  vom 
15.  zum  16.  Jahrhundert  fesselt  durch  seine  edelen  Formen  und  seine  ruhige 
Monumentalität  der  Madonnenkopf  aus  der  Christ  Church  Library,  der 
als  »Bartolommeo  Montagna«  publiziert  ist.  Diese  Zuschreibung 
überzeugt  mich  durchaus,  obwohl  ich  weiß,  daß  auch  andere  Meister- 
namen vor  diesem  Blatte  ausgesprochen  worden  sind.  Die  Ausführung 


Literaturbericht. 


533 


in  schwarzer  Kreide  gibt  dem  Kopfe  eine  Weichheit,  die  Montagna  in 
seinen  Malwerken  nicht  erreichte  und  nicht  erstrebte. 

Vittore  Carpaccio  ist  mit  zwei  Schöpfungen  vertreten,  die  sehr 
verschieden  voneinander  erscheinen,  einem  sorgfältig  durchgeführten  porträt- 
artigen Studienkopf  in  blaugrau  mit  geraden  kurzen  Strichen  und  weißer 
Höhung  — von  dieser  Art  gibt  es  eine  ganze  Reihe  schöner  Blätter  — 
und  einer  sehr  flüchtig  mit  der  Feder  entworfenen  Kompositionsskizze 
der  Kreuzaufrichtung.  Weit  interessanter  als  die  Landschaft  von  Do- 
menico Campagnola  und  eine  beachtenswerte  Kuriosität  ist  die  Studie 
in  Giorgiones  Geschmack,  die  der  Herausgeber,  wie  schon  der  frühere 
Besitzer  Douce  dem  Giulio  • Campagnola  zuschreibt  und  die  ent- 
schieden in  der  Formbehandlung  und  in  der  Technik  an  jene  seltenen, 
wesentlich  punktierten  Kupferstiche  erinnert,  die  als  gesicherte  Arbeiten 
Giulios  bekannt  sind. 

Die  Reihe  der  venezianischen  Blätter  wird  abgeschlossen  durch  den 
mächtigen,  frei  und  breit  mit  Kreide  und  Weißhöhung  gezeichneten  Kopf 
von  Michelangelos  »Giuliano  dei  Medici«,  einer  Übersetzung  in  die  Maler- 
sprache der  Venezianer.  Der  Herausgeber  schreibt  diese  Zeichnung 
Tintoretto  zu  und  erinnert  an  die  Überlieferung,  Tintoretto  habe  bei 
Lampenlicht  viel  nach  Abgüssen  antiker  Bildwerke  und  der  Schöpfungen 
Michelangelos  gezeichnet.  In  München  und  bei  Herrn  v.  Beckerath  in 
Berlin  sind  ähnliche  Zeichnungen  zu  finden. 

Zwei  Rötelskizzen  Correggios  für  die  Dekoration  der  Kathedrale 
von  Parma  stehen  über  jedem  Zweifel  und  sind  belehrende  Spezimina 
jener  spielend  geübten  Kunst,  Menschenleiber  in  den  kühnsten  Ver- 
kürzungen dem  Dekorationszusammenhang  einzufügen. 

Die  in  Rötel  ausgeführte  Studie  einer  Grablegung  Christi  gehört 
zu  jener  Gruppe  im  Stile  Michelangelos  ausgeführter  Zeichnungen,  die 
nach  einer  von  Wickhoff  und  Berenson  vertretenen  Ansicht  von  Se- 
bastiano  del  Piombo  herrühren.  Der  Herausgeber  hält  sich  an  diese 
neuere  Zuschreibung. 

Von  Leonardo  da  Vinci  bringen  die  drei  Mappen  eine  Reihe 
bedeutender,  allerdings  bekannter  Zeichnungen,  den  sorgfältig  durch- 
modellierten Profilkopf  eines  Hofzwergs  von  abnormer  Häßlichkeit,  der 
durch  nachträgliche  Konturierung  gelitten  zu  haben  scheint,  und  sechs 
mehr  oder  minder  flüchtige  Kompositionsskizzen,  zumeist  schwer  zu 
deutende  Allegorien,  kalt  und  spitzfindig  erdacht,  geistreich  und  leiden- 
schaftlich gezeichnet.  Der  Herausgeber  verfügt  über  alle  Mittel,  die 
geheimnisreichen  Dokumente  zu  deuten  und  der  Leonardo-Forschung 
nutzbar  zu  machen. 

Das  prachtvolle,  im  Sinne  Leonardos  durchgebildete,  an  die  Mona 


534 


Literaturbericht. 


Lisa  erinnernde  Brustbild  eines  jungen  Mannes  (das  mit  einem  Frage- 
zeichen unter  Sodomas  Namen  erscheint),  ist  geeignet,  Gegenstand  kriti- 
schen Streites  zu  werden,  sowohl  in  Hinsicht  auf  den  Autor  wie  auf  den 
Dargestellten.  Frizzoni  hat  hier  Raphaels  Porträt  erkennen  wollen. 

Bei  der  Auswahl  der  Michelangelo-Zeichnungen  bewährt  Sidney 
Colvin  eine  sehr  berechtigte  Skepsis  und  publiziert  mehrere  Zeichnungen 
von  ausgeprägt  Michelangeloschem  Charakter  als  Arbeiten  von  Nach- 
ahmern. Unter  den  Blättern,  die  der  strengsten  Kritik  standhalten,  inter- 
essiert am  meisten  der  Entwurf  zu  einer  Gruppe  der  Anna  selbdritt. 
Der  Herausgeber  betont  die  merkwürdige  Beziehung  zu  Leonardos  be- 
rühmtem Gemälde,  dem  im  Louvre.  Interessant  ist  zu  beobachten,  wie 
Michelangelo  den  Kompositionsgedanken  im  Sinne  plastischer  Gestaltung 
gewandelt  hat. 

Einige  der  berühmten  Raphael-Blätter  in  Oxford,  dabei  die  viel 
besprochenen  Kämpfe  nackter  Männer  sind  mit  ausführlichem  kritischen 
Text  publiziert.  Die  Wiederholung  der  einen  dieser  Darstellungen  aus 
der  Sammlung  des  Rev.  W.  H.  Wayne,  die  zur  Vergleichung  reproduziert 
ist,  scheint  mir  eine  Kopie  nach  der  Oxforder  Zeichnung  zu  sein,  wäh- 
rend Colvin  zu  der  entgegengesetzten  Ansicht  neigt. 

Mehr  Überraschungen  als  die  von  der  Kunsthistorie  seit  lange  be- 
achteten Schöpfungen  der  italienischen  Hochrenaissance-Meister  bieten 
die  deutschen  und  niederländischen  Blätter,  die  der  Herausgeber 
aus  den  Oxforder  Mappen  gewählt  hat. 

Von  Dürer  drei  Zeichnungen.  Bei  Lippmann  ist  nur  die  in  den 
University  Galleries  bewahrte  Ansicht  von  Welsberg,  und  sie  ohne  Farben 
reproduziert.  In  der  Literatur  erwähnt,  aber  durchaus  nicht  nach  Gebühr 
geschätzt,  ist  der  Entwurf  der  ehelichen  Grabplatte,  dessen  Wiederholun- 
gen in  Florenz  und  in  Berlin  weit  bekannter  sind.  In  der  Beurteilung 
der  drei  Exemplare  teile  ich  ganz  und  gar  die  Ansicht  Sidney  Colvins, 
nämlich  daß  die  Berliner  Zeichnung  eine  schlechte  und  das  Blatt  in  den 
Uffizien  eine  gute  Kopie  nach  dem  Original  in  Oxford  sind.  Das  Ori- 
ginal ist  ohne  Datum,  während  die  beiden  Repliken  die  Jahreszahl  1517 
tragen.  Ich  denke,  das  Original  ist  früher  als  1517  entstanden.  Das 
Eigentümliche  der  Zeichnung  im  Verhältnis  zu  den  beiden  Grabreliefs 
Vischers  — über  dieses  Verhältnis  wurde  viel  gestritten  — ist  das  Fehlen 
alles  Spezifischen,  was  den  Grafen  von  Henneberg  und  dem  von  Hohen- 
zollern  eigentümlich  ist,  im  besonderen  das  Fehlen  der  Ordensabzeichen. 
Deshalb  ist  es  unwahrscheinlich,  daß  Dürer  im  Aufträge  dieses  oder 
jenes  Herrn  den  Entwurf  geschaffen  habe.  Andererseits  ist  das  Fort- 
lassen der  Ordensabzeichen,  wie  auch  alle  übrigen  Abweichungen  der 
Zeichnung  von  diesem  und  jenem  Bildwerke  schwer  zu  erklären  mit  der 


Lileraturbericht. 


535 


neuerdings  öfters  ausgesprochenen  Annahme,  Dürer  habe  das  Werk 
Vischers  (welches?)  abgezeichnet  oder  nach  einem  Besuche  in  der  Werk- 
statt des  Gießers  rasch  hingeworfen  (L.  Justi,  Repert.  XXIV  S.  49).  In 
der  jüngeren  Literatur  war  man  bestrebt,  die  Schöpfung  Vischers  von  der 
Zeichnung  unabhängig  zu  machen,  und  wurde  in  diesem  Bestreben  ge- 
neigt, Dürers  Autorschaft  in  Frage  zu  stellen.  Solche  Anzweiflung  halte 
ich  im  Angesichte  des  Oxforder  Blattes  für  unberechtigt.  Die  Zeichnung 
ist  von  Dürer,  rein  in  seinem  Stil  und  sieht  aus  wie  ein  freier  Entwurf, 
nicht  wie  die  Zeichnung  nach  einem  Vischerschen  Bildwerke,  wie  der 
Entwurf  zu  dem  Grabmal  eines  ritterlichen  Ehepaares  ganz  allgemein, 
nicht  dieses  oder  jenes  Ehepaares.  Das  Wahrscheinlichste  ist,  daß 
Vischer  sich  bei  Gestaltung  seiner  beiden  Grabplatten  mehr  oder  weniger 
eng  an  den  Entwurf  Dürers  gehalten  hat. 

Ganz  unbekannt  ist  die  reiche,  sehr  flüchtig  gezeichnete  Kompo- 
sition, die  der  Herausgeber  treffend  »the  pleasures  of  the  world«  (»die 
Freuden  der  Welt«)  betitelt,  eine  Arbeit  aus  der  Jugendzeit  Dürers. 
Der  Herausgeber  datiert  vorsichtig:  zwischen  1496  und  1500.  Ich  würde 
eher  »um  1496«  sagen.  Das  aus  dem  Kopfe,  mit  viel  Lust,  Feuer  und 
quellender  Erfindung  gezeichnete  Blatt  wird  hoffentlich  dazu  beitragen, 
die  noch  immer  höchst  dunkelen  Vorstellungen  vieler  Kunstschriftsteller 
über  Dürers  Jugend  zu  klären.  Das  Blatt  hat  eine  Signatur  von  unge- 
wöhnlicher Form  (das  D überschneidet  den  unteren  Querbalken  des  A), 
die  wahrscheinlich  echt  ist. 

Der  kostbare,  wenig  umfangreiche  Besitz  an  Zeichnungen  Grüne- 
walds wird  von  Oxford  her  um  ein  Hauptstück  vergrößert,  die  ebenso 
großzügig  wie  sorgfältig  in  schwarzer  Kreide  ausgeführte  Halbfigur  einer 
betenden  Frau.  Die  außerordentliche  Bedeutung  dieses  Blattes  wird  er- 
höht durch  die  Beischriften,  den  wahrscheinlich  von  dem  Meister  selbst 
geschriebenen  Namen  »(m)athis«  und  die  wenig  spätere  Notiz  »Dies  hatt 
Mathis  von  Ossenburg  des  Churfürst  zu  Mentz  Moler  gemacht  und  wo 
du  Mathis  geschrieben  findest  dass  hat  Er  mit  eigner  handt  gemacht«. 
Stilistisch  ist  die  Zeichnung  nahe  verwandt  dem  irrtümlich  als  »Dürer« 
publizierten  Frauenkopf  im  Louvre  (Lippmann  Nr.  306),  einem  Blatt,  das 
in  Ausdruck,  Beleuchtung  und  Vortrag  wohl  das  Zarteste  ist,  was  wir 
von  Grünewald  besitzen. 

Willkommene,  wenn  auch  weniger  aufregende  Gaben  sind  die  mit 
Recht  unter  den  Namen  Schongauers,  Holbeins  (des  Vaters)  und 
Altdorfers  abgebildeten  Zeichnungen. 

Die  besten  Zeichner  des  17.  Jahrhunderts  sind  mit  einigen  Schöpfun- 
gen sehr  glücklich  vertreten,  Rubens  namentlich  mit  der  herrlichen 
Aktstudie  zu  dem  Schergen  in  der  Antwerpener  Kreuzaufrichtung,  dem 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIil.  3^ 


536 


Literaturbuericht. 


Manne,  der  mit  gewaltiger  Kraft  das  Kreuz  empordrückt.  Die  Zeichnung 
ist  ungemein  charakteristisch  für  jene  Periode,  da  das  Heroische  das  Ziel 
des  Meisters  war.  Ebenso  fest  datiert  und  ebensowohl  beglaubigt  ist 
van  Dycks  Studie  zu  dem  verspotteten  Heiland  in  der  1621  entstan- 
denen Komposition,  die  in  zwei  Ausführungen,  in  Madrid  und  Berlin 
bekannt  ist. 

R ein  b ran  dt  ist  mit  mehreren  Landschaftsstudien  und  mit  der 
Skizze  einer  knieenden  Frau,  repräsentiert,  Paul  P Otter  mit  einer  der 
wenigen  unzweifelhaften  Blätter,  einer  bildmäßigen,  leider  nicht  tadellos 
erhaltenen  Gruppe  von  Kühen. 

Von  Franzosen  sind  Claude  und  Watteau  aufgenommen,  letzterer 
mit  einer  Studie,  in  der  die  Figuren  etwas  hölzern  geraten  sind  und  nur 
die  wundervollen  Hände  des  großen  Meisters  würdig  erscheinen. 

Friedländer. 


Ferdinand  Laban.  Heinrich  Friedrich  Füger  der  Porträtminia- 
turist. Berlin  1905,  G.  Grotesche  Verlagsbuchhandlung.  73  SS. 

Die  französische  und  die  englische  Kunst  des  18.  Jahrhunderts  sind 
Gegenstand  eifriger  Forschung.  .Das  deutsche  Schaffen  in  diesem  Zeit- 
alter wurde  noch  nicht  im  Zusammenhang  und  in  den  Beziehungen 
zur  französischen  und  englischen  Kunst  dargestelTt,  und  selbst  einzelne 
Themata  sind  selten  gründlich  und  von  einigermaßen  erhöhtem  Stand- 
punkte bearbeitet  worden.  Persönlichkeiten  ziehen  das  Interesse  zuerst 
an.  Das  deutsche  18.  Jahrhundert  ist  nicht  gerade  reich  an  Persönlich- 
keiten, die  sich  in  Schöpfungen  der  bildenden  Kunst  ausgedrückt  haben. 

Heinrich  Friedrich  Füger,  der  Wiener  Akademiedirektor,  ist  auf 
einem  Lieblingsfelde  des  galanten  Zeitalters,  in  der  Porträtminiatur, 
fruchtbar  und  erfolgreich  gewesen  und  gilt  mit  Recht  unter  den  Deutschen 
als  der  Einzige,  der  mit  den  englischen  Meistern  der  Gattung  rivalisiert. 
Er  gehört  nicht  eigentlich  zu  den  Verkannten  oder  Vergessenen.  Eine 
große  Zahl  seiner  besten  Arbeiten  ist  in  Wien  leicht  zugänglich.  Die  öster- 
reichische Aristokratie  hat  dem  Porträtisten  ihrer  Ahnherren  und  Ahn- 
frauen ein  dankbares  Gedächtnis  bewahrt.  Die  Literatur  aber  ist  sehr 
schweigsam  und  bietet  auffallend  wenig  Auskunft  oder  Belehrung. 

Ferdinand  Laban  hat  im  Jahrbuch  der  königl.  preußischen  Kunst- 
sammlungen, im  1.  Hefte  des  26.  Bandes,  einen  Aufsatz  über  Füger 
veröffentlicht,  der  im  Text  und  in  .den  Abbildungen  wesentlich  bereichert, 
als  Sonderdruck  vorliegt.  Er  kam  zu  dem  höchst  lohnenden  Thema  durch 
den  zufälligen  Umstand,  daß  in  der  kleinen  und  keineswegs  hervorragenden 
Sammlung  von  Porträtminiaturen  in  der  Berliner  Gemäldegalerie,  ein 


Literaturbericht. 


537 


Hauptwerk  Fügers  bewahrt  wird,  die  reizende  Gruppe  dreier  junger  Damen. 
Bei  der  erfolgreichen  Bemühung  die  dargestellten  Persönlichkeiten  zu 
ermitteln  — es  sind  drei  Gräfinnen  Thun  — fand  er  die  Literatur  leer 
und  stumm,  die  Monumente  mehr  und  mehr  fesselnd  und  beredt.  Das 
Werk  des  Meisters  zusammenzustellen,  erschien  ihm  als  eine  nützliche 
Arbeit.  Die  Wiener  Ausstellung  von  Porträtminiaturen,  die  zu  Anfang 
dieses  Jahres  stattfand,  gab  die  Möglichkeit,  der  Liste  einen  gewissen 
Abschluß  zu  geben. 

Labans  Arbeit  enthält  Biographisches,  eine  Charakteristik  der  Füger- 
schen  Kunst,  ein  Verzeichnis  der  Miniaturen  unter  12 1 Nummern,  Ab- 
bildungen von  78  der  Bildchen  in  Ätzung,  Lichtdruck  und  auf  zwei  höchst 
gelungenen  Tafeln  in  Dreifarbendruck.  Damit  ist  sehr  viel  geboten,  mehr 
und  Besseres  als  wir  über  irgend  einen  Meister  der  Porträtminiatur  besitzen. 
Alle  Angaben  sind  anscheinend  von  höchster  Genauigkeit  und  aus  den 
besten  Quellen  geschöpft  Das  Urteil  ist  besonnen,  aber  keineswegs 
nüchtern,  vielmehr  von  frischer  Entdeckerfreude  belebt.  Die  Charakteristik 
der  Technik  ist  anschaulich.  Die  Kritik  über  Echt  und  Unecht  vorsichtig 
und  streng  zugleich. 

Ein  kunsthistorisches  Problem,  das  dem  Verfasser  schon  bei  anderer 
Gelegenheit  erschienen  war,  erhebt  sich  in  schroffer  Gestalt.  Die  Zwie- 
spältigkeit in  der  deutschen  Kunst  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  die 
Zwiespältigkeit  zwischen  gesunder  Begabung  und  falscher  Tendenz.  Füger 
war  Akademiker  und  Klassizist  und  suchte  mit  anspruchsvollen  Kompo- 
sitionen die  Unsterblichkeit.  Heute  geht  sein  Ruhm  ausschließlich  von  den 
Porträtbildchen  aus,  die  er  selbst  relativ  niedrig  einschätzte,  die  er  auf 
der  Höhe  seines  Lebens  nur  noch  malte,  »um  nicht  eigensinnig  oder  un- 
dankbar gegen  den  Beifall  des  Publikums  zu  scheinen«.  In  diesem  Falle 
war  der  Beifall  des  Publikums  eher  auf  dem  rechten  Weg  als  der  Ehr- 
geiz des  Malers.  Friedländer. 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


Neue  Daten  zur  Biographie  Benozzo  Gozzolis  bringt  Dr.  Alberto 
Chiappelli  auf  Grund  von  Funden  im  Pistojeser  Archiv  bei  (In  quäle 
anno  e in  quäle  luogo  mori  Gozzoli,  e dove  ebbe  la  sua  sepoltura? 
Archivio  stör,  italiano  1904  t.  II).  Die  letzte  urkundliche  Nachricht 
über  den  Meister  stammt  vom  Beginn  des  Jahres  1497,  wo  er  mit 
anderen  Fachgenossen  die  Fresken  Baldovinettis  in  S.  Trinita  zu  Florenz 
abschätzte.  In  dem  Steuereinbekenntnis  seiner  Tochter  vom  darauf- 
folgenden Jahre  wird  er  aber  schon  als  verstorben  aufgeführt.  Diese 
Angabe  nun  wird  durch  den  folgenden  Vermerk,  den  Chiappelli  in 
einem  Sterberegister  des  Klosters  S.  Domenico  in  Pistoja  aus  den 
Jahren  1459  — 1498  auffand,  bestätigt  und  näher  bestimmt:  1497. 

Richordo  chome  adi  4 d’  octobre  1497  mori  maestro  benotio  da  firentie 
el  quäle  dipinse  campo  sancto  di  pisa,  el  quäle  fue  meso  in  diposito 
nelo  inchiostro  (sic)  alato  ala  capela  di  sancto  sebastiano.  Der  Meister 
starb  also  nicht  in  Pisa,  und  wurde  nicht  in  der  ihm  schon  1478  verliehenen 
Grabstätte  im  Camposanto,  die  heut  noch  durch  eine  dies  bezeugende 
Inschrift  bezeichnet  ist,  beigesetzt,  sondern  im  Kreuzgang  von  S.  Domenico 
zu  Pistoja  (wo  indes  sein  Grab  nicht  näher  ausgewiesen  ist).  Pisa  hatte 
er  schon  1495  verlassen,  denn  in  diesem  Jahre  geht  das  Haqs,  das  er 
dort  besaß,  in  andere  Hände  über.  Ob  er  gleich  damals  Pistoja  zum 
Wohnsitz  wählte,  oder  nach  Florenz  zurückkehrte,  wo  er  Haus  und  Ver- 
wandte besaß,  läßt  sich  nicht  feststellen;  wahrscheinlicher  ist  das  letztere. 
Für  seine  Übersiedlung  nach  Pistoja  im  Laufe  des  Jahres  1497  aber,  läßt 
sich  ein  sehr  plausibler  Grund  darin  nachweisen,  daß  gerade  im  Mai  und 
Juni  dieses  Jahres  die  schon  seit  1495  in  Florenz  sporadisch  herrschende 
Pest  mit  großer  Heftigkeit  wütete  (Landucci,  Diario  p.  150  — 154),  und 
die  Einwohner  zur  Flucht  aus  der  Stadt  veranlaßte.  Unsern  Meister  hat 
die  letztere  nichts  genützt,  denn  wahrscheinlich  erlag  er  dieser  Krank- 
heit, die  sich  auch  nach  Pistoja  verbreitet  hatte,  — trägt  doch  ein 
Gemeindebeschluß,  womit  schärfere  Bestimmungen  gegen  ihr  Umsichgreifen 
dekretiert  werden,  gerade  das  Datum  des  Todestages  Gozzolis. 


C.  v . F 


Mitteilungen  Uber  n6ue  Forschungen. 


539 


Boltraffios  h.  Barbara  im  Berliner  Museum.  Durch  eine  jüngst 
veröffentlichte  Notiz  (Rassegna  d’  Arte  I,  103)  war  festgestellt  worden, 
daß  dies  Gemälde  für  den  Altar  der  Heiligen  in  S.  Satiro  zu  Mailand 
gemalt  worden  war,  und  daß  es  sich  noch  1787  in  der  Sakristei  der 
genannten  Kirche  befand.  Zur  Zeit  der  französischen  Herrschaft  kam  es 
dorther  weg,  und  auf  dem  Umweg  durch  die  Sammlung  Solly  an  seinen 
jetzigen  Aufbewahrungsort.  In  jener  Notiz  — einem  späteren  Auszug 
des  ursprünglichen  Vertrags  — war  die  Angabe  des  Jahres  nicht  enthalten; 
aus  stilistischen  Gründen  hatte  der  Verfasser  der  neuesten  Arbeit  über 
Boltraffio  (G.  Carotti  in  Bd.  IV  der  Gallerie  nazionale  italiane)  das  Bild 
der  letzten  Zeit  des  Meisters  zuweisen  zu  können  geglaubt.  Ein  glück- 
licher Fund  Fr.  Malaguzzis  im  Archiv  zu  Mailand  hebt  die  Ungewißheit 
auf  (s.  La  Perseveranza  vom  27.  Sept.  1904).  In  einem  Merkbuch,  das 
für  die  Zeit  von  1502  — 1560  die  Ausgaben  und  sonstige  bemerkenswerte 
Daten  der  Kongregation  die  in  S.  Satiro  ihren  Sitz  hatte,  verzeichnet,  findet 
sich  gleich  als  erster  Eintrag  der  folgende  auf  das  fragliche  Gemälde 
bezügliche: 

1502.  Nota  che  a di  27  de  Octobre  de  1’ anno  suprascripto  fu 
concluso  nel  Capilolo  et  ne  la  Congregatione  del  Priore  et  scolari  de 
Domiha  Sancta  Maria  de  Sancto  Satiro  de  Milano  che  se  dovesse  fare 
dipingere  per  maestro  Johanne  Antonio  Boltraffio  dipintore  de  Milano 
suso  una  tavola  una  figura  de  sancta  Barbara  per  essere  posta  lo  altare 
de  suprascripta  sancta.  Also  nicht  der  letzten,  sondern  vielmehr  der 
mittleren  Periode  des  Meisters  gehört  das  Werk  an.  Malaguzzi  macht 
denn  auch  auf  manche  Details  des  Bildes  aufmerksam,  die  an  die  ältere 
lombardische  Schule,  namentlich  an  Borgognone  gemahnen  (langgezogenes 
Gesicht,  hart  modellierte  Augenhöhlen,  scharf  geschnittener  Mund)  und 
weist  nach  dem  Vergleich  des  Barbarabildes  mit  den  beiden  Boltraffios 
der  Breragalerie  (dem  Portrait  Casios  und  den  beiden  knienden  Donatoren- 
gestalten) auch  den  letzteren  annähernd  die  gleiche  Entstehungszeit  zu. 

C.  v.  F. 


Aus  dem  Gedenkbuch  Francesco  Baldovinettis.  Unter  den  286 
Bänden  des  »Fondo  Baldovinetti«,  die  im  Jahre  1852  von  den  Erben  der 
Familie  für  die  Palatina  erworben  und  seither  den  Beständen  der  Biblioteca 
Nazionale  zu  Florenz  einverleibt  wurden,  befindet  sich  — mit  Nr.  244 
bezeichnet  — ein  Foliant  in  Schweinsleder  mit  Messingbeschlag  gebunden. 
Auf  dem  ersten  der  254  Blätter  des  Bandes,  die  zumeist  alle  beschrieben 
sind,  nennt  dessen  Verfasser  den  Titel  seiner  Aufzeichnungen,  seinen  Namen 
und  die  Zeit  der  Verfassung  jener  ersteren  mit  folgenden  Worten: 


540 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


El  Memoriale  di  Francjescho  dj  Giovannj  dj  Guido  dj  Franc.0  dj 
Messer  Niccholö  d’  Alesso  dj  Borghjno  del  Biecho  dj  messer  Baldovinetto 
di  Borghongnone  Baldovinettj  ....  edo  [ed  ho]  chomincjato  djtto  ljbro 
addj  ventjcinque  dj  febrajo  1513  in  firenze  in  chasa  mia  in  borgho 
santto  appostolo  deta  dannj  trentta  sej  e mesi  . . . . e finillo  quasi  tutto 
in  mesi  quattro  coe  [cio£]  de  chasj  della  chasa  nostra. 

Aus  den  fol.  16  und  21 v aufgezeichneten  autobiographischen  Daten 
erhellt,  daß  der  Verfasser  des  Merkbuches  am  11.  August  1477  geboren 
war  und  am  2.  September  1545  starb. 

Seine  Aufzeichnungen  enthalten  bis  fol.  93  und  von  fol.  201  bis 
243  Familiennotizen,  als  da  sind:  Stammbaum  und  Genealogie,  die  von 
den  Mitgliedern  bekleideten  Ämter  und  geistlichen  Würden,  Verwandt- 
schaften, Cose  antiche  (Reliquien,  Gewänder  u.  dgl.),  Patronatsrechte, 
Wahlen  für  Benefizien,  Grabstätten,  Häuser-  und  Grundbesitz,  Verträge  — 
darunter  von  fol.  64  an  die  eigenen  Besitzveränderungs-  und  sonstige 
Kontrakte  des  Verfassers  selbst  — , wobei  die  Aufzeichnungen  des  letz- 
teren von  späteren  Familiengliedern  bis  aufs  17.  Jahrhundert  ergänzt,  ja 
einzelne  Notizen  noch  im  18.  hinzugefügt  worden  sind. 

Fol.  95  — 192  umfaßt  vom  Verfasser  geschriebene  »Memorie  della 
cittä  di  Firenze  e del  mondo«,  vom  Jahr  70  n.  Chr.  bis  zum  Assedio, 
darunter  auf  fol.  1 7 3 v Notizen  über  Florentiner  Palastbauten  (s.  weiter 
unten). 

Fol.  194  — 201  enthält  eine  »Descrizione  dell’ Assedio  diFirenze  1529«. 

Von  fol.  201  — 243  folgt  die  Fortsetzung  der  Contratti  (s.  oben). 

Fol.  244  — 246  enthält  Kopien  zweier  Familienurkunden  aus  den 
Jahren  1162  und  1204. 

Fol.  248  — 254  umfaßt  eine  »Chronaca  delle  proprietä  di  Roma«, 
sowohl  antiker  als  christlicher  Epoche,  ein  Kardinalstitel-  und  Stationen- 
verzeichnis usw. 

Wir  reproduzieren  im  folgenden  die  beiden  in  den  Stoff  kreis  des 
Repertoriums  fallendenden  Stellen  aus  unserm  Merkbuche. 

Die  eine,  fol.  37,  gibt  folgende  Notizen  über  den  Maler  Alesso 
Baldovinetti: 

Alesso  dj  Baldovinetto  d’  Alesso  di  Borghino  del  Biecho  dj  m [esser] 
Baldovinetto  dj  Borghongnone  Baldovinettj  morj  nel  1496  [rect.  1499; 
s.  Vasari  II,  597  n.  3 und  weiter  unten]  vel  circha  deta  dannj  80  ellascjo 
sua  rede  lospedate  dj  sanpagholo  dj  firenze  e djredo  [disereditö]  lachasa 
sua  de  Baldovinettj  e sotterrato  sotto  le  volte  dj  sanlorenzo  elluj  fe  djtto 
avello  benche  daque  dichasa  era  tenuto  bastardo  menttre  djmancho  [non 
di  meno]  assuo  tenpo  fu  debuonj  djpintorj  djtalja.  Hierzu  auf  dem 
Rande  von  der  Hand  des  Giovanni  di  Poggio  Baldovinetti  — eines  (wie 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


541 


andere,  datierte  Glossen  des  Memoriale  von  seiner  Hand  dartun)  um  die 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  lebenden  Mitgliedes  der  Familie1)  — die 
Bemerkung:  La  sepoltura  £ posta  a mano  destra  a canto  quella  di 

Cosimo  Pat.  Pat.  e di  Piero  Medici  suo  figlio,  et  ä chiusino  di  pietra 
con  1’  arma  del  Leone  a bassorilievo  nel  marmo  bianco  assai  ben  fatto, 
e visi  legge  la  seg.te  Inscrizione:  S[epulcrum]  Alexis  Baldovinettj  de  Baldo- 
vinettis  et  Suor.  Descend.  1480. 

Ristjaro  [sic]  tutto  il  musaicho  delcjelo  djsangiovannj  lanno  1490 
incircha  [rect.  1482;  Vasari  II,  pag.  596  n.  2]  chenebbe  granpremjo  dachon- 
solj  demerchantj  eprovisione  menttre  che  visse. 

Dipinse  a m[esser]  bongannj  Ganfiglazzj  la  chappella  maggore  dj 
santa  trinita  che  ghrande  edjfizio  ove  e ritrasse  molti  nobilj  cjpttadjnj 
e ritrassevj  guido  Baldovinettj  esse  medesimo  a drieto  atuttj  chonun 
cjoppone  [giubbone,  Joppe]  rose  secche  indosso  e uno  fazoletto  in  mano 
ebbene  gran  premio.  Als  Fortsetzung  von  späterer;  Hand:  A di  15  decem- 
bre  1760  lunedi  queste  pitture  furono  levate  affatto,  per  esser  quasi  con- 
sumate  dal  tempo.  Am  rechten  Rand  von  der  Hand  Giov.  di  Poggio 
Baldovinettis:  II  ritratto  d’  Alesso  pittore  lo  feci  copiare  sopra  una  tela 
grande  al  naturale  e si  tiene  in  casa  nostra. 

Djpinse  laltare  maggore  djsanta  maria  nuova  e chappella  [vgl. 
Vasari  II,  592  und  685]  dove  e sirittrasse  chonuno  saeppolo  o vero  uno 
dardo  in  mano  e una  gornnea  [giornea]  indosso. 

Djpinse  echjostrj  djsanbenedetto  fuorj  dj  firenze.  Als  Fortsetzung 
folgt  von  der  obigen  späten  Hand:  era  monast.  de  Frati  Camald,  che 
fu  rovinato  1’  anno  1529  [vgl.  Vasari  II,  19.  Band  II,  669  schreibt  er 
diese  Fresken  dem  Andrea  Castagno  zu]. 

Djpinse  quella  nunziata  e nella  chortte  deservj  cioe  nativita  che 
drieto  a laltare  della  nunziata,  e una  vergine  Maria  insulchantto  decharn- 
nesechj  [der  letzte  Satz  von  der  gleichen  Hand  später  hinzugefügt.  Das 
hier  erwähnte  Werk  ist  das  Fresko  Domenico  Venezianos,  das  sich  seit 
1886  in  der  National  Gallery  zu  London  befindet;  vgl.  Repertorium 
X,  306]. 

Djpinse  una  tavoletta  daltare  alentrare  in  santa  maria  novella 
amanritta  de  tre  magj  chedjchono  essi  [si  &]  bella  chosa,  e dipinse  una 
vergine  Maria  in  sulchantto  decharnnesechj  [der  letzte  Satz  von  derselben 
Hand  später  hinzugefügt].  Hierzu  am  Rand  von  der  Hand  Giov.  di 
Poggio  Baldovinettis  die  Bemerkung:  La  ditta  tavoletta  fu  coloritta  da 
Sandro  Botticello  che  visse  nel  tempo  dj  Alesso  e fu  miglior  maestro  dj  luj. 


J)  Er  wird  erwähnt  in  [Zan.  Bicchierai]  Alcuni  documenti  artistici  non  mai  stanr 
pati,  Firenze  1855  Pa£-  19 • 


542 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


Djpinse  latavola  delaltare  disanpiero  in  chalcharzä  nostro  [eine  der 
Patronatskirchen  der  Familie  »presso  a fonte  buona«].  Hieran  schließt 
sich  von  der  Hand  Giov.  di  Poggio  Baldovinettis  die  Notiz:  Questa  non 
vü  piü  ne  si  sä  come  fosse  levata. 

Djpinse  nechiostrj  dj  santa  chrocje  un  christo  chebatuto  alla 
cholonna  [Vasari  II,  672  gibt  ihn  dem  Castagno].  Hierzu  die  Randglosse 
von  Giov.  di  Poggio  Baldovinetti:  Di  Alesso  pittore  parlano  il  Vasari 
il  Borghino  et  il  Baldinucci  nelle  Vite  de  Pittori  stamp. 

Djpinse  mestato  djtto  cjertte  nativita  choncjpttadjnj  quando  si 
scjende  leschale  delpalagio  della  singnoria  chesono  dua  tavole  sopra  alla 
chateratta  e ia  piu  su  [zu  cateratta  vgl.  Vasari  II,  437.  Von  diesen 
Bildern  spricht  kein  andrer  Biograph  Baldovinettis]. 

Djpinse  indjmoltj  altrj  luoghj  ealsuo  tenpo  nonnera  ilmeglo  maestro 
e dj  musaicho  non  cjera  altrj  chelluj  chello  sapessi  fare  e fecje  assaj 
djscjepolj  e quello  delghrillandaia  peruno  [?]  cheffu  siperfetto  maestro 
fusuo  discjepolo. 

Es  folgen  von  der  Hand  Giov.  di  Poggio  Baldovinettis  die  zwei 
Zusätze: 

Alesso  fece  il  musaico  che  si  vede  nel  mezzo  della  facciata  di 
fuori  con  diverse  figure  della  chiesa  di  S.  Miniato  al  monte,  si  come  li 
mosaicj  de  coretti  sopra  Ie  porte  laterali  nella  cliiesa  di  S.  Giovanni  del 
Battesimo  [vgl.  Vasari  II,  5.96  und  599  n.  2]. 

1744.  Queste  pitture  oggi  apena  piü  si  distinguono,  per  essere 
logore  dal  tempo,  et  altre  sono  state  tolte  via. 

Am  Fuß  der  Seite  endlich  finden  sich  von  einer  spätem  Hand 
[aber  nicht  derjenigen  Giov.  di  Poggio  Baldovinettis]  noch  die  folgenden 
Aufzeichnungen : 

Pittore.  Nella  filza  di  portate  perla  Xma  [decima]  dell’  anno  1430, 
Quart.  S.  Maria  Novella,  Gonf.  Vipera,  che  esiste  nel  monte  comune  e 
nell’  Ufizio  delle  Xme,  1’ una  108,  l’altra  226  si  legge: 

M.  Baldovinetto,  dj  Alesso  Baldovinettj  [der  Vater  des  Malers]  dj 
anni  30  — Agnola  sua  Donna  anni  28  — Bernardo  suo  fratello  — 
Alesso  suo  figliolo  di  anni  5 Questo  ä il  pittore  — [hiernach  wäre  er 
1425  geboren,  nicht  1427,  wie  das  Libro  d’  Etä  im  Florentiner  Archiv 
angibt;  vgl.  Vasari  II,  591  n.  1 f]  — Giovacchino  altro  suo  figliolo 
anni  3. 

Nel  Libro  de  Mortj  all’  Ufitio  dellj  Spezialj  si  trova:  A dj 
29  Agosto  1499.  Alesso  Baldovinettj  fu  sepolto  in  San  Lorenzo.  Questo 
ü il  Pittore,  il  quäle  morj  dj  annj  74,  come  sj  vede. 

In  dem  Verzeichnis  der  Familiengräber  auf  fol.  43v  wird  dasjenige 
des  Malers  wie  folgt  beschrieben: 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


543 


Abianne  [abbiamone]  un  altra  [sepoltura]  sotto  le  volte  dj  san- 
lorenzo,  fella  alesso  dj  baldovinetto  baldovinettj  edevvj  sotterrato  lascjo 
sua  rede  lospedale  dj  sanpagholo  dj  firenze.  Hierzu  am  r.  Rand  von 
der  Hand  Giov.  di  Poggio  Baldovinettis:  L’  iscrizione  dice  S.  Baldovi- 
netti  Alesij  de  Baldovinettjs  et  Suor.  1480.  — A di  16  settembre  1739 
la  bocca  di  questa  sepoltura  fu  murata  in  occasione  dj  rifarsj  il  pavi- 
mento  di  nuovo,  e ciö  fu  fatto  di  nostra  volontä,  ma  vj  restö  1’  arme, 
elinsefgna].  Und  am  linken  Rande  von  der  gleichen  Hand:  Ci  si  vede 
un  Leone  di  bassorilievo  di  marmo  biancho  bellissimo.  — 

Die  Nachrichten  auf  fol.  i73v  und  i74r  über  die  florentinischen 
Palastbauten  lauten  folgendermaßen: 

Fabriche  in  Firenze  e di  fuori. 

Nel  1490  incjrcha  sichomjncio  molto  adefichare  muraglje  djnuovo 
in  firenze  effuorj  djquella  pelchontrado  edjnora  innora  appiu  seghuitato 
e seguita  djmodo  chella  ciptta  elchontado  sirifa  quasi  djnuovo  e beliis- 
sima  ma  ellarovina  decjpttadjnj  perlla  spesa  dj  dittj  edjfitj  e djpoj  a 
ffornirlle  djmaseritje  edj  fuorj  e in  firenze  etanto  rieche  e sontuose  etante 
quanto  oggj  sifa  ilpalazzo  degli  strozzj  cjrcha  allanno  1487  lochomincjo 
a fondare  filippo  strozzj.  elpalagjo  deghondi  da  sanfirenze  in  djtti  tenpi 
lofe  fondare  guljano  ghondj.  djpoj  insino  aquesto  anno  1520  invja  mag- 
gio  semurato  molte  chase  bellissime  ellevato  via  piu  dj  sesanta  botteghe 
dartte  djlana  ghrosse  vi  si  faejeva  e franc.0  girolamj  edificho  lungharnno 
edifichovj  govannj  berttj  edificho  niccholo  e simone  del  nero’  nella  via 
debardj  [einer  der  heutigen  Palazzi  Torrigiani]  e chonsolj  dellartte  della 
lana  e demerchatantj  e piero  dantonjo  dj  taddeo  allato  luno  alaltro 
nella  via  deservj.  edificho  gloperaj  deservj  insulla  piazza  de  servj  dirin- 
petto  anoejentj  logge  e chase  edificho  salvj  borgherinj  inborgho  Santo 
apostolo  [jetzt  Pal.  del  Turco-Rosselli].  rinierj  dej  insulla  piazza  djsanto 
spirito  [der  heutige  Pal.  Guadagni].  andrea  sartinj  da  sanmichele  [hierzu 
am  Rande  in  der  Handschrift  Giov.  di  Poggio  Baldovinettis:  Sertini  da 
S.  Michel  Berteldi.  Es  ist  der  Palazzo  Corsi,  Ecke  der  Via  Pescioni 
und  de’  Corsi]  e Carllo  e bartolommeo  ginorj  dirieto  achasa  imedicj  [Pal. 
Ginori  in  Via  de’  Ginori].  i figluolj  dibartolommeo  bartolinj  asanto  trinita 
einportta  rossa  einterma  [Pal.  Bartolini-Salimbeni  auf  Piazza  S.  Trinita], 
e djrieto  asanto  antonjo  delveschovo  femirabile  muraglja  chonchondottj 
daqqua  e assaj  poderj  cherieschono  nella  via  dellaschala  bernardo  ruej- 
ellaj  [heute  Pal.  Strozzi-Ridolfi-Orloff  in  Via  della  Scala,  einst  samt  den 
daranschließenden  Orti  Oricellaj  Sitz  der  platonischen  Akademie],  edificho 
efife  bello  orto  djrinpetto  allospedate  della  schalla  franc.0  eljonardo  man- 
neglj.  edjfichorno  in  borgho  saniachopo  lucha  djmaso  deglalbizzi.  edjficho 
inelborgho  deglalbizj.  lorenzo  demedjcj  lanno  1490  fe  ffare  dua  vie 

Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XXVIII.  37 


544 


Mitteilungen  über  neue  Forschungen. 


dalfiancho  denocjentj  [vgl.  hierüber  unsern  Prospekt  zum  Leben  und 
Werke  Giul.s  da  Majano  im  Beiheft  zum  Jahrbuch  der  K.  preuß.  Kunst- 
sammlungen Bd.  XXIV  (1903)  S.  169].  ellartte  de  merchatantj  edel- 
chanbjo  vimurornno  piu  chase  [vgl.  hierzu  Arte  e Storia  1900  pag.  110]. 
Rubertto  nasi  edificho  insullarnno  alla  piazza  demozzj  [heute  Pal.  Torri- 
giani;  s.  Vasari  V,  352].  messere  lorenzo  Serristorj  edificho  djrieto 
asanghjrighoro  [S.  Gregorio,  an  der  Stelle  des  heutigen  Pal.  Bardini]  in 
sulla  ghora  delle  muljna  [am  ehemaligen  Mühlgraben,  dessen  Stelle  heute 
der  Lungarno  Serristori  einnimmt].  Rafifaello  djtommaso  antjnorj  edificho 
nella  via  debardj  djrinpetto  asanta  maria  soprarnno,  era  dj  bernardo 
delnero  djtto  sito.  e nella  via  djsangovannj  vangelista  [das  Stück  der 
heutigen  Via  del  Campuccio  zwischen  Via  de’  Serragli  und  Via  romana] 
sife  moltissime  chase.  enelchanpaccjo  [Via  del  Campuccio]  edjrinpetto 
acjestello  [S.  Frediano].  e messer  bat°  [Bartolomeo]  schala  alla  portta 
appintj  [Pal.  Gherardesca  in  Via  di  Pinti]  e ghuardj  presso  alla  portta 
alla  chrocje  [an  der  Stelle  des  heutigen  Carcere  S.  Teresa  im  Borgo  la 
Croce].  e moltj  altrj  vedifichornno  echosj  indjttj  tenpi  sirinovo  quasi 
lacjptta  djfirenze  djnfinite  ebelljssimj  palagj  vie  ecchase.  eseghuitasi  piu 
cche  maj  edjfuorj  vie  piu  chinon  o [che  io  non  ho]  notjtja.  emassimo 
papa  ljone  fornjscje  lamuragla  delpoggjo  acchajano  [bezieht  sich  auf  die 
Ausschmückung  des  Innern  mit  den  Fresken  del  Sartos  und  Pontormos] 
e Jachopo  Salviatj  ilpalazzo  ■ suo  dj  mon  tughj  [die  bekannte  zinnen- 
bekrönte Villa  gegenüber  der  Badia  von  Fiesoie]. 


C.  v.  Fabriczy. 


Bei  der  Redaktion  eingegangene  Werke. 


Bauer,  Adolf  und  Josef  Strzygowski.  Eine  Alexandrinische  Weltchronik, 
Text  und  Miniaturen  eines  griechischen  Papyrus  der  Sammlung 
W.  Goleniscew.  Mit  8 Doppeltafeln  und  36  Abb.  im  Texte.  Wien. 
C.  Gerolds  Sohn. 

Buschmann  Ir.,  P.  Jacques  Jordaens  et  so  11  oeuvre.  Traduite  du 
Neerlandais  par  Georges  Eekhoud.  Avec  45  reproductions  hors 
Texte.  Bruxelles.  G.  van  Oest  & Co. 

Dehio,  Georg.  Handbuch  der  deutschen  Kunsttjenkmäler.  Im 
Aufträge  des  Tages  für  Denkmalspflege.  Band  I:  Mitteldeutschland. 
Berlin.  Ernst  Wasmuth  A.-G.  M.  4. 

Dehio,  Dr.  Georg,  und  Dr.  Gust.  v.  Bezold.  Die  Denkmäler  der 
deutschen  Bildhauerkunst.  4 Serien  zu  20  Lieferungen  von  je 
20  Tafeln.  1.  Lieferung.  Berlin.  Ernst  Wasmuth  A.-G.  Preis 
jeder  Serie  M.  100. 

Denkmalspflege.  Sechster  Tag.  Bamberg  22.  und  23. September  1905. 
Stenographischer  Bericht.  Berlin.  Wilhelm  Ernst  & Sohn. 

Deutinger,  Martin  von.  Beiträge  zur  Geschichte,  Topographie  und  Statistik 
des  Erzbistums  München  und  Freising.  9.  Band.  München.  J.  Landauer- 
sche  Buchhandlung,  M.  4. 

Fierens-Gevaert.  La  Renaissance  septentrionale  et  les  premiers 
maitres  des  Flandres.  Bruxelles.  G.  van  Oest  & Co. 

Ganz,  Paul.  Handzeichnungen  Schweizerischer  Meister  des 
XV. — XVIII.  Jahrhunderts.  Im  Aufträge  der  Kunstkommission 
unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  Burckhardt  und  Prof.  H.  A.  Schmid. 
Basel.  Helbing  & Lichtenhahn. 

Groote,  Maximilian  von.  Die  Entstehung  des  ionischen  Kapitells 
und  seine  Bedeutung  für  die  griechische  Baukunst.  Straßburg. 
J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  3. 

Haack,  Friedrich.  Hans  Schtichlin  der  Schöpfer  des  Tiefenbronner 
Hochaltars.  Mit  4 Lichtdrucktafeln.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz. 
M.  2.50. 

Hofmann,  Albert.  Denkmäler.  I.  Geschichte  des  Denkmals.  Mit 
24  Tafeln,  II.  Denkmäler  mit  architektonischem  oder  vor- 


546 


Bei  der  Redaktion  eingegangene  Werke. 


wiegend  architektonischem  Grundgedanken.  Mit  524  Abb. 
im  Text  und  4 Tafeln.  Stuttgart:  Alfred  Kröner.  M.  15  u.  M.  24. 
Holl,  M.  Ein  Biologe  aus  der  Wende  des  XV.  Jahrhunderts.  Leonardo 
da  Vinci.  Inaugurationsrede.  Graz.  Leuschner  & Lubensky.  M.  0.60. 
Jaffe,  Dr.  Ernst.  Josef  Anton  Koch,  sein  Leben  und  sein  Schaffen. 

Innsbruck.  Wagnersche  Universitätsbuchhandlung. 

Krücke,  Adolf.  Der  Nimbus  und  verwandte  Attribute  in  der 
frühchristlichen  Kunst.  Mit  7 Lichtdrucktafeln.  Straßburg. 
J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  8. 

Mader,  D.  Felix.  Loy  Hering.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen 
Plastik  des  XVI.  Jahrhunderts.  Mit  70  Abbildungen.  München. 
Gesellsch.  f.  christl.  Kunst,  G.  m.  b.  H.  M.  6.50. 

Mayer,  Eduard  von.  Die  Seele  Tizians.  (Führer  zur  Kunst.  2.)  Eß- 
lingen. Mit  3 Photogravüren,  3 Vollbildern  und  einer  Abb.  im 
Text.  Paul  Neff.  M.  1. 

Meier-Graefe,  Julius.  Corot  und  Courbet.  Ein  Beitrag  zur  Entwick- 
lungsgeschichte der  modernen  Malerei.  Leipzig.  Insel -Verlag. 
M.  8. 

Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Heidelberger  Schlosses.  Heraus- 
gegeben vom  Heidelberger  Schloßverein.  Band  V.  Heft  1/2. 
Mit  1 Heliogravüre,  22  Bildern  im  Text  und  4 Tafeln.  Heidelberg. 
Karl  Groos.  M.  6. 

Munoz,  Antonio.  I codici  greci  miniati  delle  rhinori  Biblioteche 
di  Roma.  Firenze.  Alfani  & Venturi.  L.  4. 

Peltzer,  Alfred.  Albrecht  Dürer  und  Friedrich  II.  von  der  Pfalz. 

Mit  3 Lichtdrucktafeln.  Straßburg.  J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  3. 
Petersen,  Eugen.  Ein  Werk  des  Panainos. - Mit  9 Abbildungen. 
Leipzig.  E.  A.  Seemann.  M.  2.50. 

Ffleiderer,  R.  Das  Münster  zu  Ulm  und  seine  Kunstdenkmale. 
48  Tafeln  in  Lichtdruck  und  Lithographie  sowie  26  äutotyp.  Abb. 
nach  photogr.  Originalaufnahmen  mit  Text.  Stuttgart.  Konrad 
Wittwer.  M.  40. 

Pinder,  Wilhelm.  Zur  Rhythmik  romanischer  Innenräume  in  der 
Normandie.  Weitere  Untersuchungen.  Mit  4 Doppeltafeln.  Straß: 
bürg.  J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  4. 

Roth,  Victor.  Geschichte  der  deutschen  Baukunst  in  Sieben- 
bürgen. Mit  93  Abbildungen  auf  24  Lichtdrucktafeln.  Straßburg. 
J.  H.  Ed.  Heitz.  M.  10. 

Semper,  Hans.  Das  Fortleben  der  Antike  in  aer  Kunst  des 
Abendlandes.  (Führer  zur  Kunst.  3.)  Mit  3 Vollbildern  und 
30  Abb.  im  Text.  Eßlingen,  Paul  Neff.  M.  1. 


Bei  der  Redaktion  eingegangenc  Werke. 


547 


Siebert,  Karl.  Georg  Cornicelius,  sein  Leben  und  seine  Werke. 

Mit  30  Tafeln.  Straßburg.  J.  H.Jid.  Heitz.  M.  7. 

Strunz,  Käthe.  Schematischer  Leitfaden  der  Kunstgeschichte 
bis  zum  Beginn  des  XIX.  Jahrhunderts.  Leipzig  und  Wien. 
Franz  Deuticke.  M.  2. 

Volbehr,  Theodor.  Gibt  es  Kunstgesetze?  (Führer  zur  Kunst.  1.) 
Mit  3 Photogravüren  und  5 Abb.  im  Text.  Eßlingen.  Paul  Neff. 
M.  1. 

Watzinger,  Carl.  Griechische  Holzsarkophage  aus  der  Zeit 
Alexanders  des  Großen.  Mit  3 Chromotafeln,  1 farbigen  Plan 
und  135  Abb.  im  Text.  Leipzig.  J.  C.  Hinrich.  M.  35, 

Wölfflin,  Heinrich.  Die  Kunst  Albrecht  Dürers.  München.  Verlags- 
anstalt F.  Bruckmann  A.-G.  M.  12. 


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