Skip to main content

Full text of "Griechische Geschichte"

See other formats


r 


GRIECHISCHE 

GESCHICHTE 


VON 


KARL  JULIUS  BELOCH 


ZWEITE   NEUGESTALTETE  AUFLAGE 


ZWEITER  BAND 

BIS  AUF  DIE  SOPHISTISCHE  BEWEGUNG 
UND    DEN   PELOPONNESISCHEN     KRIEG 

ERSTE  ABTEILUNG 


STRASSBURG 

VERLAG  VON  KARL  J.  TRÜBNER 
1914 

äonuany 


v'-*^^^ 


Alle  Rechte,  besonders  das  Recht  der  Übersetzung, 
sind  vorbehalten 


Bis 


Druck  von  Qsorg  Reimer,  Berlin  W 10. 


INHALT. 

I.  Abschnitt. 

Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

Griechen  und  Barbaren  1.  —  Das  Perserreich  1.  —  Dareios  5.  —  Der 
Skythenzug  5.  —  Folgen  des  Zuges  6.  —  Belagerung  von  Naxos.  7.  —  Der 
ionische  Aufstand  7.  —  lonien  8.  —  Haltung  des  Mutterlandes  9.  — •  Einnahme 
von  Sardes  10.  —  Unterwerfung  von  Kypros  11.  —  Kämpfe  in  Kleinasien  12.  — 
Histiaeos  12.  —  Kleomenes'  Sieg  über  Argos  13.  —  Schlacht  bei  Lade.  Fall 
Milets  15.  —  Ende  des  Aufstandes  16.  —  Neuordnung  loniens  17.  —  Mardonios 
in  Thrakien  18.  —  Einnahme  von  Eretria  19.  —  Schlacht  bei  Marathon  20.  — 
Miltiades'  Ende  24.  —  Krieg  zwischen  Athen  und  Aegina  25.  —  Verfassungs- 
reform in  Athen  26.  —  Ostrakismos  29.  —  Sturz  der  Alkmeoniden  30.  —  Aristeides 
und  Themistokles  31.  —  Die  Flottengründung  32.  —  Verfassungskämpfe  in 
Sparta  34.  —  Damaratos'  Absetzung  35.  —  Kleomenes'  Ende  36. 

II.  Abschnitt. 

Der  Sieg  über  Perser  und  Phoeniker. 

Xerxes  beschließt  die  Eroberung  Griechenlands  37.  —  Die  Rüstungen  38.  — 
Übergang  über  den  Hellespont  39.  —  Stimmung  in  Hellas  39.  —  Räumung 
Thessaliens  40.  —  Die  Stellung  bei  den  Thermopylen  42.  — ■  Seeschlacht  am 
Artemision  43.  —  Schlacht  an  den  Thermopylen  44.  —  Folgen  der  Katastrophe 
46.  —  Einnahme  Athens  47.  —  Die  griechische  Flotte  bei  Salamis  47.  —  Schlacht 
bei  Salamis  49.  —  Die  Lage  nach  der  Schlacht  51.  —  Xerxes'  Rückzug  51.  — 
Die  Griechen  nach  dem  Siege  51.  —  Mardonios'  Offensive  53.  —  Schlacht  bei 
Plataeae  55.  —  Unterwerfung  Thebens  59.  —  Mykale  59.  —  Erhebung  loniens. 
Belagerung  von  Sestos  60.  —  Einnahme  von  Byzantion  61.  —  Abfall  der  loner 
zu  Athen  61.  —  Leotychidas  in  Thessalien  62.  —  Der  delische  Seebund  63.  — 
Feldzüge  in  Thrakien  65.  —  Skyros,  Karystos  und  Naxos  66.  —  Pausanias 
aus  Byzantion  vertrieben  66.  —  Schlacht  am  Eurymedon  67.  —  Anaxilaos  von 
Rhegion  69.  —  Hippokrates  von  Gela  70.  —  Gelon  70.  —  Theron  von  Akragas 
71.  —  Schlacht  bei  Himera  71.  —  Hieron  73.  —  Rückblick  74. 


IV  Inhalt. 

III.  Abschnitt. 

Der  wirtschaftliche   Aufschwung    nach  den  Perserkriegen. 

Folgen  der  Siege  74.  —  Verschiebung  des  wirtschaftlichen  Zentrums  76.  — 
Der  Peiraeeus  77.  —  Industrie  und  Sklavenwirtschaft  79.  —  Metoeken  80.  — 
Großstädte  81.  —  Bevölkerung  84.  —  Getreideimport  87.  — ■  Landwirtschaft 
87.  —  Aufhören  der  Naturalwirtschaft  89.  —  Persisclie  Reichswährung  89.  — 
Elektronprägung  in  Kleinasien  91.  —  Silberprägung  in  Griechenland  92.  — 
Zirkulationsmittel  93.  —  Steigen  der  Preise  94.  —  Zinsfuß  95.  —  Ertrag  der 
Industrie  96.  —  Seehandel  97.  —  Grundrente  98.  —  Arbeitslöhne  98.  —  Geistige 
Arbeit  100.  —  Volksvermögen  101.  —  Verteilung  des  Besitzes  103.  —  Höhe 
der  Privatvermögen  104.  —  Lebenshaltung:  Wohnung  105.  —  Kleidung  106.  — 
Ernährung  107.  —  Staatshaushalt  109.  —  Soldzahlungen  109.  —  Kultus  110.  — 
Tempelbauten  111.  —  Zivilverwaltung  112.  —  Kriegswesen  112.  —  Marine 
112.  —  Kriegskosten  115.  —  Staatsdomänen  116.  — •  Direkte  Steuern  117.  — 
Indirekte  Steuern  118.  —  Höhe  der  Staatseinnahmen  120.  —  Ehrenämter  121. 

IV.  Abschnitt. 

Die  Demokratie. 

Die  demokratische  Strömung  122.  —  Die  Ziele  der  Bewegung  124.  — 
Die  Demokratie  im  athenischen  Reiche  125.  —  Die  sicilischen  Militärmonarchien 
126.  —  Revolution  in  Sicilien  127.  —  Kämpfe  gegen  die  Söldner  128.  —  Sturz 
der  Tyrannis  in  Rhegion  130.  —  Neuordnung  Siciliens  131.  —  Die  demokratische 
Bewegung  in  Italien  133.  —  Reaktion  gegen  den  Hellenismus.  Duketios  134.  — 
Sturz  der  Monarchie  in  Kyrene  137.  —  Die  Demokratie  in  Boeotien  138.  — 
Umwälzung  im  Peloponnes  139.  —  Pausanias'  Sturz  140.  —  Unterwerfung 
Arkadiens  143.  —  Der  Heilotenaufstand  143.  —  Themistokles'  Sturz  144.  — 
Kimon  147.  —  Der  thasische  Aufstand.  Drabeskos  148.  —  Ephialtes  149.  — 
Kimons  Prozeß  150.  —  Der  aegyptische  Aufstand  151.  —  Kimon  vor  Ithome 
152.  —  Bruch  mit  Sparta  153.  —  Sturz  des  Areopags  153.  —  Perikles  154.  — 
Richtersold  155.  —  Sozialpolitische  Maßregeln  156.  —  Metoeken  und  Sklaven 
158.  —  Die  Frauen  158.  —  Hetaeren  159.  —  Thargelia.  Aspasia  160.  —  Die 
demokratische  Freiheit  161.  —  Der  Adel  162.  —  Demokratisierung  der  Gesell- 
schaft 163. 

V.  Abschnitt. 

Der  Konflikt  der  Großmächte. 

Athen  und  Sparta  164.  —  Fall  von  Ithome.  Schlacht  bei  Oenoe.  An- 
schluß von  Megara  an  Athen  165.  —  Athenische  Expedition  nach  Aegypten 
166.  —  Krieg  gegen  Korinth  und  Aegina  166.  —  Schlacht  bei  Tanagra  167.  — 
Oenophyta  169.  —  Fall  von  Aegina  170.  —  Die  langen  Mauern  171.  —  Offen- 


Inhalt.  V 

sive  gegen  den  Peloponnes  171.  —  Die  Katastrophe  in  Aegypten  172.  —  Ver- 
legung desBundesschatzes  nach  Athen  173.  —  Mißerfolge  der  Athener  in  Griechen- 
land 174.  —  Waffenstillstand  mit  Sparta  175.  —  Expedition  nach  Kypros  176.  — 
Frieden  mit  Persien  177.  —  Der  heilige  Krieg  178.  —  Erhebung  Boeotiens 
179.  —  Der  boeotische  Bund  180.  —  Abfall  von  Euboea  und  Megara.  Die  Spar- 
taner in  Attika  182.  —  Der  dreißigjährige  Frieden  183,  —  Unterwerfung  Eu- 
boeas  183. 

VI.  Ab  schni  1 1. 

Die  Friedensjahre, 

Pleistoanax  abgesetzt  184.  —  Thukydides  und  Perikles  185.  —  Perikles 
Alleinherrscher  186.  —  Zentralisierung  des  Seebundes  186.  —  Kleruchien  187.  — 
Eingriffe  in  die  Autonomie  der  Bundesstaaten  188.  —  Gerichtszwang  188.  — 
Finanzverwaltung  190.  —  Abschließung  der  athenischen  Bürgerschaft  191.  — 
Stimmung  in  den  Bundesstaaten  192.  —  Der  samische  Aufstand  193.  —  Gebiets- 
verluste Athens  in  Kleinasien  197.  —  Gründung  von  Amphipolis  198.  —  Die 
Athener  im  Pontos  199.  —  Thurioi  199.  —  Athen  und  Sicilien  202. 

VIT.   Abschnitt. 

Kunst  und  Dichtung. 

Tempelbau  203.  —  Der  Parthenon  205.  —  Andere  Bauten  in  Athen  206.  — 
Das  Apollonion  bei  Phigaleia  und  der  Neubau  des  Heraeon  bei  Argos  208.  — 
Theater  208.  —  Profanbauten  209.  —  Malerei.  Polygnotos  210.  —  Plastik. 
Kritios  und  Nesiotes.  Kaiamis.  Pythagoras  212.  —  Pheidias  213.  —  Myron 
214.  —  Die  Parthenon-Skulpturen  214.  —  Polykleitos  215.  —  Alkamenes. 
Paeonios.  Die  ReHefs  am  Niketempel  216.  —  Fortschritte  der  Malerei.  Apollo- 
doros,  Zeuxis,  Parrhasios  217.  —  Vasenmalerei.  218.  —  Kunstepos.  Elegie  219.  — 
Aeschylos  220.  —  Sophokles  220.  —  Euripides  221.  —  Die  neue  Musik  223.  — 
Die  Tragödie  in  Syrakus  224.  —  Epicharmos  224.  —  Die  attische  Komödie  225.  — 
Dramatische  Aufführungen  227.  —  Die  Turnfeste  228.  —  Ethische  Wirkung 
der  Kunst  228.  —  Humanität  229. 

VHI,  Abschnitt. 

Die  Aufklärung. 

Mathematik  und  Astronomie  231.  —  Kalender  232.  —  Erdkunde  233.  — 
Medizin  234.  —  Anatomie  und  Physiologie  236.  —  Pathologie  und  Therapie 
237.  —  Empedokles  238.  —  Anaxagoras  240.  —  Reaktion  gegen  die  Elementen- 
lehre 241.  —  Parmenides'  Schüler  242.  —  Erkenntnistheoretische  Zweifel  242.  — 
Protagoras  242.  —  Geschichtschreibung  243.  —  Herodot  244.  —  Wissen  und 
Glaube  245.  —  Naturrecht  246.  —  Redekunst  246.  —  Gorgias  247.  —  Die  Gerichts- 


VI  Inhalt. 

rede  247.  —  Die  Sophisten  248.  —  Honorare  249.  —  Höherer  Unterricht  249.  — 
Die  neue  Weltanschauung  250.  —  Thukydides  251.  —  Hellanikos  252.  —  Andere 
Historiker  253.  —  Sprachwissenschaft  254.  —  Homerkritik  254.  —  Technische 
Literatur.  Buchhandel  255.  —  Demokrit  256.  —  Atomistik  257.  —  Athen 
geistiger  Mittelpunkt  259.  —  Sparta  259. 

IX.  Abschnitt. 

Die  Reaktion. 

Die  Aufklärung  und  die  öffentliche  Meinung  260.  —  Die  philosophische 
Skepsis  262.  —  Euripides'  Palinodie  263.  —  Die  religiöse  Bewegung  264.  — 
Mysterien  von  Eleusis  264.  —  Mysterien  von  Samothrake  265.  —  Aufnahme 
fremder  Kulte  266.  —  Die  fremden  Kulte  und  die  öffentliche  Meinung  269.  — 
Einfluß  auf  die  griechischen  Kulte  269.  —  Pythagoreismus  270.  —  Diagoras 
271.  —  Sokrates  271.  —  Schülerkreis  274.  —  Volksbildung  275.  —  Gefahren 
der  Massenherrschaft  276.  —  Mißbräuche  in  der  Rechtspflege  277.  —  Syko- 
phanten  279.  —  Reform  der  Besitzverhältnisse  280.  —  Umschwung  in  der 
öffentlichen  Meinung  281.  —  Lakonomanie  282.  —  Idealverfassungen  283.  — 
Die  Verfassung  der  guten  alten  Zeit  283.  —  Verfassungsgeschichtliche  Forschung 
285.  —  Hetaerien  285.  —  Ergebnis  286. 

X.  Abschnitt. 

Der  peloponnesische   Krieg  bis  zum    Frieden  des  Nikias. 

Krieg  zwischen  Korinth  und  Kerkyra  286.  —  Kerkyra  im  Bund  mit  Athen 
288.  —  Schlacht  bei  Sybota  288.  —  Abfall  von  Poteidaea  290.  —  Das  megarische 
Psephisma  292.  —  Intervention  Spartas  293.  —  Opposition  gegen  Perikles 
294.  —  Kleon  294.  —  Prozesse  gegen  Anaxagoras,  Aspasia,  Pheidias  295.  — 
Perikles  treibt  zum  Kriege  296.  —  Hilfsquellen  Athens  298.  —  Perikles'  Kriegs- 
plan 300.  —  Stimmung  in  Hellas  301.  —  Machtmittel  der  Peloponnesier  302.  — 
Überfall  von  Plataeae  303.  —  Einfall  der  Peloponnesier  in  Attika  304.  —  Atheni- 
sche Flottendemonstration  gegen  den  Peloponnes  306.  —  Vertreibung  der 
Aegineten  306.  —  Rachezug  nach  der  Megaris  307.  —  Ergebnisse  des  ersten 
Kriegsjahres  307.  —  Zweiter  Einfall  der  Peloponnesier  307.  —  Die  Pest  in  Athen 
307.  —  Athenische  Expedition  gegen  den  Peloponnes  und  nach  Poteidaea  308.  — ■ 
Perikles'  Sturz  309.  —  Einnahme  von  Poteidaea.  Schlacht  bei  Spartolos  310.  — 
Zug  der  Sitalkes  310.  —  Perikles'  Wiederwahl.  Sein  Tod  312.  —  Der  Partei- 
kampf nach  Perikles'  Tode  312.  —  Dämon  312.  —  Lysikles  313.  —  Nikias  314.  — 
Belagerung  von  Plataeae  316.  —  Kämpfe  in  Akarnanien  und  bei  Naupaktos 
316.  —  Ergebnis  der  drei  ersten  Kriegsjahre  316.  —  Abfall  von  Lesbos  317.  — 
Einnahme  von  Mytilene  318.  —  Übergabe  von  Plataeae  320.  —  Bürgerkrieg 
auf  Kerkyra  320.  —  Krieg  in  Sicilien  322.  —  Politischer  Umschwung  in  Sparta 
322.  —  Friedensverhandlungen  323.  —  Sieg  der  Kriegspartei  in  Athen  323.  — 


Inhalt.  VII 

Demosthenes  in  Aetolien  und  Akarnanien  324.  —  Sphakteria  325.  —  Kleon 
als  leitender  Staatsmann  329.  —  Erhöhung  der  Tribute  330.  —  Einnahme  von 
Nisaea  331.  —  Brasidas  auf  dem  Isthmos  332.  —  Brasidas'  thrakischer  Feldzug 
333.  —  Schlacht  beim  Dehon  334.  —  Ende  des  sicilischen  Krieges  335.  —  Stra- 
tegenprozesse in  Athen  336.  —  Waffenstillstand  des  Laches  337.  —  Fortgang 
des  Krieges  in  Thrakien  337.  —  Schlacht  bei  Amphipolis  339.  —  Folgen  der 
Schlacht  340.  —  Lage  im  Peloponnes  340.  —  Der  Frieden  341.  —  Ergebnis 
des  Krieges  342. 

XL  Abschnitt. 

Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

Ausführung  der  Friedensbedingungen  344.  —  Bündnis  zwischen  Sparta 
und  Athen  345.  —  Der  argeiische  Sonderbund  345.  —  Sieg  der  Kriegspartei 
in  Sparta  346.  —  Hyperbolos.  Alkibiades  346.  ■ —  Bündnis  zwischen  Athen 
und  Argos  347.  —  Krieg  zwischen  Sparta  und  Argos  348.  —  Schlacht  bei  Man- 
tineia  349.  —  Oligarchie  in  Argos  350.  —  Ostrakismos  des  Hyperbolos  350.  — 
Krieg  in  der  Chalkidike  351.  —  Demokratische  Erhebung  in  Argos  352.  — 
Eroberung  von  Melos  352.  —  Leontinoi  in  Syrakus  einverleibt  354.  —  Krieg 
zwischen  Selinus  und  Segesta  354.  —  Athenische  Expedition  nach  Sicilien 
354.  —  Der  Hermenfrevel  357.  —  Ankunft  der  Flotte  in  Sicilien  358.  —  Fort- 
gang des  Hermenprozesses  358.  —  Alkibiades'  Abberufung  und  Verurteilung 
360.  —  Die  neue  Regierung  in  Athen  361.  —  Erste  Operationen  in  Sicilien  362.  — 
Haltung  der  sicilischen  Mittel-  und  Kleinstaaten  362.  —  Beginn  der  Belagerung 
von  Syrakus  363.  —  Gylippos  in  Sicilien  365.  —  Erste  Seekämpfe  vor  Syrakus 
366.  —  Wiederausbruch  des  Krieges  in  Griechenland  366.  —  Besetzung  von 
Dekeleia  367.  —  Zweite  Expedition  nach  Sicilien  368.  —  Sturm  auf  Epipolae 
368.  —  Seeschlachten  im  Hafen  von  Syrakus  369.  —  Der  Rückzug  370.  — 
Katastrophe  am  Assinaros  371.  —  Schicksal  des  besiegten  Heeres  372.  —  Ein- 
druck der  Katastrophe  in  Griechenland  372. 

XII.  Abschnitt. 

Der  Fall  der  Demokratie. 

Folgen  der  sicilischen  Katastrophe  373.  —  Beschränkung  der  Demokratie 
in  Athen  374.  —  Steuerreform  im  Reiche  375.  —  Abfall  loniens  376.  —  Spannung 
zwischen  Athen  und  Persien  377.  —  Bündnis  der  Perser  mit  den  Peloponnesiern 
378.  —  Krieg  in  lonien  379.  —  Schlacht  bei  Milet  379.  —  Belagerung  von  Chios 

380.  —  Abfall  von  Knidos  und  Rhodos  381.  —  Ergebnisse  des  Kriegsjahres 

381.  —  Oligarchische  Bewegung  in  Athen  382.  —  Alkibiades  in  der  Verbannung 
383.  —  Unterhandlungen  zwischen  Athen  und  Tissaphernes  384.  —  Oligarchie 
der  Vierhundert  in  Athen  384.  —  Sieg  der  Demokraten  auf  Samos  385.  —  Alki- 
biades an  der  Spitze  der  Flotte  386.  —  Verhandlungen  der  oligarchischen  Re- 
gierung mit  Alkibiades  und  mit  Sparta  387.  —  Aufstand  in  Athen  388.  —  Verlust 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  " 


VIII  Inhalt. 

von  Oropos  388.  —  Abfall  des  Hellespont  388.  —  Beginnender  Abfall  in  Thrakien 
389.  —  Abfall  Euboeas  390.  —  Sturz  der  Vierhundert  391.  —  Die  neue  Ver- 
fassung 391.  —  Theramenes  392.  —  Kämpfe  im  Hellespont  393.  —  Schlacht 
bei  Kyzikos  394.  —  Friedensverhandlungen  395.  —  Wiederherstellung  der 
Demokratie  in  Athen  397.  —  Die  Diobelie  397.  —  Agis  vor  Athen  399.  —  Kle- 
archos  am  Hellespont  399.  —  Thrasyllos  in  lonien  399.  —  Belagerung  von 
Kalchedon.  Einnahme  von  Byzantion  400.  —  Verlust  von  Kerkyra  und  Pylos 
401.  —  Nisaea  von  den  Megarern  zurückgewonnen  402.  —  Demokratische 
Reformen  in  Syrakus  402.  —  Hermokrates  verbannt  403.  —  Revolution  in 
Thurioi  403.  —  Fortgang  des  Krieges  in  Sicilien  403.  —  Intervention  Karthagos 
404.  —  Zerstörung  von  Selinus  404.  —  Fall  von  Himera  405.  —  Eindruck  in 
Syrakus  406.  —  Hermokrates'  Rückkehr  und  Ende  406.  —  Fall  von  Akragas 
407.  —  Dionysios  Oberfeldherr  408.  —  Der  Staatsstreich  140.  —  Verlust  von 
Gela  und  Kamarina  411.  —  Aufstand  in  Syrakus  412.  —  Frieden  mit  Karthago 
412.  —  Alkibiades'  Rückkehr  nach  Athen  413.  —  Neuschöpfung  der  pelo- 
ponnesischen  Flotte  415.  —  Lysandros  415.  —  Kyros  in  Kleinasien  416.  — 
Schlacht  bei  Notion  417.  —  Alkibiades'  Sturz  417.  —  Konon  in  Mytilene  ein- 
geschlossen 418.  —  Schlacht  an  den  Arginusen  419.  —  Feldherrenprozeß  in 
Athen  420.  —  Die  neuen  Strategen  422.  —  Friedensverhandlungen  423.  — 
Lysandros  wieder  an  der  Spitze  der  Flotte  423.  —  Schlacht  bei  Aegospotamoi 
424.  —  Eindruck  in  Athen  425.  —  Belagerung  von  Athen  426.  —  Unter- 
handlungen 427.  —  Der  Frieden  429.  —  Einnahme  von  Samos  62.  —  Demo- 
kratische Verschwörung  in  Athen  429.  —  Oligarchie  der  Dreißig  430.  —  Oligarchie 
in  den  athenischen  Bundesstädten  431. 


I.  Abschnitt. 

Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrscliaft. 

Das  griechische  Volk  hat  das  Glück  gehabt,  sich  fast 
unbeeinflußt  durch  gewaltsame  Eingriffe  von  außen  in  seiner 
Eigenart  entwickeln  zu  können,  bis  es  zur  vollen  geistigen 
und  politischen  Reife  gelangt  war.  Kein  fremder  Eroberer 
hatte  es  versucht,  nach  Griechenland  vorzudringen;  und 
als  die  Hellenen  selbst  anfingen,  sich  über  die  Inseln  und 
Küsten  des  Mittelmeeres  auszubreiten,  fanden  sie  bei  den 
Bewohnern  derselben  keinen  nennenswerten  Widerstand. 
Sogar  die  Phoeniker  wichen  zunächst  überall  vor  den  Griechen 
zurück  und  überließen  diesen  fast  ohne  Kampf  die  Handels- 
reviere,   die    sie   bisher   ausgebeutet    hatten. 

Im  VI.  Jahrhundert  begannen  diese  Verhältnisse  sich 
zu  ändern.  Die  kleinasiatischen  Griechenstädte  kamen  unter 
lydische,  Kypros  unter  aegyptische  Herrschaft;  im  Westen 
schlössen  sich  die  Phoeniker  um  Karthago  zu  einem  einheit- 
lichen Staate  zusammen,  der  bald  gegen  die  Griechen  zum 
Angriff  überging.  Eine  ernste  Gefahr  aber  für  die  Freiheit 
des  griechischen  Mutterlandes  bildete  erst  das  Aufkommen 
der  persischen  Macht. 

Die  alten  Monarchien  des  Orients,  Medien,  Lydien, 
Babylonien,  Aegypten,  waren  durch  Kyros  und  Kambyses 
eine  nach  der  anderen  unterworfen  worden  (oben  IIS.  371ff,). 
Die  persischen  Könige  geboten  vom  Aegaeischen  Meere  und 
der  großen  Syrte  bis  zum  laxartes  und  Indos.  Ein  Reich 
war  geschaffen  worden,  wie  die  Welt  es  noch  nie  zuvor  ge- 
sehen hatte  und  in  dieser  Weise  auch  nicht  wieder  gesehen 
hat  oder  doch  nur  noch  einmal,  in  dem   Reich  Alexanders 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  11,  i.     2.  Aufl.  1 


2  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

(unten  IIP  1  S.  10  A).  War  doch  das  Perserreich  am  Aus- 
gang des  VI.  Jahrhunderts  nicht  nur  die  erste,  sondern  die 
einzige  überhaupt  bestehende  Großmacht,  neben  der  es  nur 
unbedeutende  Kleinstaaten  gab.  Es  schien  nur  von  dem 
Willen  des  Großkönigs  abzuhängen,  wo  er  die  Grenzen  seiner 
Herrschaft  sich  setzen  wollte. 

Denn  das  Reich  verfügte  über  fast  unerschöpfliche 
militärische  Hilfsquellen  ^.  Mochte  auch  das  weite  iranische 
Hochland  relativ  nur  spärlich  bewohnt  sein,  so  zählte  es 
doch  bei  seiner  ungeheueren  Ausdehnung  (ca.  3  Millionen 
Q.-Km.)  eine  sehr  beträchtliche  absolute  Bevölkerung.  Um 
so  größer  war  die  Volksdichtigkeit  in  den  fruchtbaren  Ebenen 
am  Euphrat  und  Tigris,  im  Niltal  und  in  dem  alten  Kultur- 
land Syrien  ^.  Der  König  war  in  der  Lage,  jede  beliebige 
Truppenzahl  aufzubieten,  die  er  nur  zu  verpflegen  vermochte. 
Ebenso  gewährte  der  Besitz  der  Seeküste  vom  Nil  bis  zum 
Hellespont  die  Mittel,  um  Hunderte  von  Kriegsschiffen  aus- 
zurüsten, deren  Kern  die  treffliche  Marine  der  phoenikischen 
Handelsstädte  bildete. 

Die  Finanzkraft  des  Reiches  stand  hinter  seiner  mili- 
tärischen Leistungsfähigkeit  nicht  zurück;  waren  doch  die 
reichsten  Länder  der  damaligen  Welt  unter  dem  Zepter  des 
Perserkönigs  vereinigt.  Neben  dem  Ackerbau  blühten  Handel 
und  Industrie,  namentlich  in  der  Westhälfte  des  Reiches; 
noch  die  Hellenen  des  V.  Jahrhunderts  blickten  auf  Städte 
wie  Memphis,  Babylon,  Susa,  Egbatana  mit  derselben  Be- 
wunderung, wie  die  Reisenden  des  Mittelalters  auf  Kairo 
oder  Bagdad.  Die  Einkünfte  des  Großkönigs  sollen  sich 
unter  Dareios  auf  etwa  8000  babylonische  Silbertalente  (rund 
50  Millionen  Mark)  belaufen  haben,  wozu  dann  noch  bedeutende 
Naturalleistungen    kamen  ^.       Da    die    laufenden   Ausgaben 


^  Über  die  Organisation  des  Reiches  Ed.  Meyer,  Gesch.  des  Altert.  III 
S.  16  ff. 

^  Vgl.  meine  Bevölkerung  S.  252  und  Ed.  Meyer  a.  a.  0.  S.  91. 

3  Herod.  III  89  ff.,  vgl.  oben  I  2  §  131,  Weißbach,  Philol.  LXXI  (NF. 
XXV),  1912,  S.  479  ff.  Die  360  tal.  Goldstaub  (etwa  25  Mill.  M.),  welche  die 
indische  Satrapie  geliefert  haben  soll,  sind  hier  außer  Ansatz  gelassen,  denn 


Das  Perserreich. 


bei  weitem  nicht  so  hohe  Summen  erforderten,  konnten  die 
Könige  große  Schätze  ansammeln.  Alexander  soll  in  Susa 
40— 50  000  \  in  Persepolis  120  000  Talente  Silber  2  er- 
beutet haben.  Erinnern  wir  uns  dabei,  daß  der  athenische 
Staatsschatz  zu  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  nur 
6000  Talente  enthielt,  während  die  gesamten  Einkünfte  des 
attischen  Reiches  um  diese  Zeit  600  Talente  nicht  überstiegen. 

Und  alle  diese  unermeßlichen  Machtmittel  standen  zur 
unbeschränkten  Verfügung  eines  einzigen.  Neben  dem  Willen 
des  Herrschers  galt  kein  anderer  Wille  im  Reich;  der  vor- 
nehme Satrap,  wie  der  gemeine  Tagelöhner,  sie  alle  waren 
in  gleicher  Weise  Knechte  des  Königs,  sie  alle  warfen  sich 
vor  der  Majestät  in  den  Staub,  ein  Schauspiel,  das  jeden 
Hellenen  mit  tiefem  Ekel  erfüllte.  So  war  die  politische 
Leistungsfähigkeit  des  Reiches  zum  großen  Teil  bedingt 
durch  die  Persönlichkeit  des  Herrschers;  und  auch  das  Perser- 
reich ist  dem  Fluch  aller  Monarchie  nicht  entgangen,  daß 
der  Zufall  der  Geburt  nur  selten  einen  tüchtigen  Mann  auf 
den  Thron  bringt. 

Aber  auch  sonst  barg  das  Reich  Elemente  der  Schwäche 
genug.  Schon  die  große  Ausdehnung  neutralisierte  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  die  gewaltigen  materiellen  Mittel,  über 
die  es  verfügte.    Erforderte  es  doch  4  Monate  oder  mehr,*  um 


diese  Angabe  hat  genau  so  viel  Wert,  wie  die  Erzählung  von  den  Ameisen, 
welche  dieses  Gold  graben  sollten  (Herod.  III  102  ff.);  die  Berechnung  ist  sehr 
durchsichtig,  es  kommt  gerade  1  tal.  auf  den  Tag.  Die  Ansätze  für  die  unteren 
Satrapien  mögen  in  der  Hauptsache  richtig  sein  (vgl.  unten  Abschn.  II),  wenn 
auch  die  500  tal.  für  Lydien  im  Verhältnis  zu  den  700  tal.  für  Aegypten  auf- 
fallend hoch  scheinen;  dagegen  sind  die  Ansätze  für  die  oberen  Satrapien  stark 
übertrieben.  Nach  Diod.  XV  90,  4  hätten  Kleinasien  und  Syrien,  die  nach  Herodot 
rund  2000  tal.  zahlten,  etwa  die  Hälfte  aller  Tribute  geliefert;  nach  diesem 
Verhältnis  würden  die  Einkünfte  Dareios'  I.  sich  einschUeßHch  Aegyptens  auf 
rund  5000  tal.  belaufen  haben,  immer  noch  eine  für  die  damaUgen  Verhältnisse 
ungeheure  Summe.     Doch  mag  diese  Schätzung  zu  niedrig  sein. 

1  Arrian.  III  16,  7,  Diod.  XVII  66,  Strab.  XV  728.  731,  Curt.  V  2,  11, 
Plut.  Alex.  36. 

2  Diod.  XVII  71,  Curt.  V  6,  9.  Diese  Angabe  ist  ohne  Zweifel  viel  zu 
hoch,  denn  Alexander  soll  bei  seinem  Tode  nur  etwa  50000  tal.  hinterlassen 
haben  (lustin.  XIII  1,   9;  vgl.  unten  III  1  S.  44). 

1* 


4  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

ein  Heer  von  Babylon  nach  Sardes  oder  an  den  Nil  marschieren 
zu  lassen,  und  noch  längere  Zeit,  um  die  Truppenmassen  aus 
den  weitgedehnten  Provinzen  zusammenzuziehen.  Jeder 
größere  Feldzug,  den  der  König  unternehmen  wollte,  machte 
demgemäß  eine  mehrjährige  Vorbereitung  nötig.  Auch  die 
Qualität  der  Truppen  ließ  vieles  zu  wünschen  übrig.  Die 
Bewohner  des  Reiches  waren  in  ihrer  großen  Mehrzahl  un- 
kriegerisch, ganz  abgesehen  davon,  daß  sie  für  ihre  fremden 
Herren  nur  widerwillig  in  den  Kampf  zogen.  Die  Perser  selbst 
allerdings  und  überhaupt  die  arischen  Stämme  des  iranischen 
Hochlandes  waren  gute  Soldaten,  namentlich  vorzügliche 
Reiter  und  Bogenschützen.  Aber  so  trefflich  diese  Waffen 
auch  auf  den  weiten  Ebenen  Asiens  zu  verwenden  waren, 
auf  durchschnittenem  oder  gebirgigem  Gelände  waren  die 
Perser  durch  ihren  Mangel  an  Disziplin  und  ihre  leichte  Rüstung 
den  griechischen  Hopliten  gegenüber  im  Nachteil;  und  noch 
größer  war  die  moralische  Inferiorität  der  Asiaten,  die  vor  der 
Peitsche  ihrer  Offiziere  zitterten,  die  nur  für  ihren  König  und 
Herrn  fochten,  gegenüber  den  freien  Bürgern  griechischer  Städte. 

Es  war  überhaupt  der  wundeste  Punkt  des  Perserreiches, 
daß  es  nur  auf  brutale  Gewalt  begründet  war  und  durch 
brutale  Gewalt  zusammengehalten  wurde.  Kein  gemeinsames 
Interesse  irgend  einer  Art  verband  die  unzähligen  Völker 
des  Reiches;  und  die  Perserherrschaft  hat  es  nicht  vermocht, 
ja  sie  hat  nicht  einmal  den  Versuch  gemacht,  diese  Völker 
zu  einem  Ganzen  zu  verschmelzen.  Babylonier,  Meder, 
Aegypter,  Kleinasiaten  standen  sich  zu  Alexanders  Zeit  noch 
genau  so  fremd  gegenüber  wie  einst  zur  Zeit  des  Dareios; 
sie  alle,  die  Meder  vielleicht  ausgenommen,  begrüßten  den 
Fall  der  Perserherrschaft  als  Befreiung  von  einem  unerträg- 
lichen Joche. 

Schon  nach  Kambyses'  Tode  auf  seiner  Rückkehr  aus 
Aegypten  hatte  es  einen  Augenblick  den  Anschein  gehabt, 
als  ob  das  Reich,  kaum  begründet,  sich  wieder  auflösen  sollte. 
Im    Stammlände    Persis   brach    der    Bürgerkrieg    aus  ^,    und 

^  Die  offizielle  Version  über  diese  Vorgänge,  wie  sie  Dareios  auf  dem 
Felsen  von  Baghistan   seinen  Völkern  verkündet   hat,   und   die   griechischen 


Dareios.  —  Der  Skythenzug. 


eine  Reihe  der  unterworfenen  Völker  benutzte  die  Gelegenheit 
zu  dem  Versuch,  die  Fremdherrschaft  abzuschütteln.  Erst 
nach  langen  Kämpfen  gelang  es  Dareios,  einem  Prinzen 
aus  einer  Nebenlinie  des  Achaemenidenhauses  ^,  als  Groß- 
könig  anerkannt  zu  werden  und  die  abgefallenen  Provinzen 
wieder  zu  unterwerfen.  Er  gab  dem  Reiche  jetzt  eine  straffere 
administrative  Organisation  und  regelte  namentlich  das 
Finanzwesen  durch  feste  Normierung  der  Tribute  der  einzelnen 
Landschaften. 

Der  neue  Großkönig  wendete  nun  seine  Blicke  dem 
Westen  zu,  den  Kyros  und  Kambyses,  von  dringenderen 
Aufgaben  in  Anspruch  genommen,  mehr  als  gut  war  ver- 
nachlässigt hatten.  Eine  Eroberung  des  europäischen  Griechen- 
lands allerdings  scheint  wenigstens  ursprünglich  nicht  in 
seinen  Plänen  gelegen  zu  haben.  Vielmehr  ließ  Dareios  eine 
Schiffbrücke  über  den  Bosporos  schlagen  und  zog  dann  durch 
das  östliche  Thrakien,  dessen  Stämme  sich  ohne  Wid..rstand 
unterwarfen.  Die  Geten  in  der  heutigen  Dobrudscha  wurden 
nach  kurzem  Kampfe  zur  Anerkennung  der  persischen  Herr- 
schaft gebracht.  Inzwischen  war  die  Flotte,  aus  den  Kon- 
tingenten der  kleinasiatischen  Griechenstädte  gebildet,  längs 
der  Westküste  des  Pontos  nach  Norden  gesegelt  und  in  die 
Donaumündung  eingelaufen;  da,  wo  der  Fluß  sich  zu  teilen 
beginnt,  etwas  oberhalb  der  Spitze  des  Delta,  ging  der  König 
über  den  Strom  und  drang  in  das  unwirtliche  Gebiet  der 
Skythen  im  heutigen  Bessarabien  ein.  Da  die  Flotte  in  der 
Donau  blieb,  hat  Dareios  eine  Eroberung  des  Skythenlandes 


Historiker  von  Herodot  an  im  wesentlichen  wiederholt  haben,  ist  in  hohem 
Grade  verdächtig.  Ein  Mann  wie  Bartija,  der  der  nächste  am  Thron  war,  konnte 
nicht  heimlich  auf  die  Seite  geschafft  werden,  und  noch  weniger  ist  es  denkbar, 
daß  unmittelbar  nach  Bartijas'  Tode  ein  Betrüger  mit  der  Behauptung  Glauben 
hätte  finden  können,  er  sei  der  Sohn  des  Kyros,  und  noch  dazu  in  Persis  selbst, 
wo  Tausende  lebten,  die  den  wahren  Bartija  gekannt  hatten.  Wohl  aber  ist 
es  klar,  daß  Dareios  alle  Ursache  hatte,  seine  Usurpation  des  Throns  zu  be- 
schönigen. 

^  Lehmann-Haupt,  Darius  und  der  Achaemenidenstammbaum,  Klio  VIII, 
1908,  S.  493  ff. 


6  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

offenbar  nicht  beabsichtigt  i;  er  wollte  nur  den  Skythen 
seine  Macht  zeigen,  um  ihnen  die  Lust  zu  nehmen,  den  Istros 
zu  überschreiten,  der  bestimmt  war,  auf  dieser  Seite  die 
Grenze  des  Reiches  zu  bilden,  wie  sie  der  laxartes  im  Nord- 
osten bildete.  Indes  die  Skythen  stellten  sich  nicht  zum 
Kampfe,  sie  wichen  in  das  Innere  ihrer  Steppen  und  Sümpfe 
zurück,  und  dem  persischen  Heere,  das  den  Feind  nirgends 
finden  konnte,  blieb  schließlich  aus  Mangel  an  Lebensmitteln 
nichts  übrig,  als  der  Rückzug  an  die  Donau,  der  nur  unter 
schweren  Verlusten  bewerkstelligt  werden  konnte  (um  513)  2. 
Das  mißlungene  Unternehmen  mußte  das  persische 
Ansehen  in  Kleinasien  tief  erschüttern.  Bisher  waren  die 
Perser  von  Sieg  zu  Sieg  geschritten,  der  Ruf  der  Unwider- 
stehlichkeit ging  vor  ihnen  her;  jetzt  machte  der  Rückschlag 
um  so  größeren  Eindruck,  als  es  der  König  selbst  war,  der 
erfolglos  von  einem  Feldzuge  heimkehrte.  Wenig  fehlte,  so 
hätte  die  Mannschaft  der  griechischen  Flotte,  der  die  Hut 
der  Donaubrücke  anvertraut  war,  diese  Brücke  abgebrochen 
und  sich  nach  Hause  zerstreut,  was  das  sichere  Verderben 
des  persischen  Heeres  gewesen  wäre.  Der  Plan  scheiterte 
an  dem  Widerstände  des  Tyrannen  von  Milet,  Histiaeos, 
der  sehr  wohl  wußte,  daß  seine  eigene  Stellung  an  der  Spitze 
seiner  Stadt  nur  auf  dem  Rückhalt  beruhte,  den  er  an  der 
Persermacht  hatte.  So  wurde  das  Schlimmste  noch  abge- 
wendet. Am  Hellespont  freilich  brach  ein  Aufstand  aus, 
der  aber  isoliert  blieb  und  mit  leichter  Mühe  unterdrückt 
wurde;  ja  es  gelang  den  Persern,  auch  die  thrakische  Küste 
bis  zum  Strymon  hin  ihrer  Herrschaft  zu  unterwerfen  \ 
Selbst    König    Amyntas    von    Makedonien    beeilte    sich,    die 

1  Das  hat  Grundy,  Pers.  War  S.  58  ff.  richtig  erkannt.  Was  Herodot 
angibt  (IV  1),  der  König  habe  den  vor  mehr  als  hundert  Jahren  erfolgten  Einfall 
der  Skythen  in  Medien  rächen  wollen,  kann  unmöglich  das  wahre  Motiv  ge- 
wesen sein.     Die  Vermutungen  der  Neueren  bei  Busolt,  Gr.  Gesch.  IP  524,  2. 

2  Herod.  IV  83—143,  Ktes.  Pers.  16.  17.  Die  Angaben  Herodots  über 
den  Zug  sind  phantastisch.  Wahrscheinlich  sind  die  Perser  nicht  über  den 
Tyras  (Dnjesir)  hinausgekommen  (Strab.  VlI  305),  den  sie  auch  ohne  Schiffe 
kaum  hätten  überschreiten  können.    Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  26. 

8  Herod.  V  1—27, 


Folgen  des  Zuges.  —  Belagerung  von  Naxos.  —  Der  ionische  Aufstand.     7 

Oberhoheit  des  Großkönigs  anzuerkennen^.  Aber  im  ganzen 
Westen  Kleinasiens  gärte  es  weiter.  Sogar  Histiaeos 
wurde  dem  König  verdächtig,  der  ihn  unter  einem  ehren- 
vollen Vorwand  nach  Susa  berief  und  dort  an  seinem  Hofe 
festhielt  ^.  Unter  solchen  Umständen  konnte  der  geringste 
Anlaß  eine  Empörung  herbeiführen. 

In  Milet  hatte  nach  Histiaeos'  Abberufung  dessen  Vetter 
und  Schwiegersohn  Aristagoras  die  Regierung  übernommen» 
Der  faßte  den  Plan,  die  Kykladen  seinem  Einfluß  zu  unter- 
werfen, wozu  die  Rückführung  verbannter  Aristokraten 
nach  Naxos  den  Vorwand  abgeben  sollte.  Artaphernes,  der 
Satrap  von  Sardes,  billigte  das  Unternehmen,  das  ja  auch 
die  Interessen  des  Großkönigs  förderte;  eine  Flotte  aus  den 
griechischen  Küstenstädten  wurde  zusammengebracht  und 
ein  persisches  Landungskorps  an  Bord  genommen.  Aber 
Naxos  leistete  einen  unerwarteten  Widerstand,  und  nachdem 
man  vier  Monate  erfolglos  vor  der  Festung  gelegen  hatte, 
blieb  nichts  übrig  als  die  Rückkehr  nach  Asien  (Ende  Sommer 
499)  \ 

Das  Scheitern  dieser  Expedition  war  der  Funke,  der 
den  so  lange  glimmenden  Brand  zum  Ausbruch  brachte  *. 
Aristagoras  selbst  stellte  sich  an  die  Spitze  der  Bewegung; 
er  legte  die  Tyrannis  nieder  und  rief  die  Milesier  zum  Freiheits- 
kampfe gegen  die  Barbaren.  Die  Mannschaften  der  griechischen 
Flotte,  die  soeben  von  Naxos  zurückgekehrt  war  und  Milet 
gegenüber    an    der    Maeandrosmündung    lag,    schlössen    sich 


1  Herod.  V  17  ff. 

2  Herod.  V  23—25. 

3  Herod.  V  28—34.     Über  die  Chronologie  s.  unten  2.  Abt.   §  25. 

*  Herodot  (V  35)  führt  wie  gewöhnlich  alles  auf  kleinliche  persönliche 
Motive  zurück.  Aristagoras  soll  gefürchtet  haben,  zur  Strafe  für  sein  miß- 
glücktes Unternehmen  der  Tyrannis  entsetzt  zu  werden.  Aber  er  hat  ja  den 
Aufstand  damit  begonnen,  daß  er  freiwilHg  der  Herrschaft  entsagte.  Also  das 
kann  der  Grund  nicht  gewesen  sein.  Auch  ist  es  evident,  daß  der  Aufstand 
seine  große  Ausdehnung  nicht  hätte  gewinnen  können,  wenn  nicht  alles  in 
Kleinasien  für  die  Erhebung  bereit  war.  Offenbar  sah  Aristagoras,  daß  er  die 
Bewegung  nicht  zurückhalten  könne,  und  hielt  es  für  das  Klügste,  ihre  Leitung 
selbst  zu  ergreifen. 


8  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

voll  Begeisterung  an;  die  auf  der  Flotte  befindlichen  Tyrannen 
wurden  ergriffen  und  ihren  Städten  zur  Bestrafung  aus- 
geliefert. Und  nun  verbreitete  sich  der  Aufstand  wie  ein 
Lauffeuer  über  die  ganze  kleinasiatische  Küste;  überall  wurden 
die  Tyrannen  gestürzt  und  den  Persern  der  Gehorsam  ge- 
kündigt ^. 

lonien  war  damals  das  wirtschaftliche  und  geistige  Zentrum 
der  griechischen  Nation  und  der  Länder  am  Mittelmeer 
überhaupt.  Wohl  waren  mit  dem  steigenden  Wohlstand 
auch  die  Ansprüche  an  die  Lebenshaltung  gestiegen,  die  hier 
weit  reicher  und  glänzender  war,  als  drüben  im  Mutterlande; 
aber  der  Luxus,  der  ja  überdies  auf  die  höheren  Stände  be- 
schränkt blieb,  hatte  das  Volk  nicht  verweichlicht,  und  auch 
die  Tatkraft  der  führenden  Klassen  keineswegs  gelähmt. 
Waren  es  doch  ionische  Schiffer,  die  den  Pontos,  den  Adrias, 
den  fernen  Westen  bis  nach  den  Säulen  des  Herakles  er- 
schlossen hatten,  und  noch  immer  weiter  erschlossen.  Auch 
der  kriegerische  Geist  war  so  wenig  erloschen,  daß  es  eben 
ionische  Söldner  waren,  die  noch  bis  vor  wenigen  Jahren 
den  Kern  des  aegyptischen  Heeres  gebildet  hatten;  und  noch 
lauter  spricht  die  Tatsache,  daß  die  loner  es  vermocht  haben, 
aus  eigener  Kraft  der  ganzen  Macht  des  Perserreiches  6  Jahre 
lang  Widerstand  zu  leisten  und  schließlich  mehr  der  eigenen 
Zwietracht  als  den  Waffen  der  Gegner  erlegen  sind  ^. 


1  Herod.  V  36—38. 

^  Was  Herodot  (z.  B.  VI  11  ff.)  von  der  Weichlichkeit  der  loner  zu  er- 
zählen weiß,  ist  von  freundnachbarlicher  Abneigung  diktiert  und  steht,  wenig- 
stens für  die  Zeit  des  großes  Aufstandes,  im  Widerspruch  mit  den  Tatsachen. 
Für  seine  eigene  Zeit  mag  es  allerdings  zum  Teil  richtig  sein,  vgl.  Xen.  Hell. 
III  2,  17;  4,  15.  Herodots  Urteil  ist  dann,  wie  gewöhnlich,  für  die  Neueren 
maßgebend  gewesen,  ja  sie  gehen  noch  über  ihn  hinaus.  So  sieht  Ed.  Meyer 
in  Hipponax  „den  rechten  Repräsentanten  der  ionischen  Zustände  dieser  Zeit. . . 
Ideale  gibt  es  nicht  mehr,  nur  Geld  will  der  Dichter  haben,  und  gut  essen" 
(Gesch.  d.  Altert.  II  S.  794).  Nun,  wenn  die  loner  nichts  weiter  wollten,  hätten 
sie  sich  wahrhaftig  nicht  gegen  Dareios  zu  erheben  brauchen.  Materiell  ging 
es  ihnen  ja  unter  der  Perserherrschaft  sehr  gut.  Übrigens,  was  wissen  wir  denn 
von  Hipponax  ?  Die  paar  Fragmente  reichen  doch  keineswegs  aus,  um  darauf 
hin  zu  behaupten,  daß  er  für  nichts  Höheres  Sinn  gehabt  habe. 


Haltung  des  Mutterlandes. 


Freilich,  auf  sicheren  Erfolg  war  nur  zu  rechnen,  wenn 
die  Bewegung  an  den  Stammesgenossen  jenseits  des  Aegaei- 
schen  Meeres  einen  Rückhalt  fand.  Und  es  lag  im  eigensten 
Interesse  der  europäischen  Griechen  selbst,  den  Aufstand 
nicht  ohne  Unterstützung  zu  lassen.  Es  gehörte  wahrlich 
nur  ein  sehr  geringer  Scharfblick  dazu,  um  zu  erkennen,  daß 
das  persische  Reich  auf  die  Dauer  sich  mit  dem  Besitz  des 
asiatischen  Teils  der  griechischen  Welt  nicht  begnügen  konnte. 
Mit  welchen  Plänen  man  sich  in  Susa  und  Sardes  trug,  hatte 
noch  soeben  die  Unternehmung  gegen  Naxos  gezeigt.  Es 
war  ein  Gebot  der  Selbsterhaltung,  dem  Angriff  zuvorzu- 
kommen und  den  früher  oder  später  doch  unvermeidlichen 
Kampf  aufzunehmen,  so  lange  man  noch  die  asiatischen 
Brüder  zur  Seite  hatte.  Aristagoras  wandte  sich  also  um 
Hilfe  an  die  griechische  Vormacht  Sparta;  dort  aber  ver- 
mochte man  sich  zu  einer  so  großzügigen  Politik  nicht  zu 
entschließen  und  wies  das  Gesuch  ab  ^.  Besseren  Erfolg 
hatte  Aristagoras  in  Athen,  wo  die  enge  Stammverwandtschaft 
und  die  lebhaften  Handelsbeziehungen  den  lonern  warme 
Sympathien  sicherten.  Und  auch  abgesehen  davon  hatte 
man  hier  allen  Grund,  sich  an  dem  Kriege  gegen  Persien  zu 
beteiligen.  Denn  Hippias,  als  Herr  von  Sigeion  persischer 
Reichsfürst,  galt  viel  am  Satrapenhofe  in  Sardes,  und  Arta- 
phernes  hatte  bereits  die  förmliche  Aufforderung  an  Athen 
gestellt,  den  vertriebenen  Tyrannen  wieder  aufzunehmen  2. 
Vor  allem  aber  winkte  die  Hoffnung,  die  Inseln  Lemnos  und 
Imbros  wieder  zu  erlangen,  die  nach  dem  Sturze  der  Peisistra- 


^  Herod.  V  38.  49 — 51.  Die  Rede,  die  Herodot  V  49ff.  nach  spartanischer 
Quelle  (c.  49)  Aristagoras  in  den  Mund  legt,  ist  freilich  absurd  und  hat  nur  den 
Zweck,  Spartas  kurzsichtige  Politik  zu  entschuldigen.  Kein  Mensch  kann 
damals  an  eine  Offensive  nach  Susa  gedacht  haben.  Aber  Sparta  verfügte  ja 
über  die  beiden  ersten  Flotten  im  europäischen  Griechenland,  die  von  Korinth 
und  Aegina;  und  was  25  Jahre  früher  gegen  Polykrates  geschehen  war  und 
20  Jahre  später  bei  Mykale  geschehen  ist,  hätte  auch  jetzt  geschehen  können. 
Fünfzig  peloponnesische  Schiffe  würden  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  genügt 
haben,  das  Geschick  des  Tages  von  Lade  zu  wenden  (gegen  Ed.  Meyer  III  S.  303). 

2  Herod.  V  96. 


10  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

tiden  verloren  gegangen  waren  ^.  Man  tat  also  was  man 
konnte  und  sandte  den  lonern  20  Schiffe  zu  Hilfe,  etwa  die 
Hälfte  der  gesamten  Athen  zur  Verfügung  stehenden  See- 
macht. Auch  das  Milet  von  alters  her  befreundete  Eretria 
stellte  5  Schiffe  ^.  Das  war  alles,  was  das  Mutterland  für  die 
Rettung  seiner  Kolonien  tat.  Aber  so  ungenügend  diese 
Unterstützung  auch  sein  mochte,  sie  hatte  eine  moralische 
Wirkung,  deren  Bedeutung  kaum  überschätzt  werden  kann. 
In  richtiger  Erkenntnis  der  Lage  schritten  die  loner 
zur  Offensive  (Frühjahr  498),  ehe  der  Feind  seine  Kräfte 
gesammelt  hatte;  und  ebenso  richtig  war  es,  daß  man  die 
Hauptstadt  Kleinasiens,  Sardes,  zum  Ziel  des  Angriffs  sich 
aussah  ^.  Die  persische  Garnison  war  nicht  stark  genug,  die 
weitgedehnte  Stadt  zu  verteidigen,  und  zog  sich  in  die  unein- 
nehmbare Burg  zurück.  Während  aber  die  Griechen  ein- 
rückten, brach  Feuer  aus,  das  in  den  durchweg  mit  Rohr 
gedeckten  Häusern  mit  reißender  Schnelle  um  sich  griff 
und  die  ganze  Stadt  in  Asche  legte.  Eine  Belagerung  der 
Burg  wagte  man  nicht,  angesichts  der  heranziehenden  per- 
sischen Verstärkungen.    So  blieb  nichts  übrig  als  der  Rückzug 

^  Wenn  die  Inseln  wirklich  schon  unter  Peisistratos  erobert  worden  sind 
(oben  IIS.  388),  müssen  sie  sich  bei  Hippias'  Sturz  der  demokratischen  Er- 
hebung angeschlossen  haben,  denn  sie  wurden  bald  nach  Dareios'  Skythenzuge 
von  den  Persern  erobert,  die  hier  Lykaretos  zum  Regenten  einsetzten,  einen 
Bruder  des  Samiers  Maeandrios  (Herod.  V  26,  oben  IIS.  378).  Wären  die 
Inseln  dagegen  unter  Hippias'  Herrschaft  geblieben,  so  hätten  die  Perser  zu 
einer  Intervention  keinen  Grund  gehabt.  Lykaretos  ist  dann  von  den  Lemniern 
erschlagen  worden,  wie  es  scheint,  nicht  lange  darauf  (Herod,  V  27).  Dann 
müßte  die  Eroberung  durch  Miltiades  erfolgt  sein  (Diod.  X  19,  6,  Charax  aus 
Pergamon  FHG.  III  642  fr.  30),  falls  nicht  eine  Verwechslung  mit  dem  älteren 
Miltiades  vorhegt  (oben  IIS.  388  Anm.  2).  Jedenfalls  muß  die  persische  Herr- 
schaft in  irgendeiner  Form  wieder  hergestellt  worden  sein.  Die  Vermutung 
hegt  nahe,  daß  die  Inseln  an  Hippias  zurückgekommen  sind,  der  ja  der  recht- 
mäßige Herrscher  war,  und  hier  gestorben  sein  soll  (Suidas  '\Tzma(;  b);  viel- 
leicht ist  schon  Lykaretos  sein  Statthalter  gewesen. 

^  Herod.  V  97—99. 

^  Die  Angabe  bei  Plut  De  Herod.  malign.  24  S.  861,  die  loner  wären  nach 
Sardes  gezogen  ßou\ö,uevoi  rriv  MiXr|TOU  \Oaai  TroXiopKiav  ist  absurd;  wie 
hätten  sie  an  einen  Zug  ins  Innere  denken  können,  wenn  sie  nicht  einmal  im- 
stande waren,  die  Perser  aus  ihrer  Stellung  vor  Milet  zu  vertreiben  ? 


Einnahme  von  Sardes.  —  Unterwerfung  von  Kypros.  11 

nach  Ephesos  ^.  In  ganz  Kleinasien  aber  machte  der  Brand 
von  Sardes  tiefen  Eindruck;  die  hellespontischen  Städte, 
Karien,  Lykien,  Kypros,  schlössen  sich  jetzt  dem  Aufstande  an^. 

Die  Athener  verließen  in  Ephesos  ihre  Bundesgenossen 
und  schifften  nach  Hause;  Lemnos  und  Imbros  wurden  nun 
wieder  mit  Athen  vereinigt  ^.  Der  Zweck,  für  den  die  Athener 
zu  den  Waffen  gegriffen  hatten,  war  erreicht,  und  sie  haben 
infolgedessen  an  dem  Kriege  keinen  weiteren  Anteil  genommen. 
Auch  war  für  den  AugenbHck  für  sie  nichts  zu  tun,  da  die 
ionische  Flotte  das  Meer  beherrschte,  und  später,  als  das  Glück 
sich  gegen  die  loner  wandte,  trat  in  Athen  ein  politischer  Um- 
schwung ein,  der  die  Anhänger  des  Peisistratidenhauses  an 
die  Spitze  des  Staates  brachte   (siehe  unten  S.  13). 

Inzwischen  hatten  die  persischen  Streitkräfte  sich  ge- 
sammelt. Im  Frühjahr  497  ging  ein  Heer  nach  Kypros  hinüber, 
wo  die  beiden  ungriechischen  Städte  Amathus  und  Kition 
der  könighchen  Sache  treugeblieben  waren  *  und  eine  sichere 
Operationsbasis  bildeten.  Die  ionische  Flotte  kam  zu  spät, 
die  Landung  des  Feindes  zu  hindern;  sie  blieb  allerdings  in 


^  Nach  Herod.  VI  62  wären  die  loner  von  den  Persern  bis  Ephesos  ver- 
folgt und  dort  gänzlich  geschlagen  worden.  Charon  von  Lampsakos  (FHG. 
I  33,  2  bei  Plut.  Über  Herodots  Böswilligkeit  24  S.  861)  weiß  von  dieser  Nieder- 
lage nichts,  und  er  verdient  nicht  nur  als  ältere  Quelle,  sondern  auch  aus  inneren 
Gründen  mehr  Glauben.  Ed.  Meyer  meint  {Gesch.  d.  Altert.  III  S.  304  A),  Charon 
hätte  auch  sonst  zugunsten  der  Griechen  manches  verschwiegen.  Ich  will  dar- 
über nicht  streiten,  denn  es  kommt  sehr  wenig  darauf  an.  Das  Entscheidende 
ist,  daß  der  Aufstand  sich  nicht  weiter  ausgebreitet  haben  würde,  wenn  der 
Zug  nach  Sardes  mit  einer  Niederlage  geendet  hätte.  Herodots  Erzählung 
des  ganzen  Aufstandes  ist  überhaupt  gegen  die  loner  voll  Mißgunst  Das  Stärkste 
ist  wohl,  daß  er  es  VI  10  als  dyvuJiUGauvri  bezeichnet,  wenn  die  Führer  der  ein- 
zelnen ionischen  Kontingente  vor  der  Schlacht  bei  Lade  die  Aufforderung  der 
vertriebenen  Tyrannen  zum  Verrat  an  der  Sache  des  Aufstandes  zurückwiesen. 
Also  Herodot  selbst  wäre  zu  einem  solchen  Verrat  fähig  gewesen. 

2  Herod.  V  99—104. 

^  Überliefert  ist  das  nicht,  es  liegt  aber  in  der  Natur  der  Sache. 

*  Über  Amathus  Herod.  V  108.  114;  daß  das  phoenikische  Kition  dem 
Aufstande  fem  blieb,  ist  selbstverständlich  und  wird  durch  den  Stein  von 
IdaHon  (Gr.  Dial. -Inschr.  I  60)  bestätigt,  wenn  diese  Inschrift  wirkHch,  wie 
gewöhnlich  angenommen  wird,  sich  auf  den  ionischen  Aufstand  bezieht. 


12  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

einer  Seeschlacht  über  die  Phoeniker  siegreich,  aber  die  ver- 
einigten Kontingente  der  kyprischen  Fürsten  wurden  in  der 
Ebene  von  Salamis  von  den  Persern  völlig  geschlagen,  wobei 
der  König  dieser  Stadt,  Onasilos,  das  Haupt  des  Aufstandes, 
seinen  Tod  fand.  Jetzt  trat  Salamis  wieder  auf  die  persische 
Seite  hinüber,  und  damit  war  das  Schicksal  der  Bewegung 
entschieden.  Die  Städte,  die  noch  im  Widerstände  verharrten, 
wurden  mit  Waffengewalt  zum  Gehorsam  zurückgebracht, 
zuletzt  Soloi  nach  langer  Belagerung  ^. 

Gleichzeitig  waren  die  Perser  auch  in  Kleinasien  zur 
Offensive  geschritten.  Die  Städte  am  Hellespont,  Aeolien, 
Klazomenae  in  lonien  wurden  erobert;  in  Karien  allerdings 
erlitten  die  Feldherren  des  Königs  nach  anfänglichen  Erfolgen 
eine  vernichtende  Niederlage,  die  dem  weiteren  Fortschritt 
der  persischen  Waffen  vorderhand  ein  Ziel  setzte.  Aber  seit 
dem  Verlust  von  Kypros  war  das  Schicksal  des  Aufstandes 
besiegelt.  Aristagoras'  Stellung  in  Milet  wurde  jetzt  unhalt- 
bar; er  wandte  also  der  Heimat  den  Rücken  und  ging  nach 
Myrkinos  am  unteren  Strymon  in  Thrakien,  das  einst  Histiaeos 
vom  Könige  zur  Belohnung  seiner  Verdienste  verliehen  worden 
war.  Bei  dem  Versuche,  hier  eine  Stadt  zu  gründen  —  da, 
wo  später  die  Athener  Amphipolis  erbauten  — ,  wurde  er  von 
den  Edonern  erschlagen  (496)  ^. 

Histiaeos  war  indessen  von  Dareios  nach  Sardes  gesandt 
worden,  um  durch  seinen  Einfluß  die  loner  zur  gutwilligen 
Unterwerfung  zu  bewegen  ^.  Statt  dessen  zettelte  der  alte 
Tyrann  mit  unzufriedenen  persischen  Großen  gegen  Arta- 
phernes  eine  Verschwörung  an,  und  entfloh  dann,  als  der 
Satrap  Verdacht  schöpfte,  nach  Chios.  Aber  seine  Hoffnung, 
an  die  Spitze  der  nationalen  Bewegung  zu  treten,  schlug 
fehl;  die  Milesier  wollten  von  ihrem  früheren  Herrscher  nichts 


1  Herod.  V  108—115. 

2  Herod.  V  116—126,  Thuk.  IV  102.        Über    die    Chronologie    unten 
2.  Abt.  §  25. 

ä  Heinlein,  Histiaios  von  Milet,  Klio  IX,  1909,  S.  341  ff.  hätte  ungedruckt 
bleiben  können. 


Histiaeos.  —  Umschwung  in  Athen.  —  Sparta  und  Argos.  13 

wissen.  Endlich  erhielt  er  von  den  Mytilenaeern  einige  Schiffe, 
mit  denen  er  im  Hellespont  einen  Parteigängerkrieg  eröffnete  ^ 
Der  Aufstand  dauerte  nun  schon  ins  fünfte  Jahr,  und 
noch  immer  war  lonien  unbezwungen.  Der  Versuch,  die 
Griechen  durch  Verhandlungen  zu  trennen,  war  mißglückt, 
und  mit  dem  Landheer  allein  war  gegen  die  stark  befestigten 
Küstenstädte  nichts  auszurichten.  So  erschien  denn  endlich 
im  Sommer  494  im  Aegaeischen  Meer  eine  phoenikische  Flotte, 
zu  der  auch  die  eben  unterworfenen  Kyprier  ihr  Kontingent 
hatten  stellen  müssen  ^.  Aber  auch  jetzt,  als  die  Gefahr  in 
nächster  Nähe  sich  zeigte,  blieb  das  Mutterland  untätig. 
In  Athen  war,  bald  nach  der  Wiederunterwerfung  von  Kypros, 
wahrscheinlich  also  unter  dem  Eindruck  dieses  Ereignisses, 
ein  Umschwung  erfolgt,  der  die  Alkmeoniden  von  der  Leitung 
des  Staates  herabstürzte  und  ihren  Gegner  Hipparchos  aus 
Kollytos,  einen  nahen  Verwandten  des  Peisistratidenhauses, 
als  ersten  Archon  an  die  Spitze  der  Regierung  brachte  ^. 
Die  Kriegspolitik  gegen  Persien  wurde  infolgedessen  jetzt 
aufgegeben.  Und  Sparta,  das  auch,  als  es  die  Hände  freigehabt, 
den  lonern  die  Unterstützung  versagt  hatte,  stand  wieder 
einmal  mit  seiner  alten  Rivalin  Argos  im  Kriege,  der  seine 
ganze  Kraft  in  Anspruch  nahm.  Es  scheint,  daß  König  Kleo- 
menes  den  Konflikt  herbeigeführt  hat;  wenigstens  war  er  es, 
der  die  Offensive  ergriff  (um  494).  Da  er  von  Süden  her  nicht 
in  die  argeiische  Ebene  vorzudringen  vermochte,  ließ-  er  sein 
Heer  durch  aeginetische  und  sikyonische  Schiffe  von  Thyrea 
nach  Nauplia  überführen  *;   bei   dem  nahen  Tiryns  kam  es 


1  Herod.  V  106—7,  VI  1—5. 

*  Herod.  VI  6. 

ä  Über  "linrapxo?  Xöptiou  KoXXuTeü?  oben  I  2  S.  300  f.  332,  sein  Ar- 
chontat  ebenda  S.  170.     Vgl.  unten  2.  Abt.   §  48. 

*  Herod.  VI  76.  92.  Die  Wegführung  der  Geiseln  aus  Aegina  durch  Kleo- 
menes,  die  Herodot  wegen  des  angeblichen  Medismos  der  Aegineten  kurz  vor 
der  Schlacht  bei  Marathon  erfolgen  läßt  (VI  49 — 50.  73),  gehört  wahrscheinlich 
in  diesen  Krieg,  an  dem  die  Aegineten  sich  nur  gezwungen  beteiligten  (VI  92). 
Was  Herodot  von  Damaratos'  Opposition  gegen  Kleomenes  bei  dieser  Gelegenheit 
erzählt,  wird  richtig  sein;  da  er  aber  den  ganzen  Vorgang  um  einige  Jahre  zu 
tief  herabrückt,  muß  er  Leotychidas  dabei  mitwirken  lassen.     Übrigens  ist  es 


14  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft, 

zur  Schlacht,  in  der  das  argeiische  Heer  nahezu  vernichtet 
wurde  ^.  Die  stark  befestigte  Hauptstadt  zu  nehmen  war 
Kleomenes  allerdings  nicht  imstande,  wie  die  Spartaner  ja 
überhaupt  im  Belagerungskrieg  wenig  geübt  waren;  aber 
die  Macht  von  Argos  war  doch  auf  lange  Zeit  hinaus  lahm- 
gelegt. Tiryns  und  Mykenae  gewannen  jetzt  ihre  Unabhängig- 
keit zurück  und  traten  in  Bund  mit  Sparta  ^.  Den  meisten 
übrigen  Perioekengemeinden  verlieh  Argos  sein  Bürgerrecht, 
nur  Kleonae  und  Orneae  blieben  in  ihrer  alten  Stellung  ^ 
Um  dieselbe  Zeit  etwa  war  in  lonien  die  Entscheidung  ge- 
fallen. Rhodos,  Knidos  und  Halikarnassos,  mit  den  zu  diesem 


gar   nicht   ausgeschlossen,   daß   die   Chronographen   Leotychidas'    Regierungs- 
antritt  eben   nach   dieser   Herodotstelle   datiert  haben. 

1  Herod.  VI  76—82.  Nach  dem  Orakel  bei  Herod.  VI  19  und  77  war  die 
Niederlage  der  Argeier  mit  dem  Fall  von  Milet  (494)  etwa  gleichzeitig,  während 
nach  Herod.  VII  148  die  Schlacht  bei  Tiryns  kurze  Zeit  (veuJöTi)  vor  480  er- 
folgt wäre.  Jedenfalls  ging  sie  dem  Ausbruch  des  Krieges  zwischen  Aegina 
und  Athen  (etwa  488)  vorher  (Herod.  VI  92),  höchst  wahrscheinhch  auch  der 
Absetzung  des  Damaratos  (491,  Plut.  Mul.  virt.  4  S.  245).  Auch  Diodor  hat 
diese  Niederlage  oder  doch  deren  Folgen  für  Argos  nach  dem  Ende  des  ionischen 
Aufstandes,  und  vor  dem  Zuge  des  Datis  erzählt  (X  26,  vgl.  De  Sanctis,  Saggi 
dt  Storia  Antica  e  di  Archeologia  offerti  a  G.  Beloch,  Rom  1910,  S.  235  ff.).  Die 
Angabe  bei  Paus.  III  4,  1  KXeoiu^vri?  uj?  dßa0i\euaev,  auTiKa  d(7^ßa\ev  ic,  xy\m 
ApYoXiba  beweist  nicht  das  geringste;  C.  Wells,  Journ.  Hell.  Stud.  XXV, 
1905,  S.  193  ff.,  hat  sich  vergeblich   bemüht,   sie  zu   verteidigen. 

2  Das  zeigt  ihre  Haltung  im  Perserkriege:  IGA.  70,  Herod.  VII  202.  IX  27. 

3  Aristot.  Polit.  V  1303a,  Plut.  a.  a.  0.,  auch  die  Angabe  über  den  Synoe- 
kismos  von  Argos  bei  Paus.  VIII  27,  1  muß  auf  diese  Zeit  gehen.  Herod.  VI  83 
läßt  die  boOXoi  sich  der  Herrschaft  in  Argos  bemächtigen.  Auch  Diod.  X  26 
spricht  von  einer  Sklavenemanzipation  (daß  diese  Stelle  sich  auf  Argos  bezieht, 
hat  De  Sanctis  a.  a.  O.  gesehen).  Es  könnte  sich  natürlich  nur  um  die  leib- 
eigene Landbevölkerung  handeln,  die  Gymneten  oder  Gymnesier  (Polyd.  III  83, 
Steph.  Byz.  Xioi;,  vgl.  De  Sanctis  a.  a.  O.).  Aber  wenn  es  wirklich  einmal 
solche  Leibeigenen  in  Argos  gegeben  hat,  muß  deren  Befreiung  in  viel  frühere 
Zeit  fallen.  Dagegen  hat  Argos  später  keine  Perioekenstädte  mehr  gehabt,  mit 
Ausnahme  von  Kleonae  und  Orneae,  die  es  noch  zur  Zeit  des  peloponnesischen 
Krieges  waren  (Thuk.  V67,  2;  72,  4;  74,  3).  Der  Erzählung  von  der  Verteidigung 
der  Stadt  durch  die  Frauen  (Paus.  II  20,  8—10  =  Suid.  Te\eai\\a,  Plut. 
Mul.  Virt.  4  S.  285,  Polyaen.  VII  33,  Wilamowitz,  Textgesch.  der  griech.  Lyriker, 
Abh.  Gott.  Ges.  NF.  IV  3,  BerUn  1900,  S.  76  ff.,  Herzog,  Philol,  NF.  XXV, 
1912,  S.  17)  hegt  eine  ätiologische  Sage  zugrunde. 


Schlacht  bei  Lade.  15 


gehörigen  Inseln  Kos  und  Kalymna,  scheinen  sogleich  bei 
Erscheinen  der  phoenikischen  Flotte  ihren  Frieden  mit  dem 
Könige  gemacht  zu  haben.  Die  übrigen  Städte  versammelten 
ihre  gesamte  Seemacht  zum  Schutz  von  Milet  und  nahmen 
hier,  im  Angesicht  der  Stadt,  bei  der  kleinen  Insel  Lade,  die 
Schlacht  an.  Wohl  noch  nie  hatten  so  große  Flotten  gegen- 
einander gekämpft.  An  Zahl  der  Schiffe  waren  die  loner  dem 
Gegner  annähernd  gewachsen  ^,  aber  es  fehlte  an  Disziplin 
und  an  festem  Zusammenhalt;  auch  waren  nicht  alle  Kon- 
tingente ganz  zuverlässig.  Unter  den  samischen  Kapitänen 
hatte  der  vertriebene  Tyrann  Aeakes  viele  Anhänger,  die 
sich  nach  kurzem  Kampfe  zur  Flucht  wandten;  jetzt  hielten 
auch  die  Lesbier  nicht  mehr  stand,  und  so  endete  der  Tag 
mit  einer  völligen  Niederlage.  Milet  wurde  nun  zu  Lande 
und  zur  See  eingeschlossen  und  endlich  mit  Sturm  genommen. 
Es  hatte  schwer  für  seinen  Abfall  zu  büßen.  Ein  Teil  der 
Bewohner  wurde  hinweggeführt  und  in  Babylonien  ange- 
siedelt; der  Tempel  ApoUons  in  Didyma,  vor  den  Toren  der 
Stadt,  das  berühmteste  Heiligtum  loniens,  ging  in  Flammen 
auf,  seine  reichen  Schätze  fielen  den  Persern  zur  Beute.  Milet 
hat  sich  nie  wieder  von  diesem  Schlage  zu  erholen  vermocht; 
seine  alte   Blüte  war  für  immer  gebrochen  ^. 


^  Herod.  VI  9  oi  TTepcfduJv  axpaTriToi  -iru0ö)Lievoi  t6  irXfiGoq  xuiv  'Idbiuv 
veijüv  KaxappiObriaav,  |urj  oü  buvaxoi  y^vuuvxai  öirepßa\da9ai.  Die  loner  hätten 
354,  die  Perser  600  Schiffe  gezählt.  Letzteres  ist  eine  der  stereotypen  Zahlen, 
auf  die  persische  Flotten  geschätzt  werden,  und  die  Angabe  hat  gar  keinen 
Wert  Die  Zahl  der  ionischen  Schiffe  ist  vielleicht  nicht  so  sehr  übertrieben, 
da  die  loner  doch  gewiß  die  höchsten  Anstrengungen  gemacht  haben,  nur 
können  es  nicht  Trieren  gewesen  sein,  wie  Herodot  sagt,  der  hier,  wie  gewöhn- 
lich, die  Verhältnisse  seiner  eigenen  Zeit  auf  die  Zeit  der  Perserkriege  über- 
trägt; haben  doch  selbst  Athen  und  Syrakus  auf  der  Höhe  ihrer  Macht  nie  eine 
solche  Flotte  auf  einem  Punkte  zu  versammeln  vermocht.  Die  Triere  ist  erst 
kurz  vor  Xerxes'  Zuge  zum  Linienschiff  geworden;  vorher  bestanden  die 
Flotten  in  der  Hauptsache  aus  Fünfzigruderern  (Thuk.  I  14). 

*  Herod.  VI  6 — 20.  Die  Worte  MiXrixo?  |u^v  ouv  Mi\ri0iujv  r]pri|uujxo 
enthalten  eine  starke  Übertreibung;  erwähnt  doch  Herodot  selber  (IX  104) 
ein  milesisches  Kontingent  in  der  Schlacht  bei  Mykale.  Aber  allerdings  ist  ein 
Teil  der  Stadt,  das  Quartier  im  Süden,  zerstört  und  nicht  wieder  aufgebaut 
worden  (Wiegand,  Abh.  Berl.  Akad.  1908  Anhang  S.  3  ff.).     Die  Angabe,  daß 


16  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

Jetzt  wurde  Karien  mit  leichter  Mühe  unterworfen; 
auch  Samos  beeilte  sich,  seinen  Frieden  mit  dem  Sieger  zu 
machen,  und  nahm  seinen  alten  Herrscher  Aeakes,  Sylosons 
Sohn,  wieder  auf  ^;  die  Männer,  die  sich  bei  der  Revolution 
kompromittiert  hatten,  verließen  die  Insel  und  suchten 
sich  eine  neue  Heimat  im  Westen,  wo  sie  Zankle  in  Besitz 
nahmen  ^.  Histiaeos  aber  ließ  den  Mut  noch  nicht  sinken. 
Er  eilte  nach  Chios,  ergriff  die  Leitung  der  Bewegung  und 
dachte,  auf  die  Kräfte  dieser  Insel,  von  Lesbos  und  der 
hellespontischen  Landschaft  gestützt,  den  Krieg  fortzusetzen. 
Noch  war  nicht  alles  verloren,  wenn  das  Mutterland  endlich 
der  drohenden  Gefahr  gegenüber  die  Augen  öffnete.  Die 
Katastrophe  Milets  sprach  wahrlich  eine  deutliche  Sprache; 
sie  mußte  überall  in  der  griechischen  Welt  einen  nieder- 
schmetternden Eindruck  machen,  nirgends  tiefer  als  in  Athen,, 
der  engverwandten  und  verbündeten  Stadt,  wo  man  sich 
sagen  mußte,  durch  die  eigene  tatlose  Haltung  die  Kata- 
strophe mitverschuldet  zu  haben.  Hier  brachte  der  Tragiker 
Phrynichos  im  folgenden  Frühjahr  (493)  den  ,,Fall  Milets'^ 
auf  die  Bühne  und  erzielte  damit  eine  erschütternde  Wirkung, 
so  daß  die  Regierung,  die  sich  getroffen  fühlte,  den  Dichter 
in  Strafe  nahm^.  Die  Wahlen  führten  denn  auch  im  nächsten 
Sommer  Themistokles  an  die  Spitze  des  Staates,  den  Mann, 
dem  lonien  nach  14  Jahren  seine  Befreiung  zu  danken  haben 
sollte;  aber  es  war  schon  zu  spät;  noch  ehe  er  sein  Amt  an- 
treten konnte,  war  die  Entscheidung  gefallen.  Histiaeos 
war  im  Frühjahr  nach  Thasos  hinübergegangen,  um  die  reiche 
und  mächtige   Insel  zum  Anschluß  an  die  nationale   Sache 


erst  Xerxes  den  Tempel  von  Didyma  verbrannt  hätte  (Strab.  XIV  634),  beruht 
nur  auf  einer  Verwechslung. 

1  Herod.  VI  25. 

"  Herod.  VI  22  ff.,  Thuk.  VI  4,  5.  Sie  haben  dort  mit  samischen  Typen 
Münzen  geprägt.     S.  unten  S.  69  A.  2. 

3  Herod.  VI  21.  Daß  das  Stück  Themistokles'  Politik  unterstützen  sollte, 
ist  klar;  hat  doch  Phrynichos  auch  später  in  den  Phoenissen  Themistokles' 
Taten  verherrlicht  (vgl.  die  Choregeninschrift  bei  Plut.  Them.  5).  Über  Themi- 
stokles' Archontat  unten  S.  32  Anm.  2. 


Ende  des  Aufstandes,  17 


ZU  bringen  und  damit  den  Verlust  des  südlichen  loniens 
wenigstens  zum  Teil  auszugleichen.  Hier  aber  wollte  man 
es  mit  Persien  nicht  verderben,  und  als  nun  die  phoenikische 
Flotte  von  Milet  aus  in  See  ging,  mußte  Histiaeos  eiligst 
nach  Lesbos  zurückkehren.  Eine  Seeschlacht  anzunehmen 
war  er  freilich  zu  schwach,  und  auf  der  Insel  wollte  er  sich 
nicht  einschließen  lassen;  er  raffte  also  zusammen,  was  er  an 
Truppen  noch  hatte,  und  ging  nach  dem  nahen  Festland 
hinüber.  Hier  traf  er  bei  Malene  am  unteren  Kaikos,  im  Gebiet 
von  Atarneus,  auf  ein  starkes  persisches  Heer  unter  Harpagos; 
er  nahm  die  Schlacht  an,  die  der  Gegner  ihm  bot,  und  seine 
Truppen  hielten  lange  Zeit  wacker  stand,  mußten  aber  endlich 
dem  Angriff  der  feindlichen  Reiterei  weichen  (Juni  493). 
Auf  der  Flucht  fiel  Histiaeos  in  die  Hände  der  Sieger;  er 
wurde  nach  Sardes  vor  Artaphernes  geführt  und  auf  dessen 
Befehl  hingerichtet  ^.  Es  bleibt  sein  Ruhm,  daß  er  trotz 
seinen  vertrauten  Beziehungen  zu  Dareios  keinen  Augenblick 
gezögert  hat,  sich  auf  die  Seite  seiner  Landsleute  zu  stellen; 
hätte  man  ihm  zu  rechter  Zeit  den  Oberbefehl  übertragen, 
so  würde  der  Ausgang  des  Aufstandes  vielleicht  ein  anderer 
gewesen  sein.  Auch  so  hat  er  getan,  was  er  konnte,  um  nach 
der  Niederlage  bei  Lade  zu  retten,  was  noch  zu  retten  war; 
erst  mit  seinem  Tode  war  der  Sieg  der  Perser  entschieden. 
Ohne  Widerstand  zu  finden,  nahm  jetzt  die  phoenikische 
Flotte  Chios,  Lesbos  und  die  hellespontische  Landschaft  in 
Besitz^;  der  Tyrann  des  thrakischen  Chersones,  Miltiades, 
der  sich  gleich  zu  Anfang  der  nationalen  Bewegung  ange- 
schlossen hatte,  rettete  sich  durch  die  Flucht  nach  Athen  *. 
Natürlich  hatten  die  abgefallenen  Städte  bei  der  Wieder- 
unterwerfung zum  Teil  schwer  zu  leiden,  sonst  aber  ließen 
die  Perser  Milde  walten  und  waren  vielmehr  bemüht,  die 
Wunden,  welche  der  Krieg  geschlagen  hatte,  zu  heilen.     Der 


^  Herod.  VI  26 — 30.     Die  Jahreszeit  der  Schlacht  ergibt  sich  aus  c.  28 
bmßalvei,  ^k  toO  'Arapvioc,  vjq  dunaujv  töv  aiTov. 

2  Herod.  VI  31—33. 

3  Herod.  VI  41,    Auch  Lemnos  und  Imbros  sind  damals  wieder  persisch 
geworden  (Herod.  VIII  73). 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  2 


18  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 


Gesamtbetrag  der  Tribute  wurde  nicht  erhöht,  aber  auf 
Grund  einer  Art  roher  Landesvermessung  gerechter  verteilt; 
das  Fehderecht  der  Gemeinden  wurde  aufgehoben,  und  be- 
stimmt, daß  Streitigkeiten  künftig  durch  Schiedsspruch 
geschlichtet  werden  sollten.  Die  Tyrannen,  soweit  sie  der 
persischen  Sache  treu  geblieben  waren,  wurden  wieder  in  ihre 
Würde  eingesetzt;  in  den  übrigen  Städten  ließ  man  die 
demokratischen  Verfassungen  bestehen,  wie  sie  während  des 
Aufstandes  eingeführt  worden  waren.  Man  hoffte  so  die 
asiatischen  Griechen  mit  der  persischen  Herrschaft  zu  ver- 
söhnen und  einem  Wiederausbruch  des  Aufstandes  vorzu- 
beugen ^. 

Es  galt  nun,  die  persische  Herrschaft  in  Thrakien  wieder- 
herzustellen. Zu  diesem  Zwecke  sandte  der  König  seinen 
Schwiegersohn  Mardonios  mit  Verstärkungen  nach  Klein- 
asien, und  übertrug  ihm  den  Oberbefehl  über  die  dort  stehen- 
den Streitkräfte.  Im  Sommer  492  überschritt  er  den  Hellespont 
und  zog,  von  einer  starken  Flotte  begleitet,  nach  Westen. 
Die  griechischen  Städte  unterwarfen  sich  ohne  Schwertstreich, 
auch  Thasos,  das  bisher  seine  Unabhängigkeit  behauptet 
hatte;  ebenso  kehrte  Makedonien  ohne  weiteres  zu  seiner 
Lehnspflicht  zurück.  Nur  mit  den  thrakischen  Bergvölkern 
hatte  Mardonios  zu  kämpfen;  die  Bryger  an  der  makedonischen 
Grenze  wagten  sogar  einen  Überfall  auf  sein  Lager,  wobei 
Mardonios  selbst  eine  Wunde  erhielt.  Da  inzwischen  der 
Herbst  herangekommen  war,  beschloß  man  nach  Asien  zurück- 
zugehen; dabei  erlitt  die  Flotte,  während  der  Umschiffung 
des  Athos,  durch  einen  Sturm  sehr  schwere  Verluste.  Doch 
der  Zweck  des  Zuges  war  erreicht  worden,  und  persische  Garni- 


1  Herod.  VI  42.  43.  Die  Angabe  Herodots,  rovc,  yoip  xupdvvouc;  tujv 
Mdbviuv  Kaxa-noLvaac,  6  Mapbövioq  brnnoKpaTiai;  KaTiaxa  i.(;  zäc,  n6\ia<i  (VI 
43)  kann  nur  mit  der  oben  gegebenen  Einschränkung  richtig  sein;  denn  wir 
finden  Strattis  als  Tyrann  von  Chics  im  Jahr  479  (VIII  132)  wie  zur  Zeit 
des  Skythenzuges  (IV  138),  und  auf  Aeantides  von  Lampsakos  sind  seine 
Söhne  gefolgt,  die  erst  um  490  großjährig  sein  konnten  (Thuk.  VI  59,  3,  vgl. 
Herod.  IV  138,  und  oben  I  2  S.  300). 


Mardonios  in  Thrakien.  —  Zerstörung  von  Eretria.  19 

sonen   sicherten   fortan    die   wichtigsten    Festungen   an    der 
thrakischen  Südküste  ^ 

Jetzt  blieb  noch  übrig,  Athen  und  Eretria  zur  Rechen- 
schaft zu  ziehen  für  die  Unterstützung,  die  sie  dem  Aufstand 
gewährt  hatten.  Dazu  mußte  zunächst  die  Flotte  wieder 
instand  gesetzt  werden,  die  am  Athos  so  schwer  gelitten  hatte, 
und  darüber  verging  der  folgende  Sommer;  endlich  im  Früh- 
jahr 490  war  alles  bereit,  und  die  neue  Flotte,  mit  Landungs- 
truppen an  Bord,  konnte  von  Kilikien  aus  in  See  gehen. 
Mardonios,  der  für  die  Katastrophe  am  Athos  die  Verant- 
wortung trug,  war  abberufen  worden,  und  der  Befehl  wurde 
einem  Brudersohne  des  Königs,  Artaphernes,  übertragen, 
dem  Sohne  des  Satrapen  von  Sardes;  ein  erfahrener  Offizier, 
der  Meder  Datis,  wurde  ihm  als  eigentlicher  Leiter  des  Unter- 
nehmens zur  Seite  gestellt.  Die  Flotte  ging  zunächst  nach 
lonien,  zog  die  Kontingente  der  griechischen  Küstenstädte 
an  sich  und  wandte  sich  dann  gegen  Naxos,  das  vor  10  Jahren 
der  Belagerung  durch  die  Perser  getrotzt  hatte.  Diesmal 
wagten  die  Bewohner  keine  Verteidigung  und  flüchteten 
in  die  Berge  im  Innern  der  Insel;  die  verlassene  Stadt  wurde 
von  den  Persern  niedergebrannt.  Die  übrigen  Kykladen 
unterwarfen  sich  nun  ohne  Widerstand;  die  heilige  Insel 
Delos  wurde  mit  aller  Rücksicht  behandelt,  die  Tempelschätze 
nicht  angetastet,  und  Datis  selbst  brachte  am  Altar  Apollons 
ein  feierliches  Rauchopfer  dar.  Karystos  auf  Euboea  ergab  sich 
nach  kurzer  Belagerung.  Das  nächste  Ziel  der  Flotte  war 
Eretria.  Die  Bürger  wußten,  daß  sie  auf  keine  Schonung 
zu  rechnen  hatten,  glaubten  aber  im  Vertrauen  auf  die  Stärke 
der  Mauern,  sich  halten  zu  können,  bis  aus  Athen  Hilfe  herbei- 
käme. Doch  schon  nach  kurzer  Berennung  öffnete  Verrat 
dem  Feinde  die  Tore,  die  reiche  Stadt  wurde  geplündert  und 
niedergebrannt,  die  Bewohner  gefangen  fortgeführt  und 
später  von  Dareios  in  der  Nähe  von  Susa  angesiedelt  ^.  Eretria 

^  Herod.  VI  43 — 45  und  unten  2.  Abt.  §  34.  Über  die  persischen  Garni- 
sonen Herod.  VII  105—107. 

2  Herod.    VI  94 — 101.    Ein    öxpeTTTÖv  xpucxoOv ActTiboc;  dvd9r||ua 

wird  in  dem  delischen  Schatzinventar  von  279  (Michel  833  Z.  95)  aufgeführt. 

2* 


20  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

ist  zwar  bald  wieder  aufgebaut  worden,  hat  aber  die  Folgen 
dieser  Katastrophe  nie  ganz  überwunden. 

Bis  jetzt  war  den  Persern  alles  nach  Wunsch  gegangen; 
aber  es  blieb  noch  der  schwierigste  Teil  ihrer  Aufgabe:  die 
Bestrafung  Athens.  Doch  Datis  rechnete  darauf,  daß  ihm 
auch  hier  innerer  Zwist  den  Weg  bahnen  würde.  Denn  die 
Peisistratiden  hatten  noch  immer  zahlreiche  und  mächtige  An- 
hänger; ja,  der  Führer  dieser  Partei,  Hipparchos  aus  Kollytos, 
selbst  ein  naher  Verwandter  des  Tyrannenhauses,  war  noch 
vor  wenigen  Jahren  zum  höchsten  Amte  des  Staates  gelangt 
(496/5),  und  sein  Einfluß  hat  es  ohne  Zweifel  bewirkt,  daß 
Athen  fortan  sich  dem  Kriege  gegen  Persien  fernhielt  (vgl. 
oben  S.  13).  Und  die  großen  militärischen  Erfolge,  welche 
die  Perser  in  den  letzten  Jahren  errungen  hatten,  mehr  als 
alles  der  frische  Eindruck  der  furchtbaren  Katastrophe  von 
Eretria,  mußten  weite  Kreise  zu  der  Überzeugung  bringen, 
daß  jeder  Widerstand  doch  vergeblich  sein  würde,  und  es  das 
Beste  wäre,  die  Rettung  des  Staates  durch  Wiederaufnahme 
der  Tyrannen  zu  erkaufen.  Darum  hatte  Peisistratos'  Sohn 
Hippias,  der  noch  immer  in  Sigeion  als  persischer  Vasallen- 
fürst lebte,  sich  der  Expedition  angeschlossen^;  auf  seinen 
Rat  sah  Datis  von  einer  Landung  im  Angesicht  von  Athen 
ab  und  schiffte  sein  Heer  in  der  Bucht  von  Marathon  aus, 
da,  wo  Peisistratos  vor  jetzt  60  Jahren,  ebenfalls  von  Eretria 
kommend,  gelandet  war,  um  seinen  Siegeszug  nach  Athen 
anzutreten.  Man  wollte  dem  Verrat  Zeit  lassen,  in  der  Stadt 
sein  Werk  zu  tun  ^. 

Indes  die  Männer,  die  an  der  Spitze  Athens  standen, 
waren  entschlossen,  alles  an  die  Rettung  der  Freiheit  zu 
setzen,  allen  voran  Miltiades,  der  frühere  Herrscher  des 
thrakischen  Chersones,  der  vor  3  Jahren  von  den  Persern 
vertrieben  worden  war   (oben  S.  17)  ^.     Durch   seine  einfluß- 


1  Herod.  VI  107,  Thuk.  VI  59,  4,  Suidas  '\Tzmac;  b;  die  Zweifel  von  Wila- 
mowitz  (Aristot.  1  112)  sind  nur  subjektiver  Natur. 

2  Herod.  VI  107. 

^  Er  soll  damals,  bei  seiner  Rückkehr  nach  Athen  Tupavvibo(;  rf)?   ^v 
Xepaovriöiu  angeklagt  worden  sein  (Herod.  VI  104).    [Demosth.  ]  gAristog.  II  6 


Marathon.  21 

reichen  Familienverbindungen  und  seinen  fürstlichen  Reich- 
tum war  er  rasch  zu  leitendem  Einfluß  gelangt  ^,  und  eben 
jetzt  war  er  einer  der  zehn  Strategen,  die  das  attische  Heer 
befehligten.  Als  solcher  setzte  er  einen  Volksbeschluß  durch, 
sich  nicht  auf  die  Verteidigung  der  Stadt  zu  beschränken, 
sondern  dem  Feinde  entgegenzuziehen  und  es  auf  eine  Schlacht 
ankommen  zu  lassen  ^.  Das  Landgebiet  wurde  damit  vor  den 
Verheerungen  des  Feindes  geschützt,  und  vor  allem  die  Machen- 
schaften der  Verräter  im  Keime  erstickt.  Das  Heer  rückte 
also  ins  Feld  und  nahm  auf  den  Höhen,  welche  die  Ebene 
von  Marathon  umkränzen,  eine  die  Straße  nach  Athen  deckende 
Stellung.  Gleichzeitig  sandte  man  nach  Sparta  um  Bundes- 
hilfe; es  mußten  aber  im  besten  Fall  etwa  14  Tage  vergehen, 
ehe  diese  Hilfe  zur  Stelle  sein  konnte. 

Es  mochten  etwa  6 — 7000  Hopliten  sein,  die  hier  ver- 
sammelt standen;  dazu  kam  mindestens  die  gleiche  Zahl 
leichter  Truppen  und  ein  kleines  Hilfskorps  aus  dem  ver- 
bündeten Plataeae.  Bei  der  Schwierigkeit,  große  Truppen- 
massen in  einem  Transporte  zur  See  zu  befördern,  ist  es 
sehr  fraglich,  ob  die  persische  Flotte  eine  viel  stärkere  Zahl 


S.  802  verwechselt  diesen  Prozeß  mit  dem  anderen,  in  dem  Miltiades  wenige 
Jahre  später  verurteilt  wurde;  die  Vermutung  hegt  nahe,  daß  es  sich  überhaupt 
nur  um  ein  Duplikat  dieses  letzteren  Prozesses  handelt  Vgl.  Nepos  Mut.  8, 
wo  die  Tyrannis  im  Chersones  als  Hauptursache  der  Verurteilung  im  Prozeß  von 
489  bezeichnet  wird. 

^  Herod.  VI  132  MiXTidbri?  koI  irpörepov  (vor  Marathon)  eöboKi|Liduiv 
irapä  Aerivaioi0i.  Aristo t.  ATT.  28,  2  tou  jli^v  bri|uou  irpoeiaTriKei  Zolvönriroq, 
Tiijv  bi  Yvujp{|uaiv   MiXiTictbrii;.    Vgl.  unten  2.  Abt.   §  50. 

^  Das  Psephisma  des  Miltiades  bezeugt  von  Kephisodotos  bei  Aristot. 
Rhet.  III 10  S.  1411  a  (beiv  dEi^vai  tö  Mi\Tidbou  vjjriqpiö|ua),  Demosth.  vdGes.  303 
(Aeschines  hatte  es  einmal  verlesen  lassen),  Plut.  QuaesL  conv.  I  10,  3  S.  628. 
Herodot  (VI  109)  läßt  statt  dessen  die  Strategen  erst  im  Lager  bei  Marathon 
darüber  beraten,  ob  man  schlagen  solle  oder  nicht,  was  ja  dramatisch  viel  wirk- 
samer ist.  Wenn  Spätere  (lustin.  II  9,  10,  Suidas  'iTririag  a,  Nep.  Mut.  4) 
den  Kriegsrat  in  der  Stadt  vor  dem  Ausmarsch  halten  lassen,  so  ist  das  sachHch 
ganz  richtig,  aber  offenbar  nur  Korrektur  des  Berichts  Herodots.  Daraus  ergibt 
sich  zugleich,  daß  die  Zweifel,  ob  Athen  damals  befestigt  war,  ganz  unbegründet 
sind,  was  übrigens  auch  ohne  das,  abgesehen  von  der  Analogie  von  Städten 
wie  Argos  und  Theben,  aus  Thuk.  I  89,  3  und  93,  2  deutUch  hervorgeht. 


22  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

von  Kombattanten  an  Bord  hatte,  und  namentlich  die  furcht- 
barste Waffe  des  persischen  Heeres,  die  Reiterei  konnte,  wenn 
überhaupt,  nur- in  sehr  geringer  Zahl  vertreten  sein  ^;  die 
Rudermannschaften  aber  waren  für  einen  Kampf  zu  Lande 
fast  vollständig  wertlos.  Unter  diesen  Umständen  zögerten 
die  Perser  mit  dem  Angriff;  die  Athener  andererseits  konnten 
gar  nichts  Besseres  wünschen,  als  die  Entscheidung  bis  zur 
Ankunft  der  spartanischen  Bundesgenossen  hinauszuschieben. 
Die  entgegengesetzte  Erwägung  veranlaßte  endlich  den 
persischen  Befehlshaber  Datis,  die  Schlacht  auch  auf  un- 
günstigem Terrain  zu  erzwingen,  sobald  er  von  dem  Aus- 
marsche der  Spartaner  Kunde  erhielt  ^;  aber  seine  leicht - 
gerüsteten  Truppen  hielten  dem  Stoße  der  griechischen 
Hopliten  nicht  stand.  Unter  großen  Verlusten  wurden  die 
Perser  nach  ihrem  Schiffslager  gedrängt,  das  sie  mit  allen 
Kräften  zu  halten  suchten.  In  der  Tat  gelang  es,  die  Flotte 
zu  retten  und  die  Einschiffung  zu  bewerkstelligen;  nur  7 
Schiffe  blieben  in  der  Hand  der  Athener.  Von  den  Barbaren 
sollen  6400  die  Walstatt  bedeckt  haben;  und  mag  die  Zahl 
auch  weit  übertrieben  sein,  daß  die  Niederlage  eine  sehr  schwere 
war,  zeigen  die  umfassenden  Vorbereitungen,  die  für  den  näch- 
sten Feldzug  nach  Griechenland  getroffen  wurden.  Der  Verlust 
der  Sieger  betrug  nur  192  Mann,  darunter  aber  der  Polemarch 
Kallimachos  von  Aphidna,  und  einer  der  Strategen,  Stesileos  ^ 


^  Herodot  gibt  keine  Zahlen,  und  die  Angaben  Späterer  beruhen  offen- 
bar nur  auf  Schätzung.     Näheres  unten  2.  Abt.   §  33. 

^  Daß  die  Spartaner  versprochen  hatten,  zuna  Vollmonde  auszurücken 
(Herod.  VI  107),  können  die  attischen  Strategen  vor  ihrem  Heere  nicht  ge- 
heim gehalten  haben,  und  mußte  man  also,  durch  Überläufer  oder  Gefangene, 
auch  im  persischen  Hauptquartier  wissen.  Da  nun  die  Spartaner  gleich  nach 
der  Schlacht  (Herod.  VI  120,  Plat.  Menex.  240  c,  Gesetze  III  698  e)  eintrafen, 
so  muß  es  eben  die  Rücksicht  auf  diese  Verstärkung  des  Feindes  gewesen  sein, 
die  Datis  zum  Angriff  bestimmte.  So  hat  Cornelius  Nepos'  {Mut.  5)  Gewährs- 
mann die  Sache  aufgefaßt.  Daß  die  Spartaner  die  reichlich  200  km,  zum  Teil 
auf  schlechten  Bergpfaden,  von  Sparta  nach  Athen  nicht,  wie  Herodot  angibt, 
in  3  Tagen  zurücklegen  konnten,  bedarf  keiner  Bemerkung;  sie  hatten  aller- 
mindestens 5  Tage  nötig. 

^  Die  älteste  Darstellung  der  Schlacht  gab  das  Gemälde  des  Mikon  und 
Paeanios,  in  der  „bunten  Halle",  um  460,  beschrieben  von  Paus.  I  15,  3,  vgl. 


Marathon.  23 

Datis  gab  auch  jetzt  seine  Sache  noch  nicht  verloren; 
er  hoffte,  das  von  Verteidigern  entblößte  Athen  im  Einver- 
ständnis mit  Hippias'  Parteigenossen  durch  einen  Hand- 
streich zu  nehmen.  In  dieser  Absicht  umschiffte  er  Kap  Sunion 
und  erschien  mit  seiner  Flotte  auf  der  Reede  von  Phaleron, 
im  Angesicht  der  Stadt.  Aber  er  kam  zu  spät;  das  siegreiche 
Heer  war  bereits  von  der  Walstatt  zurückgekehrt  und  lagerte 
unter  den  Mauern.  Eine  neue  Schlacht  konnten  die  Perser 
natürlich  nicht  wagen,  um  so  weniger,  als  die  Spartaner  schon 
ganz  nahe  waren;  es  blieb  also  nichts  übrig  als  die  Rückkehr 
nach  Asien  ^.  Dem  greisen  Hippias  brach  über  der  Vernichtung 
seiner  Hoffnungen  das  Herz;  er  soll  gestorben  sein,  noch 
ehe  er  sein   Sigeion  wiedererreichte  ^. 

So  war  Attika  von  der  Invasion  befreit,  und  alle  Pläne 
einer  monarchischen  Restauration  zerrannen  in  ihr  nichts. 
Aber  noch  viel  größer  als  die  materielle  war  die  moralische 
Bedeutung  des  Sieges.  Zum  erstenmal  waren  die  Perser 
in  einer  großen  Landschlacht  geschlagen  worden.  Allerdings 
war  der  Erfolg  hauptsächlich  dem  Umstände  zu  danken,  daß 
der  Feind  keine  Reiterei  zur  Verfügung  gehabt  hatte.  Doch 
gleichviel;  der  Nimbus  der  Unbesiegbarkeit,  der  bis  dahin 
die  Eroberer  Asiens  in  den  Augen  der  Hellenen  umgeben 
hatte  ^,  war  mit  diesem  Tage  zerstört.    Mochten  die  Barbaren 


den  Rekonstruktionsversuch  von  Robert,  i8.  Hallisches  Winckelmannsprogramtity 
1895,  und  B.  Schröder,  Jahrb.  Arch.  Inst.  XXVI,  1911,  S.  281  ff.  Die  Haupt- 
züge dieser  Darstellung  kehren  bei  Herodot  wieder  (VI  109 — 117),  von  dem 
alle  anderen  Quellen  abhängig  sind;  was  sie  mehr  bieten,  ist  wertlos  oder  un- 
wesentlich. Das  richtige  Verständnis  der  Schlacht  verdanken  wir  Delbrück, 
Perserkriege  und  Burgunderkriege  S.  52 — 85.  Die  topographischen  Fragen  be- 
handelt LoUing,  Ath.  Mitt.  I,  1876,  S.  88  ff.  Inzwischen  hat  die  Aufgrabung 
des  öUJpöq  gezeigt,  daß  dieser  Hügel  wirklich  das  Grabmal  der  Marathon- 
kämpfer ist  (Thuk.  II  34,  5,  Paus.  I  32,  3,  Stais,  Ath.  Mut.  XVIII,  1893  S.  46  ff.); 
die  Schlacht  ist  also  in  dem  südlichen  Teile  der  Ebene  geschlagen  worden.  Daß 
das  heutige  Dorf  Marathon  nicht  dem  antiken  Demos  entspricht,  ist  klar,  viel- 
mehr hat  der  Demos  dem  Meer  näher  gelegen  (Milchhöfer,  Karten  von  Attika y 
Text  III  51  ff.).     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  23. 

1  Herod.  VI  115—118. 

^  Suidas  MuTTiac;.     Nach  lustin.  II  9,  21  wäre  er  bei  Marathon  gefallen. 

3  Herod.  VI  112. 


24  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

immerhin  mit  größerer  Macht  ihren  Angriff  erneuern,  die 
Nation  konnte  mit  Selbstvertrauen  der  Zukunft  entgegen- 
sehen. 

Auf  persischer  Seite  war  man  sich  keinen  Augenblick 
darüber  zweifelhaft,  daß  die  Scharte  von  Marathon  ausgewetzt 
werden  müsse.  Man  hatte  den  Feind  unterschätzt,  den  Feldzug 
mit  unzureichenden  Mitteln  unternommen;  es  galt  den  Versuch 
in  größerem  Maßstabe  zu  wiederholen.  Aber  über  den 
Rüstungen  zu  diesem  Zuge  starb  Dareios,  im  fünften  Jahre 
nach  dem  Tage  von  Marathon  (485);  und  sein  Nachfolger 
Xerxes  hatte  erst  Aufstände  in  Aegypten  und  Babylonien 
niederzuschlagen,  ehe  er  daran  gehen  konnte,  die  Pläne  seines 
Vaters  gegen  Griechenland  wieder  aufzunehmen  ^.  So  war 
Hellas  nach  Marathon  eine  zehnjährige  Ruhe  gegönnt. 

Aber  nur  in  Athen,  das  freilich  zunächst  bedroht  war, 
benutzte  man  die  Frist,  sich  gegen  den  kommenden  Angriff 
zu  stärken.  Gleich  im  Jahre  nach  der  Schlacht  bei  Marathon 
machte  Miltiades  den  Versuch,  an  der  Spitze  der  gesamten 
athenischen  Flotte  die  Kykladen  zum  Abfall  von  den  Persern 
zu  bringen  ^.  Es  gelang  ihm  auch  wirklich,  die  westliche 
Inselreihe  von  Keos  bis  Melos  zum  Anschluß  an  Athen  zu 
bewegen  ^,  aber  die  übrigen  Kykladen  hielten  an  dem  per- 
sischen Bündnis  fest,  und  die  Belagerung  von  Paros,  die 
Miltiades  darauf  unternahm,  blieb  erfolglos.  Die  Alkmeoniden 
ließen  sich  die  günstige  Gelegenheit  zum  Sturz  ihres  Gegners 
nicht  entgehen.  Bei  seiner  Rückkehr  wurde  Miltiades  von 
Xanthippos  von  Cholargos  vor  Gericht  gezogen,  dem  Führer 
der  Volkspartei,  der  Kleisthenes'  Nichte  Agariste  zur  Frau 
hatte.  Die  Geschworenen  sprachen  zwar  über  den  Sieger 
von  Marathon  nicht  das  Todesurteil,  wie  die  Anklage  be- 
antragt hatte,  legten  ihm  aber  eine  hohe  Geldbuße  auf.  Kurze 
Zeit  nachher  starb  Miltiades  an  einer  Wunde,  die  er  vor  Paros 


1  Herod.  VII  1—8.     Über  den  Aufstand  in  Babylonien  Ktes.  29,  21  f., 
vgl.  E.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  III  S.  131. 

2  Herod.  VI  132  ff.,  Ephor.  fr.  107,  aus  ihm  Nepos  Mut.  7. 

^  Diese  Inseln  haben  später  zur  griechischen  Flotte  gegen  Xerxes  Schiffe 
gestellt,  während  die  übrigen  Kykladen  mit  den  Persern    im  Bunde  standen. 


Persische  Rüstungen.  —  Miltiades'  Ende.  —  Krieg  mit  Aegina.        25 

erhalten  hatte  ^.  Die  Angriffspolitik  gegen  Persien  wurde 
jetzt  fallen  gelassen;  man  machte  nicht  einmal  den  Versuch, 
Lemnos  und  Imbros  wieder  zu  gewinnen,  die  nach  dem 
ionischen  Aufstand  verloren  gegangen  waren  ^. 

Statt  dessen  ließ  Athen  sich  in  einen  Krieg  mit  dem 
benachbarten  Aegina  verwickeln  (488)  ^,  der  während  der 
nächsten  Jahre  alle  seine  Kräfte  in  Anspruch  nahm.  Die 
kleine  Insel  war,  wie  wir  wissen,  einer  der  Hauptplätze  der 
griechischen  Industrie  und  des  griechischen  Handels;  ihre 
Marine  die  tüchtigste  und  stärkste  in  der  ganzen  griechischen 
Welt,  seit  die  Seemacht  Athens  nach  dem  Sturze  der  Peisistra- 
tiden  verfallen  war,  und  die  Schlacht  bei  Lade  die  Seemacht 
loniens  gebrochen  hatte.  Athen  war  die  benachbarte  Insel 
schon  lange  ein  Dorn  im  Auge;  jetzt  endlich  schienen  innere 
Wirren  auf  Aegina  den  Athenern  die  erwünschte  Gelegenheit 
zu  geben,  ihre  alten  Feinde  zu  demütigen. 


1  Herod.  VI  136,  Nepos  Mut.  8.  Über  Xanthippos  unten  2.  Abt.  §  15. 
Die  Buße  hätte  nach  Herodot  50  tal.  betragen,  die  Miltiades'  Sohn  Kimon 
nach  dem  Tode  des  Vaters  bezahlt  hätte.  Die  Späteren  haben  sich  den  Kopf 
darüber  zerbrochen,  woher  denn  Kimon  das  viele  Geld  genommen  hätte;  sie 
lassen  den  reichen  Kallias  eingreifen  (Nepos  Cim.  1),  oder  Kimon  eine  reiche 
Erbtochter  heiraten  (Wilamowitz,  Aristot.  u.  Athen  II  82,  Anm.  18).  Aber  noch 
ein  halbes  Jahrhundert  später,  als  Athen  auf  der  Höhe  seiner  Macht  stand, 
hat  es  dort  kaum  jemand  gegeben,  der  50  tal.  besessen  hätte  (s.  unten  Abschn.  III) ; 
es  ist  also  klar,  daß  die  Summe  sehr  übertrieben  ist. 

^  Im  Jahre  480  stellte  Lemnos  ein  Schiff  zur  persischen  Flotte,  das  freiUch 
bei  der  ersten  Gelegenheit  zu  den  Athenern  überging  (Herod.  VIII  11). 

^  Die  Zeit  ergibt  sich  aus  dem  Orakel,  das  Herodot  V  89  an  falscher  Stelle 
erwähnt,  wonach  zwischen  dem  Beginn  dieses  und  des  nächsten  Krieges  gegen 
Aegina  (458)  30  Jahre  verflossen  sind  (vgl.  Köhler,  Rh.  Mus.  XLVI,  1891, 
S.  1  ff.).  Im  Jahre  489  war  jedenfalls  noch  Frieden,  da  Miltiades  seine  parische 
Expedition  sonst  nicht  hätte  unternehmen  können.  Andererseits  muß  der  Krieg 
483,  als  Themistokles  sein  Flottengesetz  einbrachte,  bereits  einige  Jahre  gewährt 
haben.  Wenn  Herodot  den  Ausbruch  des  Krieges  vor  Marathon  erzählt  (VI 
87 — 93),  so  erklärt  sich  das  daraus,  daß  er  den  ersten  Anlaß  dazu  in  der  angeb- 
lichen Unterwerfung  der  Aegineten  unter  König  Dareios  sieht,  die  491  erfolgt 
wäre  (VI  49 — 50,  85 — 86),  und  den  einmal  begonnenen  Bericht  darüber  nicht 
unterbrechen  will.  Eine  Dittographie  dieses  Berichtes  ist,  was  Herodot  V  82 — 87 
von  einem  älteren  Krieg  zwischen  Athen  und  Aegina  erzählt,  dessen  Zeit  er 
unbestimmt  läßt  (Wilamowitz,  Aristot.  u.   Athen  II  280  ff.). 


26  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

Aegina  hatte  sich  seine  aristokratische  Verfassung  be- 
wahrt; aber  auch  hier  gab  es  eine  zahlreiche  Partei,  die  auf 
den  Umsturz  des  Bestehenden  hinarbeitete  und  mit  Hilfe  der 
athenischen  Demokratie  ihr  Ziel  zu  erreichen  hoffte^.  Indes 
der  Aufstand  brach  aus,  ehe  die  Athener  zur  Stelle  waren, 
und  wurde  so  von  der  Regierung  mit  leichter  Mühe  unter- 
drückt. Allerdings  gelang  es  den  Athenern,  ein  Landungs- 
korps auf  die  Insel  zu  werfen,  den  Aegineten  aber  kam  Hilfe 
aus  Argos,  die  athenischen  Truppen  auf  Aegina  erlitten  eine 
schv/ere  Niederlage  und  mußten  die  Insel  räumen,  auch 
zur  See  wurden  die  Athener  mit  dem  Verlust  von  vier  Schiffen 
geschlagen.  Die  aeginetische  Flotte  beherrschte  jetzt  das 
Meer,  und  die  attische  Küste  lag  ihren  Verheerungen   offen. 

Um  die  Zeit  als  der  Krieg  mit  Aegina  ausbrach,  gleich 
nach  Miltiades' Sturze,  war  in  Athen  eine  einschneidende  Ver- 
fassungsänderung im  demokratischen  Sinne  erfolgt.  Der 
Staat  hatte  vor  der  Gefahr  der  Tyrannis  gestanden;  es  galt 
für  die  Zukunft  ihre  Wiederkehr  zu  verhindern.  Man  schritt 
darum  zu  einer  Beschränkung  der  Macht  der  Beamten.  Die 
Archonten  waren  zwar  längst  nicht  mehr  das,  was  sie  zur  Zeit 
Solons  gewesen  waren;  namentlich  der  Polemarch  hatte  den 
Oberbefehl  im  Kriege  verloren  und  war  zum  Verwaltungs- 
beamten geworden,  aber  auch  als  solcher  hatte  er  noch  eine 
sehr  einflußreiche  Stellung,  zog  mit  ins  Feld  und  führte  den 
Vorsitz  im  Kriegsrat.  Und  der  erste  Archon  war  auch  jetzt 
der  Präsident  des  attischen  Staates,  der  der  Politik  ihre 
Richtung  gab.  Noch  vor  wenigen  Jahren  war  Hipparchos 
aus  Kollytos,  der  Verwandte  und  Anhänger  der  Peisistratiden, 
zu  diesem  Amte  gelangt;  wer  bürgte  dafür,  daß  es  künftig, 
vielleicht  in  einem  kritischen  Augenblick,  nicht  wieder  zu 
einer  ähnlichen  Wahl  käme?  Es  wurde  also  bestimmt  (488/7), 
daß  fortan  die  neun  Archonten  nicht  mehr  durch  Wahl, 
sondern  durch  das  Los  bestellt  werden  sollten,  und  zwar  aus 


*  Nach  dem  athenischen  Bericht,  dem  Herod.  VI  87  folgt,  hätten  die 
Aegineten  die  Feindsehgkeiten  begonnen,  indem  sie  ein  athenisches  Schiff 
wegnahmen,  das  Festgesandte  nach  Sunion  führten.  Das  sieht  sehr  wie  ein 
Versuch  aus,  den  von  den  Athenern  begangenen  Friedensbruch  zu  beschönigen. 


Verfassungsrefonn  in  Athen.  27 

einer  Anzahl  von  den  einzelnen  Demen  erwählter  Kandidaten, 
die  den  beiden  oberen  Schatzungsklassen  angehörten;  die 
durch  das  Los  bezeichneten  hatten  sich  dann  noch  vor  dem 
Rate  einer  Prüfung  zu  unterziehen.  So  war  es  möglich,  alle 
unzuverlässigen  Elemente  von  dem  Amte  fernzuhalten;  auch 
war  es  klar,  daß  ein  beliebiger  Bürger,  der  durch  das  Los 
Archon  wurde,  bei  weitem  nicht  die  Autorität  haben  konnte, 
wie  ein  Parteiführer,  hinter  dem  die  Majorität  der  Wähler 
stand.  Schon  dadurch  mußte  das  Amt  einen  großen  Teil 
seiner  Bedeutung  verlieren.  Aber  es  wäre  überhaupt  ein 
Widersinn  gewesen,  dem  erlosten  Archon,  der  vielleicht  ein 
ganz  unfähiger  Mensch  war,  die  Kompetenz  zu  belassen, 
die  der  erwählte  Archon  gehabt  hatte.  Es  wurde  also  den 
Archonten  der  größte  Teil  ihrer  bisherigen  Machtbefugnis 
entzogen,  und  es  blieb  ihnen  nichts  weiter  als  die  Instruktion 
der  Prozesse,  die  zu  dem  Amtsbereich  eines  jeden  von  ihnen 
gehörten,  und  eine  Reihe  von  Verwaltungsgeschäften  ohne 
politische  Wichtigkeit.  Die  Leitung  der  Zivilverwaltung 
ging  nun  an  den  Rat  der  Fünfhundert  über,  die  der  Militär- 
verwaltung an  die  Strategen,  von  denen  einer  den  Vorsitz 
im  Kriegsrate  erhielt,  den  bisher  der  Polemarch  gehabt  hatte. 
Wie  früher  der  Polemarch,  so  wurde  fortan  der  Vorsitzende 
Stratege  aus  allen  Athenern  gewählt,  während  die  übrigen 
Mitglieder  des  Kollegiums  wie  bisher  aus  den  einzelnen  Phylen 
gewählt  wurden.  Diese  Erweiterung  der  Kompetenz  der 
Strategen  hatte  dann  zur  Folge,  daß  sie  den  Befehl  über  die 
aus  den  Kontingenten  der  einzelnen  Phylen  gebildeten  Ab- 
teilungen des  Bürgerheers  nicht  länger  führen  konnten; 
vielmehr  wurde  es  nötig,  zu  diesem  Zweck  eine  neue  Charge 
zu  schaffen,  die  Taxiarchen,  die  gleichfalls  durch  Volkswahl 
ernannt  wurden.  Die  Strategen  widmeten  sich  den  Ver- 
waltungsgeschäften, und  übernahmen  im  Kriege,  je  nach 
Bedarf,  den  Oberbefehl  über  die  Heere  und  Flotten.  Da  sie 
jetzt,  von  den  untergeordneten  Befehlshaberstellen  abgesehen, 
die  einzige  Behörde  bildeten,  die  durch  Wahl  besetzt  wurde, 
wurde  die  Strategie  das  einflußreichste  Amt  des  Staates, 
um  so  mehr,  als  man  trotz  alles  demokratischen  Mißtrauens 


28  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

verständig  genug  war,  nach  Ablauf  des  Amtsjahres  die  Wieder- 
wahl zu  gestatten.  Der  Vorsitzende  des  Strategenkollegiums 
wurde  so,  in  gewissem  Sinne,  zum  Präsidenten  der  athenischen 
Republik,  wie  früher  der  erste  Archon.  Aber  er  war,  unter 
seinen  Amtsgenossen,  doch  nur  primus  inter  pares,  er  hatte 
keinen  Einfluß  auf  die  Zivilverwaltung  und  war  namentlich 
finanziell  vollständig  vom  Rate  abhängig;  so  schien  das  Amt, 
auch  in  den  Händen  eines  ehrgeizigen  Mannes,  der  Freiheit 
nicht  gefährlich  zu  sein.  Und  niemand  konnte  damals  voraus- 
sehen, welche  Erweiterung  des  Wirkungskreises  der  Strategen 
schon  die  nächsten   Jahre  bringen  würden  ^. 


^  Direkt  überliefert  ist  von  dieser  Verfassungsreform  nur  die  Änderung 
im  Wahlmodus  der  Archonten  (Aristot.  ATT.  22,  5);  um  so  lauter  sprechen  die 
Tatsachen.  Themistokles  hat  die  Anlage  des  Kriegshafens  im  Peiraeeus  als 
Archon  begonnen  (493/2,  Thuk.  I  93,  3),  später  hat  der  Archon  mit  den  öffent- 
lichen Bauten  nichts  mehr  zu  tun.  Bei  Marathon  hat  der  Polemarch  den  Vorsitz 
im  Kriegsrat  und  in  der  Schlacht  den  Ehrenplatz  auf  dem  rechten  Flügel  (Herod. 
VI  109,  Plut.  Quaest.  conv.  I  10,  3  S.  628,  nach  Aeschylos);  später  ist  er  über- 
haupt nicht  mehr  mit  ins  Feld  gezogen,  und  schon  bei  Salamis  ist  nur  noch 
von  den  Strategen  die  Rede  oder  vielmehr  nur  von  einem  Strategen,  Themi- 
stokles, der  also  den  Vorsitz  im  Kollegium  gehabt  haben  muß.  Daß  es  einen 
solchen  Vorsitzenden,  der  im  Gegensatz  zu  seinen  Kollegen  aus  allen  Athenern 
erwählt  wurde,  im  V.  Jahrhundert  gegeben  hat,  zeigen  alle  Strategenkollegien 
dieser  Zeit,  deren  Zusammensetzung  uns  näher  bekannt  ist,  wie  ich  Att.  Polit. 
S.  280  ff.  näher  ausgeführt  habe  (vgl.  unten  2.  Abt.  §  112);  es  gibt  keine  andere 
Erklärung  der  Tatsache,  daß  sich  nie  mehr  als  zwei  Strategen  aus  derselben 
Phyle  finden,  und  daß  von  diesen  beiden  der  eine  immer  ein  hervorragender 
Staatsmann  oder  Feldherr  ist.  Daß  Aristoteles  nichts  davon  sagt,  ist  nur  ein 
neuer  Beweis  dafür,  daß  er  von  der  Verfassung  Athens  im  V.  Jahrhundert 
eine  sehr  ungenügende  Kenntnis  gehabt  hat.  Als  solche  Oberstrategen  (aTpaxrjYÖi; 
beKOTO?  auTÖi;  sagt  Thuk.  II  13,  1  von  Perikles)  haben  Themistokles,  Kimon, 
Perikles,  Nikias,  Alkibiades  den  Staat  geleitet.  Wie  die  zehnte  Phyle,  die  keinen 
Strategen  stellte,  wenn  nicht  etwa  zufällig  der  Oberstratege  ihr  angehörte, 
entschädigt  wurde,  wissen  wir  nicht;  ein  Analogon  gibt  die  Bestellung  der 
9  Archonten,  die  ebenfalls  jeder  einer  anderen  Phyle  angehörten,  während 
die  zehnte  den  Schreiber  stellte  (Aristot.  ATT.  55,  1).  —  Der  Archon  Telesinos 
(487/6),  unter  dem  Aristoteles  die  Reform  erzählt  (ATT.  22,  5),  ist  ohne  Zweifel 
der  erste  erloste  Archon,  ganz  ebenso  wie  Aristoteles  (ATT.  26,  2)  die  Zulassung 
der  Zeugiten  zum  Archontat  unter  Mnesitheides  erzählt  (457/6),  der  der  erste 
Archon  aus  dieser  Klasse  war.  Die  Reform  ist  also  im  Jahre  488/7  beschlossen 
worden,   gleichzeitig  mit  dem  Gesetz   über   den   Ostrakismos. 


Ostrakismos.  29 


Demselben  Zwecke  wie  die  Beschränkung  der  Macht 
der  Beamten  diente  ein  anderes  Gesetz,  das  in  demselben 
Jahre  vom  Volke  angenommen  wurde  ^.  Es  sollte  die  Bürger 
treffen,  die  man  im  Verdacht  hatte,  nach  der  Tyrannis  zu 
streben,  und  so  jeden  Versuch  eines  Umsturzes  der  bestehenden 
Verfassung  schon  im  Keime  ersticken.  Fortan  sollte  das  Volk 
in  jedem  Frühjahr  darüber  abstimmen,  ob  es  in  Athen  einen 
Bürger  gäbe,  welcher  der  Freiheit  gefährlich  wäre.  Bejahte 
die  Majorität  diese  Frage,  so  wurde  eine  zweite  Versammlung 
berufen,  in  der  jeder  Athener  einen  Namen  auf  ein  Stimm- 
täfelchen (öaxpaKOv)  schrieb;  daher  wurde  die  ganze  Prozedur 
als  Ostrakismos  bezeichnet.  Zur  Gültigkeit  der  Abstimmung 
war  die  Anwesenheit  von  6000  Bürgern  erforderlich,  also 
etwa  von  einem  Viertel  der  damahgen  Bürgerzahl  Attikas. 
Wer  die  meisten  Stimmen  gegen  sich  hatte,  mußte  das  Land 
auf  10  Jahre  verlassen,  blieb  aber  im  Besitze  seines  Ver- 
mögens und  trat  nach  Ablauf  der  Verbannungsfrist  wieder 
in  den  vollen  Genuß  seiner  bürgerlichen  Rechte.  Es  war  ein 
Kampfgesetz,  wie  es  das  Gebot  der  Selbsterhaltung  diktierte, 
und  nur  als  solches  ist  es  zu  rechtfertigen  und  überhaupt  zu 
verstehen  ^.  Ob  es  freilich  seinen  Zweck  erfüllt  haben  würde, 
wenn  Athen  noch  einmal  ernstlich  von  der  Gefahr  der  Tyrannis 
bedroht  gewesen  wäre,  mag  dahingestellt  bleiben;  wohl  aber 
liegt  es  auf  der  Hand,  daß  Mißbräuchen  aller  Art  damit  Tür 
und  Tor  geöffnet  war.  Für  Parteiführer,  die  über  die  Majorität 
in  der  Volksversammlung  verfügten,  bot  diese  Institution 
ein  treffliches  Mittel,   sich  lästiger  Gegner  auf  gute  Manier 


^  Vgl.  oben  I  2  S.  332.  J.  Carcopino,  Histoire  de  l' Ostracisme  Athenien^ 
Bibl.  de  la  Faculte  des  Lettres  XXV,  Paris  1909,  dessen  Ergebnissen  ich  freilich 
nur  zum  Teil  zustimmen  kann. 

*  Das  Altertum  ist  einstimmig  in  dieser  Auffassung  des  Ostrakismos, 
vgl.  z.  B.  Aristot.  An,  22,  3,  Polit.  III  1284,  Diod.  XI  55  (nach  Ephoros), 
Androtion  fr.  5  etc.  Manche  Neuere  wissen  die  Sache  natürlich  viel  besser.  — 
Daß  die  6000  Stimmen  nicht  etwa  gegen  einen  Bürger  abgegeben  werden 
mußten,  sondern  das  Minimum  der  überhaupt  bei  dem  Ostrakismus  abzu- 
gebenden Stimmen  bezeichnen,  scheint  mir  aus  statistischen  Gründen  wie  nach 
der  Analogie  ähnUcher  Fälle  unzweifelhaft. 


30  I.  Abschnitt.  — ■  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

ZU  entledigen;  und  in  der  Tat  ist  es  fast  nur  aus  diesem  Grunde 
zum  Ostrakismos  gekommen. 

Es  kann  kaum  ein  Zweifel  sein,  daß  diese  Reformen,  die 
unmittelbar  nach  dem  Sturz  des  Miltiades  eingeführt  wurden, 
von  der  Alkmeonidenpartei  ausgegangen  sind,  wie  sie  denn 
auch  vollständig  dem  Geist  der  kleisthenischen  Verfassung 
entsprechen  ^.  Daß  das  Gesetz  über  den  Ostrakismos  in  erster 
Linie  auf  Hipparchos  aus  Kollytos  zielte,  war  klar;  und  er 
wurde  denn  auch,  gleich  im  Frühjahr  487,  das  erste  Opfer  ^. 
Aber  die  Alkmeoniden  sollten  nur  zu  bald  erkennen, 
daß  es  eine  zweischneidige  Waffe  war,  die  sie  geschmiedet 
hatten.  Was  den  Umschwung  herbeiführte,  sagt  unsere 
dürftige  Überlieferung  nicht;  da  aber  der  Krieg  mit  Aegina 
eben  um  diese  Zeit  ausgebrochen  ist,  so  wird  es  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  die  Alkmeoniden  dafür  die  Verantwortung 
trifft,  und  die  Mißerfolge,  die  der  Krieg  brachte,  ihre  Stellung 
erschütterten  ^  Die  Gegner  säumten  nicht,  den  günstigen 
Augenblick  zu  nutzen.  Schon  im  folgenden  Frühjahr  kam 
es  wieder  zum  Ostrakismos,  und  diesmal  traf  das  Los  in  die 
Verbannung  zu  gehen  Megakles,  das  einflußreichste  Mitglied 
des  Alkmeonidenhauses.  Das  Jahr  darauf  traf  dasselbe  Schick- 
sal Alkibiades  aus  Skambonidae,  der  Megakles  sehr  nahe 
stand,  und  endlich  wieder  ein  Jahr  später  (484)  Megakles' 
Schwager  Xanthippos,  den  eigentlichen  Führer  der  Alk- 
meonidenpartei *. 


^  Darum  haben  die  Späteren  das  Gesetz  über  den  Ostrakismos  meist  auf 
Kleisthenes  selbst  zurückgeführt;  der  Irrtum  war  um  so  leichter  möghch,  wenn 
es  von  seinem  Neffen  Megakles  beantragt  war.  Auch  Megakles'  Ostrakismos 
wurde  auf  Kleisthenes  übertragen  (Aelian.  Verm.  Gesch.  XIII  24).  S.  oben 
I  2  S.  332. 

^  Aristot.  ATT.  22,  4,  Androtion  fr.  5  bei  Harpokration  "l-rriTapxo?,  oben 
I  2  S.  382. 

3  S.  unten  2.  Abt.    §  51. 

*  Aristot.  ATT.  22,  5 — 6,  s.  unten  2.  Abt.  §  61.  Vasenscherben  mit  der 
Aufschrift  MeTOKXet;  h[i7rTro]KpaTo<;  AXoTteKeGe  CIA.  IV  1,  3,  569  S.  192, 
mit  XaavGiiriTO^  Appiqppovo«;  ebenda  570.  571.  Auf  Megakles'  Ostrakismos 
geht  Pind.  Pyth.  VII  18.  Den  Sieg  des  Megakles,  den  diese  Ode  feiert, 
gehört  in  die  25.  Pythiade,  Sommer  486,  also  wenige  Monate  nach  dem  Ostra- 
kismos.    Vgl.  Wilamowitz,  Aristot.  u.  Athen  II  323  ff. 


Sturz  der  Alkmeoniden.   —  Aristeides  und  Themistokles.  31 

Jetzt  traten  die  Gegner  der  Alkmeoniden  an  die  Spitze 
des  Staates,  Aristeides  aus  Alopeke  und  Themistokles  aus 
Phrearrhioi.  Aristeides  stammte  aus  vornehmem  Hause,  das 
mit  dem  eleusinischen  Kerykes  verwandt  war  ^,  er  selbst 
aber  war  nur  sehr  mäßig  begütert  ^.  Bei  Marathon  war  er 
Stratege  seiner  Phyle  gewesen  *  und  dann  im  nächsten  Jahre 
zum  höchsten  Amte  im  Staate,  der  Würde  des  ersten  Archon, 
gelangt;  da  Miltiades  damals  auf  dem  Gipfel  seines  Einflusses 
stand,  hat  Aristeides  ohne  Zweifel  zu  dessen  Parteigenossen 
gehört,  wie  er  denn  auch  später  zu  Miltiades'  Sohne  Kimon 
in  engen  Beziehungen  gestanden  hat.  Als  Feldherr  wie  als 
Politiker  ohne  hervorragende  Begabung,  verdankt  er  seine 
Stellung  im  Staate  hauptsächlich  dem  Rufe  seiner  uner- 
schütterlichen Rechtschaffenheit*,  einer  Eigenschaft,  die  seine 
Mitbürger  um  so  höher  schätzten,  je  seltener  sie  bei  ihnen 
zu  finden  war.  In  dieser  Beziehung  stand  er  hoch  über 
Themistokles,  den  die  öffentliche  Meinung  in  Geldsachen 
zu  allem  fähig  hielt,  und  der  durch  seine  Staatsverwaltung 
zum  reichen  Manne  geworden  ist  ^,  während  Aristeides  seine 
Familie  beinahe  in  Dürftigkeit  zurückgelassen  hat.  Als  Staats- 
mann freilich  war  Themistokles  bei  weitem  bedeutender; 
ja  er  ist  vielleicht  das  größte  politische  Genie,  das  Athen 
überhaupt  hervorgebracht  hat  ^.  Nicht  weil  er  erkannte, 
daß  Athens  Zukunft  auf  dem  Meere  lag,  und  daß  der  Staat 
wieder  einlenken  müsse  in  die  Bahnen  der  Politik  des  Peisi- 


1  Plut.  Arist.  25. 

^  Plut.  Arist.  1.  24.  27,  Nep.  Arist.  3,  2,  Athen.  X  419  a.  XII  511  c,  Ael. 
Verm.  Gesch.  II  43.  X  15.  XI  9. 

*  Plut.   Arist.  5. 

*  Herod.  VIII  79.  95,  Timokreon  fr.  1,  Eupolis  Denien  fr.  91,  und  sehr 
oft  bei  Späteren. 

^  Timokr.  fr.  1,  Herod.  VIII  4.  5;  Kritias  bei  Ael.  Verm.  Gesch.  X  17, 
und  danach  Theopomp,  bei  Plut.  Thetn.  25;  Plut.  Them.  5.  Darin  steckt  ja 
sehr  viel  gehässige  Übertreibung;  aber  warum  hat  man  denn  von  Aristeides 
nichts  Derartiges  erzählt  ? 

*  Vgl.  die  Charakteristik  bei  Thuk.  I  138,  3  riv  fäp  6  GemöTOKXfic;  .  .  . 
Tuiv  T6  Trapaxpf|,ua  bi"  IKaxior-qq  ßou\f|?  KpäTiöxo?  Yvwjutujv,  Kai  tujv  jueWövTUJv 
im  trXeiaTov  xcO  Y€vr|ao|u^vou  äpiOTOc,  eiKaffxric;. 


32  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

Stratos;  das  war  so  evident,  daß  es  jeder  sehen  mußte,  der 
nur  einiges  politische  Verständnis  besaß.  Sondern  weil  er 
es  vermocht  hat,  Mitbürger  dahin  zu  bringen,  nach  dieser 
Erkenntnis  zu  handeln,  trotz  der  schweren  Opfer,  die 
er  von  ihnen  fordern  mußte.  Dadurch  ist  er  der  Begründer 
der  Größe  Athens  geworden.  Es  hat  ihm  zehnjährige  Kämpfe 
gekostet.  Als  er  nach  der  Schlacht  bei  Lade  als  erster  Archon 
an  die  Spitze  des  Staates  getreten  war  (493/2),  hat  er  die 
ersten  Schritte  in  dieser  Richtung  getan;  er  hat  damals  be- 
gonnen, was  vor  ihm  Hippias  geplant  hatte  ^,  statt  der  offenen 
und  schutzlosen  Reede  von  Phaleron  die  treffliche  Bucht 
des  Peiraeeus  zum  Kriegshafen  umzugestalten  ^.  Aber  zur 
Schöpfung  einer  großen  Marine,  wie  sie  Themistokles  schaffen 
wollte,  gehörten  sehr  bedeutende  Geldmittel;  und  die  wieder 
hergestellte  Demokratie  war  wenig  geneigt,  ihre  Popularität 
durch  Anspannung  der  Steuerkraft  des  Volkes  aufs  Spiel 
zu  setzen.  So  hatte  man  die  Grundsteuer  eingehen  lassen, 
die  unter  den  Tyrannen  erhoben  worden  war;  ja  man  ging 
so  weit,  die  reichen  Erträge  der  laurischen  Silbergruben  unter 
die  Bürger  zur  Verteilung  zu  bringen.  Unter  diesen  Um- 
ständen war  zunächst  an  eine  Verwirklichung  von  Themi- 
stokles' Flottenprogramm  nicht  zu  denken,  und  selbst  die 
Arbeiten  am   Kriegshafen  blieben  unvollendet  liegen. 

Da  kam  der  Krieg  gegen  Aegina  mit  seinen  Mißerfolgen. 
Athen  sah  sich  zur  See  wehrlos  gegenüber  der  kleinen  Nachbar- 
insel, seine  Küsten  den  Verheerungen  der  feindlichen  Flotte 


1  Aristot.  AH.  19,  2. 

*  Thuk.  I  93,  3.  Es  hat  die  höchste  Wahrscheinlichkeit,  daß  der  Archon 
Themistokles  des  Jahres  493/2  mit  dem  berühmten  Staatsmann  identisch  ist; 
wenigstens  wäre  es  sehr  auffallend,  wenn  es  in  dieser  Zeit  zwei  einflußreiche 
Politiker  namens  Themistokles  in  Athen  gegeben  hätte.  Vgl.  auch  Euseb.  zu 
Ol.  71,  1  (496/5)  II  S.  100  Schoene.  Das  angebliche  Archontat  des  Themistokles 
in  482/1  beruht  nur  auf  einer  ganz  willkürlichen  Kombination;  auch  wurden 
die  Archonten,  wie  wir  jetzt  wissen,  damals  bereits  erlost.  Wenn  Herodot  (VII 
143),  Themistokles  noch  480  einen  ävrip  Ic,  -rrpiiiTOU?  veuJöTi  irapiojv  nennt,  so 
hat  er  offenbar  das  drei  Jahre  vorher  gegebene  Flottengesetz  im  Auge;  es  ist 
ja  klar,  daß  Themistokles  schon  eine  lange  politische  Vergangenheit  haben 
mußte,   um  eine   Maßregel  von   dieser  Wichtigkeit  durchzusetzen. 


Aristeides  und  Themistokles.  —  Die  Flottengründung.  33 

preisgegeben.  Es  war  ein  schmachvoller  Zustand,  und  immer 
weiteren  Kreisen  wurde  es  klar,  daß  die  Dinge  nicht  so  fort- 
gehen durften.  Jetzt  endlich  konnte  Themistokles  hoffen, 
die  öffentliche  Meinung  für  seine  Flottenpläne  zu  gewinnen. 
Vor  allem  mußte  der  Einfluß  der  Alkmeoniden  gebrochen 
werden;  der  bittere  Haß,  mit  den  sie  später  Themistokles 
verfolgt  haben,  zeigt  uns,  daß  er  der  hauptsächlichste  Urheber 
ihres  Sturzes  gewesen  ist  ^.  Nun  trat  Themistokles  mit  seinem 
Programm  hervor;  es  sollte  eine  Schlachtflotte  von  100  Trieren 
erbaut  werden,  größere  Kriegsfahrzeuge,  die  um  diese  Zeit 
anfingen,  die  alten  Fünfzigruderer  zu  verdrängen;  die  Kosten 
sollten  aus  den  Erträgen  der  laurischen  Silbergruben  be- 
stritten werden,  die  eben  damals  sehr  reiche  Überschüsse 
ergaben  ^.  Die  Flotte  war  viel  größer,  als  sie  für  den  Krieg 
gegen  Aegina  nötig  gewesen  wäre;  es  ist  also  kein  Zweifel, 
daß  dieser  Krieg  für  Themistokles  nur  den  Vorwand  gab, 
und  er  in  Wahrheit  gegen  Persien  rüsten  wollte.  Natürlich 
stieß  der  Antrag  auf  sehr  lebhafte  Opposition,  und  kein 
Geringerer  als  Aristeides  war  es,  der  an  ihre  Spitze  trat.  Welche 
Motive  ihn  bestimmten,  wissen  wir  nicht;  wahrscheinlich 
war  er  der  Ansicht,  daß  Attika  zu  klein  sei,  auf  die  Dauer 
die  Lasten  einer  so  großen  Flotte  tragen  zu  können;  viel 
einfacher  sei  es  doch,  sich  mit  Aegina  zu  verständigen.  Die  Ge- 
fahr eines  neuen  Perserkrieges  aber  schien  noch  in  weiter 
Ferne  zu  liegen;  und  wie  konnte  man  denn  überhaupt  daran 
denken,  dem  Könige,  der  über  die  Flotten  von  Phoenikien 
und  lonien  gebot,  zur  See  entgegenzutreten?  So  folgten 
auf  Xanthippos'  Verbannung  zwei  Jahre  innerer  Kämpfe, 
bis  es  endlich  nochmals  zum  Ostrakismos  kam  (Frühjahr  482). 
Die   Entscheidung   fiel    gegen   Aristeides",    und    nun   gingen 

^  Plut.  Them.  23.  Daher  auch  das  ungünstige  Urteil  des  Herodot,  der 
zum  großen   Teil  aus   alkmeonidischer  Tradition   schöpfte. 

-  Herod.  VII  144,  Aristot.  AH.  22,  7. 

3  Aristot.  ATT.  22,  7,  Plut.  Arist.  7.  Daß  Aristeides  dem  Flottengesetz 
Opposition  machte,  ist  nicht  direkt  überliefert,  es  folgt  aber  daraus,  daß  seine 
Verbannung  durch  den  Ostrakismos  und  das  Flottengesetz  in  dasselbe  Jahr 
fallen.  —  Was  Alte  und  Neuere  von  den  politischen  Folgen  der  Flottengründung 
(Stärkung  der  Demokratie)  zu  erzählen  wissen,  ist  verkehrt;  s.  unten  2.  Abt.  §  52. 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  3 


34  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

Themistokles'  Anträge  durch.  Als  zwei  Jahre  später  die 
Perser  aufs  neue  gegen  Hellas  heranzogen,  besaß  Athen  eine 
Flotte,  die  nicht  nur  der  von  Aegina  überlegen  war,  sondern 
überhaupt  der  Flotte  jedes  anderen  griechischen  Staates, 
die  junge,  in  diesen  selben  Jahren  von  Gelon  geschaffene 
Marine   von    Syrakus   allein   etwa   ausgenommen. 

Während  so  Athen  in  der  Stille  zur  ersten  griechischen 
Seemacht  heranwuchs,  war  der  führende  Staat  in  Griechen- 
land, Sparta,  durch  eine  schwere  innere  Krise  hindurch- 
gegangen. Auch  hier  war  die  königliche  Gewalt,  wie  wir 
gesehen  haben,  schon  früh  durch  den  Rat  der  Alten,  die  Gerusia, 
beschränkt  worden;  andererseits  hatte  die  Volksversammlung 
sich  das  Recht  der  letzten  Entscheidung  in  allen  wichtigen 
Staatsangelegenheiten  bewahrt  ^.  Um  die  Mitte  des  VIII.  Jahr- 
hunderts, wenn  nicht  schon  früher,  wurde  dann  eine  durch 
Volkswahl  bestellte  Behörde,  das  Kollegium  der  Ephoren, 
den  Königen  zur  Seite  gestellt,  zu  ihrer  Unterstützung  in  der 
Ziviljurisdiktion,  und  in  der  Polizeiaufsicht  über  Bürger 
und  Untertanen  (oben  IIS.  216).  Dies  Amt  mußte  an  Einfluß 
in  dem  Maße  gewinnen,  als  die  Könige  bei  der  wachsenden 
Ausdehnung  des  Staatsgebietes  immer  weniger  imstande 
waren,  jene  Funktionen  selbst  wahrzunehmen;  doch 
scheint  die  politische  Bedeutung  des  Ephorats  um  die  Zeit 
des  großen  messenischen  Aufstandes  noch  ziemlich  beschränkt 
gewesen  zu  sein  ^.  Damals  wurde  Sparta  von  heftigen  inneren 
Unruhen  erschüttert,  die  endlich  durch  einen  förmlichen 
Vertrag  zwischen  Volk  und  Königtum  beigelegt  wurden; 
die  Könige  mußten  schwören,  die  Gesetze  zu  halten,  die 
Ephoren  dagegen  gelobten  im  Namen  des  Volkes,  die  Könige 

^  Tyrt.  fr.  4  brmou  bd  TrX-riGei  viKi^v  Kai  Koiproq  SireffGai;  auch  in  der 
sog.  lykurgischen  Rhetra  bei  Plutarch  Lyk.  6  ist  wohl  zu  lesen  bä|uuj  hk  räv 
Kupiav  riuev  Kai  KpotToi;. 

^  Tyrt.  fr.  4  erwähnt  die  Ephoren  nicht,  ebensowenig  die  sog.  lykurgische 
Rhetra  (bei  Plut.  Lyk.  6),  eine  Darstellung  der  älteren  spartanischen  Verfassung 
in  Form  eines  Orakelspruches  (vgl.  E.  Meyer,  Forschungen  I  262  ff.),  wie  solche 
bereits  in  Tyrtaeos'  Zeit  umliefen  (Tyrt.  fr.  4).  Das  beweist  natürlich  keines- 
wegs, daß  es  im  VII.  Jahrhundert  noch  keine  Ephoren  gegeben  hat,  wohl  aber, 
daß  das  Amt  damals  noch  von  untergeordneter  Bedeutung  war. 


Verfassungskämpfe  in  Sparta.  35 

im  Genuß  ihrer  Rechte  zu  schützen,  so  lange  sie  ihren  Eid 
hielten.  Dieser  Schwur  wurde  jeden  Monat  erneuert  ^.  Die 
Ephoren  traten  damit  den  Königen  als  gleichberechtigter 
Faktor  im  Staate  zur  Seite  ^. 

Seitdem  war  es  das  stete  Streben  der  Könige,  diese 
Fesseln  zu  sprengen;  und  als  Kleomenes  die  Argeier  nieder- 
geworfen hatte'  schien  der  günstige  Moment  da  zu  sein.  Der 
Sieger  von  Tiryns  begann  damit,  die  legitime  Abkunft  seines 
Amtsgenossen  Damaratos  aus  dem  anderen  Königshause 
zu  verdächtigen,  und  unter  diesem  Vorwande  seine  Absetzung 
zu  erwirken,  wobei  er  durch  den  Spruch  des  delphischen 
Orakels  unterstützt  wurde  (491)  ^.  Damaratos  suchte  in 
Persien  Zuflucht,  wo  ihm  Dareios  die  Herrschaft  über  die 
Bergfeste  Pergamon  und  die  Nachbarorte  im  fruchtbaren 
Tal  des  Kai'kos  in  Mysien  verlieh  *;  seine  Stelle  in  Sparta 
nahm  Leotychidas  ein,  das  Haupt  der  älteren  Linie  des  Eury- 
pontidenhauses,  die  vor  etwa  80  Jahren  vom  Throne  ver- 
drängt worden  war  (oben  I  2  S.  179 f. )^.    Der  neue  König  war 


^  Xen.  Staat  d.  Laked.  15,  7,  Niese,  Zur  Verfassungsgeschichte  Lakedaemons, 
in  Sybels  Hist.  Zeitschr.  LXII  (N.  F.  XXVI),  1889,  S.  69.  Dieser  Vertrag  ist 
dann  später  in  die  Zeit  der  dorischen  Wanderung  zurückdatiert  worden,  s.  die 
Belege  bei  Niese  a.  a.  O. 

'^  Bei  Flut.  Kleom.  10  wird  der  Ephor  Asteropos,  der  „viele  Generationen 
nach  Theopompos"  gelebt  hätte,  als  Begründer  der  Ephorenmacht  genannt, 
während  Diog.  Laert.  I  68  dasselbe  von  Chilon  erzählt,  der  um  560  Ephor  war. 
König  Anaxandridas,  dessen  erste  Ehe  kinderlos  blieb,  wurde  von  den  Ephoren 
zur  Eingehung  einer  zweiten  Ehe  gezwungen  (Herod.  V  40);  König  Kleomenes 
hatte  nach  seinem  Feldzug  gegen  Argos  sich  vor  den  Ephoren  zu  verantworten 
(Herod.  VI  82).  Unser  Quellenmaterial  reicht  nicht  aus,  um  die  Kompetenz 
der  Ephoren  gegenüber  den  Königen  in  dieser  Periode  im  einzelnen  zu  bestimmen. 

3  Herod.  VI  51—86.     Über  die  Chronologie  oben  I  2  S.  182. 

*  Herod.  VI  70,  Xen.  Hell  III 1,  6,  Anab.  II 1,  3;  VII  8, 17,  Paus.  III  7,  8, 
Sex.  Empir.   Adv.  mathem.   I  258,  Athen.   I  29  f. 

*  Auf  Leotychidas'  Urgroßvater  Hippokratidas  ist  nicht  dessen  Sohn 
Agesilaos,  sondern  Damaratos'  Großvater  Agasikles  gefolgt.  Das  muß  etwa 
um  570  geschehen  sein,  und  hängt  offenbar  mit  den  inneren  Wirren  zu- 
sammen, die  damals  zu  der  Beschränkung  der  Königsmacht  durch  das 
Ephorat  geführt  haben.  Mehr  läßt  sich  bei  un?erer  Unkenntnis  der  inneren 
Geschichte  Spartas  in  dieser  Zeit  nicht  sagen.  Dumm  {Spart.  Königslisten, 
Innsbruck  1878,  S.  19 — 30)  hat  die  Hypothese  aufgestellt,    Agasikles  sei  der 

3* 


36  I.  Abschnitt.  —  Die  Erhebung  gegen  die  Fremdherrschaft. 

natürlich  ganz  von  Kleomenes  abhängig,  dem  er  seine  Er- 
hebung verdankte.  Dieser  gewann  damit  eine  Stellung,  wie 
sie  seit  lange  kein  König  in  Sparta  besessen  hatte;  aber  eben 
das  führte  eine  Reaktion  der  öffentlichen  Meinung  herbei, 
und  Kleomenes  sah  sich  genötigt,  das  Land  zu  verlassen. 
Er  ging  nach  Arkadien,  wo  er  ein  Heer  sammelte,  um  die 
Rückkehr  mit  Gewalt  zu  erzwingen.  So  bequemten  sich  die 
Spartaner,  ihn  wieder  in  seine  Königswürde  einzusetzen.  Bald 
darauf  soll  er  in  Wahnsinn  verfallen  sein;  er  wurde  auf  Be- 
schluß seiner  Geschlechtsgenossen  ins  Gefängnis  geworfen, 
und  hat  sich  dort,  wie  erzählt  wird,  mit  eigener  Hand  den 
Tod  gegeben  (um  488)  ^.  Wahrscheinlich  haben  ihn  die 
Ephoren  aus  dem  Wege  geräumt,  im  Einverständnis  mit  seinen 
Stiefbrüdern,  Leonidas  und  Kleombrotos,  von  denen  der 
ältere,  Leonidas,  ihm  auf  dem  Thron  nachfolgte.  Auch  Leo- 
tychidas  entging  nur  mit  knapper  Not  der  Absetzung  2;  aber 
Damaratos,  den  Vasallen  des  Großkönigs  zurückzurufen, 
konnte  man  sich  doch  nicht  entschließen,  jetzt  wo  jeden 
Augenblick  ein  neuer  Einfall  der  Perser  zu  erwarten  stand. 
Das  spartanische  Königtum  hat  sich  von  diesen  Schlägen 
nie  mehr  erholt;  fortan  sind  es  die  Ephoren,  welche  der  Politik 
des  Staates  ihre  Richtung  vorschreiben,  während  die  Könige 
mehr  und  mehr  zu  bloßen  Exekutivbeamten  herabsinken, 
die  von  den  Ephoren  ihre  Befehle  erhalten. 

Dies  war  die  Lage  in  Hellas,   als  der   Sturm  losbrach, 
der  von  Osten  her  so  lange  gedroht  hatte. 


älteste  Sohn  der  Hippokratidas  gewesen,  also  die  gesetzliche  Erbfolge  unge- 
stört geblieben.  Ihm  folgt  F  oralla.,  Prosopographie  der  Lakedaemonier ,  Dissert. 
Breslau  1913,  S.  154  ff.  Das  heißt  den  Knoten  zerhauen  statt  ihn  zu  lösen, 
denn  nach  Paus.  III 7  war  Agasikles  vielmehr  ein  Sohn  des  Archidamos, 
und  diese  Überlieferung,  die  einzige,  die  uns  Agasikles'  Vater  nennt,  geht 
höchst  wahrscheinUch  durch  Ephoros  auf  die  Tradition  im  Hause  der  Damara- 
tiden  in  Pergamon  zurück,  und  wir  haben  keinen  Grund  diese  Tradition  zu 
verwerfen. 

1  Herod.  VI  61—75,  über  die  Chronologie  oben  I  2  S.  174. 

2  Herod.  VI  85. 


Persische  Rüstungen.  37 


II.  Abschnitt. 
Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

Die  persische  Regierung  hat  der  Versuchung  lange  wider- 
standen, ihre  Herrschaft  auf  das  griechische  Mutterland 
auszudehnen.  Man  war  sich  offenbar  der  großen  Schwierig- 
keiten eines  solchen  Unternehmens  bewußt,  zu  denen  der 
Machtzuwachs,  der  dadurch  zu  gewinnen  war,  in  keinem 
Verhältnis  zu  stehen  schien.  Selbst  die  Expedition  des  Datis 
hatte  nur  den  Zweck,  Athen  und  Eretria  für  die  Unterstützung 
zu  züchtigen,  die  sie  den  Tonern  gewährt  hatten;  Eroberungen 
in  Griechenland  zu  machen,  lag  so  wenig  im  Plane,  daß  man 
nicht  einmal  Eretria  festhielt,  das  doch  bei  der  unbedingten 
Überlegenheit  der  persischen  Flotte  auch  nach  Marathon 
mit   Leichtigkeit   zu   behaupten   gewesen   wäre. 

Als  aber  der  alte  König  Dareios  gestorben  war  (485)  ^ 
und  sein  Sohn  Xerxes  den  Thron  der  Achaemeniden  bestiegen 
hatte,  begann  die  persische  Politik  sich  weitere  Ziele  zu  stecken. 
Es  war  ja  an  und  für  sich  sehr  natürlich,  daß  der  neue  König 
den  Wunsch  hegte,  wie  seine  Vorgänger  ein  Mehrer  des  Reiches 
zu  sein.  Aber  auch  abgesehen  davon  sprachen  gewichtige 
Gründe  dafür,  aus  der  bisher  geübten  Zurückhaltung  heraus- 
zutreten, lonien  bheb  immer  ein  unsicherer  Besitz,  solange 
die  Stammesgenossen  jenseits  des  Meeres  frei  waren;  und 
die  Unterstützung,  die  Sparta  den  Athenern  gegen  Datis 
gesandt  hatte,  ließ  keinen  Zweifel  daran,  daß  man  bei  einem 
neuen  Kriege  gegen  Athen  auch  mit  dem  peloponnesischen 
Bunde  zu  kämpfen  haben  würde.  So  beschloß  denn  Xerxes, 
ganze  Arbeit  zu  tun  und  Griechenland  zur  persischen  Satrapie 
zu  machen. 

Von  einer  Unterschätzung  des  Feindes  war  der  König 
weit  entfernt,  hatte  doch  noch  soeben  Marathon  gezeigt,  daß 
man  es  mit  einem  Gegner  von  hervorragender  Kriegstüchtigkeit 


^  Über  die  Chronologie  der  Perserkönige  Ed.  Meyer,  Forschungen  II  437  ff. 


38  11.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker, 

ZU  tun  hatte.  Das  Unternehmen  wurde  demgemäß  sehr  sorg- 
fältig vorbereitet.  Man  wollte  mit  so  überlegenen  Kräften 
auftreten,  daß  schon  dadurch  jeder  Mißerfolg  ausgeschlossen 
wäre.  Es  wurde  also  ein  Heer  zusammengebracht,  wie  es  die 
griechische  Welt  noch  niemals  gesehen  hatte;  die  Grabschrift 
der  bei  den  Thermopylen  gefallenen  Peloponnesier  gibt  die 
Stärke  des  Feindes  auf  3  Millionen  an  ^,  nach  Herodot  hätte 
Xerxes  1  700  000  Kombattanten  zu  Fuß  und  80  000  Reiter 
über  den  Hellespont  geführt,  einschließlich  des  Trosses,  der 
Bemannung  der  Flotte  und  der  Kontingente,  die  in  Europa 
zum  Heere  stießen,  hätte  die  Gesamtzahl  5  283  220  Mann 
betragen^.  Das  sind  natürlich  maßlose  Übertreibungen; 
aber  an  60000  Kombattanten  mag  Xerxes'  Heer  immerhin 
gezählt  haben  ^,  Es  war  ein  buntes  Gemisch  aus  fast  allen 
Völkern  des  weiten  Reiches  bis  nach  dem  fernen  Indien; 
Kontingente  sehr  ungleich  an  Bewaffnung  wie  an  militärischem 
Wert  ^.  Bei  solchen  Massen  war  natürlich  der  Seetransport 
ausgeschlossen,  besonders  auch  mit  Rücksicht  auf  die  zahl- 
reiche Reiterei,  die  den  besten  Bestandteil  des  Heeres  bildete. 
Xerxes  war  also  auf  den  Landweg  längs  der  thrakischen  Küste 
angewiesen.  Da  dieses  ganze  Gebiet  bis  zum  Olympos  hin 
seit  Mardonios'  Zuge  zum  Reiche  gehörte,  waren  auf  dieser 
Strecke  Hindernisse  nicht  zu  überwinden,  abgesehen  von  den 
Schwierigkeiten,  welche  die  Verpflegung  des  großen  Heeres 
bot.  Um  diese  zu  sichern,  wurden  an  geeigneten  Punkten 
längs  dieser  ganzen  Küste  große  Magazine  angelegt  ^.  Weiter 
wurde  eine  starke  Flotte  gerüstet,  deren  Kern  die  Phoeniker 
bildeten,  zu  der  aber  auch  die  asiatischen  Griechenstädte, 
von  Kypros  bis  zum  Hellespont,  ihre  Kontingente  stellen 
mußten.  Die  Gesamtzahl  der  Schiffe  wird  auf  1207  angegeben  \ 

1  Herod.  VII  228. 

2  Herod.   VII  60  (Infanterie),   87   (Kavallerie),   186  (Gesamtzahl). 
^  S.  unten  2.  Abt.   §  31. 

*  Aufzählung  bei  Herod.  VII  61  ff.  Damit  ist  natürlich  noch  nicht  ge- 
sagt, daß  alle  diese  Völker  auch  wirklich  im   Herre  vertreten  waren. 

6  Herod.  VII  25. 

«  Aeschyl.  Pers.  341  ff.,  danach  Herod.  VII  89,  nach  dem  die  Flotte 
außerdem  noch  3000  kleinere  Schiffe  gezählt  hätte  (VII  97). 


Stimmung  in  Hellas.  39 


in  Wahrheit  kann  die  Zahl  der  Kriegsschiffe  nicht  wohl  mehr 
als  500  betragen  haben  ^.  Die  Flotte  sollte  den  Übergang 
nach  Europa  sichern,  dann  dem  Zuge  des  Landheeres  folgen 
und  mit  diesem  in  steter  Fühlung  bleiben.  Um  der  Wiederkehr 
einer  Katastrophe  vorzubeugen,  wie  sie  Mardonios'  Flotte 
betroffen  hatte,  gab  Xerxes  Befehl,  durch  den  flachen  Hals 
der  Athoshalbinsel  einen  Kanal  zu  graben,  der  freilich,  wie  es 
scheint,  nicht  zur  Vollendung  gelangt  ist^. 

Im  Herbst  481  waren  endlich  die  Rüstungen  beendet^ 
die  Kontingente  sammelten  sich  in  Kleinasien  und  nahmen 
dort  Winterquartiere  '.  Im  nächsten  Frühjahr  brach  Xerxes 
dann  an  der  Spitze  des  Heeres  von  Sardes  auf,  überschritt 
etwa  Anfang  Juni  den  Hellespont  auf  zwei  Schiffbrücken 
und  zog  dann  weiter  der  Küste  entlang  nach  Therme  in  Make- 
donien, wo  er  etwa  Ende  Juni  anlangte  ^.  Schon  im  Winter 
hatte  er  Herolde  nach  Griechenland  gesandt,  die  zur  gut- 
willigen Unterwerfung  auffordern  sollten  ^. 

Dort  war  die  Stimmung  sehr  trübe.  Den  gewaltigen 
Massen  des  Königs  gegenüber  schien  den  meisten  jeder  Wider- 
stand nutzlos;  selbst  das  delphische  Orakel  hielt  den  Sieg 
der  Perser  für  sicher  und  riet  zur  gutwilligen  Ergebung  in 
das  Unvermeidliche^.  Der  König  wollte  ja  nicht  die  Hellenen 
vernichten;  nur  Unterwerfung  forderte  er,  und  so  gut  wie  die 
Stammesgenossen  in  Asien  konnte  man  es  am  Ende  auch 
noch  unter  persischer  Herrschaft  aushalten.  Für  Athen  freilich 
gab  es  keine  Unterwerfung;  nach  dem,  was  vorgefallen  war, 
hatte  man  nur  die  Wahl  zwischen  Sieg  oder  Untergang.  Und 
für  Sparta  hätte  die  Unterwerfung  unter  Persien  den  Verlust 
der  Herrschaft  über  den  Peloponnes  bedeutet,  die  es  sich 
im  letzten  Jahrhundert  erkämpft  hatte.  Beiden  Staaten 
war   dadurch   ihre   Haltung   vorgezeichnet;    und    die    Politik 


1  S.  unten  2.  Abt.  §  30. 

«  Herod.  VII  22.  122,  vgl.  oben  I  1  S.  277. 

3  Herod.  VII  26. 

*  Herod.  VII  33  ff.     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  19  ff. 

*  Herod.  VII  32. 

«  Herod.  VII  140.  141.    Pomtow,  Jahrb.  für  Phil.  CXXIX,  1884,  S.  253  ff. 


40  n.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

Spartas  war  wieder  bestimmend  für  die  Glieder  seines  pelo- 
ponnesischen  Bundes.  Die  Militärmacht  aber,  über  die  dieser 
Bund  verfügte,  war  so  bedeutend,  daß  die  übrigen  Staaten 
des  griechischen  Festlandes,  wenn  auch  zum  Teil  widerwillig, 
der  nationalen  Sache  sich  anschlössen.  Nur  Argos,  die  alte 
Rivalin  Spartas,  hielt  sich  neutral.  Das  seemächtige  Kerkyra 
versprach  Hilfe,  richtete  es  aber  so  ein,  daß  seine  Flotte  zur 
Entscheidung  zu  spät  kam.  Gelon,  der  Herrscher  des  öst- 
lichen Siciliens,  machte  seinen  Beistand  von  unerfüllbaren 
Bedingungen  abhängig.  Er  war  bereit,  sich  dem  Könige  zu 
unterwerfen,  wenn  diesem,  wie  es  ja  sehr  wahrscheinlich 
schien,  in  dem  bevorstehenden  Kriege  der  Sieg  blieb  ^. 

Auch  in  den  Staaten,  die  zum  Kampfe  für  die  Freiheit 
entschlossen  waren,  war  man  von  Siegeszuversicht  weit 
entfernt;  man  setzte  seine  Hoffnung  mehr  auf  den  Beistand 
der  Götter  als  auf  die  eigene  Kraft  ^.  Aber  man  tat  doch, 
was  nötig  war.  Noch  im  Herbst  481  versammelten  sich  die 
Abgeordneten  der  verbündeten  Hellenen  auf  dem  Isthmos  ^. 
Zunächst  wurde  in  Hellas  ein  allgemeiner  Landfriede  ver- 
kündet und  dadurch  endlich  der  Krieg  zwischen  Athen  und 
Aegina  zu  Ende  gebracht.  In  Athen  und  wohl  auch  in  anderen 
Staaten  wurden  die  politischen  Verbannten  zurückgerufen  ^. 
Xerxes'  Boten  wurden  überall  abgewiesen,  ja  in  Sparta  er- 
kannte man  Leuten,  die  es  wagten,  solche  Zumutungen  zu 
stellen,  den  Schutz  des  Völkerrechts  ab  und  ließ  sie  zum 
Tode  führen.  Man  machte  damit  den  Bruch  unheilbar,  ohne 
Zweifel  mit  voller  Absicht,  um  den  verbündeten  Staaten  die 
Gewähr  zu  geben,  daß  Sparta  bis  zum  äußersten  kämpfen 
würde  ^. 


^  Herod.  VII  145—171. 

2  Theogn.  773—782,  Herod.  VII  138,  Thuk.  III  56,  5, 

«  Herod.  VII  132.  145.  172,  Plut.  Them.  6. 

*  Aristot.  ATT.  22,  8,  Plut.   Arist.  8. 

^  Herod.  VII  172—174. 

®  Daß  die  Lokrer  und  Boeoter  nicht  schon  jetzt,  wie  Herodot  berichtet 
(VII  132),  Xerxes  Erde  und  Wasser  gegeben  haben  können,  ist  klar,  da  sie 
ja  am  Kriege  gegen  den  König  teilgenommen  haben;  Herodot  nimmt  also  hier 
voraus,  was  erst  nach  den  Kämpfen  an  den  Thermopylen  geschehen  ist.    Auch 


Räumung  Thessaliens.  41 


Es  galt  nun,  den  Feldzugsplan  festzustellen.  Als  erste 
natürliche  Verteidigungslinie  boten  sich  die  Pässe  des  Olympos 
an  der  Nordgrenze  Thessaliens.  Man  sandte  denn  auch,  im 
Mai  480,  als  Xerxes  am  Hellespont  stand,  ein  Heer  von  10  000 
Hopliten  dorthin  ab,  Peloponnesier,  Athener  und  Boeoter, 
doch  zeigte  es  sich  sogleich,  daß  diese  Truppen,  auch  mit  dem 
thessalischen  Aufgebot  vereinigt,  nicht  ausreichten,  um  die 
Pässe  zu  halten.  Ihr  ganzes  Bundesheer  aber  nach  der  make- 
donischen Grenze  zu  schicken  und  dort,  fern  von  der  Heimat, 
den  Entscheidungskampf  aufzunehmen,  was  ohne  Zweifel 
das  richtige  gewesen  wäre,  konnten  sich  die  Peloponnesier 
nicht  entschließen;  und  es  blieb  dann  nichts  übrig,  als  Thessa- 
lien zu  räumen  ■•■.    Die  Aleuaden,  die  den  thessalischen  Bund 


die  Thessaler  haben  bis  zum  letzten  Augenblick  gezögert,  da  die  Boten  die 
Zeichen  ihrer  Unterwerfung  erst  brachten,  als  Xerxes  an  ihrer  Grenze  in  Pierien 
stand  (Herod.  VII  131).  —  Nach  Herod.  VI  48.  VII  133  hätte  schon  Dareios 
vor  Marathon  die  Hellenen  durch  Herolde  zur  Unterwerfung  anfordern  lassen. 
Diese  Boten  wären  in  Athen  iq  tö  ßcipaöpov,  in  Sparta  Ic,  qppdap  geworfen 
worden.  Aber  damals  han  elte  es  sich  ja  gar  nicht  um  die  Unterwerfung  Griechen- 
lands, sondern  nur  um  die  Bestrafung  von  Athen  und  Eretria;  die  Sache  ist 
also  vordatiert  und  die  Herolde  nach  Sparta  erst  von  Xerxes  gesandt  worden. 
Daß  man  sich  dort  an  ihnen  vergriffen  hat,  ist  wegen  der  Erzählung  vom  Zorn 
des  Talthybios  bei  Herod.  VII  134  ff.  nicht  wohl  zu  bezweifeln.  Höchst  un- 
wahrscheinlich dagegen  und  offenbar  nur  ein  Duplikat  des  Vorganges  in  Sparta 
ist  die  Erzählung,  daß  die  Athener  dasselbe  getan  haben  sollten  (weiter  aus- 
geschmückt bei  Plut.  Tkem.  6,  Paus.  III  12,  7).  Auch  stand  ja  Athen  seit  dem 
Ausbruch  des  ionischen  Aufstandes  mit  Persien  im  Kriege,  so  daß  für  Xerxes 
gar  kein  Anlaß  vorlag,  Herolde  dorthin  zu  schicken,  wie  denn  auch  Herod. 
VII  133  ausdrücklich  sagt,  daß  er  das  nicht  getan  hat. 

^  Herod.  VII  172 — 174.  Da  die  Peloponnesier  im  Jahre  darauf  die  Perser, 
Thessaler  und  Boeoter  in  offener  Feldschlacht  besiegt  haben,  trotz  der  Verluste , 
die  sie  bei  den  Thermopylen  erlitten  hatten,  würden  sie  höchstwahrscheinlich 
auch  jetzt  Sieger  geblieben  sein,  wo  ihre  eigene  Macht  noch  ungeschwächt 
war,  und  sie  die  mittel-  und  nordgriechischen  Kontingente  an  ihrer  Seite  gehabt 
hätten.  Wenigstens  hätten  die  Chancen  des  Sieges  viel  besser  gelegen,  falls 
nicht  etwa  Leonidas'  Unfähigkeit  alles  verdorben  hätte,  und  damit  konnten 
dei  Peloponnesier  doch  nicht  rechnen.  Aber  das  ist  ex  eventu  geurteilt.  Im 
Frühjahr  480  war  Griechenland  gelähmt  durch  die  übertriebenen  Vorstellungen 
von  der  Zahl  und  Tüchtigkeit  des  persischen  Heeres;  es  ist  sehr  begreiflich, 
daß  man  Bedenken  trug,  alles  auf  einen  Wurf  zu  setzen.  Auch  konnte  der 
Peloponnes,  mit  Rücksicht  auf  die  überlegene  persische  Flotte,  nicht  wohl  von 
Streitkräften  entblößt  werden. 


42  11.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

leiteten,  waren  schon  vorher  bedacht  gewesen,  durch  geheime 
Unterhandlungen  mit  dem  Feinde  sich  für  den  schlimmsten 
Fall  den  Rücken  zu  decken,  was  ihnen  bei  der  exponierten 
Lage  ihres  Landes  und  der  bekannten  Abneigung  der  Pelo- 
ponnesier,  außerhalb  des  eigenen  Gebietes  zu  schlagen,  kaum 
zu  verdenken  war  ^.  Das  kam  den  Thessalern  jetzt  zugute, 
als  sie,  von  ihren  Bundesgenossen  verlassen,  gezwungen  waren, 
sich  dem  Könige  zu  unterwerfen.  Xerxes  änderte  nichts 
an  den  Verhältnissen  des  Landes,  das  ihm  fortan,  mit  seinen 
reichen   Hilfsquellen,   eine  treffliche   Operationsbasis  bot. 

So  konnte  das  persische  Heer  ohne  Schwertstreich  bis 
in  das  Herz  von  Griechenland  vordringen.  Erst  an  der  Süd- 
grenze Thessaliens  traf  man  auf  Widerstand.  Die  Peloponnesier 
hätten  sich  am  liebsten  auf  die  Verteidigung  des  Isthmos 
beschränkt,  aber  sie  durften,  mit  Rücksicht  auf  Athen, 
Mittelgriechenland  nicht  aufgeben,  wie  sie  Thessalien  auf- 
gegeben hatten.  Es  wurde  also  beschlossen,  die  Linie  der 
Thermopylen  zu  halten.  Die  bewaldeten  Vorhöhen  des  Oeta 
traten  hier  so  dicht  an  das  Ufer  des  Malischen  Busens  heran, 
daß  nur  eben  für  die  Straße  Raum  blieb,  die  Thessalien  mit 
Mittelgriechenland  verbindet  ^.  Das  enge  Defile  konnte  von 
einer  geringen  Truppenzahl  gegen  eine  große  Übermacht 
verteidigt  werden,  vorausgesetzt,  daß  der  Verteidiger  das 
Meer  beherrschte  und  stark  genug  war,  auch  die  Bergpfade 
zu  sperren,  auf  denen  die  Stellung  in  der  linken  Flanke  um- 
gangen werden  konnte.  Im  Vertrauen  auf  die  natürliche 
Stärke  des  Passes  sandten  die  Peloponnesier  zunächst  nur 
ein  Korps  von  4000  Hopliten  unter  dem  Befehl  des  lake- 
daemonischen  Königs  Leonidas  ^;   dazu  kamen  die  Gesamt- 


^  Herod.  VII  6.  131.  172.  Daß  die  Aleuaden  Xerxes  zu  dem  Zuge  nach 
Griechenland  aufgefordert  hätten,  ist  natürlich  Verleumdung;  sie  hätten  ja 
durch  einen  solchen  Schritt  nichts  zu  gewinnen  gehabt,  da  sie  bereits  über 
Thessalien  herrschten. 

^  Seit  dem  Altertum  hat  sich  durch  die  Anschwemmungen  des  Spercheios 
hier  ein  breites  Vorland  gebildet,  so  daß  der  ganze  Charakter  der  Gegend  ver- 
ändert ist.  Das  Beste  über  die  Topographie  gibt  Grundy,  Persian  War 
S.  257  ff.  mit  Karte  nach  eigener  Aufnahme. 

^  Die  Zahl  nach  der  Inschrift  des  Denkmals,  das  hier  später  zum  Ge- 
dächtnis der  gefallenen  Peloponnesier  errichtet  wurde   (Herod.   VII  228). 


Die  Stellung  bei  den  Thermopylen,  —   Artemision.  43 

aufgebote  der  umliegenden  Landschaften  Boeotien,  Lokris 
und  Phokis,  so  daß  im  ganzen  über  10  000  Schwerbewaffnete 
bei  den  Thermopylen  zum  Empfang  des  Feindes  vereinigt 
standen,  außerdem  mindestens  die  gleiche  Zahl  Leicht- 
bewaffneter ^.  Der  Rest  des  Bundesheeres  sollte  folgen,  sobald 
die  Karneien  und  Olympien  vorüber  wären,  deren  Feier  man 
aus  religiösen  Bedenken  nicht  aufschieben  mochte.  Die  Flotte 
nahm  gleichzeitig  Stellung  an  der  Nordküste  von  Euboea 
bei  dem  Tempel  der  Artemis  Proseoa  im  Gebiet  von  Histiaea, 
um  dem  Feinde  die  Einfahrt  in  die  mittelgriechischen  Ge- 
wässer zu  wehren  ^.  Den  Befehl  führte  dem  Namen  nach 
der  lakedaemonische  Nauarch  Eurybiadas;  in  Wahrheit 
der  athenische  Stratege  Themistokles,  da  die  mehr  als  100 
Schiffe  die  Athen  gestellt  hatte,  ein  gutes  Drittel  der  gesamten 
griechischen  Seemacht  bildeten. 

Es  war  etwa  Ende  Juli,  als  die  persischen  Heeresmassen, 
durch  ihre  neuen  thessalischen  Bundesgenossen  verstärkt, 
vor  den  Thermopylen  anlangten.  Der  starken  feindlichen 
Stellung  gegenüber  zögerte  Xerxes  einige  Tage  mit  dem  An- 
griff ^;  er  erwartete  die  Ankunft  seiner  Flotte,  um  dann  die 
Griechen  durch  eine  Demonstration  in  ihrem  Rücken  zur 
Räumung  des  Passes  zu  zwingen.  Die  Flotte  war  denn  auch 
aus  Therme  abgesegelt,  sobald  sie  Nachricht  von  Xerxes' 
Ankunft  im  südlichen  Thessalien  erhalten  hatte.  Dabei  traf 
sie  bei  Kap  Sepias,  der  SO. -Spitze  von  Magnesia,  ein  heftiger 
Sturm  aus  Nordosten,  vor  dem  an  dieser  felsigen  hafenlosen 
Küste  nur  sehr  ungenügende  Deckung  zu  finden  war,  so  daß 
viele  Schiffe  zugrunde  gingen.  Drei  Tage  wütete  das  Meer; 
als  es  sich  endlich  beruhigte,  fuhren  die  Perser  in  den  Sund 
von  Euboea  ein  und  gingen  bei  Aphetae  vor  Anker,  am  Ein- 
gang in  den  Pagasaeischen  Busen,  der  griechischen  Flotte 
beim  Artemision  gegenüber.   Ein  Geschwader  von  15  Schiffen, 


1  Herod.  VII  202—3,  weiteres  unten  2.  Abt.  §  38. 

2  Über  die  Lokalität  vgl.  LoUing,  Ath.  Mut.  VIII,  1883,  S.  7  ff.  Der 
Tempel  der  "Apreuii;  TTpoariiija  lag  nicht  weit  von  der  Nordspitze  der  Insel, 
zwischen  den  Dörfern  Potokki  (w.)  und  Kurbatsi  (ö.). 

3  Herod.  VII  210. 


44  IL  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

das  von  der  Hauptmacht  abgekommen  war,  fiel  noch  am 
Abend  dieses  Tages  in  die  Hände  der  Griechen;  ebenso  am 
nächsten  Tage  eine  kilikische  Flottenabteilung  ^.  Endlich 
am  dritten  Tage  war  die  persische  Flotte  wieder  soweit  ge- 
fechtsfähig, daß  sie  den  Griechen  die  Schlacht  bieten  konnte, 
fand  aber  so  kräftigen  Widerstand,  daß  sie  nach  Aphetae 
zurückgehen  mußte,  während  die  Griechen  im  Besitze  der 
Toten  und  Schiffstrümmer  blieben.  Beide  Teile  hatten  sehr 
schwere  Verluste  gehabt  ^. 

Als  Xerxes  sah,  daß  er  zunächst  auf  eine  Unterstützung 
durch  seine  Flotte  nicht  rechnen  konnte,  entschloß  er  sich 
zum  Sturm  auf  die  Thermopylen;  er  durfte  nicht  zögern, 
bis  das  peloponnesische  Hauptheer  herankam.  Indes  die 
Frontangriffe  auf  den  Paß  blieben  ohne  Erfolg,  da  der  König 
auf  dem  engen  Raum  weder  seine  Übermacht  zur  Geltung 
bringen,  noch  seine  beste  Waffe,  die  Reiterei,  überhaupt 
verwenden  konnte;  im  Nahkampfe  aber  war  die  griechische 
Infanterie  durch  ihre  schwere  Rüstung  der  persischen  weit 
überlegen.  Während  aber  die  Aufmerksamkeit  der  Griechen 
nach  dieser  Richtung  in  Anspruch  genommen  war,  sandte 
Xerxes  am  Abend  des  zweiten  Kampftages  eine  auserlesene 
Heeresabteilung  in  die  Berge,  den  Feind  im  Rücken  zu  fassen. 
Der  sehr  schwierige  Übergang  durch  das  waldbedeckte 
Gebirge  hätte  mit  Leichtigkeit  verteidigt  werden  können, 
aber   die   Phoker,    denen   die   Hut    dieses   Passes   anvertraut 


1  Herod.  VII  188—195.  VIII  1—14.  Näheres  unten  2.  Abt.  §  35.  Da 
Kap  Sepias  nach  Strab.  VII  330,  32  den  Golf  von  Pagasae  von  dem  Golf  von 
Therme  trennte,  auch  nach  Apoll.  Rhod.  I  582  f.  westHch  von  Skiathos  lag,  kann 
nur  das  Kap  Kato  Georgi  verstanden  werden,  nicht  Kap  Fori  an  der  Ostküste 
von  Magnesia,  halbwegs  zwischen  Kato  Georgi  und  der  Peneiosmündung,  wie 
Wace  will  (The  Topography  of  Pelion  and  Magnesia,  Journ.  Hell.  Sind.  XXVI, 
1906,  S.  145),  vgl.  die  Kartenskizze  Journ.  Hell.  Stud.  XXVIII,  1908,  S.  211. 
Aphetae  muß  nach  den  Angaben  Herodots  über  die  Schlacht  beim  Artemision 
an  der  Südküste  von  Magnesia  gelegen  haben,  nicht  am  Südufer  des  Golfes 
von  Pagasae,  wo  Richard  Kiepert  (Formae  orbis  ant.  XVI  Text  S.  7)  es  ansetzt; 
nach  Wace  a.  a.  0.  S.  146  am  Strande  von  Plataniä,  dem  ersten  Ankerplatz 
westlich  von  Kato  Georgi,  was  richtig  sein  wird. 

2  Herod.  VIII  15—18. 


Schlacht  an  den  Thermopylen.  —  Folgen  der  Katastrophe.  45 

war,  ließen  sich  im  Schlaf  überraschen  und  dachten  dann  nur 
an  die  eigene  Rettung.  Die  Perser  konnten  also  ungehindert 
weiterziehen  und  waren  mit  Tagesanbruch  im  Besitz  der  die 
Stellung  an  den  Thermopylen  beherrschenden  Höhen. 

Leonidas   wäre   stark   genug   gewesen,   den   Spitzen   der 
feindlichen  Umgehungskolonne  überlegene   Kräfte  entgegen- 
zuwerfen und  so  entweder  seine  Stellung  zu  halten  oder  sich 
doch  einen  geordneten  Rückzug  zu  sichern.    Aber  im  griechi- 
schen Heere  brach  eine  Panik  aus,  und  bald  wurde  die  Flucht 
allgemein.     Nur  Leonidas  mit  seinen  Spartanern  hielt  stand, 
»gehorsam  den  Gesetzen  ihres  Staates«,  wie  später  die  Inschrift 
auf  dem  Denkmal  der  Gefallenen  rühmte.     Als  aber  Xerxes 
den  Angriff  auf  den  Paß  erneuern  ließ,  und  zugleich  die  Perser 
von   den   Höhen  herabstürmten,   war   gegen   die   Übermacht 
bald    jeder    Widerstand    vergebens;    Leonidas    fiel,    und    die 
meisten  seiner  Leute  wurden  zusammengehauen.    Auch  einige 
Bundeskontingente   hatten    schwer   zu    leiden;    die   Thespier 
sollen  700  Mann  verloren,  die  Thebaner  die  Waffen  gestreckt 
haben,   der  griechische  Gesamtverlust  wird  auf   4000  Mann 
angegeben.     Leonidas  trifft  als  Feldherrn  der  Vorwurf,  nicht 
mit  der  nötigen  Umsicht  gehandelt  zu  haben;  er  hat  die  Stärke 
seiner  Stellung  überschätzt    und    nicht  ernsthaft  genug  mit 
der  Möglichkeit  einer  Umgehung  gerechnet.     Als  Soldat  hat 
er  seine  Pflicht  getan,  wie  sie  jeder  Spartaner  von  Ehre  an 
seiner  Stelle  getan  haben  würde.    Daß  vollends  ein  spartani- 
scher König  es  ertragen  könnte,  als  Besiegter  aus  einer  Schlacht 
heimzukehren,  schien  ein  unfaßbarer  Gedanke,  bis  der  letzte 
aus    Leonidas'    Geschlecht,    der    Sozialreformer    Kleomenes, 
bei   Sellasia  zeigte,    daß    es  doch  möglich  war.      Der  Glanz 
besonderen    Heldentums,    der    Leonidas'    Namen    umstrahlt, 
ist  also  nicht  voll  verdient;  er  verdankt  ihn  nicht  so  sehr  sich 
selbst,  als  der  Sache,  für  die  er  gefallen  ist  ^. 

Die  Katastrophe  an  den  Thermopylen  machte  in  Griechen- 
land einen  niederschmetternden  Eindruck.    Die  erste  Schlacht    , 
war  verloren,  ein  Heer  vernichtet,   ein  spartanischer  König 


^  Weiteres  unten  2.  Abt.  §  37  ff.     Die  Legende  von  Leonidas. 


46  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

gefallen,  was,  solange  Menschen  denken  konnten,  noch  niemals 
geschehen  war,  der  Ruf  der  spartanischen  Unbesiegbarkeit 
war  zerstört.  An  eine  Verteidigung  Mittelgriechenlands  war 
jetzt  nicht  mehr  zu  denken;  das  peloponnesische  Bundesheer 
blieb  auf  dem  Isthmos,  und  arbeitete  mit  aller  Kraft  daran, 
so  gut  es  in  der  Eile  gehen  wollte,  hier  eine  Befestigungslinie 
von  Meer  zu  Meer  anzulegen  ^.  Die  Flotte  verließ  auf  die 
Nachricht  von  Leonidas'  Niederlage  noch  in  der  folgenden 
Nacht  ihre  so  rühmlich  behauptete  Stellung  beim  Artemision 
und  gab  damit  Euboea  preis;  aber  den  Athenern  blieb  keine 
Wahl,  als  so  schnell  sie  konnten  zum  Schutz  der  bedrohten 
Heimat  zurückzukehren,  und  die  übrigen  Kontingente  waren 
nicht  stark  genug,  es  mit  der  persischen  Flotte  aufzunehmen  ^. 

Die  Perser  rückten  nun  in  Phokis  ein;  die  Einwohner 
flohen  zum  Teil  auf  die  unzugänglichen  Höhen  des  Parnasos, 
die  verlassenen  Städte  gingen  in  Flammen  auf.  Die  übrige 
Landschaft  unterwarf  sich  dem  König  ^.  Daß  auch  Delphi 
dasselbe  getan  hat,  ist  bei  der  Haltung  des  Orakels  schon  vor 
der  Ankunft  der  Perser  sehr  wahrscheinlich;  jedenfalls  mußte 
Xerxes  aus  Rücksicht  auf  seine  thessalischen  Bundesgenossen 
das  Heiligtum  schonen  *.  Ebenso  beeilten  sich  die  Boeoter 
und  opuntischen  Lokrer,  ihren  Frieden  mit  dem  Sieger  zu 
machen;  nur  Thespiae  und  Plataeae  hielten  an  der  nationalen 
Sache  fest  und  wurden  zur  Strafe  dafür  niedergebrannt, 
während  die  Bewohner  sich  nach  Attika  und  dem  Peloponnes 
gerettet  hatten  ^ 

An  eine  Verteidigung  von  Attika  war  unter  diesen  Um- 


^  Herod.  VIII  40.  71.  Daß  diese  Arbeiten  schon  vorher  begonnen  hätten, 
sagt  Herodot  nicht,  und  es  wird  auch  dadurch  unwahrscheinlich,  daß  die  Be- 
festigung erst  im  nächsten  Sommer  vollendet  wurde  (Herod.   IX  7). 

2  Herod.  VIII  21—22.  40. 

3  Herod.  VIII  31—34,  IX  31. 

*  Was  Herod.  VIII  35  ff.  von  einem  persischen  Angriff  auf  Delphi  erzählt, 
kann,  wenn  richtig,  sich  nur  auf  einen,  auf  eigene  Hand  plündernden  Haufen 
beziehen.  Vgl.  auch  Herod.  IX  42.  Nach  Ktesias  25  wäre  Mardonios  gegen 
Delphi  gezogen  und  hätte  dabei  den  Tod  gefunden.  Was  dann  c.  27  weiter 
erzählt  wird,  geht  offenbar  auf  die  Plünderung  des  Tempels  von  Branchidae. 

«  Herod.  VIII  50. 


Einnahme  Athens.  —  Salamis.  47 

Ständen  nicht  zu  denken.  Athen  selbst  hätte  es  allerdings 
auf  eine  Belagerung  ankommen  lassen  können,  aber  der 
Mauerring  war  nicht  weit  genug,  der  ganzen  Landbevölkerung 
Zuflucht  zu  gewähren,  und  vor  allem,  die  waffenfähige  Mann- 
schaft wurde  auf  der  Flotte  gebraucht.  Themistokles  aber 
war  mit  Recht  überzeugt,  daß  jetzt,  nach  der  Niederlage 
an  den  Thermopylen,  die  Entscheidung  zunächst  auf  dem 
Meere  gesucht  werden  müsse.  So  setzte  er  es  denn  durch, 
daß  die  Stadt  aufgegeben  und  die  Räumung  des  ganzen 
Landes  beschlossen  wurde;  die  waffenfähigen  Männer  be- 
stiegen die  Schiffe,  die  Weiber  und  Kinder  und  die  fahrende 
Habe  wurden  nach  Salamis,  Aegina  und  dem  Peloponnes 
hinüber  geschafft.  Ohne  Widerstand  zu  finden,  konnte  Xerxes 
in  Athen  einziehen  (Mitte  August).  Nur  auf  der  Akropolis 
war  eine  kleine  Besatzung  zurückgeblieben,  die  nach  wenigen 
Tagen  den  Angriffen  der  Perser  erlag;  der  Sieger  ließ  die  Tempel 
der  Burg  in  Feuer  aufgehen  zur  Vergeltung  für  die  Zerstörung 
von  Sardes  ^. 

Um  den  Abzug  der  attischen  Bevölkerung  zu  ermög- 
lichen und  zugleich  Megara  und  Aegina  zu  decken,  war  die 
griechische  Flotte  bei  Salamis  konzentriert  worden.  Neue 
Verstärkungen  hatten  die  Verluste  beim  Artemision  aus- 
geglichen, so  daß  Eurybiadas  jetzt  310  Schiffe  unter  seinem 
Befehl  hatte  2.  Die  feindliche  Flotte  war  inzwischen,  ohne 
sich  mit  der  Unterwerfung  von  Euboea  aufzuhalten,  geraden 
Weges  durch  den  Euripos  gesegelt  und  in  der  Bucht  von 
Phaleron,  dem  Hafen  Athens,  angelangt  *.  Die  Hellenen 
standen  damit  vor  der  Entscheidung,  ob  sie  die  Schlacht 
bei  Salamis  annehmen  oder  sich  nach  dem  Isthmos  zurück- 
ziehen sollten,  wo  das  peloponnesische  Bundesheer  zum 
Schutze  der  Halbinsel  versammelt  stand.  Die  Peloponnesier 
stimmten  begreiflicherweise  für  das  letztere;  während  die 
Athener,  Aegineten  und  Megarer  ebenso  begreiflicherweise 
für  das  Ausharren  bei  Salamis  eintraten.    War  doch  Salamis 


^  Herod.  VIII  31—39,  50—55. 

2  Herod.  VIII  40—49.     Aeschyl.  Pers.  339.    Vgl.  unten  2.  Abt.  §  27  ff. 

3  Herod.  VIII  66. 


48  11.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

das  letzte  Stück  athenischen  Bodens,  das  noch  nicht  in  der 
Hand  des  Feindes  war;  hier  hatte  der  größte  Teil  der  Be- 
völkerung Attikas  Zuflucht  gesucht  und  ihre  fahrende  Habe 
hierher  gerettet;  es  wäre  sehr  schwer  gewesen,  bei  einer 
Räumung  der  Insel  auch  nur  die  Personen  in  Sicherheit  zu 
bringen.  Und  Megara  und  Aegina  würden  dem  feindlichen 
Angriff  schutzlos  offen  gelegen  haben.  Auch  militärisch  bot 
die  Stellung  große  Vorteile;  in  den  engen  Gewässern  zwischen 
der  Insel  und  der  attischen  Küste  konnten  die  Perser  ihre 
Überzahl  wie  ihre  bessere  Manöverierfähigkeit  nicht  zur 
Geltung  bringen,  ja  es  war  anzunehmen,  daß  sie  überhaupt 
nicht  imstande  sein  würden,  auch  nur  die  Einfahrt  in  den 
Sund  zu  erzwingen.  Eine  Niederlage  schien  unter  diesen 
Umständen  kaum  zu  besorgen;  hatte  doch  die  griechische  Flotte 
am  Artemision  unter  viel  ungünstigeren  Verhältnissen  dem 
Feinde  das  Gleichgewicht  zu  halten  vermocht.  Solange  aber 
die  Griechen  bei  Salamis  blieben,  war  ein  Angriff  auf  den 
Peloponnes  für  Xerxes  unmöglich;  die  befestigte  Stellung 
auf  dem  Isthmos  konnte  zu  Lande  nicht  umgangen  werden, 
und  die  persische  Flotte  war  nicht  stark  genug,  ein  größeres 
Geschwader  gegen  den  Peloponnes  zu  entsenden  und  zugleich 
den  Griechen  bei  Salamis  die  Spitze  zu  bieten.  Dem  Gewicht 
dieser  Gründe  konnten  sich  die  Peloponnesier  nicht  entziehen, 
um  so  weniger,  als  das  athenische  Kontingent  ein  gutes  Drittel 
der  ganzen  Flotte  bildete,  was  der  Stimme  des  Themistokles 
im  Kriegsrat  ausschlaggebende  Geltung  verschaffte.  Es 
wurde  also  beschlossen,  bei   Salamis  auszuharren  ^. 

Xerxes  wünschte  eine  Schlacht  bei  Salamis  aus  denselben 
Gründen  zu  vermeiden,  welche  die  Griechen  zur  Wahl  dieser 
Stellung  bestimmt  hatten.  Er  zögerte  also  solange  als 
möglich;  endlich  mußte  er  doch  zum  Angriff  schreiten.  Die 
gute  Jahreszeit  neigte  sich  ihrem  Ende  zu,  und  den  Winter 
über  konnte  die  große  Flotte  schon  wegen  der  Schwierigkeit 
der  Verpflegung  nicht  in  den  griechischen  Gewässern  bleiben. 
Ein  Rückzug  ohne  Schlacht  aber  war  nicht  viel  besser  als 


1  Herod.  VIII  56—64. 


Salamis.  49 

eine  Niederlage.  Freilich  der  griechischen  Flotte  gegenüber 
die  Einfahrt  in  den  Sund  von  Salamis  zu  erzwingen,  wäre 
ein  ganz  aussichtsloses  Beginnen  gewesen;  Xerxes  hätte 
da  nicht  mehr  Schiffe  ins  Gefecht  bringen  können  als  der 
Feind,  und  bei  gleichen  Kräften  war  kein  entscheidender 
Erfolg  zu  erwarten.  Nur  eine  Überraschung  konnte  zum 
Ziele  führen.  Xerxes  ließ  also  eines  Abends  (es  war  schon 
gegen  Ende  September)  nach  Sonnenuntergang  seine  ganze 
Flotte  nach  Salamis  aufbrechen,  während  zugleich  das  Land- 
heer die  der  Insel  gegenüberliegende  Küste  besetzte.  Die 
Griechen  hatten  nichts  weniger  als  einen  solchen  nächtlichen 
Angriff  erwartet;  als  das  Herankommen  der  Perser  gemeldet 
wurde,  war  es  zu  spät,  die  Flotte  kampfbereit  zu  machen, 
auch  war  ja  die  Annahme  eines  Nachtgefechtes  überhaupt 
ausgeschlossen.  Die  Perser,  das  phoenikische  Kontingent 
voran,  die  loner  in  der  Nachhut,  gelangten  also  ohne  Hindernis 
in  den  Sund,  wo  sie  längs  der  attischen  Küste  in  langer  Linie 
Stellung  nahmen,  die  griechische  Flotte,  die  gegenüber  in 
den  Häfen  bei  der  Stadt  Salamis  lag,  in  weitem  Bogen  um- 
fassend. In  der  ersten  Morgenfrühe  wurde  dann  noch  eine 
Abteilung  persischer  Truppen  nach  der  kleinen  Insel  Psyttaleia 
[Hagios  Georgios)  übergesetzt,  die  vor  der  Stadt  Salamis 
mitten  im  Sunde  liegt,  an  dessen  engster  Stelle.  Die  Besatzung 
sollte,  falls  es  zur  Schlacht  kam,  die  eigenen  Schiffbrüchigen 
retten,  wenn  sie  hier  angetrieben  wurden,  die  feindlichen 
niedermachen;  weigerten  die  Griechen  die  Schlacht,  so  sollte 
die  Insel  für  den  Übergang  des  Landheeres  nach  Salamis 
einen  Stützpunkt  bilden. 

Strategisch  hatte  Xerxes  gesiegt,  auch  hier  wie  bis  jetzt 
überall  auf  diesem  Feldzuge.  Der  etwa  6  km  lange,  1 — 2  km 
breite  Sund  bot  genügenden  Raum  zur  Entfaltung,  wenn 
nicht  der  ganzen,  so  doch  des  größten  Teiles  der  Flotte,  den 
Griechen  war  jede  Möglichkeit  des  Rückzuges  abgeschnitten, 
sie  waren  rettungslos  verloren  selbst  dann,  wenn  der  Kampf 
wie  am  Artemision  unentschieden  blieb.  Bei  der  Überlegenheit 
seiner  Flotte  glaubt  der  König  aber  auf  sicheren  Sieg  rechnen 
zu  dürfen,  um  so  mehr,  als  unter  seinen  eigenen  Augen  ge- 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  4 


60  II.  Abschnitt.   —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

kämpft  werden  sollte.  An  der  schmälsten  Stelle  der  Meerenge, 
bei  einem  kleinen  Tempel  des  Herakles,  da,  wo  jetzt  die  Fähre 
nach  Salamis  geht,  ließ  er  seinen  Thronsessel  aufschlagen, 
von  dem ,  aus  er  die  Schlacht  leiten  wollte. 

Mit  Tagesanbruch  stellte  sich  die  griechische  Flotte  in 
Schlachtlinie;  die  Peloponnesier  auf  dem  rechten  Flügel  gegen 
die  loner,  die  Athener  auf  dem  linken  Flügel  gegen  die 
Phoeniker.  Hier,  in  den  Gewässern  um  Psyttaleia,  wo  der 
Sund  am  engsten  ist,  begann  die  Schlacht.  Die  Semiten 
konnten  ihre  überlegene  Manöveriertüchtigkeit  nicht  zur 
Geltung  bringen,  im  Kampfe  Mann  gegen  Mann  aber  waren 
sie  den  Athenern  bei  weitem  nicht  gewachsen.  Sie  begannen 
zu  weichen  und  sahen  sich  bald  gegen  die  attische  Küste 
zurückgedrängt.  Hier  angelangt,  blieb  ihnen  keine  Wahl, 
als  nach  links  auszubiegen,  gegen  das  Zentrum  der  persischen 
Stellung.  Dadurch  kam  auch  dieses  in  Verwirrung;  gerade 
unter  Xerxes'  Thron  beim  Herakleion,  wo  das  Fahrwasser 
durch  Felsenriffe  und  Untiefen  eingeengt  ist,  ballten  sich 
die  persischen  Schiffe  zum  Knäuel  zusammen  und  taten  sich 
gegenseitig  mehr  Schaden,  als  ihnen  der  Gegner  zufügen 
konnte.  Alles  drängte  darauf,  aus  dem  Sunde  herauszukommen, 
die  ganze  persische  Schlachtlinie  wurde  von  rechts  nach  links 
aufgerollt,  aber  wem  es  gelang,  den  Athenern  zu  entfliehen, 
fiel  den  Aegineten  und  den  übrigen  Peloponnesiern  auf  dem 
rechten  Flügel  der  griechischen  Aufstellung  in  die  Hände. 
Der  ganze  Sund  bedeckte  sich  mit  Schiffstrümmern  und  Leichen, 
bis  endlich  die  hereinbrechende  Nacht  dem  Morden  ein  Ende 
machte.  Einen  so  blutigen  Tag  hatten  die  griechischen  Ge- 
wässer noch  nie  gesehen;  die  Schmach  von  Lade  war  aus- 
getilgt. Was  von  der  persischen  Flotte  noch  übrig  war, 
suchte  Schutz  auf  der  Reede  von  Phaleron. 

Sobald  der  rechte  Flügel  der  persischen  Flotte  sich  zur 
Flucht  gewandt  hatte,  noch  während  im  östlichen  Teile  des 
Sundes  gekämpft  wurde,  war  eine  Abteilung  athenischer 
Hopliten  von  Salamis  nach  Psyttaleia  hinübergegangen 
und  hatte  die  dort  gelandete  persische  Besatzung  zusammen- 
gehauen, im  Angesichte  des  Königs,  der  drüben  am  Herakleion 


Lage  nach  d.  Schlacht.  —  Xerxes'  Rückzug.  —  Die  Griechen  nach  d.  Siege.  61 

als  ohnmächtiger  Zuschauer  stand.  Ihm  bheb  nichts  übrig, 
als   sein  Heer  nach  Athen  zurückzuführen  ^. 

Die  persische  Flotte  war  der  griechischen  noch  immer 
an  Zahl  gewachsen,  aber  unter  dem  Eindruck  der  Niederlage 
konnte  sie  nicht  daran  denken,  noch  einmal  die  Schlacht 
zu  wagen.  Der  Angriff  auf  den  Peloponnes  mußte  unter  diesen 
Umständen  aufgegeben  werden.  Immerhin  hatte  Xerxes 
auf  diesem  Feldzuge  Großes  erreicht.  Athen  war  gezüchtigt 
worden,  Griechenland  bis  zum  Isthmos  erobert,  der  glänzende 
Sieg  an  den  Thermopylen  ein  frisches  Blatt  in  dem  alten 
Ruhmeskranze  des  persischen  Heeres.  Die  paar  hundert 
Schiffe,  die  bei  Kap  Sepias  und  bei  Salamis  verloren  gegangen 
waren,  fielen  demgegenüber  kaum  ins  Gewicht,  waren  sie 
doch  von  den  Untertanen  gestellt.  Und  bei  den  Mitteln,  über 
die  das  Reich  verfügte,  schien  es  ein  leichtes  zu  sein,  den 
Verlust  zu  ersetzen.  Das  erforderte  freilich  eine  gewisse  Zeit. 
Aber  solange  die  Perser  zu  Lande  die  Oberhand  behaupteten, 
war  ihre  Stellung  in  Griechenland  gesichert;  und  von  dieser 
Basis  aus  mußte  es  früher  oder  später  gelingen,  auch  den 
Peloponnes  zu  erobern. 

In  dem  verwüsteten  Attika  allerdings  konnte  man  den 
Winter  nicht  bleiben.  Xerxes  ließ  also,  wenige  Tage  nach 
der  Schlacht,  die  Flotte  nach  Asien  zurückgehen  und  führte 
dann  das  Heer  nach  Thessalien  in  die  Winterquartiere.  Dort 
übergab  er  den  Befehl  seinem  Schwager  Mardonios;  er  selbst 
zog  weiter  nach  dem  Hellespont,  wo  er  nach  beschwerlichem 
Marsch  durch  das  rauhe  Thrakien  um  Mitte  Dezember  an- 
langte ^.  Den  Winter  über  blieb  er  in  Sardes,  um  dem  Kriegs- 
schauplatz nahe  zu  sein  ^ 

Die  Hellenen  hatten  den  Rückzug  des  Feindes  nicht 
zu  stören  gewagt.  Man  beschränkte  sich  darauf,  wie  es  einst 
Miltiades  nach  Marathon  versucht  hatte,  die  Kykladen  zum 
Anschluß  an  die  nationale  Sache  zu  bringen  und  sie  durch 
Eintreibung  von  Kontributionen  für  ihren  Abfall  zu  strafen. 


i  Aeschyl.  Pers.  290—471,  Herod.  VIII  66—96,  unten  2.  Abt.  §  41—43. 

2  Herod.  VIII  97—120.     Aeschyl.  Pers.  480—510. 

3  Herod.  IX  3.  107. 


52  II,  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

Andros,  das  die  Zahlung  weigerte,  wurde  erfolglos  belagert. 
Dann  lösten  Heer  und  Flotte  sich  auf  i;  die  geflüchtete  Be- 
völkerung Attikas  kehrte  zurück  in  ihre  verwüstete  Heimat. 
In  Thrakien  erhoben  sich  im  Spätherbst  die  Städte  auf  der 
Halbinsel  Pallene  und  die  benachbarten  Bottiaeer  gegen  die 
persische  Herrschaft.  Zwar  das  bottiaeische  Olynthos  wurde 
bald  erobert  und  den  treugebliebenen  Chalkidern  übergeben; 
Poteidaea  auf  Pallene  aber  schlug  alle  Stürme  ab,  und  die 
Belagerer  mußten  unverrichtetersache  abziehen  ^.  Materiell 
hatte  der  Abfall  nicht  viel  zu  bedeuten,  um  so  bedenklicher 
war  er  als  Symptom;  er  zeigte,  daß  die  Niederlage  bei  Salamis 
und  der  Rückzug  des  Königs  begannen,  auch  moralisch  ihre 
Wirkung  zu  tun. 

Für  den  nächsten  Feldzug  war  den  Griechen  ihre  Auf- 
gabe klar  vorgezeichnet;  sie  mußten  alles  daran  setzen,  den 
Feind  aus  Griechenland,  wenigstens  aus  Mittelgriechenland 
zu  vertreiben,  solange  die  persische  Flotte  nicht  aktionsfähig 
war.  Demgemäß  war  der  griechischen  Flotte  zunächst  nur 
eine  defensive  Rolle  zugedacht;  110  Schiffe  unter  dem  Befehl 
des  spartanischen  Königs  Leotychidas  gingen  im  Frühjahr 
nach  Delos,  um  die  Bewegungen  des  Feindes  zu  beobachten 
und  die  Kykladen  zu  schützen  ^,  während  das  Landheer 
die  Offensive  ergriff.  Doch  konnten  die  Operationen  zu  Lande, 
wegen  der  Schwierigkeit  der  Verpflegung  großer  Heeres- 
massen,  erst  um  die  Zeit  der  Ernte  beginnen. 


1  Herod.  VIII  108.  111—112.  124.  IX  10.  Über  den  angeblichen  Vor- 
schlag des  Themistokles,  zur  Zerstörung  der  Schiffbrücken  nach  dem  Hellespont 
zu  fahren,  s.  unten  2.  Abt.   §  54. 

^  Herod.  VIII  126.  129.  Darum  steht  der  Name  der  Poteidaeaten  auf 
dem  delphischen  Siegesdenkmal. 

8  Herod.  VIII  131.  132.  Daß  diesmal  ein  spartanischer  König  den  Befehl 
führte,  statt  wie  im  Vorjahr  ein  bloßer  Nauarch,  beweist  keineswegs,  daß  die 
Flotte  zu  großen  Dingen  bestimmt  war.  Denn  im  vorigen  Feldzuge  hatte  die 
Flotte  mit  dem  Landheer  zusammen  operieren  sollen,  und  die  Spartaner  haben, 
seit  dem  Zerwürfnis  zwischen  Kleomenes  und  Damaratos  auf  dem  Feldzuge 
gegen  Athen,  niemals  beide  Könige  auf  denselben  Kriegsschauplatz  geschickt 
(Herod.  V  75).  Da  war  also  für  Leotychidas  kein  Platz.  In  diesem  Jahre  aber 
hatte  die  Flotte  ein  selbständiges  Operationsfeld. 


Mardonios'  Offensive.  —  Rückzug  nach  Boeotien.  53 

Indes  Mardonios  kam  dem  Gegner  zuvor.  Er  wußte 
natürlich  sehr  wohl,  daß  ein  Angriff  auf  die  Befestigungen 
des  Isthmos  ganz  aussichtslos  war,  solange  er  keine  Flotte 
zur  Verfügung  hatte,  und  auch,  daß  er  für  dies  Jahr  auf  keine 
Unterstützung  zur  See  aus  Asien  rechnen  durfte.  Er  machte 
also  den  Versuch,  die  Athener  durch  große  Anerbietungen 
auf  seine  Seite  zu  ziehen  ^.  Als  das  ohne  Erfolg  blieb,  rückte 
er,  sobald  das  Getreide  zu  reifen  begann,  ins  Feld,  um  einen 
militärischen  Druck  auf  Athen  auszuüben,  oder  doch  die 
Peloponnesier  zu  zwingen,  aus  den  Verschanzungen  am  Isthmos 
herauszukommen;  ein  großer  Sieg  in  offener  Feldschlacht, 
an  dem  er  nicht  zweifelte,  würde  ihm  auch  ohne  Flotte  die 
Tore  des  Peloponnes  geöffnet  haben.  Von  Thessalien  nach 
der  attischen  Nordgrenze  ist  es  nicht  weiter,  als  von  Sparta 
dorthin;  und  da  Mardonios  ein  stets  schlagfertiges  Heer  zur 
Verfügung  hatte,  während  die  Peloponnesier  erst  mobil  machen 
mußten,  war  es  natürlich,  daß  er  eher  als  sie  in  Boeotien 
stand.  Die  Athener  allein  aber  waren  viel  zu  schwach,  die 
Pässe  des  Kithaeron  zu  halten;  es  blieb  ihnen  nichts  übrig, 
als  wie  im  vorigen  Jahre  die  Landschaft  zu  räumen  und  auf 
Salamis  eine  Zuflucht  zu  suchen.  Ohne  Widerstand  zu  finden, 
konnten  die  Perser  zum  zweitenmal  in  Athen  einziehen  (etwa 
Anfang  Juni).  Mardonios  erbot  sich,  den  Athenern  ihr  Gebiet 
unversehrt  zurückzugeben,  wenn  sie  noch  jetzt  seine  Vor- 
schläge annehmen  wollten;  doch  auch  diesmal  mit  nicht 
besserem  Erfolge  als  früher  ^. 

Inzwischen  begann  das  peloponnesische  Bundesheer  sich 
auf  dem  Isthmos  zu  sammeln;  den  Oberbefehl  führten 
Euryanax  und  Pausanias,  die  Brudersöhne  des  Leonidas, 
als  Regenten  für  dessen  Sohn,  den  unmündigen  König  Plei- 
starchos  ^.  Noch  waren  die  Kontingente  bei  weitem  nicht 
alle  zur  Stelle,  als  Pausanias  die  Offensive  ergriff  und  zunächst 
eine  Abteilung  von  1000  Lakedaemoniern  auf  Megara  vor- 
rücken ließ,  um  wenigstens  diese  Stadt  vor  dem  Feinde  zu 


1  Herod.  VIII  136.   140—4,   Plut.  Arist.   10. 

2  Herod.  IX  1—6;  über  die  Chronologie  unten  2,  Abt.  §  22. 
^  Über  Euryanax  und  Pausanias  s.  unten  2.  Abt.  §  58. 


54  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

schützen,  und  den  Athenern  die  Gewähr  zu  geben,  daß  die 
Hilfe  nahe  sei.  Auf  die  Nachricht  davon  zog  auch  Mardonios 
vor  Megara;  er  hoffte  die  schwache  feindliche  Abteilung 
auf  dem  Marsche  vernichten  zu  können.  Doch  er  kam  zu 
spät;  die  Lakedaemonier  waren  bereits  hinter  den  Mauern 
von  Megara  in  Sicherheit.  In  Attika  aber,  mit  dem  Kithaeron 
im  Rücken,  wollte  er  die  Entscheidungsschlacht  nicht  an- 
nehmen; ohnehin  machte  die  Schwierigkeit  der  Verpflegung 
ein  längeres  Verweilen  in  dem  unfruchtbaren  Lande  unmöglich. 
Mardonios  zerstörte  also,  was  von  Athen  nach  der  Verwüstung 
durch  Xerxes  noch  übrig  war,  und  ging  dann  über  Dekeleia 
nach  Boeotien  zurück;  hier  schlug  er  nicht  weit  von  Plataeae 
am  linken  Ufer  des  Asopos  ein  befestigtes  Lager,  Das  nahe 
Theben  bot  ihm  einen  sicheren  Stützpunkt,  das  ebene  Gelände 
ein  Schlachtfeld,  wie  er  es  für  die  Entfaltung  seiner  besten 
Waffe,  der  Reiterei,  sich  nur  wünschen  konnte.  Zugleich 
war  das  verbündete  Boeotien  gegen  jeden  Angriff  des  Feindes 
geschützt.  In  dieser  Stellung  beschloß  er  den  Gegner  zu  er- 
warten. Er  mochte  noch  etwa  50  000  Mann  asiatischer 
Truppen  unter  seinen  Befehlen  haben,  wozu  dann  weiter 
10 — ^20000  Mann  hellenischer  Bundesgenossen,  Boeoter,  Lokrer, 
Phoker,  Thessaler,  Makedonen  hinzutraten,  die  freilich  zum 
großen  Teil  recht  unzuverlässig  waren  ^. 

Währenddessen  hatte  die  peloponnesische  Hauptmacht 
den  Isthmos  überschritten;  sie  bestand,  außer  den  Lake- 
daemoniern  und  Tegeaten,  im  wesentlichen  nur  aus  den 
Kontingenten  der  Städte  am  Isthmos;  die  meisten  Arkader 
und  die  Eleier  fehlten  noch  immer.  Auf  dem  Durchmarsch 
zog  man  die  Megarer  an  sich  und  vereinigte  sich  dann  bei 
Eleusis  mit  den  Athenern.  Darauf  ging  das  Heer  über  den 
Kithaeron  und  nahm  auf  dessen  nördlichen  Vorhöhen  Stellung, 
da,  wo  die  große  Straße  von  Athen  nach  Theben  aus  dem 
Gebirge  tritt.  Es  waren  etwa  12  000  Hopliten  aus  dem  Pelo- 
ponnes,  gegen  8000  aus  Athen,  Megara  und  Plataeae,  dazu 
reichlich  ebensoviel  leichte  Truppen,  im  ganzen  eine  Masse 


1  Herod.  IX  13—15. 


Plataeae.  65 

von  etwa  50  000  Mann,  das  größte  Heer,  das  Griechenland 
bis  dahin  aufgestellt  hatte.  Man  war  also  dem  Feinde  an  Zahl 
annähernd  gewachsen;  bedenklich  war  nur  der  Umstand, 
daß  es  den  Griechen  an  Kavallerie  sogut  wie  ganz  fehlte, 
während  dem  Feinde  außer  seinen  asiatischen  Reitern  auch 
die  trefflichen  boeotischen  und  thessalischen  Geschwader 
zur  Verfügung  standen  ^. 

Die  Heere  standen  sich  eine  Zeitlang  untätig  gegenüber. 
Die  Hellenen  wagten  es  aus  Furcht  vor  der  feindlichen  Reiterei 
nicht,  in  die  Ebene  herabzusteigen,  und  Mardonios  schreckte 
vor  dem  Sturm  auf  die  Höhen  zurück,  wo  er  seine  Reiterei 
nicht  entfalten  konnte.  Nach  einem  glücklichen  Gefecht 
gegen  die  feindliche  Reiterei,  die  sich  zu  weit  vorgewagt 
hatte,  entschlossen  sich  die  Griechen  näher  an  den  Feind 
heranzurücken,  auf  die  Hügel,  die  das  Asopostal  im  Süden 
begrenzen;  ihr  linker  Flügel  stützte  sich  auf  das  halbzerstörte 
und  von  seinen  Bewohner  verlassene  Plataeae,  der  rechte 
auf  eine  Höhe,  die  jetzt  eine  Kirche  des  heiligen  Demetrion 
trägt,  oberhalb  der  Quelle  Gargaphia.  Aber  die  Hoffnung, 
Mardonios  dadurch  zum  Angriff  zu  verlocken,  schlug  fehl; 
vielmehr  hielt  der  persische  Feldherr  nach  wie  vor  seine 
Hauptmacht  auf  dem  linken  Ufer  des  Asopos  zurück  und 
beschränkte  sich  darauf,  den  Feind  durch  seine  Reiterei 
beunruhigen  zu  la"=!sen.  Infolge  der  Vorwärtsbewegung  nach 
glataeae  hin  war  ferner  die  Hauptverbindungslinie  des 
Priechischen  Heeres,  der  Paß  von  Dryoskephalae,  ohne  Deckung 
gebheben,  und  so  gelang  es  den  Persern,  hier  einen  großen 
Transport  abzufangen,  worauf  sich  dann  die  griechischen 
Proviantkolonnen  überhaupt  nicht  mehr  aus  dem  Gebirge 
herauswagten.  Es  war  also  notwendig,  den  Paß  zu  sichern, 
und  Pausanias  entschloß  sich  demgemäß  zu  einer  Front- 
änderung. Er  ließ  seinen  linken  Flügel,  das  athenische  Kon- 
tingent, bei  Plataeae  stehen,  nahm  sein  Zentrum  hinter  den 
Bach  Oeroe  zurück,  der  im  Osten  bei  Plataeae  vorbeifließt, 
eine   Stellung,   in   der  er  besser  vor  der   Belästigung  durch 


1  Herod.  IX  10.  19,  über  die  Heeresstärken  unten  2.  Abt.  §  32. 


56  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

die  feindlichen  Reiter  geschützt  war,  und  rückte  selbst  an  der 
Spitze  seines  rechten  Flügels,  der  Lakedaemonier  und  Tegeaten, 
nach  den  Vorhöhen  des  Kithaeron,  am  Ausgang  des  Passes 
von  Dryoskephalae.  Die  neue  Stellung  würde  eine  Länge 
von  5 — 6  km  gehabt  haben  und  konnte  also  mit  der  zur 
Verfügung  stehenden  Truppenzahl  sehr  gut  verteidigt  werden, 
um  so  mehr,  als  beständig  verspätete  Kontingente  aus  dem 
Peloponnes  herbeiströmten.  Um  aber  bei  dieser  Bewegung 
nicht  von  der  persischen  Reiterei  gehindert  zu  werden,  war 
es  nötig,  sie  in  der  ersten  Morgenfrühe  vorzunehmen,  und 
dabei  ging  es  nicht  ohne  Verwirrung  und  manche  Verzögerung 
ab.  Das  Zentrum  war  zu  weit  zurückgegangen  und  verlor 
dadurch  die  Fühlung  mit  den  Lakedaemoniern;  diese  selbst 
hatten  die  in  Aussicht  genommene  Stellung  am  Kithaeron 
noch  nicht  erreicht  und  standen,  vom  übrigen  Heere  getrennt, 
auf  den  flachen  Hügeln  am  Bache  Maloeis,  bei  einem  Heiligtum 
der  eleusinischen  Demeter  unterhalb  Hysiae  (beim  heutigen 
Dorf  Kriekuki),  als  die  persischen  Reiter  herankamen  und 
einen  weiteren  Vormarsch  unmöglich  machten. 

Mardonios  wünschte  eine  Entscheidung  nicht  weniger 
lebhaft  als  Pausanias.  Die  Hilfsquellen,  die  ihm  Boeotien  für 
die  Verpflegung  seines  großen  Heeres  bot,  mußten  bald  er- 
schöpft sein,  und  dann  blieb  ihm  nur  die  Wahl  zwischen 
Schlacht  oder  Rückzug.  Jetzt,  da  er  sah,  daß  die  Griechen 
ihre  Stellung  geräumt  hatten  und  auseinandergekommen 
waren,  schien  ihm  der  günstige  Augenblick  da  zu  sein,  auf 
den  er  so  lange  gewartet  hatte.  Er  überschritt  also  mit  ganzer 
Macht  den  Asopos  und  warf  sich  mit  seinen  persischen  Kern- 
truppen auf  die  Spartaner,  während  die  Boeoter  und  die 
übrigen  griechischen  Bundesgenossen  gegen  die  Athener 
auf  dem  linken  Flügel  vorgingen.  Pausanias  sah  sich  so  in 
einer  sehr  kritischen  Lage;  er  mußte  zunächst  sein  Zentrum 
heranziehen,  und  inzwischen  blieben  die  Spartaner,  Gewehr 
bei  Fuß,  dem  feindlichen  Pfeilhagel  ausgesetzt.  Aber  sie 
hielten  stand,  bis  die  Korinthier  und  andere  Kontingente 
zur  Stelle  waren,  und  jetzt  konnte  Pausanias  zum  Angriff 
schreiten.      Wie    einst   bei    Marathon,    zeigte    die   aufgelöste 


Plataeae.  57 

Fechtart  der  leichtbewaffneten  Asiaten  sich  ohnmächtig 
gegen  die  festgeschlossenen  Linien  der  erzgepanzerten  Hopliten; 
bei  dem  Versuch,  das  Gefecht  herzustellen,  fiel  Mardonios 
selbst,  und  sein  Tod  gab  das  Signal  zur  Flucht  des  persischen 
Heeres.  Gleichzeitig  hatten  die  Athener  auf  dem  linken 
Flügel  den  Angriff  der  Boeoter  zurückgeschlagen.  Die  Sieger 
schritten  nun  zum  Sturm  auf  das  persische  Lager,  das  nach 
kurzem  Kampf  unter  großem  Gemetzel  genommen  wurde, 
wobei  unermeßliche  Beute  in  ihre  Hände  fiel.  Ein  großer  Teil 
des  feindlichen  Heeres  war  überhaupt  nicht  zum  Schlagen 
gekommen;  Mardonios'  Unterfeldherr  Artabazos  sammelte 
die  Flüchtigen  unter  dem  Schutze  der  Reiterei,  der  gegenüber 
die  Griechen  an  eine  Verfolgung  nicht  denken  konnten;  die 
Megarer  und  Phleiasier,  die  zu  unvorsichtig  vorgegangen 
waren,  erlitten  dabei  schwere  Verluste.  So  gelang  es  Artabazos, 
den  Rückzug  in  guter  Ordnung  zu  bewerkstelligen,  und  seine 
Truppen,  angeblich  noch  etwa  40  000  Mann,  im  wesentlichen 
intakt,  nach  Asien  zurückzuführen.  Die  Sieger  sollen  im 
ganzen  1360  Mann  eingebüßt  haben  ^. 

Tansanias  durfte  sich  rühmen,  die  größte  Schlacht  ge- 
wonnen zu  haben,  die  je  von  Griechen  gekämpft  worden  war. 
Seine  kühne  Vorwärtsbewegung  vom  Kithaeron  nach  Plataeae 
herab  hatte  endlich,  nachdem  sie  schon  mißlungen  schien, 
doch  vollen  Erfolg  gehabt;  sie  hatte  den  Gegner  dazu  ge- 
bracht, die  Schlacht  auf  dem  von  Pausanias  gewählten  Ge- 
lände anzunehmen.  Das  lag  nun  freilich  vor  allem  daran,  daß 
Mardonios,  wenn  auch  formell  in  der  Defensive,  doch  in  Wahr- 
heit der  Angreifer  war;  als  solcher  mußte  er,  unter  allen  Um- 
ständen, eine  Schlacht  herbeiführen,  ganz  wie  Datis  bei 
Marathon,  Xerxes  bei  Salamis.  Aber  auch  in  der  Schlacht 
selbst  hat  Pausanias  sich  als  umsichtiger   Feldherr  gezeigt, 


1  Herod.  IX  20—85,  unten  2.  Abt.  §  44^46.  Munro,  Journ.  Hell.  Stud. 
XXIV,  1904,  S.  144  ff.  Winter,  Die  Schlacht  bei  Plataeae,  Dissert.  Berlin  1909. 
Kahrstedt,  Hermes  XLVIII,  1913,  S.  283  fE.  Über  die  Topographie  des 
Schlachtfeldes  am  besten  Grundy,  Persian  war,  mit  Karte  nach  eigener  Auf- 
nahme. Der  griechische  Verlust  bei  Plut.  Arist.  19  (ob  glaubwürdig?),  Herod. 
IX  69.  70  gibt  nur  Teilzahlen. 


58  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

am  glänzendsten  in  dem  kritischen  Augenblick,  als  während 
der  Frontveränderung  des  griechischen  Heeres  der  Feind 
unerwartet  mit  ganzer  Macht  zum  Angriff  schritt.  Euryanax 
sah  sich  seinem  Mitfeldherrn  gegenüber  in  den  Hintergrund 
gedrängt;  schon  die  Zeitgenossen  haben  nur  Pausanias  als 
den  Sieger  von  Plataeae  gefeiert,  und  dieser  selbst  hat  in  der 
Aufschrift  des  Dreifußes,  der  nach  der  Schlacht  in  Delphi 
geweiht  wurde,  die  Ehre  des  Sieges  für  sich  allein  in  Anspruch 
genommen  ^. 

Die  Sieger  blieben  zehn  Tage  auf  dem  Schlachtfelde, 
beschäftigt  mit  der  Bestattung  der  Toten  und  der  Verteilung 
der  Beute.  Aus  dem  Zehnten  wurden  Weihgeschenke  in 
Delphi  ,  Olympia  und  auf  dem  Isthmos  aufgestellt  ^,  und  auf 
dem  Schlachtfelde  ein  Altar  Zeus  des  Befreiers  errichtet, 
bei  dem  alle  vier  Jahre  Wettspiele  zum  Andenken  des  Sieges 
gefeiert  werden  sollten.  Den  Plataeern  wurde  im  Namen 
der  verbündeten  Staaten  die  Unverletzlichkeit  ihres  Gebietes 
gewährleistet  ^.  Dann  zog  das  Heer  gegen  Theben,  das  nach 
zwanzigtägiger  Belagerung  zur  Unterwerfung  gebracht  wurde. 
Von  den  Führern  der  medischen  Partei  war  der  angeschenste, 
Attaginos,  entflohen,  die  übrigen  wurden  Pausanias  aus- 
geliefert, der  sie  auf  dem  Isthmos  als  Vaterlandsverräter 
hinrichten  ließ;  der  boeotische  Bund,  an  dessen  Spitze  Theben 
bisher  gestanden  hatte,  wurde  aufgelöst  ^.  Die  Kontingente 
des  Heeres  wurden  in  ihre  Heimat  entlassen.  Hellas  konnte 
aufatmen;  die  Persernot  war  vorüber.  Fortan  sollte  durch 
zwei  Jahrhunderte  der  Boden  Griechenlands  von  keinem 
fremden  Feinde  betreten  werden. 


1  Thuk.  I  132,  2. 

2  Herod.  IX  81,  das  delphische  Weihgeschenk  IGA.  70;  Fabricius,  Jahrh. 
arch.  Inst.  I,  1886,  S.  175  ff.;  Domaszewski,  N.  Heidelb.  Jahrh.  I,  1891,  S.  181ff.; 
über  das  Weihgeschenk  von  Olympia  Paus.  V  23,  1.  2;  Boissevain  in  der  Fest- 
schrift für  Hirschfeld,   Berlin   1903,   S.   69  i?. 

^  Inschrift  des  Altars  Simonid.  fr.  140,  Eleutherien  Plut.  Arist.  21,  Strab. 
IX  412,  Paus.  IX  2,  5,  Poseidippos  fr.  29  bei  Herakl.  Krit.  (sog.  Dikaearchos) 
11  {Geogr.  Gr.  Min.  1 102),  Privilegien  der  Plataeer  Thuk.  II  71,  2,  Plut.  Arist.  21. 

*  Herod.  IX  86 — 88,  Auflösung  der  boeotischen  Bundes  lustin.  III  6,  10, 
Diod.  XI  81.  1.  2. 


Unterwerfung  Thebens.  —  Mykale.  59 

Jetzt  war  der  Augenblick  zur  Befreiung  der  Stammes- 
genossen jenseits  des  Meeres  gekommen.  Die  griechische 
Flotte  war  den  Sommer  über  bei  Delos  geblieben  (oben  S.  52), 
aber  der  persische  Angriff,  den  man  erwartet  hatte,  war  nicht 
erfolgt,  die  meisten  Kontingente  der  feindlichen  Flotte  hatten 
sich  nach  der  Schlacht  bei  Salamis  in  ihre  Heimatshäfen 
zerstreut  und  sind  auch  im  nächsten  Frühjahr  nicht  zurück- 
gekehrt; der  Rest  lag  zum  Schutze  loniens  bei  Samos,  war 
aber  nicht  stark  genug,  um  eine  Seeschlacht  zu  wagen  ^. 
Dagegen  erhielt  Leotychidas  aus  Chios  und  Samos  dringende 
Aufforderungen,  nach  lonien  hinüberzukommen,  wo  alles 
zum  Aufstand  bereit  sei.  So  segelten  die  Hellenen  nach  Samos, 
um  die  Zeit,  als  bei  Flataeae  gekämpft  wurde,  wahrscheinlich 
erst  auf  die  Nachricht  von  dem  entscheidenden  Siege.  Die 
Perser  warteten  ihre  Ankunft  nicht  ab  und  gingen  nach 
der  nahen  Küste  des  Festlandes  zurück,  wo  sie  am  Nordufer 
des  latmischen  Busens,  Milet  gegenüber,  unweit  des  Vor- 
gebirges Mykale,  ein  befestigtes  Lager  schlugen,  und  hier 
ihre  Schiffe  ans  Land  zogen.  Sie  glaubten,  in  dieser  starken 
Stellung  einen  feindlichen  Angriff  abschlagen  zu  können, 
und  für  den  schlimmsten  Fall  hatten  sie  den  Rückzug  zu 
Lande  frei.  Als  die  Griechen  sahen,  daß  die  Perser  eine  See- 
schlacht nicht  annahmen,  setzten  sie  ihre  Truppen  ans  Land 
und  schritten  zum  Sturm.  Die  ionischen  Kontingente  im 
persischen  Heer  machten  mit  ihren  Landsleuten  gemeinsame 
Sache,  und  so  wurden  die  Befestigungen  nach  heftigem  Kampfe 
genommen.  Als  alles  verloren  war,  steckten  die  Perser  ihre 
Flotte  in   Brand   und  räumten  das  Lager ". 


^  Herod.  IX  96  ßou\€UO|udvoi0i  Y^p  0qpi  ^bÖKee  vau|uaxiriv  jur)  iroi^eoBai, 
oö  fäp  dbÖKeov  ö|aoToi  eivai.  Da  die  griechische  Flotte  nach  Herod.  VIII  131: 
110  Schiffe  zählte,  kann  die  persische  höchstens  ebenso  stark  gewesen  sein, 
während  sie  nach  Salamis  doch  noch  mindestens  300  Schiffe  gezählt  haben 
muß;  daraus  ergibt  sich  das  oben  im  Texte  Gesagte.  Die  Phoeniker  sollen  nach 
Herod.  1X96  erst  von  Samos  aus  nach  Hause  gesandt  worden  sein;  aber  wenn 
das  phoenikische  Kontingent,  das  beste  und  zahlreichste,  noch  bei  der  persischen 
Flotte  war,  würde  sie  doch  wohl  der  griechischen  gewachsen  gewesen  sein.  Es 
ist  also  viel  wahrscheinlicher,  daß  die  Phoeniker  schon  gleich  nach  Salamis 
nach  Hause  gesegelt  sind,  wie  Diod.  XI  19,  4;  27,  1  angibt. 

^  Herod.  IX  96 — 106,  der  c.  96  erzählt,  daß  ein  persisches  Landheer  von 


60  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Persier  und  Phoeniker. 

Die  Folge  dieses  Sieges  war  der  Abfall  ganz  loniens; 
die  von  den  Persern  eingesetzten  Tyrannen  wurden  überall 
verjagt,  die  Inseln  Samos,  Lesbos  und  Chios  in  den  helleni- 
schen Bund  aufgenommen;  mit  den  festländischen  Städten, 
deren  Verteidigung  die  Peloponnesier  nicht  übernehmen 
mochten,  schlössen  die  Athener  ein  Separatbündnis  ^  Die 
hellenische  Flotte  fuhr  nun  weiter  nach  dem  Hellespont,  wo 
Abydos  und  die  meisten  anderen  Griechenstädte  sogleich 
übertraten.  Da  inzwischen  der  Herbst  herangekommen  war, 
kehrten  die  Peloponnesier  nach  Hause  zurück;  die  Athener 
dagegen,  von  ihren  neuen  ionischen  und  hellespontischen 
Bundesgenossen  unterstützt,  schritten  zum  Angriff  auf  das 
Abydos  gegenüberliegende  Sestos,  das  von  einer  persischen 
Besatzung  gehalten  wurde.  Die  Belagerung  des  sehr  festen 
Platzes  zog  sich  bis  tief  in  den  Herbst  hinein;  endlich  zwang 
der  Hunger  die  Verteidiger,  die  Stadt  zu  räumen  ^.  Der 
Hellespont  war  damit  ganz  in  griechischer  Hand  und  für  die 
Perser  gesperrt,  so  daß  Artabazos,  als  er  mit  den  Resten  des 
bei  Plataeae  geschlagenen  Heeres  im  Spätherbst  hier  ankam, 
bei   Byzantion  über  den   Bosporos  gehen  mußte  ^ 

Mit  dem  Frühjahr  478  ging  die  peloponnesische  Flotte 
von  neuem  in  See,  diesmal  allerdings  nur  20  Trieren  stark, 
unter  dem  Befehl  des  Siegers  von  Plataeae,  Pausanias.  Dreißig 
attische  Schiffe  schlössen  sich  an;  dazu  kamen  die  Kontingente 
der  im  vorigen  Jahre  befreiten  loner  und  Lesbier.  Die  Inseln 
an  der  karischen  Küste  wurden  zum  Abfall  von  den  Persern 
gebracht,  dann  fuhr  die  Flotte,  ohne  Widerstand  zu  finden, 


60  000  Mann  die  Flotte  gedeckt  habe.  Das  kann  nicht  richtig  sein,  da  die  grie- 
chische Flotte  nicht  wohl  mehr  als  2 — 3000  Kombattanten  an  Bord  haben 
konnte,  und  die  Rudermannschaften  militärisch  wertlos  waren.  Es  ist  also  klar, 
daß  ein  persisches  Landheer  von  irgend  nennenswerter  Stärke  nicht  zur  Stelle 
gewesen  ist.  Ebenso  klar  ist  es,  daß  die  Griechen  nicht  so  töricht  gewesen  sein 
können,  die  eroberte  feindliche  Flotte  zu  verbrennen;  es  müssen  also  die  Perser 
selbst  gewesen  sein,  die  ihre  Schiffe  verbrannt  haben,  um  sie  nicht  dem  Feind 
in  die  Hände  fallen  zu  lassen. 

1  Herod.  IX  104,    Leo,  Verh.  der  Phil-Vers,  in  Wiesbaden  1878  S.  60ff. 

2  Herod.    IX  90—122.      Thuk.    I  89. 

8  Herod.  IX  89,  s.  unten  2.  Abt.  §  22. 


Einnahme  von  Sestos  und  Byzantion.  —  Abfall  der  Ion  er  zu  Athen.    61 

nach  Kypros,  das  ebenfalls  zum  größten  Teile  den  Persern 
entrissen  wurde.  Von  dort  wandte  man  sich  wieder  nach  den 
hellespontischen  Gewässern  zurück,  wo  nach  langer  Be- 
lagerung Byzantion  genommen  wurde,  die  letzte  Festung, 
die  hier  noch  von  den  Persern  besetzt  war  ^. 

Bisher  hatten  die  Athener  auch  zur  See  sich  dem  spar- 
tanischen Oberbefehl  willig  unterworfen,  war  doch  diese 
Unterordnung  das  einzige  Mittel,  um  ein  Zusammenwirken 
der  peloponnesischen  und  attischen  Flotte  möglich  zu  machen. 
Seit  aber  die  loner  dem  Bunde  beigetreten  waren,  brauchte 
man  die  Peloponnesier  nicht  mehr,  um  so  weniger,  als  diese 
doch  nicht  gewillt  waren,  für  den  Seekrieg  irgendwelche 
nennenswerten  Anstrengungen  zu  machen;  die  20  Schiffe, 
die  mit  Pausanias  gekommen  waren,  konnten  sehr  wohl 
anderweitig  ersetzt  werden.  Und  war  es  nicht  ein  Widersinn, 
die  Flotte  von  Offizieren  befehligen  zu  lassen,  die  ihr  ganzes 
Leben  lang  nur  zu  Lande  gedient  hatten?  Dazu  kam,  daß 
das  stramm -militärische  spartanische  Wesen  den  asiatischen 
Griechen  sehr  unsympatisch  war;  und  Pausanias,  der  sich 
seit  seinem  Siege  bei  Plataeae  für  den  leibhaftigen  Herrgott 
hielt  und  seine  Untergebenen  dementsprechend  behandelte, 
war  am  wenigsten  der  Mann  dazu,  für  Sparta  Stimmung 
zu  machen.  So  kam  es  denn  nach  der  Einnahme  von  Byzantion 
zur  offenen  Meuterei  auf  der  Flotte.  Die  loner  weigerten 
den  Befehlen  des  spartanischen  Admirals  den  Gehorsam 
und  trugen  die  Führung  im  Seekriege  den  Athenern  an,  die 
sich  natürlich  nicht  lange  bitten  ließen  (477).  Pausanias 
wurde  auf  die  Nachricht  von  diesen  Vorgängen  nach  Sparta 
zurückgerufen;  aber  sein  Nachfolger,  der  Nauarch  Dorkis, 
fand  bei  den  Bundesgenossen  keine  bessere  Aufnahme.     Den 


^  Thuk.  I  94.  128,  5.  Es  ist  klar,  daß  die  Hellenen  nach  K}rpros  erst  fahren 
konnten,  wenn  sie  Rhodos  und  die  benachbarten  Inseln  in  ihrer  Gewalt  hatten,^ 
vgl.  Timokreon  fr.  1  und  meine  Bemerkungen  Rh.  Mus.  XLIII,  1888,  S.  107  ff. 
und  unten  2.  Abt.  §  53.  Damals  wird  Artemisia  von  Hahkarnassos  den  Besitz 
von  Kos  und  Kalymna  und  Nisyros  (Herod.  VII  99)  verloren  haben,  die  später 
als  selbständige  Mitglieder  des  attischen  Seebundes  erscheinen.  Halikamassoa 
selbst  ist  wahrscheinlich  bis  zur  Schlacht  am  Eurymedon  persisch  geblieben. 


62  11.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

Spartanern  blieb  nichts  übrig,  als  zum  bösen  Spiel  gute  Miene 
zu  machen;  man  rief  die  peloponnesischen  Kontingente  von 
der  Flotte  ab   und  war  im  Grunde  gar  nicht  so  unzufrieden, 
die    Führung    des    kostspieligen    Seekrieges    losgeworden    zu 
sein  ^.      Die  Gefahren,   welche   dieser  Verzicht  auf  die   See- 
herrschaft dereinst  heraufführen  sollte,  ahnte  man  in  Sparta 
noch  nicht;  auch  stand  man  ja  zu  Athen  in  den  besten  Be- 
ziehungen.   Immerhin  ließ  man  das  wichtige  Byzantion  nicht 
aus  den  Händen   und   sicherte  sich  dadurch  die  Möglichkeit, 
jederzeit  wieder  in  die  asiatischen  Verhältnisse  einzugreifen  ^. 
Inzwischen    gab    es   für    Sparta    in  Griechenland    selbst 
dringendere   Aufgaben   zu   lösen.       König   Leotychidas   ging 
mit    einem   Heere   und   einer    Flotte   nach   Thessalien,    diese 
Landschaft,    oder    vielmehr    die    dort    herrschenden    Adels - 
geschlechter  für  ihren  Abfall  zu  den  Persern  zu  züchtigen  (477). 
Es  wurden  denn  auch  bedeutende  Erfolge  erreicht;  Pagasae, 
der  Hafen  von  Pherae,  wurde  genommen  und  der  Herrscher 
dieser  Stadt,  Aristomedes  vertrieben.  Aber  gegen  die  Aleuaden 
von  Larisa,  mit  ihrer  überlegenen  Reiterei,  vermochte  Leo- 
tychidas in  dem  ebenen  Lande  nichts  Ernstliches  auszurichten, 
wenn  er  auch  in  allen  Gefechten  siegreich  war.     So  verging 
der   Sommer,    ohne   eine   Entscheidung   gebracht   zu   haben; 
das  peloponnesische  Heer  nahm  bei  Pherae  Winterquartiere, 
und  endlich  blieb  nichts  übrig,  als  mit  den  Aleuaden  einen 
Vertrag  zu  schließen,  der  sie  in  ihrer  Stellung  an  der  Spitze 
von  Larisa  beließ.    Immerhin  war  das  Übergewicht  gebrochen, 
das  sie  bisher  in  Thessalien  gehabt  hatten.     Doch  in  Sparta 
hatte  man  mehr  erwartet;  man  sprach  von  Bestechung,  und 
dieser    Verdacht    sollte    Leotychidas    später    verhängnisvoll 
werden  ^ 

1  Thuk.   I  95,  unten  2.  Abt.    §  68. 

^  Das  ergibt  sich  daraus,  daß  Pausanias  später  dahin  zurückkehren  konnte; 
s.  unten  S.  66. 

8  Herod.  VI  72,  Paus.  III  7,  9,  Plut.  de  Herod.  malign.  21,  2  S.  859.  Nach 
Plutarch  a.  a.  O.  wären  zwei  thessalische  Dynasten,  Angelos  und  Aristomedes, 
von  Leotychidas  gestürzt  worden;  Aleuaden  können  das  nicht  gewesen  sein, 
da  diese  ja  mit  dem  spartanischen  König  ein  Abkommen  geschlossen  haben 
(Herod.  a.  a.  0.),  auch  herrschten  in  Larisa  damals  Thorax  und  seine  Brüder 


Leotychidas  in  Thessalien.  —  Der  Delische  Bund.  63 

Währenddessen  schritt  Athen  zur  Organisation  seiner 
neuen  Bundesgenossenschaft.  War  es  doch  klar,  daß  der 
Krieg  gegen  Persien  sich  in  die  Länge  ziehen  würde;  es  galt 
also,  für  die  Beschaffung  der  nötigen  finanziellen  Mittel  Vor- 
sorge zu  treffen.  Und  diese  Mittel  waren  reichlich  vorhanden; 
man  brauchte  nur  die  Tribute,  die  bisher  an  die  Perser  ent- 
richtet worden  waren,  an  die  hellenische  Kriegskasse  abzu- 
führen. Die  wenigen  Staaten,  die  eine  leistungsfähige  Marine 
besaßen,  wie  Samos,  Chios,  Lesbos,  Thasos  und  Naxos,  bheben 
von  dieser  Zahlung  befreit  und  unterhielten  dafür  ihr  Flotten- 
kontingent aus  eigenen  Mitteln;  die  übrigen  zahlten  einen 
jährlichen  Beitrag  ((pöpoq)  an  den  Bundesschatz,  und  wurden 
dafür  des  lästigen  Kriegsdienstes  ledig,  den  sie  in  der  Perserzeit 
noch  neben  dem  Tribute  zu  leisten  .gehabt  hatten^.     Athen 


(Herod.  IX  1,  58).  Es  handelt  sich  also  um  Herrscher  anderer  thessalischer 
Städte.  Ein  Aristomedes  aus  Pherae  erscheint  später  als  Offizier  in  persischan 
Diensten  im  Kriege  gegen  Philipp  und  bei  Issos  gegen  Alexander  (Didym. 
zu  Demosth.  9,  43,  Arr.  Anab.  II  13,  2);  er  hat  also  zu  der  Philipp  feindlichen 
Partei  in  Thessalien  gehört,  folglich  zum  Anhang  der  Tyrannen  von  Pherae, 
vielleicht  zum  Tyrannenhause  selbst.  Da  nun  Leotychidas  die  Winterquartiere 
eben  im  Gebiet  von  Pherae  genommen  hat  (Plut.  Them.  20,  vgl.  unten  2.  Abt. 
§  72),  so  liegt  die  Vermutung  sehr  nahe,  daß  auch  jener  ältere  Aristomedes  in 
Pherae  zu  Hause  war.  Der  Name  "ÄYT^^oe;  ist  selten,  er  kommt  zwar  gerade 
in  Thessalien  {Inscr.  Thess.  1228,  27)  und  im  benachbarten  Epeiros  (Plut.  Pyrrh.  2) 
vor,  paßt  aber  wenig  für  den  Angehörigen  eines  vornehmen  Hauses;  es  hegt 
also  nahe,  an  eine  Verschreibung  aus  ÄY^^oioq  zu  denken,  was  auf  das 
Dynastengeschlecht  von  Pharsalos  führen  würde  (delphische  Inschrift  des 
Daochos,  Bull.  Corr.  Hell.  XXI,  1897,  S.  592  ff.  =  Michel  1281).  Hat  der  Mann 
aber  wirklich  Angelos  geheißen,  so  mag  er  ein  Bruder  des  Aristomedes  von 
Pherae  oder  Herrscher  einer  der  umhegenden  Städte  gewesen  sein.  Über  die 
Chronologie  unten  2.  Abt.   §  72. 

^  Da  fast  alle  Gemeinden,  die  mit  Athen  den  neuen  Bund  schlössen,  unter 
persischer  Herrschaft  gestanden  hatten,  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache,  daß 
die  bisherigen  Tributsätze  auch  unter  der  neuen  Ordnung  in  Geltung  blieben 
oder  doch  die  Grundlage  für  die  neue  Veranlagung  bildeten.  Das  sagt  denn 
auch  Herodot  mit  klaren  Worten  an  einer  Stelle,  die  den  Auslegern  viel  Kopf- 
zerbrechen gemacht  hat  (VI  42);  dort  wird  erzählt,  daß  Artaphernes  nach 
Unterdrückung  des  ionischen  Aufstandes  (pöpou(;  SxaSe  ^KdffTOim,  oi  Kaxd 
XÜjpriv  biaTeX^ouoi  ^xovTeq  ^k  toütou  toö  xp^vou  dei  In  Kai  ic,  i\xk  wc,  ^röxön" 
oav  ^E  ApTaqpdpveo«^.  An  die  Perser  haben  die  ionischen  Städte  in  Herodots  Zeit 
keinen  Tribut  gezahlt,  wie  an  und  für  sich  klar  ist  und  von  Thuk.  VIII  5,  5 


64  11.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

übernahm  es,  aus  diesen  Geldern  eine  Flotte  aufzustellen, 
die  stark  genug  wäre,  das  Aegaeische  Meer  gegen  die  Perser 
zu  verteidigen.  Die  Bestimmung  der  Höhe  des  Beitrages, 
den  jeder  Staat  zu  zahlen  hatte,  wurde  in  Aristeides'  Hände 
gelegt,  der  durch  seine  über  allem  Zweifel  stehende  Integrität 
wie  kein  zweiter  zu  diesem  Geschäfte  geeignet  war;  und  er 
entledigte  sich  denn  auch  der  schwierigen  Aufgabe  zu 
allgemeiner  Zufriedenheit.  Der  Gesamtbetrag  belief  sich  auf 
460  attische  Talente,  oder  etwa  2Y2  Millionen  Mark,  eine 
für  die  griechischen  Verhältnisse  dieser  Zeit  ganz  ungeheure 
Summe,  so  sehr  sie  auch  hinter  den  finanziellen  Mitteln,  die 
der  Großkönig  zur  Verfügung  hatte,  zurückstehen  mochte. 
Die  Gelder  sollten  bei  dem  Apollontempel  auf  Delos,  dem 
gemeinsamen  Heiligtum  des  ionischen  Stammes,  nieder- 
gelegt und  dort  von  einer  athenischen  Behörde  von  10  Männern, 


ausdrücklich  bezeugt  wird;  also  spricht  Herodot  von  dem  Tribut,  der  an  die 
Athener  gezahlt  wurde.  So  erklärt  es  sich  auch,  daß  Lemnos  und  Imbros 
allein  von  allen  athenischen  Kleruchien  tributpflichtig  gewesen  sind;  sie 
waren  es  in  der  Perserzeit  gewesen  und  durften  natürlich  keine  privilegierte 
Stellung  erhalten.  Nun  soll  allerdings  die  erste  Satrapie  unter  Dareios  400 
babylonische  oder  rund  470  attische  Talente  gezahlt  haben  (Herod.  III  90), 
während  die  entsprechenden  Steuerbezirke  des  attischen  Reiches,  der  'luuviKÖi; 
und  KapiKÖc;  cpöpoc;,  nicht  mehr  als  151  tal.  gezahlt  haben  (Pedroli  in 
meinen  Studi  di  Stör.  Ant.  I  199).  Doch  waren  gerade  die  steuerkräftigsten 
Gemeinden,  Chics,  Samos  und  die  Städte  auf  Lesbos  unter  der  athenischen 
Herrschaft  tributfrei,  Lykien  zahlte  nur  die  ganz  irrisorische  Summe  von 
10  tal.,  Pamphylien,  das  innere  Karlen,  Magnesia  am  Maeandros  lagen 
überhaupt  außerhalb  des  athenischen  Machtbereichs.  Da  Rhodos  den 
Athenern  25  tal.  gezahlt  hat,  wird  der  Tribut  der  drei  anderen  großen 
Inseln  in  der  Perserzeit  auf  etwa  70  tal.  geschätzt  werden  können,  rech- 
nen wir  weiter  10  tal.  auf  Magnesia  (die  50  tal.  bei  Nepos  Them.  10,  3 
sind  natürlich  nicht  der  Tribut,  sondern  die  Einkünfte  des  Stadtherrn  Themi- 
stokles),  je  50  tal.  auf  Lykien  und  Pamphylien,  100  tal.  auf  Karlen,  so  erhalten 
wir  annähernd  die  Summe  bei  Herodot,  der  ja  nur  eine  runde  Zahl  gibt.  Auch 
kann  die  Zahl  übertrieben  sein.  Wenigstens  ist  es  ganz  ausgeschlossen,  daß 
das  benachbarte  Lydien,  wie  Herodot  angibt,  500  tal.  gezahlt  hat,  diese  Zahl 
ist  vielmehr  nur  haltbar,  wenn  wir  sie  auf  Lydien  und  die  Küstenprovinz  zu- 
sammen beziehen,  die  ja  bis  gegen  Ende  des  V.  Jahrhunderts  unter  demselben 
Satrapen  gestanden  haben  (Krumbholz,  De  Asiae  Minoris  satrapis  persicisy 
Diss.  Leipzig  1883,  S.  16  ff.). 


Feldzüge  in  Thrakien.  65 


den  „Schatzmeistern  der  Hellenen"  (Hellenotamien)  ver- 
waltet werden;  hier  trat  auch  die  Bundesversammlung  zu- 
sammen, um  über  die  gemeinsamen  Angelegenheiten  zu 
beraten.     Die  Führung  im  Kriege  stand  den  Athenern  zu  ^. 

Es  waren  schwere  Lasten,  die  der  Bund  seinen  Mit- 
gliedern auferlegte,  und  noch  schwerer  mußte  die  Beschränkung 
der  Autonomie  der  Einzelstaaten  empfunden  werden,  die  durch 
das  Bundesverhältnis  notwendig  gegeben  war.  Aber  die 
bittere  Lehre  der  Fremdherrschaft  war  nicht  verloren  ge- 
wesen; selbst  diesem  so  durch  und  durch  partikularistisch 
gesinnten  Volke  war  es  endlich  klar  geworden,  daß  die  neu 
gewonnene  Freiheit  nur  durch  Einigkeit  zu  behaupten  war. 
So  traten  denn  alle  vom  Perserjoche  befreiten  Städte  dem 
Bunde  bei,  außerdem  Euboea  und  die  westhchen  Kykladen, 
die  zwar  frei  geblieben  waren,  aber  die  Persergefahr  aus 
nächster  Nähe  gesehen  hatten.  Es  erleichterte  die  Einigung, 
daß  die  meisten  dieser  Staaten,  wie  die  Athener  selbst,  ionischen 
Stammes  waren,  und  sich,  direkt  oder  indirekt  für  Kolonien 
Athens  ansahen. 

Die  dringendste  Aufgabe  für  den  neuen  Bund  war  die 
Säuberung  der  thrakischen  Südküste  von  den  noch  dort 
stehenden  persischen  Garnisonen.  Demgemäß  wandte  sich 
die  Bundesfiotte  unter  Kimon,  dem  jungen  Sohn  des  Miltiades, 
gegen  Eion  an  der  Mündung  des  Strymon  und  brachte  diese 
Festung  nach  hartnäckigem  Widerstände  in  ihre  Gewalt  (476)» 
Es  war  der  erste  militärische  Erfolg  des  neuen  Bundes,  und 
er  erfüllte  die  Athener  mit  berechtigtem  Selbstgefühl.  Der 
wichtige  Platz,  auf  den  Athen  noch  von  der  Peisistratidenzeit 
her  Ansprüche  hatte,  wurde  durch  eine  attische  Kolonie 
gesichert  ^.      Auch   aus   den   übrigen   thrakischen   Festungen 


1  Thuk.  I  96.  Vgl.  Rh.  Mus.  XLIII,  1888,  S.  104—113,  wo  ich,  gegen. 
Kirchhoff,  gezeigt  habe,  daß  der  Bund  schon  von  Anfang  an  annähernd 
die  Ausdehnung  gehabt  haben  muß,  die  er  bis  auf  den  peloponnesischen  Krieg 
behalten  hat.  Über  die  Organisation  des  Bundes  U.  Köhler,  Urkunden  und' 
Untersuchungen  zur  Geschichte  des  delisch-attischen  Bundes,  Abh.  Berl.  Akad.  1869. 

*  Thuk.  I  98  Herod,  VII  107,  vgl.  die  Inschriften  der  Hermen,  die  in 
Athen  zum  Gedächtnis  des  Sieges  aufgestellt  wurden,  bei  Aesch.  gKtes.  183 
und  Plut.  Kim.  7.     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  68. 

l'eloch,  Griech.  Geschichte  If,  i.     2.  Auf  1.  5 


€6  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

wurden  die  persischen  Besatzungen  jetzt  vertrieben;  nur 
Doriskos  unweit  der  Hebrosmündung  hielt  sich  noch  durch 
einige  Jahre  ^. 

Bald  nach  dem  Fall  von  Eion  nahm  Kimon  die  kleine 
Insel  Skyros  in  Besitz,  die  bisher  ein  Seeräubernest  gewesen 
war,  und  die  nun  an  attische  Kleruchen  verteilt  wurde  (475)  ^. 
Auch  Karystos,  die  einzige  Stadt  auf  Euboea,  die  bisher  ihre 
Unabhängigkeit  bewahrt  hatte,  wurde  zum  Anschluß  an  den 
Bund  gezwungen.  Ein  Aufstand  der  Naxier  wurde  unter- 
drückt und  die  Insel  mit  dem  Verluste  ihrer  Autonomie  be- 
straft. Es  war  das  erste  Mal,  daß  ein  Bundesstaat  sich  gegen 
Athen  aufgelehnt  hatte;  ein  bedenkliches  Symptom  dafür, 
daß  die  Einigkeit  unter  den  Verbündeten  zu  schwinden  be- 
gann ^, 

Um  dieselbe  Zeit  etwa  gewannen  die  Athener  Byzantion. 
Pausanias  hatte,  wie  wir  wissen,  bei  seiner  Abberufung  hier 
eine  Besatzung  zurückgelassen;  später  war  er  ohne  Auftrag 
seiner  Regierung  dahin  zurückgekehrt,  um  auf  eigene  Hand 
am  Kriege  gegen  Persien  sich  zu  beteiligen.  Er  soll  sich  hier 
•eine  Hofhaltung  nach  persischem  Muster  eingerichtet,  per- 
sische Tracht  angelegt,  sich  mit  medischen  und  aegyptischen 
Trabanten  umgeben  haben.  Man  erzählte  sich  auch,  daß  er 
geheime  Verbindungen  mit  dem  Großkönig  unterhielte. 
Mochte  dieser  Verdacht  nun  begründet  sein  oder  nicht,  er  gab 
den  Athenern  den  willkommenen  Vorwand  zur  Intervention. 
Byzantion  wurde  belagert,  und  Pausanias  zur  Räumung 
des  wichtigen  Platzes  genötigt  (472).  Die  spartanische  Re- 
gierung erhob  keinen  Widerspruch,  da  ihr  die  Machtstellung 
des  Siegers  von  Plataeae  am  Hellespont  mindestens  ebenso 
unbequem  war  als  den  Athenern  *. 

1  Herod.  VII  106. 

2  Thuk.  I  98.    Plut.  Kim.  8.    Thes.  36,  vgl.  unten  2.  Abt.  §  68. 

3  Thuk.  I  98.  Über  den  Krieg  mit  Karystos  auch  Herod.  IX  105.  S. 
unten  2.  Abt.   §  69. 

*  Thuk.  I  128—131,  dem  Nepos  {Paus.  3)  undDiodor  (XI  44  f.)  folgen, 
lust.  IX  1,  3.  Die  Annahme  persischer  Sitte  kann,  wenn  überhaupt  etwas 
wahres  an  der  Sache  ist,  erst  in  Pausanias'  zweiten  Aufenthalt  in  Byzantion 
fallen;  s.  unten  2.  Abt.  §  58;  über  die  Chronologie  §  70. 


Pausanias  aus  Byzantion  vertrieben.  —  Schlacht  am  Eurymedon.       67 

Der  König  hatte  allen  diesen  Fortschritten  der  Athener 
untätig  zusehen  müssen,  da  er  nicht  imstande  war,  eine  Flotte 
nach  dem  Aegaeischen  Meere  zu  schicken;  denn  zunächst 
galt  es,  Kypros  zum  Gehorsam  zurückzubringen.  Die  dort 
von  Pausanias  befreiten  Städte  (oben  S.  61)  hatten  sich 
nach  dessen  Sturze  dem  athenischen  Seebunde  nicht  an- 
geschlossen und  waren  Sparta  treugeblieben,  dieses  aber  war 
nach  dem  Abfalle  Athens  und  der  loner  nicht  mehr  imstande, 
die  Insel  wirksam  zu  schützen.  So  wurde  die  persische  Herr- 
schaft hier  bald  wieder  hergestellt  ^.  Nun  sollte  die  Reihe 
an  lonien  kommen,  aber  man  wußte  in  Susa  nur  zu  gut, 
daß  ein  solches  Unternehmen  sehr  sorgfältige  Vorbereitungen 
erforderte.  Endlich,  um  470,  waren  die  Rüstungen  vollendet; 
eine  phoenikische  Flotte  von  120  Trieren  wurde  nach  Pam- 
phylien  vorgeschoben,  wo  sie,  in  Erwartung  weiterer  Ver- 
stärkungen, an  der  Mündung  des  Eurymedon  vor  Anker  ging. 
Doch  Kimon  kam  dem  Angriff  zuvor;  er  segelte  dem  Feinde 
in  die  pamphylischen  Gewässer  entgegen  und  wandte  sich 
zunächst    gegen    Phaseiis,    die    blühende    rhodische    Kolonie 


^  Direkt  überliefert  ist  davon  nichts,  da  unsere  Quellen  für  diese  Zeit  nur 
von  dem  sprechen,  was  die  Athener  getan  haben;  wird  doch  selbst Leotychidas' 
thessalischer  Zug  nur  beiläufig  bei  Gelegenheit  der  Amtsentsetzung  des  Königs 
erwähnt.  So  hören  wir  denn  von  Kypros  seit  478  nichts  weiter,  bis  die  Athener 
bei  Beginn  des  aegjrptischen  Aufstandes  wieder  eine  Flotte  dorthin  sandten. 
In  der  Zwischenzeit  haben  sie  sich  offenbar  ujn  die  Insel  nicht  gekümmert, 
und  diese  kann  also  in  den  Seebund  nicht  eingetreten  sein.  Andererseits  ist 
klar,  daß  die  Perser  eine  Flotte  nach  Pamphylien  nicht  vorschieben  konnten, 
bis  Kypros  wieder  unterworfen  war;  die  Unterwerfung  fällt  also  zwischen  477 
und  etwa  470.  Es  ist,  wie  man  sieht,  nach  der  zweiten  Erhebung  loniens  ge- 
gangen, wie  nach  der  ersten;  die  Perser  haben  zuerst  Kypros  zum  Gehorsam 
zurückgebracht  und  sich  dann,  nach  sorgfältigen  Rüstungen,  gegen  lonien 
gewandt.  Nur  daß  die  Toner  das  zweite  Mal  den  Rückhalt  an  Athen  hatten, 
der  ihnen  das  erste  Mal  fehlte.  So  allein  erklärt  es  sich,  daß  der  Großkönig 
so  lange  Zeit  sich  um  das  Aegaeische  Meer  nicht  gekümmert  hat.  Auch  nach 
der  Schlacht  am  Eurjonedon  ist  Kimon  nicht  nach  Kypros  gegangen;  ja  es 
wird  als  etwas  Großes  erwähnt,  daß  die  Athener  während  der  nächsten  Jahre 
sich  in  Rekognoszierungsfahrten  bis  jenseits  der  chelidonischen  Inseln  vorgewagt 
haben  (Plut.  Kim.  13).  Das  zeigt  uns,  daß  Kypros  damals  im  sicheren  Besitz 
der  Perser  gewesen  ist;  es  ist  ja  auch  gar  nicht  abzusehen,  wie. die  Insel  ohne 
Unterstützung  von  Athen  aus  ihre  Unabhängigkeit  hätte  behaupten  können. 

5* 


68  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

an  der  Ostküste  Lykiens,  der  Mündung  des  Eurymedon  gerade 
gegenüber.  Bei  der  exponierten  Lage  ihrer  Stadt  war  es  den 
Phaseliten  nicht  zu  verargen,  wenn  sie  Bedenken  trugen, 
sich  gegen  ihren  Landesherrn,  den  Großkönig,  aufzulehnen; 
als  aber  Kimon  Gewalt  brauchte,  und  von  der  persischen 
Flotte  keine  Hilfe  kam,  gab  Phaseiis  den  Widerstand  auf 
und  trat  in  den  attischen  Seebund  ^.  So  war  für  die  weiteren 
Operationen  ein  fester  Stützpunkt  gewonnen.  Jetzt  schritt 
Kimon  zum  Angriff  auf  die  persische  Flotte;  da  der  Feind 
zu  schwach  war,  um  eine  Seeschlacht  zu  wagen,  und  das 
Eintreffen  der  Verstärkungen  abwartete,  ließ  Kimon  seine 
Leute  ans  Land  gehen,  wie  einst  Leotychidas  bei  Mykale, 
und  erstürmte  das  Schiffslager  der  Perser,  wobei  die  ganze 
dort  liegende  Flotte  in  seine  Hände  fiel.  Es  war  hohe  Zeit, 
denn  schon  nahte  eine  zweite  phoenikische  Flotte  von  80 
Segeln;  Kimon  griff  sie  ohne  Zögern  an,  wie  es  heißt,  noch 
am  selben  Tage,  und  schlug  sie  bis  zur  Vernichtung  (um  470). 
Es  war  der  glänzendste  Sieg,  der  die  griechischen  Waffen 
seit  Salamis  und  Plataeae  errungen  hatten;  Kimon  hatte  die 
höchste  Aufgabe  gelöst,  die  dem  Feldherrn  gestellt  ist,  die 
völlige  Zerstörung  der  feindlichen  Streitkräfte.  Ein  persischer 
Vorsloß  nach  dem  Aegaeischen  Meer  war  in  absehbarer  Zeit 
nicht  mehr  zu  besorgen  ^. 

Die  persische  Herrschaft  an  der  Südwestküste  Klein - 
asiens  brach  infolge  diSses  Schlages  zusammen;  Lykien  und 
der  größere  Teil  Kariens  bis  tief  in  das  Binnenland  hinem 
schlössen  sich  an  Athen  an  und  bequemten  sich  zur  Tribut- 
zahlung ^      Der    Bund   umfaßte   nunmehr   sämtliche    Inseln 


^  Plut.  Kim.  12;  die  Tributlisten  zeigen,  daß  Phaseiis  bis  in  die  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges  zum  Seebunde  gehört  hat. 

"  Thuk.  I  100,  Plut.  Kim.  12.  13,  wertvoll  durch  den  Auszug  aus  dem 
Bericht  des  Kallisthenes,  ganz  phantastisch  Diod.  XI  60 — 62  (nach  Ephoros). 
Die  Grabschrift  auf  die  gefallenen  Athener  Jnth.  Pal.  VII  258.  Von  den  Neueren 
gibt  das  beste  E.  Meyer,  Forschungen  II  S.  Iff.;  einige  Nachträge  dazu  unten 
2.  Abt.   §  69,  über  die  Chronologie  §  69. 

3  Diod.  XI  60,  4,  der  aber  vor  die  Schlacht  setzt,  was  wenigstens  in  der 
Hauptsache  erst  eine  Folge  der  Schlacht  sein  konnte,  s.  unten  2.  Abt.  §  59. 
Bestätigt  wird  das  durch  die  Tributlisten.     Vgl.  Kirchhoff,  Hermes  XI,   1876, 


Die  Einheitsbewegung  im  Westen:  Anaxilaos.  Hippokrates.  69 

des  Aegaeischen  Meeres  mit  Ausnahme  von  Melos,  Thera, 
Aegina;  sämtliche  Griechenstädte  an  der  thrakischen  Süd- 
küste vom  Olymp  bis  zum  Bosporos,  und  die  ganze  asiatische 
Küste  vom  Bosporos  bis  Pamphylien.  Die  Zahl  der  Bundes- 
staaten mochte  etwa  250  betragen.  Athen  war  in  die  Reihe 
der  Mächte  ersten  Ranges  getreten,  und  es  war  nur  natürlich, 
daß  diese  gewaltige  Machtentfaltung  die  leitenden  Männer 
in  Sparta  mit  Besorgnis  erfüllte.  Wenn  auch  das  gute  Ein- 
vernehmen zwischen  beiden  Mächten  zunächst  noch  ungestört 
blieb,  es  war  vorauszusehen,  daß  schon  die  nächste  Zukunft 
den  Bruch  herbeiführen  würde. 

Während  so  im  griechischen  Mutterland  die  persische 
Invasion  siegreich  zurückgeschlagen,  die  Brüder  jenseits 
des  Meeres  befreit  wurden,  und  die  befreiten  Städte  sich  zur 
politischen  Einheit  zusammenschlössen,  hatten  die  Kolonien 
in  Sicilien  eine  ganz  analoge  Entwicklung  durchlaufen.  Nur 
daß  die  Einheitsbewegung  hier  von  des  Tyrannis  ausging, 
die  um  den  Anfang  des  V.  Jahrhunderts  im  hellenischen 
Westen  die  herrschende  Staatsform  bildete.  So  bemächtigte 
sich  Anaxilaos  von  Rhegion  (494 — 476)  ^  mit  Hilfe  der  Samier, 
die  nach  der  Schlacht  bei  Lade  ihre  Heimat  verlassen  hatten 
(oben  S.  16),  des  seiner  Stadt  gegenüberliegenden  Zankle, 
das  nun  den  Namen  Messene  annahm,  zu  Ehren  des  Tyrannen, 
dessen  Geschlecht  aus  Messenien  stammte.  Doch  hat  Anaxilaos 
die  Samier  nicht  lange  darauf  vertrieben,  und  die  Stadt  mit 
neuen  Ansiedlern  besetzt  ^.    Zu  noch  größerer  Macht  gelangte 


S.  1—45,  und  dazu  meine  Bemerkungen  Rh.  Mus,  XLIII,  1888,  S.  104  ff. 
Vor  der  Schlacht  scheinen  auf  dem  karischen  Festlande  nur  der  knidische 
Chersones  (Plut.  Kim.  12)  und  die  rhodische  Peraea  zum  Seebunde  gehört 
zu  haben. 

1  Diod.  XI  48,  unten  2.  Abt.  §  65. 

*  Herod.  VI  22  ff.,  Thuk.  VI  4,  5 — 6.  Die  Münzen  mit  samischen  Typen 
und  der  Aufschrift  Meöcreviov  beweisen,  daß  die  Änderung  des  Stadtnamens 
bei  der  Besitznahme  durch  die  Samier  erfolgt  ist,  wie  Herodot  richtig  angibt 
(VII  164),  während  nach  Thukydides  die  Sache  erst  nach  der  Vertreibung  der 
Samier  erfolgt  wäre.  Ich  hebe  das  hervor  zu  Nutz  und  Frommen  derer,  die 
jedes  Wort  des  Thukydides  als  Orakel  betrachten.  Über  Anaxilaos'  Geschlecht 
oben  I  2  S.  266. 


70  II.  Abschnitt.  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

Hippokrates,  der  um  den  Anfang  des  V.  Jahrhunderts  seinem 
Bruder  Kleandros  in  der  Tyrannis  über  Gela  gefolgt  war. 
Er  unterwarf  die  südlichen  Stämme  der  Sikeler  und  die 
chalkidischen  Kolonien  Naxos,  Kallipolis  und  Leontinoi. 
In  einer  großen  Schlacht  am  Flusse  Eloros  besiegte  er  die 
Syrakusier  und  nötigte  sie  zur  Abtretung  von  Kamarina, 
das  jetzt  als  Kolonie  von  Gela  neu  organisiert  wurde.  Dieser 
Schlag  hatte  zur  Folge,  daß  die  Oligarchie  der  Grundbesitzer 
(Gamoren)  in  Syrakus  durch  einen  Aufstand  des  Demos  und 
der  leibeigenen  sikelischen  Bauern,  der  sog.  Kyllyrier,  ge- 
stürzt wurde;  die  Gamoren  suchten  Zuflucht  in  der  syra- 
kusischen  Kolonie  Kasmenae  ^. 

Hippokrates  war  inzwischen  auf  einem  Feldzug  gegen 
die  Sikelerstadt  Hybla  gefallen;  die  Tyrannis  ging  über  auf 
seinen  Reiterobersten  Gelon,  des  Deinomenes  Sohn,  aus 
einem  vornehmen  geloischen  Hause,  einen  Mann  von  hervor- 
ragenden militärischen  und  politischen  Fähigkeiten  (491). 
Der  neue  Fürst  nahm  die  Pläne  seines  Vorgängers  gegen- 
Syrakus  wieder  auf;  und  bei  der  Anarchie,  die  jetzt  in  dieser 
Stadt  herrschte,  hatte  er  leichtes  Spiel.  Der  Demos  öffnete 
ihm  die  Tore,  und  Gelon  schlug  nun  in  Syrakus  seine  Residenz 
auf  (485).  Die  Gamoren  wurden  jetzt  zurückgeführt,  aber 
die  alten  Verhältnisse  nicht  wieder  hergestellt,  vielmehr 
behielten  die  Kyllyrier  ihre  Freiheit.  Ähnliche  Zustände 
wie  in  Syrakus  herrschten  in  dem  nahen  Megara;  auch  hier 
hatten  der  Demos  und  die  Leibeigenen  die  Oligarchie  der 
Gamoren  gestürzt,  ihre  Güter  eingezogen,  und  selbst  die 
Leitung  des  Staates  in  die  Hand  genommen.  So  konnte  Gelon 
ohne  Schwierigkeit  auch  diese  Stadt  unterwerfen;  sie  wurde 
zerstört,  die  Gamoren  erhielten  das  syrakusische  Bürgerrecht, 
die  früheren  Leibeigenen  sollen  in  die  Sklaverei  verkauft 
worden  sein.  Ein  gleiches  Schicksal  erlitt  die  chalkidische 
Kolonie  Euboea.    Auch  die  Bürgerschaft  von  Kamarina  und 

^  Herod.  VII  1B4 — 155.  Über  die  Schlacht  am  Eloros  auch  Pindar  Ncm. 
IX  40  mit  den  Scholien.  Über  Kamarina  auch  Thuk.  VI  5,  3,  Phihst.  fr.  17. 
Über  die  Kyllyrier  oben  IIS.  305  Anm.  3.  Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt. 
§  60  ff. 


Gelon.  —  Theron.  —  Krieg  gegen  Karthago.  71 

die  meisten  Bürger  von  Gela  wurden  in  Syrakus  angesiedelt, 
das  damit  zur  größten  Stadt  des  Westens,  ja  der  hellenischen 
Welt  überhaupt  wurde  ^. 

In  ähnlicher  Weise  dehnte  um  dieselbe  Zeit  Theron, 
der  Tyrann  von  Akragas  (etwa  seit  488  ^)  seine  Macht  über 
die  Nachbarstädte  aus.  Selbst  Terillos,  der  Herrscher  von 
Himera,  wurde  vertrieben  und  diese  Gemeinde  mit  Akragas  ver- 
einigt, so  daß  sich  Therons  Reich  jetzt  quer  durch  die  Mitte 
der  Insel  vom  Libyschen  bis  zum  Tyrrhenischen  Meere  er- 
streckte ^.  Zu  seinem  mächtigen  Nachbar  im  Osten  trat  er 
in  die  engsten  Beziehungen;  er  gab  Gelon  seine  Tochter  Dama- 
reta  zur  Frau  und  verband  sich  selbst  mit  einer  Nichte  Gelons, 
der   Tochter   von    dessen   jüngerem    Bruder   Polyzalos  *. 

Die  Einheitsbewegung  der  sicilischen  Griechen  konnte 
Karthago  nicht  gleichgültig  lassen;  hatte  man  doch  erst 
vor  wenigen  Jahren  den  Angriff  des  Dorieus  abzuwehren 
gehabt  (oben  IIS.  383).  Man  glaubte  also  der  Gefahr  eines 
neuen  Angriffs  zuvorkommen  zu  müssen,  und  als  Theron 
den  Tyrannen  von  Himera,  Terillos  vertrieben  hatte,  und 
dieser  sich  nach  Karthago  um  Hilfe  wandte,  beschloß  man 
den  Krieg.  Ein  starkes  Heer  wurde  bei  Panormos  ans  Land 
gesetzt:  karthagische  Bürger,  konskribierte  libysche  Unter- 
tanen, ligurische  und  iberische  Söldner;  den  Befehl  führte 
der  König  Hamilkar.    Anaxilaos  von  Rhegion,  der  Schwieger- 

1  Herod.  VII  155—6,  Aristot.  Polit.  V  1302  b.  Über  die  Revolution  in 
Megara  haben  wir  die  Angaben  des  zeitgenössischen  Dichters  Theognis,  der 
hier  zu  Hause  war  und  an  den  Parteikämpfen  tätigen  Anteil  genommen  hat 
(oben  I  2  S.  366  ff.),  besonders  63—60,  vgl.  1109-1114,  833—836, 1197—1202. 
So  wird  die  Behandlung  der  Stadt  durch  Gelon  verständlich,  während  nach 
Herodots  Erzählung  Gelons  Verhalten  vÖlHg  unbegreiflich  ist.  Eine  von  Herodot 
abweichende  Version  hat  Polyaen.  I  27,  3;  es  gab  eben  über  diese  Ereignisse, 
von  Theognis  abgesehen,  keine  zuverlässige  Überlieferung,  und  Herodot  hat 
die  Haltung  der  Parteien  in  Syrakus  gegenüber  Gelon  einfach  auf  die  Parteien 
in  Megara  übertragen.  —  Die  syrakusischen  Kyllyrier  werden  seit  Gelon  nicht 
mehr  erwähnt;  da  sie  sich  ihm  freiwillig  unterworfen  hatten,  so  ist  es  klar,  daß 
er  sie  nicht  wieder  in  die  Knechtschaft  zurückstoßen  konnte. 

"  Diod.  XI  53,  s.  unten  2.  Abt.   §  63. 

3  Herod.  VII  165. 

*  Timaeos  fr.  86  und  90. 


72  II.  Abschnitt,  —  Der  Sieg  über  die  Perser  und  Phoeniker. 

söhn  des  Terillos,  schloß  Bündnis  mit  den  Barbaren;  und 
auch  Selinus,  das  sich  durch  die  Fortschritte  Therons  bedroht 
sah,  trat  der  Koalition  bei.  So  ergriff  Hamilkar  die  Offensive 
und   begann   die    Belagerung  von   Himera. 

Auf  der  anderen  Seite  zog  Gelon  mit  ganzer  Macht  seinem 
Schwiegervater  zu  Hilfe.  Unter  den  Mauern  von  Himera 
kam  es  zur  Schlacht,  und  die  Karthager  wurden  bis  zur  Ver- 
nichtung geschlagen  (um  480)  ^.  Die  Freiheit  der  West- 
hellenen war  gerettet;  nicht  mit  Unrecht  hat  man  diesen  Sieg 
dem  Tage  von  Salamis  an  die  Seite  gestellt  ^.  Den  Krieg 
weiter  fortzusetzen  lag  nicht  in  Gelons  Interesse,  da  eventuelle 
Eroberungen  im  karthagischen  Sicilien  doch  nur  Theron 
zugute  kommen  konnten;  auch  mußte  es  gegenüber  der 
Invasion  Griechenlands  durch  die  Perser  geboten  scheinen, 
den  Konflikt  mit  Karthago  möglichst  schnell  zu  beendigen. 
So  gewährte  Gelon  den  Besiegten  den  Frieden  auf .  Grund 
des  gegenwärtigen  Besitzstandes,  gegen  eine  Entschädigung 
von  angebhch  2000  Talenten.  Auch  Anaxilaos  und  die  Seli- 
nuntier  beeilten  sich,  mit  dem  Sieger  ihren  Frieden  zu  machen; 
sie  erhielten  ihn  gegen  Abschluß  eines  Bündnisses,  das  sie 
zur  Heeresfolge  verpflichtete.  Das  ganze  hellenische  Sicilien 
war  damit  unter  Gelons   Führung  vereinigt  ^. 

Gelon  überlebte  seinen  großen  Sieg  nur  um  wenige  Jahre. 
Als  er  478  mit  Hinterlassung  eines  unmündigen  Sohnes  starb, 


1  Herod.  VII  165—7,  Diod.  XI  1.  20—25  (nach  Timaeos),  Polyaen.  I 
27,  2;  28.  Einen  brauchbaren  Schlachtbericht  besitzen  wir  nicht.  Über  Selinus 
Diod.  XI  21,  4,  XIII  55,  1. 

^  Schon  Herodot  (VII  166)  berichtet  nach  sikeliotischer  Quelle,  es  seien 
beide  Siege  an  demselben  Tage  erfochten  worden.  Im  IV.  Jahrhundert  hat 
man  auch  einen  inneren  Zusammenhang  zwischen  den  Ereignissen  in  Sicilien 
und  Hellas  konstruiert;  die  Karthager  sollten  auf  Befehl  des  Xerxes  ihren 
Zug  nach  Sicilien  unternommen  haben.  Herodot  weiß  davon  noch  nichts,  viel- 
mehr war  nach  der  Version,  die  er  in  seiner  Erzählung  bevorzugt,  der  kartha- 
gische Angriff  im  Herbst  481  bereits  zurückgeschlagen  (VII  158).  Auch  ist 
das  karthagische  Unternehmen  durch  die  politischen  Verhältnisse  Siciliens 
vollständig  motiviert. 

®  Diod.  XI  26.  Inschriften  des  in  Delphi  zum  Gedächtnis  des  Sieges 
errichteten  Denkmals  Dittenb.   Syll.^  910  und   Simonides  fr.   141. 


Schlacht  bei  Himera.  —  Hieron.  73 

ging  die  Regierung  auf  seinen  Bruder  Hieron  über,  der  bisher 
in  Gela  geherrscht  hatte  ^.  Unter  ihm  erreichte  die  syra- 
kusische  Tyrannis  den  höchsten  Glanz.  Die  reiche  Beute 
von  Himera  bot  die  Mittel  zu  prächtigen  Bauten  und  glänzen« 
den  Festen.  Die  ersten  Dichter  der  Nation,  Simonides,  Pindar, 
Bakchylides,  Aeschylos,  Xenophanes,  Epicharmos,  wurden 
an  den  Hof  gezogen  und  wetteiferten  in  der  Verherrlichung 
des  Herrscherhauses.  Auch  nach  außen  hin  wußte  Hieron 
sein  Machtgebiet  auszudehnen.  Er  schützte  die  sybaritischen 
Kolonien  Skidros  und  Laos  gegen  die  Angriffe  Krotons  (um 
476)  2,  ebenso  die  italischen  Lokrer  gegen  Anaxilaos  von 
Rhegion  ^.  Und  als  Kyme  nach  dem  Sturze  seines  Tyrannen 
Aristodemos  auf  dem  Punkte  stand,  der  etruskischen  Über- 
macht zu  erliegen,  trat  Hieron  für  die  bedrängten  Stammes- 
genossen ein;  seine  Flotte  brachte  der  etruskischen  Seemacht 
auf  der  Höhe  von  Kyme  eine  Niederlage  bei,  von  der  sie  sich 
nie  mehr  erholt  hat  (474)  ^.  Das  Griechentum  am  Golf  von 
Neapel  war  noch   einmal  gerettet.      Zur   Sicherung  des  Er- 


1  Diod.  XI  38.  Pindar  nennt  Hieron  ßamXeu«;  (Ol.  I  35,  Pyth.  HI  124), 
ebenso  seinen  Sohn  Deinomenes  (Pyth.  I  116);  an  anderer  Stelle  heißt  Hieron 
einfach  ZupaKoaiuuv  äpxöc;  (Pyth.  I  141).  Niemand  wird  bei  einem  Dichter  eine 
exakte  staatsrechtliche  Terminologie  suchen.  Nach  Pindars  Vorgang  gibt 
dann  auch  Diodor  Gelon  (XI  26,  6,  XI  38,  2.  7),  Hieron  (XI  66,  1.  4)  und  selbst 
Thrasybulos  (XI  67,  1)  den  Königstitel.  Aber  daß  ein  griechischer  Tyrann 
im  V.  Jahrhundert  diesen  Titel  nicht  geführt  haben  kann,  ist  klar,  auch  haben 
ja  die  Deinomeniden  ihre  Münzen  im  Namen  des  syrakusischen  Volkes  ge- 
schlagen, statt,  wie  die  makedonischen  und  kyprischen  Könige,  im  eigenen 
Namen,  und  ebenso  fehlt  der  Königstitel  auf  dem  delphischen  Weihgeschenk 
Gelons  (Dittenb.  Syll.^  910).  Dementsprechend  heißt  Gelon  denn  auch  bei 
Diod.  XIII  94,  5  und  Polyaen.  1 27, 1  OTparriYÖ?  auTOKpctxiup.  Da  nun  das  höch- 
ste Amt  in  einer  Republik  nicht  einem  unmündigen  Knaben  übertragen  werden 
kann,  so  konnte  Gelons  Sohn  dem  Vater  nicht  nachfolgen,  und  der  älteste  Bruder 
trat  an  die  Spitze  des  Staates.  Das  ist  ein  weiterer  Beweis  dafür,  daß  Gelon 
nicht  König  gewesen  ist,  und  Hieron  ebensowenig,  da  auch  diesem  nicht  sein 
Sohn,  sondern  sein  Bruder  Thrasybulos  gefolgt  ist.  Vgl.  über  die  Frage  Free- 
man,  Hist.  of  Sic.  II  499  ff.,  536  ff.,  Wilamowitz,  Bcrl.  S.-B.  1901  S.  1275  ff. 

''  Diod.  XI  48,  Tim.  fr.  90. 

ä  Pind.  Pyth.  II  35  mit  den  SchoUen. 

*  Pind.  Pyth.  I  140,  Diod.  XI  51,  IGA.  510. 


74     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

rungenen   wurde   auf    Ischia   eine   syrakusische   Kolonie   an- 
gelegt \ 

So  war  durch  die  Ereignisse  von  kaum  einem  Jahr- 
zehnt die  politische  Lage  am  Mittelmeer  völlig  verändert 
worden.  Der  Traum  der  persischen  Weltherrschaft  war  dahin, 
und  Karthago  war  in  seine  Schranken  zurückgewiesen.  Kein 
äußerer  Feind  bedrohte  mehr  die  Unabhängigkeit  Griechen- 
lands oder  wagte  es,  den  Griechen  die  Herrschaft  des  Meeres 
streitig  zu  machen.  Neben  dem  peloponnesischen  Bunde 
Spartas  hatten  sich  aus  der  wüsten  Masse  griechischer  Klein- 
staaten zwei  neue  Großmächte  erhoben,  im  Osten  der  Seebund 
Athens,  im  Westen  die  syrakusische  Militärmonarchie.  Das 
Schicksal  der  Welt  hing  nun  zunächst  von  der  Frage  ab,  wie 
das  Verhältnis  zwischen  diesen  Mächten  sich  gestalten  würde. 


III.  Abschnitt. 

Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den 
Perserkriegen. 

Es  ist  gesagt  worden,  die  ganze  Kulturentwicklung 
würde  einen  anderen  Verlauf  genommen  haben,  wenn  die 
Perser  bei  Salamis  Sieger  geblieben  wären;  so  daß  wir  in 
letzter  Linie  die  Güter  unserer  heutigen  Zivilisation  Themi- 
stokles  und  seinem  Flottengesetz  zu  verdanken  hätten.  Das 
ist  recht  oberflächlich  geurteilt;  von  solchen  Zufälligkeiten 
hängt  das  Geschick  großer  Völker  nicht  ab.  Wäre  es  anders, 
so  gebührte  das  Verdienst  Hellas  aus  der  Persernot  gerettet 
zu  haben  mindestens  ebenso  sehr  als  Themistokles  jenem 
Seesturm,  der  einen  Teil  der  Flotte  des  Xerxes  an  der  Küste 
von  Magnesia  zerschmetterte.  Vielmehr  sind  die  Griechen 
in  dem  Kampf  gegen  das  Perserreich  Sieger  geblieben,  weil 
sie  ihren  Feinden  sittlich  und  intellektuell  überlegen  waren. 
Wenn  es  aber  auch  Xerxes  gelungen  wäre,  die  griechische 
Halbinsel  zu  erobern,  so  würde  doch  die  hellenische  Kultur 


1  Strab.  V  S.  248. 


Verschiebung  des  wirtschaftlichen  Zentrums.  75 

dadurch  keineswegs  zugrunde  gegangen  sein,  denn  diese 
Kultur  ruhte  damals  noch  hauptsächlich  auf  lonien,  das 
ja  schon  seit  mehr  als  einem  halben  Jahrhundert  unter  per- 
sischer Herrschaft  stand.  Auch  kann  gar  kein  Zweifel  sein, 
daß  Griechenland  sehr  bald  seine  Unabhängigkeit  wieder 
erlangt  haben  würde.  Hat  doch  sogar  Aegypten  sie  wieder 
zu  gewinnen  vermocht. 

Aber  die  Siege  über  die  Barbaren  haben  allerdings  die 
Wirkung  gehabt,  die  Entwicklung  der  griechischen  Kultur 
mächtig  zu  beschleunigen.  Nicht  daß  der  Krieg  selbst  diese 
Blüte  herbeigeführt  hätte;  der  Krieg  schafft  nicht,  er  zerstört 
nur  Werte,  und  die  Beute,  die  man  dem  Feinde  abnahm, 
konnte  nicht  in  Betracht  kommen  gegenüber  den  Verlusten, 
welche  der  Wohlstand  von  Hellas  durch  die  persische  Invasion 
erhtten  hatte..  Aber  der  Krieg  hatte  die  eine  Hälfte  der  griechi- 
schen Welt  von  dem  Drucke  der  Fremdherrschaft  befreit, 
der  anderen  ihre  Unabhängigkeit  nach  außen  gesichert;  er 
hatte  den  Hellenen  das  stolze  Bewußtsein  gegeben,  das  erste 
Volk  der  Erde  zu  sein.  Der  Name  Barbaren,  der  ursprünglich 
nur  die  ,, Welschen"  bezeichnet  hatte,  deren  Sprache  man 
nicht  verstand,  begann  jetzt  die  Bedeutung  anzunehmen, 
die  ihm  seitdem  geblieben  ist  ^.  Die  Tage  von  Salamis  und  Himera 
waren  auch  für  den  phoenikischen  Handel  vernichtende 
Schläge;  Griechenland  nahm  seitdem  durch  zwei  Jahrhunderte 
auf  dem  Meere  die  Stellung  ein,  die  England  so  lange  behauptet 
hat  und  zum  großen  Teil  noch  heute  behauptet.  Und  nicht 
zuletzt  unter  den  Ursachen  des  materiellen  Aufschwungs 
steht  die  Entfesselung  aller  geistigen  Kräfte  des'  Volkes,  wie 
sie  die  demokratische  Bewegung  herbeiführte,  die  nach  den 
Siegen  über  die  Perser  fast  alle  griechischen  Staaten  ergriff. 

Allerdings  nahmen  nicht  alle  griechischen  Landschaften 
an  diesem  Aufschwünge  in  gleichem  Maße  Anteil.  Hatten 
bisher  die  asiatischen  Kolonien  an  Bildung  und  Reichtum, 
an  industrieller  und  kommerzieller  Bedeutung  in  erster  Reihe 


1  Vgl.  z.  B.  Euripid.  Iph.  Aul.  1400  f.,  Telephos  fr.  717,  Thrasymachos 
fr.  2  Diels. 


76     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

gestanden,  so  ging  jetzt  mit  der  politischen  auch  die  wirt- 
schaftHche  Führung  an  das  griechische  Mutterland  über. 
Schon  die  erste  persische  Eroberung  hatte  lonien  tiefe  Wunden 
geschlagen;  das  einst  so  blühende  Phokaea  war  seitdem  nur 
noch  der  Schatten  seiner  alten  Bedeutung.  Noch  weit  ver- 
hängnisvoller wirkte  der  Aufstand  unter  Dareios;  Milet,  bis 
dahin  die  erste  Handels-  und  Industriestadt  der  griechischen 
Welt,  hat  sich  von  der  Eroberung  im  Jahre  494  nie  mehr 
erholt,  und  auch  die  übrigen  Städte  hatten  schwer  unter 
der  Hand  des  Siegers  zu  leiden.  Die  Schlacht  bei  Mykale 
und  die  ihr  folgenden  Kämpfe  brachten  dann  wohl  die  Be- 
freiung von  der  Fremdherrschaft,  aber  sie  stellten  zugleich 
die  Küste  in  politischen  Gegensatz  zu  ihrem  Hinterlande. 
So  lange  der  Perserkrieg  währte,  bis  zum  sogenannten  ,,kimo- 
nischen"  Frieden,  muß  der  Verkehr  zwischen  den  ionischen 
Häfen  und  dem  Innern  Kleinasiens  zum  großen  Teil  unter- 
brochen gewesen  sein;  und  auch  später  ließ  sich  bei  den  ge- 
spannten Beziehungen  Athens  zu  den  Satrapen  von  Sardes 
das  alte  Verhältnis  nicht  wieder  herstellen.  Den  ionischen 
Städten  war  damit  der  Lebensnerv  unterbunden;  und  es 
sind  offenbar  diese  materiellen  Interessen  gewesen,  die  es 
bewirkt  haben,  daß  die  asiatischen  Griechen  schließlich  ohne 
allzu  großes  Widerstreben  unter  die  persische  Herrschaft 
zurückgekehrt  sind. 

Während  so  der  persische  Orient  dem  griechischen  Handel 
zum  Teil  verschlossen  wurde,  waren  die  Kolonien  im  Westen 
mächtig  emporgeblüht,  begünstigt  durch  den  unerschöpf- 
lichen Reichtum  ihres  jungfräulichen  Bodens.  Der  Handel 
dorthin  gewann  damit  eine  immer  steigende  Wichtigkeit, 
um  so  mehr,  als  gleichzeitig  auch  die  Völker  Italiens  in  der 
Kultur  fortschritten,  und  dieses  infolgedessen  zu  einem  wich- 
tigen Absatzmarkt  für  die  hellenischen  Industrie-  und  Boden - 
Produkte  wurde  ^.  Für  den  Verkehr  mit  dem  Westen  aber 
hatten  die  Häfen  des  griechischen  Mutterlandes  vor   lonien 

^  Den  Beweis  geben  die  italischen  Nekropolen  des  V.  Jahrhunderts. 
Leider  fehlt  uns  noch  immer  eine  zusammenfassende  Behandlung  der  dort 
gemachten   Funde. 


Der  Peiraeeus.  77 

vermöge  ihrer  Lage  einen  durch  nichts  auszugleichenden 
Vorsprung.  Vor  allem  Korinth  war  die  natürliche  Vermittlerin 
dieses  Handels,  nicht  allein  als  der  einzige  Hafen  des  östlichen 
Griechenlands,  von  dem  man  nach  Sicilien  gelangen  konnte, 
ohne  die  gefährliche  Fahrt  um  das  Vorgebirge  Malea  zu  machen^ 
sondern  ebensosehr,  weil  die  erste  Stadt  Siciliens  eine  korin- 
thische Kolonie  war,  und  wegen  der  nahen  Stammverwandt- 
schaft der  Korinthier  mit  der  Hauptmasse  der  Griechen  des 
Westens.  Aber  auch  die  Häfen  am  Saronischen  Golfe  lagen 
Sicilien  immer  noch  um  zwei  oder  drei  Tagfahrten  näher  als 
Milet  oder  Mytilene,  während  sie  für  die  Fahrt  nach  Aegypten 
oder  nach  dem  Pontos  ebenso  günstig  gelegen  waren  als  die 
ionischen  Plätze. 

Dank  dieser  Vorteile  wurden  Korinth  und  Aegina  um 
die  Zeit  der  Perserkriege  zu  den  ersten  Handelsstädten  der 
griechischen  Welt  ^.  Bald  aber  erwuchs  ihnen  selbst  ein 
gefährlicher  Konkurrent  in  dem  von  Themistokles  angelegten 
neuen  Seehafen  Athens,  dem  Peiraeeus  -.  Die  Werften  und 
Arsenale  für  die  erste  Kriegsflotte  Griechenlands,  die  hier 
angelegt  wurden,  bewirkten  allmählich  das  Zusammenströmen 
einer  zahlreichen  Bevölkerung;  bald  zog  sich  auch  der  Handel 
von  der  schutzlosen  Rhede  Phaleron  nach  dem  trefflichen 
Hafen,  und  die  Machtstellung  Athens  an  der  Spitze  des  See- 
bundes tat  das  übrige  ^.  Die  Konkurrenz  Aeginas  *  wurde 
durch  die  Unterwerfung  der  Insel  um  457  zum  großen  Teile 

^  Von  den  Reichtümern  Aeginas  in  dieser  Zeit  erzählt  Herodot  IX  80 
mit  naiver  Motivierung.  Pind.  Paean  VI  123  övu]|naK\OTa  y'  Sveoai  Auu- 
piei  |u[e]b^oi0a  [ttöIvtiij  vöocq  [li]  t^xoc,  'EXXaviou  cpaevvöv  äörpov.  Als 
athenischer  Bundesstaat  (seit  457)  hat  die  Insel  einen  Tribut  von  30  Talenten 
gezahlt,  soviel  wie  sonst  bis  zur  Tributsteigerung  von  425/4  nur  Thasos  mit 
seinen  reichen  Goldbergwerken  zu  entrichten  hatte.  Aegina  mag  immerhin 
hoch  eingeschätzt  worden  sein,  aber  es  war  doch  imstande,  die  Last  zu  tragen. 

*  Wachsmuth,  Ein  antiker  Seeplatz,  in  Conrads  Jahrbüchern  für  National- 
ökonomie, XIII,  1886,  S.  83  ff.,  Stadt  Athen  II  1—176.  Judeich,  Topographie 
von  Athen  (München  1905)  S.  375  ff. 

^  Vgl.  [Xenoph.  ]  Staat  der  Athen.  1 17,  mit  meinen  Bemerkungen  Rh.  Mus, 
XXXIX,  1884,  S.  47  f. 

*  Perikles  nannte  die  Insel  Xr^nv  Toö  TTeipaiujq  (Aristot.  Rhet,  10  S.  1411^ 
Plut.  Per.  8). 


78     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

gebrochen,  und  durch  die  Vertreibung  der  aeginetischen 
Bürgerschaft  im  Jahre  431  gänzHch  zerstört.  So  war  der 
Peiraeeus  bereits  zu  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges, 
was  er  seitdem  bis  auf  die  makedonischen  Zeiten  geblieben 
ist,  der  erste  Handelsplatz  der  griechischen  Welt,  wo  Schiffe 
aus  dem  Pontos,  aus  Phoenikien,  Aegypten,  Kyrene,  Sicilien 
und  Italien  ihre  Ladungen  löschten,  und  alles  zu  haben  war, 
was  der  Osten  und  Westen  hervorbrachte  ^.  Noch  zu  Beginn 
des  IV.  Jahrhunderts,  als  das  athenische  Reich  in  Trümmern 
lag,  und  Athen  aus  tausend  Wunden  blutete,  die  der  lange 
Krieg  und  die  Revolution  ihm  geschlagen  hatten,  betrug  der 
Wert  der  jährlichen  Ein-  und  Ausfuhr  über  2000  Talente 
(etwa  11  Millionen  Mark)  ^;  vor  dem  Kriege  ist  er  ohne  Zweifel 
beträchtlich  höher  gewesen.  Was  diese  Summe  nach  den 
Verhältnissen  der  damahgen  Zeit  bedeutete,  können  wir 
daraus  entnehmen,  daß  die  Handelsbewegung  aller  übrigen 
Häfen  des  athenischen  Reiches  um  414  etwa  30 — 40  000 
Talente  betragen  hat  ^.  Der  neuen  Stadt  wurde  durch  Hippo- 
damos  von  Milet,  den  ersten  Architekten  der  Zeit,  der  Plan 
vorgezeichnet;  kein  größerer  Gegensatz,  als  die  breiten,  sich 
unter  rechtem  Winkel  schneidenden  Straßen  des  Peiraeeus 
und  das  Gewirr  der  engen  Gassen  des  alten  Athen. 


^  [Xen.]  Staat  der  Athen.  II  7,  Hermippos  fr.  63  Kock,  vgl.  Wilamowitz, 
Kydathen  S.  76  ff.,  H.  Droysen,  Athen  und  der  Westen,  Berlin  1882. 

2  Der  Wertzoll  von  2%,  der  von  der  Ein-  und  Ausfuhr  im  Peiraeeus  er- 
hoben wurde,  ergab  gleich  nach  400  einen  Reinertrag  von  30 — 36  tal.  (Andok. 
vdMyst.  133  f.),  entsprechend  einem  Wert  der  verzollten  Waren  von  1500  bis 
1800  tal.  Rechnen  wir  die  Erhebungskosten,  Defraudationen,  zollfreien  Ein- 
gänge u.  dgl.  dazu,  so  ergibt  sich  mindestens  die  obige  Summe.  So  schon  Böckh, 
Staatsh.  I  ^  430.  Vgl.  meine  Bemerkungen  in  Conrads  Jahrb.  f.  Nat.-Ökon.  und 
Statistik,  3.  Folge  XVIII,  1899,  S.  626  ff.  und  in  J.  Wolfs  Zeitschr.  f.  Social- 
wissenschaft  V,  1902,  S.  99  ff.  Wenn  der  Getreidezoll  schon  damals  gesondert 
verpachtet  wurde  (vgl.  [Demosth.  ]  gNeaera  27  S.  1353)  würde  die  Handels- 
bewegung noch  um  mehrere  hundert  Talente  höher  gewesen  sein. 

^  Die  Athener  beschlossen  damals  die  Ersetzung  der  Tribute  durch  einen 
Wertzoll  von  5%  auf  die  Ein-  und  Ausfuhr  und  erwarteten  davon  eine  Steigerung 
ihrer  Einnahmen  (Thuk.  VII  28,  4).  Die  Tribute  ergaben  in  dieser  Zeit  1000  tal., 
wobei  zu  berücksichtigen  ist,  daß  Chios,  Lesbos,  Samos  und  die  meisten  Kleruchien 
überhaupt  keinen  Tribut  zahlten. 


Industrie  und  Sklavenwirtschaft.  —  Metoeken.  79 

Und  mit  dem  Handel  wanderte  auch  die  Industrie  aus 
lonien  nach  dem  Mutterlande  hinüber,  Wohl  hatte  es  hier 
auch  früher  an  Gewerbtätigkeit  nicht  gefehlt,  und  die  Erzeug- 
nisse derselben  sind  zum  Teil  schon  im  VII.,  in  größerer  Menge 
im  VI.  Jahrhundert  ins  Ausland  gegangen;  aber  eine  größere 
Industrie  hat  sich  auf  der  Westseite  des  Aegaeischen  Meeres 
doch  erst  seit  den  Perserkriegen  entwickelt.  Infolgedessen 
begann  man  jetzt  Massen  unfreier  Arbeiter  nach  den  Städten 
am  Saronischen  Golf  einzuführen.  Um  die  Mitte  des  V.  Jahr- 
hunderts soll  Korinth  60  000  Sklaven  gezählt  haben,  während 
in  Attika  beim  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  an 
70 — 80  000  Sklaven  vorhanden  sein  mochten,  so  daß  in  dem 
ganzen  Industriebezirk  des  europäischen  Griechenlands  damals 
gegen  200  000  Sklaven  beschäftigt  waren,  und  die  unfreie 
Bevölkerung  der  freien  an  Zahl  annähernd  gleichkam,  in  ein- 
zelnen Städten,  wie  in  Korinth  und  Aegina,  sie  überwog  ^. 
In  den  übrigen  Teilen  der  griechischen  Halbinsel  dagegen, 
die  bei  Ackerbau,  Viehzucht  und  Kleingewerbe  verharrten, 
gab  es  in  dieser  Zeit  noch  so  gut  wie  gar  keine  Sklaven  2, 
außer  zur  persönlichen  Bedienung  der  Reichen;  hier  herrschte 
nach  wie  vor  die  freie,  oder,  wie  in  Lakonien  und  Thessalien, 
die  halbfreie  Arbeit. 

Auch  die  freie  Bevölkerung  aus  den  umliegenden  Land- 
schaften, ja  zum  Teil  selbst  aus  den  Gebieten  jenseits  des 
Meeres  strömte  nach  den  Mittelpunkten  der  Industrie  und 
des  Handels  zusammen;  und  die  neuen  Ankömmlinge  wurden 
mit  offenen  Armen  aufgenommen.     Namentlich  Athen  war. 


^  Näheres  in  meiner  Bevölkerung  der  griechisch-römischen  Welt  (Leipzig 
1886)  S.  84  ff.,  wo  ich  gezeigt  habe,  daß  die  ins  ungeheure  übertriebenen  Sklaven- 
zahlen bei  Athenaeos  VI  272  b— d  (400  000  Sklaven  für  Athen,  460  000  für 
Korinth,  470  000  für  Aegina  nur  dadurch  entstanden  sind,  daß  dieser  Schrift- 
steller oder  seine  Quelle  das  Zeichen  M  (luupidi;)  in  der  Bedeutung  40  nahm 
und  die  so  gelesenen  Zahlen  M,  MF,  MZ  als  Myriaden  interpretierte.  Doch 
ist  die  Zahl  für  Aegina,  auch  so  reduziert,  ohne  Zweifel  noch  weit  übertrieben. 
Über  Athen  unten  S.  84  Anm.  1. 

-  Thuk.  I  141  nennt  die  Peloponnesier  auTOupYOi  gegenüber  den  sklaven- 
haltenden Athenern.  Wegen  Phokis  und  Lokris  vgl.  Timaeos  fr.  67,  wegen 
Boeotien  meine  Bemerkungen  im  Hermes  XXIV,  1889,   S.  479. 


80     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

getreu  den  Traditionen  der  kleisthenischen  Zeit,  in  den  ersten 
Jahrzehnten  nach  den  Perserkriegen  sehr  liberal  in  der  Er- 
teilung seines  Bürgerrechts  ^,  bis  Perikles  im  Jahr  451/0  dem 
Drängen  der  Menge  nachgab,  welche  die  mit  dem  attischen 
Bürgerrecht  verbundenen  materiellen  Vorteile  allein  genießen 
wollte,  und  die  Bedingungen  für  die  Aufnahme  Fremder 
verschärfte  ^.  Aber  auch  wer  als  Bürger  nicht  zugelassen 
war,  durfte  doch  ganz  ebenso  frei  wie  die  Bürger  selbst  seinem 
Erwerbe  nachgehen,  und  war  in  derselben  Weise  durch  die 
Gesetze  geschützt;  das  Wort  Homers  von  dem  ,, rechtlosen 
Einsassen"  hatte  in  dieser  Zeit  seine  Geltung  verloren.  Nur 
von  der  Erwerbung  von  Grundbesitz  waren  die  Nichtbürger 
ausgeschlossen,  sofern  ihnen  nicht  durch  spezielles  Privileg 
auch  dieses  Recht  gewährt  worden  war;  da  sie  indes  in  ihrer 
großen  Mehrzahl  dem  Stand  der  Gewerbetreibenden  ange- 
hörten, blieb  diese  Bestimmung  praktisch  von  nur  geringer 
Bedeutung.  So  trat  in  den  größeren  Städten  neben  die  Bürger- 
schaft eine  zahlreiche  Klasse  von  ansässigen  Fremden,  so- 
genannten ,,Metoeken",  die  sich  zum  Beispiel  in  Athen  bei 
Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  auf  wenigstens  30  000 
Köpfe  behef  ^.  Es  war  das  allerdings  zum  großen  Teil  eine 
Folge  der  Stellung  Athens  an  der  Spitze  des  Seebundes;  in 
Korinth  oder  Chios  waren  die  Metoeken  ohne  Zweifel  ver- 
hältnismäßig weniger  zahlreich,  und  in  dem  konservativen 
Sparta  vollends  suchte  die  Regierung  durch  Ausweisungen 
(HeveXacriai)  den  Fremdenzufiuß  nach  Möglichkeit  zu  be- 
schränken *.  Daß  solche  Maßregeln  aber  auch  hier  notwendig 
wurden,    bleibt   trotzdem   nicht  weniger   charakteristisch. 


^  Isokr.  V.  Frieden  88. 

2  Aristot.  An.  26,  4,  vgl.  Philochoros  fr.  90,  Plut.  Per.  37. 

^  Es  dienten  allein  3000  Metoeken  als  Schwerbewaffnete  (Thuk.  II  31), 
die  große  Mehrzahl  aber  wird  den  Hoplitenzensus  nicht  erreicht  haben.  Dazu 
die  Weiber  und  Kinder.  Daß  die  in  Attika  domizilierten  Metoeken  zum  weitaus 
überwiegenden  Teil  ihren  Wohnsitz  in  der  Stadt  und  deren  Vororten  hatten, 
liegt  in  der  Natur  der  Sache,  und  wird  durch  die  Angaben  der  Inschriften  be- 
stätigt. 

*  Müller  Dorier  II  "  S.  3,  vgl.  oben  I  1  S.  282. 


Groflstädte.  81 

So  entwickelten  sich  jetzt  städtische  Mittelpunkte,  die 
alles  weit  hinter  sich  ließen,  was  das  VI.  Jahrhundert  gesehen 
hatte.  Athen  kann  beim  Sturz  der  Tyrannenherrschaft  ein- 
schließlich seiner  Vororte  und  der  Häfen  kaum  über  25  000 
Einwohner  gezählt  haben  (oben  IIS.  280);  schon  30  Jahre 
später  war  der  Stadt  ihr  alter  Mauerring  zu  eng  geworden, 
so  daß  es  nötig  wurde,  die  Befestigungslinie  zu  erweitern  ^; 
nach  noch  einem  halben  Jahrhundert,  beim  Ausbruch  des 
peloponnesischen  Krieges,  war  die  Bevölkerung  auf  etwa 
100  000  gestiegen.  Mit  Athen  wetteiferte  Syrakus,  die  Haupt- 
stadt Siciliens.  Die  kleine  Insel  Ortygia,  auf  der  einst  die 
Korinthier  sich  angesiedelt  hatten,  genügte  schon  gegen  Ende 
des  VI.  Jahrhunderts  der  wachsenden  Bevölkerung  nicht 
mehr,  und  es  bildete  sich  auf  dem  gegenüberliegenden  Ufer 
des  sicihschen  Festlandes  eine  Vorstadt,  die  mit  der  Insel 
durch  einen  seinerzeit  viel  bewunderten  Damm  in  feste  Ver- 
bindung gebracht  wurde  ^.  Unter  der  Herrschaft  Gelons 
ward  dann  diese  Vorstadt  —  die  Achradina,  wie  sie  genannt 
wurde  —  zum  Mittelpunkte  von  Syrakus,  an  den  dann  weiter, 
nach  dem  Demetertempel  im  Westen  hin,  die  neue  Vorstadt 
Temenites  sich  ansetzte.  Syrakus  war  in  dieser  Zeit 
ohne  Frage  die  größte  Stadt  der  ganzen  griechischen  Welt 
überhaupt  ^.  Allerdings  war  dieses  Wachstum  zum  Teil  durch 
künstliche  Mittel  hervorgerufen,  wie  die  Verpflanzung  ganzer 
Bürgerschaften  und  die  Ansiedlung  von  Tausenden  aus- 
gedienter Söldner;  aber  Syrakus  bheb  doch  auch  nach  dem 
Sturze  der  Deinomeniden  und  dem  Zerfall  ihres  Reiches  die 
Metropole  des  Westens,  und  zur  Zeit  des  peloponnesischen 
Krieges  stand  es  an  Bevölkerung  Athen  kaum  nach  *.  Auch 
sonst  fehlte  es  in  Sicilien  nicht  an  bedeutenden  Städten,  wie 


^  Thuk.  I  93,  2.  Kurz  vorher  (486)  spricht  Pindar  von  den  (ueYaXoiröXie?^ 
Äeävai  (Py/Ä.  VII  1). 

'^  Ibykos  fr.  22.  Lupus,  Die  Stadt  Syrakus  im  Altertum,  Übersetzung 
der  Cavallari-Holmschen  Topografia  archeologica  di  Siracusa,  Straßburg  1887. 

^  Herod.  VII  156,  Find.  Pyth.  II  1  ,ueYa\OTTÖ\i€?  u)  ZupdKOöar,  er  gibt 
dies  Beiwort  sonst  nur  Athen. 

*  Thuk.  VII  28,  3. 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.    2.  Aufl.  6 


82     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Gela,  und  namentlich  Akragas,  In  Italien  war  das  reiche 
und  blühende  Sybaris  gegen  Ende  des  VI.  Jahrhunderts 
von  Kroton  zerstört  worden  (oben  IIS.  383) ;  seitdem  nahm 
dieses  dort  den  ersten  Rang  ein.  Im  griechischen  Mutterlande 
stand  Korinth  Athen  zunächst;  es  mochte  um  450  etwa  60  000 
Einwohner  zählen.  Dann  folgten  Sparta,  Argos,  Theben, 
Aegina,  Sikyon,  Megara,  Kerkyra  und  der  Haupthafen  von 
Thessalien,  Pagasae,  die  wir  uns  als  Städte  von  etwa  20  bis 
30  000  Einwohnern  zu  denken  haben  ^.  Die  altberühmten 
Handelsplätze  am  Euripos,  Eretria  und  Chalkis,  kamen  jetzt 
in  Verfall,  zum  Teil  durch  die  politischen  Verhältnisse,  zum 
Teil  infolge  des  Aufblühens  von  Athen.  Dagegen  wurde  im 
Westen  des  Peloponnes,  wo  städtische  Mittelpunkte  bisher 
so  gut  wie  ganz  gefehlt  hatten,  bald  nach  den  Perserkriegen 
die  Stadt  Elis  gegründet  ^. 

Über  die  relative  Bedeutung  der  Städte  des  attischen 
Reiches  gibt  uns  die  Höhe  der  Tribute  Auskunft,  die  sie  an 
den  Vorort  bezahlt  haben.  Denn  es  liegt  in  der  Natur  der 
Sache,  daß  die  finanzielle  Leistungsfähigkeit  für  die  Nor- 
mierung dieser  Ansätze  in  erster  Linie  maßgebend  war,  wenn 
auch  in  vielen  Fällen  daneben  noch  andere  Rücksichten  in 
Betracht  kamen.  Jedenfalls  bilden  die  Tributlisten  für  die 
Erkenntnis  der  wirtschaftlichen  Zustände  Griechenlands  im 
V,  Jahrhundert  eine  Quelle  von  ganz  hervorragender  Wichtig- 
keit, und  so  möge  die  nebenstehende  Übersicht  hier  eine 
Stelle  finden  ^ 


^  Vgl.  meine  Bevölkerung  der  griechisch-römischen  Welt,  Leipzig  1886. 
Sparta  und  Argos  können  möglicherweise  etwas  größer  gewesen  sein,  von 
dea  übrigen  mag  die  eine  oder  andere  die  Zahl  von  20  000  Einwohnern  nicht 
ganz  erreicht  haben. 

2  Diod.  XI  54,  1;  Strab.  VIII  336. 

^  Beste  Zusammenstellung  von  Pedroli,  /  tributi  degli  alleati  d' Atene, 
in  meinen  Siudi  di  Storia  Antica  I  (Rom  1891).  Das  seitdem  hinzugetretene 
Material  bei  Cavaignac,  fyudes  sur  l'hist.  financiere  d' Athene s  au  V^  siede  (Bibl. 
tcoles  frang.  100)  Paris  1908,  und  Wilhelm,  Anz.  Wien.  Akad.,  phil.-hist.  Kl. 
1909,  Nr.  X  S.  41  ff.  Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  die  Schätzungsperiode  von 
446/5 — 440/39,  für  die  allein  das  Material  annähernd  vollständig  vorliegt.  Bei 
Chalkis,  Methone  und  Termera,  deren  Quoten  fehlen,  sind  die  Tributsummen 


Mittelstädte.  —  Städte  des  athenischen  Reiches. 


83 


Tribute 


Gemeinden 


30 1.  Aegina,  Thasos. 

Ifii/s  t.  Faros. 

15  t.  Abdera,   Byzantion. 

12 1.  Lampsakos. 

10  t.  Aenos,  Chalkis(?),  Eretria(?),  Perinthos. 

9  t.  Kalchedon,  Kyme,  Kyzikos. 

7 1.  Erythrae. 

GYs  t.  Naxos. 

6 1.  Andros,   Ephesos,   lalysos,   Kamiros,   Lindos,   Poteidaea,    Samo- 

thrake,  Skione,  Teos,  Torone. 
6  t.  Karystos,  Kos,  Mende,  Miletos,  Selymbria,  Sermylia. 

4  t.  Abydos,  Keos. 

3  t.  Aenea,  Akanthos,  Chersonesos  in  Karien,  Hephaesteia,  Knidos, 

Kythnos,    Methone    (?),    Peparethos,    Phaseiis,    Prokonnesos, 
Siphnos,  Tenedos,  Tenos. 
2Vjt.         Termera(?). 

2  t.  Arisbe,  Olynthos,  Phokaea,  Singos,  Spartolos. 

P/s  t.  Halikarnassos. 

172 1.  Astypalaea,    Galepsos,    Kalydna,    Keramos,    Klazomenae,    Ko- 

lophon,  Maroneia,  Myrina  auf  Lemnos. 
Samos,  Chios  und  Lesbos  waren  tributfrei;  sie  würden  sonst  am  Anfang 
der  Liste  oder  gleich  hinter  Aegina  und  Thasos  ihre  Stelle  haben.    Alle  übrigen 
Städte  haben  1 1.  oder  weniger  gezahlt. 

Auf  den  ersten  Blick  tritt  in  dieser  Tabelle  die  Bedeutung 
der  Städte  an  der  Wasserstraße  des  Hellespontos  und  der 
Propontis  hervor;  ebenso  die  Wichtigkeit  der  Kolonien  an 
der  Südküste  Thrakiens.  Die  Kykladeninsel  Faros  muß  im 
V.  Jahrhundert  ein  Handelsplatz  von  ähnlicher  Bedeutung 
gewesen  sein,  wie  Delos  in  der  Periode  nach  Alexander,  und 
in  unserer  Zeit  Syra  ^.  Dagegen  treten  die  Städte  des  ionischen 

aus  anderen  Schätzungsperioden  eingesetzt.  Eretria  hat  später,  als  der  Tribut 
von  Chalkis  auf  3  tal.  herabgesetzt  war,  denselben  Tribut  wie  dieses  gezahlt 
(Köhler,  Hermes  XXXI,  1896,  S.  142)  und  ist  darum  auch  hier  in  die  gleiche 
Kategorie  mit  Chalkis  gestellt  worden.  Die  Tribute  von  Byzantion  und  Tenedos 
sind  oben  auf  ganze  Talente  abgerundet.  Die  Tributlisten  sind  nach  allen  mög- 
lichen Richtungen  hin  verwertet  worden,  nur  nicht  für  das  Gebiet,  in  das  sie 
zunächst  gehören,  die  Wirtschaftsgeschichte;  vielleicht  finde  ich  einmal  Zeit, 
auf  diese  Frage  zurückzukommen. 

^  Nepos  Milt.  7,  2  Partim  insulam  opibus  elatam.  Die  Marmorbrüche 
allein  erklären  den  hohen  Tribut  von  Paros  keineswegs. 

6* 


84     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Festlandes  auffallend  zurück,  und  ganz  besonders  bezeichnend 
sind  die  geringen  Tributsummen  von  Milet  und  Phokaea, 
der  beiden  hervorragendsten  Handelsstädte  loniens  im 
VI.  Jahrhundert. 

Das  rasche  Wachsen  der  Städte,  wenigstens  im  euro- 
päischen Griechenland,  hat  zur  Voraussetzung,  daß  auch 
die  Gesamtbevölkerung  sich  in  dieser  Periode  beträchtlich 
vermehrte.  Allerdings,  die  Ausbreitung  der  griechischen 
Rasse  über  die  Küsten  des  Mittelmeeres  war  seit  der  Mitte 
des  VI,  Jahrhunderts  zum  Stillstand  gelangt,  im  Osten  ge- 
hemmt durch  das  Perserreich,  im  Westen  durch  die  Macht 
der  Karthager.  Aber  es  sind  wahrlich  nicht  die  Ansiedler 
gewesen,  an  denen  es  gefehlt  hat.  Wo  immer  in  der  hellenischen 
Welt  sich  Gelegenheit  fand,  eigenen  Grundbesitz  zu  erwerben, 
strömten  sie  zu  Tausenden  herbei;  so  bei  den  Gründungen 
von  Thurioi  und  Herakleia  am  tarantinischen  Golfe,  von 
Aetfia  und  Kaiakte  in  Sicilien,  von  Amphipolis  in  Thrakien, 
von  Herakleia  Trachis  in  Griechenland  selbst.  Es  ist  bezeich- 
nend, daß  die  Staatswissenschaft  noch  des  IV.  Jahrhunderts, 
wenn  sie  auf  Populationsverhältnisse  zu  sprechen  kommt,  sich 
nur  mit  der  Gefahr  der  Übervölkerung  beschäftigt;  und 
als  endlich  die  persische  Herrschaft  zusammenbrach,  hat 
das  westliche  Asien  sich  mit  einem  dichten  Netze  griechischer 
Kolonien  bedeckt. 

Ganz  besonders  drängte  sich  die  Bevölkerung,  wie  natür- 
lich, in  dem  Industriebezirk  am  Isthmos  und  am  Saronischen 
Busen  zusammen.  Hier  lebten  auf  den  2500  qkm  Attikas 
zu  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  über  200  OOOMenschen^ 

1  Nach  den  Angaben  bei  Thuk.  II  13  und  IV  94,  1  vgl.  90,  1  und  93,  3 
über  die  Wehrkraft  Attikas  in  den  Jahren  431  (14  000  Reiter  und  Bürger- 
hopliten  von  20 — 60  Jahren)  und  424  (Gesamtaufgebot  der  Bürger  und  Metoeken 
von  20 — 50  Jahren  über  20  000  Mann,  davon  8000  Hopliten  und  Reiter),  und 
III  16,  1  über  die  Flottenrüstung  im  Jahr  428  kann  die  Gesamtzahl  der  er- 
wachsenen Freien  männlichen  Geschlechts  zu  Anfang  des  peloponnesischen 
Krieges  auf  rund  45  000,  nach  dem  Erlöschen  der  Pest  auf  rund  35  000  ver- 
anschlagt werden,  darunter  431  etwa  35  000  Bürger;  die  freie  Gesamtbevölkerung 
hat  demnach  etwa  140  000  bzw.  110  000  Köpfe  betragen.  Die  Sklavenzahl 
wird  mit  Rücksicht  auf  Thuk.  VII  27,  5  und  VIII  40,  2  um  414  auf  kaum  mehr 


Bevölkerung,  85 

also  etwa  80  auf  einen  Quadratkilometer.  Dieselbe  Volks - 
dichtigkeit  wird  für  die  benachbarte  Megaris  (470  qkm)  an- 
zunehmen sein,  ebenso  in  der  Argolis  (4200  qkm)  mit  ihren 
zahlreichen  Handels-  und  Industriestädten,  wie  Korinth, 
Sikyon,  Aegina,  Argos  selbst  ^.  Ähnlich,  zum  Teil  vielleicht 
auch  noch  größer,  war  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  auf 
einigen  der  bedeutenderen  Inseln,  wie  Kerkyra,  Chios  und 
Samos  *.  In  den  hauptsächlich  ackerbautreibenden  Land- 
schaften dagegen  mußte  die  Bevölkerung  verhältnismäßig 
viel  geringer  sein.  So  kann  Boeotien  auf  annähernd  demselben 
Flächenraum  wie  Attika  kaum  über  150  000  Einwohner 
gezählt  haben  (etwa  60  auf  1  qkm)  ^,  und  die  Bevölkerung  des 
ganzen  Peloponnes  (22  300  qkm)  wird  um  430  auf  rund  eine 
Million  veranschlagt  werden  dürfen.  Thessalien  mit  seinen 
Nebenländern  mußte  bei  seiner  großen  Ausdehnung  (etwa 
16  000  qkm)  eine  starke  absolute  Bevölkerung  zählen,  ob- 
gleich bei  dem  Fehlen  bedeutenderer  städtischen  Mittelpunkte 
und  den  traurigen  sozialen  Verhältnissen  die  Volksdichtigkeit 
hier  ohne  Zweifel  hinter  der  in  Boeotien  beträchtlich  zurück - 


als  70  000  geschätzt  werden  dürfen;  vor  der  Pest  wird  sie  nicht  wesentlich  höher 
gewesen  sein,  da  ja  die  Verluste  durch  Einfuhr  ersetzt  werden  konnten,  und 
soweit  die  Industrie  in  Betracht  kam,  ohne  Zweifel  zum  größten  Teil  ersetzt 
worden  sind.  Wenn  Wilamowitz  (Arisiot.  und  Athen  II  208)  eine  Bürgerzahl 
von  60  000,  Ed.  Meyer  (Forschungen  II  179)  von  65  500  annimmt,  so  beruht 
das  auf  unhaltbaren  Voraussetzungen,  wie  Klio  V  (1905)  S.  356  ff.  gezeigt  ist. 

1  Nach  Lysias  34,  7  hatte  Argos  um  403  etwa  20  000,  nach  Xen.  Hell. 
V  3,  16  Phleius  um  380  mehr  als  5000  Bürger;  alle  Städte  der  Landschaft  mit 
Ausnahme  von  Phleius  und  Aegina  konnten  394:  14  500  Hopliten  ins  Feld 
stellen  (Xen.  Hell.  IV  2,  16  f.,  was  ungefähr  richtig  ist;  vgl.  Klio  VI,  1906, 
S.  52  ff.).  Daraus  ergibt  sich  eine  Bürgerzahl  von  60  000  und  eine  bürgerliche 
Gesamtbevölkerung  von  rund  200  000  Seelen,  wozu  dann  noch  etwa  die  Hälfte 
an  Sklaven  zu  rechnen  ist. 

-  Über  Chios  Thuk.  VIII  40,  über  Kerkyra  Partsch,  Die  Insel  Korfu, 
Ergänzungsheft  88  zuPetermanns  Mitteilungen  (1887), doch  siehe  unten  2.  Abt.  §  92. 

3  Das  Gesamtaufgebot  betrug  nach  Thuk.  IV  93  8000  Hopliten  und  Reiter 
(Effektivstärke),  nach  Kratippos  (Hell.  Oxyrh.  XI  4)  12  000  (Sollstärke),  dazu, 
nach  Thuk.  a.  -i.  0.  noch  reichlich  ebenso  viele  leichte  Truppen.  Demnach  mag 
sich  die  freie  Bevölkerung  auf  etwa  110—120  000  belaufen  haben.  Vgl.  auch 
Xen.  Denkw.  III  5,  2.  Die  Zahl  der  Sklaven  kann  nicht  sehr  beträchtlich  ge- 
wesen sein,  s.  oben  S.  79  Anm.  2. 


86     in.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

blieb,  war  es  doch  neben  Makedonien  die  einzige  Landschaft 
der  griechischen  Halbinsel,  die  Getreide  auszuführen  ver- 
mochte. Sehr  dünn  bewohnt  waren  die  Gebirgslandschaften 
des  griechischen  Nordwestens,  vom  ozolischen  Lokris  bis 
hinauf  nach  Obermakedonien;  die  Bevölkerung  lebte  hier 
in  offenen  Weilern  zerstreut,  die  durch  weite  Waldgebiete 
voneinander  getrennt  waren  ^.  So  mag  denn  die  Bevölkerung 
der  ganzen  griechischen  Halbinsel  mit  den  zugehörigen  Inseln 
in  der  zweiten  Hälfte  des  V.  Jahrhunderts  etwa  drei  bis  höch- 
stens vier  Millionen  betragen  haben. 

Von  den  Kolonialländern  hat  Sicilien  etwa  den  gleichen 
Flächenraum  (25  600  qkm)  wie  der  Peloponnes;  die  Be- 
völkerung mußte  bei  der  soviel  jüngeren  Kultur  der  Insel 
und  dem  Vorherrschen  des  Ackerbaues  und  der  Viehzucht 
weniger  dicht  sein,  und  wird  also  für  das  Ende  des  V.  Jahr- 
hunderts auf  höchstens  800  000  Einwohner  veranschlagt 
werden  dürfen.  Doch  standen  nur  etwa  zwei  Fünftel  der  Insel 
unter  griechischer  Herrschaft,  und  von  den  Bewohnern  werden 
kaum  mehr  als  ein  Drittel  griechischer  Abkunft  gewesen  sein. 
Die  Gebiete  der  Kolonien  auf  dem  itaHschen  Festlande  kamen 
Sicilien  an  Ausdehnung  und,  da  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse im  ganzen  dieselben  waren,  wohl  auch  an  Bevölkerung 
annähernd  gleich;  aber  auch  hier  bildeten  die  griechischen 
Ansiedler  nur  eine  Minderzahl.  Sehr  stark  bevölkert  waren 
die  hellespontischen  Landschaften  und  lonien;  doch  fehlen 
hier  genügende  Anhaltspunkte  zur  zifiermäßigen  Bestimmung 
der  Volkszahl,  und  dasselbe  gilt  von  den  Kolonien  am  Pontos, 
auf  Kypros  und  in  Libyen.  Immerhin  werden  wir  sagen 
dürfen,  daß  die  Bevölkerung  der  Kolonien,  einschließlich 
der  eingeborenen  Untertanen,  im  V.  Jahrhundert  der  des 
Mutterlandes  etwa  gleich  gekommen  ist,  so  daß  die  Gesamt- 
bevölkerung aller  griechischen  Staaten  in  dieser  Zeit  etwa 
7 — 8   Millionen    Bewohner   betragen   haben   mag  ^. 

1  Thuk.  III  94. 

*  Näheres  in  meiner  Bevölkerung  der  griechisch-römischen  Welt  (Leipzig 
1886);  ferner  in  J.  Wolfs  Zeitschr.  /.  Sozialwiss.  II,  1899,  S.  601  ff.  und  für 
Sicilien  im  Arckivio  Storico  Sicinano,  n.  s.  XIV,  Palermo  1889. 


Bevölkerung.  —  Getreideimport.  —  Landwirtschaft.  87 

Schon  um  die  Zeit  der  Perserkriege  war  Griechenland 
auf  den  Punkt  gelangt,  seinen  Bedarf  an  Nahrungsstoffen 
zum  Teil  vom  Ausland  einführen  zu  müssen  ^.  Bei  der  steigen- 
den Bevölkerung  nahm  dieser  Import  im  Laufe  des  V.  Jahr- 
hunderts immer  größere  Verhältnisse  an.  Namentlich  die 
Industriestädte  waren  in  jeder  Weise  bemüht,  die  Einfuhr  von 
Getreide  zu  befördern  und  die  Preise  niedrig  zu  halten  ^. 
Unter  den  Exportländern  standen  die  fruchtbaren  Ebenen 
im  Norden  des  Pontos,  das  heutige  Südrußland,  obenan, 
weiterhin  Sicilien  und  Aegypten.  Über  die  Menge  des  ein- 
geführten Getreides  haben  wir  allerdings  erst  aus  der  Mitte 
des  IV.  Jahrhunderts  Nachricht.  Damals  betrug  die  Einfuhr 
nach  dem  Peiraeeus  jährlich  etwa  800  000  Medimnen  (etwa 
400  000  hl  oder  300  000  metrische  Zentner),  wovon  die  Hälfte 
aus  dem  Pontos  kam-^;  da  aber  Athen  vor  dem  peloponne- 
sischen  Kriege  nicht  weniger  Einwohner  hatte  als  in  der 
demosthenischen  Zeit,  kann  der  Import  im  V.  Jahrhundert 
kaum  geringer  gewesen  sein.  Freilich  hatte  keine  zweite 
griechische  Stadt  einen  so  hohen  Bedarf  an  fremdem  Getreide; 
aber  der  Gesamtimport  nach  den  Häfen  des  Aegaeischen 
Meeres  muß  sich  doch  auf  mehrere  Millionen  Medimnen  be- 
laufen haben  *. 

Die  heimische  Landwirtschaft  hatte  dieser  Konkurrenz 
gegenüber  einen  um  so  schwereren  Stand,  als  sie  noch  mit 
recht  primitiven  Methoden  betrieben  wurde.  Der  Pflug  war 
noch  im  wesentlichen  der  alte  homerische,  nur  daß  er  jetzt 
durchweg  mit  metallener  Pflugschar  versehen  war.  Ebenso 
heß  man  nach  wie  vor  die  Körner  auf  der  Tenne  durch  das 


1  I-Ierod.  VII  147,  Theopomp.  fr.  219  bei  Athen.  VI  232  b.  Schon  Solon 
soll  die  Getreideausfuhr  aus  Attika  verboten  haben  (Plut.  Solon  22.  24). 

'^  Boeckh,  Slaatshaush.  ^  S.  115  ff.  Gernet,  L' approvisionnement  d' Athenes 
en  ble  au  V^  et  IV^  siecles  {Bibliolhique  de  laFaculie  de  Leiires,  XXV,  Milanges 
d'hist.  anc,  Paris  1909),  unkritisch. 

^  Demosth.  g.  Leptin.  32. 

*  So  gewährte  Athen  im  Jahre  426  der  verhältnismäßig  kleinen  Stadt 
Methone  in  Pierien,  die  zu  einem  Tribut  von  3  Talenten  veranlagt  war,  das 
Privileg,  mehr  als  4000  Medimnen  Weizen  (die  Zahl  ist  unvollständig  überliefert, 
es  können  bis  zu  7  000  gewesen  sein)  aus  dem  Pontos  einzuführen  (CIA.  I  40). 


88     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkrieg-en. 

Vieh  austreten.  Auch  die  alte  Brachwirtschaft,  wobei  die 
Felder  nur  ein  Jahr  um  das  andere  mit  Getreide  bestellt 
wurden,  war  noch  am  Anfang  des  IV.  Jahrhunderts  selbst  in 
Attika  allgemein  üblich.  Die  Leute  schüttelten  mit  dem  Kopfe, 
wenn  ein  intelligenter  Landwirt  den  Versuch  machte,  einen 
rationelleren  Betrieb  einzuführen  ^.  Immerhin  wirkten  die 
hohen  Transportkosten  wie  eine  Art  Schutzzoll,  so  daß  der 
Getreidebau  trotz  alledem  lohnend  blieb.  Zu  Alexanders 
Zeit  betrug  die  jährliche  Produktion  Attikas  400  000  Me- 
dimnen  (etwa  200  000  hl),  fast  ausschließlich  Gerste,  während 
die  fruchtbare  Insel  Lemnos  jährlich  300  000  Medimnen 
erzeugte  -. 

Besseren  Ertrag  brachten  die  edleren  Kulturen,  der 
Wein-  und  Ölbau.  Die  Landschaften  am  Aegaeischen  Meere 
hatten  hier  noch  keine  Konkurrenz  zu  fürchten;  vielmehr 
bildeten  das  Öl  Attikas,  der  Wein  loniens  und  von  der  thraki- 
schen  Südküste  einen  bedeutenden  Ausfuhrartikel.  Ein 
Import  von  lebendem  Vieh  über  See  auf  weite  Entfernungen 
war  bei  dem  Zustande  der  Schiffahrt  in  dieser  Zeit  so  gut 
wie  ausgeschlossen,  wohl  aber  wurden  gesalzenes  Fleisch, 
Käse,  Talg  und  andere  animaHsche  Produkte  in  großer  Menge 
aus  den  Kolonien  eingeführt  und  bildeten  im  Mutterlande 
einen  wichtigen   Bestandteil   der  Volksnahrung  \ 

^  Lysias  g.  Polemos  bei  Suidas  im.  KaXd|Liri  öpoOv,  vgl.  Xen.  Oekon.  16,  10. 
Noch  in  einem  Pachtkontrakt  aus  Amorgos,  aus  dem  III.  Jahrhundert,  wird 
Brache  ein  um  das  andere  Jahr  vorgeschrieben  (Dittenb.  Sylt.  *  639). 

2  CIA.  IV  2,  834  b.  vgl,  Foucart,  Bull.  Corr.  Hell.  VIII,  1884,  S.  211. 
In  demselben  Jahre,  auf  das  sich  die  obigen  Angaben  beziehen  (329/8),  erzeugte 
Salamis  24  525  Med.,  Skyros  38  400,  Imbros  70  200.  Wir  wissen  allerdings 
nicht,  ob  es  sich  dabei  um  ein  Jahr  mit  guter  oder  schlechter  Ernte  handelt, 
doch  ist  es  aus  anderen  Gründen  wahrscheinlich,  daß  die  mittlere  Getreide- 
produktion Attikas  im  V.  und  IV.  Jahrhundert  sich  nicht  allzuweit  von  dem 
oben  angegebenen  Betrage  entfernt  hat  (vgl.  meine  Bevölkerung  S.  90 — 97). 
Jetzt  soll  das  Ackerland  auf  Lemnos  250  000  Stremmata  (=  25  000  ha),  also 
etwa  die  Hälfte  der  Insel  betragen  (Conze,  Reise  auf  den  Inseln  des  thrakischen 
Meeres,  Hannover  1860,  S.  106);  viel  ausgedehnter  kann  es  auch  im  Altertum 
nicht  gewesen  sein. '  So  lange  also  das  Brachsystem  herrschte,  konnte  der  Ertrag 
in  Jahren  mittlerer  Ernte  nicht  wesentlich  höher  sein,  als  oben  angegeben. 

^  Wiskemann,  Die  antike  Landwirtschaft  und  das  von  Thünensche  Gesetz 
{Preisschriften  der  Jablonowskischen   Gesellschaft  VII),    Leipzig   1859. 


Landwirtschaft.  —  Aufhören  der  Naturalwirtschaft.  89 

Die  alte  Naturalwirtschaft  verschwand  jetzt  oder  er- 
hielt sich  doch  nur  in  den  abgelegeneren  Teilen  der  griechi- 
schen Welt  ^.  In  Athen  sind  die  Sätze  der  solonischen  Schätzung 
schon  früh  in  Geld  umgerechnet  worden;  als  Pentakosio- 
medimne  galt  jetzt  nicht  mehr,  wer  jährlich  500  Scheffel 
Gerste  erntete,  sondern  wer  ein  Talent  (5482  Mark)  im  Ver- 
mögen hatte  2.  Sehr  charakteristisch  für  den  Umschwung 
in  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  ist  es,  daß  dabei  nicht 
mehr  ausschließlich  der  Grundbesitz,  sondern  ebenso  auch 
das  bewegliche  Vermögen  berücksichtigt  wurde.  Dem- 
entsprechend wurde  die  Steuer,  die  noch  unter  den  Peisistra- 
tiden  in  Natur  entrichtet  worden  war,  jetzt  in  Geld  bezahlt; 
und  auch  die  von  Aristeides  geordnete  Steuerverfassung 
des  athenischen  Seebundes  beruhte  durchaus  auf  der  Geld- 
wirtschaft und  schloß  alle  Naturalleistungen  aus  ^. 

Selbst  das  Perserreich  vermochte  sich  dieser  Strömung 
nicht  zu  entziehen  und  ist  vielleicht  bereits  unter  Kyros, 
jedenfalls   unter   Dareios,   zur  Münzprägung  übergegangen*, 

1  S.  oben  I  1  S.  295. 

2  Näheres  in  meinem  Aufsatz  über  Das  Volksvermögen  von  Attika  im  Hermes 
XX,  1885,  S.  245  fE.  Wann  diese  Reform  durchgeführt  worden  ist,  wissen  wir 
nicht;  spätestens  um  die  Zeit  der  Perserkriege. 

3  Reste  der  Naturalwirtschaft  haben  sich  übrigens  auch  in  Attika  bis  in 
späte  Zeiten  erhalten,  namentlich  bei  der  Verwaltung  des  Tempelgutes.  So 
bezahlte  der  Redner  Hypereides  die  Pacht  für  das  rarische  Feld  an  den  eleusini- 
schen  Tempel  in  Natur  mit  619  Medimnen  (CIA.  IV  2,  834  b  II  41),  ebenso 
wurde  die  Abgabe  vom  Ertrag  der  heiligen  Ölbäume  in  Natur  entrichtet  (Aristot. 
An.  60,  2). 

*  Der  persische  Goldstater  hieß  bei  den  Griechen  bapeiKÖ^,  es  lag  also 
nahe,  den  Anfang  der  Prägung  auf  Dareios  zurückzuführen;  soHerod.  IV  166. 
Doch  kommt  das  Wort  dariku  schon  in  babylonischen  Inschriften  aus  der  Zeit 
Nebukadnezars  und  Nabonidos'  vor  (Babelon,  Traite  des  monnaies  II  2  Sp.  37  f., 
mit  Verweisung  auf  Muss-Arnoldt,  A  concise  dictionary  of  the  Assyrian  lan- 
guage,  Berlin  1905,  vox  Dariku;  bestätigt  und  ergänzt  durch  freundliche  Mittei- 
lungen von  Prof.  Lehmann-Haupt),  natürlich  nicht  als  Bezeichnung  einer  Münze, 
sondern  wohl  eines  Hohlmaßes.  Besser  ist  die  Ableitung  aus  dem  Zend,  die 
O.  Blau  gegeben  hat  (Zeitschr.  Deutsch.  Morg.  Ges.  VI  482):  Avest.  zairi  „gelb, 
goldfarbig"  würde  altpersisch  *dari  heißen,  *dari-ka  also  ,, golden,  Goldstück" 
(Weißbach  ebend,  LXV,  1911,  643).  Demnach  steht  nichts  im  Wege,  die 
Prägung  schon  unter  Kyros  beginnen  zu  lassen.    Daraus  fogt  aber   noch  nicht, 


90     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Die  lydische  Währung  diente  dabei,  wie  natürlich,  als  Vor- 
bild, nur  wurde  das  bimetallistische  System  noch  reiner 
durchgeführt  und  überhaupt  kein  Goldstück  im  Gewicht 
des  Silberstücks  mehr  geschlagen.  Auch  das  Gewichtsver- 
hältnis des  Gold-  zu  dem  Silberstater  wie  3  :  4  wurde  bei- 
behalten, der  Münzfuß  aber  etwas  erhöht  und  dem  im  Reiche 
verbreitetsten  Gewichtssystem,  dem  babylonischen,  angepaßt, 
so  daß  der  Goldstater  (Dareikos)  im  Gewicht  eines  leichten 
babylonischen  Schekels  (8,4  g)  ausgebracht  wurde.  Der 
entsprechende  Silberstater  hätte  also  IV3  Schekel  oder  V45  Mine 
wiegen  sollen,  doch  wurde  statt  des  Ganzstücks  in  der  Regel 
die  Hälfte,  im  Gewicht  von  2/3  des  babylonischen  Schekels 
oder  V90  Mine  (5,6  g)  geprägt  und  dieses  Stück  dann  als 
Silberschekel  (aiYXog)  bezeichnet.  Von  diesen  Stücken 
wurden  20  auf  den  Dareikos  gerechnet,  so  daß  sich  eine  Wert- 
relation  zwischen  beiden  Metallen  wie  1  :  ISVs  ergab,  die 
den  Verhältnissen  Irmerasiens  besser  entsprach,  als  die  Relation, 
die  der  lydischen  Währung  zugrunde  gelegen  hatte.  Das 
Goldstück  zeigt  auf  der  Vorderseite  den  persischen  König 
mit  Bogen  und  Speer,  die  Rückseite  ist  glatt,  mit  einer  unregel- 
mäßigen Vertiefung  in  der  Mitte;  eine  Aufschrift  fehlt.  Die 
neuen  Münzen  wurden  in  großen  Mengen  geschlagen  und 
zirkulierten  bald  auf  allen  griechischen  Märkten,  wo  sie  andert- 
halb Jahrhunderte  lang  das  herrschende  Goldkurant  gebildet 
haben,  bis  Philipp  von  Makedonien  dem  Dareikos  seinen 
Philippeios  entgegenstellte.  Die  Einführung  der  Doppel- 
währung in  einem  so  weiten  Wirtschaftsgebiete  wie  das 
persische  Reich  hat  dann  zur  Folge  gehabt,  daß  das  ihr  zu- 
grunde Hegende  Wertverhältnis  auch  in  Griechenland  Eingang 
gefunden    hat    und    trotz    mancher    Kursschwankungen    im 


daß  das  wirklich  geschehen  ist;  die  Sache  kann  auch  mit  Dareios'  Finanzreform 
zusammenhängen,  und  Kyros  und  Kambyses  können  in  Sardes  mit  Kroesos' 
Typen  weiter  geprägt  haben.  Wenn  Percy  Gardner  sagt  (Proceedings  Brit.  Acad. 
III  1908,  The  Gold  coinage  of  Asia  S.  10):  when  ihe  Kingdom  of  Croesus  feil,  the 
royal  coinage  at  Sardes  of  coiirse  ceased,  so  kann  ich  das  nicht  zugeben ;  der  Perser- 
könig war  ja  in  Sardes  nichts  weiter,  als  der  Rechtsnachfolger  der  lydischen 
Könige. 


Persische  Reichswährung.  —  Elektronprägung  in  Kleinasien.  91 

einzelnen    in    Geltung   geblieben   ist,    solange    diese    Doppel- 
währung bestanden  hat  ^. 

Der  Perserkönig  nahm  in  seinem  Reiche  das  Monopol 
der  Goldprägung  in  Anspruch,  und  infolgedessen  hörte  die 
Elektronprägung  der  kleinasiatischen  Griechenstädte  zunächst 
auf,  da  ja  auch  das  Elektron  als  eine  Art  Gold  betrachtet 
wurde^.  Während  des  ionischen  Aufstandes  wurde  sie  vorüber- 
gehend wieder  aufgenommen,  dauernd  nach  der  Befreiung 
der  kleinasischen  Städte  von  der  Perserherrschaft,  inMytilene, 
Chios,  Phokaea,  Lampsakos.  In  Kyzikos  ist  die  Prägung 
überhaupt  nie  unterbrochen  gewesen ;  die  hier  in  großerMenge  ge- 
schlagenen Elektronstatere  phokaeischen  Fußes  (,,Kyzikener") 
bildeten  neben  den  Dareiken  bis  auf  Philipp  die  Hauptmasse 
des  Goldkurants,  das  am  Aegaeischen  Meer  umlief.  In  reinem 
Golde  hat  man  dagegen  in  der  griechischen  Welt  erst  gegen 
Ende  des  V.  Jahrhunderts  zu  prägen  begonnen,  zunächst  in 
den  beiden  größten  Städten  Athen  und  Syrakus. 

1  So  ist  das  Gold  für  die  chryselephantine  Statue  der  Athena  im  Parthenon 
(vollendet  434/3,  Pareti,  Rötn.  Mut.  XXIV,  1910,  S.  271  ff.)  zum  Kurs  von 
etwa  1  :  14  angekauft  worden  {CIA.  IV  1,  298  S.  146,  vgl.  I  301  S.  160).  Seit 
alle  Kulturstaaten  zur  Goldwährung  übergegangen  sind,  oder  doch  die  freie 
Ausprägung  des  Silbers  sistiert  haben,  darf  der  "Wert  der  antiken  Silbermünzen 
weder  nach  der  fiktiv  gewordenen  Relation  von  1  :  löVzi  noch  nach  dem  heutigen 
Silberpreise  bestimmt  werden,  so  wenig  wie  etwa  der  Wert  des  italischen  aes  grave 
nach  dem  heutigen  Marktpreise  des  Kupfers.  "Wir  müssen  vielmehr  von  der 
antiken  Goldmünze  ausgehen  und  danach,  unter  Zugrundelegung  des  im  Altertum 
gültigen  Wertverhältnisses  zwischen  beiden  Metallen,  den  Wert  der  Silber- 
münze bestimmen.  Demgemäß  sind  in  dem  vorliegenden  Bande  alle 
in  griechischer  Silberwährung  ausgedrückten  Summen  nach  dem  Verhältnisse 
wie  1  :  1373  in  Markwährung  umgerechnet  worden  (aus  1  kg  Gold  werden  für 
2790  Mark  Goldmünzen  geprägt).  Danach  beträgt  der  Wert  des  Silbertalents 
von  26,2  kg  5482,35  Mark,  der  Wert  der  entsprechenden  Silbermine  (436,6  g) 
91,37  Mark,  der  attischenDrachme  91Pfennig,  des  aeginaeischen  Staters  2,61-Mark. 
Der  Goldwert  des  Dareikos  ist  23,44  Mark.  —  Weißbach  a.  a.  0.  S.  641  be- 
stimmt auf  Grund  von  zwei  Gewichten  des  Dareios  die  babylonische  Mine 
zu  500,17  g,  was  für  den  Dareikos  8,34  g  ergeben  würde  (a.  a.  0.  S.  680).  Der 
kleine  Unterschied  kommt  hier  für  uns  nicht  in  Betracht. 

^  So  Percy  Gardner,  The  Gold  coinage  of  Asia  (oben  S.  90  Anm.); 
wieweit  das  richtig  ist,  muß  wohl  noch  näher  untersucht  werden;  jedenfalls  hat 
Kyzikos  auch  unter  der  persischen  Herrschaft  in  Elektron  geprägt,  s.  Fritze, 
Die  Elektronprägung  von  Kyzikos  (Nomisma  VII),   Berlin  1912, 


92     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Um  SO  reichlicher  war  die  Silberprägung.  Auch  die  Land- 
schaften, die  bisher  keine  Münzen  geschlagen  hatten,  wie 
Thessalien,  Ehs,  Kreta,  nahmen  jetzt  daran  teil.  Das  konser- 
vative Sparta  freilich  hielt  an  seinem  Eisengeide  fest;  und 
auffallenderweise  haben  auch  die  Industriestadt  Megara 
und  ihre  Kolonien  Byzantion  und  Kalchedon  sich  der  Prägung 
in  edlem  Metall  ferngehalten.  Die  lebhafteste  Tätigkeit  ent- 
faltete die  Münze  von  Athen,  wo  die  Silberbergwerke  von 
Laureion  das  Metall  in  reicher  Fülle  Heferten,  und  seit  der 
Überführung  des  Bundesschatzes  von  Delos  jahraus  jahrein 
gegen  500  Talente  Tributgelder  einliefen,  die  dann  in  attisches 
Geld  umgeprägt  wurden.  Das  poHtische  und  wirtschaftHche 
Übergewicht  Athens,  noch  mehr  aber  das  reine  Korn  und  die 
vollwichtige  Ausprägung  der  attischen  Münzen  machte  diese 
zum  herrschenden  Kurant  im  ganzen  Umkreis  des  Aegaeischen 
Meeres  und  weit  darüber  hinaus.  Die  Folge  war,  daß  die 
Kykladen  ihre  Prägung  einstellten  oder  doch  nur  noch  sehr 
wenig  geprägt  haben.  Aegina  hat  bei  dem  Verlust  seiner 
Selbständigkeit  457  sein  Münzrecht  verloren,  ebenso  die 
Städte  auf  Euboea  nach  dem  mißglückten  Aufstande  des 
Jahres  446  (unten  Abschnitt  V).  Endlich,  um  die  Zeit  des 
Nikias-Friedens,  hat  man  in  Athen  den  Schritt  getan,  den 
verbündeten  Städten  das  Münzrecht  zu  nehmen,  und  im 
ganzen  Reich  attische  Münze  und  attisches  Maß  und  Gewicht 
einzuführen;  doch  ließ  der  Fall  der  athenischen  Herrschaft 
es  nicht  zur   Durchführung  dieser  Maßregel  kommen '. 

Das  für  diese  Ausmünzungen  nötige  Metall  lieferten 
außer  den  Silbergruben  von  Laureion  an  der  Südspitze  Attikas  ^ 
namentlich  die  Minen  in  der  Landschaft  am  unteren  Strymon 
an  der  Grenze  zwischen  Thrakien  und  Makedonien  ^.      Ein 

^  Übersicht  über  die  Münzverhältnisse  im  attischen  Reiche  bei  Cavaignac, 
Hist.  financ.  d'Athenes  (ßibl.  des  'kcoles  jrang-  100)  S.  179  ff.  Der  Volksbeschluß 
über  die  Einführung  der  attischen  Münze  Inscr.  Ins.  V  1,  480,  Anspielung  darauf 
bei  Aristoph.  Vögel  1040  f.;  dazu  Weil,  Zeitschr.  f.  Numismatik  XXV,  1906,  S.  62. 

2  Aesch.  Perser  238,  Herod.  VII  144,  Aristot.  ATT.  22,  7,  Ardaillon,  Les 
Mines  du  Laurion  dans  l'Antiquite  (Bibl.  des  kcoles  frang.  11)  Paris  1897. 

^  Alexander  I  von  Makedonien  soll  aus  seinen  Silbergruben  am  Strymon 
einen  Ertrag  von  täglich  einem  Talent  gezogen  haben  (Herod.  V  17). 


Silberprägung-  in  Griechenland.  —  Thesaurierung.  93 

großer  Teil  des  vorhandenen  Metallvorrats  wurde  allerdings 
dem  Verkehr  durch  Thesaurierung  entzogen.  Hatte  doch  fast 
jeder  Tempel  seinen  Schatz;  und  wenn  es  sich  dabei  auch 
meist  nur  um  Silbergerät  im  Gewicht  von  wenigen  Minen 
handelte,  so  ergab  sich  doch  bei  der  Menge  der  Heiligtümer 
eine  sehr  bedeutende  Gesamtsumme.  So  befanden  sich  in  den 
Tempeln  Attikas  beim  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges 
Weihgeschenke  im  Werte  von  500  Talenten  (2  750  000  Mk.)  \ 
abgesehen  von  der  Statue  der  Athena  im  Parthenon,  die 
allein  einen  Goldwert  von  616  Silbertalenten  hatte  ^.  Daneben 
waren  noch  sehr  ansehnliche  Barbestände  vorhanden,  aus 
denen  der  Staat  in  den  zehn  ersten  Jahren  des  Krieges  gegen 
800  Talente  (4  400  000  Mark)  entliehen  hat,  und  zwar  ab- 
gesehen von  den  Beträgen,  die  dem  Schatze  der  Stadtgöttin 
(Ä9r|vd  TToXidq)  entnommen  wurden,  der  bei  weitem  der 
reichste  dieser  Tempelschätze  war  ^.  Auch  in  Delos  und 
Olympia  lagen  bedeutende  Schätze.  Der  delphische  Tempel 
soll  um  360  10  000  Talente  (55  Millionen  Mark)  besessen 
haben,  eine  Angabe,  die  allerdings  übertrieben  ist;  da  indes 
die  Phoker  später  aus  diesen  Geldern  die  Kosten  eines  zehn- 
jährigen Krieges  bestritten  haben,  der  mit  großen  Söldner- 
heeren geführt  wurde,  und  die  Weihgeschenke  des  Kroesos 
allein,  nach  der  damaligen  Wertrelation  zwischen  Gold  und 
Silber  wie  1  :  12,  einen  Wert  von  etwa  1900  Silbertalenten  / 
hatten,  mag  der  Gesamtbetrag  sich  immerhin  auf  gegen 
8000  Talente  belaufen  haben;  und  von  diesen  Weihgeschenken 
muß  der  bei  weitem  größte  Teil  schon  im  V.  Jahrhundert 
vorhanden  gewesen  sein  ^.    Dazu  kam  dann  weiter  der  Schatz 

^  Thuk.  II  13,  4.  Die  Angabe  beruht  nur  auf  Schätzung  und  mag  sehr 
übertrieben  sein. 

2  Thuk.  II  13,  4,  Philochoros  fr.  97,  s.  unten  2.  Abt.  §  143. 

3  Kirchhoff,  Abhandl.  der  Berl.  Akad.  1876  S.  31,  CIA.  I  273. 

*  Diod.  XVI  66,  6,  wo  die  von  Kroesos  geweihten  Weißgoldziegeln  als 
von  reinem  Gold  in  Rechnung  gestellt  sind,  so  daß  ein  Wert  von  über  3000  tal. 
herauskommt;  vgl.  dazu  oben  IIS.  297  Anm.  2.  Die  übrigen  goldenen  Weih- 
geschenke hätten  sich  auf  30  tal.,  also  entsprechend  einem  Wert  von  etwa 
400  Silbertalenten,  belaufen,  die  silbernen  Weihgeschenke  auf  6000  tal.  Da 
Zahl  und  Gewicht  der  Ziegeln,  abgesehen  von  der  Abrundung  der  Zahl,  richtig 


94     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliclie  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

der  Athena  Polias,  der  kurz  vor  dem  Ausbruch  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges  einen  Bestand  von  gegen  6000  Talenten 
(33  Millionen  Mark)   hatte  i. 

Immerhin  war  die  Menge  des  in  den  Verkehr  strömenden 
edlen  Metalls  groß  genug,  um  ein  beträchtliches  Steigen  der 
Preise  hervorzurufen.  Der  Scheffel  Gerste,  der  in  Solons 
Zeit  in  Athen  eine  Drachme  gekostet  hatte,  galt  um  die  Wende 
vom  V.  zum  IV.  Jahrhundert  das  Doppelte,  der  Scheffel 
Weizen  3  Drachmen  ^.  Sehr  viel  bedeutender  war  die  Steigerung 
der  Viehpreise,  da  hier  die  überseeische  Konkurrenz  nicht  in 
Betracht  kam,  und  in  Griechenland  selbst  bei  dem  Anwachsen 
der  Bevölkerung  die  Viehzucht  immer  mehr  hinter  den  Acker- 
bau zurücktrat.  Während  um  600  ein  Schaf  in  Athen  für  eine 
Drachme  zu  kaufen  gewesen  war,  betrug  der  Preis  zwei  Jahr- 
hunderte später  10 — 20  Drachmen;  ein  Ochse  kostete  in 
dieser  Zeit  etwa  50 — 100  Drachmen  ^.  Dagegen  galt  im  vieh- 
reichen  Sicilien  ein  ,, schönes  Kalb"  noch  in  der  Zeit  nach  den 
Perserkriegen  nur  10  Litren,   oder  2  attische  Drachmen  *. 

Die   Vermehrung    des    umlaufenden    Edelmetalls    mußte 

angegeben  wird,  ebenso  das  Gewicht  der  übrigen  goldenen  Weihgeschenke 
(der  Löwe  und  der  Mischkrug  des  Kroesos  wogen  nach  Herod.  I  50  zusammen 
15  tal.  12  m.,  dazu  nach  unserer  Stelle  360  goldene  Schalen  im  Gewicht  von 
je  2  m.,  zusammen  also  12  tal.  und  eine  Frauenstatue),  so  haben  wir  keinen 
Grund,  an  der  Richtigkeit  der  Angabe  über  das  Gewicht  der  silbernen  Weih- 
geschenke zu  zweifeln,  wenn  sie  auch  nach  oben  abgerundet  sein  mag. 
1  Thuk.  II  13,  3,  CIA.  I  273,  vgl.  unten  2.  Abt.  §  141. 

*  Ein  Weizenpreis  aus  dem  V.  Jahrhundert  ist  nicht  überliefert.  Am 
Anfang  des  folgenden  Jahrhunderts  rechnet  Aristophanes  den  Scheffel  Weizen 
zu  3  dr.  (Ekkl.  547);  in  einem  aus  etwa  derselben  Zeit  stammenden  Opfertarif 
{CIA.  631)  wird  V12  Medimnos  zu  3  Obolen  gerechnet,  aber  einschließlich  einer 
Fleischportion.  Nach  einer  Anekdote,  die  auf  den  Namen  des  Sokrates  (Plut. 
V.  d.  Seelenruhe  10  S.  470,  Stobaeos  Floril.  III  211  Mein.)  und  des  Kynikers 
Diogenes  (Diog.  Laert.  VI  35)  erzählt  wird,  hätte  die  Choenix  Gerstenmehl 
(äXqpixa)  V4  ob.,  der  Medimnos  also  2  dr.  gekostet;  eine  Angabe,  die  natürlich 
nur  einen  sehr  bedingten  Wert  hat.  Näheres  in  dem  Aufsatze  von  Corsetti 
über  die  Getreidepreise  im  Altertum,  in  meinen  Studi  di  Storia  antica,  Heft  II, 
Rom  1893. 

^  Boeckh,  Staatshaush.  I  ^  S.  105,  und  über  das  Steigen  der  Viehpreise 
seit  Solon  Demetrios  von  Phaleron  bei  Plut.  Solon  23. 

*  Epicharmos  bei  Polydeukes  IX  80. 


Steigen  der  Preise.  —  Zinsfuß.  96 

zur  Folge  haben,  daß  es  im  V.  Jahrhundert  viel  leichter  war, 
ein  Talent  Silber  geliehen  zu  erhalten,  als  es  im  VI.  Jahr- 
hundert gewesen  war.  Ein  Scheffel  Getreide  war  allerdings 
ums  Jahr  400,  in  Silber  ausgedrückt,  viel  teurer  als  in  Solons 
Zeit,  aber  nur  darum,  weil  der  Vorrat  an  Silber  noch  rascher 
gewachsen  war  als  das  Angebot  von  Zerealien.  Dabei  hatte 
man  jetzt  die  Möglichkeit,  in  Zeiten  des  Mißwachses  fremdes 
Korn  in  fast  unbeschränkter  Menge  heranzuziehen;  und  so 
fand  ein  Bauer,  der  für  die  Aussaat  und  zum  Unterhalt  seiner 
Familie  bis  zur  nächsten  Ernte  Getreide  nötig  hatte,  jetzt 
viel  weniger  Schwierigkeit,  sich  seinen  Bedarf  zu  verschaffen, 
als  einst,  wo  er  darauf  angewiesen  gewesen  war,  zu  seinem 
reichen  Nachbar  zu  gehen.  Infolgedessen  mußten  Darlehen, 
sei  es  in  Naturalien,  sei  es  in  deren  Äquivalent  in  Geld  jetzt 
zu  besseren  Bedingungen  als  früher  zu  erhalten  sein,  mit 
anderen  Worten,  der  Zinsfuß  mußte  niedriger  werden.  Doch 
wirkte  dieser  Tendenz  der  lebhafte  Aufschwung  in  Industrie 
und  Handel  entgegen,  der  eine  große  Nachfrage  nach  Kapi- 
talien bedingte.  So  blieb  der  Zins  auch  jetzt  noch  verhältnis- 
mäßig sehr  hoch.  Waren  in  Solons  Zeit  bei  guter  Sicherheit 
im  Mittel  18%  gezahlt  worden  (oben  IIS.  300),  so  lieh  im 
Jahre  434/3  der  delische  Tempel  seine  Gelder  zu  10%  aus, 
wobei  aber  die  Zinsen  erst  nach  Ablauf  von  5  Jahren  zugleich 
mit  dem  Kapital  gezahlt  werden  sollten,  und  Zinseszins  nicht 
berechnet  wurde  ^.  Doch  wird  der  Zinsfuß  am  offenen  Markt 
höher  gestanden  haben.  Der  athenische  Staat  verzinste 
während  des  peloponnesischen  Krieges  die  bei  den  Tempel - 
schätzen  aufgenommenen  Anleihen  zuerst,  wie  es  scheint, 
mit  6%,  später  mit  nur  1,2%,  Sätze,  die  wohl  als  die  Hälfte 
bzw.  das  Zehntel  eines  Zinses  von  12%  anzusehen  sind,  so  daß 
dies  schon  damals  der  landesübliche  Zinsfuß  gewesen  sein 
müßte,  wie  später  im  IV.  Jahrhundert  ^.  Bei  Anlagen,  die 
mit  Risiko  verbunden  waren,  und  in  Zeiten  knappen  Geld- 
standes   wurden     natürlich    viel    höhere    Zinsen    genommen. 


1  CIA.  I  283. 

2  Boeckh,  Staaish.  I  ^  581,  Ungar,  Jahrb.  f.  Philol.CXlN II,  1893,  S.  225  ff. 


96     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen, 

Irgendwelche  gesetzliche  Bestimmung  über  ein  Zinsmaximum 
hat  es  wenigstens  in  Athen  nicht  gegeben^;  wenn  auch  die 
öffentliche  Meinung  hier  wie  überall  die  Ausbeutung  der  Not 
der  Mitmenschen  durch  Wucher  verurteilte  und  damit  immer- 
hin einen  moralischen  Druck  ausübte  ^. 

Ein  solcher  Zinsfuß  hat  eine  große  Produktivität  der 
Industrie  zur  Voraussetzung,  also  hohe  Preise  und  niedrige 
Arbeitslöhne.  In  der  Tat  sind  die  Preise  von  Industrieerzeug- 
nissen, die  aus  dem  V.  und  IV.  Jahrhundert  überliefert  werden, 
z.  B.  von  Kleidern  und  Waffen,  gegenüber  den  Getreidepreisen 
sehr  ansehnlich  ^.  Vor  allem  aber  gab  das  Bestehen  der 
Sklaverei  dem  Kapitale  die  Möglichkeit,  die  Arbeitskraft 
rücksichtslos  auszubeuten.  Ein  kräftiger  Sklave,  wie  er  in  den 
Bergwerken  gebraucht  wurde,  war  für  100 — 150  Drachmen 
zu  kaufen,  und  brachte  einen  täglichen  Reinertrag  von  einem 
Obol,  also,  das  Jahr  nur  zu  300  Arbeitstagen  gerechnet,  eine 
Verzinsung  des  Kaufpreises  von  SSVa — 50%,  worin  allerdings 
auch  die  Amortisationsquote  für  die  Abnutzung  des  Kapitals 
einbegriffen  ist  *.  Geschulte  Fabrikarbeiter  (xeipoxexvai) 
gaben  natürlich  viel  höhere  Erträge,  täglich  zwei  Obolen 
und  mehr^;  doch  war  hier,  dementsprechend,  auch  der 
Ankaufspreis  höher,  bis  zu  5  und  6  Minen  ^  Die  32 — 33  Eisen- 
arbeiter, die  der  Vater  des  Redners  Demosthenes  in  seiner 
Fabrik  hatte,   brachten  einen  jährlichen  Reinertrag  von  30 


^  Ein  angeblich  oder  wirklich  solonisches  Gesetz,  das  noch  am  Anfang 
des  IV.  Jahrhunderts  in  Geltung  stand,  bestimmte  ausdrücklich  tö  äpYiJpiov 
aTclai|Liov  eivai  ^q)'  öttööuj  öv  ßoOXriTai  6  baveiZuiv  (Lys.  10,  g  Theomn.  I, 
18  vgl.  15). 

^  Vgl.  im  allgemeinen  Billeter,  Geschichte  des  Zinsfußes  im  griech.-röm. 
Altertum,  Leipzig  1898,  und  meinen  Artikel  in  Conrads  Handwörterbuch  der 
Staatswissenschaften  ^  VIII  S.  1117  ff. 

ä  Boeckh,  Staatsh.  I  "  S.  148  ff. 

*  Xen.  V.  d.  Einkünften  IV  14—23. 

^  Aeschin.  g.  Tim.  118. 

«  Über  die  Sklavenpreise  Boeckh,  Staatsh.  I  "  S.  95  ff.  und  die  offiziellen 
Angaben  über  den  Erlös  aus  den  Gütern,  die  infolge  des  Hermen-  und  Mysterien- 
prozesses im  Jahre  415  eingezogen  worden  waren  {CIA.  I  274.  275.  277,  IV  1, 
274  S.  35). 


Seehandel.  97 

Minen,  also  gegen  100  Drachmen  auf  den  Kopf;  die  20  Möbel- 
arbeiter, die  derselbe  Unternehmer  beschäftigte,  allerdings 
nur  12  Minen,  je  60  Drachmen,  was  wenig  mehr  als  einen 
Obolos  auf  den  Tag  beträgt,  aber  immerhin  noch  eine  Ver- 
zinsung von  30%  ergibt,  da  sie  je  2  Minen  gekostet  hatten  ^. 
Auch  im  Seehandel  konnten  Kapitalien  sehr  hohe  Ver- 
zinsung finden;  dem  entsprach  dann  aber  auch  die  Größe 
des  Risiko.  Stand  doch  die  Schiffahrt  noch  immer  in  ihrer 
Kindheit,  so  bedeutende  Fortschritte  sie  auch  seit  den  homeri- 
schen Zeiten  gemacht  haben  mochte.  Die  ansehnlichsten 
Kriegsfahrzeuge  des  V.  Jahrhunderts,  die  Trieren,  waren 
doch  nur  große  Kähne,  mit  geringem  Tiefgang,  die  bei  nur 
einigermaßen  bewegter  See  ihre  Manöverierfähigkeit  ein- 
büßten und  bei  der  Ankunft  im  Hafen  auf  den  Strand  gezogen 
wurden.  Ein  Handelsschiff  von  etwa  10  000  Talenten  (260 
Tonnen)  Tragfähigkeit  galt  bereits  als  sehr  stattlich  ^.  Wenn 
man  auch  jetzt  mehr  als  früher  Fahrten  durch  das  offene 
Meer  wagte  ^,  so  hielt  man  sich  doch  für  gewöhnlich  noch 
immer  so  viel  als  möghch  in  der  Nähe  der  Küsten,  so  daß 
beispielsweise  ein  Schiff,  das  von  Griechenland  nach  Sicilien 
bestimmt  war,  erst  nach  Kerkyra  und  Tarent  hinauffuhr, 
um  dann  längs  der  Küste  des  heutigen  Calabriens  wieder  nach 
Süden  zu  steuern.  Und  noch  jetzt  wagte  man  längere  See- 
reisen fast  nur  in  der  guten  Jahreszeit  ^.  Dazu  kam  weiter 
das  Fehlen  aller  der  Hilfsmittel,  ohne  die  wir  uns  heut  einen 
Verkehr  zur  See  kaum  vorstellen  können,  wie  Seekarten, 
Kompaß,  Leuchttürme,  Bezeichnung  des  Fahrwassers  und 
ähnliches;    und    ganz   besonders    die    Gefährdung    durch    die 


^  Demosth.  g.  Aphob.  I  9  S.  816.  Die  Angaben  des  Redners  sind  überall, 
wo  er  in  eigener  Sache  spricht,  sehr  unzuverlässig,  doch  mußte  er  sich  gerade 
in  diesem  Punkte  in  den  Grenzen  des  Wahrscheinlichen  halten,  wenn  er  auch 
natürlich   die  höchsten   Erträge   angesetzt  haben  wird. 

^  Thuk.  VII  25,  6  (vaOv  luupioqpöpov).  Ich  verstehe  Talente  von  26  kg, 
und  zwar  darum,  weil  auch  die  Römer  den  Gehalt  ihrer  Schiffe  nach  solchen 
Talenten  bestimmt  haben,  nämlich  nach  amphcrae  zu  26,  2  1.   (Liv.  21,  63). 

^  Thuk.  VI  88,  9,  VII  31,  1;  es  ist  zu  berücksichtigen,  daß  die  Küsten- 
fahrt in   beiden   Fällen  gesperrt   war. 

*  Vgl.  z.  B.  Thuk.  VI  21,  2. 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.    2.  Aufl.  7 


98     III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Piraterie,  welche  die  attische  Seeherrschaft  selbst  auf  dem- 
Aegaeischen  Meere  nicht  völlig  auszurotten  vermocht  hat. 
So  mußten  denn  die  Chancen  des  Gewinns  hoch  sein,  wenn 
der  Seehandel  bestehen  sollte.  Bei  Fahrten  in  ferne  Meere, 
wie  den  Pontos  oder  den  verrufenen  Adrias,  stieg  dieser  Gewinn 
oft  bis  auf  100%  und  darüber^;  aber  auch  bei  Fahrten  im 
Aegaeischen  Meere  konnten  20 — 30%  verdient  werden.  Dem 
entsprechend  verzinsten  sich  denn  auch  die  Kapitalien,  die 
auf  sogenannten  ,,  Seezins "  (vauxiKÖg  toko?)  ausgeliehen 
wurden,  wobei  der  Darleiher  gemeinschaftlich  mit  dem  Schiffs - 
reeder  das  Risiko  trug  ^. 

Geringeren  Ertrag  gewährte  der  Grundbesitz;  bildete 
er  doch  in  dieser  Zeit  neben  guten  Hypotheken  so  ziemlich 
die  einzige  ganz  sichere  Kapitalanlage,  auch  abgesehen  von 
den  damit  verbundenen  sozialen  Vorteilen.  Immerhin  stand 
die  Grundrente,  dem  Zinsfuß  entsprechend,  nach  unseren 
Begriffen  sehr  hoch.  Bestimmte  Angaben  darüber  haben  wir 
allerdings  erst  aus  dem  nächsten  Jahrhundert;  damals  betrug 
die  Pacht  von  Landgütern  in  Attika  8 — 12%  ^,  und  ungefähr 
ebenso  hoch  scheint  der  Mietsertrag  von  Häusern  gewesen 
zu  sein  ^. 

Wenn  die  Grund-  und  Kapitalrente  einen  so  bedeutenden 
Teil  des  Ertrages  der  nationalen  Arbeit  in  Anspruch  nahm, 
so  mußte  der  Anteil  der  Arbeiter  an  diesem  Ertrage  ent- 
sprechend niedriger  sein.  Der  Sklave  erhielt  nur,  was  er  zu 
seiner  Existenz  unbedingt  nötig  hatte,  und  die  Konkurrenz 


^  Lysias  g.  Diogeiton  25. 

2  Boeckh,  Staatsh.  I  «  S.  184  ff.,  Billeter,  Zinsfuß  S.  30  ff.  Nach  Xen. 
V.  d.  Einkünften  betrug  der  gewöhnliche  Seezins  in  Athen  um  die  Mitte  des 
IV.  Jahrhunderts  20 — 8873%,  womit  die  Angaben  der  übrigen  Quellen  über- 
einstimmen. 

'  Isaeos  11  (v.  Hagn.  Erbsch.)  42,  aus  der  Zeit  um  380  (Schaefer,  Demosth. 
III  B  234,  jetzt  bestätigt  durch  Kratippos  II 1):  8%,  CIA.  II  600,  aus  300/299: 
12%.  Daß  ein  Haus  auf  dem  verpachteten  Grundstücke  stand,  tut  nichts  zur 
Sache,  da  es  nur  einen  Wert  von  einigen  hundert  Drachmen  gehabt  haben  kann, 
der  in  den  Preis  von  5000  dr.  einbegriffen  ist. 

*  Isaeos  a.  a.  0. :  Zwei  Häuser  im  Wert  von  zusammen  3500  dr.  bringen 
3   m.    Miete,    also   etwas   über   8Y2%- 


Seehandel.  —  Grundrente.  —  Arbeitslohn.  99 

der  Sklavenmassen  drückte  wieder  auf  den  Lohn  der  freien 
Arbeiter.  Es  gibt  vielleicht  keine  schwerere  und  weniger 
angenehme  Arbeit  als  den  Ruderdienst  an  Bord  einer  Galeere, 
von  der  Gefahr  im  Falle  einer  Seeschlacht  oder  durch  Schiff- 
bruch ganz  abgesehen;  und  doch  fanden  sich  zur  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges  Zehntausende,  die  bereit  waren, 
für  einen  Sold  von  täglich  3  Obolen  diese  Arbeit  zu  übernehmen  ^. 
Für  einen  monatlichen  Sold  von  einem  Dareikos  (231/2  Mark) 
konnten  persische  Satrapen  griechische  Söldner  bekommen 
so  viel  sie  nur  wollten;  und  zwar  Leute,  die  imstande  waren, 
auf  eigene  Kosten  sich  auszurüsten  2.  Gegen  eine  Vergütung 
von  2 — 3  Obolen  die  Sitzung  drängten  die  Handwerker  und 
Arbeiter  Athens  sich  zu  der  Funktion  des  Geschworenen. 
Es  entsprach  das  etwa  dem  Tagelohn  für  ungeschulte  Arbeit  *, 
während  gelernte  Handwerker  natürlich  höher  bezahlt  wurden. 
So  erhielten  z.  B.  die  Steinsäger  und  Maurer  beim  Bau  des 
Erechtheion  in  Athen  in  den  letzten  Jahren  des  peloponne- 
sischen Krieges  täglich  eine  Drachme  *.  Freilich  lebte  der 
griechische  Arbeiter  sehr  frugal,  und  er  mußte  es,  wenn  er 
mit  seinem  Triobolon  auskommen  wollte.  Unter  diesen  Um- 
ständen war  es  nicht  so  ungerechtfertigt,  wenn  der  Arbeiter- 
stand, so  oft  er  die  Gewalt  in  die  Hände  bekam,  darauf  be- 
dacht war,  seine  Lage  mit  Hilfe  des  Staates  zu  verbessern. 
Nur  wurden  diese  Versuche  durchweg  am  unrechten  Ende 
angefangen.  Statt  an  die  Wurzel  der  sozialen  Übel,  die  Skla- 
verei, die  Hand  zu  legen,  suchte  man  Zuschüsse  aus  Staats- 
mitteln zu  erlangen,  sei  es  in  Form  von  Besoldungen  für  die 
Ausübung  der  Souveränitätsrechte,  sei  es  von  Geld-  und 
Getreidespenden,      oder     unentgeltlich     dargebotenen     Ver- 


1  Thuk.  VIII  45,  Xen.  Hell.  I  5,  7,  vgl.  Thuk.  VIII  29.  Bei  Expeditionen 
in  ferne  Meere  mußten  natürlich  höhere  Löhne  gezahlt  werden;  so  gaben  die 
Athener  415  jedem  Ruderer  der  nach  Sicilien  bestimmten  Flotte  täglich  eine 
Drachme  (Thuk.  VI  31,  vgl.  VI  8).  Die  Angaben  in  dem  interpolierten  Kapitel 
Thuk.  III  17  sind  wertlos. 

2  Xen.  Anab.  I  3,  21  vgl.  VII  2,  36;  6,  1. 

3  Aristoph.  Ekkl  310. 
*  CIA.  I  324. 


100  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

gnügungen;  was  dann  nur  den  Erfolg  hatte,  die  arbeitende 
Klasse  mehr  und  mehr  zu  demoralisieren.  Noch  verderblicher 
wirkte  der  gewaltsame  Umsturz  der  Eigentumsordnung,  zu 
dem  wohl  nach  Revolutionen  gegriffen  wurde,  allgemeiner 
Schuldenerlaß  und  Neuverteilung  des  Grundbesitzes;  doch 
ist  es  zu  solch  extremen  Maßregeln  im  V.  Jahrhundert  nur 
selten  gekommen. 

Geistige  Arbeit,  die  jeder  auch  nur  etwas  gebildete  zu 
leisten  imstande  war,  wurde  nicht  höher  bezahlt  als  die  ge- 
schulte handwerksmäßige  Arbeit.  So  erhielt  der  Werkführer 
(dpxiTeKTUuv)  beim  Bau  des  Erechtheion  den  Tag  nur  eine 
Drachme,  soviel  wie  ein  Steinsäger  ^;  und  auch  die  Epidaurier 
zahlten  dem  Architekten  ihres  Asklepiostempels  nur  eine 
aeginaeische  Drachme  (=  etwa  V-j^  attische  Drachmen)  ^. 
Der  Sold  eines  Subalternoffiziers  betrug  in  der  Regel  nur  das 
Doppelte  der  Löhnung  eines  gemeinen  Soldaten  ^,  und  auch 
die  Gehälter  der  niederen  Staatsbeamten  waren  gering,  wie 
denn  in  Athen  die  Mitglieder  des  Rates  täghch  je  eine  Drachme 
empfingen.  Höhere  Stellen  wurden  durchweg  im  Ehrenamt 
versehen,  und  nur  die  etwa  entstehenden  Kosten  vom  Staate 
vergütet.  Dagegen  wurden  hervorragende  Leistungen  auf 
geistigem  Gebiet  sehr  glänzend  honoriert.  So  soll  nach  Herodot 
der  Arzt  Damokedes  aus  Kroton  in  der,  zweiten  Hälfte  des 
VL  Jahrhunderts  auf  Aegina  einen  jährHchen  Gehalt  von 
einem  Talent  bezogen  haben,  darauf  in  Athen  100  Minen, 
und  später  von  Polykrates,  dem  Tyrannen  von  Samos,  zwei 
Talente  *.  Mögen  diese  Angaben  auch  übertrieben  sein,  sie 
beweisen  doch,  daß  Ärzte  von  Ruf  in  Herodots  Zeit  sehr 
bedeutende  Gehälter  empfingen,  wofür  sie  dann  freilich  ihre 
Klinik  (iaipeiov)  im  Stande  zu  halten,  ihre  Gehilfen  zu  be- 
solden und  die  Medikamente  zu  hefern  hatten.  Berühmte 
Dichter,  wie  Simonides  und  Pindar,  Heßen  sich  für  ihre  Lieder 


1  CIA.  1  324. 

^  Iriscr.  Argol.  1484,  9.  104. 

*  Xen.  Anah.  VII  2,  36;  6,  1. 

*  Her  od.  III  131. 


Geistige  Arbeit.  —  Volks  vermögen.  101 

ansehnliche  Honorare  bezahlen  ^,  und  auch  die  Dichter,  deren 
Stücke  auf  dem  Theater  zur  Aufführung  kamen,  wurden  vom 
Staate  honoriert  ^.  Ebenso  hatten  Musikvirtuosen  und  hervor- 
ragende Schauspieler  sehr  hohe  Einnahmen  .^  Als  dann  um 
die  Mitte  des  V.  Jahrhunderts  das  allgemeine  Interesse  an 
Philosophie  und  Rhetorik  zu  erwachen  begann,  wurden  auch 
an  die  Lehrer  dieser  Wissenschaften  verhältnismäßig  hohe 
Honorare  gezahlt.  Doch  ist  es  starke  Übertreibung,  wenn 
berichtet  wird,  Protagoras  und  Gorgias  hätten  100  Minen 
für  die  Ausbildung  eines  Schülers  genommen;  vielmehr  hinter- 
ließ Gorgias  bei  seinem  Tode  nur  ein  mäßiges  Vermögen, 
und  auch  Isokrates,  der  berühmteste  Rhetor  seiner  Zeit, 
wurde  zwar  ein  recht  wohlhabender,  aber  keineswegs  ein 
sehr  reicher  Mann  ^.  Drei  bis  vier,  in  Ausnahmefällen  zehn 
Minen  betrug  im  IV.  Jahrhundert  das  Honorar  für  den  voll- 
ständigen rhetorischen  Kursus,  der  aber  mehrere  Jahre 
dauerte  ^. 

Über  die  Höhe  des  Volksvermögens  besitzen  wir  nur 
für  Athen  bestimmte  Angaben,  und  auch  hier  erst  aus  dem 
Anfang  des  IV.  Jahrhunderts.  Im  Jahr  378/7  wurde  ein 
Kataster  des  ganzen  beweglichen  und  unbeweglichen  Eigen- 
tums in  Attika  veranstaltet,  und  der  Gesamtbetrag  zu  5750 
Talenten  abgeschätzt  (3IV2  Millionen  Mark)  ^  Dabei  ist 
das  Eigentum  des  Staates  nicht  einbegriffen  und  ebenso- 
wenig das  Vermögen  der  ärmsten  Bürgerklasse,  das  von  der 
Zahlung  direkter  Steuern  befreit  war.  Beides  konnte  nicht 
wesentlich  in  Betracht  kommen;  um  so  mehr  der  Umstand, 
daß   jede    Steuereinschätzung  weit   hinter  dem   Betrage   des 


1  Find.  Isthm.  II  1  ff.,  Schol.  Aristoph.  Fried.  697. 

-  Schol.  Aristoph.  Frösche  367,  Ekkl.  102,  Boeckh,  Staatsh.  I  *  S.  '339. 

3  Boeckh  a.  a.  O.  S.  169  f.,  Isokr.  Antid.  157. 

*  Isokr.  a.  a.  0.  155  ff.,   Blass,  Att.  Beredsamkeit  II  =>  69  f. 

°  Isokr.  g.  die  Sophisten  3,  Demosth.  g.  Lakritos  16.  42. 

«  Polyb.  II  62,  6,  Demosth.  v.  d.  Symm.  18,  Philoch.  fr.  151.  Dazu  Boeckh, 
Staatsh.  I  ^  S.  636  ff.,  und  gegen  dessen  Auffassung  meine  Bemerkungen  im 
Hermes  XX,  1885,  S.  237  ff.,  XXII,  1887,  S.  371  ff.  Was  Stahl,  Rh.  Mus. 
LXVII,  1912,  S.  391  ff.  dagegen  einwendet,  zeigt  nur,  daß  ihm  diese  Dinge 
recht  fern  liegen. 


102  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

wirklichen  Vermögens  zurückbleibt.  Ein  halbes  Jahrhundert 
früher,  vor  Beginn  des  peloponnesischen  Krieges,  hatte  sich 
Athen  in  viel  blühenderen  wirtschaftlichen  Zuständen  be- 
funden; auch  besaßen  im  Jahre  431  zahlreiche  athenische 
Bürger  außerhalb  Attikas  Grundbesitz,  der  infolge  des  Krieges 
verloren  ging.  Das  Volksvermögen  ist  also  damals  ohne  Zweifel 
beträchtlich  höher  gewesen.  Da  indes  Athen  seit  der  Mitte 
des  V.  Jahrhunderts  die  bei  weitem  reichste  Stadt  des  euro- 
päischen Griechenlands  war  und  es  auch  trotz  der  Krise 
des  peloponnesischen  Krieges  im  folgenden  Jahrhunderte 
geblieben  ist,  so  können  wir  mit  voller  Sicherheit  aussprechen, 
daß  das  Volksvermögen  in  keiner  zweiten  griechischen  Land- 
schaft von  gleicher  Ausdehnung  auch  nur  annähernd  dieselbe 
Höhe  erreicht  hat,  die  Kolonien  in  Kleinasien,  wie  namentlich 
Chios  ^,  etwa  ausgenommen. 

In  der  Verteilung  des  Besitzes  bestanden  zwischen  den 
einzelnen  Teilen  der  griechischen  Welt  große  Verschieden- 
heiten. In  Lakonien  und  Thessalien,  mit  ihrer  leibeigenen 
Landbevölkerung,  herrschte  der  Großgrundbesitz  vor.  Das 
Eurotastal  und  fast  ganz  Messenien,  ein  Gebiet  von  gegen 
5000  qkm,  war  mit  Ausnahme  der  Staatsdomänen  im  Besitze 
von  nur  1500  Eigentümern,  der  sogenannten  spartanischen 
,, Gleichen"  (6|lioToi);  aber  auch  unter  diesen  stand  neben 
den  wenigen  Latifundienbesitzern  die  große  Mehrzahl  derer, 
die  nur  die  alte  ,, lykurgische"  Hufe  ihr  Eigen  nannten  ^. 
Der  Reichtum  der  thessalischen  Adelsfamilien  war  sprich- 
wörtlich ^;  es  gab  dort  manchen  Grundherrn,  der  es  ver- 
mochte, aus  eigenen  Mitteln  ein  ganzes  Truppenkorps  aus- 
zurüsten ^.  In  dem  etwa  9000  qkm  großen  Lande  soll  es 
6000  Männer  gegeben  haben,  die  imstande  waren,  auf  eigene 
Kosten  zu  Pferde  zu  dienen,  mehr  als  in  ganz  Griechenland 


^  Thuk.  VIII45,  4:  dieChier  TrXouaiibTaxoi  TU)V 'EXXr|VUJv;  der  Superlativ 
braucht  nicht  gepreßt  zu  werden. 

*  Plat.  Alkibiades  S.  122  d,  und  über  die  Zahl  der  Bürger  Spartas  meine 
Bevölkerung  S.  138. 

'  Kritias  fr,  5. 

*  Demosth.  g.  Arisiokr.  199. 


Volksvermögen.  —  Verteilung  des  Besitzes.  103 

südlich  der  Thermopylen  zusammen.  Infolgedessen  fehlte 
es  an  einem  Mittelstande,  und  Thessalien  konnte  im  Verhältnis 
zu  seiner  Größe  nur  wenige  Hopliten  aufbringen  ^.  Auch  in 
Boeotien  muß  der  größere  Grundbesitz  stark  vertreten  ge- 
wesen sein,  wie  denn  die  Landschaft  1000  Reiter  aufstellen 
konnte;  da  aber  hier  die  Bauern  ihre  Freiheit  bewahrt  hatten, 
so  gab  es  daneben  auch  eine  zahlreiche  Klasse  mittlerer  Grund- 
besitzer, die  imstande  waren,  mit  eigener  Rüstung  in  den 
Krieg  zu  ziehen  ^.  Ähnliche  Verhältnisse  herrschten  in  Make- 
donien und  Sicilien;  Syrakus  zum  Beispiel  hatte  im  pelo- 
ponnesischen  Kriege  dieselbe  Reiterzahl  wie  Boeotien  ^,  und 
Philipp  und  Alexander  verdankten  ihre  Siege  nicht  so  sehr 
der  Phalanx,  als  der  makedonischen  Ritterschaft  ^.  In  Attika 
dagegen  war  das  Grundeigentum  sehr  zersplittert.  Schon 
nach  der  solonischen  Verfassung  stimmte  jeder  Bürger  in 
der  ersten  Klasse,  der  500  Scheffel  Getreide  erntete,  und  die 
Gesetzgebung  trug  Sorge  dafür,  die  Anhäufung  großen  Grund- 
besitzes in  einer  Hand  zu  verhindern  ^.  So  galt  denn  in  der 
Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  ein  Grundstück  im  Werte 
von  einem  Talent  schon  für  beträchtlich,  und  selbst  alt- 
angesehene Adelsfamilien  besaßen  oft  nicht  mehr  als  etwa 
300  Plethren  (30  ha)  ^,  während  kleinere  Parzellen  bis  zum 
Wert  von  wenigen  hundert  Drachmen  herunter  häufig  erwähnt 
werden  '.  Am  Ende  des  V.  Jahrhunderts  soll  es  nur  5000 
Bürger  gegeben  haben,  die  ohne  Grundbesitz  waren  ^,  unter 


1  Xen.  Hell.  VI  1,  8,  vgl.  1, 19;  Isokrates  v.  Frieden  118,  meine  Bevölkerung 
S.  199.  Es  handelt  sich  hier  nur  um  Thessalien  im  engeren  Sinne,  also  mit  Aus- 
schluß der  Nebenländer. 

-  Thuk.   IV  93,  näheres  in  meiner  Bevölkerung  S.  162  ff. 

*  Thuk.  VI  67,  über  die  akragantinischen  Latifundienbesitzer  Timaeos 
bei  Diod.  XIII  83  f. 

*  Über  die  Latifundien  der  makedonischen  Ritterschaft  Theopomp, 
fr.  249  M.  =  217  G.  u.  H. 

»  Aristot.  Polit.  II  1266  b. 

*  Plat.  Alk.  S.  123  c,  der  den  Gegensatz  zwischen  Athen  und  Sparta  in 
dieser  Beziehung  hervorhebt. 

'  Boeckh,  Staatsh.  I  *  S.  89  ff.,  Guiraud,  Propriete  fonciere  S.  392  ff. 

*  Dionys.  Hai.  in  der  Einleitung  zu  Lysias'  Rede  von  der  Verfassung. 


104  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

einer  Gesamtzahl  von  damals  etwa  25  000.  Als  man  nach 
den  Perserkriegen  daran  ging,  ein  größeres  Reiterkorps  auf- 
zustellen, war  das  nur  möglich  dadurch,  daß  der  Staat  den 
einzelnen  Pflichtigen  starke  Zuschüsse  zahlte;  dafür  aber 
war  die  Hälfte  der  Bürger  imstande,  mit  eigener  Rüstung 
ins  Feld  zu  ziehen  ^.  Und  wie  in  Attika,  haben  auch  in  den 
meisten  übrigen  Landschaften  der  griechischen  Halbinsel 
die  durch  ihr  Vermögen  zum  Dienst  mit  schwerer  Rüstung 
qualifizierten  Bürger,  also  in  der  Hauptsache  der  Mittelstand, 
einen   sehr  bedeutenden  Teil   der   Bevölkerung   gebildet  ^. 

Angaben  über  den  Betrag  des  Vermögens  einzelner 
Bürger  haben  wir  aus  dieser  Zeit  fast  nur  für  Athen.  Ein 
Besitz  von  8—10  Talenten  (etwa  50  000  Mark)  galt  hier 
zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  als  sehr  ansehnlich; 
mehr  besaßen  nur  wenige  ^.  Konon,  der  in  seiner  langen 
Feldherrnlaufbahn  vielfach  Gelegenheit  zur  Bereicherung 
gefunden  hatte,  auch  aus  einer  altangesehenen  Familie  stammte, 
hinterließ  bei  seinem  Tode  (392/1)  etwa  40  Talente;  sein 
Sohn  Timotheos,  der  davon  17  Talente  (93  000  Mark)  erbte, 
galt  mit  diesem  Vermögen  als  einer  der  reichsten  Männer 
von  Athen  *.  Nikias'  Sohn  Nikeratos,  ,, beinahe  der  erste 
Athener  an  Ansehen  und  Reichtum",  hinterließ  bei  seiner 
Hinrichtung  durch  die  Dreißig  nicht  mehr  als  14  Talente. 
Die  Familie  mochte  während  des  Krieges  sehr  starke  Verluste 
erlitten  haben;  wenn  man  sich  aber  in  Athen  erzählte,  Nikias 
habe  100  Talente  besessen,  so  ist  das  nur  ein  neuer  Beweis 
dafür,  daß  die  Menge  zu  allen  Zeiten  geneigt  ist,  große  Ver- 
mögen zu  überschätzen.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  An- 
gabe, Kallias,  der  Sohn  des  Hipponikos,  habe  200  Talente 
(1  Million  Mark)  im  Vermögen  gehabt.    Allerdings  war  er  der 

1  Meine  Bevölkerung  S.  72  ff.,  vgl.  Klio  VI  371. 

*  Das  ergibt  sich  aus  den  uns  überlieferten  Angaben  über  die  militärischen 
Leistungen  der  griechischen  Staaten  im  Verhältnis  zu  ihrer  bürgerlichen  Be- 
völkerung, auch  wenn  letztere  sehr  hoch  angesetzt  wird,  vgl.  meine  Bevölkerung 
S.  24  f.,  und  [Herodes]  irepi  iroXiTeia?  31. 

^  Xen.  Oekon.  2,  Isaeos  v.  Dikaeog.  Erbschaft  35  ff.,  Boeckh,  Staatsh.  P 
S.  624  ff. 

*  Lysias  v.  Aristoph.   Vermögen  39  f.,  Demosth.  g  Aphob.  I  7  ff. 


Höhe  der  Privatvermögen.  —  Lebenshaltung.  105 

reichste  Mann  in  Athen  zu  Perikles'  Zeit;  aber  das  würde 
er  auch  schon  bei  einem  Vermögen  von  50  Talenten  gewesen 
sein.  Sein  gleichnamiger  Enkel,  freilich  ein  notorischer  Ver- 
schwender, besaß  zuletzt  nicht  mehr  als  zwei  Talente  Ver- 
mögen 1. 

So  gering  diese  Vermögen  nach  unseren  Begriffen  auch 
sind,  selbst  im  Verhältnis  zu  den  Getreidepreisen  des  V.  Jahr- 
hunderts, so  ist  doch  andererseits  nicht  zu  vergessen,  daß  die 
Kapitalien  etwa  den  dreifachen  Ertrag  brachten  als  heute, 
und  daß  der  Grieche,  der  Athener  nicht  ausgeschlossen,  sehr 
viel  geringere  Ansprüche  an  den  Komfort  des  Lebens  stellte, 
als  wir.  Die  Privathäuser  waren  noch  sehr  unansehnlich, 
in  der  Regel  aus  Holz,  Fachwerk  und  Lehm  erbaut,  mit  höch- 
stens einem  oberen  Stockwerk.  Wenn  trotzdem  auf  den 
550  Hektaren,  die  von  den  Befestigungen  Athens  und  des 
Peiraeeus  umschlossen  waren,  an  100  000  Einwohner  Raum 
fanden  2,  also  etwa  180  auf  einem  Hektar,  oder  annähernd 
dieselbe  Dichtigkeit,  wie  heut  in  Berlin  mit  seinen  hoch- 
aufragenden Häusern,  so  zeigt  das,  wie  eng  die  Bevölkerung 
der  griechischen  Städte  dieser  Zeit  aneinandergedrängt  lebte. 
Das  Wohnen  im  eigenen  Hause  bildete  allerdings  noch  die 
Regel,  namentlich  bei  wohlhabenden  Familien;  daneben  aber 
finden  wir  in  den  größeren  Städten  dieser  Zeit,  wie  Athen  und 
Kerkyra,  schon  zahlreiche  Mietskasernen  (auvoiKiai).  Der 
bekannte  Bankier  Pasion  besaß  ein  solches  Haus  im  Werte 
von  100  Minen  (etwa  9000  Mark)  ^,  der  höchste  Häuser- 
preis, der  aus  dem  IV.  Jahrhundert  erwähnt  wird.  Selbst 
ein  so  reicher  Mann,  wie  Demosthenes,  der  Vater  des  Redners, 
begnügte  sich  mit  einem  Hause  im  Werte  von  30  Minen  (2700 
Mark),  und  dieses  Gebäude  enthielt  neben  der  Wohnung 
noch  ausgedehnte  Fabrikräume.  Die  Familien  des  Mittel- 
standes behalfen  sich  also  ohne  Zweifel  mit  noch  viel  einfacheren 


^  Lysias  a.  a.  O.  47. 

^  Athen  hatte  Vorstädte  außerhalb  der  Mauern,  dafür  aber  war  ein  sehr 
bedeutender  Teil  des  von  Mauern  eingeschlossenen  Raumes,  namentlich  im 
Peiraeeus  unbebaut. 

3  Demosth.  g.  Steph.  I  28  S.  1110.     Über  Kerkyra  Thuk.  III  74,  2. 


106  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Wohnungen,  wie  denn  Häuser  bis  zum  Werte  von  5  und  sogar 
von  3  Minen  herab  (450 — 270  Mark)  aus  Athen  erwähnt 
werden  ^.  In  anderen  griechischen  Städten  mochte  der  Wert 
des  städtischen  Grundeigentums  noch  geringer  sein.  Dagegen 
waren  die  Landhäuser  der  reichen  Athener  vor  dem  pelo- 
ponnesischen  Kriege  besser  gebaut  und  luxuriöser  ausgestattet, 
als  die  Wohnungen  in  der  Stadt  2.  Doch  war  der  Hausrat 
meist  dürftig;  es  mußte  ein  sehr  reicher  Mann  sein,  der  Mobiliar 
im  Werte  von  mehr  als  1000  Drachmen  besaß  ^.  Dafür  war 
das  Dienstpersonal  verhältnismäßig  zahlreich.  Es  gehörte 
zum  guten  Ton,  sich  von  seinem  Bedienten  begleiten  zu  lassen, 
und  Damen  aus  gutem  Hause  gingen  überhaupt  nie  ohne  eine 
solche  Begleitung  aus.  Auch  die  heranwachsenden  Söhne 
solcher  Häuser  standen  stets  unter  Aufsicht  eines  Sklaven, 
des  ,, Pädagogen".  Bei  den  niedrigen  Sklavenpreisen  konnte 
dieser  Luxus  ohne  allzu  großen  Aufwand  bestritten  werden. 
Der  geläuterte  Kunstgeschmack  einerseits,  die  demo- 
kratische Strömung  andererseits  brachten  in  dieser  Zeit  in 
der  griechischen  Tracht  eine  Revolution  hervor,  wie  sie  aus 
ähnlichen  Ursachen  um  die  Wende  vom  XVIH.  zum  XIX, 
Jahrhundert  erfolgt  ist  ^.  Es  bildete  sich  die  Tracht,  die  wir 
als  die  griechische  schlechtweg  anzusehen  gewohnt  sind; 
man  begann  sich  einfacher  zu  kleiden,  und  zugleich  nivellierten 
sich  unter  dem  Einflüsse  des  gesteigerten  Verkehrs  die  Unter- 
schiede, die  bisher  in  dieser  Beziehung  zwischen  den  ver- 
schiedenen Teilen  der  griechischen  Welt  bestanden  hatten. 
Und  entsprechend  dem  Zurücktreten  loniens  gegenüber  dem 
Mutterlande  war  es  der  kurze  Wollenchiton  der  Peloponnesier, 
der  den  langen  ionischen  Linnenchiton  verdrängte;  nur  in  der 
weiblichen    Kleidung    behauptete    die    Leinwand    auch    jetzt 


1  Boeckh,  Staatsh.  I  ^  S.  94  f. 

2  Thuk.  II  65,  2. 

*  Lysias  v.  Aristoph.  Verm.  30  f.  Wilhelm,  Alkihiades'  häusliche  Ein- 
richtung, Österr.  Jahresh.  VI,  1903,   S.  236  ff. 

■*  Iwan  Müller,  Griechische  Privataltertümer  {Handbuch  der  Altertums- 
wissenschaft IV,  1)  S.  420  ff.,  Pernice  in  Gercke  und  Norden,  Einleitung  II  42  f. 
Thuk.   I  6,  3  f.     Hauptquelle  für  uns  sind  die  Vasenbilder. 


Lebenshaltung.  —  Kleidung.  —  Ernährung.  107 

neben  der  Wolle  ihren  Platz.  Die  reichgemusterten  Stoffe 
der  vorhergehenden  Periode  verschwinden ;  das  Purpurgewand 
wird  nur  noch  selten  und  bei  besonderen  Gelegenheiten  ge- 
tragen; es  diente  den  spartanischen  Hopliten  als  Kriegs - 
kleid  und  den  athenischen  Strategen  als  Abzeichen.  Sonst 
erschienen  die  Männer  aus  den  höheren  Gesellschaftsklassen 
in  dieser  Zeit  in  einfach  weißem  Gewände,  während  die  ärmere 
Bevölkerung  aus  Sparsamkeitsrücksichten  sich  mit  dunklen 
Stoffen  begnügen  mußte.  Auch  die  Frauen  trugen  noch  immer 
farbige  Kleider,  aber  in  der  Regel  ohne  auffallende  Muster, 
nur  mit  einem  schmalen  andersfarbigen  Saum.  Die  künst- 
lichen Haarfrisuren  der  griechischen  ,,  Zopf  zeit"  verschwanden, 
man  ließ  Haar  und  Bart  frei  wachsen  und  hielt  sie  unter  der 
Schere,  nicht  viel  anders  als  wir  es  heute  tun.  Nur  die  Spar- 
taner ließen  ihr  Haar  lang  herabwallen,  und  es  fehlte  im 
übrigen  Griechenland  nicht  an  Stutzern,  die  sich  darin  ge- 
fielen, sie  nachzuäffen.  Ebenso  kam  die  steife  Fältelung  der 
Gewänder  jetzt  aus  der  Mode,  die  für  die  Zeit  vor  den  Perser- 
kriegen so  charakteristisch  ist;  das  Himation  wurde  fortan 
in  freien  Falten  über  die  Schulter  gelegt  und  konnte  sich 
der  Gestalt  organisch  anschmiegen.  Ein  solches  Obergewand 
kostete  in  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  etwa  16  bis 
20  Drachmen;  eine  Bluse  (lHu)|Lii(g),  wie  sie  die  Arbeitertrugen, 
etwa  10  Drachmen  ^.  Die  weibliche  Kleidung  wird  kost- 
spieliger gewesen  sein,  und  namentlich  der  Schmuck  der 
Frauen  war  oft  von  bedeutendem  Werte,  in  vornehmen  Häusern 
wohl  bis  zu  5000  Drachmen  ^.  Großer  Luxus  wurde  mit  wohl- 
riechenden Salben  getrieben,  die  aus  dem  Orient  eingeführt, 
aber  auch  in  Griechenland  selbst  fabriziert  wurden  und  ver- 
hältnismäßig sehr  hoch  im  Preise  standen  ^. 

Wie  alle  Südländer,  lebten  auch  die  Griechen  sehr  mäßig. 
Das  Hauptnahrungsmittel  bildete  Getreide,  das  meist  im 
Hause  gemahlen  und  in  der  Form  von  Brei  oder  von  flachen 
Kuchen     (ludZia)     genossen    wurde;    weiterhin    Hülsenfrüchte 


Boeckh,  Staatsh.  I  ^  S.  148. 
Plat.  Alkib.  S.  123  c. 
Boeckh,  Staatsh.  I  *  S.  149. 


108  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

oind  Gemüse  aller  Art.  Dazu  kamen  als  Zukost  (öipov)  Oliven, 
Käse,  Feigen  und  namentlich  eingesalzene  Fische  (Tdpixo(;), 
die  aus  dem  Pontos  in  großen  Mengen  importiert  wurden, 
in  den  Küstengegenden  natürlich  auch  frische  Fische.  Auf 
einen  erwachsenen  Mann  rechnete  man  täglich  eine  Choenix 
(etwa  1  Liter)  Gerstenmehl  ^,  deren  Preis  in  Athen  ungefähr 
Y4  Obolos  betragen  haben  soll  ^.  Eine  Arbeiterfamilie  konnte 
also  bei  einem  Tagelohn  von  3  Obolen  allenfalls  auskommen; 
bei  steigenden  Getreidepreisen  mußte  freilich  die  Not  groß 
werden.  Doch  war  es  immerhin  nur  ein  Bruchteil  der  bürger- 
lichen Bevölkerung  Athens,  der  in  dieser  Weise  zu  leben  hatte, 
da  die  meisten  Familien,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  Grund- 
stück besaßen  und  geschulte  Arbeit  höher  bezahlt  wurde. 

Viel  größeren  Aufwand  machten  natürlich  die  oberen 
Gesellschaftsklassen.  Die  solide,  aber  recht  einfache  Küche 
der  homerischen  Zeit  mit  ihren  riesigen  Rinder-  und  Schweine- 
braten hatte  längst  einer  verfeinerten  Kost  Platz  gemacht; 
ja  die  Bereitung  der  Speisen  war  zu  einer  wirklichen  Kunst 
(juaYeipiKri)  geworden,  die  von  berufsmäßigen  Köchen 
geübt  wurde  und  schon  im  V.  Jahrhundert  in  eigenen  Lehr- 
büchern behandelt  worden  ist  ^,  Aber  auch  in  reichen  Familien 
kam  mit  Ausnahme  von  Wild  nur  selten  Fleisch  auf  den  Tisch; 
den  ersten  Platz  nahmen  Seefische  ein,  die  Leidenschaft  der 
attischen  Feinschmecker,  in  denen  bei  Gastmählern  ein  großer 
Luxus  entwickelt  wurde.  Ein  solches  Diner  kostete  dann  wohl 
an  100  Drachmen;  die  feinen  Weine,  die  dabei  getrunken 
wurden,  ebenso  viel*.  Doch  das  waren  Ausnahmen;  im  all- 
gemeinen verwendete  auch  der  vornehme  Athener  nicht 
mehr  als  3 — 4  Obolen  für  seinen  Tisch  ^.  Noch  einfacher 
lebte  man  in  Sparta,  wo  die  Küche  einer  vergangenen  Zeit 
in  den  Syssitien  künstlich  konserviert  wurde,  was  natürlich 


1  Boeckh,  a.  a.  0.  S.  128. 

2  S.  oben  S.  94  A.  2. 

^  Piaton  Gorgias  S.  518  erwähnt  das  berühmte  Kochbuch  des  Sikelioten 
Mithaekos. 

*  Eupolis  fr.  149  Kock. 

^  Boeckh,  Staatsh.  I  *  S.  143. 


Ernährung.  —  Staatshaushalt.  —  Soldzahlungen.  109 

zur  Folge  hatte,  daß  die  Spartaner,  wenn  sie  einmal  aus  den 
Grenzen  ihres  Staates  herauskamen,  sich  den  Reizen  des 
fremden  Luxus  um  so  wilhger  hingaben.  Dagegen  waren 
die  Häuser  des  thessaHschen  Adels  ebenso  wie  der  reichen 
Bürger  in  den  Kolonien  des  Westens  durch  ihre  exquisite 
Küche  berühmt,  oder  wenn  man  will,  berüchtigt;  allerdings 
war  das  Leben  dort  auch  sehr  viel  wohlfeiler  als  in  Athen. 

Nichts  ist  lehrreicher  für  die  Erkenntnis  der  wirtschaft- 
lichen Zustände  eines  Landes,  als  ein  Blick  auf  sein  Finanz- 
wesen. In  den  einfachen  Verhältnissen  der  Vorzeit  hatte 
der  Aufwand  für  öffentliche  Zwecke  sich  beschränkt  auf  den 
Unterhalt  des  Königs  und  die  Opfer  an  die  unsterblichen 
Götter;  die  Kosten  dafür  waren  aus  den  Erträgen  des  Kron- 
guts  bestritten  worden.  Zu  Kriegen  und  öffentlichen  Bauten 
wurde  das  ganze  Volk  aufgeboten,  ohne  daß  der  einzelne 
dafür  ein  besonderes  Entgelt  erhalten  hätte.  Das  mußte 
sich  ändern,  als  seit  dem  VIL  Jahrhundert  die  Funktionen 
des  Staates  sich  erweiterten,  als  die  Geldwirtschaft  immer 
mehr  an  Stelle  der  alten  Naturalwirtschaft  trat,  und  es  bei  den 
komplizierteren  sozialen  Verhältnissen  nicht  mehr  möglich 
war,  die  Bürger  zu  Frondiensten  heranzuziehen.  So  hatte 
sich  der  Staatsbedarf  schon  während  der  Periode  der  Tyrannis 
im  VL  Jahrhundert  bedeutend  gesteigert,  und  es  war  nötig 
geworden,  zur  Erhebung  regelmäßiger  Steuern  zu  schreiten, 
auf  deren  Ertrag  der  Staatshaushalt  bald  hauptsächlich 
basiert  wurde  (oben  IIS.  356). 

Die  Demokratie  ging  auf  diesem  Wege  weiter.  Aller- 
dings der  Aufwand  für  die  Hofhaltung  des  Herrschers  kam 
jetzt  im  Wegfall.  Um  aber  den  Klassen,  die  für  ihr  tägliches 
Brot  zu  arbeiten  hatten,  die  aktive  Teilnahme  an  der  Ver- 
waltung des  Staats  zu  ermöglichen,  wurde  es  notwendig, 
das  alte  Prinzip  zu  durchbrechen,  daß  jeder  Bürger  dem 
Staate  unentgeltlich  als  Beamter  zu  dienen  habe.  So  be- 
stimmte schon  Kleisthenes,  daß  der  permanente  Ausschuß 
des  Rates,  die  ,,Prytanen",  im  Rathause  auf  öffentliche  Kosten 
unterhalten  würde;  später,  wohl  erst  nach  den  Perserkriegen, 
wurde  jedem  der  500  Ratsherren  ein  täglicher  Sold  von  einer 


110  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Drachme  ausgesetzt,  was  das  Budget  mit  jährlich  gegen 
30  Talenten  belastete.  Noch  größere  Summen  verschlang 
der  Richtersold,  seit  Ephialtes  die  Kompetenz  der  Volks- 
gerichte erweitert,  und  Perikles  die  Bundesgenossen  gezwungen 
hatte,  ihr  Recht  vor  den  athenischen  Gerichten  zu  nehmen. 
Jeder  Geschworene  erhielt  für  die  Sitzung  zwei  Obolen,  bis 
Kleon  im  peloponnesischen  Kriege  den  Sold  auf  eine  halbe 
Drachme  erhöhte;  und  da  bei  der  Masse  der  zu  bewältigenden 
Prozesse  und  der  zahlreichen  Besetzung  der  Gerichtshöfe 
täglich  mehrere  tausend  Geschworene  in  Tätigkeit  waren, 
so  kann  das  Erfordernis  dafür  jährlich  kaum  unter  60,  und 
seit  der  Erhöhung  des  Soldes  kaum  unter  90  Talente  betragen 
haben;  eine  Summe,  die  allerdings  zum  großen  Teil  durch  die 
Gerichtskosten  gedeckt  wurde  ^.  In  den  übrigen  Demokratien 
mußte  der  Aufwand  für  den  Rat  und  namentHch  für  die 
Gerichte  natürlich  im  Verhältnis  viel  niedriger  sein.  Aber 
selbst  oligarchische  Staaten  sahen  sich  wohl  genötigt,  den 
Ratsherren,  die  längere  Zeit  in  der  Hauptstadt  ihren  Aufent- 
halt nehmen  mußten,    Diäten  zu   zahlen  ^. 

Auch  die  Ausgaben  für  den  Kultus,  und  was  damit  zu- 
sammenhing, waren  in  beständigem  Anwachsen,  nicht  weil 
man  frömmer  geworden  wäre,  sondern  weil  das  Volk  immer 
reichere  Opferschmäuse  und  glänzendere  Schaustellungen 
verlangte.  Ohnehin  stiegen  die  Kosten  der  Opfer  mit  den 
steigenden  Viehpreisen.  Ein  Teil  dieses  Aufwandes  wurde 
nun  freilich  von  den  Tempelschätzen  aus  eigenen  Mitteln 
bestritten;  wie  denn  z.  B.  der  Tempel  von  Delos  in  den  drei 
Jahren  376 — 374  zusammen  etwa  6  Talente  auf  die  Feier  des 
Apollonfestes  verwendet  hat  ^.  Aber  auch  die  Staaten  leisteten 

^  Aristoph.  Wespen  663  rechnet  nach  der  Solderhöhung  150  Talente,  was 
das  Maximum  ist,  das  diese  Ausgabe  überhaupt  betragen  konnte.  Oben  ist 
angenommen,  daß  in  jeder  der  10  Sektionen  der  Heiiaea  täglich  im  Mittel  300 
Richter  gesessen  haben,  oder  400,  wenn  wir  nur  300  Gerichtstage  annehmen. 
Auf  10 — 20  Talente  mehr  oder  weniger  kommt  es  bei  solchen  ungefähren  Über- 
schlägen   nicht    an.     Näheres  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  239  ff. 

*  So  z.  B.  der  nach  der  Schlacht  bei  Koroneia  447/6  neubegründete 
boeotische  Bund  (Kratippos  XI  4). 

ä  CIA.  II  813. 


Soldzahlungen.  —  Kultus.  —  Tempelbauten.  111 

bedeutende  Zuschüsse;  Athen  schon  seit  Solons  Zeit  ^.  Selbst 
in  der  finanziellen  Bedrängnis  des  dekeleiischen  Krieges,  im 
Jahr  410,  wurden  6  Talente  für  die  großen  Panathenaeen 
bewilligt  2,  allerdings  das  Hauptfest  Athens,  das  nur  alle 
vier  Jahre  gefeiert  wurde.  Dazu  kam  dann  der  Aufwand 
der  einzelnen  Bürger,  die  bei  der  Festfeier  Ehrenämter  be- 
kleideten, und  namentlich  für  die  Einübung  der  Chöre  zu 
sorgen  hatten,  die  bei  den  dramatischen  und  musikalischen 
Aufführungen  mitwirken  sollten  ^.  Sogar  kleine  Dörfer  gaben 
für  ihre  Feste  große  Summen  aus;  Plotheia  in  Attika  z.  B., 
das  kaum  mehr  als  100  Bürger  gezählt  haben  kann,  gegen 
Ende  des  V.   Jahrhunderts  jährlich   2 — 3000  Drachmen  *. 

So  große  Kosten  aber  der  Kultus  verursachte,  sie  traten 
zurück  gegenüber  dem  Aufwand  für  Tempelbauten.  Aller- 
dings hatte  auf  diesem  Gebiet,  wie  wir  gesehen  haben,  bereits 
das  VI.  Jahrhundert  die  wesentlichste  Arbeit  getan,  aber 
auch  im  V.  Jahrhundert  ist  doch  eine  statthche  Reihe  von 
Tempeln  errichtet  worden.  Ganz  besonders  lebhaft  war  diese 
Bautätigkeit  in  Athen,  wo  es  galt,  die  von  den  Persern  zer- 
störten Heiligtümer  wieder  aufzurichten,  während  zugleich 
reichere  finanzielle  Mittel  zur  Verfügung  standen,  als  irgendwo 
sonst.  Die  perikleischen  Bauten  auf  der  Akropolis  haben 
2012  Talente  gekostet  ^,  allerdings  einschließlich  der  Kolossal - 
Statue  der  Athena,  deren  Goldwert  allein  616  Talente  betrug. 

1  Lysias  30  (g  Nikom.)  20  f. 

-  CIA.  I  188.  Fünf  Jahre  früher  (415/4)  waren  für  die  kleinen  Pana- 
thenaeen 9  tal.  aus  dem  Schatze  gezahlt  worden  {CIA.  I  183). 

^  Über  die  Kosten  dieser  Leistungen  Lysias  19  (vAristophVerm.)  42, 
und  besonders  21  (AitoXoYia  bujpoboKiaq)  1 — 5;  der  Sprecher  der  letzteren 
Rede  will  darauf  in  9  Jahren  (411/0—403/2)  20  600  dr.  verwendet  haben;  er 
leistete  allerdings  mehr,  als  wozu  er  gesetzlich  verpflichtet  war. 

*  Nämlich  die  Zinsen  von  einem  Kapital  von  22  200  dr.  und  den  Ertrag 
einiger  Grundstücke,  CIA.  II  570.  Die  Inschrift  gehört  ohne  Zweifel  in  die 
Zeit   kurz   vor   der   Besetzung  von   Dekeleia. 

'  Heliodor  bei  Harpokr.  und  Suidas  TTpoiruXaia.  Daß  hier  nicht,  wie 
allerdings  unsere  Quellen  wollen,  die  Kosten  der  Propylaeen  allein  gemeint 
sein  können,  hat  R.  Schoene  (Im  neuen  Reich  1871)  gesehen;  kostete  doch 
selbst  in  Alexanders  Zeit  der  Bau  eines  großen  Tempels  nicht  mehr  als  1500  tal. 
(Diod.  XVIII  4,  vgl.  Plut.  Per.  12).  Herod.  II 180.  V  62  beweist  für  das  VI.  Jahr- 


112  in.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Um  so  weniger  wurde  für  sonstige  öffentliche  Arbeiten 
aufgewendet,  mit  Ausnahme  der  Bauten  für  MiHtär-  und 
Marinezwecke.  Es  ist  den  Athenern  oder  überhaupt  irgend- 
einer griechischen  Gemeinde  dieser  Zeit  nie  in  den  Sinn  ge- 
kommen, etwa  ein  monumentales  Rathaus  zu  errichten.  Für 
den  öffentlichen  Unterricht  tat  der  Staat  meist  noch  gar 
nichts,  wenn  wir  von  den  Turnplätzen  (Palaestren,  Gymnasien) 
absehen,  die  auf  öffentliche  Kosten  angelegt  und  unterhalten 
wurden,  oder  von  den  Staatsprämien,  die  für  die  Sieger  in  den 
gymnastischen  Wettkämpfen  ausgesetzt  waren  ^.  Die  Kosten 
des  auswärtigen  Dienstes  beschränkten  sich  auf  die  sehr 
mäßigen  Diäten  (etwa  2 — 3  Drachmen  den  Tag),  welche  den 
Gesandten  gezahlt  wurden,  die  man  bei  außergewöhnhchen 
Anlässen  ins  Ausland  schickte  ^.  Der  Staatskredit  war  noch 
sehr  wenig  entwickelt,  und  so  bildeten  die  Ausgaben  für  die 
öffentliche  Schuld  noch  keinen  Posten  in  den  ordentlichen 
Budgets  der  griechischen  Staaten  dieser  Zeit.  Die  Erhebung 
der  indirekten  Auflagen  endhch  wurde  durchweg  an  Privat- 
unternehmer vergeben,  während  die  direkten  Abgaben,  wie 
die  Grund-  und  Vermögenssteuer,  von  den  Organen  der  Selbst- 
verwaltung erhoben  wurden,  so  daß  das  Budget  des  Staates 
nur  Nettosummen  umfaßte. 

Das  Kriegswesen  hatte  ursprünglich  nur  sehr  geringen 
Aufwand  erfordert,  da  jeder  Wehrmann  verpflichtet  war, 
sich  aus  eigenen  Mitteln  auszurüsten  und  zu  erhalten.  Selbst 
das  stehende  Heer  Spartas  kostete  dem  Staate  als  solchen 
gar  nichts;  der  Unterhalt  wurde  durchaus  aus  den  Beiträgen 
der  einzelnen  Bürger  bestritten.  Doch  kam  seit  dem  VIIL 
oder  VII.  Jahrhundert  die  Sitte  auf,  in  Kriegszeiten  Söldner 
(liTiKOupoi)  in  Dienst    zu  nehmen  ^,    die    dann  natürlich  aus 

hundert  nichts,  wohl  aber,  daß  um  die  Mitte  des  V.  Jahrhunderts  der  Bau  eines 
großen  Tempels  etwa  300  tal.  erforderte.  Also  kann  der  Aufwand  für  die  Pro- 
pylaeen  nicht  wohl  höher  gewesen  sein.  Der  Parthenon  allerdings  mag  gegen 
1000  tal.  gekostet  haben    (vgl.  Plut.  Per.  12).    Näheres  unten  2.  Abt.  §  143. 

^  Es  wird  als  etwas  ganz  Außergewöhnhches  hervorgehoben,  daß  inThurioi 
vom  Staate  besoldete  Elementarlehrer  angestellt  waren  (Diod.  XII  12,  4). 

*  Aristoph.  Acharn.  65  und  602. 

"  Archilochos  fr.  14.  24. 


Kriegswesen.  113 

der  Staatskasse  bezahlt  werden  mußten;  schon  in  der  Ilias 
wird  hin  und  wieder  das  Verhältnis  der  Troer  zu  ihren  Bundes- 
genossen in  dieser  Weise  aufgefaßt  ^.  Die  Tyrannen  haben 
dann  zum  Teil  auch  in  Friedenszeiten  Soldtruppen  unterhalten, 
wenn  auch  in  geringer  Zahl,  wie  denn  z.  B.  das  stehende 
Heer  des  Polykrates  aus  nicht  mehr  als  1000  Bogenschützen 
bestanden  haben  soll  ^.  Diese  Einrichtung  blieb,  in  größeren 
Staaten  wenigstens,  auch  nach  dem  Sturz  der  Tyrannis  be- 
stehen. So  hatte  Athen  im  V.  Jahrhundert  ein  Polizeikorps 
von  1000  skythischen  Bogenschützen,  die  auf  den  Sklaven- 
märkten am  Pontos  für  Rechnung  des  Staates  gekauft  waren  ^. 
Um  dieselbe  Zeit  ging  Athen  dazu  über,  ein  Reiterkorps 
aufzustellen,  das  allmähhch  auf  1200  Pferde  gebracht  wurde  *; 
der  Aufwand  dafür  betrug  in  der  ersten  Hälfte  des  IV.  Jahr- 
hunderts 40  Talente  und  kann  im  V.  Jahrhundert  nicht 
geringer  gewesen  sein  ^.  Weiterhin  sah  Athen  sich  genötigt, 
für  die  Erfordernisse  des  Flotten-  und  Besatzungsdienstes 
eine  größere  Zahl  von  Bürgern  aus  der  Thetenklasse  auf 
Staatskosten  mit  schwerer  Rüstung  zu  versehen  *'.  Andere 
Staaten,  wie  Argos,  Elis,  Syrakus  unterhielten  ausgewählte 
Hoplitenkorps  (eiTiXeKTOi),  die  besonders  sorgfältig  bewaffnet 
und  eingeübt,  und  stets  marschbereit  waren  '.     Seit  endlich 


1  P  225  f.,  vgl.  Z  288  ff. 

*  Herod.  III  39.  Periandros  soll  300  Leibwächter  (bopuqpöpoi)  unter- 
halten haben  (Nikol.  v.  Damask.  fr.  59). 

=>  Boeckh,  Staatsh.  I  ^  290. 

*  Boeckh,  a.  a.  0.  S.  351.  Es  waren  1000  Lanzenreiter  und  200  be- 
rittene Bogenschützen  (Thuk.   II  13,8). 

*  Xen.  Hipp.  1,  19.  Im  Jahre  410/9  wurden  in  4  Prytanien  zusammen 
über  16  Talente  für  den  Unterhalt  der  Reiterei  aus  dem  Staatsschatz  angewiesen 
(CIA.  1 188);  doch  sind  unter  der  3.  Prytanie  2  Zahlungen  verzeichnet,  von 
denen  also  die  eine  wohl  nachträglich  für  die  2.  Prytanie  geleistet  ist.  Bei 
den  übrigen  Prytanien  wird  die  Bestimmung  der  gezahlten  Gelder  nicht  an- 
gegeben. Der  Aufwand  für  die  Reiterei  hat  also  auch  damals  über  30  Tal. 
betragen,  doch  war  das  Reiterkorps  wahrscheinlich  nicht  mehr  vollzählig. 

«  Thuk.  VI  43  (ÖTrXiTtti  örjTeq),  Antiphon  gPkilin.  bei  Harpokr.  GfjTe?, 
vgl.  meine  Bevölkerung  S.  62  f. 

'  Thuk.  V  67.  2  'ApTeiuiv  oi  xi^ioi  \o-fdhec;,  oic,  x]  -nöXiq  iK  ttoXXoO 
äöKriöiv  Tüjv  ^v  ToT^  öttXoi^  bri.uoaicji  rrapeixe.     Über  die  300  XoTdbeq  von 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.    2.  Aufl.  8 


114  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

die  Kriege  längere  Dauer  bekommen  hatten  und  zum  Teil 
in  weitentlegenen  Gebieten  geführt  wurden,  war  es  unum- 
gänglich, die  Verpflegung  der  aufgebotenen  Mannschaften 
auf  die  Staatskasse  zu  übernehmen.  Man  zahlte  dem  Mann 
um  das  Ende  des  V.  Jahrhunderts  etwa  3  aeginaeische  ( =  etwa 
4  attischen)  Obolen  für  den  Tag,  dem  Reiter  das  Doppelte, 
oder  auch  wohl  das  Vierfache  ^.  Großen  Aufwand  erforderten 
auch  die  Befestigungen,  besonders  bei  so  bedeutenden  Werken 
wie  der  themistokleischen  Mauer  um  den  Peiraeeus,  oder 
den  ,, langen  Mauern",  durch  die  Perikles  Athen  mit  seinen 
Häfen  verband;  doch  ließ  man  im  Frieden  die  Befestigungen 
oft  mehr  verfallen  als  gut  war. 

Höhere  Kosten  als  auf  das  Landheer  mußten  auf  die 
Marine  verwendet  werden;  weshalb  im  Laufe  des  V.  Jahr- 
hunderts, seit  die  Kriegsflotten  durchweg  aus  Trieren  be- 
standen, die  meisten  griechischen  Staaten  überhaupt  auf 
die  Unterhaltung  einer  eigenen  Seemacht  verzichteten.  Der 
Bau  einer  Triere  scheint  im  V.  Jahrhundert  etwa  ein  attisches 
Talent  erfordert  zu  haben  ^;  die  Bemannung  bestand  aus 
gegen  200  Matrosen  und  Soldaten,  die  jeder  eine  tägliche 
Löhnung  von  3  Obolen  erhielten  (oben  S.  99),  so  daß  der 
Aufwand  für  ein  in  Dienst  gestelltes  Kriegsschiff  sich  auf  etwa 
ein  halbes  Talent  im  Monat  belief  ^).  Doch  ließ  in  Friedens- 
zeiten nur  Athen  mobile  Geschwader  in  See  stechen  "*.  Der 
Bau  der  Arsenale  (veujpia)  am  Peiraeeus  soll  nach  einer  aller- 
dings wohl  übertriebenen  Angabe  1000  Talente  gekostet 
haben  ^.     An  Zahl  der  Schiffe  stand  Athen  seit  den  Perser- 


Elis  Thuk.  II  25,  3,  über  die  600  auserlesenen  Hopliten  von  Syrakus  Diod. 
XI  76,  Thuk.  VII  43,  4. 

1  Xen.  Hell.  V  2,  21,  Thuk.  V  47.  Vor  Poteidaea  sollen  die  Athener  jedem 
Hopliten  2  dr.  gezahlt  haben;  eine  für  ihn  selbst  und  eine  für  seinen  Diener; 
doch  steht  diese  Angabe  in  dem  interpolierten  Kapitel  Thuk.  III  17.  Daß  der 
„Sold"  bei  Bürgertruppen  nur  ,, Verpflegungsgeld"  (aiTO?)  ist,  sollte  einer 
Hervorhebung  nicht  bedürfen. 

2  Aristot.  An.  22,  7. 
'  Xen.  Hell.  I  5,  5. 

*  Plut.  Per.  11,  Aristot.   AH.  24,  3,  unten  2.  Abt.   §  140. 
^  Isokr.  Areopag.  66. 


Kriegswesen.  —  Marine.  —  Kriegskosten.  116 

kriegen  allen  anderen  griechischen  Staaten  voran;  bei  Aus- 
bruch des  peloponnesischen  Krieges  verfügte  es  über  300 
seetüchtige  Trieren  ^,  abgesehen  von  den  Flotten  der  ver- 
bündeten Inseln  Lesbos  und  Chios,  von  denen  die  letztere 
allein  60  Trieren  besaß  ^.  Die  syrakusische  Marine,  die  unter 
Gelon  aus  200  Trieren  bestanden  haben  soll  ^,  geriet  nach  dem 
Sturze  der  Tyrannen  in  Verfall,  zählte  aber  zur  Zeit  der  großen 
athenischen  Expedition  (415)  noch  immer  80  Schlachtschiffe. 
Die  Flotte  Aeginas,  mehr  als  70  Trieren,  wurde  nach  der 
Eroberung  der  Insel  (457)  von  den  Athenern  weggeführt; 
ebenso  439  die  etwa  gleichstarke  Flotte  von  Samos.  So  nahm 
zu  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  Kerkyra  mit  seinen 
120  Trieren  unter  den  griechischen  Seemächten  die  zweite 
Stelle  ein;  dann  folgte  Korinth,  das  damals  allerdings  nur 
etwa  30  seetüchtige  Trieren  besaß,  aber  außerdem  über  die 
Marinen  seiner  Kolonien  Leukas  und  Ambrakia  verfügen 
konnte.  Auch  Megara  hatte  in  seinem  Arsenal  40  Trieren; 
die  Flotten  aller  übrigen  griechischen  Staaten  waren  nur 
unbedeutend  ■*. 

Unter  diesen  Umständen  mußten  die  Kriege,  nament- 
lich Seekriege,  einen  verhältnismäßig  sehr  hohen  Aufwand 
verursachen.  Allerdings  die  Landheere  waren  bei  der  Kost- 
spieligkeit der  Hoplitenrüstung  nur  wenig  zahlreich;  selbst 
die  erste  griechische  Landmacht,  der  peloponnesische  Bund, 
vermochte  für  Feldzüge  außer  Landes  nicht  über  20  000 
Schwerbewaffnete  aufzustellen  ^  und  dieses  Heer  nicht  länger 
als   einige   Wochen    zusammenzuhalten.       Boeotien   verfügte 


1  Thuk.  II  13,  8. 

2  Thuk.  VIII  6,  4. 

"  Herod.  VII  158  vgl.  Thuk.  I  14,  1. 

*  Über  Syrakus  Thuk.  VII  22.  38,  ,Aegina  Thuk.  I  105,  2;  108,  7,  Samos 
Thuk.  I  116,  Kerkyra  Thuk.  129,  4,  Korinth  Thuk.  I  36,  3;  27,  2,  weiteres  unten 
2.  Abt.   §  92  ff.;  Megara  Thuk.  II  93,  2. 

^  Kilo  VI,  1906,  S.  51  ff.,  über  Boeotien  ebenda  S.  34  ff.,  dazu  jetzt 
Kratippos  XI  4,  wonach  etwa  11  000  Hopliten  und  1100  Reiter  in  den  Listen 
geführt  wurden,  von  denen  die  Reiter  ziemlich  vollzählig,  die  Hopliten  aber 
natürlich  nur  zum  Teil  im  Felde  verwendet  werden  konnten;  über  Argos  Klio 
a.  a.  0.  S.  56  f. 

8* 


116  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

Über  etwa  7000  Hopliten  und  1000  Reiter;  Argos,  das  im 
V.  Jahrhundert  noch  keine  Reiterei  unterhielt,  über  5 — 6000 
Hopliten.  Athen  hatte  zu  Anfang  des  peloponnesischen 
Krieges  13  000  Bürgerhopliten,  außerdem  1200  Reiter  und 
1600  Bogenschützen  zu  Fuß;  doch  konnte  diese  Macht  bei 
der  weiten  Ausdehnung  des  attischen  Reiches  niemals  auf 
einen  Punkt  konzentriert  und  noch  weniger  längere 
Zeit  unter  Waffen  gehalten  werden  ^.  Zu  den  Hopliten  trat 
allerdings  in  dieser  Zeit  ein  mindestens  gleichstarkes  Auf- 
gebot von  Leichtbewaffneten,  Wohl  aber  erforderten  die 
Flotten  eine  sehr  starke  Bemannung,  100  Trieren  z.  B.  nahe 
an  20  000  Mann.  So  kostete  die  etwa  zweijährige  Belagerung 
von  Poteidaea  durch  die  Athener  (432  bis  430)  2400  Talente  2, 
die  von  Samos,  die  wenig  über  9  Monate  dauerte  (440/39) 
über  1200  Talente  ^;  die  Verteidigung  von  Syrakus  in  den 
Jahren  415 — 413  weit  mehr  als  2000  Talente  ^.  Die  ersten 
zehn  Jahre  des  peloponnesischen  Krieges  (431 — 421)  haben 
dem  athenischen  Staatsschatze  nach  einer  ungefähren  Be- 
rechnung gegen  12  000  Talente  gekostet  (65  Millionen  Mark)  ^ 
Die  Deckung  dieser  Ausgaben  mußte  fast  ausschließlich 
durch  Steuern  erfolgen,  da  von. den  alten  Staatsdomänen  im 
V.  Jahrhundert  im  allgemeinen  wenig  mehr  übrig  war.  Das 
Krongut  war  bei  der  Abschaffung  der  Monarchie  in  der  Regel 
der  königlichen  Familie  geblieben,  oder  es  war  zersplittert 
worden;  und  in  den  größeren,  durch  Synoekismos  gebildeten 
Staaten,  wie  Attika  und  Elis  '^,  hatte  jede  der  früher  selb- 
ständigen Gemeinden  ihren  Grundbesitz  behalten.  Auch 
später  hat  man  in  Athen  die  Grundstücke,  die  dem  Staate 
durch  Konfiskation  oder  auf  anderem  Wege  zufielen,  unter 

1  Thuk.  II  13,  und  dazu  KUo  V,  1905,  S.  356  ff. 

2  Isokr.  Antid.  113,  Thuk.  II  70  sagt  in  runder  Zahl  2000  tal. 

*  CIA.  I  177,  Nep.  Timoth.  1,  wonach  Diod.  XII  28  zu  emendieren  ist, 
vgl.  Isokr.  Antid.  111.  Näheres  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  58  und  unten  2.  Abt. 
§  144. 

"  Thuk.  VII  48,  5. 

*  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  244,  wo  aber  die  Einnahmen  aus  der  eiöqpopd 
und  wohl  auch  die   Bundessteuern  zu  hoch  veranschlagt  sind. 

«  Vgl.  IGA.  113. 


Kriegskosten.  —  Ertrag  des  Staatsvermögens.  —  Direkte  Steuern.     117 

den  Hammer  gebracht  und  den  Erlös  für  die  laufenden  Be- 
dürfnisse verwendet.  Dagegen  besaßen  die  kretischen  Städte 
ausgedehnte  Ländereien,  aus  deren  Ertrag  die  Kosten  der 
gemeinsamen  Mahlzeiten  der  Bürger  bestritten  wurden^; 
und  sehr  bedeutend  war  der  Domänenbesitz  noch  im  IV.  Jahr- 
hundert in  Makedonien  ^.  Mehr  ins  Gewicht  fielen  die  Berg- 
werke. Die  Silbergruben  von  Laureion  an  der  Südspitze 
Attikas  nennt  Aeschylos  die  „Schatzkammer  des  Landes"  ^, 
wie  sie  denn  in  der  Tat  Themistokles  die  Mittel  zu  seinem 
Flottenbau  geliefert  haben;  doch  ist  die  Ausbeute  noch  im 
Laufe  des  V.  Jahrhunderts  sehr  zurückgegangen  *.  Auch 
die  Finanzen  von  Thasos  und  der  makedonischen  Könige 
ruhten  zum  großen  Teil  auf  dem  Ertrage  der  Bergwerke  ^. 
Das  waren  aber  auch  so  ziemlich  die  einzigen  griechischen 
Staaten,  denen  solche  natürliche  Hilfsquellen  zu  Gebote 
standen  ^ 

Direkte  Steuern  sind  in  Form  von  Naturalleistungen 
bei  außergewöhnlichen  Anlässen  schon  in  homerischer  Zeit 
von  den  Bürgern  erhoben  worden';  und  auch  die  solonische 
Klasseneinteilung  diente  ebensosehr  diesem  Zwecke,  als  der 
Abstufung  der  politischen  Rechte.  Unter  der  Tyrannen- 
herrschaft wurden  diese  Steuern  zur  regelmäßigen  Abgabe, 
wie  denn  z.  B.  Peisistratos  und  seine  Söhne  Jahr  für  Jahr  5% 
von  dem  Ertrage  des  Grundeigentums  in  Attika  erhoben 
haben  ^  Die  Demokratie  kehrte  dann  wieder  zu  dem  alten 
Systeme  zurück  und  erhob  solche  Steuern  nur  bei  außer- 
ordentlichem   Bedarf,    besonders    in    Kriegszeiten;    denn    im 


1  Aristot.  Polit.  II  1272  a. 
-  Plut.  Alex.  15.- 
»  Aesch.  Pers.  238. 

*  Xen.  Denkwürdigkeiten  III  6,  12. 

*  Thasos:  Herod.  VI  46,  Makedonien:   Herod.  V  17. 

«  Die  Bergwerke  von  Siphnos  (oben  IIS.  296)  waren  in  dieser  Zeit  er- 
schöpft (Paus.  X  11,  2),  daher  die  Insel  den  Athenern  nur  3  tal.  Tribut  zahlte. 

'  P  225.  V  14.  T  197;  auch  die  Freier  wollen  Odysseus  in  dieser  Weise 
für  das  ihm  geraubte  Gut  entschädigen  (x  55,  vgl.  ß  78). 

8  Thuk.  VI  54;  nach  Aristot.  An.  16,  5  10%,  vgl.  Diog.  Laert.  I  53,  und 
oben  1 1  S.  390. 


118  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

bezeichnenden  Gegensatz  zu  unserer  modernen  Demokratie, 
die  in  diesem  Punkte  die  Anschauungen  der  Physiokraten 
noch  nicht  überwunden  hat,  sahen  die  Griechen  in  jeder 
direkten  Besteuerung  eine  Beschränkung  der  persönhchen 
Freiheit.  Die  Matrikularbeiträge,  welche  Athen  von  seinen 
Bundesstädten  erhob,  waren  keineswegs  eine  direkte  Steuer 
im  eigenthchen  Sinne  des  Wortes,  da  es  den  einzelnen  Staaten 
freistand,  die  dafür  erforderlichen  Summen  durch  indirekte 
Auflagen  oder  aus  den  Erträgen  ihres  Domänenbesitzes  zu 
beschaffen. 

Es  waren  demnach  die  indirekten  Steuern,  welche  das 
eigentliche  Rückgrat  für  den  Haushalt  der  griechischen 
Staaten  in  dieser  Zeit  bildeten.  Sie  trugen  zum  großen  Teil 
noch  den  Charakter  von  Gebühren,  die  freilich  mitunter 
bereits  auf  eine  Höhe  gesteigert  waren,  die  zu  der  Gegen- 
leistung des  Staates  außer  Verhältnis  stand.  Den  ersten  Platz 
darunter  nahmen  die  Zölle  ein,  d.  h.  die  Gebühren  für  die 
Benutzung  der  Häfen  (eXXi)iieviov).  Sie  haben  sich  aus  den 
Geschenken  entwickelt,  die  fremde  Kaufleute  für  die  Er- 
laubnis Handel  zu  treiben  den  Königen  darbrachten  ^.  Schon 
um  600  sollen  die  Bewohner  von  Krisa,  dem  Seehafen  von 
Delphi,  die  Pilger,  die  nach  diesem  Heiligtum  zogen,  durch 
Zölle  bedrückt  haben  ^;  und  auch  von  Periandros  wird  erzählt, 
daß  er  die  Staatsausgaben,  ohne  direkte  Steuern,  ledighch 
aus  dem  Ertrage  der  Zölle  und  Marktgefälle  bestritten  hätte  ^. 
Der  Wert  dieser  Angaben  mag  dahingestellt  bleiben;  jeden- 
falls aber  war  der  griechische  Handel  in  dieser  Periode  bereits 
weit  genvig  entwickelt,  um  die  Erhebung  von  Zöllen  lohnend 
zu  machen.  Auch  ist  kaum  abzusehen,  worauf  der  ordent- 
liche Staatshaushalt  Athens  in  Solons  Zeit  beruht  haben 
sollte,  wenn  nicht  auf  solchen  Gefällen.  Im  V.  Jahrhundert 
müssen  sie  allgemein  bestanden  haben;  der  Betrag  war  aller- 
dings sehr  mäßig,  2 — 5%  vom  Werte,  und  zwar  ohne  Unter- 
schied für  alle  Waren,  und  ebenso  für  die  Einfuhr  wie  Ausfuhr. 

1  V  745. 

'^  Strab.  IX  418. 

^  [Herakleides]  Polit.  5  (FHG.  II  213). 


Direkte  Steuern.  —  Indirekte  Steuern.  119 

Ja,  im  Peiraeeus  betrug  der  Zoll  bis  auf  die  Besetzung  von 
Dekeleia  durch  die  Lakedaemonier  sogar  nur  1%-^.  Unter 
diesen  Umständen  lag  zum  Schmuggel  wenig  Anreiz  vor,  und 
die  griechischen  Staaten  hatten  nicht  nötig,  sich  mit  ge- 
schlossenen Zollinien  zu  umgeben.  An  Landgrenzen  sind, 
soviel  wir  sehen,  überhaupt  keine  Zölle  erhoben  worden. 
Ein  reiner  Finanzzoll  war  dagegen  der  Zehnt  (öeKdir)),  den 
die  Athener  im  peloponnesischen  Kriege  im  thrakischen 
Bosporos  von  der  Durchfuhr  nach  dem  Pontos  und  der  Einfuhr 
aus  diesem  Meere  erhoben  ^.  Die  Zolleinnahmen  waren  trotz 
der  niedrigen  Sätze  verhältnismäßig  ansehnhch.  So  ergab 
der  Zoll  von  2%  im  Peiraeeus  in  den  ersten  Jahren  nach 
dem  peloponnesischen  Kriege,  als  Athen  wirtschaftlich  tief 
gesunken  war,  doch  einen  Reinertrag  von  einigen  dreißig 
Talenten;  und  als  die  Athener  nach  der  Besetzung  von  Dekeleia 
die  Tribute  durch  einen  Zoll  von  5%  auf  die  Ein-  und  Aus- 
fuhr in  den  Häfen  der  Bundesstaaten  ersetzten,  versprachen 
sie  sich  davon  eine  Erhöhung  ihrer  Einkünfte,  obgleich  die 
Tribute  bereits  wenige  Jahre  vorher  auf  über  1000  Talente 
gesteigert  worden  waren  ^. 

Auch  von  dem  Marktverkehr  wurden  Gebühren  er- 
hoben (d"fopd(;  TeXoq);  in  Athen  war  man  zur  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen Krieges  bereits  dahin  gelangt,  die  Erhebung 
an  die  Tore  zu  verlegen  (öiaTruXiov),  und  so  dieser  Abgabe 
den  Charakter  einer  Verbrauchssteuer  zu  geben  *.  Steuer- 
pflichtig waren  ferner  Verkäufe,  die  vor  öffentlichen  Behörden 
abgeschlossen  wurden,  namentlich  also  Verkäufe  von  Immo- 
bilien. Gewerbesteuern  wurden  im  allgemeinen  nicht  bezahlt, 
da  ja  direkte  Abgaben  von  Bürgern  überhaupt  nicht  erhoben 

1   [Xen.]  Staat  der  Athen.  I  17,  vgl.  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  47  f. 

*  Xen.  Hell.  I  1,  22  (Diod.  XII  64),  im  korinthischen  Kriege  von  Thrasy- 
bulos  erneuert  (Xen.  Hell.  IV  8,  27.  31).  Mit  diesem  Zoll  scheint  die  CIA.  I  32 
erwähnte  beKCXTri  identisch  zu  sein  {Rh.  Mus.  XXXIX  S.  38).  Dieser  Volks- 
beschluß gehört  in  die  Zeit  kurz  nach  dem  Nikiasfrieden,  der  Zoll  wird  also 
während  des  archidamischen  Krieges  eingerichtet  worden  sein  (Näheres  unten 
2.  Abt.  §  147,  vgl.  inzwischen  Rh.  Mus.  XLIII,  1888,  S.  113  ff.). 

^  S.  oben  S.  78  A.  3. 

*  Boeckh,  Siaatsh.  I  ^  S.  438. 


120  III.  Abschnitt.  —  Der  wirtschaftliche  Aufschwung  nach  den  Perserkriegen. 

wurden;  doch  zog  man  einige  Gewerbetreibende,  die  eine 
besondere  Polizeiaufsicht  nötig  machten,  wie  Gaukler,  Wahr- 
sager und  öffentliche  Dirnen  zur  Steuer  heran.  Hierher  gehört 
auch  das  Schutzgeld,  das  eingesessene  Fremde  zu  zahlen 
hatten.  Von  den  prozeßführenden  Parteien  wurden  ziemlich 
hohe  Gerichtskosten  erhoben.  EndHch  bildeten  die  einge- 
zogenen Güter  von  zahlungsunfähigen  Staatsschuldnern  oder 
von  politischen  Verbrechern  einen  ziemlich  regelmäßigen 
Posten  in  den  Einnahmebudgets  der  griechischen  Staaten; 
der  bedenklichste  Punkt  in  dem  ganzen  Finanzwesen,  der 
zahllosen  Mißbräuchen  Tür  und  Tor  öffnete. 

Bei  dem  geringen  Umfange  der  meisten  griechischen 
Staaten  in  dieser  Zeit  konnte  der  Gesamtbetrag  aller  dieser 
Einnahmen  nicht  hoch  sein.  Herodot  erzählt,  daß  Thasos 
im  V.  Jahrhundert  300  Talente  (1  600  000  Mark)  jährlicher 
Einkünfte  hatte,  und  hält  das  offenbar  für  eine  große  Summe  ^; 
wie  denn  die  Angabe  auch  wahrscheinlich  übertrieben  ist. 
Betrug  doch  die  Gesamtsumme  aller  Einnahmen,  die  Athen 
aus  seinem  weiten  Reiche  zog,  beim  Beginn  des  peloponne- 
sischen  Krieges  nicht  mehr  als  5 — 600  Talente  (rund  3  Millionen 
Mark)  ^',  und  es  gab  keinen  zweiten  griechischen  Staat,  der 
auch  nur  entfernt  über  ähnliche  finanzielle  Mittel  verfügt 
hätte.  Der  peloponnesische  Bund  z.  B.  besaß  als  solcher  gar 
keine  Einnahmen,  und  auch  mit  der  Finanzkraft  seiner  ein- 
zelnen Staaten  war  es  sehr  übel  bestellt,  Korinth  und  Sikyon 
etwa  ausgenommen  ^.  Syrakus  muß  allerdings  unter  den 
Deinomeniden,  als  es  an  der  Spitze  eines  großen  Teils  von 
Sicilien  stand,  verhältnismäßig  bedeutende  Einkünfte  gehabt 
haben;  nach  dem  Sturz  der  Tyrannis  war  es,  neben  den  in- 
direkten Auflagen  im  wesentlichen  auf  den  Getreidezehnten 
angewiesen,  dessen  reicher  Ertrag  zwar  sprichwörtlich  wurde, 
der  aber  in  dieser  Zeit  schwerlich  mehr  als  200  000  Medimnen 


1  Herod.  VI  46. 

2  S.  unten  2.  Abt.  §  142.  Den  Betrag  der  Einnahmen  aus  Attika  selbst 
kennen  wir  nicht;  die  Schätzung  Boeckhs  beruht  auf  einer  unzulässigen  Kom- 
bination heterogener  Angaben. 

•    3  Thuk.  I  80,  4;  141,  3. 


Indirekte  Steuern.  —  Höhe  der  Staatseinnahmen.  —  Ehrenämter.      121 

(etwa  100  000  hl)  ergeben  haben  kann,  also  nach  attischen 
Marktpreisen  etwa  100  Talente,  nach  sicilischen  natürlich 
viel  weniger  ^.  Auch  der  thessalische  Bund  hatte  einst  von 
den  untertänigen  Landschaften  Tribut  erhoben  ^',  aber  seit 
den  Perserkriegen  war  die  Zentralgewalt  in  Verfall  geraten 
und  die  Abhängigkeit  der  Nebenländer  nur  noch  nominell. 
Wir  dürfen  aber  dabei  nicht  vergessen,  daß  die  griechischen 
Staaten  auch  jetzt  noch  ihre  Bürger  in  ausgedehntestem 
Maße  zu  unbesoldeten  Ehrenämtern  heranzogen.  Selbst  in 
den  Demokratien  empfing  kein  höherer  Beamter  Gehalt, 
und  viele  dieser  Ehrenämter  waren  mit  bedeutenden  Kosten 
verbunden.  So  die  Choregie  oder  die  Verpflichtung,  einen 
Chor  für  die  Aufführungen  im  Theater  mit  allem  Nötigen 
auszustatten,  ihn  einüben  zu  lassen  und  ihn  während  der 
dazu  erforderlichen  Zeit  zu  besolden  und  zu  verpflegen;  oder  die 
Gymnasiarchie,  die  eine  ähnliche  Verpflichtung  gegenüber 
den  Mitwirkenden  bei  den  gymnastischen  Wettspielen  auf- 
erlegte. Der  Aufwand  schwankte  zwischen  mehreren  hundert 
und  mehreren  tausend  Drachmen,  je  nach  der  Art  der  Spiele, 
um  die  es  sich  handelte,  und  dem  guten  Willen  des  Pflichtigen. 
Weit  kostspieliger  war  die  Trierarchie,  d.  h.  die  Verpflichtung, 
ein  vom  Staate  geliefertes  Kriegsschiff  auszurüsten  und 
während  der  Indienststellung  in  seetüchtigem  Stande  zu 
erhalten;  wofür  dem  zu  der  Leistung  Verpflichteten  die  Ehre 
zufiel,  das  Schiff  zu  befehligen.  Die  Kosten  betrugen  in  der 
Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  etwa  50  Minen  ^,  genug, 
um  die  Vermögensverhältnisse  auch  eines  reichen  Mannes  zu 
zerrütten  und  bei  öfterer  Wiederholung  der  Leistung  zu- 
grunde zu  richten.     Man  hat  denn  auch  schon  früh  zu  der 

^  Strab.  VI  S.  269,  das  Sprichwort  mißverstanden  von  Demon,  FHG, 
I  381,  14.  Bei  der  Berechnung  ist  vorausgesetzt,  daß  Syrakus  mit  seinem  Gebiet 
etwa  V4  Million  Einwohner  zählte  (meine  Bevölkerung  S.  281),  zu  deren  Unter- 
halt, einschließlich  der  Aussaat,  etwa  1  750  000  Medimnen  nötig  waren,  so  daß 
250  000   Medimnen   für   die   Ausfuhr   verfügbar   blieben. 

2  Xen.  Hell.  VI  1,  19. 

'  Der  Sprecher  in  Lysias  21.  Rede  (ÄiroXoYia  bujpoboKia^)  war  im  deke- 
leischen  Kriege  sieben  Jahre  lang  Trierarch  (411 — 405)  mit  einem  Aufwände 
von  zusammen  6  Talenten.     Vgl.   die  Rede  gDiogeiton  26  f. 


122  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Auskunft  gegriffen,  gleichzeitig  je  zwei  Bürger  den  Aufwand 
für  ein  Schiff  leisten  zu  lassen,  außer  wenn  es  sich  um  sehr 
reiche  Leute  handelte;  aber  auch  so  blieb  die  Last  höchst 
ungleich  verteilt.  Es  ist  zum  großen  Teil  eben  die  Trierarchie 
gewesen,  die  im  peloponnesischen  Kriege  den  Ruin  so  mancher 
vornehmen  Familie  Athens  herbeigeführt  hat. 

So  ließ  denn  allerdings  das  Steuersystem  viel  zu  wünschen 
übrig,  und  auch  sonst  gab  es  im  Wirtschaftsleben  der  dunkelen 
Punkte  genug.  Aber  das  V.  Jahrhundert  bildet  doch  in  national- 
ökonomischer Beziehung,  wie  in  so  mancher  anderen,  einen 
Höhepunkt  in  der  Geschichte  des  griechischen  Volkes.  Zum 
guten  Teil  beruht  das  darauf,  daß  die  fünfzig  Jahre  nach 
Plataeae  und  Mykale  für  die  griechische  Welt  im  großen  und 
ganzen  eine  Periode  des  Friedens  waren,  wie  sie  seitdem  bis 
auf  die  Zeiten  der  römischen  Hegemonie  nicht  wiedergekehrt  ist. 


IV.  Abschnitt. 

Die  Demokratie. 

Die  Generation,  die  unter  den  Eindrücken  der  Perser- 
kriege groß  geworden  ist,  hat  das  Ideal  der  Freiheit  ihr  Leben 
lang  im  Herzen  getragen.  Wie  sie  auf  geistigem  Gebiete  die 
freie  Forschung  an  die  Stelle  des  Autoritätsglaubens  setzte, 
wie  sie  überall  das  Vernunftrecht  an  die  Stelle  des  sogenannten 
historischen  Rechtes  zu  setzen  bemüht  war,  so  strebte  sie 
auch  auf  politischem  Gebiet  nach  Niederreißung  der  über- 
lieferten Schranken.  Die  Wortführer  der  Nation  in  Wissen- 
schaft und  Literatur  während  des  größten  Teils  des  V.  Jahr- 
hunderts sind  fast  ausnahmslos  demokratisch  gesinnt. 
Empedokles  stand  in  erster  Reihe  unter  den  Begründern 
der  Volksfreiheit  in  seiner  Vaterstadt  Akragas  ^;  Gorgias 
ist  um  seiner  demokratischen   Überzeugungen  willen  in  die 


1  Aristot.  und  Timaeos  (fr.  88.  88  a)  bei  Diog.  Laert.  VIII  63,  Plut.  Kolot. 
32  S.  1126. 


Die  demokratische  Strömung.  123 

Verbannung  gegangen;  Euripides  ist  ein  entschiedener  Gegner 
der  Monarchie  wie  der  Ohgarchie^;  der  alte  Herodot  ist  be- 
geistert für  Freiheit  und  Gleichheit  (i(Jovo|uiri  und  iariYopiri) 
noch  in  einer  Zeit,  wo  die  gebildete  Jugend  in  ihrer  großen 
Mehrheit  ganz  anderen  Tendenzen  huldigte.  Protagoras 
hat  die  erste  theoretische  Rechtfertigung  der  Demokratie 
versucht.  Damit  überhaupt  eine  menschliche  Gesellschaft 
bestehen  könne,  so  führt  er  aus,  ist  es  notwendig,  daß  jeder 
von  uns  die  Rechte  des  anderen  achte;  wer  es  nicht  tut,  muß 
als  krankes  Glied  aus  dem  Staate  ausgestoßen  werden.  Wer 
aber  die  sozialen  Tugenden  der  Gerechtigkeit  (öiKri)  und  der 
Gewissenhaftigkeit  (aibiu(g)  besitzt,  der  ist  eben  damit  auch 
vollkommen  befähigt,  seine  Stimme  bei  der  Beratung  über 
das  gemeine  Wohl  geltend  zu  machen.  Folghch  ist  eine  andere 
als  diese  moralische  Qualifikation  für  die  Ausübung  der  poli- 
tischen Rechte  nicht  erforderlich,  und  es  ist  ganz  verkehrt, 
eine  besondere  technische  Ausbildung  dafür  zu  verlangen  ^. 
Das  VI.  Jahrhundert  hatte  der  praktischen  Verwirk- 
lichung dieser  Forderungen  mächtig  vorgearbeitet.  In  dem 
größten  Teil  der  griechischen  Welt  waren  die  Vorrechte  der 
Geburt  beseitigt  worden  und  die  Vorrechte  des  Besitzes 
an  ihre  Stelle  getreten.  Jetzt  waren,  gegenüber  der  Strömung 
der  öffentlichen  Meinung,  auch  diese  Privilegien  nicht  mehr 
zu  halten,  oder  sie  waren  es  doch  nur  in  beschränktem  Um- 
fange. In  der  Regel  erfolgte  die  Reform  auf  verfassungs- 
mäßigem Wege,  mit  Hilfe  des  allgemeinen  Stimmrechts, 
das  sich  aus  der  Königszeit  her  erhalten  und  nach  dem 
Sturze  der  Adelsherrschaft  wieder  einen  realen  Inhalt  ge- 
wonnen hatte.  Eben  deswegen  blieb  die  Bewegung  fast  überall 
auf  das  politische  Gebiet  beschränkt,  und  es  erfolgte  keine 
Umwälzung  in  den  Besitzverhältnissen.  Wo  freilich  die 
bestehende  Ordnung  auf  dem  Wege  gewaltsamer  Revolution 
gestürzt  wurde,  wie  in  Sicilien  nach  dem  Tode  Hierons,  waren 
einschneidende   Veränderungen   auch   in   der   Verteilung   des 

1  Vgl.  z.  B.  Auge  fr.  277,  Pleisthenes  fr.  628  Nauck. 
^  Plat.  Protag.  322  c  ff.    Es  ist  kein  Zweifel,  daß  Piaton  hier  Gedanken 
des  Protagoras  wiedergibt,  denn  er  selbst  dachte  ganz  anders. 


124  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Eigentums  nicht  zu  vermeiden  ^.  Als  dann  die  besitzlose 
Masse  zum  maßgebenden  Faktor  im  Staate  geworden  war, 
hat  sie  natürlich  es  nicht  verschmäht,  materielle  Vorteile 
aus  dieser  Stellung  zu  ziehen;  und  die  daraus  entspringenden 
Bedrückungen  der  besitzenden  Klassen  haben  das  ihrige  dazu 
beigetragen,  den  Fall  der  Demokratie  herbeizuführen.  Doch 
sollten  diese  Mißbräuche  erst  gegen  den  Ausgang  des  Jahr- 
hunderts stärker  hervortreten. 

Auch  auf  politischem  Gebiete  erstrebte  die  griechische 
Demokratie  in  dieser  Zeit  noch  keineswegs  die  absolute  Gleich- 
heit der  Rechte  aller  Staatsbürger.  Selbst  in  Athen  haben 
die  Bürger  der  dritten  Vermögensklasse,  die  Zeugiten,  erst 
in  457  Zutritt  zu  dem  formell  noch  immer  höchsten  Staatsamt, 
dem  Archontate,  erlangt,  und  die  Bürger  der  untersten  Klasse, 
die  Theten,  blieben  auch  jetzt  davon  ausgeschlossen  ^.  Nur 
Grundbesitzer  konnten  zu  Strategen  gewählt  werden,  und 
an  der  Bestimmung,  daß  zu  den  höheren  Finanzämtern  nur 
Pentakosiomedimnen  gelangen  sollten,  ist  nicht  gerüttelt 
worden.  Man  war  verständig  genug,  zu  erkennen,  daß  nur 
vermögende  Männer  für  die  gewissenhafte  Verwaltung  so 
verantwortungsreicher  Ämter  die  nötigen  Garantien  ge- 
währten. Ohnehin  hätte  ja  das  passive  Wahlrecht  zu  solchen 
Stellen  für  die  nichtbesitzenden  Klassen  keine  praktische 
Bedeutung  gehabt  ^.  Die  Bestrebungen  der  Demokraten 
richteten  sich  vielmehr  darauf,  die  Machtvollkommenheit 
der  Beamten  nach  Möglichkeit  zu  beschränken.  Alle  irgend 
wichtigen  Verwaltungssachen  sollten  der  Volksversammlung 
oder  wenigstens  ihrem  permanenten  Ausschuß,  dem  Rat,  zur 
Entscheidung  vorgelegt  werden;  in  der  Rechtspflege  sollte 
den  Behörden  nur  die  Instruktion  der  Prozesse  bleiben,  das 
Urteil  aber  von  aus  dem  Volke  erlosten  Geschworenen  ge- 
sprochen werden,  falls  nicht  etwa,  in  Staatsprozessen,  die 
Volksversammlung  selbst  als  Gerichtshof  sich  konstituierte. 
Gegen  etwaige  Übergriffe  der  Behörden  sicherte  die  Rechen- 

1  Diod.  XI  76. 

^  Aristot.  An.  26,  2. 

ä  [Xen.]  Staat  d.  Athen.  I  3. 


Die  Ziele  der  Bewegung.  —  Die  Demokratie  im  athenischen  Reiche.    125 

schaftspfiicht  nach  Ablauf  des  Amtsjahres;  auch  hatte  die 
Volksversammlung  jederzeit  das  Recht,  einen  mißliebigen 
Beamten  seiner  Stellung  zu  entheben. 

Um  die  Zeit  der  Perserkriege  war  die  demokratische 
Staatsform  in  Griechenland  im  wesentlichen  auf  Attika  und 
einige  der  umliegenden  Landschaften  beschränkt  gewesen; 
in  Kleinasien  und  Sicilien  herrschte  die  Tyrannis,  in  dem 
bei  weitem  größten  Teile  der  griechischen  Halbinsel  die  Oli- 
garchie oder  Aristokratie.  Da  war  es  nun  von  folgenschwerster 
Bedeutung,  daß  das  demokratische  Athen  an  die  Spitze  des 
Bundes  trat,  den  die  vom  persischen  Joche  befreiten  See- 
staaten  zu  ihrer  gemeinsamen  Verteidigung  schlössen.  Es 
konnte  nicht  fehlen,  daß  das  Beispiel  der  führenden  Macht 
auf  die  Bündner  den  weitgreifendsten  Einfluß  ausübte.  Als 
bei  der  Vertreibung  der  Perser  in  den  asiatischen  Städten  die 
Tyrannen  gestürzt  wurden,  hat  man  die  Verfassungen  vielfach 
nach  dem  Muster  der  athenischen  umgestaltet;  wie  denn  z.  B. 
Milet  und  Priene  so  weit  gegangen  sind,  sogar  die  Namen  der 
kleisthenischen  Phylen  herüberzunehmen  ^.  Oft  wurden 
solche  Reformen  auch  von  Athen  aus  oktroyiert  ^,  nament- 
lich bei  der  Wiederunterwerfung  abgefallener  Bundesstaaten; 
war  es  doch  klar,  daß  die  gemeinsame  demokratische  Staats- 
ordnung den  festesten  Kitt  zwischen  den  Gliedern  des  Bundes 
bilden  mußte.  Immerhin  verstand  es  Athen  in  der  demo- 
kratischen Propaganda  Maß  zu  halten.  So  ist  in  der  wichtigsten 
Bundesstadt,  in  Samos,  die  Oligarchie  der  Grundbesitzer 
(Geomoren)  bis  auf  den  Aufstand  des  Jahres  440  bestehen 
geblieben  ^,  und  auch  in  Mytilene  herrschte  noch  428  eine 
gemäßigt-oligarchische  Staatsform  *.  Aber  allerdings  mußte 
die  athenische  Hegemonie  im  Laufe  der  Zeit  mit  Notwendigkeit 
dahin  führen,  die  Demokratie  auf  den  Inseln  und  an  den 
Küsten  des  Aegaeischen  Meeres  zur  Herrschaft  zu  bringen. 

^  Le  Bas,  Aste  Mineure  238.  242,  vgl,  Haussoullier,  Rev.  de  Philol. 
XX,  1896,  S.  38  ff.,  Inschr.  v.  Priene,  Index. 

*  Vgl.  den  attischen  Volksbeschluß  über  die  Neuordnung  der  Verfassung 
von  Erythrae  CIA.  I  9. 

3  Thuk.  I  115. 

*  Thuk.  III  27.  47. 


126  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Im  Westen  der  hellenischen  Welt  hinderten  zunächst 
die  beiden  Militärmonarchien  von  Syrakus  und  Akragas 
die  Ausbreitung  der  demokratischen  Bewegung.  Um  seiner 
Macht  Dauer  zu  geben,  hatte  schon  Gelon  das  syrakusische 
Bürgerrecht  an  Tausende  von  ausgedienten  Mietsoldaten 
verliehen^;  sein  Nachfolger  Hieron  schritt  auf  dieser  Bahn 
weiter.  Um  475  wurden  die  Bewohner  von  Katane  nach 
Leontinoi  verpflanzt  und  die  verlassene  Stadt  unter  dem 
Namen  Aetna  in  eine  Militärkolonie  umgewandelt  ^.  Außer- 
dem stand  ein  starkes  Söldnerkorps  beständig  unter  Waffen, 
und  im  Arsenal  lag  eine  zahlreiche  Kriegsflotte.  So  glich 
Syrakus  einer  großen  Kaserne  ^.  Man  hatte  das  willig  er- 
tragen, so  lange  die  nationale  Unabhängigkeit  durch  die 
Karthager  bedroht  war;  der  Sieger  von  Himera  besaß  eine 
fast  unbegrenzte  Popularität,  und  noch  lange  nach  seinem 
Tode  hat  das  Volk  ihn  in  dankbarem  Gedächtnis  behalten  *. 
Aber  schon  unter  Hieron  begann  das  Verhältnis  zwischen 
Herrscher  und  Volk  sich  zu  trüben;  es  ist  bezeichnend  dafür, 
daß  der  Tyrann  zur  Einrichtung  einer  Geheimpolizei  schreiten 
mußte  und  selbst  die  Dienste  von  Agents  provocateurs  nicht 
verschmähte  ^.  Für  sich  allein  freilich  hätte  diese  beginnende 
Unzufriedenheit  noch  nicht  allzuviel  zu  bedeuten  gehabt, 
gegenüber  den  Machtmitteln,  die  der  Regierung  zu  Gebote 
standen,  und  ihren  Erfolgen  in  der  äußeren  Politik.    Bedenk- 


1  Diod.  XI  72. 

2  Diod.  XI  49  (Ol.  76,  1  476/5),  Find.  Pyth.  I  59.  118  ff.,  III  123.  Bei 
seinem  pythischen  Sieg  im  Spätsommer  470  ließ  Hieron  sich  als  Aetnaeer  aus- 
rufen; dagegen  findet  sich  Ol.  I  (476)  noch  keine  Anspielung  auf  Aetna  (Schol. 
V.  33  TÖxe  ydp  ö  'Idpujv  r\v  lupaKoüöio«;  Kai  ovbi  r\v  AiTvaTo«;,  &<;  (pr\aiv 
ATToUöbujpo«;.    Vgl.  Wilamowitz,  BerlSB.  1901,  S.  1299. 

^  Find.  Pyth.  II  1  ZupcxKOcrai,  ßaeuiroX^iuou  Te|uevo<;  "Apeoi;,  ävbpüjv 
linTÜJv  re  aibapoxapuäv  baijuöviai  xpoqpai. 

*  Als  Timoleon  in  der  Finanznot  des  Karthagerkrieges  die  ehernen  Statuen 
in  Syrakus  einschmelzen  ließ,  machte  er  mit  der  Statue  Gelons  eine  Ausnahme 
(Plut.  Timol.  24).  Noch  Hieron  II  nannte  wegen  dieser  Popularität  seinen 
Sohn  Gelon,  eine  seiner  Töchter  Damareta.  Vgl.  auch  Diod.  XIII  22,4,  XIV 
66,  1,  Plut.  Dion.  5. 

s  Aristot.  Polit.  V  1313  b. 


Die  sicilischen  Militärmonarchien.  —  Revolution  aur  Sicilien.        127 

lieber  war  es,  daß  die  Einigkeit  im  Herrscherhause  selbst 
zu  schwinden  begann.  Schon  bald  nach  Gelons  Tode  kam 
es  zum  Konflikt  zwischen  Hieron  und  seinen  Bruder  Polyzalos, 
der  nach  Gelons  letztem  Willen  sich  mit  dessen  Witwe  Damareta 
vermählt  hatte  und,  wie  es  scheint,  Hieron  in  der  Herrschaft 
über  Gela  gefolgt  war;  Polyzalos  wurde  vertrieben  und 
suchte  Schutz  bei  seinem  Schwiegervater  Theron  von  Akragas. 
Wenig  fehlte,  und  es  wäre  darüber  zwischen  den  beiden  großen 
sicilischen  Militärmächten  zum  Kriege  gekommen;  aber 
Hieron  trug  Bedenken,  die  Sache  bis  zum  Äußersten  zu  treiben, 
und  bequemte  sich  endlich  dazu,  den  Bruder  zurückzurufen  ^. 
Als  aber  Theron  wenige  Jahre  später  gestorben  und  sein 
Sohn  Thrasydaios  ihm  in  der  Herrschaft  gefolgt  war,  kam 
der  Krieg  doch  zum  Ausbruch.  Thrasydaios  verfügte  über 
eine  sehr  bedeutende  Macht,  angeblich  20  000  Mann,  aber 
in  der  entscheidenden  Schlacht  blieb  Hieron  nach  großem 
Blutvergießen  der  Sieg.  Und  nun  erhob  sich  das  Volk  in 
Akragas  und  Himera  gegen  den  verhaßten  Tyrannen;  Thrasy- 
daios mußte  in  die  Verbannung  gehen,  und  die  republikanische 
Verfassung  wurde  in  beiden  Städten  wieder  hergestellt.  Sie 
traten  zu  Hieron  in  das  Verhältnis  abhängiger  Bundesgenossen 
(471)  2. 

Der  Sturz  der  Monarchie  in  Akragas  konnte  auf  Syrakus 
nicht  ohne  Rückwirkung  bleiben.  Freilich  so  lange  Hieron 
lebte,  hielt  alles  sich  ruhig;  kaum  aber  hatte  der  alte  Tyrann 
die  Augen  geschlossen  (466),  als  die  Revolution  losbrach. 
Der  Zwist  im  Herrscherhause  bahnte  ihr  den  Weg.  Denn 
da  Polyzalos  bereits  gestorben  war,  ging  die  Oberleitung 
des  Staates  jetzt  auf  Thrasybulos  über,  den  letzten  der  vier 
Söhne  des  Deinomenes;  es  gab  aber  eine  starke  Partei  am 
Hofe,  die  statt  seiner  den  jungen  Sohn  Gelons  auf  den  Thron 


1  Diod.  XI  48,  Timaeos  fr.  90,  unten  2.  Abt.  §  62. 

-  Diod.  XI  53,  vgl. ,  XI  68.  1,  76.  4.  Auf  die  Befreiung  von  Himera, 
geht  Find.  Ol.  XII  1  Aiaao|uai  ttoT  Zrjvöi;  'E\eu6epiou,  'l|u^pav  eüpuaB^ve' 
äluqpiTiöXei,  ZÜJxeipa  Tüx«-  Über  die  Verfassung  von  Akragas  Diog.  Laert. 
VIII  66. 


128  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

bringen  wollte  ^.  Darüber  erhob  sich  das  Volk  von  Syrakus, 
aus  den  anderen  Städten  des  Reiches  kam  Zuzug,  und  bald 
sah  der  Tyrann  mit  seinen  Mietstruppen  sich  auf  den  Besitz 
der  inneren  Stadt  Syrakus,  die  Quartiere  Ortygia  und  Achra- 
dina beschränkt,  während  die  Aufständischen  in  den  Vor- 
städten lagerten.  Zu  Wasser  und  zu  Lande  geschlagen,  blieb 
Thrasybulos  schließlich  nichts  übrig,  als  auf  freien  Abzug 
zu  kapitulieren,  im  elften  Monate  seiner  Herrschaft  (465); 
er  ging  in  die  Verbannung  nach  Lokroi,  wo  er  im  Andenken 
an  den  Schutz,  den  einst  Hieron  der  Stadt  gewährt  hatte, 
gut  aufgenommen  wurde  und  bis  an  sein  Ende  als  Privatmann 
gelebt  hat  2. 

So  war  Sicilien  frei.  Überall  wurden  nun  demokratische 
Verfassungen  eingeführt,  und  die  bisher  von  Syrakus  ab- 
hängigen Städte  gewannen  ihre  Selbständigkeit  zurück.  Aber 
die  Insel  sollte  noch  nicht  so  bald  zur  Ruhe  kommen.  Die 
Altbürger  bhckten  mit  nur  zu  berechtigtem  Mißtrauen  auf  die 
zahlreichen  Söldner,  welche  die  Tyrannen  in  Syrakus  und 
den  übrigen  Gemeinden  angesiedelt  und  in  die  Bürgerschaft 
aufgenommen  hatten;  diese  sahen  sich  infolgedessen  unter 
der  neuen  Ordnung  in  jeder  Weise  zurückgesetzt.  So  griffen 
sie  endlich  zu  den  Waffen,  im  Vertrauen  auf  ihre  überlegene 
Kriegstüchtigkeit.  Es  gelang  ihnen,  die  Stadt  Syrakus  in  ihre 
Gewalt  zu  bringen;  aber  die  Altbürger  behaupteten  sich  in  den 
Vorstädten,  schlössen  die  Stadt  durch  eine  Umwallungslinie 
ein,  besiegten  die  Söldner  in  einer  Seeschlacht  und  zwangen 
sie  endlich  durch  Hunger  zur  Übergabe  ^.  Die  Sieger  wandten 
sich  nun  gegen  Aetna,  die  Militärkolonie  Hierons  (oben  S.  126), 
wo  dieser  seinen  Sohn  Deinomenes  zum  Herrscher  eingesetzt 


^  Arist.  Polit.  V  1312  b,  vgl.  limaeos  fr.  84.  Über  die  Chronologie  unten 
2.  Abt.  §  60  f. 

2  Diod.  XI  67—68. 

»  Diod.  XI  72—73.  76,  Aristot.  Polit.  V  1303  a  b.  Diodor  hat  vergessen 
das  Ende  des  Aufstandes  zu  berichten;  da  er  aber  von  dem  Mangel  an  Lebens- 
mitteln in  der  belagerten  Stadt  erzählt  (XI  73,  3)  und  zugleich  die  Erfolg- 
losigkeit der  Stürme  der  Belagerer  hervorhebt  (76,  1),  so  ergibt  sich  das  oben 
im  Text  Gesagte.    Ohnehin  war  in  dieser  Zeit  die  Einnahme  einer  starken,  gut 


Die  Revolution  auf  Sicilien.  129 

hatte  ^;  nach  längeren  Kämpfen  mußten  die  Söldner  auch 
hier  weichen,  und  die  alten  Bürger  kehrten  in  ihre  Heimats- 
stadt  zurück,  die  nun  wieder  ihren  früheren  Namen  Katane 
annahm,  der  ihr  seitdem  bis  heute  gebHeben  ist  (um  461). 
Das  Grab  Hierbns,  der  als  Gründer  von  Aetna  hier  bestattet 
war,  wurde  niedergerissen.  Doch  behaupteten  sich  die  Söldner 
in  dem  nahen  Inessa  [Paterno],  einer  Ortschaft  des  kata- 
naeischen  Gebietes,  wo  sie  ein  neues  Aetna  gründeten  ^. 
Inzwischen  waren  auch  in  Gela,  Himera  und  Akragas 
die  dort  angesiedelten  Söldner  vertrieben  worden;  sie 
zogen  sich  nach  festen  Orten  der  Nachbarschaft  zurück, 
die  aus  Gela  nach  Omphake  und  Kakyron,    die   aus   Akra- 


verteidigten  Festung  anders  als  durch  Hunger  kaum  möglich,  es  sei  denn,  daß 
der  Verrat  ein  Tor  öffnete.  Der  große  Sieg  der  Syrakusier  ^irl  Tr\c,  x^po-C,  C^ß,  2) 
•wird  über  ein  Entsatzheer  erfochten  sein,  da  ja  die  syrakusischen  Söldner  in 
der  Stadt  eingeschlossen  waren  (73,  2),  und  es  doch  an  sich  klar  ist,  daß  die 
Söldner  in  Aetna  etwas  für  ihre  Genossen  in  Syrakus  getan  haben  müssen. 

1  Vgl.  Paus.  VIII  42,  9;  VI  12,  1.  Find.  Pyth.  I  116  nennt  ihn  bei  Leb- 
zeiten des  Vaters  AiTvaq  ßaai\eü<;;  wahrscheinlich  ist  er  unter  dem  riYOUinevoi; 
von  Aetna  zu  verstehen,  den  Duketios  einige  Jahre  später  ermorden  ließ  (Diod. 
XI  91,  1). 

-  Diod.  XI  76,  3,  vgl.  91,  1.  Strab.  VI  268.  Die  Neueren  (vgl.  Casagrandi, 
Su  diie  cittä  antiche  sicule  Vessa  ed  Inessa  {Aetna),  Aeireale  1894)  setzen  Aetna 
durchweg  nach  S.  Maria  di  Licodia.  Aber  nach  dem  hin.  Anton.  (S.  93  Wess.) 
lag  Aetna  12  Milien  von  Katane  und  ebensoweit  von  Kentoripa,  letztere  Distanz 
gibt  auch  die  Tab.  Peut.,  wo  die  Entfernung  nach  Katane  ausgefallen  ist;  nach 
Strab.  VI  268  betrug  sie  80  Stadien  oder  10  Mihen.  S.  Maria  di  Licodia  aber 
ist  von  Catania  28  km  oder  fast  19  Milien  entfernt.  Wohl  aber  Hegt  12  Milien 
von  Catania  und  etwa  ebensoweit  von  Centuripe  Paternö,  das  den  Neueren 
für  Hyble  gilt,  weil  hier  eine  Statuenbasis  mit  der  Inschrift  Veneri  Victrici 
Hyblensi  gefunden  ist  (CIL.  X  7013).  Aber  die  Aphrodite  von  Hyble  konnte 
doch  auch  in  den  Nachbargemeinden  verehrt  werden;  der  Zusatz  Hyblensi 
macht  es  sogar  wahrscheinHch,  daß  unsere  Inschrift  nicht  aus  Hyble  selbst 
stammt.  Entscheidend  ist,  daß  das  Gebiet  von  Aetna,  neben  dem  von  Leontinoi, 
der  ergiebigste  Getreidebezirk  Siciliens  war  (Cic.  Verr.  III  44,  304;  45,  106), 
sich  also  in  die  Ebene  am  unteren  Symaethos  hinein  ausdehnte;  las  paßt  auf 
Paternö,  aber  in  keiner  W-^ise  auf  S.  Maria  di  Licodia.  Der  (antike  ?)  Be- 
festigungsring bei  La  Civita,  2  Milien  südlich  von  letzterem  Orte,  an  der  Straße 
nach  Paternö  (Casagrandi  S.  21),  umfaßt  nur  Y«  ha  und  ist  also  für  eine  Stadt 
wie  Aetna  viel  zu  klein. 

Beloch,  Griech.  Geschichte,  11  i      2.  Aufl.  J 


130  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

gas    nach    Herakleia  Minoa,  und   setzten   von   dort  aus  den 
Kampf  fort^. 

Der  Fall  der  Herrschaft  der  Deinomeniden  zog  auch  den 
Sturz  der  Tyrannis  in  Rhegion  nach  sich.  Dort  war  Anaxilaos 
im  Jahre  476/5  gestorben  mit  Hinterlassung  noch  unmündiger 
Söhne,  für  die  ein  naher  Verwandter,  Mikythos,  die  Regierung 
übernahm  ^.  Unter  seiner  Verwaltung  wurde  Pyxus  mit 
rheginischen  Kolonisten  besetzt  (471/0)  ^;  ein  Krieg  aber, 
den  er,  im  Bunde  mit  Tarent,  gegen  die  lapyger  unternahm, 
führte  zu  einer  vernichtenden  Niederlage,  wie  es  heißt,  der 
schwersten,  die  bis  dahin  ein  griechisches  Heer  erHtten  hatte  *. 
Mikythos'  Stellung  mußte  dadurch  aufs  stärkste  erschüttert 
werden;  und  da  Anaxilaos'  Söhne  inzwischen  herangewachsen 
waren,  sah  er  sich  gezwungen,  die  Herrschaft  niederzulegen, 

1  Wir  kennen  diese  Ereignisse,  abgesehen  von  einer  knappen  Angabe 
bei  Diod.  XI  76,  4,  nur  aus  einem  Bruchstück  des  Inhaltsverzeichnisses  eines 
Werkes  über  sicilische  Geschichte,  vielleicht  Philistos,  das  auf  zwei  in  Oxy- 
rhynchos  gefundenen  Papyrusfetzen  erhalten  ist  (Oxyrh.  Pap.  IV  S.  80  ff., 
vgl.  außer  den  Bemerkungen  der  Herausgeber  Grenfell  und  Hunt,  De  Sanctis, 
Una  7iuova  pagina  di  Storia  Siciliana,  Riv.  Filol.  XXXIII,  1905,  S.  66  ff., 
Pais,  Rendiconti  Lincei  XVII,  1908,  S.  329  ff.  De  Sanctis  ergänzt  v.  1  richtig 
'0|Ucpd[Kr)],  ein  Ort,  der  in  der  Gründungsgeschichte  von  Gela  als  irö\i0,ua 
XiKUViKÖv  erwähnt  wird  (Paus.  VIII  46,  2  vgl.  IX  40,  2)  und  also  in  der  Nähe 
dieser  Stadt  gelegen  haben  muß.  Kakyron  kommt  sonst  nur  bei  Ptol.  Geogr. 
III  4,  7  vor,  wo  die  Ausgaben  MciKupov  haben.  Über  den  inneren  Zusammenhang 
der    Begebenheiten   enthält   unser   Fragment   begreiflicherweise   nichts. 

■'  Diod.  XI  48,  2,  Herod.  VII  170,  lustin.  IV  2,  5.  S.  unten  2.  Abt.  §  65. 
Privatrechtlich  war  er  der  Vormund  (^-rriTpoTTO!;)  der  Söhne  des  Anaxilaos 
(daher  die  Rechenschaftsablage  vor  den  iraTpiKoi  qpiXoi,  Diod.  XI 66,  2),  staats- 
rechtlich aber  der  Herrscher  von  Rhegion,  da  ja  die  Tyrannis  ihrem  Wesen 
nach  eine  Regentschaft  nicht  zuläßt  (oben  S.73  A.  1.).  Herod.  a.  a.  0.  wirft  beides 
zusammen  (^TTixpoiroi;  'PriYiou  KaTeX^XemTo);  richtiger  sagt  Diod.  XI  69,  4 
6  Tr]v  buvaaxeiav  'i\ni\/  'Piiyiou  Kai  Z&^Kkr\c„  Strab.  VI  253  6  Meacrrivrii; 
äpxiuv  Tf|(;  dv  IiKeXia. 

^  Diod.  XI  59,  4,  unter  471/0,  nach  der  chronologischen  Quelle,  Strab. 
VI  253. 

*  Herod.  I  170,  Diod.  XI  52,  Aristot.  Polit.  V  1303  a.  Pais,  Rlcerche 
storiche  e  geografiche  suW  Italia  antica  (Turin  1908)  S.  29  ff.  hat  richtig  gesehen, 
daß  das  Bündnis  zwischen  Rhegion  und  Tarent  mit  der  Besetzung  von  Pyxus 
zusammenhängt,  die  Niederlage  also  erst  einige  Zeit  nach  471/0  erfolgt  ist; 
das  Datum  bei  Diodor  (473/2)  bezieht  sich  auf   den  Anfang  des  Krieges  (^tt' 


Sturz  der  Tyrannis  in  Rhegion.  —  Neuordnung  Siciliens.  131 

und  nach  Tegea  in  die  Verbannung  zu  gehen  (467/6)  ^.  Der 
älteste  der  Brüder,  Leophron,  trat  nun  an  die  Spitze  des 
Staates.  Er  führte  einen  glückhchen  Krieg  gegen  Lokroi, 
vermochte  sich  aber  der  demokratischen  Bewegung  gegenüber 
nur  wenige  Jahre  im  Besitz  der  Tyrannis  zu  behaupten,  und 
Rhegion  und  Messene  gewannen  die  Freiheit  zurück  (461/0)  ^. 
Messene  löste  nun  seine  politische  Verbindung  mit  der  Nach- 
barstadt jenseits  der  Meerenge,  der  alte  Name  Zankle  kam 
noch  einmal  zur  Geltung.  Bald  aber  brach  Streit  aus  zwischen 
den  Altbürgern  und  den  von  Anaxilaos  angesiedelten  Kolo- 
nisten; die  schwächere  Partei  rief  die  soeben  aus  Himera  ver- 
triebenen Söldner  zur  Hilfe  herbei,  doch  diese  ergriffen  die 
günstige  Gelegenheit,  sich  selbst  der  Stadt  zu  bemächtigen. 
Da  sie  in  ihrer  Mehrzahl  aus  dem  Feloponnes  stammten, 
wurde  Messene,  wie  es  jetzt  wieder  genannt  wurde,  zur  dorischen 
Stadt  3. 

Indessen  war  es  zwischen  den  befreiten  Städten  auf 
Sicilien  zum  Kriege  gekommen.  Die  Akragantiner  erhoben 
Anspruch  auf  Krastos,  eine  sikanische  Ortschaft,  die,  wie 
es   scheint,    zum   Gebiet  von   Himera   gehörte,    und   suchten 


äpxovTOc;  Mevuuvo«;  iröXeiuoq  ^v^axri  TapavTivoic;  -rrpöi;  tou<;  MctTTUYai;),  der,  wie 
er  ausdrücklich  sagt,  längere  Zeit  gedauert  hat.  Die  entscheidende  Schlacht 
muß  in  der  Nähe  von  Tarent  geschlagen  worden  sein  (Diod.  XI  52,  5);  daß  die 
Sieger  den  Feind  bis  nach  Rhegion  hin  verfolgt  hätten,  wie  Diodor  sagt,  beruht 
natürlich  auf  einem  Mißverständnis. 

1  Diod.  XI  66,  vgl.  Herod.  I  170,  Paus.  V  24,  6;  26,  2—5,  und  die  In- 
schriften des  von  Mikythos  in  Olympia  gestifteten  Weihgeschenks  IGA.  532. 
533  =  Inschr.  v.  Olymp.  267 — 269.  Daß  der  Regierungswechsel  sich  nicht  so 
glatt  vollzogen  hat,  wie  Diodor  erzählt,  zeigen  Herodots  Worte  ^KTreoübv  ^K 
'PriTiou. 

•^  Diod.  XI  76,  5,  und  über  Leophron  unten  2.  Abt.   §  65. 

ä  Es  gibt  Münzen  attischer  Währung  mit  der  Aufschrift  AavKXaiov, 
die  nach  ihrem  Stil  in  die  Zeit  um  die  Mitte  des  V.  Jahrhunderts  gehören,  folglich 
erst  nach  dem  Sturz  der  Tyrannis  geprägt  sein  können  (A.  J.  Evans,  Niim. 
Chron.  1896  S.  109  fi.,  Hill,  Coins  of  Sicüy,  Westminster  1903,  S.  70).  Diodor 
drückt  sich  also  korrekt  aus,  wenn  er  (XI  76,  5)  von  der  Erhebung  der  'PiiYivoi 
laerd  ZoykXoiujv  gegen  die  Söhne  des  Anaxilaos  erzählt.  —  Über  die  inneren 
Wirren  in  Zankle  lustin.  IV  3,  1 — 3,  ein  Bericht,  dessen  Verständnis  uns  erst 
der  Papyrus  von   Oxyrhynchos   (oben  S.  ISO  Anm.  1)  erschlossen  hat.    Damit 

9* 


132  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

sich  mit  Waffengewalt  in  ihren  Besitz  zu  setzen;  Himera 
und  Gela  verbündeten  sich  nun  gegen  die  mächtige  Nachbar- 
stadt und  Hef  erten  den  Akragantinern  vorKrastos  eine  Schlacht, 
deren  Ausgang  uns  nicht  berichtet  wird.  Syrakus  aber  hielt 
an  dem  Bündnis  mit  Akragas  fest,  und  es  gelang  den  Akragan- 
tinern mit  dessen  Hilfe,  die  Söldner,  die  sich  noch  in  Herakleia 
Minoa  hielten,  von  dort  zu  vertreiben  ^.  EndHch  trat  ein 
allgemeiner  Friedenskongreß  zusammen;  mit  den  Söldnern 
wurde  ein  Abkommen  geschlossen,  das  Messene  in  ihrem 
Besitze  beHeß,  und  denen,  die  noch  in  Waffen  standen,  freien 
Abzug  dorthin  gewährte,  unter  Mitnahme  ihrer  beweglichen 
Habe;  in  den  übrigen  Städten  wurden  die  Verbannten  zurück- 
gerufen und  die  Verteilung  des  Grundeigentums  neu  geregelt. 
Kamarina,  das  seit  der  Schlacht  am  Eloros  zu  Gela  gehörte, 
dessen  Bewohner  aber  von  Gelon  nach  Syrakus  verpflanzt 
worden  waren  (oben  S.  70  und  71),  wurde  als  geloische 
Kolonie  neu  gegründet  und  erhielt  seine  Selbständigkeit 
zurück  ^ 

Wie  es  nicht  anders  sein  konnte,  dauerte  es  noch  geraume 
Zeit,  bis  die  neuen  Zustände  sich  befestigten.  In  Syrakus 
versuchte  ein  einflußreicher  Bürger,  Tyndaridas,  auf  die 
besitzlose  Menge  gestützt,  sich  zum  Tyrannen  auf  zuwerfen; 
als  die  Regierung  ihn  verhaften  lassen  wollte,  kam  es  zum 
Straßenkampf,    bei    dem    der    Prätendent   mit   vielen    seiner 


tritt  nun  auch  die  Angabe  Diodors  a.  a.  0.,  daß  das  Gebiet  von  Messene  den 
Söldnern  überlassen  wurde,  in  das  rechte  Licht  und  gibt  ihrerseits  eine  Be- 
stätigung für  den  Bericht  des  lustinus.  Demnach  ist  klar,  daß  unter  den 
Rheginern,  von  denen  dort  die  Rede  ist,  die  von  Anaxilaos  in  Zankle  ange- 
siedelten Kolonisten  zu  verstehen  sind.  Die  messenischen  Münzen  tragen  seit- 
dem stets  die  Aufschrift  Meaaavioi;  oder  Meaaaviujv,  ein  Beweis  für  die  völlige 
Dorisierung  der  Stadt. 

^  Oxyrhynchus  Pap.  IV  S.  80  ff.  Krastos  wird  sonst  nur  noch  bei  Steph. 
Byz.  s.  v.,  mit  Berufung  auf  das  13.  Buch  des  Philistos  (fr.  43)  als  ttöXk;  ZiKeXia? 
TU)v  ZiKavujv  erwähnt,  hat  also  wahrscheinlich  im  Zentrum  der  Insel  gelegen. 
Daß  es  sich  bei  den  Kämpfen  um  die  Stadt  um  Grenzstreitigkeiten  handelt, 
scheint  klar. 

*  Diod.  XI  76,  5.  6.  Über  Kamarina  auch  Find.  Ol.  V  19  (vdoiKOV  Iboav) 
mit  den  Schollen. 


Neuordnung  Siciliens.  —  Italien.  133 

Anhänger  den  Tod  fand  (um  454)  ^.  Um  die  Wiederkehr 
solcher  Vorgänge  zu  verhindern,  führte  die  syrakusische 
Demokratie  ein  dem  attischen  Ostrakismos  ähnliches  Ver- 
fahren bei  sich  ein,  den  PetaHsmos,  so  genannt,  weil  die  Ab- 
stimmung mittelst  Olivenblättern  geschah  ^.  Wirklich  scheint 
es  zu  keinem  Versuche  mehr  gekommen  zu  sein,  die  Tyrannis 
herzustellen;  wie  hoch  aber  die  Wogen  des  Parteikampfes 
auch  jetzt  noch  gingen,  zeigen  die  wiederholten  Feldherrn - 
prozesse,  die  in  den  nächsten  Jahren  in  Syrakus  zur  Ver- 
handlung kamen  ^. 

Auf  dem  italischen  Festlande  hatte  die  demokratische 
Bewegung  inzwischen  weiter  um  sich  gegriffen.  In  Tarent 
gab  die  große  Niederlage  gegen  die  lapyger  (oben  S.  130) 
den  Anlaß,  die  alte  monarchisch-aristokratische  Verfassung 
durch  die  Demokratie  zu  ersetzen  *.  In  den  Achaeerstädten 
des  heutigen  Calabrien,  wo  es  dem  Geheimbund  der  Pytha- 
goreer  gelungen  war,  die  Leitung  des  Staates  an  sich  zu  reißen, 
ward  diesem  halb  aristokratischen,  halb  theokratischen 
Regiment  jetzt  ein  blutiges  Ende  bereitet;  die  Mitglieder  der 
Sekte  wurden  getötet  oder  vertrieben  ^.  In  Kyme  war,  wie 
wir  wissen,  die  Tyrannis  des  Aristodemos  schon  einige  Jahre 
früher  gestürzt  worden  (oben  IIS.  381).  So  war  auch  in  den 
italischen   Kolonien   die   Demokratie   fast   überall   zur   Herr- 


1  Diod.  XI  86. 

2  Diod.  XI  87. 

»  Diod.  XI  88.  91. 

*  Arist.  Polit.  V  1303  a. 

°  Hauptstellen  Aristoxenos  FHG.  11  274,  11  und  Polyb.  II  39;  vgl.  Dikae- 
archos  FHG.  II  245,  31,  lustin.  XX,  4,  Diog.  Laert.  VIII  39,  Apollonios  bei 
lambl.  Leben  des  Pythag.  254  ff.  Die  Katastrophe  setzen  Dikaearchos  und  andere 
noch  in  Pythagoras'  Zeit,  während  nach  Aristoxenos  Epameinondas'  Lehrer 
Lysis  dabei  gegenwärtig  gewesen  wäre;  da  nun  Epameinondas  nicht  wohl  vor 
420  geboren  sein  kann,  so  kann  Lysis'  Geburt  kaum  vor  470  gesetzt  werden, 
und  die  Katastrophe  fiele  frühestens  um  die  Mitte  des  V.  Jahrhunderts.  Die 
inneren  Wirren  mögen  aber  schon  vorher  begonnen  haben.  Es  liegt  nahe,  den 
Versuch  der  Sybariten,  ihre  Stadt  wieder  aufzubauen  (453),  mit  diesen  Unruhen 
in  Kroton  in  Zusammenhang  zu  bringen.  —  Vgl.  Zeller,  Philos.  d.  Griechen 
I  5  331  ff.,  Rohde,  Kl.  Sehr.  II  102  ff.,  bes.  114  A,  Corssen,  Philol.  LXXI  (N.  F. 
XXV),  1912,  S.  332  ff. 


134  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Schaft  gelangt;  nur  in  Lokroi  erhielt  sich  die  alte  aristo- 
kratische Staatsform  ^. 

Gleichzeitig  mit  dieser  Bewegung,  und  wenn  auch  nicht 
durch  sie  hervorgerufen,  so  doch  in  ihren  Erfolgen  mächtig 
gefördert,  trat  eine  nationale  Reaktion  gegen  den  Hellenismus 
bei  den  Eingeborenen  Italiens  ein.  Und  zwar  ebenso  bei  den 
Stämmen  des  Kontinents,  wie  Siciliens.  Sie  wird  eingeleitet 
mit  jener  blutigen  Niederlage  der  Tarantiner  durch  die 
lapyger.  Bald  werden  die  Lucaner,  in  der  heutigen  Basilicata, 
ein  Volk,  dessen  Namen  jetzt  zum  ersten  Male  genannt  wird, 
den  Städten  am  Golf  von  Tarent  lästige  Nachbarn  ^.  Um 
dieselbe  Zeit  steigen  die  Samniten  in  die  seitdem  sogenannte 
campanische  Ebene  hinab,  erobern  das  etruskische  Capua 
und  kommen  dadurch  in  unmittelbare  Berührung  mit  Kyme, 
das   ihren   Waffen   wenig   später   erliegen   sollte  ^. 

Nicht  so  erfolgreich  war  die  nationale  Reaktion  auf 
Sicilien,  wo  die  Eingeborenen  auf  allen  Seiten  von  helle- 
nischen Kolonien  umgeben  und  durch  das  Meer  von  den 
Stammesgenossen  auf  dem  Festland  getrennt  waren.  Die 
Bewegung  fand  hier  ihren  Führer  in  Duketios,  dem  König 
von  Menae  (Mineo  bei  Caltagirone)  *.  Als  Verbündeter  der 
syrakusischen  Demokratie  hatte  er  an  dem  Feldzuge  gegen 


1  Aristot.  Polit.  V  1307  a. 

^  Polyaen.  II 10,  2.  4  (bald  nach  der  Gründung  von  Thurioi).  Naiverweise 
hat  man  daraus  geschlossen,  die  Lucaner  seien  erst  in  dieser  Zeit  aus  Samnium 
eingewandert.  Die  Sache  ist  vielmehr  analog  dem  Aufkommen  der  Namen 
der  großen  germanischen  Stämme  im  III.  Jahrhundert  nach  oder  des  Hellenen- 
namens im  VII.  Jahrhundert  vor  unserer  Zeitrechnung.  Offenbar  haben  die 
kleinen  oskischen  Stämme  in  den  Bergen  zwischen  dem  Principato  und  der 
Basilicata  sich  damals  zu  einer  politischen  Einheit  zusammengeschlossen. 

3  Nach  Diodor  ist  Capua  438/7  (XII  31),  Kyme  421/0  (XII  76)  genommen 
worden;  sind  die  Angaben  aus  römischer  Quelle  geflossen,  so  würde  445  und  428 
dafür  zu  setzen  sein.  Livius  berichtet  die  Einnahme  von  Capua  unter  423  (IV  37), 
die  von  Cumae  unter  421  (IV  44). 

*  Diod.  XI  88,  6.  M^va«;  ist  Konjektur  von  Clüver  für  das  von  den  meisten 
Handschriften  überlieferte  )n4v  N^a<;;  der  Patmius  hat  luivda?.  Eine  Bestätigung 
gibt  Apollodor  Chron.  II  fr.  60  Jac.  Mevai  -nokxc,  ItKcXia«;  ^TT^?  TTaXiKÜJv, 
denn  Apollodor  kann  die  Stadt  nur  bei  Gelegenheit  der  Geschichte  des  Duketios 


Italien.  —  Nationale  Reaktion.  —  Duketios.  135 

Hierons  Sohn  Deinomenes  von  Aetna  teilgenommen  und 
zu  dem  glücklichen  Ausgange  wesentlich  beigetragen  ^.  Bald 
darauf  gelang  ihm  die  Eroberung  des  wichtigen  Morgantine; 
und  dieser  Erfolg  gab  den  Anlaß,  daß  fast  die  ganze  sikelische 
Nation  sich  unter  Duketios'  Führung  zu  einem  Staate 
zusammenschloß.  Am  heiligen  See  der  Paliken,  unweit  von 
Menae,  da,  wo  das  heraeische  Bergland  zur  fruchtbaren  Ebene 
von  Catania  sich  herabsenkt,  wurde  die  Hauptstadt  des  neuen 
Reiches  gegründet,  die  jenen  Nationalgöttern  zu  Ehren  den 
Namen  Palike  erhielt  (459/8)  2. 

Duketios  kehrte  jetzt  seine  Waffen  gegen  Hierons  alte 
Söldner  in  Aetna  (Inessa);  der  feste  Platz  wurde  genommen, 
und  damit  der  letzte  Rest  der  Deinomenidenherrschaft  zer- 
stört, Hierons  Sohn  Deinomenes  fand  dabei  seinen  Tod  ^. 
Jetzt  hielt  sich  der  sikelische  König  für  stark  genug,  den 
Befreiungskrieg  gegen  die  Griechen  zu  beginnen.  Es  gelang 
ihm  auch,  die  Akragantiner  und  die  ihnen  verbündeten  Syra- 
kusier  in  offener  Feldschlacht  zu  schlagen  und  die  akragan- 
tinische  Grenzfestung  Motyon  einzunehmen;  auf  die  Dauer 
aber  zeigten  sich  die  Hilfsquellen  der  griechischen  Städte 
weit  überlegen.  Im  folgenden  Frühjahr  erlitt  Duketios  durch 
die  Syrakusier  bei  Noae  eine  schwere  Niederlage,  Motyon 
wurde  von  den  Akragantinern  wieder  erobert,  und  der  König, 
von  seinen  Anhängern  verlassen,  war  endlich  gezwungen, 
sich  den  Syrakusiern  auf  Gnade  und  Ungnade  zu  ergeben 
(etwa  450).  Sein  Reich  zerfiel;  der  südHche  Teil,  das  frucht- 
bare Piano  di  Catania,  mit  Morgantine,  Menae  und  Inessa 
kam  an  Syrakus;  die  nördlichen  Gegenden,  das  obere  Symae- 
thostal  und  die  nebrodischen  Berge  behielten  ihre  Unab- 
hängigkeit, so  daß  jede  Stadt  wieder  wie  früher  einen  selb- 


erwähnt  haben.  Nach  Diod.  XI  78,  5  (aus  der  chronographischen  Quelle)  wäre 
M^vaivov  (Nebenform  von  Mevai)  von  Duketios  gegründet  worden;  das  ist 
nichts  weiter  als  ein  Parallelbericht  zu  dem  |ueTOiKiaiiö<;  von  Menae  nach  dem 
Palikensee,  der  XI  88,  6;  90,  1  nach  der  historiographischen  Quelle  erzählt  wird. 

1  Diod.  XI  76,  3. 

2  Diod.  XI  78,  5;  88,  6;  90,  1. 

3  Diod.  XI  91,  1. 


136 

IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 


Ständigen   Kleinstaat  bildete.      Duketios  selbst  wurde   nach 
Korinth  relegiert  ^. 

Jetzt  aber  kam  es  zum  Bruch  zwischen  den  Siegern. 
Syrakus  hatte  im  Kriege  gegen  die  Sikeler  das  Beste  getan 
und  dementsprechend  den  Löwenanteil  der  Beute  für  sich 
genommen;  Akragas  war  nicht  gesonnen,  das  zu  dulden,  und 
griff  zu  den  Waffen.  Die  übrigen  Städte  der  Insel  nahmen  für 
und  wider  Partei,  doch  am  Flusse  Himeras  erlitten  die  Akra- 
gantiner  eine  entscheidende  Niederlage,  die  sie  zwang,  um 
Frieden  zu  bitten  (446/5)  ^.  Diese  Wirren  benutzte  Duketios, 
um  nach  Sicilien  zurückzukehren;  von  Archonidas,  dem 
Könige  von  Erbita,  unterstützt,  gründete  er  an  der  Nord- 
küste der  Insel  die  Stadt  Kaiakte,  in  der  Hoffnung,  von  hier 
aus  noch  einmal  eine  nationale  Erhebung  zustande  zu  bringen. 
Doch  bald  setzte  der  Tod  diesen  Plänen  ein  Ziel  ^.  Die  Syra- 
kusier  wandten  sich  jetzt  gegen  Pahke,  die  Stadt,  die  Duketios 
einst  beim  Beginn  seiner  Laufbahn  gegründet  hatte;  sie  fiel 
nach  tapferem  Widerstände  und  wurde  von  den  Siegern 
zerstört    (um  440)  ^.      Das   Schicksal  der  sikelischen  Nation 

^  Diod.  XI  91 — 92.  Die  entscheidende  Schlacht  wäre  nach  Diod.  XI  91,  2 
uepl  xdi;  No|ndi;  geschlagen  worden;  da  aber  bei  ApoUodor  Ckron.  II  fr.  61 
(bei  Steph.  Byz.)  eine  sicilische  Stadt  Nöai  erwähnt  wird,  die  nur  bei  dieser 
Gelegenheit  genannt  sein  konnte,  so  ist  klar,  daß  bei  Diodor  Nöaq  herzustellen 
ist.  Die  Lage  ist  unbekannt.  —  Auf  die  Einnahme  von  Motyon,  nicht  aber  auf 
einen  Sieg  über  das  phoenikische  Motye  bezieht  sich  das  von  Paus.  V  25,  2 
erwähnte  Weihgeschenk,  das  die  Akragantiner  in  Olympia  aufstellten,  vgl. 
Hermes  XXVIII,  1893,  S.  633.  —  Morgantine  (Thuk.  IV  65,  1)  und  überhaupt 
die  sikelischen  Städte  in  der  Ebene  von  Catania  (oi  npöq  rä  irebia  |aä\\ov 
Tiijv  ZiKeXujv,  Thuk.  VI  88,  4)  waren  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  den 
Syrakusiern  untertänig;  in  Inessa  (Aetna)  lag  damals  eine  syrakusische  Be- 
satzung (Thuk.  III 103,  1,  vgl.  VI  94,  3).  Diese  Gebiete  müssen  im  Kriege  gegen 
Duketios  gewonnen  worden  sein,  vgl.  Diod.  XII  30,  1  (unter  dem  Jahr  439/8). 

-  Diod.  XII  8. 

=»  Diod.  XII  8,  2;  29,  1. 

"  Diod.  XII  29,  2 — 4.  In  den  Handschriften  heißt  die  Stadt  TpivaKir], 
was  sicher  korrupt  ist;  im  Inhaltsverzeichnis  zum  XII.  Buch  steht  TTiKrivoix; 
oder  TTiKivoue;.  Nun  sagt  Diod.  XI  90,  1  von  Palike,  die  Stadt  sei  bald  blühend 
geworden,  aber  schon  nach  kurzer  Zeit  zerstört  worden  und  dann  wüst  ge- 
blieben; TTepi  tl)v  TOt  Kard  |n^poq  dvaTpcx^JOiuev  ^v  xoic;  oiKeioiq  xpövoi«;.  In 
unserem  Diodortext  ist  aber  nicht  wieder  von  Pahke  die  Rede.  Wenn  also  Diodor 


Duketios.  —  Sturz  der  Monarchie  in  Kyrene.  137 

war  besiegelt;  sie  hat  seitdem  nie  mehr  den  Versuch  gemacht, 
aus   eigener   Kraft  die   Fremdherrschaft  abzuschütteln. 

Nicht  lange  nach  dem  Fall  der  Monarchie  in  Sicilien 
wurde  in  Kyrene  das  Haus  der  Battiaden  gestürzt,  das  die 
Stadt  seit  ihrer  Gründung  beherrscht  hatte.  Schon  um  die 
Mjtte  des  VI.  Jahrhunderts,  unter  Battos  III.,  ,,dem  Lahmen" 
war  es  hier  infolge  von  Zwistigkeiten  im  Schoß  der  könig- 
lichen Familie  zu  einer  Reform  im  demokratischen  Sinne 
gekommen;  der  Mantineer  Damonax,  den  man  auf  Anweisung 
des  delphischen  Orakels  als  Gesetzgeber  berufen  hatte,  gab 
dem  Staat  eine  neue  Organisation,  die  den  Königen  nichts 
als  einige  leere  Ehrenrechte  übrig  ließ.  Als  dann  Battos' 
Sohn  Arkesilaos  den  Versuch  machte,  die  alten  Zustände 
herzustellen,  wurde  er  seiner  Würde  entsetzt  und  mußte 
nach  Samos  in  die  Verbannung  gehen;  von  dort  kehrte  er 
mit  zahlreichen  Anhängern  zurück,  die  er  durch  das  Ver- 
sprechen einer  neuen  Landverteilung  geworben  hatte,  und 
gewann  mit  ihrer  Hilfe  den  Thron  wieder.  Endlich  wurde 
er  in  Barke  von  kyrenaeischen  Verbannten  ermordet  (um  510) ; 
doch  die  Königinmutter  Pheretime  übernahm  mit  fester  Hand 
die  Regentschaft  für  ihren  unmündigen  Enkelsohn  Battos 
,,den  Schönen"  und  rettete  ihrem  Hause  den  Thron.  Mit 
persischer  Hilfe  gelang  es  ihr,  Barke  einzunehmen,  das  nun, 
ebenso  wie  Euesperides,  politisch  mit  Kyrene  vereinigt  wurde. 
Dieses  wurde  so  zu  einem  der  mächtigsten  griechischen  Staaten, 


an  unsererStelle  die  Zerstörung  einer  reichen  und  mächtigen  Sikelerstadt  berichtet, 
und  zwar  im  unmittelbaren  Anschluß  an  das  Ende  des  Duketios,  so  ist  die  Ver- 
mutung kaum  abzuweisen,  daß  er  das  XI  90,  1  gegebene  Versprechen  hier  ein- 
löst; der  Ausfall  zweier  Buchstaben  genügte,  um  aus  TT(a\)iKivou<;  *  TTiKivout; 
werden  zu  lassen.  In  der  ersten  Auflage  hatte  ich  an  die  Emendation  TTiaKivout; 
gedacht,  die  ja  paläographisch  noch  leichter  ist;  ebenso  Pais,  Ricerche  storiche 
e  geografiche  S.  163  ff.  Aber  Piakos  hat,  nach  dem  Zeugnis  seiner  Münzen,  noch 
am  Ende  des  V.  Jahrhunderts  bestanden,  kann  also  nicht  um  440  zerstört  worden 
sein.  In  unserer  literarischen  Überlieferung  kommt  die  Stadt  nur  bei  Stephanos 
vor;  Diodor  konnte  also  nicht  wohl  von  Piakos  sagen  dei  tö  TtpujTeTov  ^axH^uia 
TUJV  IiKeXiKÜJv  TTÖXeoiv.  Das  paßt  vielmehr  allein  auf  Palike,  das  die  Hauptstadt 
von  Duketios'  sikelischem  Reiche  gewesen  war  und  an  der  Stätte  des  vornehmsten 
Nationalheiligtums  lag. 


138  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

der  den  Vergleich  mit  dem  Deinomenidenreiche  auf  Sicilien 
kaum  zu  scheuen  brauchte.  Dank  diesen  Erfolgen  und  noch 
mehr  vielleicht  Dank  dem  Rückhalt,  den  ihm  die  Perser  ge- 
währten, konnte  Battos  sich  bis  an  seinen  Tod  in  der  Herr- 
schaft behaupten  und  sie  seinem  Sohn  Arkesilaos  hinterlassen 
(um  465).  Der  aegyptische  Aufstand,  der  bald  darauf  aus- 
brach, löste  das  Band,  das  Kyrene  an  das  Perserreich  ge- 
knüpft hatte;  zugleich  aber  brachen  innere  Unruhen  aus, 
in  deren  Verlauf  Arkesilaos  ermordet  und  die  Demokratie 
eingeführt  wurde.  Wie  in  Sicilien  nach  dem  Sturze  derDeino- 
meniden,  löste  sich  jetzt  das  Reich  auf;  Barke,  Euesperides 
Teucheira  gewannen  ihre  Unabhängigkeit  zurück  und  Kyrene 
blieb  wieder  auf  sein  altes  Gebiet  beschränkt  ^. 

Größer  waren  die  Hindernisse,  die  sich  der  demokratischen 
Bewegung  auf  der  griechischen  Halbinsel  selbst  entgegen- 
stellten. Die  wirtschaftliche  und  intellektuelle  Entwicklung 
war  hier  noch  nicht  so  weit  vorgeschritten  wie  im  ionischen 
Osten  oder  wie  auf  Sicilien;  und  was  noch  schwerer  ins  Gewicht 
fiel,  die  konservativen  Interessen  fanden  hier  einen  festen 
Rückhalt  an  Sparta,  das  mit  dem  ganzen  Gewicht  seiner 
militärischen  Macht  und  seines  morahschen  Ansehens  für  die 
Erhaltung  des  Bestehenden  eintrat.  Immerhin  hatten  die 
demokratischen  Ideen  auch  hier  bedeutende  Erfolge  zu  ver- 
zeichnen. Die  Ereignisse  des  Jahres  479  fegten  in  Theben 
das  aristokratische  Regiment  hinweg,  das  es  mit  den  Persern 
gehalten  hatte  ^.  An  die  Stelle  der  gestürzten  Regierung 
trat  die  Demokratie;  und  teils  dies  Beispiel,  teils  der  Einfluß 

1  Herod.  IV  160—167,  200—205,  Menekles  von  Barke  FHG.  IV  479, 
Herakleides  PoliL  4  (FHG.  II  212),  Find.  Pyth.  IV  und  V  mit  den  Scholien. 
Näheres  oben  I  2  S.  210  ff.  und  bei  Thrige,  Res  Cyrenensium,  Kopenhagen  1828. 
Die  Reste  des  athenischen  Heeres  in  Aegypten  retteten  sich  durch  Libyen  nach 
Kyrene  (Thuk.  I  110,  1),  das  also  damals  (456)  nicht  mehr  von  Persien  ab- 
hängig war.  Daß  die  kleineren  Städte  selbständig  wurden,  ergibt  sich  aus  ihrer 
Münzprägung. 

2  Thuk.  III  62,  5.  Nach  Aristot.  Polit.  V  1302  b  bestand  die  Demokratie 
in  Theben  zur  Zeit  der  Schlacht  bei  Oenophyta  (vgl.  Kirchhoff,  Abh.  Berl.  Akad. 
1878  S.  6);  für  ihre  Einsetzung  ist  kein  anderer  Zeitpunkt  denkbar,  als  gleich 
nach  der  Schlacht  bei  Plataeae.    Die  Annahme,  daß  die  Demokratie   in  Theben 


Die  Demokratie  in  Boeotien.  —  Umwälzung  im  Peloponnes.  139 

des  nahen  Athen  brachte  auch  in  den  übrigen  boeotischen 
Städten  die  Demokratie  zur  Herrschaft. 

In  Argos  war  die  Königsmacht  schon  um  600  nach  dem 
Sturze  der  Temeniden  beschränkt  worden  (oben  IIS.  333); 
die  Aufnahme  der  Perioeken  in  die  Bürgerschaft  nach  der 
Niederlage  bei  Tiryns  gegen  Kleomenes  (oben  S.  14)  mußte 
eine  weitere  Ausdehnung  der  Volksrechte  zur  Folge  haben; 
Argos  war  jetzt  eine  Demokratie  mit  monarchischer  Spitze  ^, 
so  daß  dem  König  nur  noch  der  Oberbefehl  im  Kriege  blieb, 
der  ihm  dann  im  Laufe  der  nächsten  Jahrzehnte  ebenfalls 
entzogen  und  auf  ein  Kollegium  von  fünf  Strategen  über- 
tragen wurde.  Von  hier  breitete  die  demokratische  Bewegung 
sich  über  das  benachbarte  Arkadien  aus;  die  ganze  Landschaft 
fiel  von  Sparta  ab  und  suchte  bei  Argos  Anlehnung  ^.  Mit 
Hilfe  der  neuen  Bundesgenossen  unterwarfen  jetzt  die  Argeier 


erst  nach  der  Schlacht  bei  Oenophyta  eingeführt  worden  wäre,  steht  nicht  nur 
in  Widerspruch  mit  den  Worten  unserer  Quelle,  sondern  ist  auch  an  sich  unzu- 
lässig, da  sich  Theben  in  diesem  Falle  an  Athen  angeschlossen  haben  würde. 

^  Als  solche  erscheint  Argos  in  Aeschylos'  Hiketiden,  neben  den  Persern 
dem  ältesten  erhaltenen  Stücke  des  Dichters.  Daraus  folgt  freilich  nicht,  daß 
die  Monarchie  damals  noch  in  Argos  bestanden  hat,  wohl  aber  bezeugt  das 
Herod.  VII  149  für  das  Jahr  480,  und  zwar  hatte  der  König  noch  den  Befehl 
im  Kriege.  Noch  in  einem  Volksbeschluß  aus  der  Mitte  des  V.  Jahrhunderts 
wird  der  König  erwähnt  (VollgrafT,  Bull.  Corr.  Hell.  XXXIV,  1910,  S.  332  ff. 
eiri  MeXdvTa  ßaai\^0(;),  ob  es  sich  aber  um  den  alten  Erbkönig  oder  um  einen 
Jahrkönig  handelt,  wissen  wir  nicht.  Jedenfalls  wurde  zur  Zeit  des  peloponne- 
sischen  Krieges  (418)  das  argeiische  Heer  nicht  mehr  vom  Könige,  sondern 
von  fünf  Strategen  befehligt  (Thuk.  V  59,  5),  und  die  Verfassung  wird  als  demo- 
kratisch bezeichnet  (Thuk.  V  31,  6;  44, 1).  Volksgerichte,  wie  in  Athen:  Aeschyl. 
Hiket.,  also  schon  bald  nach  den  Perserkriegen,  Thuk.  V  60,  6,  Eurip.  Orest. 
872  ff.,  weiteres  bei  Ed.  Meyer,  Forschungen  I  101  ff.,  vgl.  auch  Wilamowitz, 
Kydathen  S.  92  ff.,  jetzt  zum  Teil  nicht  mehr  haltbar.  Ostrakismos:  Aristot. 
Polit.  V  1302  b,  Schol.  Aristoph.  Ritter  855,  doch  wohl  aus  Athen  entlehnt, 
da  Argos,  unseres  Wissens,  bis  auf  die  makedonischen  Zeiten  nie  unter 
Tyrannen  gestanden  hat. 

*  Über  den  Abfall  Arkadiens  Herod.  IX  35,  s.  unten  S.  143  Anm.  1. 
Die  Verfassung  von  Mantineia  war  im  Jahr  421  demokratisch  (Thuk.  V  29,  1), 
wenn  Aristot.  Polit.  VI  1318  b,  wie  wahrscheinlich,  auf  diese  Zeit  geht,  eine 
gemäßigte  Demokratie.  Fünf  Phylen:  Le  Bas-Foucart  352  p.  Von  der  Ver- 
fassung der  übrigen  Städte  im  V.  Jahrhundert  wissen  wir  nichts. 


140  IV,  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

ihre  kleinen  Nachbarstädte  Mykenae  und  Tiryns,  die  sagen - 
berühmten  Sitze  der  ältesten  griechischen  Kultur;  sie  wurden 
zerstört  und  ihre  Bewohner  vertrieben  ^.  Auch  Elis,  neben 
Korinth  der  wichtigste  Staat  des  peloponnesischen  Bundes, 
ging  um  diese  Zeit  zur  Demokratie  über.  Die  alte  Geschlechter- 
ordnung wurde  gestürzt  und  eine  Neuorganisation  des  Staates 
in  10  Phylen  vorgenommen,  offenbar  nach  dem  Muster  der 
kleisthenischen  Verfassung  Athens  ^.  Die  Reform  war  mit 
einem  Synoekismos  verbunden;  die  neue  Hauptstadt  wurde 
am  Ufer  des  Peneios  angelegt,  am  Fuße  der  alten  Königs - 
bürg  des  Oxylos,  allerdings  ohne  zunächst  befestigt  zu  werden 
(471)  ^.  Bald  trugen  die  Eleier  ihre  Waffen  nach  Süden, 
und  unterwarfen  die  Städte  Triphyliens  bis  herab  an  die 
messenische  Grenze  ^. 

Sparta  mußte  zunächst  das  alles  geschehen  lassen,  denn 
es  hatte  genug  zu  tun,  um  die  revolutionäre  Bewegung  seinen 
eigenen  Grenzen  fernzuhalten.  Lag  doch  nirgends  so  viel 
Zündstoff  aufgehäuft  wie  hier,  wo  die  große  Mehrzahl  der 
Bevölkerung  in  Leibeigenschaft  gehalten  wurde,  ohne  Gewähr 
auch  nur  für  die  persönliche  Sicherheit;  wo  ein  anderer  großer 
Teil  der  Bevölkerung  —  die  Bewohner  der  Landstädte  — 
zwar  die  persönliche  Freiheit  und  eine  gewisse  kommunale 
Autonomie  besaß,  politisch  aber  in  jeder  Hinsicht  von  Sparta 
abhing;  wo  endHch  unter  den  Bürgern  der  herrschenden 
Stadt  selbst  die  größte  Ungleichheit  des  Vermögens  bestand, 


1  Herod.  VI  83,  Diod.  XI  65,  Strab.  VIII  373.  377.  Die  Tirynthier  fanden 
eine  neue  Heimat  in  Halieis  bei  Hermione  (Herod.  VII  137,  Ephoros  bei  Steph. 
Byz.  'AXieTi;  vgl.  Tipuvc,  Svoronos,  Journ.  Intern,  de  Numism.  X,  1907, 
S.  5  ff.).     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  71. 

2  Aristot.  Polit.  V  1306  a,  Paus.  V  9,  5. 

3  Diod.  XI  54,  Strab.  VIII  337. 

*  Herod.  IV  148.  Lepreon,  479  noch  unabhängig  (CIA.  70),  war  zu  An- 
fang des  peloponnesischen  Krieges  eine  eleiische  Perioekenstadt  (Thuk.  V  31). 
Aus  der  Kriegsbeute  errichteten  die  Eleier  den  Tempel  des  Zeus  in  Olympia 
mit  der  berühmten  chryselephantinen  Statue,  vgl.  Paus.  V  10,  2.  Da  der  Tempel 
467  bereits  im  wesenthchen  vollendet  war  (Paus.  V  10,  4)  und  der  Bau  doch 
längere  Jahre  in  Anspruch  genommen  hat,  muß  die  Eroberung  Triphyliens 
um  470  oder  wenig  später  gesetzt  werden. 


Umwälzung  im  Peloponnes.  —  Pausanias'  Sturz.  141 


und  nur  die  Wohlhabenden  sich  im  Genuß  des  vollen  Bürger- 
rechtes befanden.      Und   auch   diese  kleine   Minderheit  war 
wieder  durch  mannigfache  Parteiinteressen  zerspalten.     Die 
Königsmacht  war  zwar  im  Laufe  der  Zeit  immer  mehr  be- 
schränkt worden,  aber  der  Nimbus,  der  nun  einmal  trotz  allem 
den    könighchen    Namen    umgab,    der    große    Reichtum    der 
königlichen    Häuser,    ihre   Verschwägerung    mit    den    ersten 
Familien   der   Stadt,   vor  allem  das   Recht  des   Oberbefehls 
im    Kriege,    das    keine   Verfassungsreform    den    Königen    zu 
entreißen  vermocht  hatte,  das  alles  gab  ihnen  eine  Stellung, 
die  in  der  Hand  eines  fähigen  Mannes  der  Freiheit  des  Staates 
verhängnisvoll  werden  konnte.     So  herrschte  denn  zwischen 
den  höchsten  Gewalten  in  Sparta,   zwischen  Königtum  und 
Ephorat,    beständig    ein  Zustand    latenten    Krieges,    und    es 
bedurfte  nur  eines  unbedeutenden  Anlasses,  diesen  Konflikt 
zum  offenen  Ausbruch  zu  bringen.     Wir  haben  oben  gesehen 
(S.  35f.),  wie  Sparta  eine  solche  Krisis  unmittelbar  vor  dem 
Perserkriege  zu  bestehen  gehabt  hatte;  kurz  hintereinander 
hatte  man  den   König  aus  dem  einen  Hause  seiner  Würde 
entsetzt,    den    des   anderen    Hauses   ins   Gefängnis    geworfen 
und  dort  ermorden  lassen.     Mußte  das  königliche  Ansehen 
durch  diese  Vorgänge  einen  schweren  Stoß  erleiden,  so  trugen 
andererseits  die  Erfolge  des  Jahres  479  dazu  bei,  es  aufs  neue 
zu  befestigen.     Ein  siegreicher  Krieg  wird  dem  glücklichen 
Feldherrn  stets  zu  Einfluß  und  politischer  Bedeutung  verhelfen, 
und  so  konnte  es  nicht  fehlen,  daß  die  Sieger  von  Plataeae 
und   Mykale,    Pausanias   und    Leotychidas,    ein  Ansehen    er- 
langten, wie  es  die  Könige  seit  Kleomenes'  Sturz  nicht  mehr 
besessen  hatten.     War  es  zu  verwundern,   daß  sie  suchten, 
die   Gunst  des  Augenblicks  zu   benutzen.''      Der  Oberbefehl 
über  die  hellenische  Bundesflotte,  der  Pausanias  im  Jahre  478 
übertragen  wurde,  gab  ihm  die  Mittel  in  die  Hand,  deren  er 
zur  Verwirklichung  seiner  Pläne  bedurfte.      Da  stürzte  ihn 
der  Abfall  loniens   (oben   S.  61)  von  seiner  Höhe  herab.    Er 
wurde  nach  Sparta  zurückgerufen,  und  seine  Feinde  ergriffen 
die  Gelegenheit,  ihm  wegen  seines  Verhaltens  auf  dem  Feld- 
zuge vor  Gericht  zu  ziehen.     Doch  Pausanias  ging  aus  dem 


142  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Prozeß  als  Sieger  hervor,  und  wenn  auch  die  Regierung 
nicht  die  Absicht  hatte,  sich  weiter  an  dem  Seekriege  zu 
beteiligen,  so  wagte  sie  doch  auch  nicht,  dem  Regenten  Hinder- 
nisse in  den  Weg  zu  legen,  als  er  auf  eigene  Hand  noch  einmal 
nach  dem  Hellespont  abging.  Aber  seine  alte  Stellung  wieder- 
zugewinnen, gelang  ihm  nicht;  von  den  Athenern  mit  Waffen- 
gewalt aus  Byzantion  vertrieben  (oben  S.  66),  mußte  er  sich 
nach  Kolonae  in  der  Troas  zurückziehen.  Hier  soll  er  mit  den 
Persern  in  Verbindung  getreten  sein;  wir  begreifen  freilich 
nicht,  welche  Hilfe  er  sich  von  einer  Macht  versprechen  konnte, 
die  nicht  einmal  ihr  eigenes  Gebiet  gegen  die  Athener  zu 
schützen  imstande  war.  Bald  rief  ihn  der  Befehl  der  Ephoren 
nach  Sparta  zurück.  Er  dachte  jetzt  auf  revolutionärem  Wege 
sein  Ziel  zu  erreichen  und  wiegelte  die  Heiloten  mit  dem 
Versprechen  von  Freiheit  und  Bürgerrecht  zur  Empörung  auf. 
Nun  endlich  schritten  die  Ephoren  offen  gegen  den  Regenten 
ein;  die  angeblichen  Beziehungen  zu  Persien  mußten  den 
Vorwand  abgeben.  Pausanias  wußte,  was  ihm  diesmal  bevor- 
stand und  entzog  sich  der  Gefangenschaft  durch  die  Flucht 
in  den  Tempel  der  Athena  Chalkioekos;  doch  die  Ephoren 
ließen  den  Eingang  vermauern,  und  der  Sieger  von  Plataeae 
fand  sein  Ende  durch  Hunger  ^.  —  Etwa  gleichzeitig  erfolgte 
auch  der  Sturz  seines  Amtsgenossen  Leotychidas  (469).  Da 
man  ihm  sonst  nichts  anhaben  konnte,  griff  man  auf  seinen 
thessalischen  Feldzug  zurück;  er  habe  sich  damals  von  den 
Aleuaden  bestechen  lassen.  Dafür  wurde  der  König  jetzt 
vor  Gericht  gestellt,  schuldig  gesprochen  und  seiner  Würde 
entsetzt;  er  ist  in  Tegea  in  der  Verbannung  gestorben  ^. 

So  war  das  Ephorat  in  dem  Kampfe  gegen  das  König- 
tum Sieger  gebheben;  die  Helden  des  Perserkrieges  waren 
aus  dem  Wege  geräumt.  Den  Thron  nahmen  zwei  Jünglinge 
ein,  Leotychidas'  Enkel  Archidamos  und  Leonidas'  Sohn 
Pleistarchos;  von  dieser  Seite  war  keine  Gefahr  für  die  be- 


1  Thuk.  I  128—134,  vgl.  unten  2.  Abt.  §  57  f.  (Der  Verrat  des  Pausanias) 
und  über  die  Chronologie   §  70. 

2  Herod.  VI  72  (daraus  Paus.  III  7,  8),  Plut.  v.  Herod.  Schlechtigkeit  21 
S.  859.     Weiteres  unten  2.  Abt.   §  72. 


Pausanias'  Sturz.  —  Unterwerfung  Arkadiens.  —  Der  Heilotenaufstand.     143 

stehende  Verfassung  zu  fürchten.  Es  hat  zwei  Jahrhunderte 
gedauert,  ehe  wieder  ein  König  es  wagte,  sich  gegen  die  Ephoren- 
macht  aufzulehnen. 

Jetzt  endhch  konnte  Sparta  daran  denken,  seine  wan- 
kende Hegemonie  im  Peloponnes  aufs  neue  zu  befestigen. 
Das  lakedaemonische  Heer  rückte  in  Arkadien  ein,  und  bei 
Tegea  wurden  die  verbündeten  Argeier  und  Tegeaten  aufs 
Haupt  geschlagen;  nach  einem  zweiten  Siege  der  Spartaner 
bei  Dipaea  am  Westabhang  des  Maenalon  kehrte  die  ganze 
Landschaft  zum  Gehorsam  zurück  (466).  Spartas  Ober- 
herrschaft über  den  Peloponnes  war  jetzt  in  demselben  Um- 
fange wieder  hergestellt,  wie  sie  zur  Zeit  der  Perserkriege 
bestanden  hatte;  und  für  mehr  als  ein  Menschenalter,  bis 
zum  großen  Kriege  gegen  Athen,  haben  die  peloponnesischen 
Bundesgenossen  keinen  Versuch  mehr  gemacht,  sich  dieser 
Abhängigkeit  zu  entziehen  ^. 

Unter  den  Heiloten  aber  gärte  es  weiter,  trotz  der 
energischen  Maßregeln  der  Regierung,  die  den  schuldigen 
oder  verdächtigen  gegenüber  selbst  das  Asylrecht  der  Tempel 
nicht  achtete.  Da  geschah  es,  daß  Sparta  von  einem  furcht- 
baren Erdbeben  getroffen  wurde,  das  fast  alle  öffentlichen 
und  Privatgebäude  niederwarf  und  einen  großen  Teil  der 
Bevölkerung  unter  den  Trümmern  begrub  (464)  ^.  Diese 
Katastrophe  brachte  die  längst  vorbereitete  Empörung  zum 
Ausbruch.  Im  eigentlichen  Lakonien  freiHch  konnte  der 
Aufstand  keine  rechte  Verbreitung  gewinnen,  da  die  Perioeken- 
städte  Sparta  treu  blieben;  dagegen  stand  das  Land  jenseits 
des  Taygetos,  das  alte  Messenien,  bald  fast  ganz  gegen  seine 
spartanischen  Herren  in  Waffen,  denn  es  gab  hier  nur  wenige 
Perioekengemeinden,  und  von  diesen  nahm  eine  der  wichtigsten, 
Thuria,    an    der  Erhebung  teil  ^.      Aber  mochten  auch   die 


^  Herod.  IX  35,  Isokr.  Archid.  99,  Polyaen.  II  10,  3;  über  Mantineia 
Xen.  Hell.  V  2,  3.     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  71. 

-  Thuk.  I  128.    Diod.  XI  63  f.    Plut.  Kim.  16,  unten  2.  Abt.  §  74. 

3  Thuk.  I  101,  2.  Die  übrigen  messenischen  Perioeken  blieben  Sparta 
treu,  bis  auf  die  Ai6aifi(;,  die  sonst  nicht  genannt  werden.  Wenn  der  Name 
nicht  verschrieben  ist,  mag  die  Stadt  bei  diesem  Aufstande  zugrunde  gegangen  sein 


144  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Heiloten  in  der  ersten  Verwirrung  einige  Erfolge  erringen, 
auf  die  Dauer  konnten  sie  der  militärischen  Disziplin  der 
Spartiaten  unmöglich  gewachsen  sein.  Nach  einer  Niederlage 
beim  sogenannten  ,,Isthmos"  mußten  sie  das  offene  Land 
aufgeben  und  sich  auf  den  Berg  Ithome  zurückziehen,  der 
wie  eine  Akropolis  in  der  Mitte  Messeniens  aufragt,  und  schon 
einmal  vor  einem  viertel  Jahrtausend  ihren  Vorfahren  im 
Kriege  gegen  Sparta  Zuflucht  gewährt  hatte.  Hier,  wo  sie  alle 
Vorteile  des  Geländes  für  sich  hatten,  leisteten  sie  den  Spar- 
tanern erfolgreichen  Widerstand.  Der  Krieg  begann  sich 
in  die  Länge  zu  ziehen;  und  bei  dem  Ungeschick,  das  die 
Lakedaemonier  von  jeher  im  Belagerungskriege  gezeigt 
hatten,  war  nicht  abzusehen,  wie  lange  Zeit  die  Niederwerfung 
des  Aufstandes  in  Anspruch  nehmen  würde.  Und  doch  war 
Gefahr  im  Verzuge;  denn  so  lange  die  Messenier  unbezwungen 
auf  Ithome  standen,  war  Spartas  Aktionsfähigkeit  nach 
außen  hin  lahm  gelegt.  So  entschloß  man  sich  in  Sparta, 
nicht  nur  die  peloponnesischen  Bundesgenossen  gegen  die 
Messenier  aufzubieten,  sondern  auch  Athens  Bundeshilfe 
in  Anspruch  zu  nehmen  ^. 

Dort  war  in  den  ersten  Jahren  nach  Salamis  Themistokles 
der  einflußreichste  Staatsmann  geblieben.  Er  war  es,  der 
nach  dem  Abzug  der  Perser  den  Wiederaufbau  der  Stadt 
leitete  ^  und  die  Befestigung  des  Peiraeeus  zu  Ende  führte, 
die  er  einst  als  Archon  begonnen  hatte  ^;  wir  können  nicht 
zweifeln,  daß  auch  die  Organisation  des  Seebundes  zum  großen 
Teile  sein  Werk  war  *.  Aber  eben  diese  Stellung  an  der  Spitze 
des  Staates  machte  es  ihm  unmöglich,  Athen  auf  längere  Zeit 


^  Thuk.  I  101  f.  Verniclitung  einer  spartanischen  Abteilung  bei  Steny- 
klaros  Herod.  IX  64,  Sieg  der  Spartaner  -rrpöi;  'l09|uuj  Herod.  IX  35,  was  schon 
Paus.  III  11,  8  so  gelesen  hat,  vgl.  Wilamowitz,  Aristot.  II  296,  10.  Wo  freilich 
dieser  Isthmos  gelegen  hat,  wissen  wir  nicht,  er  muß  aber  im  SO.  von  Ithome 
gesucht  werden.  Klar  ist  jedenfalls,  daß  es  sich  bei  Herodot  um  eine  Feldschlacht 
handelt. 

2  Thuk.  I  89—93. 

*"  Thuk.  I  93. 

*  Vgl.  Timokreon  fr.  1  mit  meinen  Bemerkungen  Rh.  Mus.  XLIII,  1888, 
S.  108  f.,  und  unten  2.  Abt.   §  53. 


Der  Heilotenaufstand.  —  Themistokles'  Sturz.  145 

ZU  verlassen,  und  persönlich  die  Führung  des  Perserkrieges 
zu  übernehmen,  seit  Asien  und  Thrakien  zum  Kriegsschau - 
platze  geworden  waren.  So  verblaßte  der  Ruhm  des  Siegers 
von  Salamis  allmählich  vor  den  frischen  Lorbeeren  Kimons. 
Dazu  kam,  daß  das  gute  Einvernehmen  mit  Sparta,  das  zur 
Zeit  des  persischen  Einfalles  geherrscht  hatte,  naturgemäß 
sich  zu  trüben  begann,  seit  Athen  durch  die  Stiftung  des 
Seebundes  Sparta  als  ebenbürtige  Macht  zur  Seite  getreten 
war.  Es  ist  begreiflich,  daß  man  in  Sparta  die  Ursache  dieser 
Veränderung  nicht  in  der  Verschiebung  der  Machtverhältnisse 
suchte,  sondern  in  der  Politik  des  leitenden  athenischen  Staats- 
mannes; und  allerdings  mußte  ein  so  scharf bhckender  Politiker 
wie  Themistokles  früher  als  jeder  andere  die  Unmöglichkeit 
erkennen,  daß  Athen  und  Sparta  auf  die  Dauer  friedlich 
nebeneinander  bestehen  könnten.  Infolgedessen  arbeitete 
nun  auch  der  spartanische  Einfluß  in  Athen  gegen  Themistokles; 
und  dieser  Einfluß  war  noch  immer  sehr  mächtig.  Kimon, 
der  junge  ruhmgekrönte  Feldherr,  der  unter  den  Eindrücken 
der  Perserkriege  zum  Manne  gereift  war  und  das  Heil  für 
Hellas  nur  in  der  engen  Verbindung  Athens  mit  Sparta  er- 
blickte, wurde  dadurch  in  Gegensatz  zu  Themistokles  ge- 
drängt; ohnehin  glaubte  er  durch  seine  Taten  Anspruch  auf 
die  erste  Stelle  im  Staate  zu  haben.  Vor  allem  arbeitete 
natürlich  die  von  den  Alkmeoniden  geleitete  Volkspartei 
an  dem  Sturz  ihres  alten  Gegners,  und  auch  Aristeides  ließ 
die  günstige  Gelegenheit  nicht  vorübergehen,  für  seinen 
Ostrakismos  an  dessen  Urheber  Vergeltung  zu  üben  ^.      So 


^  Kimon  und  Aristeides  Gegner  des  Themistokles  nach  Plut.  Kim.  10, 
■während  Arist.  25  Alkmeon  und  Kimon  als  solche  genannt  werden,  und  Aristeides 
sich  zurückgehalten  hätte.  Alkmeon  ist  hier  mit  seinem  Sohne  AeujßÜJTr)^ 
A\k|H^ujvO(;  ÄYpuXf|6ev  verwechselt,  der  später  die  Eisangelie  gegen  Themi- 
stokles einbrachte  (Krateros  fr.  5,  FHG.  II  619,  Plut.  Them.  23).  Kimon  hat 
später  Epikrates  aus  Acharnae  zum  Tode  verurteilen  lassen,  weil  er  Themistokles 
dessen  Frau  und  Kinder  nachgesandt  hatte  (Stesimbrotos  bei  Plut.  Kim.  24). 
Wenn  Plut.  Kim.  10  angegeben  wird,  Kimon  und  Aristeides  seien  Themistokles 
entgegengetreten  irdpav  toO  biovxoc,  diraipovTi  t^v  brmoKpaTiav,  so  liegt 
dem  die  Vorstellung  zugrunde,  Themistokles'  Flottengesetz  sei  eine  demo- 
kratische   Maßregel   gewesen,    was   völlig    verkehrt  ist    (2.  Abt.  §  t2).     Auf 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  10 


146  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

vielen  Feinden  war  Themistokles  nicht  gewachsen.  Es  kam 
zum  Scherbengericht  —  wie  es  scheint  470  — ,  und  diesmal 
entschied  das  Volk  gegen  Themistokles.  Der  Mann,  der  Athens 
Größe  begründet  hatte,  ging  in  die  Verbannung  nach  Argos  ^. 
Aber  auch  hier  sollte  seines  Bleibens  nicht  sein.  Die 
Lakedaemonier  erhoben  in  Athen  Anklage  gegen  ihn,  er 
habe  sich  am  Verrat  des  Pausanias  beteiligt;  und  es  ist  in 
der  Tat  wahrscheinlich,  daß  er  den  Plänen,  die  auf  einen 
Umsturz  der  Dinge  im  Peloponnes  hinzielten,  nicht  fern- 
gestanden hatte.  Die  in  Athen  herrschende  Partei  aber  ergriff 
begierig  den  Vorwand,  ihren  Feind  für  immer  zu  vernichten, 
Themistokles  wurde  vor  der  Volksversammlung  des  Hoch- 
verrats angeklagt  ^,  in  Argos  Auslieferung  verlangt,  der 
Verbannte  durch  ganz  Hellas  gehetzt,  bis  er  schließlich  zu 
dem  wurde,  wozu  seine  Feinde  ihn  machen  wollten,  und  die 
einzige  Zuflucht  aufsuchte,  die  ihm  auf  der  Welt  noch  offen 
stand,  den  Schutz  des  Großkönigs  (464).  Solch  einflußreiche 
Politiker  waren  am  persischen  Hofe  stets  willkommen,  da 
sie  eventuell  wichtige  Dienste  leisten  konnten;  König  Arta- 
xerxes,  der  soeben  seinem  Vater  Xerxes  auf  dem  Thron 
der  Achaemeniden  gefolgt  war,  nahm  also  Themistokles 
freundlich  auf  und  verlieh  ihm  das  Fürstentum  von  Magnesia 
am  Maeandros,  hart  an  der  Grenze  des  athenischen  Bundes- 
gebietes. Dort  hat  er  bis  zu  seinem  Tode  geherrscht,  so  viel 
wir  sehen,  unbelästigt  von  den  Athenern,  was  mit  dem  kurz 


derselben  Vorstellung  beruht  die  Anekdote  bei  Aristot.  ATT.  25,  3,  daß  Themi- 
stokles beim  Sturz  des  Areopags  durch  Ephialtes  mitgewirkt  habe  (vgl.  unten 
2.  Abt.  §  54).  Ephialtes  muß  vielmehr  der  Alkmeonidenpartei  angehört  haben 
tmd  also  Themistokles'  Gegner  gewesen  sein. 

1  Thuk.  I  135,  3,  Plat.  Gorg.  516  d,  Diod.  XI  55,  Plut.  Them.  22.  Über 
die   Chronologie  unten  2.   Abt.    §   73. 

^  Thuk.  I  135  sagt  von  Themistokles  Ixuxn  Y^P  liöxpaKiaiLi^voi;,  xal 
?Xiwv  biaixav  |ndv  ^v  "ApTei,  ^iTicpoiTUJv  b^  Kai  dq  ty\v  aKkr\v  TTeXoTTOvvricfov; 
Vergnügungsreisen  werden  das  nicht  gewesen  sein.  Über  die  Anklage  und  den 
Prozeß  außerdem  Diod.  XI  55,  Plut.  Them.  23,  Krateros  fr.  5,  aus  dem  sich 
ergibt,  daß  es  sich  um  ein  Eisangelieverfahren  handelte,  also  die  Volksver- 
sammlung das  Urteil  gefällt  hat.  Der  Prozeß  vor  dem  Ostrakismos  bei  Diod. 
XI  54  ist  ein  Duplikat,  für  das  Ephoros  nicht  verantwortlich  zu  sein  braucht. 


Themistokles'  Sturz.  —  Kimon.  —  Der  thasische  Aufstand.  147 

darauf  erfolgten  Bruch  zwischen  Athen  und  Sparta  zusammen- 
hängen wird  ^. 

Nach  dem  Ostrakismos  des  Themistokles  war  Kimon 
unbestritten  der  erste  Mann  in  Athen,  um  so  mehr,  als  Aristeides 
und  Xanthippos  um  diese  Zeit  starben,  oder  doch  vom  poli- 
tischen Schauplatze  abtraten  ^.  Ein  echter  Junker  vom  Kopf 
bis  zur  Zehe,  ritterlich,  aber  etwas  beschränkten  Geistes, 
und  den  Freuden  des  Bechers  und  der  Liebe  mehr  ergeben 
als  gut  sein  mochte,  dankte  er  seine  Popularität  ebenso  sehr 
wie  seinen  Kriegstaten  der  Leutseligkeit,  mit  der  er  auch  dem 
geringsten  Bürger  begegnete,  und  der  fast  unbegrenzten 
Freigebigkeit,  zu  der  ihn  sein  fürstliches  Vermögen  in  den 
Stand  setzte  ^.  Und  eben  jetzt  mußte  der  große  Sieg  am 
Eurymedon  (oben  S.  68)  ihn  noch  mehr  in  seinem  Ansehen 
befestigen.  Für  das  Reich  aber  hatte  dieser  Sieg  die  Folge, 
daß  das  gute  Einvernehmen  zwischen  Athen  und  seinen 
Bundesstädten  sich  zu  lockern  begann;  schien  doch  die  Perser- 
gefahr auf  absehbare  Zeit  beseitigt,  und  damit  die  Unter- 
ordnung unter  Athen  weniger  notwendig,  während  man 
andererseits  in  Athen  die  Zügel  straffer  anzuziehen  begann. 


^  Thuk.  I  135 — 138,  anekdotenhaft  ausgeschmückt;  daraus,  mit  einigen 
meist  wertlosen  Zusätzen,  Diod.  XI  55—58,  Plut.  Them.  22—31.  Als  Fürst 
von  Magnesia  hat  Themistokles  Didrachmen  attischen  Fußes  im  eigenen 
Namen  geprägt  (Weil,  Themistokles  als  Herr  von  Magnesia,  Corolla  Numism. 
für  B.  Head,  Oxford  1906,  S.  301  ff.);  über  ein  von  ihm  dort  gestiftetes  Fest 
Possis  aus  Magnesia  bei  Athen.  XIII  533  e.  Myus  und  Lampsakos,  die  ihm 
ebenfalls  vom  Könige  geschenkt  sein  sollen,  müssen  damals  zum  delischen 
Bunde  gehört  haben,  und  es  ist  also  nicht  wohl  denkbar,  daß  Themistokles  dort 
Hoheitsrechte  ausgeübt  hat.  Immerhin  haben  seine  Nachkommen  in  Lampsakos 
Ehrenrechte  gehabt  (Athen.  Mitt.  VI,  1881,  S.  103),  er  muß  sich  also  um  die 
Stadt  irgendwie  verdient  gemacht  haben. 

^  Die  Anekdote  bei  Plut.  Kim.  25  (aus  Theophrast)  beweist  keineswegs, 
daß  Aristeides  zur  Zeit  der  Überführung  des  Bundesschatzes  aus  Delos  nach 
Athen  noch  am  Leben  war.  Nach  Nepos  (Arist.  3)  wäre  er  im  4.  Jahre  nach 
dem  Ostrakismos  des  Themistokles,  also  etwa  ^68/1,  gestorben,  aber  wir  wissen 
nicht,   worauf   dieser   Ansatz   sich   gründet. 

^  Plutarch  Kim.  4.  5  (nach  Melanthios,  Archelaos,  Stesimbrotos),  9  (nach 
Ion),  10  (nach  Kratinos  und  Kritias),  15  (nach  Eupolis);  Theopomp  bei  Athen. 
XIII  533  (FHG.  I  293). 

10* 


148  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

So  erhob  sich  jetzt  Thasos,  die  mächtigste  Bundesstadt  im 
Norden  des  Aegaeischen  Meeres;  den  äußeren  Anlaß  gaben 
Streitigkeiten  um  die  Goldbergwerke  an  der  gegenüber- 
liegenden thrakischen  Küste.  Kimon  war  gerade  damit  be- 
schäftigt, die  letzten  persischen  Besatzungen  aus  dem  Chersones 
zu  vertreiben  ^;  als  das  getan  war,  wandte  er  sich  gegen  Thasos, 
schlug  die  feindliche  Flotte  und  schloß  dann  die  Stadt  selbst  ein. 
Nun  schritten  die  Athener  dazu,  das  goldreiche  Gebiet 
am  Pangaeon  zu  besetzen,  das  den  Siegespreis  bilden  sollte. 
Schon  vor  einem  Jahrzehnt,  nach  der  Einnahme  von  Eion, 
hatten  sie  den  Versuch  gemacht,  hier  eine  Kolonie  zu  gründen, 
auf  der  Stelle,  wo  später  Amphipolis  erbaut  wurde;  das  Unter- 
nehmen war  damals  an  dem  Widerstände  der  kriegerischen 
Thraker  gescheitert.  Jetzt  sollte  es  mit  stärkeren  Kräften 
zur  Ausführung  gebracht  werden.  Zunächst  ging  auch  alles 
nach  Wunsch;  als  aber  das  Expeditionskorps  dann  tiefer 
ins  Innere  eindrang,  wurde  es  bei  Drabeskos  von  den  Edonern 
angegriffen  und  bis  zur  Vernichtung  geschlagen  (465).  Es 
war  die  schwerste  Katastrophe,  die  bis  dahin  ein  athenisches 
Heer  betroffen  hatte  ^.  König  Alexandros  von  Makedonien 
scheint  dabei  die  Hände  im  Spiel  gehabt  zu  haben;  er  hatte, 
nach  dem  Abzug  der  Perser,  sein  Reich  bis  an  den  Strymon 
ausgedehnt,  zog  reiche  Einkünfte  aus  den  Bergwerken  dieser 
Gegend  und  konnte  also  den  Versuch  der  Athener,  sich  hier 
festzusetzen,  nur  sehr  ungern  sehen.  Kimon  mußte  die  Sache 
hingehen  lassen;  er  war  bei  weitem  nicht  stark  genug,  einen 
Zug  ins  makedonische  Binnenland  zu  unternehmen,  und  mit 


1  Plut.  Kim.  14,  und  die  Verlustliste  CIA.  I  432.  IV  S.  107,  mit  Köhlers 
Bemerkungen,  Hermes  XXIV,  1889,   S.  85. 

2  Thuk.  1 100,  2.  3  (daraus  Diod.  XI  70,5.  XII  68,  2),  Schol.  Aesch.  vdGes. 
31,  Herod.  IX  75,  Isokr.  vFr.  86.  Die  Zahl  von  10  000  Kolonisten,  die  Thuky- 
dides  und  Isokrates  geben,  ist  natürlich  sehr  übertrieben;  aber  eben  diese  Über- 
treibung beweist  die  Schwere  der  Niederlage.  Drabeskos  (Daravescos)  lag  nach 
der  Peutingerschen  Tafel  an  der  Straße  von  Philippoi  nach  Herakleia  Sintike, 
12  Milien  von  ersterer  Stadt  und  8  vom  Strymon;  die  eine  dieser  Zahlen  muß 
verderbt  sein,  und  zwar  die  erstere,  oder  es  ist  zwischen  Phüippis  und  Daravescos 
eine  Station  ausgefallen ;  denn  Drabeskos  lag  nach  Appian  Bürgerkr.  IV  105 
nicht  weit  von  Myrkinos  und  dem  Strymon.  Vgl.  Perdrizet,  Klio  X,  1910,  S.  14  f. 


Drabeskos.  —  Unterwerfung  von  Thasos.  —  Ephialtes.  149 

der  Flotte  allein  war  dem  Könige  gegenüber  nicht  viel  aus- 
zurichten ^. 

Die  Thasier  faßten  nun  neuen  Mut  und  wandten  sich 
um  Hilfe  nach  Sparta.  Auch  dort  tat  die  Katastrophe  von 
Drabeskos  ihre  Wirkung;  die  Ephoren  sollen  versprochen 
haben,  im  nächsten  Sommer  ein  Heer  in  Attika  einrücken 
zu  lassen  und  so  der  belagerten  Stadt  Luft  zu  machen;  doch 
das  Erdbeben  und  der  Heilotenaufstand  heßen  es  nicht  dazu 
kommen.  So  blieb  den  Thasiern  nichts  übrig,  als  sich  in  das 
Unvermeidliche  zu  schicken  und  mit  Athen  ihren  Frieden  zu 
machen  (464).  Die  Bedingungen  waren  sehr  schwer;  Thasos 
mußte  seine  festländischen  Besitzungen  abtreten,  seine  Be- 
festigungen niederreißen,  seine  Flotte  ausliefern,  die  Kriegs- 
kosten erstatten  und  sich  zur  Tributzahlung  verpflichten. 
Den  übrigen  Bundesgenossen  war  ein  warnendes  Beispiel 
gegeben  2. 

Während  Kimons  langer  Abwesenheit  hatte  die  radikale 
Demokratie  in  Athen  von  neuem  das  Haupt  erhoben.  Das 
unnatürliche  Bündnis,  das  der  hochgeborene  Feldherr  mit 
der  Volkspartei  zu  Themistokles'  Sturze  geschlossen  hatte, 
mußte  in  dem  Augenblick  auseinanderfallen,  als  der  Zweck 
erreicht  war  und  der  gemeinsame  Gegner  durch  seine  Flucht 
zu  den  Persern  sich  selbst  das  politische  Todesurteil  gesprochen 
hatte.  Die  Alkmeoniden  allerdings  traten  jetzt  in  den  Hinter- 
grund; sie  hatten  keinen  fähigen  Mann  unter  sich,  und  die 
Zeiten  waren  nicht  mehr,  wo  das  bloße  Ansehen  eines  Ge- 


^  Plut.  Kim.  14.  Zur  Zeit  des  Dareios  war  das  Land  rechts  vom  Strymon 
noch  nicht  makedonisch;  die  Grenze  bildete  das  Gebirge  Dysoron  (Herod.  V 
16.  17);  erst  König  Alexandres  hat  dieses  Gebiet  erobert  (Herod.  V  17,  Thuk. 
II  99,  vgl.  lustin.  VII  4,  1),  er  soll  auch  die  Stätte  des  späteren  Amphipolis 
besetzt  haben   (Philipps    Brief    [Demosth.   XII]   21). 

2  Thuk.  I  100.  101,  Plut.  Kim.  14,  Diod.  XI  70.  Über  die  Chronologie 
unten  2.  Abt.  §  74.  Da  das  spartanische  Hilfsversprechen,  wie  Thuk.  I  101,  2 
ausdrücklich  sagt,  nur  im  geheimen  (Kpuq)a  Tiiv  ABrjvaiwv)  gegeben  wurde 
und  nicht  zur  Ausführung  kam,  so  kann  es  sich  höchstens  um  eine  private  Zusage 
der  Ephoren  gehandelt  haben,  die  noch  der  Ratifizierung  durch  das  Volk  be- 
dürft hätte,  und  es  ist  unter  diesen  Umständen  sehr  zweifelhaft,  ob  überhaupt 
an   der   ganzen   Sache   etwas   Wahres   ist. 


150  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

schlechtes  genügt  hatte,  dessen  Oberhaupte  eine  leitende 
Stellung  im  Staate  zu  sichern.  So  trat  jetzt  an  die  Spitze 
der  Partei  Ephialtes,  ein  Mann,  der  seinen  Einfluß  ebensosehr 
seiner  über  allem  Zweifel  erhabenen  Integrität  verdankte, 
wie  der  unnachsichtHchen  Strenge,  mit  der  er  alle  Mißbräuche 
der  Verwaltung  vor  Gericht  verfolgte.  Infolgedessen  war 
er  zum  Strategen  erwählt  worden  und  als  solcher,  nach  der 
Schlacht  am  Eurymedon,  wohl  während  Kimons  thasischem 
Feldzuge,  gegen  die  Perser  in  See  gegangen,  ohne  übrigens 
Gelegenheit  zu  finden,  etwas  Bedeutendes  auszurichten  ^. 
Sein  politisches  Ziel  war  der  Sturz  des  Areopags,  der  einzigen 
Körperschaft  im  Staate,  deren  Mitglieder  auf  Lebenszeit 
saßen  und  damit  tatsächlich  von  jeder  Verantwortung  frei 
waren.  Daß  eine  so  zusammengesetzte  Behörde  so  ausgedehnte 
Machtbefugnisse  besaß,  widersprach  nicht  nur  dem  demo- 
kratischen Geist  der  Verfassung,  sondern  es  war  auch  ein 
Widersinn  geworden,  seit  das  Archontenamt  durch  das  Los 
besetzt  wurde,  also  jedem  beliebigen  Bürger  der  beiden  oberen 
Vermögensklassen  offen  stand  und  damit  den  letzten  Rest 
seiner  alten  Bedeutung  verloren  hatte.  Denn  der  Areopag 
ergänzte  sich,  wie  wir  wissen,  aus  den  Archonten,  die  ihr  Amt 
tadellos  verwaltet  hatten;  es  war  ein  Oberhaus  im  besten 
Sinne  des  Wortes,  eine  Versammlung  der  ersten  politischen 
Kapazitäten  des  Landes  gewesen,  solange  die  Archonten  durch 
Volkswahl  bestellt  wurden,  jetzt  aber  füllte  es  sich  mehr 
und  mehr  mit  dunkeln  Ehrenmännern,  und  die  Zeit  war  nicht 
fern,  wo  fast  nur  noch  solche  darin  sitzen  würden.  Natürlich 
mußte  das  Ansehn  des  Areopags  sich  dementsprechend  ver- 
mindern; eine  Beschränkung  seiner  Befugnisse  war  also  die 
logische  Konsequenz  der  Einführung  des  Loses  bei  der 
Archontenwahl. 

Zur  Durchführung  dieser  Reform  aber  war  es  unum- 
gänglich, Kimon  aus  seiner  leitenden  Stellung  zu  verdrängen; 
denn  er  und  seine  Partei  sahen  im  Areopag,  auch  wie  er  jetzt 
geworden  war,  den  letzten  Hort  der  konservativen  Interessen. 


1  Aristot.  ATT   25,  1;    28,  2;  Plut.  Kim.  10,  Per.  10;  über  seine  Fahrt 
^iT^KCiva  XeXiboviujv»  also  in  die  kyprischen  Gewässer,  Plut.  Kim.  13. 


Ephialtes.  —  Kimons  Prozeß.  —  Der  aegyptische  Aufstand.         151 

Man  zog  also  Kimon  bei  seiner  Rechenschaftsablage  über 
den  thasischen  Feldzug  vor  Gericht.  Die  Katastrophe  von 
Drabeskos  muß  in  Athen  einen  niederschmetternden  Eindruck 
gemacht  haben,  und  wenn  Kimon  auch  keine  direkte  Schuld 
daran  traf,  so  war  sie  doch  erfolgt,  während  er  den  Ober- 
befehl in  Thrakien  führte.  Daraufhin  wurde  Kimon  beschuldigt, 
er  habe  sich  von  König  Alexandros  bestechen  lassen.  An- 
kläger war  der  junge  Perikles,  dessen  Vater  Xanthippos  einst 
Kimons  Vater  Miltiades  vor  Gericht  gezogen  und  seine  Ver- 
urteilung durchgesetzt  hatte  (oben  S.  24);  er  sollte  sich 
hier  seine  ersten  politischen  Sporen  verdienen.  Doch  Kimons 
Ansehen  stand  fester,  als  die  Radikalen  geglaubt  hatten,  und  der 
Prozeß  endete  mit  seiner  Freisprechung  '•.  Der  Agitation 
gegen  den  Areopag  war  damit  zunächst  ein  Ende  gemacht. 
Kimon  dachte  nun  den  Perserkrieg  wieder  aufzunehmen; 
denn  eben  jetzt  bot  sich  eine  unvergleichlich  günstige  Gelegen- 
heit, einen  entscheidenden  Schlag  zu  führen.  Während  des 
thasischen  Krieges  war  König  Xerxes  gestorben,  und  erst 
nach  längeren  Wirren  war  es  seinem  Sohne  Artaxerxes  ge- 
lungen, festen  Besitz  von  der  Regierung  zu  nehmen  (464)  ^. 
Darüber  brach  in  Aegypten  ein  Aufstand  aus,  wie  einst  nach 
dem  Tode  des  Dareios.  An  die  Spitze  der  Bewegung  trat 
Inaros,  der  Fürst  der  Libyer  von  Mareia  in  der  Nähe  des 
späteren  Alexandrien  (463).  Der  Satrap  Achaemenes,  ein 
Oheim  des  Königs,  erlitt  bei  Papremis  im  westlichen  Teile 
des  Delta  eine  schwere  Niederlage  und  blieb  selbst  auf  dem 
Schlachtfeld.  So  lange  der  Aufstand  dauerte,  war  das  Perser- 
reich in  seiner  Aktionsfähigkeit  gehemmt,  und  so  schien  es 

^  Plut.  Kim.  14,  Per.  10,  Aristot.  ATT.  27,  1.  Das  juristische  Fundament 
der  Anklage  bildete  die  angebliche  Bestechung  durch  Alexandros;  das  politische 
Fundament  aber  muß  die  Niederlage  von  Drabeskos  gebildet  haben,  denn 
niemand  ist  so  töricht,  einen  siegreichen  Feldherrn  vor  Gericht  zu  ziehen.  Daß 
der  Plan,  am  Strymon  eine  Kolonie  zu  gründen,  von  Kimon  ausgegangen  war, 
ergibt  sich  daraus,  daß  die  beiden  Versuche,  die  dazu  gemacht  wurden,  mit 
Kimons  Anwesenheit  in  dieser  Gegend  zusammenfallen;  auch  sagt  es  Nepos 
(Cim.  2,  2)  ausdrücklich,  nur  daß  er  den  ersten  Versuch  mit  dem  zweiten  und 
mit  der  Gründung  von  Amphipolis  durch  Hagnon  zusammenwirft. 

2  Ktesias  29—31,  lustin.  III  1,  Diod.  XI  69,  Aristot.  Polit.  V  1311b. 
Zur   Chronologie   Ed.    Meyer,    Forschungen   II   482  ff. 


152  IV.  Abschnitt,  —  Die  Demokratie. 

nicht  schwer,  dem  Könige  Kypros  zu  entreißen,  das  einzige 
Gebiet  griechischer  Zunge,  das  noch  unter  seiner  Herrschaft 
stand.  Es  wurde  also  beschlossen,  im  nächsten  Sommer  eine 
Flotte  von  200  Schiffen  dorthin  in  See  gehen  zu  lassen  ^. 

Da  kam  das  Hilfsgesuch  Spartas  (oben  S.  144).  Das  gute 
Einvernehmen  zwischen  den  beiden  hellenischen  Vormächten 
zu  erhalten,  dem  die  Nation  es  zu  danken  hatte,  daß  sie  vom 
Perserjoch  frei  geblieben  oder  wieder  frei  geworden  war,  war 
stets  der  Angelpunkt  der  Pohtik  Kimons  gewesen;  war  doch 
eine  Fortführung  des  Perserkrieges,  wie  er  sie  plante,  nur 
unter  dieser  Voraussetzung  möglich.  In  den  letzten  Jahren 
waren  die  Beziehungen  zu  Sparta  kühler  geworden;  es  gab 
dort  eine  mächtige  Partei,  die  mit  Sorge  auf  die  beständigen 
Fortschritte  der  Athener  bhckte  und  bereit  war,  ihnen  bei  erster 
Gelegenheit  mit  den  Waffen  in  der  Hand  entgegenzutreten. 
Ohne  das  Erdbeben  wäre  es  vielleicht  schon  während  des 
thasischen  Aufstandes  dazu  gekommen  (oben  S.  149).  Eine 
Verweigerung  der  Bundeshilfe  seitens  Athens  mußte  dieser 
Partei  das  Übergewicht  geben;  auch  war  es  klar,  daß  Sparta 
über  kurz  oder  lang  auch  allein  mit  den  Messeniern  fertig 
werden  würde.  So  trat  denn  Kimon  mit  dem  ganzen  Gewicht 
seines  Ansehens  für  die  Gewährung  des  Hilfsgesuchs  ein. 
Vergebens  erhob  Ephialtes  seine  Stimme  gegen  das  geplante 
Unternehmen;  die  Erinnerung  an  die  alte  Waffenbrüderschaft 
war  noch  zu  frisch,  als  daß  er  hätte  durchdringen  können. 
Es  wurde  also  beschlossen,  4000  Hopliten,  ein  gutes  Drittel 
des  athenischen  Gesamtaufgebots,  den  Spartanern  zu  Hilfe 
zu  senden;  Kimon  selbst  übernahm  den  Befehl  (Frühjahr 
462)  2.  Etwa  gleichzeitig  ging  die  große  Flotte  nach  Kypros  ab. 

1  Thuk.  I  104,  Herod.  III  12.  VII  7.  97,  Ktesias  32,  Diod.  XI  71.  74.  Da 
Herodot  von  einer  Teilnahme  der  Athener  an  der  Schlacht  bei  Papremis  nichts 
weiß,  und  Inaros  nach  Thuk.  1 104,  1  die  Athener  erst  zu  Hilfe  rief,  als  er  bereits 
den  größten  Teil  des  Landes  zum  Abfall  gebracht  hatte,  so  scheint  die  Schlacht 
vor  der  Ankunft  der  Athener  geliefert  zu  sein,  obgleich  Diodor  das  Gegenteil 
angibt. 

2  Thuk.  1 102,  1,  Plut.  Kim.  16  am  Ende.  Die  Zahl  nach  Aristoph.  Lysistr. 
1143;  Thukydides  sagt  nur  7T\r|0ei  OUK  öMyuj.  Über  die  Chronologie  unten 
2.  Abt.   §  76. 


Kimon  vor  Ithome.  —  Bruch  mit  Sparta.  —  Sturz  des  Areopags.     153 

Indes  die  Resultate  entsprachen  sehr  wenig  den  Er- 
wartungen, die  man  in  Sparta  gehegt  hatte.  Gegenüber 
den  Felsen  von  Ithome  war  auch  die  vielgerühmte  Belagerungs- 
kunst  der  Athener  zunächst  ohnmächtig.  Dazu  kam  weiter, 
daß  in  dem  athenischen  Heer  so  manche  Elemente  sich  fanden, 
die  mit  Ephialtes  der  Ansicht  waren,  es  könne  für  Athen 
gar  nichts  Vorteilhafteres  geben,  als  einen  Sieg  der  Messenier. 
Genug,  in  Sparta  faßte  man  Verdacht  gegen  die  athenischen 
Bundesgenossen;  und  da  zu  einer  bloßen  Einschließung  der 
feindlichen  Stellung  auch  die  peloponnesischen  Kontingente 
ausreichend  waren,  so  wurde  Kimon  eröffnet,  daß  man  seiner 
Dienste  nicht  weiter  bedürfe  ^. 

Die  Rücksendung  des  attischen  Heeres  bewirkte  in 
Athen  einen  völligen  Umschwung  der  politischen  Lage.  Die 
öffentliche  Meinung  war  erbittert  über  die  erlittene  De- 
mütigung; und  diese  Erbitterung  wandte  sich  naturgemäß 
gegen  den  Mann,  der  die  Verantwortung  für  den  Zug  nach 
Ithome  trug,  und  die  Partei,  deren  Führer  er  war.  Kimon 
wurde  von  der  leitenden  Stellung  herabgestürzt,  die  er  seit 
dem  Ostrakismos  des  Themistokles  eingenommen  hatte; 
er  mußte  es  geschehen  lassen,  daß  das  Bündnis  mit  Sparta 
aufgesagt  wurde  und  Athen  dafür  mit  Spartas  Todfeinden, 
den  Argeiern,  in  Bund  trat.  Es  ist  ein  charakteristisches 
Zeichen  der  herrschenden  Stimmung,  daß  selbst  ein  vornehmer 
Mann  wie  Alkibiades,  in  dessen  Hause  die  Vertretung  der 
spartanischen  Interessen  in  Athen  (die  sogenannte  Proxenie) 
erblich  war,    dieses   Ehrenamt  jetzt   niederlegte  2. 

Nun  war  für  Ephialtes  die  Bahn  frei,  sein  Reformprogramm 
durchzuführen.  Er  beantragte  also,  die  Kompetenz  des  Areo- 
pags auf  die  Blutgerichtsbarkeit  zu  beschränken,  die  man  ihm 
aus  sakralen  Rücksichten  nicht  wohl  entziehen  konnte;  alle 
politische  Kompetenz  aber,  die  der  Areopag  bisher  ausgeübt 
hatte,  sollte  dem  Rate,  der  Volksversammlung  und  besonders 
dem    Geschworenengericht    der    Heiiaea    übertragen    werden, 

1  Thuk.  1  102,  Plut.  Kim.  16  f.    Diod.  XI  64. 

^  Thuk.  1 102,  4.  Über  Alkibiades  (den  Großvater  des  berühmten  Feldherrn) 
Thuk.  V  43,  2;  die  Sache  kann  nur  in  diese  Zeit  gehören. 


154  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

das,  wie  wir  wissen,  aus  allen  athenischen  Bürgern  von  über 
30  Jahren  erlost  wurde  (oben  IIS.  365).  Die  große  Zahl  der 
Richter  —  bei  wichtigen  Sachen  bis  1500  —  ebenso  wie  die 
Neubesetzung  in  jedem  einzelnen  Falle  sollte  Gewähr  dafür 
geben,  daß  das  Urteil  der  öffentlichen  Meinung  entsprechen 
würde  ^. 

Natürlich  machten  Kimon  und  seine  Anhänger  diesen 
Reformen  die  heftigste  Opposition,  und  ihr  Einfluß  war  noch 
immer  so  groß,  daß  es  nötig  wurde,  die  Entscheidung  dem 
Scherbengericht  anheimzustellen  ^.  Doch  Kimon  unterlag; 
der  Sieger  am  Eurymedon  mußte  in  die  Verbannung  gehen, 
und  Ephialtes'  Anträge  wurden  zum  Gesetze  erhoben  (461)  ^. 
Vergebens  griffen  die  Konservativen  zum  letzten  Mittel,  dem 
Meuchelmord.  Zwar  Ephialtes  fiel  ^,  ein  Märtyrer  der  Idee, 
der  er  sein  Leben  geweiht  hatte;  aber  sein  Werk  überlebte 
ihn,  und  die  Volksgerichte  sind  seitdem  das  Palladium  der 
athenischen  Freiheit  geblieben. 

Die  Leitung  der  Partei  und  damit  im  wesentlichen 
auch  die  Leitung  des  Staates  ging  jetzt  auf  Perikles  über, 
den  Sohn  des  Xanthippos  aus  Cholargos,  des  Siegers  von 
Mykale.  Er  war  ein  verhältnismäßig  noch  junger  Mann,  etwa 
am  Anfang  oder  in  der  Mitte  der  dreißiger  '",  und  er  hatte 
noch  nie  Gelegenheit  gehabt,  im  Kriege  sich  auszuzeichnen, 
wie  er  denn  überhaupt  eine  hervorragende  militärische  Be- 

1  Aristot.  ATT.  25,  Polit.  II  1274  a,  Philochoros  fr.  141  b,  Plut.  Kim.  15, 
Diod.  XI  77.  Die  Anekdote  bei  Aristot.  a.  a.  0.,  wonach  Themistokles  neben 
Ephialtes  beim  Sturz  des  Areopags  die  Hauptrolle  gespielt  hätte,  ist  historisch 
wertlos,  wie  schon  die  chronologische  Unmöglichkeit  der  Sache  zeigt,  s.  unten 
2.  Abt.  §  54. 

■^  Plut.  Kimon  17,  Perikles  9,  vgl.  Kimon  15.  Es  ist  klar,  daß  der  Ostra- 
kismos  der  Verfassungsreform  vorausgehen  mußte. 

^  Das  Jahr  (Archon  Konon,  462/1)  gibt  Aristot.  ATT.  25,  2.  Da  der  Ostra- 
kismos  im  Frühjahr  stattfand,  wird  die  Durchführung  der  Reform  gegen  Ende 
des  attischen  Amtsjahres  erfolgt  sein. 

*  Aristot.  a.  a.  O,  25,  4  (daraus  Plut.  Per.  10),  Diod.  XI  77,  Antiphon 
V.  Herodes  Ermord.  67.  Aus  Arist.  a.  a.  0.  26,  5  ergibt  sich,  daß  Ephialtes  noch 
im  Jahre  der  Reform  selbst  ermordet  wurde. 

*  Aristot.  ATT.  27,  1.  Seine  Geburt  muß  in  das  erste  Jahrzehnt  des  Jahr- 
hunderts fallen,  s.  unten  2.  Abt.  §  110. 


Sturz  des  Areopags.  —  Perikles.  —  Richtersold.  155 

gabung  nicht  besessen  hat  ^.  Wir  können  selbst  zweifeln, 
ob  er  ein  großer  Staatsmann  gewesen  ist;  wenigstens  hat 
er  es  nicht  vermocht,  das  attische  Reich  auf  der  Höhe  zu 
erhalten,  auf  die  es  Themistokles  und  Kimon  geführt  hatten, 
und  er  hat  bei  seinem  Abtritt  vom  politischen  Schauplatz 
Athen  jenen  Krieg  als  Erbschaft  hinterlassen,  an  dem  es 
schließlich  zugrunde  gegangen  ist.  Aber  er  war,  wie  wir  heute 
sagen  würden,  ein  großer  Parlamentarier.  Wie  kein  zweiter 
seiner  Zeitgenossen  besaß  er  die  Gabe,  die  Massen  durch  die 
Macht  seiner  Rede  zu  lenken  und  mit  sich  fortzureißen  ^; 
und  er  hatte  ein  sehr  feines  Gefühl  für  das,  was  die  öffentliche 
Meinung  verlangte.  Der  Weg  zur  Macht  war  ihm  durch  seine 
Familienverbindungen  geebnet;  und  sie  waren  es  auch,  die 
seine  Stellung  im  Kampf  der  Parteien  bestimmten.  War 
doch  seine  Mutter  Agariste  eine  Nichte  des  großen  Kleisthenes, 
des  Begründers  der  attischen  Volksfreiheit;  und  so  wuchs 
Perikles  in  den  Traditionen  der  Alkmeonidenpartei  auf  und 
in  der  Gegnerschaft  gegen  Kimon,  was  ihn  dann  zum  Anschluß 
an  die  Reformpartei  führen  mußte,  auch  wenn  er  nicht  erkannt 
hätte,    daß   ihr   die   Zukunft   gehörte. 

Perikles  schritt  also  auf  der  von  Ephialtes  eröffneten 
Bahn  weiter.  Wenn  die  Demokratisierung  der  Gerichts- 
höfe nicht  ein  toter  Buchstabe  bleiben  sollte,  war  es  nötig, 
den  ärmeren  Klassen  der  Bürgerschaft  die  materielle  Mög- 
lichkeit zu  gewähren,  an  den  Sitzungen  der  Heiiaea  Anteil 
zu  nehmen.  So  wurden  auf  Perikles'  Antrag  den  Geschworenen 
Diäten  bewilligt  in  dem  Betrage  von  zwei  Obolen  für  die 
Sitzung,  entsprechend  etwa  dem  Minimum  des  Tagelohnes, 
wie  er  um  die  Mitte  des  V.  Jahrhunderts  in  Attika  stand  *. 


^  Vgl.    Pflugk-Harttung,    Perikles   als  Feldherr,    Stuttgart   1884. 

-  Thuk.  I  139.  4,  Aristoph.  Acharn.  530,  Eupolis  Deinen  fr.  9  Kock,  Plut. 
Per.  5  und  8.  Vgl.  Blass,  Att.  Beredsamkeit  I  ^  S.  34  ff.  Aber  große  Redner  sind 
selten  große  Staatsmänner:  oi  fdp  iv  aocpoii;  qpaOXoi  irap'  öxXuj  inouaiKiij- 
repoi  XeTeiv  (Eur.  Hipp.  988). 

3  Aristot.  ATT.  27,  3,  Polit.  II  1274  a,  Plat.  Gorg.  515  e,  Plut.  Per.  9. 
Erst  durch  Kleon  ist  der  Sold  von  2  auf  3  ob.  erhöht  worden  (Schol.  Aristoph. 
Wesp.  88). 


156  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Diese  Maßregel  war  um  so  notwendiger,  als  es  sonst  nicht 
möglich  gewesen  sein  würde,  die  erforderliche  Zahl  von  Richtern 
zusammenzubringen,  seit  man  angefangen  hatte,  auch  die 
wichtigeren  Prozesse  aus  den  Bundesstaaten  vor  die  attischen 
Gerichte  zu  ziehen.  Das  hatte  dann  bald  zur  Folge,  daß  ein 
großer  Teil  der  athenischen  Bürgerschaft  sich  der  produktiven 
Arbeit  entwöhnte  und  begann,  in  dem  Richtersolde  seine 
hauptsächHchste    Subsistenzquelle   zu   sehen. 

Von  hier  bis  zu  der  Forderung,  daß  der  Staat  überhaupt 
für  den  Unterhalt  seiner  Bürger  zu  sorgen  habe,  war  es  nicht 
mehr  weit.  Die  großen  öffentlichen  Bauten,  die  unter  der 
perikleischen  Regierung  in  Attika  ausgeführt  wurden  (siehe 
unten  VII.  Abschnitt),  hatten  zum  Teil  den  Zweck,  der  ärmeren 
Klasse  Verdienst  zu  verschaffen  ^.  Auch  Getreide  wurde 
öfter  unter  die  Menge  verteilt  ^.  Vor  allem  aber  gewährte 
die  Machtstellung  Athens  die  Möglichkeit,  Tausenden  von 
athenischen  Bürgern  außerhalb  Attikas  Grundbesitz  anzu- 
weisen. Wenn  es  sich  bei  einem  Teile  dieser  sogenannten 
Kleruchien  auch  hauptsächlich  darum  handelte,  militärisch 
wichtige  Punkte  durch  zuverlässige  Besatzungen  zu  sichern, 
so  stand  bei  anderen  doch  der  sozialpolitische  Zweck  in  erster 
Linie;  so  z.  B.  bei  den  Landanweisungen  in  den  Gebieten 
von  Chalkis  und  Eretria  nach  der  Wiederunterwerfung  Euboeas 
im  Jahr  446,  oder  auf  Lesbos  im  Jahr  427;  denn  die  Empfänger 
dieser  Lose  blieben  ruhig  in  Athen  wohnen  und  ließen  ihren 
Grundbesitz    durch    einheimische    Pächter    bewirtschaften  ^. 

1  Plut.  Per.  12. 

-  Z.  B.  in  445/4  30  000  Medimnen,  die  der  libysche  Fürst  Psammetichos 
(ein  Sohn  des  Inaros  ?)  dem  Volk  zum  Geschenk  geschickt  hatte  (Philoch.  fr.  90 
Plut.  Per.  37).  Für  die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  vgl.  Aristoph. 
Wespen  717. 

^  Thuk.  III  50  von  der  Kleruchie  auf  Lesbos,  Aelian  Verm.  Gesch.  VI  1 
(geht  auf  die  Kleruchie  von  446,  vgl.  Swoboda,  Serta  Harteliana  S.  30)  von 
Chalkis.  Es  ist  klar,  daß  der  Abfall  von  Lesbos  412,  von  Chalkis  und  Eretria 
411  nicht  möglich  gewesen  wäre,  wenn  dort  Tausende  von  athenischen  Kleruchen 
gewohnt  hätten,  ebenso  daß  die  Kleruchen  in  diesem  Falle  ihre  Grundstücke 
selbst  bewirtschaftet  haben  würden.  Denn  von  den  armseligen  2  m.  Pacht- 
ertrag (etwa  3  ob.  den  Tag)  hätten  sie  unmöglich  leben  können.  Vgl.  meine 
Bevölkerung  S.  87. 


Richtersold.  —  Sozialpolitische  Maßregeln.  157 

Arbeitsunfähigen  Bürgern  wurde  ferner  aus  der  Staatskasse 
Pension  bezahlt,  wenn  auch  nur  in  dem  mäßigen  Betrage 
von  einem  Obol  für  den  Tag,  der  gerade  zur  Bestreitung  des 
notdürftigsten  Unterhalts  ausreichte  i.  Auch  die  Kinder 
der  im  Kriege  gefallenen  Bürger  wurden  bis  zu  ihrer  Mündig- 
keit auf  Staatskosten  unterhalten  ^. 

Man  ging  aber  noch  weiter.  Wenn  schon  die  Tyrannen 
es  für  ihre  Aufgabe  angesehen  hatten,  dem  Volke  möglichst 
prächtige  Schaustellungen  zu  bieten,  so  bheb  die  Demokratie 
hinter  diesem  Beispiele  nicht  zurück.  Die  Feste  in  Athen 
unter  der  perikleischen  Verwaltung  ließen  an  Zahl  wie  an 
Pracht  der  Ausstattung  alles  hinter  sich,  was  die  griechische 
Welt  bis  dahin  gesehen  hatte  ^.  Und  nicht  genug  damit, 
wurden  bei  solchen  Gelegenheiten  auch  Geldspenden  an  die 
Bürger  gezahlt  ^. 

Wieweit  andere  Demokratien  in  dieser  Zeit  dem  von 
Athen  gegebenen  Beispiele  gefolgt  sind,  wissen  wir  nicht, 
und  ebensowenig,  ob  nicht  die  perikleischen  Maßregeln  bereits 
in  anderen  Städten  ihr  Vorbild  gefunden  haben.  Jedenfalls 
mußten  außerhalb  Athens  die  beschränkteren  finanziellen 
Hilfsquellen  dem  Eintreten  des  Staates  zugunsten  der  ,, ent- 
erbten" Klasse  engere  Grenzen  ziehen.  Und  es  ist  nicht  zu 
vergessen,  daß  auch  in  Athen  selbst  es  doch  nur  die  Bürger 
waren,  denen  die  Fürsorge  des  Staates  sich  zuwandte,  d.  h. 
höchstens  die  Hälfte  der  Bewohner  Attikas,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  die  Mittel  zu  alledem  zum  großen  Teile  von  den 
Bundesgenossen  aufgebracht  wurden.  Auch  diese  radikale 
Demokratie  also  kam  tatsächlich  doch  heraus  auf  eine  Aus- 
beutung der  Mehrheit  durch  eine  Minderheit. 


1  Lysias  24  (uepi  xoO  döuvciTOu)  13,  Aristot.  ATT.  49,  4.  Später  ist  der 
Betrag  der  Unterstützung  erhöht  worden,  offenbar  weil  bei  den  steigenden 
Preisen  im  IV.  Jahrhundert  niemand  mehr  mit  1  ob.  leben  konnte,  vgl.  Aristot. 
a.  a.  0.,  Philochoros  fr.  68. 

2  Thuk.  II  46. 

^  [Xenoph.]  Staat  d.  Athen.  3,  1.  8,  Plut.  Per.  11. 
*  Plut.  Per.  9,  Philochoros  fr.  85  (aus  dem  III.  Buch),  Ulpian  zu  Demosth. 
Olynth.  I  1. 


158  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Aber  allerdings  war  die  Macht  der  demokratischen  Idee 
stark  genug,  um  auch  auf  die  Stellung  des  minderberechtigten 
oder  auch  des  gesetzlich  rechtlosen  Teiles  der  Bevölkerung 
ihre  Rückwirkung  zu  üben./  Wir  haben  bereits  gesehen,  wie 
die  Fremden  in  Athen  im  wesentlichen  denselben  Rechts- 
schutz genossen,  sich  ebenso  frei  bewegen  durften,  wie  die 
Bürger,  und  wie  ihnen  selbst  die  Erwerbung  des  Bürger- 
rechtes verhältnismäßig  leicht  gemacht  war,  bis  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts  die  großen  materiellen  Vorteile,  die  mit 
dem  Besitze  des  attischen  Bürgerrechtes  verbunden  waren, 
die  Abschließung  der  bevorrechteten  Klasse  herbeiführten 
(unten  Abschn.VI) .  Selbst  den  Sklaven  war  inAthen  eine  Freiheit 
gewährt,  um  die  sie  die  ärmeren  Bürger  manches  oligarchischen 
Staates  hätten  beneiden  mögen.  Niemand  durfte  sich  heraus- 
nehmen, einen  fremden  Sklaven  zu  mißhandeln  i;  kein  Sklave 
dachte  daran,  einem  Bürger  auf  der  Straße  auszuweichen, 
und  in  der  Kleidung  war  zwischen  der  arbeitenden  Klasse 
der  freien  Bevölkerung  und  den  Sklaven  kein  Unterschied  ^. 
Von  ihren  Herren  schlecht  behandelte  Sklaven  fanden  im 
Theseion  und  anderen  Tempeln  ein  Asyl  und  konnten  ver- 
langen, an  einen  anderen  Herrn  verkauft  zu  werden  ^.  Was 
sich  die  Sklaven  im  Hause  herausnehmen  durften,  zeigt  die 
Komödie.  Es  war  ferner  allgemein  üblich,  daß  man  Sklaven, 
die  ein  Handwerk  gelernt  hatten,  selbständig  ihrem  Erwerb 
nachgehen  ließ,  gegen  eine  mäßige  Abgabe  (dTroqpopd )  an  den 
Herrn;  solche  Sklaven  waren  im  tatsächlichen  Genuß  der 
Freiheit  und  konnten  bei  einiger  Sparsamkeit  bald  dahin 
gelangen,  sich  ganz  freizukaufen.  Daß  trotz  alledem  die 
Stellung  der  Sklaven  auch  in  Athen  traurig  genug  war,  liegt 
in  der  Natur  des  Verhältnisses;  ihr  Schicksal  hing  eben  doch 
von  ihren  Herren  ab,  und  vor  Gericht  konnte  ihre  Aussage 
durch  die  Folter  erzwungen  werden. 

Dagegen  ist  die  demokratische  Bewegung  auf  die  Lage 
des  weiblichen  Geschlechts,  zunächst  wenigstens,  ohne  Einfluß 

^  Demosth.  gMeid.  46,  Aeschin.  gTim.  17. 
*   [Xenophon]  Staat  d.  Athen.  I  10. 
3  Plut.  Thes.  36,  Polydeukes  VII  13. 


Metoeken  und  Sklaven.  —  Die  Frauen.  —  Hetaeren.  159 

geblieben;  ja  die  strenge  ionische  Sitte,  welche  die  Frau  auf 
die  Sphäre  des  Hauses  beschränkte  (oben  IIS.  406),  hat 
gerade  in  dieser  Zeit  weitere  Verbreitung  gewonnen.  Es  ist, 
als  ob  die  Frauen  gegen  das  ungemessene  Streben  der  Männer 
nach  Freiheit  ein  Gegengewicht  hätten  schaffen  wollen.  Noch 
Kimons  Schwester  Elpinike  hat  in  der  athenischen  Gesellschaft 
eine  hervorragende  Rolle  gespielt  und  dadurch  selbst  poli- 
tischen Einfluß  zu  üben  vermocht;  schon  in  der  nächsten 
Generation  wäre  das  unmöglich  gewesen  ^.  Das  Mädchen 
wuchs  in  fast  klösterlicher  Abgeschiedenheit  auf;  nach  der 
Verheiratung  sah  die  Frau  außerhalb  des  engsten  Familien- 
kreises sich  ausschließlich  auf  weiblichen  Umgang  beschränkt, 
vom  Besuch  des  Theaters  war  sie  ausgeschlossen.  So  fehlte 
ihr  jede  Gelegenheit,  ihren  Geist  auszubilden,  wenn  sie  in  den 
Schranken  bleiben  wollte,  welche  die  Sitte  gezogen  hatte, 
und  über  die  ein  Weib  sich  ungestraft  nicht  hinwegsetzen 
kann.  Die  Folge  war,  daß  das  V.  Jahrhundert  keine  einzige 
Dichterin  mehr  hervorgebracht  hat. 

Aber  es  gab  doch  einzelne  Frauen,  die  von  dem  Hauche 
der  neuen  Zeit  ergriffen  wurden,  die  nach  Freiheit  und  Bildung 
verlangten  und  den  Mut  hatten,  allen  Vorurteilen  zu  trotzen, 
die  sich  diesem  Drange  entgegenstellten;  der  öffentlichen 
Meinung  galten  sie  natürlich  als  Hetaeren,  und  sie 
waren  es  meist  wohl  auch  wirklich.  Die  Männerwelt  war 
bezaubert  von  dem,  was  ihr  hier  geboten  war;  hier  fand  sie, 
was  sie  zu  Hause  vergeblich  suchte:  einen  geistig  anregenden 
weiblichen  Umgang.  So  wurden  diese  ,, Hetaeren"  der  be- 
lebende Mittelpunkt  der  griechischen,  vor  allem  auch  der 
athenischen   Gesellschaft;    nicht   nur  die   ,, goldene   Jugend", 

1  Plut.  Kim.  14,  Per.  10,  und  Stesimbrotos  (FHG.  II  55),  Antisthenes 
bei  Athen.  XIII  689  e.  Ob  die  hier  erzählten  Tatsachen  richtig  sind,  ist  gleich- 
gültig; das  Wesentliche  ist,  daß  man  Elpinike  eine  solche  politische  Rolle  zu- 
traute. Auch  für  Kunst  hat  sie  Interesse  gehabt  (Plut.  Kim.  4).  Den  Zeit- 
genossen des  peloponnesischen  Krieges  erschien  das  alles  unweiblich,  und  sie 
haben  es  infolgedessen  in  gemeinster  Weise  mißdeutet  (Plut.  Kim.  4).  Daraus 
können  wir  abnehmen,  was  von  dem  Schmutze  zu  halten  ist,  mit  denen  ihr 
Verhältnis  zu  Kimon  beworfen  wurde  (Eupolis  bei  Plut.  Kim.  15,  Schol.  Aristot. 
S.  515,  Dind.,  Antisthenes  a.  a.  0.  und  Plut.  Kim.  4). 


160  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

auch  die  Größen  der  Wissenschaft,  der  Kunst  und  der  Pohtik 
drängten  sich  in  ihren  Empfangssälen;  hat  es  doch  selbst 
ein  Sokrates  nicht  verschmäht,  ihnen  zu  huldigen.  Mit  dem 
Maßstabe  konventioneller  Moral  dürfen  wir  diese  Frauen 
freilich  nicht  messen;  sie  waren  eben  in  jeder  Hinsicht  eman- 
zipiert; aber  wir  sollen  darüber  nicht  vergessen,  welch  mäch- 
tigen Einfluß  sie  auf  die  griechische  Kulturentwicklung  aus- 
geübt haben.  Sie  sind  es,  die  den  Griechen  zuerst  wieder  das 
Ideal  des  gebildeten  Weibes  gezeigt  haben;  und  ihr  Verdienst 
vor  allem  war  es,  wenn  die  griechische  Frau  in  der  Zeit  nach 
Alexander  wieder  die  ebenbürtige  Genossin  des  Mannes  ge- 
worden ist.  Als  das  erreicht  war,  war  die  dominierende  Rolle 
der  Hetaeren  in  der  Gesellschaft  ausgespielt. 

Den  günstigsten  Boden  fanden  diese  Emanzipations- 
bestrebungen  naturgemäß  in  lonien,  der  Landschaft,  wo  die 
Bildung  am  höchsten  stand,  während  zugleich  die  Frauen 
in  der  freien  Bewegung  am  meisten  beschränkt  waren.  Von 
hier,  aus  Milet,  stammte  Thargelia,  die  in  Dareios'  Zeit  nach 
Thessalien  kam,  wo  sie  durch  ihre  Schönheit  und  ihren  Geist 
eine  hervorragende  gesellschaftliche  Stellung  gewann;  zu 
dem  König  Antiochos  trat  sie  in  ein  enges  Verhältnis  und 
hat  dadurch  auch  politischen  Einfluß  geübt  ^.  Nicht  minder 
gefeiert  wurde  ein  halbes  Jahrhundert  später  ihre  Lands- 
männin,   die   schöne   und   hochbegabte   Milesierin   Aspasia  ^. 

^  Hippias  bei  Athen.  XIII  609  a  und  Hesych.  GapYiT^ia,  fr.  4  (Diels 
Vorsokr.  II  1  c.  79),  Aeschines  der  Sokratiker  bei  Philostratos  Briefe  S.  364 
und  im  Tract.  de  mulierib.  11  bei  Westermann,  Paradoxo^r.  S.  217  (=  Suidas- 
OapYn^^ia),  Plut.  Per.  24.  Vgl.  Ed.  Meyer,  Theopomps  Hellenika  (Halle  1909) 
S.  243,  3  und  oben  I  2  S.  204. 

^  Gegen  Aspasia  hat  Wilamowitz,  Aristot.  II  99  A.  35  einen  Angriff  ge- 
richtet, der  nur  beweist,  daß  das  „tote  Frauenzimmer"  denn  doch  sehr  viöL 
mehr  gewesen  ist,  als  eine  Hetaere  gewöhnlichen  Schlages.  Daß  sie  eine  hoch- 
gebildete Frau  war,  wie  vielleicht  keine  zweite  ihrer  Zeit,  zeigen  Aeschines^ 
Antisthenes  und  Piaton  (oder  wer  der  Verfasser  des  Menexenos  sein  mag),  die 
sie  zur  Protagonistin  sokratischer  Dialoge  genommen  haben.  (Dagegen  die  An- 
klage wegen  äö^ßeia  beweist  nichts,  denn  auch  Phryne  hat  einen  solchen  Prozeß 
zu  bestehen  gehabt.)  Nicht  minder  beredtes  Zeugnis  geben  die  Angriffe  der 
Komödie;  Kratinos  nannte  sie  die  Hera  des  Olympiers  Perikles  (fr.  241  Kock 
bei  Plut.  Per.  24,  vgl.  Schol.  V\dA.Menex.  235 e),  EupoUs  dessen  Omphale  (fr.  274)„ 


Thargelia.  —  Aspasia.  — •  Die  demokratische  Freiheit.  161 

Um  450  kam  sie  nach  Athen  ^  und  wußte  hier  den  leitenden 
Staatsmann  Perikles  so  zu  fesseln,  daß  er  um  ihretwegen  seine 
hochadelige  Gemahlin  verstieß.  Natürlich  gab  es  einen  großen 
Skandal,  und  die  Komödie  ist  nie  müde  geworden,  das  dank- 
bare Thema  auszubeuten;  aber  Perikles  erreichte  es  doch, 
daß  Aspasia  in  weiten  Kreisen  der  athenischen  Gesellschaft 
für  voll  angesehen  wurde  und  daß  selbst  Frauen  aus  den 
besten  Familien  keine  Bedenken  trugen,  ihre  Gesellschaften 
zu  besuchen.  Freilich  setzten  sie  damit  bei  den  herrschenden 
Vorurteilen  ihren  guten  Ruf  aufs  Spiel;  die  Anklage,  mit  der 
später  Aspasia  von  Hermippos  vor  Gericht  gezogen  wurde, 
gründete  sich  zum  Teil  eben  darauf,  daß  sie  freie  Athenerinnen 
zu  unsittlichem  Lebenswandel  verleite  ^.  Und  allerdings 
konnte  Perikles  seine  Geliebte  nicht  zu  seiner  rechtmäßigen 
Gemahlin  erheben,  da  zwischen  Athen  und  Milet  keine  Ehe- 
gemeinschaft bestand;  aber  der  Sohn,  der  dieser  Verbindung 
entsproß,  ist  später  legitimiert  worden  und  trotz  aller  An- 
feindungen endlich  zum  höchsten  Staatsamt,  der  Strategie, 
gelangt. 

Es  ist  charakteristisch,  mit  welcher  Leichtigkeit  Perikles 
sich  über  die  Schranken  der  konventionellen  Moral  hinweg- 
setzte. Er  handelte  dabei  ganz  im  Geiste  seiner  Zeit;  gegenüber 
dem  Naturrecht  der  Liebe  mußten  die  auf  menschliche  Satzung 
begründeten  Rechte  der  Ehe  zurücktreten.  Befreiung  von 
jedem  Zwange,  er  .sei  welcher  er  sei,  ist  überhaupt  das  Streben 
dieses  Jahrhunderts;  und  vielleicht  niemals  wieder  ist  dieses 


Aristophanes  in  den  Acharnern  macht  sie  für  den  Ausbruch  des  peloponnesischen 
Krieges  verantwortUch,  spätere  (Theophrast  und  Duris  bei  Harpokr.  A0Traaia, 
Plut.  Per.  24)  lassen  sie  auch  den  samischen  Krieg  anstiften.  Vgl.  Ed.  Meyer, 
Forschungen  II  55. 

1  Ihr  Sohn,  der  jüngere  Perikles,  ist  um  445  geboren,  s.  unten  2.  Abt.  §  15. 

*  Plut.  Per.  24,  Aeschines  der  Sokratiker  bei  Cic.  de  inv.  I  31.  51,  Athen. 
V  220  b.  Daß  nach  Aeschines  Xenophon  mit  seiner  Frau  bei  Aspasia  verkehrt 
haben  soll,  ist  einer  jener  Anachronismen,  wie  sie  sich  auch  in  Piatons  Dialogen 
so  oft  finden;  er  hat  aber  zur  Voraussetzung,  daß  Aspasias  Salon  auch  von 
Damen  der  besten  Gesellschaft  besucht  wurde.  Dasselbe  ergibt  sich  aus  der 
Anklage  des  Hermippos  gegen  Aspasia  üj<;  TTepiK\ei  TUvaiKO?  d\eu9^pa?  eic, 
TÖ  auTÖ  cpoiTibaa?  üirob^XOiTO  (Plut.  Per.  32). 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.    2.  Aufl.  11 


162  IV.  Abschnitt.  —  Die  Demokratie. 

Ideal  so  verwirklicht  worden,  wie  in  dem  damaligen  Athen. 
Vor  allem  herrschte  unbedingte  Freiheit  des  Wortes  (Trappricria 
und  icrriTOpi«))  ^it  Recht  waren  die  Athener  stolz  darauf 
und  ließen  selbst  Metoeken  und  Sklaven  daran  Anteil  nehmen  ^. 
Sogar  auf  der  Bühne  durfte  lange  Zeit  jeder  Bürger  angegriflfen 
und  verspottet  werden,  er  mochte  sein  wer  er  wollte;  ein 
440/39  gegebenes  Gesetz,  das  diese  Freiheit  beschränkte, 
wurde  schon  nach  drei  Jahren  wieder  aufgehoben  ^.  Doch 
wurde  später  (um  426)  wenigstens  das  Verbot  erlassen,  fun- 
gierende Beamte  nicht  mehr  in  Person  auf  die  Bühne  zu 
bringen  ^,  während  im  übrigen  der  Komödie  ihr  Recht  der 
Kritik  der  bestehenden  Zustände  ungeschmälert  blieb.  Auch 
sonst  mischte  sich  das  Gesetz  so  wenig  wie  möglich  in  das 
Privatleben  der  Bürger.  Die  Ungebundenheit,  welche  die  Folge 
davon  war,  hatte  ja  auch  ihre  Schattenseiten  *;  aber  sie  war 
jedenfalls  sehr  viel  besser,  als  die  kleinlichen  Polizeireglements, 
mit  denen  oligarchische  Staaten  ihre  Bürger  in  der  freien 
Bewegung  beschränkten,  oder  gar  als  die  militärische  Staats- 
ordnung Spartas  ^. 

Trotz  alledem  behielt  selbst  in  Athen  der  Adel  noch 
lange  die  Leitung  des  Staates  in  der  Hand.  Zur  Strategie 
sind  bis  zum  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  fast  nur 
Adelige  erwählt  worden  ^,  obgleich  der  Zugang  dazu  jedem 
Bürger  offen  stand,  der  aus  einer  rechtmäßigen  Ehe  Kinder 
hatte  und  liegendes  Eigentum  besaß.  In  den  übrigen  griechi- 
schen Demokratien,  in  Syrakus  z.  B.  ',  stand  es  in  diesem 
Punkte  ganz  ebenso.  Wie  hätte  es  auch  anders  sein  können, 
solange  die  großen  Vermögen  noch  hauptsächlich  in  Grund - 


1  Demostt.  gPhilipp  III  3. 

*  Schal.  Aristoph.  Acharn.  67. 

'  Schal.  Aristoph.  Acharn.  1150,  vgl.  Schal.  Vögel  1297,  [Xenoph.]  Staat 
der  Athen.  II  18,  Keck  Quaest.  Aristoph.  hist.,  Halle  1876. 

*  Vgl.  die  übrigens  sehr   harmlose    Karikatur  des    ävrip  iaovo|LiiKÖ?  bei 
Piaton  Staat  VIII  S.  561. 

«  Vgl.  Thuk.  II  37.  2. 

«   [Xenoph.  ]  Staat  der  Athen.  I  3,  Eupolis  fr.  117  Kock,  Aristot.    ATT.  26,  1. 

'  Diod.  XIII  91.  5. 


Der  Adel.  —  Demokratisierung   der  Gesellschaft.  163 

besitz  bestanden  und  in  den  Händen  der  Adelsfamilien  konzen- 
triert waren.? 

Die  Opposition  gegen  diesen  Zustand  blieb  natürlich 
nicht  aus.  Herodot  spottet  über  Hekataeos,  der  an  einer  Stelle 
seines  Werkes  seine  15  Ahnen  aufgezählt  hatte,  bis  hinauf 
zu  dem  göttlichen  Stammvater  seines  Geschlechts  ^.  Euripides 
läßt  kaum  eine  Gelegenheit  vorübergehen,  die  Prätensionen 
des  Adels  in  ihrer  ganzen  Nichtigkeit  hinzustellen  ^,  und  der 
Sophist  Lykophron  meint,  die  Schönheit  des  Adels  sei  sehr 
fragwürdig  und  sein  Ansehen  beruhe  nur  auf  Einbildung  ^. 

Der  Erfolg  dieser  Agitation  wurde  mächtig  gefördert 
durch  die  wirtschaftliche  Entwicklung,  infolge  deren  die 
in  Handel  und  Industrie  gewonnenen  Vermögen  dem  ererbten 
Grundbesitz  ebenbürtig  zur  Seite  traten.  Auch  führten  die 
politischen  Krisen  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  V.  Jahr- 
hunderts dazu,  daß  ein  großer  Teil  des  Adels  verarmte;  wobei 
dann  jeder  sich  durch  den  Augenschein  überzeugen  konnte, 
was  ,,edele"  Geburt  ohne  Reichtum  noch  wert  ist.  So  geschah 
es,  daß  im  Jahre  425  der  Gerbereibesitzer  Kleon  in  Athen  zu 
der  Stellung  gelangte,  die  einst  Kimon  und  Perikles  innegehabt 
hatten.  Der  attischen  Aristokratie  und  ihrem  servilen  Gefolge 
schien  das  der  Anfang  vom  Ende;  nicht  etwa  weil  Kleon  ein 
unfähiger  Staatsmann  gewesen  wäre,  denn  das  war  er  keines- 
wegs, jedenfalls  in  viel  geringerem  Maße  als  sein  hochadeliger 
Gegner  Nikias,  sondern  weil  er  ein  selbstgemachter  Mann 
oder  vielmehr  der  Sohn  eines  selbstgemachten  Mannes  *  war. 
Aber  es  half  nichts,  daß  die  Komödie  nicht  müde  wurde,  ihr 
Gift  gegen  Kleon  zu  spritzen,  nicht  einmal,  daß  Kleons  PoHtik 
endlich  bei  Amphipolis  Schiffbruch  litt.  Andere  Männer  aus 
dem  Volke  nahmen  die  leergewordene  Stelle  ein;  und  seit 
dem   oligarchischen   Reaktionsversuch   im    Jahre   404/3   wird 


^  Herod.  II  143. 

2  Z.  B.  Elekira  386.  351,  fr.  22.  53.  54.  345.  514. 

*  Bei  Aristot.  fr.  91  Rose. 

*  Schon  Kleons  Vater  Kleaenetos  besaß  das  dpYaarripiov  boüXiuv  ßupöobe- 
x\ni)V  (Schol.  Aristoph.  Ritter  44),  das  später  sein  Sohn  übernommen  hat,  und 
hat  Leiturgien  geleistet  (CIA.  II  971  a);  er  war  also  ein  wohlhabender  Mann, 

11* 


164  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

der  Adel  fast  vollständig  von  der  Leitung  des  Staates  zurück- 
gedrängt. Es  gibt  fortan  in  Athen  nur  noch  den  Gegensatz 
zwischen  der  besitzenden  und  der  nichtbesitzenden  Klasse, 
und  dasselbe  gilt  überhaupt  für  die  griechische  Welt,  soweit 
sie  demokratisch  oder  durch  die  Schule  der  Demokratie 
gegangen  war.  Jeder  gebildete  und  wohlhabende  Mann  hat 
nach  dem  Sprachgebrauch  dieser  Zeit,  auf  den  Namen  eines 
„Gentleman"  (KaXö^  Kaxaeö^)  oder  eines  Vornehmen  (Yvujpi^og) 
Anspruch  ^.  Die  Demokratisierung  der  griechischen  Gesell- 
schaft war  damit  vollendet. 


V.  Abschnitt. 

Der  Konflikt  der  Großmächte. 

In  der  Zeit  des  Dareios  und  Xerxes  war  Sparta  die  einzige 
hellenische  Großmacht  gewesen;  niemand  hatte  versucht, 
ihm  die  Führung  im  Freiheitskampfe  streitig  zu  machen, 
und  selbst  zur  See  hatten  sich  die  Athener  willig  untergeordnet 
trotz  der  großen  Überlegenheit  ihrer  Flotte.  Das  änderte 
sich  seit  der  Stiftung  des  attischen  Seebundes.  Man  begann 
denn  auch  in  Sparta  sehr  bald  einzusehen,  welch  schweren 
Fehler  man  durch  den  Verzicht  auf  die  weitere  Beteiligung 
am  Perserkriege  und  damit  auf  die  Seeherrschaft  begangen 
hatte;  und  wenigstens  eine  Partei  drängte  darauf  hin,  das  Ver- 
säumte gutzumachen,  ehe  es  zu  spät  wäre.  Eine  günstige 
Gelegenheit  dazu  schien  sich  zu  bieten,  als  das  mächtige 
Thasos  gegen  Athen  sich  erhob  und  bei  Sparta  Anlehnung 
suchte.  In  der  Tat  sollen  die  Spartaner  auf  dem  Punkte 
gestanden  haben,  ein  Heer  in  Attika  einrücken  zu  lassen, 
als  der  Heilotenauf stand  sie  zwang,  alle  Kräfte  an  die  Ver- 
teidigung der  eigenen  Heimat  zu  setzen   (oben  S.  149). 

So  blieb  das  gute  Einvernehmen  zwischen  den  beiden 
griechischen  Vormächten  für  jetzt  noch  ungestört,  ja  Athen 

1  Meine  Ait.  Polit.  S.  2—6. 


Athen  und  Sparta.  —  Fall  von  Ithome.  —  Anschluß  von  Megara  an  Athen.  165 

Stellte,  wie  schon  erzählt  worden  ist,  sogar  ein  Truppen- 
kontingent gegen  die  Messenier  auf  Ithome,  und  erst  die 
schimpfliche  Rücksendung  dieses  Hilfskorps  durch  die  Spar- 
taner drängte  die  attische  Politik  in  eine  neue  Richtung. 
Die  demokratische  Reformpartei,  in  deren  Hände  die  Leitung 
des  Staates  jetzt  kam,  erklärte  das  in  der  Zeit  der  Perser - 
kriege  mit  Sparta  geschlossene  Bündnis  für  aufgelöst,  und 
Athen  trat  statt  dessen  mit  den  Argeiern  in  Bund  (oben 
S.  153).  Thessalien,  wo  der  Feldzug  des  Leotychidas  noch 
in  frischem  Andenken  stand,  schloß  sich  als  drittes  Glied 
dieser  Verbindung  an  (462)  ^. 

Nicht  lange  darauf  mußte  sich  Ithome  den  Spartanern 
ergeben  (461);  die  Verteidiger  erhielten  freien  Abzug  und 
wurden  von  den  Athenern  in  Naupaktos  angesiedelt,  das  sie 
soeben  den  ozolischen  Lokrern  entrissen  hatten  ^.  Die  Spar- 
taner wandten  sich  nun  gegen  Argos,  unter  ihrem  jungen 
König  Pleistarchos,  dem  Sohn  des  Leonidas,  wurden  aber 
an  der  Westgrenze  des  argeiischen  Gebietes,  bei  Oenoe,  von 
den  Argeiern  und  deren  athenischen  Verbündeten  zurück- 
gewiesen, ein  Sieg,  der  in  Argos  großen  Jubel  hervorrief  und 
durch  ein  prächtiges  Denkmal  in  Delphi  verherrlicht  wurde 
(um  460)  ^.  Schon  etwas  früher  war  Megara  vom  peloponne- 
sischen  Bund  abgefallen;  es  war  mit  seiner  mächtigen  Nach- 
barstadt Korinth  wegen  Grenzstreitigkeiten  in  Krieg  geraten, 
und   da   Sparta  keine   Hilfe   gewähren  wollte    oder    konnte, 


1  Thuk.  I  102. 

*  Thuk.  I  103,  Diod.  XI  84,  7,  über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  75. 
Bei  welcher  Gelegenheit  Naupaktos  von  den  Athenern  genommen  worden  ist, 
sagt  Thukydides  nicht;  daß  das  bei  der  Expedition  des  Tolmides  456  geschehen 
wäre,  wie  Diodor  angibt,  ist  bloße  Kombination,  die  sich  bei  der  von  Diodors 
Quelle  befolgten  Chronologie  ganz  von  selbst  ergab.  Die  Messenier  wurden 
neben  den  alten  Einwohnern  angesiedelt  und  bildeten  mit  diesen  eine  Doppel- 
gemeinde, Meaödvioi  Kai  NauTrdKTloi,  wie  sie  sich  auf  der  Basis  der  Nike  des 
Paeonios  nennen  {IGA.  348  =   Inschr.  v.  Olymp.  259). 

3  Paus.  I  15,  1  und  X  10,  4;  Herzog,  Philol.  N.  F.  XXV,  1912,  S.  1  ff. 
bezieht  auf  diesen  Sieg  sehr  ansprechend  die  von  VoUgraff,  Bull.  Corr.  Hell. 
XXXII,  1908,  S.  236 — 258  veröffentlichte  argeiische  Inschrift,  in  der  von  einem 
Siege  über  Pleistarchos  die  Rede  ist.     Näheres  unten  2.  Abt.   §  84. 


166  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

schloß  es  sich  an  Athen  an,  eine  Verbindung,  auf  die  es  ebenso- 
sehr durch  seine  demokratische  Verfassung  wie  durch  seine 
wirtschaftlichen  Interessen  hingewiesen  war  (461).  Attische 
Garnisonen  besetzten  jetzt  die  Hauptstadt  des  Ländchens 
und  den  Hafen  Pagae  am  Korinthischen  Busen;  erstere,  die 
etwa  1%  km  vom  Meere  entfernt  liegt,  wurde  durch  zwei 
Befestigungslinien  mit  ihrem  Hafen  Nisaea  verbunden  und 
damit  gegen  die  Gefahr  einer  Umschließung  durch  einen 
zu  Lande  überlegenen  Feind  gesichert  ^. 

Die  Fortführung  des  Perserkrieges  gab  man  wegen  dieser 
Verwicklungen  in  Athen  nicht  auf;  denn  eben  jetzt  schien 
es  möglich,  einen  Schlag  zu  führen,  der  Athen  die  Herrschaft 
im  ganzen  Umkreis  des  östlichen  Mittelmeeres  sichern  mußte. 
König  Inaros  von  Aegypten  war  wohl  in  der  Feldschlacht 
gegen  Achaemenes  Sieger  geblieben  (oben  S.  161);  aber  die 
Perser  ganz  aus  dem  Lande  zu  vertreiben,  war  er  bei  weitem 
nicht  stark  genug,  schon  weil  er  keine  Flotte  zur  Verfügung 
hatte.  So  wandte  er  sich  um  Hilfe  nach  Athen;  und  hier 
zögerte  man  nicht,  in  die  gebotene  Hand  einzuschlagen.  Die 
bei  Kypros  operierende  Flotte  erhielt  also  Befehl,  nach 
Aegypten  hinüberzugehen;  sie  lief  in  den  Nil  ein,  säuberte 
den  Strom  von  den  persischen  Schiffen  und  brachte  die  Haupt- 
stadt Memphis  in  ihre  Gewalt.  Nur  in  der  stark  befestigten 
Zitadelle,  dem  „weißen  Schloß"  (AeuKÖv  TeTxogj  hielten 
sich   die   Überreste  der  feindlichen  Truppen    (461)  ^. 

Artaxerxes  versuchte  jetzt,  sich  den  Lakedaemoniern 
zu  nähern  und  sie  zu  einem  Einfall  in  Attika  zu  veranlassen; 
aber  obgleich  sein  Abgesandter  Megabazos  das  Geld  nicht 
sparte,  ließ  man  sich  doch  in  Sparta  nicht  bereit  finden,  mit 
dem  Landesfeinde  gemeinsame  Sache  zu  machen  ^,  Dagegen 
begann  Korinth  wegen  Megara  Krieg  mit  Athen,  unterstützt 
durch  die  Städte  der  argolischen  Akte,  während  auf  athenischer 


1  Thuk.  I  104,  vgl.  unten  2.  Abt.   §  83. 

^  Thuk.  I  104,  Ktes.  32,  Diod.  XI  74.    Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt. 
§  79.  82. 

3  Thuk.  I  109,  2,  Diod.  XI  74,  5. 


Expedition  nach  Aegypten.  —  Krieg  mit  Korinth  und  Äegina.  —  Tanagra.  167 

Seite  Argos  sich  an  dem  Kriege  beteiligte  *.  Um  einen  Stütz- 
punkt für  die  Fahrt  nach  der  verbündeten  Stadt  zu  gewinnen, 
griffen  die  Athener  Halieis  an  der  äußersten  Südspitze  der 
Argolis  an,  wurden  aber  von  den  Korinthiern  und  Epidauriern 
zurückgeschlagen;  dafür  blieb  ihnen  in  einem  Seetreffen  bei 
der  kleinen  Insel  Kekryphaleia  zwischen  Epidauros  und 
Aegina  der  Sieg  ^.  Infolgedessen  sah  Aegina,  die  alte  Rivalin 
Athens,  sich  veranlaßt,  in  den  Kampf  einzugreifen.  Aber  trotz 
der  bewährten  Seetüchtigkeit  der  Aegineten  und  obgleich 
200  Trieren  Athens  und  seiner  Bundesgenossen  lern  in 
Aegypten  gegen  die  Perser  kämpften,  wurde  die  peloponne- 
sische  Flotte  vor  Aegina  bis  zur  Vernichtung  geschlagen 
und  70  Trieren  fielen  in  die  Hand  des  Siegers;  seit  diesem 
Tage  war  die  alte  Bedeutung  Aeginas  als  Seemacht  dahin. 
Die  Athener  setzten  nun  ein  Heer  nach  der  Insel  hinüber 
und  begannen  die  Belagerung  der  .Hauptstadt.  Eine  Diversion, 
welche  die  Korinthier  durch  einen  Einfall  in  die  Megaris 
machten,   wurde  blutig  zurückgewiesen   (458)  ^ 

Diesen  Fortschritten  Athens  gegenüber  konnte  Sparta 
nicht  länger  untätiger  Zuschauer  bleiben.  Es  wurde  also 
etwa  die  Hälfte  des  peloponnesischen  Bundesheeres,  11  500 
HopHten,  zu  einem  Zuge  nach  Mittelgriechenland  auf- 
geboten   (457);    den    Befehl  hatte  Pausanias'    Bruder   Niko- 

^  Die  Teilnahme  der  Argeier  ergibt  sich  aus  den  Aufschriften  zweier  in 
Olympia  geweihten  Waffenstücke,  die  nach  dem  Schriftcharakter  in  diese  Zeit 
gehören  {IGA.  32.  33  =:  Inschr.  v.  Olymp.  250.  261  TctpYeioi  ävlQev  tuj  AiFi 
Tüjv  Kopiv9öGev). 

*  Auf  unseren  Karten  wird  Angistri  als  Kekryphaleia  bezeichnet.  Plin. 
IV  67,  der  einzige,  bei  dem  sich  eine  Angabe  über  die  Lage  der  Insel  findet, 
sagt  aber:  contra  Epidaurum  Cecryphalos,  Püyonesos  VI  a  continente,  ab  hac 
Aegina  liberae  condicionis  XV.  Also  lag  Pityonnesos  zwischen  Kekryphaleia 
und  Aegina,  und  entspricht  folglich  Angistri.  Das  zeigt  auch  der  Name;  noch 
jetzt  ist  Angistri  von  einem  Pinienwalde  gekrönt,  während  Kyra,  das  unseren 
Karten  als  Pityonnesos  gilt,  so  klein  ist,  daß  eine  nennenswerte  Waldung  dort 
nie  gewesen  sein  kann.  Die  Entfernungen  sind  von  Epidauros  gerechnet;  in 
Wahrheit  sind  es  von  dort  bis  Kyra  7,  bis  Angistri  9,  bis  Aegina  18  Milien;  da 
es  sich  aber  um  Distanzen  zur  See  handelt,  die  ja  nicht  wirklich  gemessen  werden 
konnten,   hat  das   nichts  zu  bedeuten. 

3  Thuk.  1 105—106;  daraus  indirekt  Diod.  XI  78.  79.  S.  unten  2.  Abt.  §  78, 


168  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

medes,  Regent  für  seinen  Neffen,  den  jungen  König  Piei- 
stoanax,  Pausanias'  Sohn,  der  eben  seinem  Vetter  Pleistarchos 
auf  dem  Thron  der  Agiaden  gefolgt  war.  Offenen  Krieg  mit 
Athen  wollte  man  freilich  vermeiden,  und  so  mußte  eine 
Fehde  der  Dorier  im  Kephisostale  mit  den  Phokern  den  Vor- 
wand für  die  Intervention  in  Mittelgriechenland  abgeben. 
Der  Zweck,  das  dorische  Mutterland  zu  schützen,  wurde  denn 
auch  ohne  Schwertstreich  erreicht,  da  die  Phoker  viel  zu 
schwach  waren,  einem  solchen  Heere  zu  widerstehen.  Und 
jetzt  begannen  die  wahren  Ziele  der  lakedaemonischen  Politik 
sich  zu  enthüllen.  Nikomedes  überschritt  die  boeotische 
Grenze  und  bezog  ein  Lager  bei  Theben,  wo  er  mit  offenen 
Armen  aufgenommen  wurde.  Er  hatte  Verbindungen  mit 
der  oligarchischen  Partei  in  Athen  und  wartete  auf  die  Gelegen- 
heit, einen  Handstreich  zu  wagen. 

In  Athen  erkannte  man  die  Gefahr  und  beschloß,  ihr 
zuvorzukommen.  Das  ganze  Bürgeraufgebot  wurde  zu  den 
Waffen  gerufen,  aus  Argos,  Thessalien  und  den  Städten  des 
Seebundes  Hilfstruppen  herangezogen.  Obgleich  ein  be- 
trächtlicher Teil  der  attischen  Macht  in  Aegypten  und  auf 
Aegina  stand,  kamen  doch  14  000  Hopliten  zusammen,  ein 
Heer,  das  den  vereinigten  Peloponnesiern  und  Thebanern 
numerisch  wenigstens  annähernd  gewachsen  war.  So  ergriffen 
die  Athener  die  Offensive.  Zwischen  Tanagra  und  Theben 
traf  man  auf  den  Feind;  es  war  das  erstemal,  daß  Athener 
und  Lakedaemonier  in  offener  Feldschlacht  sich  maßen. 
Nach  sehr  blutigem  Kampfe  blieb  den  Peloponnesiern  der 
Sieg;  wie  die  Athener  sagten,  infolge  des  Verrates  der  thessa- 
lischen  Reiter,  die  während  der  Schlacht  zum  Feinde  über- 
gingen. Aber  es  gelang  dem  geschlagenen  Heere,  seinen  Rück- 
zug aus  Boeotien  im  wesenthchen  intakt  zu  bewerkstelligen; 
und  auch  die  Peloponnesier  hatten  so  schwer  gelitten,  daß 
Nikomedes  eine  Invasion  Attikas  nicht  ratsam  schien.  Die 
athenischen  Oligarchen  warteten  vergeblich  auf  die  ver- 
sprochene Hilfe  ^.    Die  Sieger  begnügten  sich,  die  boeotischen 

Thuk.  1 107.  108,  Diod.  XI  79—80,  Paus.  I  29,  6.  9,  Plut.  Per.  10,   Kim. 


Tanagra.  —  Oenophyta.  169 


Landstädte  zu  veranlassen,  ihren  Bund  mit  Theben  zu  er- 
neuern, der  vor  20  Jahren  nach  der  Schlacht  bei  Plataeae 
aufgelöst  worden  war.  Es  sollte  ein  Gegengewicht  gegen 
Athen  geschaffen  werden,  wodurch  dieses  gehindert  würde, 
noch  weiter  aggressiv  gegen  den  Peloponnes  vorzugehen  ^. 
Darauf  zog  Nikomedes  durch  die  Megaris  und  die  Pässe  der 
Geraneia  nach  dem  Peloponnes  zurück  ^.  Strategisch  hatten 
die  Athener  gesiegt,    trotz  ihrer  taktischen   Niederlage  ^. 

Mittelgriechenland  war  also  aufs  neue  sich  selbst  über- 
lassen, und  in  Athen  säumte  man  nicht,  die  Gunst  des  Moments 
zu  benutzen.  Sobald  das  bei  Tanagra  geschlagene  Heer  wieder 
kampffähig  war,  überschritten  die  Athener  noch  einmal  die 
boeotische  Grenze,  geführt  von  Myronides,  einem  Veteranen 
aus  den  Freiheitskriegen,  der  bei  Plataeae  unter  den  Strategen 
gewesen  war  und  noch  soeben,  durch  die  siegreiche  Abwehr 
des  korinthischen  Angriffs  auf  die  Megaris,  sich  als  tüchtiger 
Feldherr  bewährt  hatte  *.  Der  neubegründete  boeotische 
Bund  aber  war  noch  zu  wenig  gefestigt,  als  daß  er  imstande 
gewesen  wäre,  aus  eigener  Kraft  dem  Stoße  zu  widerstehen, 
dem  soeben  die  Peloponnesier  nur  mit  Mühe  standgehalten 
hatten.  In  den  ,,  Weinbergen"  (Oenophyta)  erlag  das  boeotische 
Bundesheer  dem  athenischen  Angriff,  am  62.  Tage  nach  der 
Schlacht  bei  Tanagra.    Der  Bund  löste  infolge  dieses  Schlages 

17.  Die  Inschrift  des  Weihgeschenks,  das  die  Peloponnesier  zum  Gedächtnis 
des  Sieges  in  Olynapia  stifteten,  bei  Paus.  V  10,  4,  IGA.  26  a.  Grabschrift  der 
gefallenen  Kleonaeer  CIA.  I  441  und  IV  1  S.  107.  Über  die  Chronologie  unten 
2.  Abt.  §  77. 

1  Diod.  XI  81,  lustin.  III  6,  10.  Nach  Diod.  81,  3  hätten  die  Spartaner 
damals  die  Ringmauer  Thebens  erweitert;  bei  der  kurzen  Dauer  ihres  Aufent- 
halts in  Boeotien  kann  dazu  nicht  wohl  Zeit  gewesen  sein.  Kratippos  XII  3 
setzt  die  Übersiedlung  der  Bewohner  der  umliegenden  Kleinstädte  nach  Theben 
vielmehr  an  den  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges;  ohne  Zweifel  mit  Recht. 

-  Thuk.  I  108,  2. 

*  Die  Athener  haben  darum  später  die  Schlacht  bei  Tanagra  nicht  als 
Niederlage  anerkennen  wollen:   Plat.   Menex.  242  b,  Diod.  XI  81,  6. 

*  Myronides  Strateg  bei  Plataeae:  Plut.  Ar  ist.  20,  in  der  Megaris  458: 
Thuk.  I  105,  4,  Lys.  2  (Epitaphios)  52.  Als  hervorragender  Vertreter  der  guten 
alten  Zeit  erscheint  er  bei  Aristoph.  Lysistr.  801,  Ekhles.  304,  Eupolis  Demen 
fr.  98. 


170  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

sich  auf.  Theben  blieb  wieder  auf  sein  eigenes  Gebiet  be- 
schränkt; die  Landstädte  traten  in  enge  Verbindung  mit 
Athen,  Phokis  folgte  freiwillig,  das  opuntische  Lokris  ge- 
zwungen diesem  Beispiel.  Das  ganze  Gebiet  vom  Isthmos 
bis  zu  den  Thermopylen,  mit  alleiniger  Ausnahme  Thebens, 
war   damit   der    Oberhoheit   Athens    unterworfen  ^. 

Eine  weitere  Folge  der  Schlacht  bei  Oenophyta  war 
die  Kapitulation  von  Aegina,  dessen  Belagerung  trotz  der 
Bedrohung  der  attischen  Grenzen  nicht  unterbrochen  worden 
war.  Die  besiegte  Stadt  mußte  sich  harten  Bedmgungen 
unterwerfen :  die  Kriegsflotte  wurde  den  Athenern  ausgeliefert, 
die  Mauern  geschleift,  Aegina  trat  in  den  Seebund  und  ver- 
pflichtete sich  zur  Zahlung  eines  Tributs  von  30  Talenten, 
mehr  als  in  dieser  Zeit  irgendeine  andere  Bundesstadt  zahlte  ^. 
Auch  das  nahe  Troezen  trat  jetzt  auf  die  athenische  Seite  ^. 

1  Thuk.  I  108,  Diod.  XI  81—83,  der  die  Schlacht  aus  Nachlässigkeit 
zweimal  erzählt,  Front.  Strat.  II  4,  11;  IV  7,  21.  Der  Erfolg  wurde  nicht  so  sehr 
den  athenischen  Waffen  verdankt,  als  den  inneren  Wirren,  von  denen  Boeotien 
zerrissen  war  (Thuk.  III  62,  5,  IV  92,  6,  vgl.  Perikles'  Ausspruch  bei  Aristot. 
Rhet.  III  4  S.  1407  a),  und  zwar  handelte  es  sich  dabei  nicht  sowohl  um  den 
Gegensatz  zwischen  Oligarchen  und  Demokraten  als  zwischen  Theben  und 
der  autonomistischen  Partei  in  den  Landstädten  (Plat.  Menex.  242  b).  Ein 
Bild  der  Stimmung  in  Theben  nach  der  Schlacht  gibt  Pindar  Isthm.  VII  (VI). 
Daß  die  dbiKUU?  qpeüf  ovre?,  welche  die  Athener  nach  dem  Siege  bei  Oenophyta 
blKaiuuc;  zurückführten  (Plat.  a.  a.  0.),  solche  Autonomisten  und  nicht  etwa 
Oligarchen  gewesen  sind,  ergibt  sich  daraus,  daß  die  verbannten  Oligarchen 
erst  zur  Zeit  der  Schlacht  bei  Koroneia  zurückkehrten;  denn  wären  die  qpuYÖbc^ 
BoiDUTOiv,  die  in  dieser  Schlacht  siegten,  Demokraten  gewesen,  so  würde  die 
Verfassung  Boeotiens  nach  dem  Siege  den^okratisch,  nicht  oligarchisch  ge- 
worden sein.  [Xen.]  vStaaid Athen.  III  10  ist  korrupt;  hat  der  Verfasser 
gemeint,  was  man  aus  der  Stelle  herausliest,  so  würde  daraus  nur  folgen,  daß 
Athen  beim  Sturze  der  Demokratie  in  Theben  nach  der  Schlacht  bei  Oenophyta 
(unten  S.  179)  die  Hand  im  Spiele  hatte,  in  der  Hoffnung,  die  neue  Regierung 
würde  sich  an  Athen  anschließen.  Denn  Theben  hat,  allein  in  Boeotien,  sich 
nach  der  Schlacht  bei  Oenophyta  Athen  nicht  unterworfen,  was  ja  nach  dem 
Gesagten  eines  Beweises  nicht  weiter  bedarf,  übrigens  von  Diodor  XI  83,  1 
ausdrücklich  bezeugt  wird;  eint  Bestätigung  gibt  Thuk.  III  62,  5  AGrivaiuiv 
Ti^v  fiiueT^pav  x'ipav  7reipuj|u^vujv  uqp'  ai)ToT?  TroieTo9ai  Kai  Kaxci  aTÖoiv  fibri 

^XÖVTUJV   aÖTfj?  xd  TTOWct. 

2  Thuk.    I   108,   Diod.    XI   78. 

^  Die  Stadt  blieb  bis  zum  Frieden  von  446  im  Besitz  der  Athener  (Thuk. 


Fall  von  Aegina.  —  Die  langen  Mauern.  —  Offensive  gegen  den  Peloponnes.  171 

Um  dieselbe  Zeit  wurde  ein  Werk  vollendet,  das  bestimmt 
war,  dem  Verteidigungssysteme  Athens  seinen  Abschluß 
zu  geben:  die  Verbindung  der  Stadt  mit  ihren  Häfen  durch 
eine  doppelte  Befestigungslinie.  Es  war  ein  Riesenbau,  wie 
er  bisher  in  Griechenland  noch  nicht  zustande  gekommen 
war;  betrug  doch  die  Entfernung  von  Athen  nach  dem  Pei- 
raeeus  40,  nach  Phaleron  35  Stadien,  7  bzw.  6  km.  Jetzt 
war  Athen  unter  allen  Umständen  die  freie  Verbindung  mit 
dem  Meere  gesichert,  auch  wenn  ein  überlegener  Feind  in 
Attika  einfiel;  man  brauchte  in  solchen  Fällen  nicht  mehr, 
wie  noch  Themistokles  beabsichtigt  hatte,  zu  dem  verzweifelten 
Mittel  zu  greifen,  die  Stadt  aufzugeben  und  im  Peiraeeus 
Zuflucht  zu  suchen  ^. 

Athen  stand  auf  der  Höhe  seiner  Macht.  Seit  den  Siegen 
über  Korinth  und  Aegina  beherrschte  es  das  Meer  unbedingt, 
und  auch  zu  Lande  war  es  durch  das  Bündnis  mit  Argos  und 
die  Herrschaft  über  Mittelgriechenland  dem  peloponnesischen 
Bunde  annähernd  gewachsen.  Es  glaubte  jetzt  zu  einem 
Angriff  auf  Sparta  selbst  schreiten  zu  können.  Eine  Flotte 
unter  Tolmides  wurde  nach  der  lakonischen  Küste  geschickt 
(456),  und  es  gelang  auch,  das  spartanische  Arsenal  in  Gytheion 
zu  zerstören  und  Methone  an  der  messenischen  Küste  ein- 
zunehmen; freilich  mußte  der  Platz  gleich  wieder  aufgegeben 
werden,  sobald  die  Spartaner  heranrückten.  Tolmides  wandte 
sich  nun  nach  Aetolien,  wo  er  die  korinthische  Kolonie  Chalkis 
eroberte;  auch  Achaia  hat  sich  um  diese  Zeit  an  Athen 
angeschlossen  ^. 


I  115,  IV  21,  Andok.  vFr.,  3);  wann  sie  sich  an  Athen  angeschlossen  hat,  wird 
nicht  überliefert.  Auch  Halieis  muß  sich  um  diese  Zeit  an  Athen  angeschlossen 
haben,  denn  es  stand  458  noch  auf  spartanischer  Seite  (oben  S.  167)  und  wurde 
dann  von  dem  Spartaner  Aneristos  durch  einen  kühnen  Handstreich  zurück- 
gewonnen (Herod.  VII  137). 

'  Thuk.  I  108,  3,  vgl.  107,  4,  Kratinos  fr.  300  Kock,  bei  Plut.  Per.  13. 

2  Thuk.  I  108,  Diod.  XI  84,  Schol.  Aesch.  vdGes.  78,  Paus.  I  27,  5.  Über 
die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  77.  Wann  die  Achaeer  sich  an  Athen  ange- 
schlossen haben,  wird  nicht  überliefert;  sie  erscheinen  bei  Perikles'  Feldzug  in 
diesen  Gegenden  (455)  bereits  als  athenische  Bundesgenossen  (Thuk.  I  111,  3, 
Plut.  Per.  19).     Auch  die  Chalkis  benachbarte  korinthische  Kolonie  Molykreion 


172  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 


Doch  diese  Erfolge  waren  nur  durch  die  äußerste  An- 
spannung aller  Kräfte  des  Staates  zu  erreichen  gewesen. 
Als  die  Korinthier  im  Sommer  458  gegen  Megara  zogen,  hatte 
man  die  letzte  Reserve,  die  ältesten  und  jüngsten  Jahrgänge 
zu  den  Waffen  rufen  müssen,  um  nicht  gezwungen  zu  sein, 
die  Belagerung  von  Aegina  aufzuheben  ^.  Die  zufällig  erhaltene 
Verlustliste  eines  der  zehn  Stämme,  in  welche  die  attische 
Bürgerschaft  zerfiel,  aus  diesem  selben  Jahre  führt  177  Namen 
auf;  haben  die  übrigen  Stämme  in  gleichem  Maße  gelitten, 
so  hat  dieses  eine  Jahr  gegen  1800  Bürger  gekostet,  aus  einer 
Gesamtzahl  von  höchstens   30  000  waffenfähigen   Männern  ^. 

Unter  diesen  Umständen  war  Athen  nicht  imstande  ge- 
wesen, Verstärkungen  nach  Aegypten  zu  senden.  Das  schien 
auch  lange  Zeit  nicht  nötig;  die  Flotte,  die  dort  stand,  war 
ausreichend,  die  am  Nil  und  in  Kypros  gewonnene  Stellung 
zu  behaupten  und  auch  die  phoenikische  Küste  zu  beun- 
ruhigen ^.  Mehr  freilich  wurde  nicht  erreicht;  ja  es  gelang 
nicht  einmal,  die  Burg  von  Memphis  zur  Übergabe  zu  bringen. 
Inzwischen  hatte  der  König  ein  großes  Heer  und  eine  starke 
Flotte  gerüstet  unter  seinem  Schwager  Megabyzos,  der  nach 
Dareios'  Tode  das  abgefallene  Babylon  zum  Gehorsam  zurück- 
gebracht hatte.  Diesen  überlegenen  Streitkräften  vermochten 
die  Aegypter  und  ihre  griechischen  Bundesgenossen  nicht 
standzuhalten;  sie  wurden  in  offener  Feldschlacht  geschlagen, 
Memphis  mußte  infolgedessen  geräumt  werden,  und  die 
Athener  wurden  auf  die  Nilinsel  Prosopitis  gedrängt  (Herbst 


muß  um  diese  Zeit  unter  athenische  Herrschaft  gekommen  sein  '(vgl.  Thuk. 
III  102,  2). 

1  Thuk.  I  105,  4,  und  dazu  Klio  V,  1905,  S.  363  f. 

=*  CIA.  I  433,  vgl.  Isokr.  8  (vFrieden)  88. 

'  CIA.  I  433.  Eine  Tributliste  in  Krateros'  H'riqpiff.uctTUJV  auvaYUJYn  (bei 
Steph.  Byz.  Aujpo?,  a.  E.)  führte  Doros  unter  den  Städten  des  KapiKÖ(; 
qpöpoi;  auf;  da  wir  keine  Stadt  dieses  Namens  in  Karlen  kennen,  scheint  das 
phoenikische  Doros,  oder  wie  es  später  gewöhnlich  genannt  wurde,  Dora  gemeint 
(Köhler,  Abh.  Berl.  Akad.  1869  S.  121.  207),  das  dann  also  eine  Zeitlang,  natür- 
lich vor  dem  Kalliasfrieden,  zum  athenischen  Reiche  gehört  haben  müßte. 
In  der  Krateros  vorliegenden  Urkunde,  die  schon  die  Steuerbezirke  hatte,  kann 
sie  allerdings  nur  in  partibus  infidelium  aufgeführt  gewesen  sein. 


Die  Katastrophe  in  Aegypten.  —  Verlegung  d.  Bundesschatzes  nach  Athen.  173 

458).  Hier  hielten  sie  sich  18  Monate,  bis  es  den  Persern 
endlich  gelang,  durch  Ableitung  eines  Kanals  die  athenischen 
Schiffe  aufs  Trockene  zu  setzen  und  die  Insel  mit  dem  Land- 
heere  zu  erstürmen.  Nur  schwache  Trümmer  der  Bemannung 
der  griechischen  Flotte  retten  sich  durch  Libyen  über  Kyrene 
in  die  Heimat.  Jetzt  endlich,  wo  es  zu  spät  war,  erschien 
eine  athenische  Entsatzflotte  von  50  Schiffen  und  lief,  ohne 
eine  Ahnung  von  der  erfolgten  Katastrophe  zu  haben,  in  den 
mendesischen  Nilarm  ein;  hier  wurde  sie  von  den  Phoenikern 
angegriffen  und  zum  größten  Teile  vernichtet  (456).  Auch 
König  Inarös,  das  Haupt  der  Empörung,  wurde  gefangen 
und  hingerichtet.  Aegypten  kehrte  zum  Gehorsam  zurück  ^. 
Doch  behaupteten  sich  die  Aufständischen  unter  Psammetichos, 
dem  Sohne  des  Inaros,  im  Hbyschen  Grenzgebiet,  und  unter 
Amyrtaeos  in  den   Sümpfen  im  Norden  des  Delta  ^. 

Die  aegyptische  Katastrophe  war,  nach  einer  ununter- 
brochenen Reihe  von  Siegen,  der  erste  Mißerfolg,  den  der 
Perserkrieg  gebracht  hatte;  man  hatte  jetzt  wieder  ernstlich 
mit  dem  Erscheinen  einer  phoenikischen  Flotte  im  Aegaeischen 
Meere  zu  rechnen.  Demgegenüber  schien  der  Bundesschatz 
in  dem  offenen  Delos  zu  exponiert,  und  die  Bundesversammlung 
beschloß  demgemäß,  auf  Antrag  der  Samier,  ihn  nach  der 
Akropolis  von  Athen  in  Sicherheit  zu  bringen  (Frühjahr  455)  ^. 
Im   übrigen   beschränkte   sich   Athen   darauf,   seine    Stellung 


^  Thuk.  I  109.  110,  Ktes.  33  ff.  (im  einzelnen  nicht  immer  zuverlässig). 
Der  Bericht  bei  Diod.  XI  74.  76.  77  (Ephoros?)  beruht  auf  Thukydides  mit 
Benutzung  des  Ktesias.  Über  Prosopitis  auch  Herod.  II  41,  über  Megabyzos 
III  160.  Die  Vernichtung  der  200  Schiffe  auTOi?  TOii;  irXripibuaaiv  erwähnt 
auch  Isokrates  (8.,  vFriedeti,  86).  Aber  ein  Teil  der  Flotte  war  auf  Kypros 
geblieben  (CIA.  I  433),  und  ein  anderer  Teil  mag,  nach  den  großen  Erfolgen 
am  Anfang  des  Feldzuges,  nach  Hause  zurückgekehrt  sein.  Immerhin  war 
es  eine  furchtbare  Katastrophe:  öXiYOi  äirö  ttoWujv  iaibQr\aav,  ot  bi  irXeiaTOi 
diTiJuXovTO  (Thuk.  I  110,  1).     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  82 

^  Herod.  III 15,  Philochoros  fr.  90  (unter  dem  Jahr  445/4),  über  Amyrtaeos 
Thuk.  I  112,  Herod.  II  410  vgl.  III  160.  Thannyras,  ein  Sohn  des  Inarös,  den 
die  Perser  später  als  König  anerkannten,  ist  entweder  mit  Psammetichos  identisch 
oder  diesem  seinem  Bruder  nach  445/4  in  der  Herrschaft  gefolgt. 

3  Plut.  Per.  12,  Arisi.  25,  Diod.  XII  38,  lustin.  III  6.  Über  die  Chrono- 
logie unten  2.  Abt.   §  81  f. 


174  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

in  Mittelgriechenland  zu  befestigen.  Vor  allem  galt  es,  den 
athenischen  Einfluß  in  Thessalien  wieder  zur  Geltung  zu 
bringen,  das  um  die  Zeit  der  Schlacht  bei  Tanagra  von  Athen 
abgefallen  war  (oben  S.  168).  Damals  war  Orestes,  der  Sohn 
des  athenerfreundlichen  Tagos  Echekratidas,  aus  Pharsalos 
verbannt  worden;  jetzt  sollte  ihn  ein  athenisches  Heer  unter 
Myronides,  durch  boeotische  und  phokische  Kontingente 
verstärkt,  auf  den  väterlichen  Thron  zurückführen.  Aber 
durch  die  überlegene  thessalische  Reiterei  sahen  die  Athener 
in  dem  ebenen  Lande  sich  in  allen  Bewegungen  gehemmt; 
man  gelangte  zwar  vor  Pharsalos,  vermochte  aber  die  Stadt 
nicht  zu  nehmen,  und  es  blieb  endlich  nichts  übrig  als  unver- 
richteter  Sache  zurückzugehen  (Sommer  455)  ^.  Noch  in 
demselben  Sommer  unternahm  Perikles  von  Pagae  in  der 
Megaris  aus  eine  Expedition  auf  dem  Korinthischen  Golfe, 
die  gleichfalls  erfolglos  blieb;  denn  das  feste  Oeniadae  in  den 
Sümpfen  an  der  Acheloosmündung  leistete  so  kräftigen 
Widerstand,  daß  die  Belagerung  abgebrochen  werden  mußte, 
worauf    die    Flotte    nach    Hause    zurückfuhr  ^. 


^  Thuk.  1 111,  1,  Diod.  XI  83.  Daß  Myronides  befehligte,  sagt  nur  Diodor, 
es  wird  aber  richtig  sein,  da  Diodors  Quelle  offenbar  nur  darum  den  Bericht 
über  diesen  Zug  unmittelbar  an  die  Schlacht  bei  Oenophyta  angeschlossen  hat. 
Über  Orestes  oben  I  2  S.  204,  über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  80. 
Damals  werden  die  Pheraeer  den  Sieg  über  die  attische  Reiterei  erfochten 
haben,  zu  dessen  Gedächtnis  sie  das  von  Paus.  X  15,  4  erwähnte  Denkmal 
in  Delphi  errichteten. 

2  Thuk.  I  111,  2.  3,  Plut.  Per.  19,  Diod.  XI  85  =  XI  88,  wo  das  unbe- 
deutende Scharmützel  an  der  sikyonischen  Küste,  das  ich  oben  im  Texte  nicht 
habe  erwähnen  mögen,  ad  maiorem  Periclis  gloriam  zu  einem  großen  Siege  auf- 
gebauscht wird.  Unrichtig  ist  auch  Diodors  Angabe  (XI  85,  2),  Perikles  habe, 
außer  Oeniadae,  alle  akarnanischen  Städte  genommen;  denn  nach  Thuk.  II  68,  8 
ist  ein  Bündnis  mit  Akarnanien  zuerst  von  Phormion  geschlossen  worden,  einige 
Zeit  vor  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges.  Die  Eroberung  von  Oeniadae 
durch  die  Messenier  von  Naupaktos,  denen  es  dann  nach  einem  Jahre  durch 
die  Akarnanen  wieder  entrissen  wurde  (Paus.  IV  25,  vgl.  V  26,  1),  muß,  falls 
sie  überhaupt  historisch  ist,  in  eine  etwas  spätere  Zeit  gehören,.  Die  ganze 
Energielosigkeit  der  perikleischen  Kriegführung  zeigt  sich  schon  in  diesem 
seinem  ersten  Feldzuge,  über  den  wir  etwas  näher  unterrichtet  sind.  Über  die 
Chronologie  unten  2.  Abt.  §  80. 


Mißerfolge  der  Athener  in  Griechenland.  —  Waflfenstillstand  mit  Sparta.  175 

Während  der  nächsten  Jahre  schlief  der  Krieg  in  Griechen- 
land ein;  Athen  bedurfte  nach  der  aegyptischen  Katastrophe 
der  Sammlung,  Sparta  war  nicht  imstande,  gegen  Athen 
vorzugehen,  solange  dieses  die  Isthmospässe  und  den  korinthi- 
schen Golf  beherrschte.  Auch  mag  es  sein,  daß  die  Rücksicht 
auf  die  von  Persien  her  drohende  Gefahr  für  die  Haltung 
Spartas  mitbestimmend  war.  Der  persische  Angriff  erfolgte 
nun  allerdings  nicht,  da  Flotte  und  Heer  des  Großkönigs 
noch  in  Aegypten  und  Kypros  beschäftigt  waren;  aber  eben 
darum  galt  es,  zu  verhüten,  daß  diese  äußersten  Bollwerke 
des  Hellenentums  ganz  in  die  Hände  der  Perser  fielen.  Dazu 
aber  mußte  Athen  in  Griechenland  den  Rücken  frei  haben; 
denn  daß  es  nicht  imstande  war,  den  Krieg  mit  zwei  Fronten 
zu  führen,  hatten  die  Ereignisse  der  letzten  Jahre  nur  zu 
deutlich  bewiesen.  Es  war  also  notwendig,  mit  Sparta  zu 
einer  Verständigung  zu  kommen.  Der  einzige  athenische 
Staatsmann,  der  dort  Einfluß  genug  besaß,  eine  solche  zu- 
stande zu  bringen,  war  Kimon;  und  eben  jetzt  kehrte  dieser 
nach  Ablauf  der  zehnjährigen  Frist  aus  der  Verbannung 
zurück,  die  das  Scherbengericht  über  ihn  verhängt  hatte 
(Frühjahr  451).  Er  nahm  nun  sogleich  das  Werk  der  Ver- 
söhnung in  seine  Hand,  und  es  gelang  ihm  denn  auch,  zwar 
keinen  dauernden  Frieden,  aber  doch  wenigstens  einen  Waffen- 
stillstand auf  5  Jahre  zwischen  den  beiden  griechischen  Vor- 
mächten zum  Abschluß  zu  bringen  (Sommer  451)  ^.     Athen 


1  Thuk.  1 112,  Andok.  vFr.  4,  Plut.  Kim.  18,  Diod.  XI 86, 1,  vgl.  Theopomp. 
fr.  92,  Nepos  Cim.  3.  Näheres,  auch  über  die  Chronologie,  unten  2.  Abt.  §  85  f. 
In  diese  Zeit  muß  die  Sendung  des  Arthmios  von  Zeleia  fallen,  der  von  den 
Athenern  geächtet  wurde,  ÖTi  xöv  xpucJÖVTÖv  ^k  Mrjbujv  eic,  TTe\oTrövvTi0ov  r\jayev 
(das  Ächtungsdekret  bei  Demosth.  Phil.  III  42,  die  Redner  spielen  oft  darauf 
an;  vgl.  Swoboda,  Epigr.  arch.  Mitt.  aus  Österreich,  XVI  S.  49flf.).  Da  Kimon 
das  Dekret  beantragt  hat  (Krateros  im  Schol.  zu  Aristeid.  bei  Wilamowitz, 
Sommerprogramm  Göttingen  1884,  bei  Plut.  Them.  6  wird  irrtümlich  Themistokles 
genannt),  ist  das  Jahrzehnt  seiner  Verbannung  ausgeschlossen,  die  Zeit  vorher 
kann  nicht  in  Betracht  kommen,  da  damals  noch  gute  Beziehungen  zwischen 
Athen  und  Sparta  herrschten,  und  450  ist  Kimon  gestorben.  Arthmios  hat 
also  offenbar  den  Auftrag  gehabt,  die  Annäherung  Spartas  an  Athen  zu  ver- 
hindern, die  zum  Abschluß  des  fünfjährigen  Friedens  geführt  hat. 


176  V.   Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

zahlte  dafür  allerdings  einen  teuren  Preis;  es  löste  sein  Bündnis 
mit  Argos,  und  dieses  war  dadurch  gezwungen,  nun  auch 
seinerseits  ein  Abkommen  mit  Sparta  zu  schließen,  und  zwar 
auf  Grund  des  gegenwärtigen  Besitzstandes,  also  unter  Aner- 
kennung der  spartanischen  Herrschaft  über  die  Kynuria 
(Winter  451/0).  Dies  Abkommen  sollte  auf  30  Jahre  Geltung 
haben,  so  daß  also  Sparta,  wenn  sein  Waffenstillstand  mit 
Athen   ablief,    von   Argos   nichts   zu   besorgen   hatte  ^ 

Jetzt  konnte  Kimon  den  Perseikrieg  wieder  aufnehmen. 
Mit  200  Schiffen  ging  er  nach  Kypros  in  See  (Frühjahr  450), 
das  zum  größten  Teil  wieder  in  die  Gewalt  des  Königs  ge- 
kommen war;  dort  angelangt,  sandte  er  60  Schiffe  nach 
Aegypten  zu  König  Amyrtaeos,  um  das  Land  von  neuem 
zum  Aufstand  zu  bringen;  er  selbst  nahm  Marion  ein  und 
begann  dann  die  Belagerung  von  Kition,  das  als  phoenikische 
Kolonie  den  festesten  Stützpunkt  der  Perser  auf  der  Insel 
bildete.  Hier,  im  Lager  vor  der  Stadt,  ist  Kimon  einer 
Epidemie  erlegen,  die  im  athenischen  Heere  ausgebrochen 
war.  Inzwischen  war  eine  persische  Flotte  an  der  Ostküste 
der  Insel  erschienen  und  hatte  ein  starkes  Truppenkorps 
ans  Land  gesetzt.  Die  Athener  brachen  infolgedessen  die 
Belagerung  von  Kition  ab  und  segelten  dem  Feinde  entgegen. 
Bei  dem  kyprischen  Salamis  wurde  die  letzte  Schlacht  des 
Perserkrieges  geschlagen,  und  noch  einmal  blieb  der  Sieg, 
zu  Wasser  und  zu  Land,  den  Hellenen.  Es  war  ein  Erfolg 
fast  wie  der  am  Eurymedon;  100  feindliche  Schiffe  wurden 
genommen,  nach  der  Niederlage  in  Aegypten  war  die  Ehre 
der  griechischen  Waffen  wieder  hergestellt;  es  war  glänzend 
bewiesen,  daß  Athen  noch  immer  die  erste  Seemacht  der 
Welt  war  ^. 


1  Thuk.  V  14,  4.  Beim  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  war  Argos 
mit  Athen  nicht  verbündet,  woraus  sich  ergibt,  daß  das  462  geschlossene  Bündnis 
451  gelöst  worden  ist. 

*  Einziger  brauchbarer  Bericht  über  den  Krieg  Thuk.  I  112,  dazu  die 
Grabschrift  auf  die  bei  Salamis  Gefallenen  Diod.  XI  62,  Anthol.  Palat.  VII  296, 
Aristeid.  II  209  d,  vgl.  unten  2.  Abt.  §  86.  Die  Echtheit  von  Br.  Keil,  Hermes 
XX,  1885,  S.  343  ff.  sehr  mit  Unrecht  bestritten.    Diod.  XII  3.  4,  Plut.  Kim. 


Expedition  nach  Kypros.  —  Frieden  mit  Persien.  177 

Aber  der  Kampf  gegen  die  Barbaren  wurde  nicht  weiter- 
geführt. Mit  Kimons  Tode  ging  die  Leitung  des  athenischen 
Staates  wieder  an  Perikles  über;  und  dieser  war  der  Ansicht, 
daß  Athen  vor  allem  Ruhe  bedürfe  zur  Sammlung  seiner 
Kräfte  für  den  unvermeidlichen  Kampf  mit  den  Peloponnesiern. 
Er  rief  also  die  Flotte  von  Kypros  und  aus  Aegypten  zurück 
und   begann   Unterhandlungen   mit   dem   Großkönig  ^. 

Eine  athenische  Gesandtschaft  ging  nach  Susa  hinauf, 
geführt  von  Kallias,  dem  Oberpriester  der  eleusinischen 
Göttinnen  und  reichsten  Manne  Athens.  Da  auch  der  König 
sich  von  einer  Weiterführung  des  Krieges  nach  der  Niederlage 
bei  Salamis  keine  Erfolge  versprechen  durfte,  kam  man  bald 
zur  Verständigung.  Athen  verzichtete  auf  Aegypten  und 
Kypros,  der  König  andererseits  versprach,  keine  Kriegs- 
schiffe in  das  Aegaeische  Meer  einlaufen  zu  lassen  und  die 
athenischen  Bundesstädte  an  den  kleinasiatischen  Küsten 
auch  zu  Lande  nicht  anzugreifen  (449).  Das  Ganze  war,  wie 
wir  sagen  würden,  mehr  ein  modus  vivendi  als  ein  wirklicher 
Friedensvertrag;  der  König  gab  seine  Rechte  auf  die  asiatischen 
Griechenstädte  nicht  förmL'ch  auf,  aber  er  ließ  diese  Rechte 
für  jetzt  ruhen;  die  Städte  blieben  tributfrei,  wie  sie  es  bisher 
gewesen  waren  ^.      So  war   denn   der   30  jährige   Perserkrieg 


18.  19  geben  ein  verzerrtes  Bild  des  Feldzuges,  weil  sie  den  Sieg  von  Kimon 
selbst  erfochten  werden  lassen.  Einzelheiten,  wie  die  Einnahme  von  Marion 
durch  Kimon  (Diod.  XII  3,  3)  mögen  richtig  sein.  Die  große  Doppelschlacht 
ist  nach  Thukydides  öit^p  Za\a|uTvo^  geschlagen  worden,  nach  Diod.  c.  4,  1  ff. 
lag  in  Salamis  eine  persische  Besatzung  und  die  Stadt  wurde  nach  dem  See- 
siege von  den  Athenern  vergeblich  belagert,  bis  die  Friedensverhandlungen 
den  Feindseligkeiten  ein  Ende  machten.  Auch  das  wird  richtig  sein.  —  Bei 
Thuk.  I  112,  4  ist  \oi|uoO  Y£VO|ndvou  zu  lesen,  wenn  auch  die  Handschriften 
und  ihnen  folgend  unsere  Ausgaben  XiuoO  haben;  denn  eine  Hungersnot  kann 
wohl  in  einer  belagerten  Stadt  ausbrechen,  nicht  aber  bei  einem  Belagerungs- 
heere,  da  müßte  öirobeia  gesagt  sein. 

1  Thuk.  I  112,  4. 

^  Die  Gesandtschaft  des  Kallias  erwähnt,  ohne  Angabe  des  Zwecks,  Herod. 
VII  151.  Den  Abschluß  des  Friedens  bezeugen  Isokr.  Paneg.  118  ff.,  Areop.  80, 
Panath.  59,  Demosth.  vdGes.  273,  Lyk.  gLeokr.  73,  Diod.  XII  4,  Plut.  Kim.  13, 
Didym.  zu  Demosth.  7,  73,  Suidas  Ki|uu)V  usw.  Thukydides  schweigt,  bezeugt 
aber  VIII  56,  4  die  Bestimmung  des  Vertrages,  die  den  Persern  das  Aegaeische 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     z.  Aufl.  12 


178  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

beendet,  und  es  herrschte  fortan  freier  Verkehr  zwischen  dem 
athenischen   und   dem   persischen   Reiche. 

Auch  in  Griechenland  suchte  Perikles  zur  Herstellung 
eines  dauernden  Friedenszustandes  zu  gelangen.  Er  ließ  es 
geschehen,  daß  die  Spartaner  ein  Heer  über  den  krisaeischen 
Golf  nach  Delphi  sandten,  das  die  mit  Athen  verbündeten 
Phoker  aus  der  Stadt  vertrieb,  und  den  Delphern  die  Ver- 
waltung ihres  Tempels  zurückgab  (449),  welche  die  Phoker 
usurpiert  hatten  ^.    Im  folgenden  Jahre  lud  er  alle  hellenischen 


Meer  verschloß.  Ebenso  ergibt  sich  aus  Thuk.  VIII  5.  6,  daß 'die  athenischen 
Bundesstädte  in  Asien  keinen  Tribut  an  den  König  zahlten;  der  freie  Verkehr 
folgt  aus  [Xen.]  Staat  d.  Ath.  II  7,  Thuk.  II  69,  1,  VIII  35,  2,  auch  aus  Herodots 
Reisen  im  Perserreich.  Die  Urkunde  des  Vertrages  gab  Krateros  in  seiner 
Yriq)ia|LidTU)v  auvaYiWTH  (Plut.  Kim.  13);  Theopomp  (fr.  167.  168)  erklärte 
sie  für  eine  Fälschung,  weil  sie  im  ionischen  Alphabet  geschrieben  war.  Aber 
der  Volksbeschluß  für  Phaseiis  CIA.  II  11  =  Dittenb.  Syll.  ^  12  (vgl.  S.  640) 
ist  ebenfalls  im  ionischen  Alphabet  geschrieben,  obgleich  er  aus  der  Mitte  des 
V.  Jahrhunderts  stammt  (Wilhelm,  Gott.  GJ.  Anz.  1898,  S.  204).  Die  lange 
Diskussion  unter  den  Neueren  über  die  Realität  dieses  sehr  mit  Unrecht  sog. 
„kimonischen  Friedens"  ist  heute  wohl  erledigt;  vgl.  Ed.  Meyer,  Forschungen 
II  71,  der  in  allem  Wesentlichen  richtig  gesehen  hat.  Über  die  Chronologie 
unten  2.  Abt.  §  86.  Die  Angabe,  daß  der  Unterhändler  Kallias  zu  einer  Buße 
von  50  tal.  verurteilt  worden  wäre  (Demosth.  a.  a.  O.),  ist  sehr  unwahrschein- 
lich und  beruht  offenbar  auf  einer  Verwechslung  mit  der  Buße  von  ebenfalls 
50  tal.,  die  sein  Oheim  Kaüias  nach  Miltiades'  Tode  für  seinen  Schwager  Kimon 
bezahlt  haben  soll  (oben  S.  25,  Anm.  1,  vgl.  unten  2.  Abt.  §  18).  Auch  würde 
Kallias,  wenn  er  irapairpeößeiac;  verurteilt  worden  wäre,  nicht  fast  unmittelbar 
darauf  als  Gesandter  zum  Abschluß  des  dreißigjährigen  Friedens  nach  Sparta 
geschickt  worden  sein  (Diod.  XII  7). 

1  Thuk.  I  112,  5,  Philochoros  fr.  88  bei  Schol.  Aristoph.  Vög.  556,  Plut. 
Per.  21,  Strab.  IX  423.  Es  ist  dabei,  an  der  Ostgrenze  des  delphischen  Gebiets, 
bei  Anemoreia  (Arachowa)  zu  einem  großen  Kampfe  zwischen  den  Spartanern 
und  Phokern  gekommen;  das  Massengrab  der  dabei  gefallenen  Spartaner 
(["froXuJdvbpeiov  AaKiOvoiv),  das  in  dieser  Gegend  gelegen  hat  (Wescher,  Monu- 
ment bilingue  de  Delphes,  Paris  1868,  S.  55),  kann  auf  keinen  anderen  Krieg  be- 
zogen werden,  denn  die  Niederlage  des  Arcus,  an  die  man  auch  denken  könnte, 
ist  auf  der  anderen  Seite  von  Delphi,  in  der  krisaeischen  Ebene,  erfolgt  (lustin. 
XXIV  1).  Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  86.  Da  der  erste  heilige  Krieg 
gegen  Krisa,  nicht  gegen  Phokis  geführt  worden  ist,  so  hat  Krisa,  auf  dessen 
Gebiet  Delphi  lag,  damals  nicht  zum  phokischen  Bunde  gehört.  Der  Krieg 
war  um  die  Unabhängigkeit  Delphis  geführt  worden;  also  können  die  Amphi- 
ktionen  nach  dem  Siege  die  Stadt  den  Phokern  nicht  gegeben  haben.     Daß  sie 


Frieden  mit  Persien.  —  Der  heilige  Krieg.  —  Erhebung  Boeotiens.  179 


Staaten  diesseits  des  ionischen  Meeres  zu  einem  Kongreß 
in  Athen  ein,  zxir  Beratung  über  den  Wiederaufbau  der  von 
den  Persern  zerstörten  Tempel,  über  die  im  Perserkriege 
gelobten  Opfer,  über  die  Freiheit  der  Schiffahrt  und  die  Er- 
haltung des  Friedens.  Das  Projekt  scheiterte  an  dem  Wider- 
stände Spartas  ^,  das  schon  an  dem  Ort  des  Kongresses  Anstoß 
nehmen  mußte  und  außerdem  keineswegs  gewillt  war,  den 
jetzt  in  Hellas  herrschenden  politischen  Zustand  als  end- 
gültigen anzuerkennen.  Perikles'  Antwort  war  ein  Zug  nach 
Delphi,  wo  er  die  Verwaltung  des  Heiligtums  den  Phokern 
zurückgab.  Unter  diesen  Umständen  war  eine  Verlängerung 
des  5  jährigen  Waffenstillstands  bei  seinem  nahe  bevorstehenden 
Ablauf  kaum  zu  erwarten;  aller  Voraussicht  nach  mußte 
der    Sommer    446   den    Krieg   bringen. 

•  Jetzt  hielten  die  Gegner  Athens  in  Mittelgriechenland 
den  Augenblick  für  gekommen,  einen  entscheidenden  Schlag 
zu  führen.  Schon  früher,  nach  der  Schlacht  bei  Oenophyta 
und  zum  Teil  eben  infolge  dieser  Niederlage,  war  die  Demo- 
kratie in  Theben  zusammengebrochen  und  hatte  einer 
gemäßigten  Oligarchie  Platz  gemacht  ^;  die  oligarchischen 
Verbannten  aus  den  boeotischen  Kleinstädten  gewannen 
dadurch  mitten  in  Boeotien  selbst  einen  festen  Stützpunkt. 
Jetzt  griffen  sie  zu  den  Waffen  und  besetzten  Orchomenos 
und    das    von    diesem    abhängige    Chaeroneia    im    äußersten 

es  nicht  getan  haben,  folgt  aus  der  Bestimmung  des  Nikias-Friedens :  Ae\q)oO^ 
auTOvö|uou<;  etvai  Kard  xd  irdTpia  (Thuk.  V  18,  2).  Demnach  können  die  Phoker 
Delphi  nicht  sehr  lange  vor  449  in  Besitz  genommen  haben.  Auch  gibt  es 
archaische  Münzen  mit  der  Aufschrift  AaXqpiKOV,  die  offenbar  älter  sind  als  449, 
während  die  Phoker  seit  dem  VI.  Jahrhundert  Bundesmünzen  geprägt  haben. 
Und  da  bei  der  spartanischen  Intervention  in  Phokis  vor  der  Schlacht  bei  Tanagra 
(457)  von  Delphi  nicht  die  Rede  ist  (Thuk.  I  117,  2),  so  haben  die  Phoker  wahr- 
scheinlich erst  nach  der  Schlacht  bei  Oenophyta  mit  athenischer  Hilfe  sich  zu 
Herren  von  Delphi  gemacht. 

^  Plut.  Per.  17,  ohne  Zweifel  nach  dem  Volksbeschluß  in  der  Sammlung 
des  Krateros.  Die  Sache  kann  nur  in  eine  Zeit  gehören,  in  der  Athen  mit  Sparta 
in  Frieden  war,  und  kann  auch  nicht  später  gesetzt  werden,  als  der  Beginn 
des  Baues  des  Parthenon  (447).  Andererseits  war  offenbar Kimon  schon  tot  und  der 
Perserkrieg  beendet.     Vgl.   Busolt,  Gr.  Gesch.   III  1  S.  445  ff. 

«  Aristot.  PolÜ.  V  1302  b,  vgl.  oben  S.  170  A.  1. 

12* 


1  80  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

Westen  des  Landes  (Winter  447/6).  In  Athen  unterschätzte 
man  die  Bedeutung  des  Aufstandes;  mit  nur  1000  Bürger- 
hopliten  und  einer  Anzahl  Bundeskontingenten  zog  Tolmides 
nach  Boeotien,  und  es  gelang  ihm  auch,  Chaeroneia  zu  nehmen, 
zu  einer  Belagerung  von  Orchomenos  aber  war  er  nicht  stark 
genug,  und  so  blieb  nichts  übrig  als  der  Rückzug.  Doch  beim 
Tempel  der  itonischen  Athena  im  Gebiet  von  Koroneia  fand 
er  die  Straße  vom  Feinde  besetzt,  der  aus  Theben,  dem 
opuntischen  Lokris  und  durch  euboeische  Verbannte  Zuzug 
erhalten  hatte.  Tolmides  war  nicht  imstande,  diese  Stellung 
zu  durchbrechen;  er  selbst  fiel  mit  einem  Teil  seiner  Leute, 
der  Rest  seines  Korps  wurde  zur  Ergebung  gezwungen.  Um 
die  zahlreichen  Gefangenen  auszulösen,  mußten  die  Athener 
sich  zur  Räumung  von  ganz  Boeotien  verstehen;  nur  Plataeae 
hielt  auch  jetzt  fest  an  der  Verbindung  mit  Athen  ^.  Überall 
sonst  wurden  nun  oHgarchische  Verfassungen  eingeführt, 
und  der  alte  Bund  mit  Theben  erneuert,  und  zwar  auf  dem 
Fuße  völHger  Gleichberechtigung,  nur  daß  die  Bundesbehörden 
auf  der  Kadmeia  ihren  Sitz  hatten,  und  Theben,  seiner  größeren 
Bevölkerung  entsprechend,  darin  stärker  vertreten  war,  als 
die  übrigen  Bundesstädte.  An  der  Spitze  des  Bundes  stand 
ein  Kollegium  von  11  Boeotarchen,  etwa  mit  der  Kompetenz 
der  athenischen  Strategen,  von  denen  Theben  und  die  ihm 
zugewandten    Orte    4,    Orchomenos    und   Thespiae,    ebenfalls 

1  Thuk.  I  113,  Hellanikos  (?)  fr.  49  bei  Steph.  Byz.  Xaipibveia,  Plut. 
Per.  18,  Diod.  XII  6  (gibt  nur  ein  Exzerpt  aus  Thukydides).  Aus  Thuk.  III 
62.  67,  IV  92  ergibt  sich  die  Teilnahme  der  Thebaner  an  der  Schlacht,  die  der 
Natur  der  Sache  xiach  keine  Verbannten  gewesen  sein  können,  so  daß  also  der 
Staat  Theben  den  Verbannten  Zuzug  gesandt  hat.  Offenbar  standen  die  Boeoter 
mit  der  Front  gegen  Westen,  wie  63  Jahre  später  auf  demselben  Schlachtfelde 
gegen  Agesilaos  (Plut.  Ages.  19),  so  daß  Tolmides  nur  durch  ein  siegreiches 
Gefecht  sich  den  Weg  nach  Athen  hätte  öffnen  können;  dadurch  erklärt  es  sich, 
daß  sein  ganzes  Korps  vernichtet  wurde.  Das  hat  aber  wieder  zur  Voraussetzung, 
daß  der  Feind  in  Theben  seine  Basis  hatte;  auch  der  Führer  der  Boeoter,  Sparton 
(Plut.  a.  a.  0.),  war,  wie  der  Name  zeigt,  ein  Thebaner.  Xen.  Denkw.  III  5,  4 
verlegt  die  Schlacht  nach  Lebadeia,  Paus.  I  27,  5  läßt  die  Athener  auf  dem 
Marsche  nach  Haliartos  angegriffen  werden.  Unter  den  Gefallenen  war  Kleinias, 
der  Vater  des  Alkibiades:  Plat.  Alk.  I  112  c,  Isokr.  16,  irepi  toO  Z:eÜYOU<;,  28, 
Plut.  Alk.  1. 


Erhebung  Boeotiens.  —  Der  boeotische  Bund.  181 

mit  den  zugewandten  Orten,  je  2,  Tanagra  1,  Lebadeia,  Koro- 
neia  und  Haliartos,  und  ebenso  Akraephion  und  Kopae  je  1 
im  Turnus,  stellten.  Ferner  bestand  eine  Ratsversammlung, 
in  der  die  einzelnen  Städte  nach  ihrer  Größe  vertreten  waren, 
wie  die  Phylen  und  Demen  im  Rate  Athens,  und  zwar  im 
Verhältnis  von  60  Abgeordneten  für  jeden  Boeotarchen,  so  daß 
die  ganze  Versammlung  660  Mitglieder  zählte;  sie  war  in  vier 
Sektionen  geteilt,  von  denen  eine  im  Turnus  den  Vorsitz 
führte,  die  laufenden  Angelegenheiten  vorberiet  und  sie  dann 
an  das  Plenum  zur  Entscheidung  brachte.  Wählbar  war 
nur,  wer  ein  gewisses  Vermögen  besaß.  Volksversammlungen 
brauchte  der  Bund  nicht,  da  die  Wahlen  in  den  Einzelstädten 
gehalten  wurden  und  der  Rat  in  letzter  Instanz  über  alles 
entschied ;  wohl  aber  gab  es  ein  Bundestribunal,  dessen  Richter 
von  den  einzelnen  Städten  nach  dem  Verhältnis  der  Zahl 
der  Boeotarchen  gestellt  wurden.  Nach  demselben  Verhältnis 
wurden  die  Matrikularbeiträge  zur  Bestreitung  der  Ausgaben 
des  Bundes  aufgebracht;  und  ebenso  zerfiel,  den  11  Boeotarchen 
entsprechend,  das  Bundesheer  in  11  Hoplitenregimenter 
zu  etwa  1000  Mann  und  11  Schwadronen  zu  100  Pferden, 
wenn  auch  natürlich,  besonders  bei  den  Hopliten,  die  Effektiv- 
stärke beträchtlich  hinter  der  Sollstärke  zurückblieb  ^.  Dank 
dieser  Verfassung,  die  alle  Kräfte  des  Landes  der  Zentral - 
regierung  zur  Verfügung  stellte,  war  Boeotien  fortan  einer  der 
mächtigsten  griechischen  Staaten  ^. 

Durch  den  Abfall  Boeotiens  gingen  auch  Phokis  und  das 

^  Wir  haben  ein  klares  Bild  dieser  Verfassung  erst  aus  den  neuentdeckten 
Fragmenten  des  Kratippos  erhalten  (c.  11,  fr.  D  col.  XI).  Daß  auch  der  Bundes- 
rat, ebenso  wie  die  Ratsversammlungen  der  Einzelstädte,  in  vier  Sektionen 
geteilt  war,  sagt  Kratippos  nicht  ausdrücklich,  um  sich  nicht  wiederholen  zu 
müssen,  es  folgt  aber  aus  Thuk.  V  38,  2,  wo  die  Tiaaapeq  ßouXai  tüjv  Boiujtuiv, 
aiirep  änav  tö  Kupo?  ^xo'JtJi,  ^^^  *ls  Sektionen  des  Bundesrates  gefaßt  werden 
können  (vgl.  Glotz,  Bull.  Corr.  Hell.  XXXII,  1908,  S.  271  £E.).  Die  auf  den 
ersten  Blick  auffallende  Zahl  von  11  Boeotarchen  erklärt  sich  wohl  aus  dem 
Wunsche,  eine  eventuelle  Stimmengleichheit  zu  vermeiden;  auch  der  im  IV.  Jahr- 
hundert reorganisierte   Bund  hat  eine  ungerade  Zahl  Boeotarchen  gehabt. 

*  Thuk.  III  62,  5.  iTTTTOu?  xe  irap^xovxai  Koi  TtapaffKeur)v  öoriv  ouk 
äXXoi  TiiJv  EujLijudxujv  (als  Bundesgenossen  Spartas  im  peloponnesischen  Kriege). 


182  V.  Abschnitt.  —  Der  Konflikt  der  Großmächte. 

opuntische  Lokris  für  Athen  verloren^;  Delphi  hat  damals 
oder  wenig  später  seine  Autonomie  wieder  erlangt  ^.  Und 
kurz  darauf  erhob  sich  auch  Euboea  gegen  die  athenische 
Herrschaft  (Sommer  446).  Sogleich  ging  nun  Perikles  mit 
einem  Heere  nach  der  Insel  hinüber;  kaum  aber  war  er  dort 
angekommen,  als  ein  Aufstand  in  Megara  ausbrach;  die 
athenische  Besatzung  der  Stadt  wurde  zusammengehauen, 
und  nur  die  beiden  Hafenstädte  Nisaea  am  Saronischen,  Pagae 
am  Korinthischen  Golfe  von  den  Athenern  behauptet.  Korinth, 
Epidauros  und  Sikyon  hatten  die  Erhebung  mit  Truppen 
unterstützt,  während  zugleich  ein  peloponnesisches  Bundes - 
heer  auf  dem  Isthmos  sich  sammelte,  unter  dem  jungen  König 
Pleistoanax,  dem  ein  erprobter  Offizier,  Kleandridas,  als 
militärischer  Ratgeber  zur  Seite  gestellt  war^;  denn  eben 
war  der  fünfjährige  Waffenstillstand  mit  Athen  abgelaufen, 
und  Sparta  hatte  so  die  Hände  frei.  Auf  die  Nachricht  von 
diesen  Vorgängen  führte  Perikles  sein  Heer  aus  Euboea  zurück 
und  rückte  in  die  Megaris  ein,  wich  dann  aber  vor  den  weit 
überlegenen  Kräften  der  Peloponnesier  ohne  Kampf  zurück 
und  räumte  sogar  die  Ebene  von  Eleusis,  die  nun  vom  Feinde 
besetzt   wurde  *.      Jetzt,    wo   die   Peloponnesier   nur   wenige 


^  Beide  Landschaften  sind  am  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  mit 
Sparta  verbündet  (Thuk.  II  9),  trotz  der  Sympathie  der  Phoker  für  Athen 
(Thuk.  III  95,  1);  dagegen  hatten  die  Lokrer  von  Opus  schon  bei  Koroneia 
gegen  aie  Athener  mitgefochten  (Thuk.   I  113,  2). 

^  Überhefert  ist  das  nicht.  Da  aber  im  Nikiasfrieden  die  Autonomie 
Delphis  Kaxd  xd  iräxpia  garantiert  wird  (Thuk.  V  18,  2),  und  die  Phoker  im 
archidamischen  Kriege  mit  Sparta  verbündet  waren,  können  die  Spartaner 
ihnen  damals  den  Besitz  der  Stadt  nicht  entzogen  haben;  sie  muß  also  schon 
vor  dem  Kriege  autonom  gewesen  sein.  Es  liegt  ja  auch  in  der  Natur  der  Sache, 
daß  die  Spartaner  die  Unabhängigkeit  Delphin  wieder  herstellten,  sobald  Mittel- 
griechenland unter  ihren  Einfluß  gekommen  war. 

^  Kleandridas  hatte  sich  bereits  in  den  Kämpfen  gegen  Arkadien  um  466 
ausgezeichnet  (Polyaen.  II  10,  3),  später,  nach  seiner  Verbannung,  ist  er  in 
Thurioi  an  die  Spitze  des  Heeres  getreten  (Polyaen.   II  10). 

*  Thuk.  1 114,  Diod.  XII  7,  Plut.  Per.  22.  Auf  die  Ereignisse  in  der  Megaris 
bezieht  Köhler  (Hermes  XXIV,  1839,  S.  92  und  dazu  meine  Bemerkungen 
ebenda  S.  479)  die  Grabschrift  des  Megarers  Python  {CIA.  II  1675),  die  von 
diesem  rühmt,  er  habe  drei  athenische  Phylen  gerettet  ^k  TTaYäv  dTOTiI'v  ^id 


Der  dreißigjährige  Frieden.  —  Unterwerfung  Euboeas.  183 


Stunden  von  Athen  standen,  begann  Perikles  Unterhandlungen; 
und  da  er  bereit  war,  den  Frieden  mit  sehr  schweren  Opfern 
zu  erkaufen,  kam  man  bald  zur  Verständigung.  Athen  erkannte 
die  Unabhängigkeit  von  Megara  an,  räumte  Nisaea  und  Pagae 
und  verzichtete  auf  Troezen  und  Achaia;  dafür  erlangte 
es  die  Anerkennung  seiner  Seehegemonie  seitens  der  Pelo- 
ponnesier;  auch  Aegina  sollte  unter  athenischer  Oberhoheit 
bleiben,  in  seinen  inneren  Angelegenheiten  aber  unabhängig 
sein.  Zwischen  dem  peloponnesischen  und  dem  attischen 
Bunde  sollte  freier  Verkehr  herrschen;  etwaige  Streitigkeiten 
durch  Schiedsspruch  geschhchtet  werden.  Kleandridas  und 
der  junge  König  waren  überzeugt,  daß  auch  bei  einer  Fort- 
setzung des  Krieges  nicht  mehr  zu  erreichen  gewesen  wäre; 
mit  vollem  Recht,  wie  die  späteren  Ereignisse  bewiesen  haben. 
Sie  schlössen  also  auf  diese  Bedingungen  hin  einen  Prähminar- 
frieden  und  führten  ihr  Heer  nach  dem  Peloponnes  zurück. 
Im  Laufe  des  Winters  erfolgte  dann  die  Ratifizierung  des 
Vertrages  durch  die  Volksversammlungen  in  Sparta  und  Athen 
und  die  peloponnesischen  Bundesgenossen.  Das  Abkommen 
sollte  auf  30   Jahre  in  Geltung  bleiben  ^. 

Der  Abschluß  des  Prähminarfriedens  gab  Perikles  freie 
Hand  gegen  Euboea,  das  er  nun  an  die  Spitze  von  5000  Hopliten 


BonJUTiiuv  Iq  Äeriva(;.  Kaum  richtig.  —  Natürlich  müssen  dem  Ablaufe  des  fünf- 
jährigen Friedens  Verhandlungen  über  eine  Verlängerung  des  Vertrages  voraus- 
gegangen sein,  die  aber  zu  keinem  Ergebnis  führten,  weil  Sparta  mehr  forderte, 
als   Athen   damels  bewilligen  wollte. 

^  Thuk.  I  115,  Paus.  V  23,  3,  die  Abtretungen  auch  IV  21,  3,  Autonomie 
Aeginas  I  67,  2,  freier  Verkehr  I  67,  4,  Schiedsgericht  I  144,  2;  140,  2;  144,  2;  145; 
VII  18.  Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  87.  Da  die  Ratifizierung  des 
Friedens  erst  im  Winter  erfolgt  ist,  müssen  noch  nach  Abschluß  des  Präliminar- 
friedens längere  Verhandlungen  geführt  worden  sein;  offenbar  hat  die  Kriegs- 
partei in  Sparta  schon  damals  dem  Abkommen  scharfe  Opposition  gemacht. 
Daß  aber  Athen  in  diesem  Stadium  noch  weitere  Konzessionen  gemacht  haben 
sollte,  ist  unwahrscheinlich,  denn  weniger  als  schließlich  erlangt  wurde,  haben 
Kleandridas  und  Pleistoanax  nicht  wohl  fordern  können.  Während  der  Ver- 
handlungen ist  Pindars  8.  pythische  Ode,  für  Aristomenes  aus  Aegina,  ge- 
schrieben; der  W^unsch,  den  der  Dichter  am  Schluß  ausspricht,  Ai'Yiva,  qpi\a 
Härep,  IXeueripuj  öxöXiu  ttöXiv  Tdvbe  KÖ]uiIe  AI  xai  KpeovTi  aOv  AiaKuJ 
sollte   freilich   nicht   in   Erfüllung   gehen. 


184  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

mit  leichter  Mühe  zum  Gehorsam  zurückbrachte.  Die  Insel 
hatte  schwer  für  ihren  Abfall  zu  büßen,  die  Bewohner  von 
Histiaea  wurden  ausgetrieben  und  ihr  Gebiet  an  athenische 
Kleruchen  verteilt;  die  übrigen  Gemeinden  blieben  zwar 
bestehen,  hatten  aber  bedeutende  Gebietsabtretungen  zu 
machen  und  wurden  in  völlige  Abhängigkeit  von  Athen 
gebracht  ^. 

So  war  denn,  allerdings  um  teuren  Preis,  das  Schlimmste 
noch  abgewendet.  Wenn  auch  Athens  Einfluß  auf  dem 
griechischen  Festlande  verloren  war,  so  stand  doch  die  See- 
herrschaft unerschüttert,  und  sie  war  jetzt  von  den  Pelo- 
ponnesiern  ausdrücklich  anerkannt.  Vor  allem  aber,  auf  ein 
Menschenalter   schien   Hellas   der   innere   Friede   gesichert. 


VI.  Abschnitt. 

Die  Friedensjahre. 

Der  Frieden  war  durch  ein  Kompromiß  zustande  ge- 
kommen; wenn  Athen  schwere  Opfer  gebracht  hatte,  so  hatte 
doch  auch  Sparta  nicht  alles  erreicht,  wofür  es  zum  Schwerte 
gegriffen  hatte.  Man  hatte  Euboea  preisgegeben,  das  sich  im 
Vertrauen  auf  die  peloponnesische  Hilfe  erhoben  hatte,  und 
das  stammverwandte  Aegina  nicht  von  der  athenischen  Herr- 
schaft befreit.  Das  schien  vielen  in  Sparta  ein  schimpflicher 
Frieden.  Bei  den  Ephorenwahlen,  die  im  nächsten  Sommer 
(445)  gehalten  wurden,  kam  diese  Stimmung  zum  Ausdruck. 
Freilich,  der  einmal  beschworene  Vertrag  war  nicht  mehr 
rückgängig  zu  machen;  aber  seine  Urheber,  der  König  Plei- 
stoanax  und  dessen  Ratgeber  Kleandridas,  wurden  unter  der 
Anklage,  von  Perikles  bestochen  zu  sein,  vor  Gericht  gestellt. 
Der    König   wurde   seiner   Würde   entsetzt    und    gezwungen, 

1  Thuk.  I  114,  Plut.  Per.  23,  Diod.  XII  22,  CIA.  IV  1,  27  a,  Aristoph. 
Wölk.  213  mit  den  Scholien  (Philoch.  fr.  89).  Über  die  Kleruchie  in  Histiaea 
(fortan  Oreos  genannt)  außerdem  Theopomp.  fr.  164  M.  Nach  Andokides 
vFr.  9  wäre  mehr  als  Ys  der  Insel  in  athenischen  Besitz  gekommen. 


Pleistoanax  abgesetzt.  —  Thukydides  und  Perikles.  185 

im  Tempel  des  lykaeischen  Zeus  in  Arkadien  eine  Zuflucht 
zu  suchen,  und  auch  Kleandridas  mußte  in  die  Verbannung 
gehen.  Den  erledigten  Thron  nahm  Pleistoanax'  unmündiger 
Sohn   Pausanias  ein  ^. 

Wenn  Sparta  seinen  siegreichen  König  zur  Rechenschaft 
zog,  was  hatte  der  leitende  Staatsmann  Athens  verdient, 
der  so  völlig  mit  Blindheit  geschlagen  gewesen  war,  sich 
von  der  revolutionären  Bewegung  in  Boeotien,  Euboea,  der 
Megaris  ahnungslos  überraschen  zu  lassen,  und  der  infolge- 
dessen nichts  getan  hatte,  der  Katastrophe  vorzubeugen, 
die  über  Athen  hereingebrochen  war  ?  Die  Gegenpartei  säumte 
denn  auch  nicht,  ihren  Vorteil  aus  dieser  Lage  zu  ziehen.  An 
ihrer  Spitze  stand  jetzt,  nach  Kimons  Tode,  Thukydides 
von  Alopeke,  der  Sohn  des  Melesias,  ein  Mann  aus  vornehmem 
Hause,  mit  Kimon  verschwägert,  ausgezeichnet  als  Redner, 
und,  was  bei  einem  griechischen  Staatsmanne  besonderer 
Hervorhebung  bedurfte,  von  anerkannter  persönlicher  Inte- 
grität; nach  Piatons  und  Aristoteles'  Urteil  einer  der  besten 
Bürger,  die  Athen  je  gehabt  hat.  Kimon  freilich  vermochte 
er  seiner  Partei  nicht  zu  ersetzen,  da  ihm  der  Nimbus  des 
militärischen  Erfolges  mangelte;  immerhin  war,  wie  die  Dinge 
lagen,  auch  Thukydides  für  Perikles  ein  sehr  gefährlicher 
Gegner  ^. 

Indes  die  Mehrheit  der  attischen  Bürgerschaft  war  für 
eine  Reaktion  nicht  zu  haben.  Im  Frühjahr  445  entschied 
das  Scherbengericht  gegen  Thukydides,  und  Perikles  stand 
nun  ohne  Nebenbuhler  an  der   Spitze  des    Staates  ^.      Jahr 


1  Thuk.  II  21,  1;  V  16,  Ephor.  fr.  118,  Diod.  XIII  lOG,  10,  Plut.  Per.  23. 
Über  die  Chronologie  oben  I  1   S.   176f. 

2  Plut.  Per.  8.  11,  Piaton  Laches  S.  179  f.,  Me7ion  94  d,  Aristot.  AH. 
28,  2.  5,  Androtion  fr.  43,  Philochoros  fr.  95  bei  Schol.  Aristoph.  Wesp.  947. 
Aristot.  a.  ?.  O.  nennt  ihn  Kr]beaTri?  Kijuujvoi;,  nach  Schol.  Aristeid.  III  S.  446  Df. 
wäre  er  dessen  Schwiegersohn  gewesen.  In  den  Biographien  des  Historikers 
Thukydides  wird  dieser  mit  dem  Sohn  des  Melesias  und  anderen  gleichnamigen 
Männern  vielfach  zusammen  geworfen.  —  Ohne  Zweifel  hat  Thukydides  schon 
während  Kimons  Verbannung  dessen  Partei  geführt,  daher  sagt  Plut.  Per.  8 
TrXeTaTGv  dvTeTroXvxeuaaxo  riu  TTepiKXei  xpövov. 

^  Plut.  Per.  14.    Die  Zeit  ergibt  sich  aus  c.  16  luerä  xriv  0ouKub{&ou  Ktt- 


186  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 


für  Jahr  wurde  er  zum  Strategen  erwählt;  in  Rat  und  Volks- 
versammlung herrschte  sein  Wort  unbedingt.  Kein  attischer 
Bürger  seit  Hippias  hatte  eine  solche  Machtfülle  besessen, 
und  die  Opposition  verfehlte  natürlich  nicht,  diese  Parallele 
zu  ziehen  ^.  Es  war,  wie  der  Historiker  Thukydides  sagt, 
,,dem  Namen  nach  eine  Demokratie,  in  Wahrheit  gebot 
Perikles  als  Alleinherrscher"  ^.  Aber  es  war  eine  Macht,  die 
ausschließlich  auf  freiwilliger  Unterordnung  der  Bürger 
beruhte.  Zum  Tyrannen  fehlte  Perikles  der  Rückhalt  eines 
ihm  persönlich  ergebenen  Heeres;  und  so  hat,  als  er  das  Ver- 
trauen des  Volkes  verlor,  eine  einzige  Abstimmung  genügt, 
ihn  von  seiner  Höhe  herabzustürzen. 

Bei  dem  tiefen  Frieden,  der  jetzt,  zum  erstenmal  seit 
dem  Zuge  des  Xerxes,  nach  allen  Seiten  hin  herrschte,  konnte 
Perikles  ungestört  der  Konsolidierung  des  Seebundes  seine 
Tätigkeit  zuwenden.  War  der  Bund  ursprünglich  eine  auf 
freiwilliger  Übereinkunft  beruhende  Vereinigung  völlig  selb- 
ständiger Staaten  zur  gemeinsamen  Verteidigung  gegen  die 
Perser,    so    hatte    das   Schwergewicht    der   Verhältnisse    bald 

ToXuffiv  Kai  TÖv  öarpaKiöinöv  oük  ^XcIttuu  tuiv  -rrevTeKaibeKa  ixatv  bir\veKr\  Kai 
laiav  oöaav  ^v  xaTi;  dviauoiai?  axparriYiai^  ctpxnv  Kai  bwaoreiav  KxriadiLievoc;. 
Da  Perikles  zu  Anfang  430/29  abgesetzt  wurde,  läuft  diese  15  jährige  ununter- 
brochene Strategie  von  445/4 — 431/0.  Wer  die  15  Jahre  bis  zu  Perikles'  Tode 
(429/8)  rechnen  will,  obgleich  es  dann  eben  keine  biriveKri^  Kai  |nia  dpxH  mehr 
■wäre,  erhält  443  als  Datum  des  Ostrakismos.  Doch  hat  es  auch  aus  inneren 
Gründen  große  Wahrscheinlichkeit,  daß  der  Angriff  gegen  Perikles  bald  nach 
dem  Abschluß  des  dreißigjährigen  Friedens  erfolgt  ist,  wie  in  Sparta  der  Angriff 
gegen  Pleistoanax.  11  Tonscherben  mit  Thukydides'  Namen  sind  vor  kurzem 
beim  Dipylon  zutage  gekommen  (Jahrb.  d.  Inst.  XXVI,  1911,  Anz.  Sp.  121,  doch 
scheinen  sie  von  einem  späteren  Ostrakismos  zu  stammen  (s.  unten  Abschn.  X). 
In  der  zweiten  Vita  des  Thukydides  bei  Westermann  heißt  es  (S.  202  Z.  70) 
upüJTOv  \xiv  Ycip  Otto  toO  EevoKpiTou,  dj;;  Zußapiv  dTrobr||iir|aa^,  Ob«;  dTTavf|\eev 
eiq  ÄSrivaq  axi^xhaemc,  biKaaxripiou  qpeuyujv  4d\ai,  tiarepov  b'  ^HoarpaKiZieTai 
fxr]  i.  Das  muß  auf  den  Sohn  des  Melesias  gehen.  Die  Unwahrscheinlichkeit  der 
letzteren  Angabe  liegt  auf  der  Hand;  wohl  aber  könnte  er  während  seiner  Ver- 
bannung nach  Thurioi   gegangen   sein. 

^  Plut.  Per.  16,  vgl.  0.  7. 

*  Thuk.  II  65  ^Y^veTO  bd  Xö^iu  |U6V  brnuoKpaTia,  ^pyuJ  ^^  uirö  foö 
irpiÜTOU  ävbpö?  öpxn;  Plut.  Per.  15  f.,  und  die  dort  angeführten  Verse  des 
Telekleides  (fr.  42  Kock). 


Perikics  Alleinherrscher.  —  Zentralisierung  des  Seebundes.  —  Kleruchien.  187 

dahin  geführt,  die  Macht  des  Vororts  zu  steigern.  Es  lag  in  der 
Natur  der  Sache,  daß  aufständischen  Bundesstaaten  nach 
ihrer  Unterwerfung  die  Mittel  genommen  wurden,  den  Auf- 
stand zu  wiederholen,  Sie  mußten  ihre  Kriegsschiffe  aus- 
liefern, ihre  Mauern  schleifen,  und  statt  des  bisher  gestellten 
Flottenkontingents  an  die  Bundeskasse  Tribut  zahlen.  War 
die  Verfassung  einer  solchen  Stadt  oligarchisch  gewesen 
so  wurde  sie  jetzt  im  demokratischen   Sinne  reformiert  *. 

In  der  Regel  mußte  auch  ein  Teil  des  Gebiets  abgetreten 
werden,  der  dann  sehr  oft  unter  attische  Bürger  verteilt 
wurde.  So  geschah  es  um  450  in  Naxos  und  Andros  ^,  446 
in  Chalkis  und  Eretria  ^.  In  besonders  schweren  Fällen  wurde 
wohl  die  ganze  Bevölkerung  der  aufständischen  Stadt  aus- 
getrieben, wie  das  zuerst  durch  Perikles  mit  den  Bürgern 
von  Histiaea  geschehen  ist  *,  und  im  peloponnesischen  Kriege 
sich  noch  öfter  wiederholen  sollte.  An  die  Stelle  der  ver- 
triebenen Bewohner  traten  dann  attische  Bürger,  die  für 
die  Verwaltung  ihrer  Lokalangelegenheiten  eine  eigene  Ge- 
meinde bildeten,  im  übrigen  aber  fortfuhren  dem  athenischen 
Staate  anzugehören.  Auch  bei  Eroberung  von  Gebieten,  die 
bisher  außerhalb  des  Bundes  gestanden  hatten,  wurde  mit- 
unter in  derselben  Weise  verfahren,  wie  zum  Beispiel  nach 
der  Erwerbung  von  Skyros  durch  Kimon.    Diese  ,, Kleruchien" 

1  So  in  Erythrae  um  460  (CIA.  I  9),  in  Milet  4öÜ.(C/--i.  IV,  1,  22  a  S.  7). 

*  Diod.  XI  88,  3  (unter  453/2),  Plut.  Per.  11  (die  Liste  ist  nicht,  wie  man 
gemeint  hat,  chronologisch  geordnet),  Paus.  I  27,  5,  über  Naxos  auch  Andok. 
vFr.  9  und  Plat.  Euthyphron  4  c.  Da  Tolmides  die  Kleruchien  nach  Naxos  und 
Andros  geführt  haben  soll  (Diod.  und  Paus.  a.  a.  0.),  so  können  sie  nicht  nach 
447  gesetzt  werden;  die  Gebietsabtretung  auf  Naxos  muß  nach  dem  Aufstande 
um  472  erfolgt  sein;  Andros  mag  sich  entweder  an  diesem  Aufstande  oder  an 
dem  Kriege  des  benachbarten  Karystos  gegen  Athen  beteiligt  haben.  —  Daß 
um  450  neue  Kleruchen  nach  Lemnos  gegangen  wären,  ist  nicht  bezeugt,  und 
lediglich  aus  der  Herabsetzung  des  Tributs  erschlossen;  es  wird  sich  dabei  aber 
um  eine  Erleichterung  handeln,   die  den  alten  Kleruchen  bewilligt  wurde. 

*  Plut  Per.  23,  Aelian  Verm.  Gesch.  VI  1  (s.  oben  S.  184),  CIA.  I  339 
Tfiq  dTroi[Kia(;]  Tr\<;  eic;  'Ep[eTpiav]. 

*  Als  Grund  wird  angegeben,  daß  die  Bürger  der  Stadt  die  Bemannung 
eines  von  ihnen  genommenen  athenischen  Schiffes  niedergemacht  hätten  (Plut. 
Per.  23). 


188  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

bildeten  natürlich  die  festesten  Stützpunkte  für  die  attische 
Herrschaft  ^. 

Aber  auch  wo  kein  Aufstand  erfolgte,  konnte  es  doch 
an  Anlaß  für  die  Einmischung  des  Vororts  in  die  inneren 
Verhältnisse  der  Bundesstädte  nicht  fehlen.  Die  Tribute 
blieben  sehr  oft  im  Rückstande  und  mußten  durch  Exekution 
beigetrieben  werden  2;  Athen  unterhielt  zu  diesem  Zweck 
stehende  Geschwader  (dpYupoXÖYOi  vri^q)  auf  dem  Aegaeischen 
Meere  ^.  Bei  Streitigkeiten  einzelner  Bundesstaaten  unter- 
einander, wie  bei  Parteikämpfen  innerhalb  eines  Bundes- 
staates war  der  Vorort  der  natürliche  Schiedsrichter,  dessen 
Intervention  denn  auch  in  der  Regel  von  der  schwächeren 
Partei  angerufen  wurde  *.  Zur  Aufrechterhaltung  der  inneren 
Ordnung  sah  sich  dann  Athen  wohl  genötigt,  Besatzung  in  die 
Bundesstädte  zu  legen,  deren  Befehlshaber  (cppoupapxoq) 
damit  natürlich  in  einer  solchen  Stadt  leitenden  Einfluß 
erhielt;  in  den  meisten  Fällen  genügte  die  Absendung  atheni- 
scher Zivilkommissare  (eTriffKOTTOi)  ^ 

Ganz  besonders  dringend  aber  war  die  Ordnung  der 
Rechtspflege.  Wenn  wir  erwägen,  wie  es  selbst  in  Athen 
damit  aussah,  so  werden  wir  uns  ein  lebhaftes  Bild  davon 
machen  können,  wie  es  in  den  Mittel-  und  Kleinstädten  in 
diesem  Punkte  bestellt  sein  mußte.  Und  es  gab  im  Bunde 
nur   sehr   wenige    Gemeinden,    welche    die    Zahl    von    10  000 


^  Über  die  beiden  Klassen  von  Kleruchien  meine  Bevölkerung  S.  87.  In 
unseren  epigraphischen  und  literarischen  Quellen  werden  die  Ausdrücke  dtroiKia 
und  KXripouxia  für  beide  unterschiedslos  gebraucht,  diroiKla  z.  B.  für  die  Neu- 
gründung Brea,  CIA.  I  31  und  für  die  Landanweisungen  im  Gebiet  von  Eretria, 
CIA.  I  339.    Vgl  oben  S.  146  Anm.  3. 

2  Thuk.  I  99. 

»  Aristot.  An  24,  3.     Plut.  Per.  11,  und  öfter  bei  Thukydides. 

*  Vgl.  z.  B.  Thuk.  I  115,  2. 

*  S.  besonders  den  athenischen  Volksbeschluß  über  die  Neuordnung 
der  Verfassung  von  Erythrae  CIA.  I  9,  ferner  das  Privileg  für  Leonidas  aus 
Halikarnassos  CIA.  IV  1,  27  c  S.  164  =  Dittenb.  Syll.  ^  23  und  CIA.  I  51  (IV 1 
S.  16)  =  Dittenb.  49,  ein  äpxujv  ^v  iKioieuj  CIA.  IV162  b  S.  166  =  Dittenb.  54; 
Antiphon  und  Theophrast  bei  Harpokr.  (=  Suidas)  ^TTiöKOiroi.  Nach  Aristot. 
ATT.  24,  3  hätte  es  dpxai  (jirepöpioi  de,  4TrTaKoaiou(;  gegeben;  die  Zahl 
ist   korrupt   und  weit   übertrieben. 


Kleruchien.  —  Rechtspflege.  —  Finanzverwaltung.  189 

Bürgern  erreichten.  Es  war  ganz  unvermeidlich,  daß  die 
Rechtsprechung  statt  nach  sachHchen,  oft  nach  persönlichen 
und  politischen  Rücksichten  gehandhabt  wurde;  und  so 
waren  überall  da,  wo  die  Athen  feindliche  Partei  die  Re- 
gierungsgewalt hatte,  die  Freunde  Athens  schutzlos  der  Willkür 
ihrer  Gegner  preisgegeben  ^.  Um  diesen  Zuständen  ein  Ende 
zu  machen,  gab  es,  wie  die  Dinge  lagen,  nur  das  Mittel,  den 
Bundesstaaten  die  höhere  Kriminalgerichtsbarkeit  zu  ent- 
ziehen und  alle  Prozesse  dieser  Art  vor  die  athenischen  Ge- 
schworenen zu  verweisen.  Diese  Maßregel  ist  zuerst  gegenüber 
abgefallenen  Bundesstädten  zur  Anwendung  gebracht  worden, 
wie  z.  B.  gegen  Chalkis  nach  der  Wiederunterwerfung  von 
Euboea  im  Jahre  446  ^\  allmählich  aber  wurde  der  Gerichts- 
zwang auch  auf  die  meisten  übrigen  Bundesstaaten  aus- 
gedehnt. Und  da  die  athenischen  Geschworenen  natürlich 
nach  attischem  Rechte  ihren  Spruch  fällten,  so  war  damit 
in  dem  größten  Teile  des  Bundes  die  Einheit  des  Kriminal - 
rechtes  hergestellt;  aber  auch  abgesehen  von  diesem  Fort- 
schritte bot  der  Spruch  fremder  Richter,  überall  da,  wo  das 
politische  Interesse  Athens  nicht  ins  Spiel  kam,  ohne  Frage 
eine  weit  größere  Gewähr  für  die  Gerechtigkeit  des  Urteils 
als  der  Spruch  der  eigenen  Landsleute,  Allerdings  wurde 
die  Kriminalrechtspfiege  für  die  Bundesgenossen  dadurch 
sehr  kostspielig;  die  Parteien  hatten  die  weite  Reise  nach 
Athen  zu  machen  und  dort  bei  der  Überhäufung  der  Gerichts- 
höfe mit  Prozessen  oft  monatelang  auf  die  Entscheidung 
zu  warten  ^.  Und  wenn  wir  bedenken,  mit  welchen  Augen 
die  Gebildeten  in  Athen  selbst  auf  die  Volksgerichte  blickten, 
so  werden  wir  uns  leicht  vorstellen  können,  was  die  Bundes- 
genossen empfinden  mußten,  wenn  sie  gezwungen  waren, 
von  solchen  Richtern  ihr  Recht  zu  empfangen. 

Je  mehr  Staaten  in  dieser  Weise  in  Abhängigkeit  von 
Athen  kamen,  desto  mehr  mußte  die  Bundesversammlung 
ihre  Bedeutung  verlieren;  seit  der  Überführung  des  Schatzes 

^   [Xenoph.]  Staat  d.  Athen.  1,  16. 

2  CIA.  IV  1,  27  a  S.  10. 

3  [Xen.]  Staat  d.  Athen.  3,  1  ff. 


190  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 


auf  die  Akropolis  von  Athen  schlief  sie  allmählich  ganz  ein  ^. 
Athen  leitete  jetzt  die  Bundesangelegenheiten  völlig  nach 
eigenem  Ermessen;  über  Krieg  und  Frieden  entschied  allein 
die  athenische  Volksversammlung,  und  ihre  Beschlüsse  waren 
für  alle  Bundesstaaten  verbindlich.  Die  Höhe  der  Tribute 
wurde  durch  attische  Schätzungskommissionen  (xaKTai)  ein- 
seitig festgestellt;  wenn  eine  Stadt  sich  für  zu  hoch  belastet 
hielt,  mußte  sie  ihre  Sache  vor  das  attische  Volksgericht 
bringen,  dessen  Spruch  in  letzter  Instanz  entschied.  Immerhin 
blieben,  solange  Perikles  an  der  Spitze  des  Staates  stand, 
die  alten  aristeidischen  Tributsätze  im  wesentlichen  in  Geltung; 
erst  in  der  finanziellen  Bedrängnis  des  peloponnesischen 
Krieges  ist  man  dazu  geschritten,  die  Tribute  zu  verdoppeln 
und  zu  verdreifachen,  bis  man  schließlich  das  alte  Steuer- 
system des  Bundes  ganz  über  den  Haufen  warf  und  die  Tribute 
durch  Hafenzölle  ersetzte.  Zum  Zwecke  der  Steuererhebung 
erhielt  das  Bundesgebiet  im  Jahr  442  eine  Einteilung  in  fünf 
Bezirke:  lonien,  die  hellespontischen  Landschaften,  Thrakien, 
Karlen  und  die  ,,  Inseln",  d.  h.  die  Kykladen,  Aegina,  Euboea, 
Lemnos  und  Imbros  ^. 

Auch  über  die  Verwendung  der  Bundesgelder  entschied 
die  athenische  Volksversammlung  nach  freiem  Ermessen, 
Perikles  scheute  sich  nicht,  offen  zu  erklären,  daß  Athen  den 
Bündnern  darüber  keine  Rechenschaft  schuldig  sei,  solange 
es  nur  seinen  vertragsmäßigen  Verpflichtungen  nachkomme, 
die  Bundesgenossen  gegen  Persien  zu  verteidigen  und  die 
Ordnung  auf  dem  Meere  aufrecht  zu  erhalten  ^.  Die  Mittel 
des  Bundes  wurden  denn  auch  in  immer  steigendem  Maße 
für  rein  athenische  Interessen  verwendet.  Der  Richtersold, 
soweit  er  nicht  aus  den  eigenen  Einnahmen  der  Rechtspflege 
bestritten  wurde,  die  Kosten  für  die  Unterhaltung  der  Reiterei 
wurden  auf  die  Bundeskasse  abgewälzt;  die  großen  Bauten, 


^  Das  letzte   Mal,   daß   ein    Beschluß   der   Bundesversammlung  erwähnt 
wird,  ist  eben  bei  der  Verlegung  des  Schatzes:  Theophrast  bei  Plut.  Arist.  25. 

2  Rh.  Mus.  XLIII,  1888,  S.  104  ff. 

3  Plut.  Per.  12. 


Finanz  Verwaltung.  —  Abschließung  der  athen.  Bürgerschaft.  191 

mit  denen  Perikles  Athen  schmückte,  hauptsächlich  aus  den 
Tributen  und  dem  Bundesschatze  bestritten. 

Während  so  die  Rechte  der  Bundesstaaten  in  jeder 
Weise  beschränkt  wurden,  der  Bund  sich  in  ein  athenisches 
Reich  (dpxn)  verwandelte  ^,  geschah  nichts,  um  die  Bundes- 
genossen innerlich  mit  dem  leitenden  Staate  zu  verknüpfen. 
Vielmehr  begann  Athen  gerade  jetzt  schroffer  als  bisher  von 
seinen  Untertanen  sich  abzuschließen.  Athen  war  bisher 
mit  seinem  Bürgerrechte  ^  sehr  freigebig  gewesen.  Wie 
Kleisthenes  bei  seiner  Verfassungsreform  zahlreichen  in  Athen 
ansässigen  Fremden,  ja  selbst  freigelassenen  Sklaven  das 
Bürgerrecht  gegeben  hatte  ^,  so  geschah  es  auch  später;  nur 
dadurch  war  es  überhaupt  möglich  gewesen,  die  großen  Ver- 
luste während  der  langen  Kriegszeit  zü  überstehen  *.  Nament- 
lich Söhne  athenischer  Väter  von  fremden  Müttern  wurden 
ohne  weiteres  in  die  Bürgerliste  eingeschrieben,  entsprechend 
den  Anschauungen,  wie  sie  in  der  Zeit  der  Adelsherrschaft 
gegolten  hatten,  als  Megakles  seine  Gemahlin  aus  Sikyon, 
Peisistratos  aus  Argos,  Miltiades  aus  Thrakien  geholt  hatte. 
Jetzt  dachte  die  Demokratie  exklusiver,  und  sie  hatte  dazu 
guten  Grund;  war  doch  das  athenische  Bürgerrecht  zum 
wertvollen  Privileg  geworden,  das  große  materielle  Vorteile 
bot,  und  diese  Vorteile  wollte  man  natürlich  mit  möglichst 
wenig  Anwärtern  teilen.  So  war  es  denn  eine  sehr  populäre 
Maßregel,  als  Perikles  im  Jahre  der  Rückkehr  Kimons,  451/0, 
ein  Gesetz  zur  Annahme  brachte,  nach  dem  fortan  nur  die- 
jenigen als  athenische  Bürger  zu  gelten  hätten,  die  von  Vater- 
und  Mutterseite  bürgerlicher  Abstammung  wären  ^.  Nur 
für  Euboea  wurde  später,  wohl  erst  nach  446,  eine  Ausnahme 


^  In  dem  Volksbeschluß  über  Erythrae  {CIA.  I  9,  ca.  460)  wird  der  Bund 
noch  als  5u|U|Liaxia  bezeichnet,  in  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  als 
dpx»l,  auch  in  offiziellen  Urkunden,  wie  bei  Thuk.  V  18,  7;  V  47. 

*  Otto  Müller,  Unters,  zur  Gesch.  d.  att.  Bürger-  und  Eherechts,  Fleckeis. 
Jahrb.   XXV.   Suppl.    Bd.   1899. 

'  Aristot.  Polit.  1275  b,  vgl.   ATT.  21,  2,  und  oben  I  1  S.  396. 

*  Isokr.  8,  vFrieden,  88. 

"  Aristot.   An.  26,  4,  Plut.  Per.  37. 


192  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

gemacht  und  den  Bewohnern  die  Ehegemeinschaft  ver- 
liehen ^,  was  bei  den  engen  Beziehungen  der  Insel  zu  Athen 
und  den  zahlreichen  dort  angesiedelten  athenischen  Bürgern 
eine  Notwendigkeit  war.  Zugleich  wurden  auch  die  übrigen 
Aufnahmebedingungen  in  die  athenische  Bürgerschaft  ver- 
schärft; und  als  einige  Jahre  später,  445/4,  eine  Getreide - 
spende  zur  Verteilung  gebracht  werden  sollte,  benutzte  man 
die  Gelegenheit,  eine  strenge  Prüfung  der  Qualifikation  aller 
Empfänger  vorzunehmen,  bei  der  eine  sehr  große  Zahl  von 
Bürgern  als  zu  unrecht  eingeschrieben  ausgestoßen  worden 
sein  sollen  ^.  Erst  als  das  Reich  in  seinen  Grundfesten  zu 
wanken  begann,  nach  der  sicilischen  Katastrophe,  ist  der 
Gedanke  aufgetaucht,  den  Bewohnern  der  Inseln  das  athenische 
Bürgerrecht  zu  verleihen  ^,  und  nach  dem  Schlage  von  Aegos- 
potamos  ist  es  den  Samiern  wirklich  verliehen  worden  *; 
da  war  es  denn  freilich  zu  spät.  Es  ist  diese  engherzige  Bürger - 
rechtspolitik,  die  vor  allem  den  Fall  Athens  verschuldet  hat. 
Das  alles  mußte  zu  einer  immer  wachsenden  Entfremdung 
zwischen  Athen  und  seinen  Bundesgenossen  führen.  Die 
Perserfurcht,  die  den  Bund  ins  Leben  gerufen  hatte,  trat 
immer  mehr  in  den  Hintergrund;  und  die  demokratischen 
Verfassungen,  die  man  soweit  als  möglich  in  den  Bundesstädten 
eingeführt  hatte,  sicherten  Athen  allerdings  die  Sympathien 
der  besitzlosen  Menge  ^,  entfremdeten  ihm  aber  die  gebildeten 
und  besitzenden  Klassen  in  demselben  Maße,  als  die  Miß- 
bräuche  der  Demokratie  wuchsen,  und  die  öffentliche  Meinung 
in  Griechenland  immer  lauter  eine  Beschränkung  der  zügel- 
losen Volksherrschaft  zu  fordern  begann.  Mit  bitteren  Ge- 
fühlen verglich  man  die  eigene  Lage  mit  der  freien  Stellung 
der  peloponnesischen  Bundesgenossen  Spartas;  und  man 
wartete    nur    auf    eine    günstige    Gelegenheit,    die     verhaßte 


1  Lysias  34  (vdVerf.)  3. 

^  Philochor.  fr.  90,  Plut.  Per.  37,  meine  Bevölkerung  S.  75  ff.,  Ed.  Meyer, 
Forschungen  II  178. 

^  Vgl.  Aristoph.  Lysistr.  582  ff. 

*  CIA.  IV  2,  1  b. 

5  Thuk.  III  47,  2,   [Xen.]  v.  Staat  d.  Athen.  III  10. 


Stimmung  in  den  Bundesstaaten.  —  Der  samische  Aufstand.  193 

athenische  Herrschaft  abzuschütteln.  Selbst  wer  demokratisch 
gesinnt  war,  konnte  doch  nicht  mit  rechter  Freudigkeit  für 
Athen  wirken,  das  seiner  Stadt  die  Knechtschaft  gebracht 
hatte;  und  so  ist  der  Abfall  der  Bundesstädte  nur  sehr  selten 
durch    die    Opposition   des    Demos   verhindert   worden. 

In  Athen  gab  man  sich  denn  auch  keiner  Täuschung 
darüber  hin,  daß  es  nur  die  brutale  Gewalt  war,  welche  die 
Bundesgenossen  im  Zaume  hielt.  Perikles'  energielose  Krieg- 
führung am  Anfange  des  peloponnesischen  Krieges  war  haupt- 
sächHch  durch  die  Überzeugung  bedingt,  daß  eine  verlorene 
Schlacht  den  sofortigen  Abfall  der  Bundesstaaten  nach  sich 
-ziehen  würde  ^;  und  Kleon  spricht  es  bei  Thukydides  offen 
aus,  daß  Athen  zu  seinen  Bundesstaaten  im  selben  Verhältnis 
stehe  wie  ein  Tyrann  zu  seinen  Untertanen  ^.  So  arbeitete 
Athen  systematisch  darauf  hin,  seine  Bundesgenossen  zu 
entwaffnen;  und  es  wurde  ihm  leicht  gemacht,  da  die  un^ 
kriegerischen  Bewohner  der  Inseln  und  der  asiatischen  Küste 
es  in  der  Regel  gleich  von  vornherein  vorgezogen  hatten, 
Tribut  zu  zahlen,  statt  ein  Kontingent  zur  Flotte  zu  stellen. 
Soweit  es  anging,  wurden  die  Bundesstädte  ihrer  Mauern 
beraubt  ^.  Um  450  hatten  im  ganzen  Bundesgebiet  nur  noch 
die  drei  mächtigen  Inseln  Samos,  Chios  und  Lesbos  ihre  volle 
Unabhängigkeit  bewahrt,  waren  von  Tributzahlung  frei, 
und  stellten  statt  dessen  ihre  eigenen  Kontingente  zur  attischen 
Flotte.  Von  hier  ging  denn  auch  die  erste  Erhebung  aus,  die 
den   Bestand  des  Reiches  ernstlich  in  Frage  stellte. 

Unter  den  Bundesstaaten  Athens  hatte  Samos  von 
Anfang  an  den  ersten  Platz  eingenommen.  Hier  kam  im 
Jahre  479  die  Erhebung  loniens  gegen  die  Perserherrschaft 
zum  Ausbruch,  und  auch  die  Gründung  des  Seebundes  war 

1  Thuk.  I  143,  5. 

^  Thuk.  III  37,  2  ÖTi  Tupavviba  ^x^'^^  xriv  äpxiiv  Kai  upö?  ^Trißou- 
XeöovTa?  ai)TOU(;  Kai  OKOvra^  äpxojn^voui;. 

^  So  waren  die  Städte  loniens  zu  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges 
unbefestigt  (Thuk.  III  33,  2),  doch  wohl  nur  nach  der  Seeseite  hin,  vgl.  die  432 
an  Poteidaea  gestellte  Forderung  tö  ^q  TTaWrivrjv  reixoq  KOÖeXeiv  (Thuk. 
I  66,  2),  nicht  auch  die  Nordmauer  gegen  das  Festland  hin. 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  r.     2.  Aufl.  13 


194  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

zum  größten  Teil  das  Werk  der  Samier.  Keine  zweite  Bundes - 
Stadt  verfügte  über  eine  so  bedeutende  Macht;  außer  ihrer 
eigenen  Insel  gehörte  den  Samiern  Amorgos  und  ein  ziemlich 
ausgedehntes  Gebiet  auf  dem  ionischen  Festlande  ^.  Wegen 
dieser  festländischen  Besitzungen  lag  Samos  seit  alten  Zeiten 
mit  dem  benachbarten  Priene  in  Grenzstreit;  und  als  jetzt 
(442)  die  Milesier  Priene  ihrem  Staat  einverleibten,  kam  es 
darüber  mit  Samos  zum  Kriege  ^.  Milet  war  dem  Gegner  in 
keiner  Weise  gewachsen  und  sah  sich  bald  gezwungen,  die 
Vermittlung  Athens  anzurufen.  Und  allerdings  hatte  Athen, 
wenn  nicht  das  formelle  Recht,  so  doch  die  moralische  Ver- 
pflichtung, einen  Krieg  zwischen  Gliedern  seines  Bundes  zu 
hindern.  Aber  Perikles  glaubte  noch  weiter  gehen  zu  müssen. 
An  der  Spitze  von  40  Trieren  erschien  er  unvermutet  vor 
Samos,  bemächtigte  sich  mit  Hilfe  der  demokratischen  Partei 
der  Stadt  und  führte  eine  Demokratie  ein  an  Stelle  der  oli- 
garchischen  Verfassung,  die  bisher  auf  der  Insel  bestanden 
hatte  (441).  Es  war  vielleicht  der  flagranteste  Eingriff  in 
die  Autonomie  eine  Bundesstaates,  den  Athen  sich  bisher 
hatte  zuschulden    kommen    lassen,    und    er  sollte  nicht  un- 


^  Oben  I  1  S.  211;  über  die  (festländischen  Besitzungen  der  Samier  vgl. 
auch  Wiegand,  Priene  (Berlin  1904)  S.  28  ff.,  und  Karte  I.  Anaea  samisch: 
Thuk.  III  19.  32,  IV  75,  Strab.  XIV  639  eix'  "Avaia  iröX?,  fi  upörepov  jn^v 
fiv  'Eqpeaiujv,  vuv  hk  Zaiuiuiv  bia\\a2a|u^vu)v  irpöi;  xö  Mapa0riaiov  (so  Wila- 
mowitz,  Berl.  S.-B.  1906  S.  45  A,  statt  eira  Nedito\ig,  wie  in  den  Ausgaben 
steht). 

*  Priene  hat  noch  im  Frühjahr  442  Tribut  gezahlt,  fehlt  aber  seitdem  in 
den  Listen  für  den  'IujvikÖ(;  qpöpoc;,  der  vollständigen  von  440/39  und  der 
annähernd  vollständigen  von  442/1.  Man  könnte  annehmen,  daß  Priene  wegen 
des  Krieges  mit  dem  Tribute  in  Rückstand  geblieben  wäre,  aber  Milet  hat  in 
beiden  Jahren  gezahlt.  Es  bleibt  also  wohl  kaum  eine  andere  Erklärung,  als 
die  oben  im  Text  gegebene,  um  so  mehr,  als  nach  Thuk.  1 115,  2  der  Krieg  irepl 
TTpirivrii;  geführt  wurde  (Ed.  Meyer.  Gesch.  d.  Alt.  III  S.  63).  Um  dieselbe  Zeit 
etwa  hat  Milet  auch  Teichiussa  und  Leros  sich  einverleibt.  Das  alles  konnte 
natürlich  nicht  ohne  die  Konnivenz  Athens  geschehen;  und  Perikles'  Gegner 
hatten  wahrscheinlich  nicht  so  unrecht,  wenn  sie  darin  die  Hand  der  Aspasia 
sahen  (Theophr.  bei  Harpokr.  Affiraöla,  Duris  ebenda  und  bei  Plut.  Per.  24). 
Bei  der  Schätzung  von  425/4  erscheinen  dann  Priene  und  Teichiussa  wieder 
als  selbständige  Bundesglieder  {CIA.  I  37);  damals  war  Perikles  tot. 


Der  samische  Aufstand.  195 


gestraft  bleiben.  Schon  im  nächsten  Frühjahr  brach  auf 
Samos  ein  Aufstand  aus,  die  neubegründete  Demokratie 
stürzte  zusammen,  die  Besatzung,  die  Perikles  in  die  Stadt 
gelegt  hatte,  wurde  gefangen  genommen.  Byzantion  und 
eine  Anzahl  Städte  in  Karien  schlössen  sich  der  Erhebung  an. 
Der  Satrap  von  Sardes,  Pissuthnes,  hatte  bei  dem  allem  die 
Hände  im  Spiele  gehabt. 

So  sah  Athen  sich  aufs  neue  vor  einem  gefährlichen 
Kriege,  und  niemand  vermochte  zu  sagen,  welche  Dimen- 
sionen er  annehmen  würde.  Nur  rasches  und  energisches 
Handeln  konnte  unabsehbares  Unheil  verhüten,  und  Perikles 
ging  denn  auch  sogleich  auf  die  Nachricht  von  der  Erhebung 
auf  Samos  mit  60  Trieren  in  See.  Die  Samier  hatten  sich 
inzwischen  mit  70  Schiffen  gegen  Milet  gewendet,  segelten 
aber  bei  der  Annäherung  der  athenischen  Flotte  nach  Samos 
zurück.  Vergebens  versuchte  Perikles  ihnen  den  Rückzug 
abzuschneiden  und  so  den  Krieg  mit  einem  Schlag  zu  beenden; 
bei  der  kleinen  Insel  Tragia  zwischen  Milet  und  Samos  durch- 
brachen die  Samier  die  feindhche  Linie  und  gelangten  glück- 
Hch  in  Sicherheit  ^.  Ansehnliche  Verstärkungen  aus  Athen, 
aus  Chios  und  Lesbos  setzten  Perikles  bald  in  Stand,  die  Stadt 
Samos  zu   Lande   und   zur   See   einzuschließen. 

Es  war  kein  Zweifel,  daß  der  samische  Aufstand  dasselbe 
Schicksal  haben  würde,  wie  alle  früheren  Erhebungen  von 
Bundesgenossen  gegen  die  athenische  Herrschaft,  im  Fall 
er  isoliert  blieb.  Die  Hoffnung  auf  eine  allgemeine  Erhebung 
der  Bündner  war  fehlgeschlagen;  Chios  und  Lesbos,  die  als 
Seemächte  allein  in  Betracht  kamen,  hielten  fest  an  ihrer 
Bundespflicht;  die  Furcht  vor  den  Persern  überwog  hier  noch 
die  Besorgnis  vor  der  wachsenden  Macht  Athens.  So  blieb 
nur  die  Hoffnung  auf  das  Ausland,  Sparta  und  Persien.  Und 
allerdings  war  in  Sparta  bald  nach  dem  Abschluß  des  dreißig- 
jährigen Friedens  die  Kriegspartei  ans  Ruder  gelangt  (oben 
S.  184);  der  samische  Aufstand  schien  nun  die  erwünschte 

1  Pflugk-Harttung,  Perikles  als  Feldherr  (Stuttgart  1884)  S.  133  ff.,  der 
diese  Ereignisse  zuerst  militärisch  richtig  gewürdigt,  auch  die  Lage  von  Tragia 
(Gaidaronisi,  das  früher  für  Hyetussa  galt)  bestimmt  hat. 

13* 


196  VI.  Absclinitt,  —  Die  Friedens  jähre. 

Gelegenheit  zu  bieten,  das  vor  6  Jahren  Versäumte  nach- 
zuholen. Aber  auf  der  peloponnesischen  Bundesversammlung, 
die  zur  Beschlußfassung  über  Krieg  und  Frieden  berufen 
wurde,  machten  die  Korinthier  so  energische  Opposition 
gegen  den  Bruch  mit  Athen,  daß  Sparta  gezwungen  war, 
alle  Kriegspläne  fallen  zu  lassen  ^,  um  so  mehr,  als  auch  in 
Sparta  selbst  gewiß  sehr  viele  Bedenken  trugen,  den  eben 
beschworenen  Frieden  ohne  Provozierung  von  der  anderen 
Seite  zu  brechen. 

So  blieb  den  Samiern  nur  die  Hoffnung  auf  Persien, 
und  auch  sie  sollte  trügen.  Allerdings  hatte  der  Satrap  von 
Sardes  die  Erhebung  gegen  Athen  unterstützt;  aber  wirksame 
Hilfe  konnte  nur  eine  phoenikische  Flotte  gewähren.  Freund 
und  Feind  erwarteten,  daß  der  König  die  Gelegenheit  benutzen 
würde,  einen  Schlag  gegen  den  attischen  Seebund  zu  führen. 
Dieser  Gefahr  gegenüber  entschloß  sich  Perikles  seine  Flotte 
zu  teilen  und  mit  60  Schiffen  den  Phoenikern  entgegenzufahren, 
während  65  Trieren  vor  Samos  zurückblieben.  Die  Samier 
benutzten  die  Gunst  des  Moments;  unter  ihrem  Feldherrn 
Melissos,  demselben,  der  sich  auch  als  Philosoph  einen  Namen 
gemacht  hat,  warfen  sie  sich  auf  das  Blockadegeschwader, 
das  dem  unerwarteten  Angriff  nicht  gewachsen  war.  Die 
Blockade  wurde  gesprengt,  und  Samos  gewann  die  Mög- 
lichkeit, sich  aufs  neue  zu  verproviantieren.  Aber  es  war 
nur  der  Erfolg  eines  Augenblicks.  Die  erwartete  phoenikische 
Flotte  erschien  nicht;  Perikles  konnte  auf  die  Nachricht  von 
der  Niederlage  der  Belagerungsflotte  sogleich  nach  Samos 
zurückkehren,  von  Athen,  Lesbos,  Chios  kamen  Verstärkungen. 
Gegenüber  den  200  Schiffen,  die  Perikles  jetzt  unter  seinem 
Befehl  hatte,  war  jeder  Widerstand  auf  offener  See  aussichtslos; 
es  blieb  den  Samiern  nichts  anderes  übrig,  als  sich  in  ihren 
Mauern  einzuschließen.  Die  Stadt  hielt  aus  bis  zum  äußersten; 
endlich,  da  kein  Entsatz  kommen  wollte,  ergab  sie  sich  im 
9.  Monat  der  Belagerung  (439).  Samos  verlor  seine  Selb- 
ständigkeit und  die  Herrschaft  über  Amorgos;   die  Urheber 


1  Thuk.  I  40.  5,  41.  2, 


Der  samische  Aufstand.  197 


des  Aufstandes  wurden  verbannt,  die  Kriegsschiffe  aus- 
geliefert, die  Mauern  niedergerissen.  Die  Kriegskosten  — 
1200  Talente  —  sollten  in  Raten  abgezahlt  werden.  Die 
Demokratie  aber,  die  sich  so  unzuverlässig  erwiesen  hatte, 
wurde  nicht  wieder  hergestellt,  und  die  Grundbesitzer  (Geo- 
moren)    blieben   im    Besitz    der    Regierungsgewalt  i. 

Athen  hatte  gesiegt;  aber  es  verdankte  den  Sieg  haupt- 
sächlich der  Loyahtät  der  Peloponnesier  und  der  Schlaffheit 
der  persischen  Politik.  Auch  war  das  Reich  nicht  ohne  schwere 
Einbuße  aus  der  Krisis  hervorgegangen.  Zwar  Byzantion 
unterwarf  sich  sogleich  nach  dem  Falle  von  Samos  ^;  aber 
eine  Reihe  von  Bundesstädten  auf  dem  asiatischen  Festlande 
behaupteten  mit  persischer  Hilfe  ihre  Unabhängigkeit,  vor 
allem  Anaea  in  lonien,  wo  die  samischen  Verbannten  sich 
festsetzten,  und  eine  Reihe  von  Plätzen  in  Karien  ^.     Auch 

1  Hauptquelle  Thuk.  I  115—117,  von  dem  Diod.  XII  27.  28  durch  Ver- 
mittlung des  Ephoros  und  Plut.  Per.  25 — 28  abhängen.  Letzterer,  d.  h.  die 
alexandrinische  Biographie,  die  er  ausschreibt,  hat  außer  Ephoros  namentlich 
Duris  herangezogen,  der  als  Samier  natürlich  gegen  Athen  Partei  nahm,  auch 
einiges  aus  Stesimbrotos,  Ion  und  Aristoteles  entlehnt.  Vgl.  Ion  fr.  1  (Strategie 
des  Sophokles),  Duris  fr.  58—60.  Über  Melissos  Plut.  Per.  26.  Them.  2,  gKolot. 
32,  6  S.  1126,  Ael.  Verm.  Gesch.  VII  14.  Höhe  der  Kriegskosten:  1200  tal. 
(so  auch  bei  Diod.  XII  28,  3  herzustellen)  Nep.  Timoth.  1;  Isokrates  15,  Antid. 
111  gibt  in  runder  Zahl  1000  tal.,  die  unvollständig  erhaltene  Schatzrechnung 
CIA.  I  177:  1276  tal.  Ein  Teil  dieser  Summe  scheint  durch  Landabtretungen 
gedeckt  worden  zu  sein  {IGA.  8,  Bxill.  Corr.  Hell.  VIII  160).  Amorgos,  das  bis 
437/6  in  unseren  Tributlisten  nicht  vorkommt,  erscheint  seitdem  als  tribut- 
pflichtiger Bundesstaat.  Samos  dagegen  hat  keinen  Tribut  gezahlt,  und  muß 
also,  da  es  keine  Schiffe  mehr  stellen  konnte,  in  anderer  Weise  besteuert  worden 
sein,  vgl.  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  36  ff.  Die  Angabe  Diodors  (XII  28,  4), 
daß  die  Demokratie  auf  Samos  eingerichtet  worden  wäre,  wird  wiederlegt  durch 
Thuk.  VIII  21;  63,  3,  wonach  412  die  Oligarchie  der  Geomoren  in  Samos  be- 
standen hat;  es  wäre  doch  völlig  widersinnig,  anzunehmen,  daß  die  Demokratie 
in  der  Zwischenzeit  gestürzt  worden  wäre.  Offenbar  hat  Perikles  eingesehen, 
daß  er  mit  dem  Sturze  der  Oligarchie  441  einen  schweren  Fehler  begangen 
hatte.  —  Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  88. 

*  Thuk.  I  117,  3.  Byzantion  scheint  damals  die  kleine  Insel  Bysbikos 
verloren  zu  haben,  vielleicht  auch  Kallipolis,  die  437/6  zum  erstenmal  in  den 
Tributlisten  erscheinen  (Busolt,  Philol.  XLI  S.  694);  auch  der  Tribut  von 
Byzantion  scheint  etwas  erhöht  worden  zu  sein. 

'  Anaea  Thuk.  III  19,  2;  32,  2;  IV  75,  1.    Eine  Reihe  karischer  Städte, 


198  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

Lykien  hat  seitdem  keinen  Tribut  mehr  gezahlt  ^ ;  die  Reste 
des  karischen  Steuerbezirks  wurden  jetzt  mit  dem  ionischen 
Bezirk  vereinigt  (439).  Immerhin  war  die  Macht  Athens 
im  wesentHchen  intakt  aus  dem  Kampfe  hervorgegangen, 
und  Perikles  hatte  allen  Grund,  mit  Befriedigung  auf  den 
Erfolg  zu  blicken,  der  ebensosehr  seine  eigene  Stellung  in 
Athen,  wie  die  Autorität  Athens  bei  den  Bundesstaaten 
befestigte. 

Nach  außen  hin  sicherte  das  gute  Einvernehmen  mit 
den  Peloponnesiern,  das  soeben  eine  schwere  Probe  glücklich 
bestanden  hatte,  dem  Reiche  den  Frieden;  und  wenn  die 
Beziehungen  zum  Großkönig  während  des  samischen  Krieges 
für  einen  Augenblick  sich  zu  trüben  gedroht  hatten,  so  hatte 
doch  schließlich  auch  Persien  es  nicht  gewagt,  etwas  Ernst- 
liches gegen  Athen  zu  unternehmen.  So  hatte  Perikles  freie 
Hand,  dem  Reiche  für  die  in  Griechenland  und  Kleinasien 
in  den  letzten  Jahren  erlittenen  Verluste  im  Norden  Ersatz 
zu  schaffen.  Schon  447  war  der  thrakische  Chersones  mit 
attischen  Kleruchen  besiedelt  worden  2;  jetzt  gelang  auch  die 
Besitznahme  des  Landes  am  unteren  Strymon,  die  unter 
Kimon  vergeblich  versucht  worden  war.  Hier  wurde  mit 
attischen  und  chalkidischen  Ansiedlern  die  Kolonie  Amphipolis 
gegründet,  fortan  die  Hauptstadt  des  athenischen  Thrakien 
(437/6)  ^.     Die  neue  Festung  beherrschte  die  einzige  Straße, 

meist  des  Binnenlandes,  die  noch  441/0  bzw.  440/39  Tribut  gezahlt  hatten, 
verschwinden  seitdem  aus  den  Listen. 

^  Lykien  erscheint  in  den  Tributlisten  zum  letztenmal  446/5;  daß  es  am 
Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  nicht  mehr  athenisch  war,  zeigt  auch 
Thuk.  II  69,  III  19. 

2  Diod.  XI  88,  3  (unter  Lysikrates,  453/2),  Plut.  Per.  11.  19.  Die  chersone- 
si tischen  Städte  haben  bis  448/7  in  Syntelie  18  tal.  Tribut  gezahlt;  vom  folgenden 
Jahre  an  zahlen  die  einzelnen  Städte  gesondert,  und  der  Tribut  wird  sehr  be- 
deutend ermäßigt,  zusammen  auf  etwa  2^  tal.  Danach  scheint  es,  daß  die 
Kleruchie  erst  jetzt  nach  dem  Chersones  geführt  worden  ist,  und  Diodor  die 
Sache  im  Anschluß  an  andere  Unternehmungen  des  Perikles  vorgreifend  erzählt 
hat  (Kirchhoff,  Abh.  Berl.  Akad.  1873  S.  25,  Busolt,  Gr.  Gesch.  III  1,  S.  412). 

3  Thuk.  IV 102.  Schol.  Aesch.  vdGes.  II 34.  Diod.  XII 32,  3.  Plut.  Per.  11 
erwähnt  die  Gründung  von  Amphipolis  nicht,  wohl  aber  die  Aussendung  einer 
Kleruchie  von  1000  Bürgern  ins  Land  der  Bisalten.     Ferner  ist  inschriftlich 


Erwerbungen  Athens  in  Thrakien  und  am  Pontos.  —  Thurioi.        199 

die  aus  Makedonien  nach  den  hellespontischen  Landschaften 
führte;  die  Goldbergwerke  des  nahen  Pangaeon  wurden  für 
Athen  eine  wichtige  Einnahmequelle.  Kurz  darauf  (435/4) 
wurde  Astakos  an  der  Propontis  mit  athenischen  Kolonisten 
besetzt  ^.  Um  dieselbe  Zeit  unternahm  Perikles  selbst  eine 
Expedition  in  den  Pontos;  athenische  Kolonisten  wurden 
nach  Sinope  und  Amisos  an  der  paphlagonischen  Küste  ge- 
führt, die  wichtigsten  griechischen  Kolonien  am  Nordufer 
des  Schwarzen  Meeres  in  das  Reich  aufgenommen  und  zur 
Tributzahlung  verpflichtet  ^. 

Schon  etwas  früher  hatte  Athen  begonnen,  seine  Macht 
auch  nach  dem  Westen  hin  auszubreiten.  Als  Kroton  durch 
die  inneren  Wirren  erschüttert  wurde,  die  zur  Austreibung 
der  Pythagoreer  führten  (oben  S.  133),  hatten  die  Nach- 
kommen der  flüchtigen  Sybariten  den  Versuch  gemacht, 
ihre  Stadt  wieder  aufzubauen  (453),  waren  aber  schon  nach 
5  Jahren  (448)  von  den  Krotoniaten  vertrieben  worden  ^ 
Sie  wandten  sich  nun  um  Beistand  nach  dem  Mutterlande, 
und  forderten  jeden,  der  wollte,  zur  Ansiedlung  in  ihrem 
alten  Gebiete  auf.  Der  Ruf  der  Fruchtbarkeit  der  Ebene 
am  Krathis  lockte  bald  zahlreiche  Kolonisten  aus  allen  Teilen 
von  Hellas  herbei;  Athen  stellte  sich  an  die  Spitze  des  Unter- 


eine Kleruchie  Brea  bezeugt  (CIA.  I  31),  die  ebenfalls  in  dieser  Gegend  gelegen 
hat  (Theopomp.  fr.  157  bei  Steph.  Byz.),  sonst  aber  niemals  genannt  wird, 
nicht  einmal  von  Thukydides  da,  wo  er  sie  unbedingt  hätte  erwähnen  müssen, 
bei  der  Beschreibung  von  Brasidas'  Feldzug.  Es  bleibt  kaum  eine  andere  An- 
nahme, als  daß  Brea  mit  AmphipoHs  identisch  ist;  daß  letzterer  Name  erst 
nach  oder  während  der  Erbauung  der  Stadt  aufkam,  ist  ja  eigentlich  selbst- 
verständlich. 

^  Diod.  XII  34,  5,  nach  der  chronographischen  Quelle.  Das  dort  über- 
heferte  A6TAN0N  haben  Niese,  Gott.  Gel.  Am.  1886  S.  755,  und  ohne  diese 
Rezension  zu  kennen,  De  Sanctis,  Hermes  XXIX,  1894,  S.  479  als  Verschreibung 
aus  ACTAKON  erkannt.   Vgl.  auch   Toepfler,  Hermes  XXXI,  1896,  S.  124  ff. 

*  Plut.  Per.  10.  Nymphaeon  am  kimmerischen  Bosporos  war  zur  Zahlung 
eines  Talentes  veranlagt  (Krateros  fr.  12,  vgl.  Aesch.  gKtes.  171);  auch  bei  der 
Neuregulierung  der  Tribute  425/4  scheinen  pontische  Städte  eingeschätzt  worden 
zu  sein  (CIA.  I  37).  Eine  wirkHche  Zahlung  ist  allerdings  in  unseren  Tribut- 
listen nicht  aufgeführt.     Über  die  Zeit  der  Expedition  unten  2.  Abt.  §  89. 

=>  Diod.  XI  90.  3,  XII  10. 


200  VI,  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

nehmens,  und  so  entstand  auf  den  Höhen  in  der  Nähe  der 
zerstörten  Stadt  ein  neues  Sybaris  (444/3)  i.  Die  Sybariten 
selbst  freilich  sahen  sich  bald  bitter  enttäuscht  in  den  Hoff- 
nungen, die  sie  an  diese  Gründung  geknüpft  hatten;  denn  die 
neuen  Ansiedler  waren  keineswegs  geneigt,  die  Ansprüche 
anzuerkennen,  welche  die  alten  Herren  des  Landes  auf  den 
Besitz  der  besten  Grundstücke  und  überhaupt  auf  eine  be- 
vorrechtete Stellung  in  dem  neuen  Gemeinwesen  erhoben. 
Es  kam  zum  Bürgerkriege  und  die  Sybariten  wurden  noch 
einmal  aus  der  Heimat  vertrieben  ^.  Sie  siedelten  sich  jetzt 
am  Flusse  Traeis  [Trionto)  an,  im  Süden  ihres  alten  Gebiets 
an  der  krotoniatischen  Grenze;  doch  hat  dies  jüngste  Sybaris 
bei  seiner  verhältnismäßig  ungünstigen  Lage  es  nie  zu  größerer 
Bedeutung  zu  bringen  vermocht  ^  Infolge  dieser  Ereignisse 
nahm  die  panhellenische  Kolonie  am  Krathis  jetzt  den  Namen 
Thurioi  an,  nach  der  Quelle  Thuria,  die  der  Stadt  ihr  Trink- 
wasser gab  *. 


1  Diod.  XII  10  ff.  (einziger  ausführlicher  Bericht),  Strab.  VI  263  f.,  Plut. 
Per.  11,  Aristoph.  Wölk.  332  mit  den  Schol.  und  Photios  0oupiO|udvTei<;. 
Ob  die  vielen  Berühmtheiten,  die  an  der  Kolonisation  teilgenommen  haben 
sollen,  wirklich  alle  nach  Thurioi  gezogen  sind,  mag  dahingestellt  bleiben; 
jedenfalls  sind  manche,  z.  B.  Lysias,  erst  viel  später  gekommen. 

2  Diod.  XII  11,  Strab.  VI  263  f.,  Aristot.  Polit.  V  1303  a. 

3  Diod.  XII  22,  Strab.  VI  264;  es  ist  wohl  auch  bei  Polyb.  II  89,  6  gemeint. 
Die  Zerstörung  durch  die  Brettier  (Diod.  a.  a.  0.)  gehört  natürlich  erst  in  das 
IV.  Jahrhundert. 

*  Daß  man  zuerst  den  alten  Namen  beibehielt,  liegt  in  der  Natur  der 
Sache,  da  die  Neugründung  von  den  Sybariten  selbst  ausging;  es  wird  bezeugt 
im  Leben  der  X  Redner,  Lysias  S.  835  d,  und  bestätigt  durch  die  Münzen,  die  auf 
der  Vorderseite  den  Kopf  der  Athena,  mit  athenischem  Helm,  im  Stil  der  sog. 
Athena  Lemnia  mit  der  Aufschrift  Zußapi,  auf  der  Rückseite  den  sybaritischen 
Stiel*  zeigen,  denn  Sybaris  am  Traeis  können  diese  Münzen  wegen  des  Athena- 
kopfs  nicht  wohl  zugeteilt  werden.  Daß  njan  nur  Kleinsilber  prägte,  Ysi  Vs  ^"^^ 
Vi2  Statere,  geht  offenbar  auf  athenischen  Einfluß  zurück;  das  attische  Tetra- 
drachmon  sollte  das  Ganzstück  bilden.  Diese  Prägung  muß  eine  Reihe  von 
Jahren  gedauert  haben,  wie  sich  auch  daraus  ergibt,  daß  die  Münzen  mit 
Goupivujv  einen  entwickelteren  Stil  zeigen  (Furtwängler,  Meisterwerke  S.  144  ff.). 
Auch  Herod.  V  45  spricht  von  Zußapixai,  womit  die  Thuriner  gemeint  sind. 
Es  scheint  also,  daß  die  Vertreibung  der  Sybariten  nicht  so  unmittelbar  auf  die 
Gründung  gefolgt  ist,  wie  Diodor  XII  22  angibt,  jedenfalls  gehört  die  Namens- 


Thurioi.  201 

Kroton  konnte  natürlich  die  Festsetzung  der  Athener 
am  Krathis  nur  ungern  sehen,  aber  es  war  noch  zu  schwach, 
um  die  Sache  hindern  zu  können;  es  machte  also  gute  Miene 
zum  bösen  Spiele  und  trat  zu  der  neuen  Stadt  in  freundliche 
Beziehungen  ^.  Dagegen  hatte  Thurioi  mit  seinen  Nachbarn 
im  Norden,  den  eingeborenen  Lucanern  (oben  S.  134),  lange 
Kämpfe  zu  bestehen.  Der  Versuch,  wie  einst  Sybaris  sein 
Gebiet  bis  ans  Tyrrhenische  Meer  auszudehnen,  führte  zum 
Krieg  mit  Terina,  einer  krotoniatischen  Pflanzstadt,  die  sich 
längst  selbständig  gemacht  hatte  und  jetzt  die  mächtigste 
Stadt  an  dieser  Küste  war.  Auch  mit  Tarent  kam  es  zum 
Kriege  um  den  Besitz  des  Landes  am  Siris,  auf  das  beide 
Städte  Anspruch  erhoben;  der  Sieg  blieb  endlich  denTarantinern, 
die  hier  ihre  Kolonie  Herakleia  gründeten  (433)  ^.  Im  ganzen 
aber  gelang  es  Thurioi,  sich  gegen  seine  Nachbarn  zu  behaupten, 
und  es  wuchs  bald  zur  blühenden  Stadt  empor  ^,  wenn  es  auch 
die  Bedeutung  seiner  Vorgängerin  Sybaris  niemals  erreicht  hat. 

Die  Erwartungen  freilich,  die  Athen  an  die  Gründung 
von  Thurioi  geknüpft  hatte,  sollten  nicht  in  Erfüllung  gehen. 


änderung  erst  in  eine  etwas  spätere  Zeit.  Dann  muß  aber  die  Stadt  gleich  von 
vornherein  auf  der  Stelle  von  Thurioi  gegründet  worden  sein,  wie  ja  Diod.  XII 
10,  5  ff.  ausdrücklich  angibt.  Man  wollte  der  bösen  Luft  unten  im  Tale  aus 
dem  Wege  gehen.  Wenn  Diodor  selbst  an  anderer  Stelle  (XII  10,  3)  und  Strab. 
VI  263  die  Umnennung  zugleich  mit  dem  Wechsel  des  Platzes  erfolgen  lassen, 
so  haben  sie  sich  im  Streben  nach  Kürze  ungenau  ausgedrückt.  Über  die  Lage 
von  Thurioi  (le  MuragHe,  6  km  östlich  von  Terranova  di  Sibari)  Nissen,  Ital. 
Landesk.  II  921. 

1  Diod.  XII  11,  3. 

2  Über  diese  Kriege  Polyaen.  II  10,  Antiochos  fr.  12  bei  Strab.  VI  264, 
Diod.  XII  23.  36.  IGA.  548  =  Inschr.  v.  Olympia  254—256:  Drei  Lanzen- 
spitzen mit  der  Aufschrift  OKuXa  dito  Goupiujv  TapavTivoi  dMiQY\\av  Ali 
'OXu|Liir{uj  beKdxav.  Das  Bündnis  der  Athener  mit  dem  Messapierfürsten  Artas 
(Thuk.  VII  33,  4)  kann  aber  damit  nichts  zu  tun  haben,  da  Athen  an  diesen 
Kämpfen  nicht  beteiligt  war;  sonst  wäre  der  Ausgang  ein  anderer  gewesen.  — 
Von  der  Geschichte  Terinas  wissen  wir  sonst  fast  gar  nichts;  von  der  Bedeutung 
der  Stadt  in  dieser  Zeit  zeugt  die  reichliche  Münzprägung,  mit  der  die  Prägung 
keiner  anderen  Stadt  zwischen  Rhegion  und  Elea  auch  nur  annähernd  sich 
vergleichen  kann  (Regling  im    Berl.    W inckelmannsprogramm   1906). 

*  Diod.  XII  11,  3.  In  den  0oupioiT^paai  des  Metagenes  war  Thurioi  als 
Schlaraffenland  geschildert  (Kock   Com.  fr.    I   S.   706). 


202  VI.  Abschnitt.  —  Die  Friedensjahre. 

Bei  der  buntgemischten  Bevölkerung  der  neuen  Stadt  konnten 
innere  Zwistigkeiten  nicht  ausbleiben,  und  da  die  Kolonisten 
athenischen  Ursprungs  nur  einen  kleinen  Bruchteil  dieser 
Bevölkerung  bildeten,  während  etwa  die  Hälfte  aus  Pelo- 
ponnesiern  und  Boeotern  bestand,  so  gewannen  diese  natür- 
lich die  Oberhand  ^.  Der  einflußreichste  Mann  war  in  der  ersten 
Zeit  der  Spartaner  Kleandrida;,  der  nach  seiner  Verbannung 
(oben  S.  185)  sich  hierher  gewandt  hatte,  wo  er  sogleich  an 
die  Spitze  des  Heeres  gestellt  wurde  ^;  er  war  zwar  kein  Gegner 
Athens,  aber  eben  doch  ein  Spartaner.  So  nahm  Thurioi 
Athen  gegenüber  eine  völlig  selbständige  Stellung  in  Anspruch; 
ja  selbst  als  Mutterstadt  wollte  man  Athen  nicht  mehr  aner- 
kennen, und  endlich  schlichtete  das  delphische  Orakel,  das 
als  Schiedsrichter  angerufen  wurde,  die  Sache  dahin,  daß 
Apollon  selbst  als  Gründer  der  Stadt  zu  gelten  habe  (434)  ^. 
Bessere  Erfolge  hatte  die  attische  Politik  in  Sicilien 
und  bei  den  chalkidischen  Städten  Italiens.  Zu  den  Elymern 
von  Segesta  und  Halykiae  trat  Athen  schon  um  450  in  freund- 
schaftliche Beziehungen  *;  mit  Leontinoi  und  Rhegion  wurden 
433/2  Bündnisverträge  geschlossen  ^.    Auch  Neapolis  in  Cam- 


^  Von  den  10  Phylen,  die  nach  athenischem  Vorbild  in  Thurioi  eingerichtet 
wurden,  bestanden  4  aus  Peloponnesiern  oder  vom  Peloponnes  ausgegangenen 
Kolonisten  ('ApKoii;,  Axat?,  'H\e(a,  Auupi«;;  daß  die  letztere  mit  der  Doris 
am  Oeta  nichts  zu  tun  hat,  liegt  auf  der  Hand),  2  aus  Ansiedlern  aus  Mittel- 
griechenland (BoiuJTia,  'A|nqpiKTiov{?),  die  übrigen  4  aus  Griechen  ionischen 
Stammes  C\d<;,  Aenvaic;,    Eußoi?,    NriaimTi?). 

2  Thuk.  VI  104,  Diod.  XIII  106,  10,  Polyaen.  II  10. 

ä  Diod.  XII  35. 

*  CIA.  IV  1,  22  k  S.  58,  AeXTiov  äpxaioX.  1891  S.  105,  vgl.  Köhler, 
Atheit.  Mut.  IV,  1879,  S.  30  ff.,  und  meine  Bemerkungen  Hermes  XXVIII, 
1893,  S.  630  ff.,  wo  ich,  im  Anschluß  an  Köhlers  Emendation  AXiKuaioi? 
für  das  überlieferte  Ai\ußaioi<;  vorgeschlagen  habe,  bei  Diod.  XI  86,  2  (Archon 
Ariston  454/3)  'ETearaioK;  Kai  AXiKuaioic;  ^v^axri  iröXepoi;  (irpöi;  ZeXivouvTiou?) 
zu  lesen;  auf  diesen  Krieg  könnte  dann  die  bekannte  Siegesinschrift  aus  Selinus 
IGA.  515  bezogen  werden. 

«  CIA.  I  33.  IV  1,  33  a  S.  13.  Vgl.  Thuk.  III  86,  3,  wonach  die  chalki- 
dischen Städte  im  Jahre  427  ihre  iraXaid  2u|Li)Liaxia  mit  Athen  geltend  machten. 
Es  mögen  also  auch  mit  Katane  und  Naxos  433  ähnliche  Verträge  geschlossen 
worden  sein. 


Thurioi.  —  Athen  und  Sicilien.  —  Tempelbau.  203 

panien  schloß  sich  an  Athen  an  und  wurde  durch  attische 
Kolonisten  verstärkt  ^.  In  ihrer  weiteren  Entwicklung  mußte 
diese  Politik  Athen  notwendig  in  Konflikt  mit  Syrakus  bringen, 
und  auch  die  Peloponnesier,  die  schon  im  Osten  von  dem 
attischen  Reiche  umfaßt  waren,  konnten  das  Streben  Athens 
nach  Expansion  auch  nach  Westen  hin  keineswegs  gleich- 
gültig ansehen.  So  lag  die  Gefahr  eines  feindlichen  Zusammen- 
stoßes sehr  nahe,  und  es  sollte  nur  zu  bald  dazu  kommen. 


VIL  Abschnitt. 

Kunst  und  Dichtung. 

Auf  die  Stürme  der  Freiheitskriege  war  ein  halbes  Jahr- 
hundert der  Ruhe  gefolgt.  Wohl  hat  es  auch  in  dieser  Zeit 
an  äußeren  und  inneren  Kämpfen  nicht  gefehlt;  aber  sie 
blieben  auf  kleinere  Gebiete  beschränkt  und  waren  meist 
nur  von  kurzer  Dauer,  oder  sie  wurden,  wie  der  Krieg  gegen 
Persien,  an  der  Peripherie  der  griechischen  Welt  ausgefochten. 
Seitdem  Athen  mit  dem  Großkönige  (448)  und  den  Pelo- 
ponnesiern  (446)  Frieden  geschlossen  hatte,  war  die  Grund- 
lage für  jenen  wirtschaftlichen  Aufschwung  gegeben,  den  wir 
oben  verfolgt  haben. 

Die  reichen  Mittel,  die  infolgedessen  zur  Verfügung 
standen,  wurden,  dem  religiösen  Sinne  der  Zeit  gemäß,  zum 
großen  Teile  dazu  verwendet,  der  Dankbarkeit  gegen  die 
unsterblichen  Götter  Ausdruck  zu  geben,  die  Hellas  so  sicht- 
bar beschützt  hatten.  Nur  die  loner  sollen  einen  Schwur 
geleistet  haben,  die  von  den  Persern  zerstörten  Heihgtümer 
nicht    wieder    aufzubauen,    den    kommenden    Geschlechtern 


1  Timaeos  fr.  99,  vgl.  Strab.  V  246,  Diod.  XIII  44,  wo  unter  XaX.KibeTq 
kaum  etwas  anderes  als  die  Neopoliten  verstanden  werden  kann;  auch  die  Münz- 
typen weisen  auf  die  Verbindung  mit  Athen  und  Thurioi  hin.  Vgl.  mein  Cam- 
panien  S.  30.  Der  Strateg  Diotimos,  der  bei  Timaeos  a.  a.  O.  erwähnt  wird, 
war  einer  der  Befehlshaber  des  athenischen  Geschwaders  bei  Sybota  (Thuk. 
I  45,  2);  er  mag  also  nach  dieser  Schlacht  weiter  nach  Westen  gefahren  sein 
und  die   Bündnisse  mit  Rhegion  und  Leontinoi  vermittelt  haben. 


204  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

zur  Mahnung  ^;  und  wirklich  ist  Milet  erst  zum  Neubau  seines 
Apollontempels  geschritten,  als  das  Land  durch  Alexander 
befreit  war.  Im  Peloponnes  aber,  der  vom  Feinde  nicht  be- 
treten worden  war,  wurde  gleich  nach  dem  Siege,  an  der 
heiligen  Stätte  von  Olympia,  der  Bau  eines  Zeustempels 
begonnen,  der  durch  seine  Größe  (64  x  27  m)  das  alte  Heraeon 
weit  in  den  Schatten  stellte  und  die  ganze  Altis  beherrschte; 
um  460  war  das  Werk  im  wesentlichen  vollendet  ^.  Eine  sehr 
lebhafte  Bautätigkeit  setzte  nach  dem  Siege  über  die  Kar- 
thager in  Sicilien  ein  ^.  Bei  Syrakus  begann  Gelon  den  Bau 
eines  Tempels  der  Göttinnen,  deren  Priestertum  in  seinem 
Hause  erblich  war,  Demeter  und  Köre,  der  natürlich  erst 
unter  Hieron  oder  unter  der  Demokratie  vollendet  worden 
sein  kann;  aus  etwas  späterer  Zeit  stammt  der  Athenatempel 
auf  Ortygia,  der  dann  im  Mittelalter  zur  Kathedrale  um- 
gebaut worden  ist.  Auf  der  Burg  von  Akragas  errichtete 
Theron  nach  dem  Siege  bei  Himera  einen  Tempel  des  Zeus 
Atabyrios,  des  rhodischen  Gottes,  dessen  Dienst  die  Ansiedler 
nach  der  neuen  Heimat  mitgebracht  hatten.  Um  dieselbe 
Zeit  wurde  in  der  Unterstadt  der  Tempel  des  olympischen 
Zeus  begonnen,  neben  dem  Apollonion  in  Selinus  der  größte 
Siciliens.  Die  riesigen  Dimensionen  (113  x  56  m)  zwangen 
dazu,  denSäulenumgang  durch  eine  mit  Halbsäulen  geschmückte 
Mauer  zu  ersetzen;  im  Innern  dienten  mächtige  Giganten- 
figuren als  Träger  des  Gebälks  der  Cella.  Im  Laufe  der  nächsten 
Jahrzehnte  wurden  dann  in  der  Nähe  zwei  weitere  Tempel 
errichtet,  und  so  entstand  hier,  längs  des  Südrandes  des  Stadt- 
plateaus, jene  herrliche  Tempelreihe,  die  uns  noch  heute  die 
Wahrheit  von  Pindars  Wort  empfinden  läßt,  daß  Akragas 
die  schönste  der  Städte  der  Sterblichen  sei.     Um  die  Mitte 


1  Isokr.  Paneg.  156,  und  dazu  Kopp,  Jahrb.  des  Instit.  V,  1890,   S.  272  ff. 

^  Ausgrabungen  in  Olympia  II  S.  4  ff.  (Berlin  1892),  Paus.  V  10;  da  die 
Peloponnesier  den  goldenen  Schild,  den  sie  als  Weihgeschenk  aus  der  Beute 
von  Tanagra  stifteten,  am  Giebel  des  Tempels  aufgehängt  haben,  muß  der  Bau 
damals  im  wesentlichen  vollendet  gewesen  sein. 

3  Koldewey  und  Puchstein,  Griechische  Tempel  in  Unteritalien  und  Sicilien, 
Berlin  1899. 


Tempelbau.  —  Bauten  in  Athen.  205 

des  Jahrhunderts  ist  auch  der  schönste  Tempel  errichtet 
worden,  der  uns  im  Westen  des  ionischen  Meeres  erhalten  ist, 
der  große  Tempel  von  Poseidonia.  Der  dorische  Tempelstil 
hatte  jetzt  seine  höchste  Vollendung  erreicht;  im  Grundriß 
wird  die  Länge  im  Verhältnis  zur  Breite  verkürzt,  von  der 
Cella  hinten  ein  Raum  abgetrennt,  der  von  der  Rückseite 
aus  einen  eigenen,  ebenfalls  säulengeschmückten  Eingang 
erhält,  alle  Proportionen  sind  leichter  und  gefälliger  als  bisher. 
Athen  ^  hat  zunächst  an  dieser  Bautätigkeit  keinen 
Anteil  genommen.  Es  gab  hier  dringendere  Aufgaben :  den 
Wiederaufbau  der  zerstörten  Stadt,  den  Ausbau  und  die 
Befestigung  des  Kriegshafens.  Unter  Kimon  wurde  dann  der 
Markt  mit  Säulenhallen  geschmückt  und  mit  Platanen  be- 
pflanzt, aber  der  alte  Athenatempel  auf  der  Burg  mit  seinen 
vom  persischen  Brande  her  rauchgeschwärzten  Mauern  blieb, 
zum  warnenden  Exempel,  noch  stehen  2.  Erst  als  der  Frieden 
mit  Persien  geschlossen  war,  ging  man  daran,  der  ,,  Jungfrau 
Athena"  einen  neuen  Tempel  zu  errichten,  an  derselben  Stätte, 
auf  der  schon  die  Demokratie  nach  dem  Sturze  der  Peisistra- 
tiden  den  Bau  eines  solchen  Tempels  begonnen  hatte,  auf  den 
alten  Fundamenten,  aber  nach  einem  neuen  Plane  des  Archi- 
tekten Iktinos  (447 — 432).  Der  Bau  wurde  ganz  aus  pente- 
lischem  Marmor  aufgeführt,  in  mächtigen  Dimensionen 
(69  X  31m);  in  der  Harmonie  der  Linien  und  der  künstle- 
rischen Durchbildung  ließ  er  alle  bis  dahin  erbauten  Tempel 
weit  hinter  sich  und  ist  nie  mehr  erreicht  worden.  In  der 
christlichen  Zeit  ist  er  einer  anderen  Jungfrau,  der  Gottes- 
mutter, geweiht  und  dadurch  vor  Zerstörung  bewahrt  worden, 
bis  vor  jetzt  zwei  Jahrhunderten  (26.  September  1687)  die 
Bombe  eines  deutschen  Abenteurers  in  venezianischen  Diensten 
die  Mitte  des  Baues  in  die  Luft  sprengte;  möchte  die  Zeit  nicht 
fern  sein,  die  aus  den  noch  fast  vollständig  am  Boden  liegenden 
Trümmern  den  Tempel  in  alter  Herrlichkeit  wieder  erstehen 
läßt. 


^  Quellen  und  Literatur  am  besten  bei  Judeich,  Topographie  von  Athen 
(Iwan  Müllers  Handbuch  II  2,  2),  München  1905. 
^  So  hat  Herodot  den  Tempel  gesehen  (V  77). 


206  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Den  Eingang  zur  Burg  hatte  schon  Peisistratos  mit 
einem  Säulentore  geschmückt,  das  wie  alles  übrige  von  den 
Persern  zerstört  worden  war;  als  der  Parthenon  im  wesent- 
lichen vollendet  stand,  ließ  Perikles  dieses  Tor,  die  ,,Propylaeen 
der  Akropolis",  durch  den  Architekten  Mnesikles  größer 
und  schöner  wieder  aufrichten  (437 — 432).  Der  Bau  ist  infolge 
des  Ausbruchs  des  peloponnesischen  Krieges  nicht  ganz  nach 
dem  ursprünglichen  Plane  zur  Vollendung  gelangt.  Etwas 
später,  nach  dem  Nikiasfrieden,  wurde  auf  der  Bastion  vor 
den  Propylaeen,  die  den  Aufgang  zur  Burg  von  rechts  her 
beherrscht,  ein  kleiner  Tempel  der  ,, siegbringenden  Athena" 
('Aerivct  NiKri)  errichtet.  Um  dieselbe  Zeit  wurde  der  alte 
Tempel  der  Athena  niedergerissen  und  durch  einen  Neubau 
im  vollendetsten  ionischen  Stile  ersetzt,  das  sog.  Erechtheion, 
richtiger  Tempel  der  Athena  Polias;  im  Jahr  405  durch  Brand 
beschädigt,  ist  er  erst  am  Anfang  des  IV.  Jahrhunderts  zur 
Vollendung  gelangt  ^.  Am  Fuße  der  Burg,  auf  der  Höhe, 
die  den  Stadtmarkt  beherrschte,  wurde  etwa  gleichzeitig 
mit  dem  Parthenon  jener  Tempel  errichtet,  den  wir  uns  ge- 
wöhnt haben,  als  Theseion  zu  bezeichnen  und  der  vielleicht 
dem  Hephaestos  geweiht  war;  der  einzige  aller  griechischen 
Tempel,  der  im  wesentlichen  unversehrt  bis  heute  erhalten 
ist.  So  wurde  hier  ein  Komplex  von  Gebäuden  geschaffen, 
wie  er  auf  der  Welt  seinesgleichen  nicht  hatte  und  auch  nicht 
wieder  gehabt  hat.  Mit  berechtigtem  Stolze  konnte  ein  Zeit- 
genosse des  Perikles  sagen  2; 

Du  bleibst  ein  Klotz,  bis  du  Athen  gesehn; 
Ein  Esel,  sahst  du's,  und  es  ließ  dich  kalt; 
Und  wenn  du  gerne  scheidest,  ein  Kamel. 

Ist  doch  noch  heute,  wo  nur  nackte  Trümmer  noch  übrig  sind, 
kaum    ein    Schatten    der    alten    HerrHchkeit,    die    Akropolis 


^  Die  Frage  nach  den  Schicksalen  des  alten  Athenatempels  ist  viel  um- 
stritten. Mir  scheint  unzweifelhaft,  daß  der  Tempel  abgebrochen  war,  als  die 
Korenhalle  am  Erechtheion  errichtet  wurde,  da  diese  sonst  verdeckt  geblieben 
wäre.  Literatur  bis  1905  bei  Judeich  a.  a.  O.  S.  240.  Weiter  Petersen,  Der  Burg- 
tempel der  Athenaia,   Berlin  1907,  Hekatompedon,  Klio  IX,  1909,  S.  229  ff. 

8  Lysippos  fr.   7   Kock  (I   702). 


Bauten  in  Athen.  207 


bei  weitem  das  Schönste,  was  man  auf  Erden  sehen  kann. 
Freilich  sind  es  nicht  die  Wunder  der  Architektur  allein,  die 
diesen  Zauber  bewirken.  Es  ist  vor  allem  die  Landschaft, 
in  die  diese  Trümmer  gestellt  sind.  Von  der  luftigen  Höhe 
schweift  der  Blick  über  den  Saronischen  Golf,  nach  den  Küsten 
des  Peloponnes.  Dort  drüben  liegt  Aegina,  der  ,, leuchtende 
Stern  des  Zeus  Hellanios",  die  alten  Rivalin  Athens;  weiter 
im  Westen  Salamis,  wo  die  Geschicke  der  Welt  entschieden 
worden  sind,  und  noch  weiter  am  Horizont  die  Burg  von 
Korinth,  überragt  von  der  schneebedeckten  Kyllene,  auf  der 
Hermes  geboren  war.  Und  unten  zu  Füßen  das  Häusermeer 
der  Stadt,  mit  dem  Ölwald  am  Kephisos,  eingerahmt  von  dem 
Berghang,  der  die  attische  Ebene  umschließt,  den  Kuppen 
des  Farnes,  der  Pyramide  des  Pentelikon,  dem  langgestreckten 
Kamm  des  Hymettos.  Das  alles  beleuchtet  von  dem  Glanz 
der  Sonne  des  Südens,  in  der  klaren  Luft  Attikas.  Es  gibt 
wohl  nur  zwei  Stätten,  die  mit  der  Akropolis  von  Athen  sich 
vergleichen  lassen,  die  Burg  von  Mykenae  und  das  Trümmer- 
feld von  Poseidonia;  aber  in  Poseidonia  fehlt  der  historische 
Hintergrund,  und  die  Bauten  in  Mykenae  wirken  haupt- 
sächlich durch  ihre  wuchtige  Masse. 

Auch  die  übrigen  Teile  von  Attika  wurden  nicht  ver- 
nachlässigt. In  Eleusis  wurde  der  von  den  Persern  zerstörte 
Mysterientempel  von  Iktinos,  dem  Meister  des  Parthenon, 
wieder  aufgebaut,  nach  dem  alten  Plane,  aber  in  sehr  viel 
größeren  Dimensionen.  Auf  der  Südspitze  der  attischen  Halb- 
insel, dem  Kap  Sunion,  wurde  ein  Tempel  des  Poseidon  er- 
richtet, dessen  Säulen  noch  heute  weithin  das  Meer  über- 
schauen. In  Rhamnus  erstand  ein  neuer,  größerer  Tempel 
der  Nemesis,  neben  dem  alten,  den  die  Perser  zerstört  hatten  ^ 

Der  Ruhm  dieser  Bauten  erfüllte  bald  ganz  Hellas  und 


1  Eleusis:  Philios,  TTpaKTiKd  1884  S.  64  ff.,  1887  S.  50  ff.,  Fouilles  d' Eleusis, 
Athen  1889,  Eleusis,  ses  mysteres,  ses  ruines  et  son  musee,  Athen  1896.  Ruben- 
sohn,  Mysterienheiligtümer,  Berlin  1892.  Eine  wissenschaftlich  genügende 
Publikation  fehlt  noch.  Iktinos:  Strab.  IX  395,  Vitruv.  VII  Pracf.  16.  —  Sunion: 
Dörpfeld  und  Fabricius,  Athen.  Mitt.  IX,  1884,  S.  324  ff.,  Stais,  'EcptijU.  äpx- 
1900,  S.  113  ff. 


208  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

trug  den  attischen  Meistern  auch  nach  auswärts  Aufträge 
ein.  So  erbaute  Iktinos,  der  Schöpfer  des  Parthenon,  dem 
Apollon  einen  Tempel  bei  Phigaleia  in  Arkadien  ^,  auf  ein- 
samer Berghöhe,  der  eben  wegen  dieser  Lage  den  Stürmen 
der  Zeit  bis  heute  getrotzt  hat.  Der  Bau  ist  dorisch,  doch 
sind  zur  inneren  Ausschmückung  ionische  Säulen  verwendet, 
daneben,  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte  der  griechischen 
Architektur,  eine  Säule  mit  korinthischem  Kapital.  Nicht 
lange  darauf  zerstörte  eine  Feuersbrunst  den  altehrwürdigen 
Tempel  der  Hera  bei  Mykenae  (423),  der  nun  durch  den 
argeiischen  Architekten  Eupolemos  größer  und  prächtiger 
wieder  aufgebaut  wurde  2.  Und  das  sind  nur  die  wichtigsten 
unter  den  vielen  Tempeln,  die  in  dieser  Zeit  errichtet  worden 
sind;  erinnern  wir  uns  dabei,  daß  die  Kosten  eines  großen 
Tempels  mehrere  hundert  Talente  betrugen  und  allein  die 
perikleischen  Bauten  in  Attika  an  2000  Talente  erfordert 
haben  ^. 

Neue  Aufgaben  erwuchsen  der  Architektur  aus  der 
Entwicklung  der  Musik  und  des  Dramas.  Nach  dem  Vorbilde, 
das  fast  ein  Jahrhundert  früher  Theodoros  in  der  Skias  gegeben 
hatte  (oben  IIS.  422),  ließ  Perikles,  um  450,  am  Fuß  der 
Akropolis  in  Athen  das  Odeion  errichten,  einen  halbkreis- 
förmigen Bau,  dessen  zeltartiges  Dach  von  zahlreichen  Säulen 
getragen  war  *.  Es  war,  wie  der  Name  sagt,  für  Konzerte 
bestimmt.  Die  dramatischen  Aufführungen  waren  in  Athen 
ursprünglich  auf  dem  Markte  veranstaltet  worden,  wobei 
die  Menge  von  hölzernen  Tribünen  aus  zusah;  als  diese  einmal 
unter  der  Last  der  Zuschauer  zusammengebrochen  waren, 
verlegte  man  die  Aufführungen  in  den  heiligen  Bezirk  des 
Dionysos  von  Eleutherae  am  Südfuße  der  Burg.  Hier  wurde 
für  den  Chor  ein  kreisrunder  Tanzplatz   (Orchestra)  gebaut. 


1  Paus.  VIII  41,  7—9,   Stackeiberg,   Apollotempel  zu  Bassae,  Frankfurt 
1826,   npaKTiKd  1902   S.   23,    Kuruniotis,    '£^>r\y^.  dpx-   1910  S.  271. 

2  Thuk.  IV  123,  Paus.  II  17,  3,  Waldstein,  The  Argive  Heraeon  I,  1902. 
^  Vgl.  unten  2.  Abt.-  §  143.    Die  Kosten  der  chryselephantinen  Kolossal- 
statue der  Athena  sind  in  dieser  Surnme   einbegriffen. 

*  Thiersch,  Zeitschr.  f.  Gesch.  der  Architektur  II,  1909,   S.   77. 


Tempel  von  Phigaleia.  —  Heraeon.  —  Theater.  —  Profanbauten.     209 

und  für  die  Zuschauer  an  dem  darüber  ansteigenden  Berg- 
hang ein  halbrunder  Zuschauerraum  hergerichtet  und  mit 
steinernen  Sitzen  versehen.  Auch  der  Peiraeeus  hat  noch 
im  Laufe  des  V.  Jahrhunderts  ein  solches  Theater  erhalten, 
ebenso  der  Demos  Thorikos,  der  Mittelpunkt  des  laurischen 
Minendistrikts.  Außerhalb  Athens  hat  Korinth  schon  am 
Anfang  des  IV.  Jahrhunderts  ein  Theater  gehabt,  das  also 
wohl  noch  vor  dem  peloponnesischen  Kriege  erbaut  sein  wird; 
ebenso  schon  im  V.  Jahrhundert  Syrakus.  Sonst  aber  hat  es 
in  der  griechischen  Welt  in  dieser  Zeit  Theater  noch  kaum 
gegeben,  für  die  ja  auch  kein  Bedürfnis  vorhanden  war,  da  die 
dramatischen  Aufführungen  auf  Athen,  die  Isthmosstädte 
und    Syrakus   beschränkt  waren  ^, 

So  großartige  Aufwendungen  aber  die  griechischen 
Staaten  in  dieser  Zeit  für  Bauten  zum  Zwecke  des  Kultus 
machten  —  und  auch  die  Theater  gehörten  nach  damaliger 
Auffassung  dazu  —  so  wenig  verwendeten  sie  auf  die  Aus- 
schmückung öffentlicher  Profangebäude  (oben  S.  112).  Und 
in  dieser  demokratischen  Zeit  waren  auch  die  Privathäuser 
klein  und  unansehnhch,  mit  höchstens  einem  Stockwerk 
über  dem  Erdgeschoß  ^.  So  war  der  Architektur  hier  keine 
Aufgabe  gestellt,  die  sie  zu  künstlerischem  Schaffen  hätte 
anregen  können.  Auch  neue  Städte  sind  im  V.  Jahrhundert 
nur  wenige  angelegt  worden.  Man  befolgte  dabei  die  regel- 
mäßige Disposition  sich  im  rechten  Winkel  schneidender 
Straßen,  wie  sie  unter  dem  Einfluß  des  Orients  bereits  seit 
dem  VII.  Jahrhundert  sich  ausgebildet  hatte;  nach  diesem 
Plane  erbaute  der  milesische  Architekt  Hippodamos  den 
Peiraeeus  und  die  444  in  Italien  gegründete  Kolonie  Thurioi  *. 
Stadtbefestigungen  wie  die  von  Athen  und  seinen  Häfen  durch 

^  Dörpfeld  und  Reisch,  Griechisches  Theater,  Athen  1896,  Puchstein, 
Die  griechische  Bühne,  Berlin  1901.  Theater  im  Peiraeeus:  Thuk.  VIII  93,  in 
Korinth:  Xen.  Hell.  IV  4,  3,  Thorikos:  Papers  Amer.  School  Athens  IV  1885/6 
S.  1  ff.,   Syrakus:   Sophron  bei  Eustath.  zu  y  68. 

-  Vgl.  Demosth.  Olynth.  III  25,  gAristokr.  207. 

^  Peiraeeus:  Aristot.  Po/zV.  II  1267  b,  Harpokrat.  MiTiTobd|ueia,  Hesych. 
'lifirobct|nou  v4.^Y\0\(;,  Andok.  vdMyst.  45,  Xen.  Hell.  II  4,  11;  Thurioi:  Hesych. 
a.  a.  O.,  und  über  die  Stadtanlage  Diod.  XII  10,  7. 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  x.     2.  Aufl.  14 


210  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Themistokles    und    Perikles    haben    mit   der   Architektur   als 
bildender  Kunst  nichts  zu  tun. 

Während  die  Architektur  sich  nur  in  den  Bahnen  weiter 
bewegte,  die  bereits  das  VI.  Jahrhundert  gewiesen  hatte, 
begann  für  die  Malerei  mit  den  Perserkriegen  eine  neue  Epoche. 
Sie  hatte  bisher  hauptsächlich  in  lonien  Pflege  gefunden 
und  war  schon  um  den  Ausgang  des  VI.  Jahrhunderts  zu 
großen,  figurenreichen  Kompositionen  aufgestiegen;  so  weihte 
Mandrokles  aus  Samos,  der  Erbauer  der  Brücke  über  den 
Bosporos  bei  Dareios'  Skythenzuge,  in  dem  Heratempel  seiner 
Vaterstadt  ein  Tafelbild,  auf  dem  der  Übergang  des  persischen 
Heeres  nach  Europa  dargestellt  war  i.  Aber  erst  unter  den 
gewaltigen  Eindrücken  der  Perserkriege  reifte  die  Malerei 
zur  Monumentalkunst.  Sie  fand  jetzt  ihren  ersten  großen 
Meister  in  Polygnotos  aus  Thasos,  der  in  Kimons  Zeit  nach 
Athen  kam,  wo  ihm,  ebenso  wie  dem  Architekten  Hippodamos 
aus  Milet,  in  Anerkennung  seiner  künstlerischen  Leistungen 
das  Bürgerrecht  verliehen  wurde  2,  Er  hat  eine  Reihe  großer 
Wandgemälde  geschaffen.  Zusammen  mit  Mikon  und  Panaenos, 
dem  Bruder  des  Pheidias,  schmückte  er,  bald  nach  460,  die 
von  dem  Alkmeoniden  Peisianax  am  Markte  erbaute  Säulen- 
halle, die  eben  danach  später  gewöhnlich  die  ,, bunte  Halle" 
(TTOiKiXri  (JTod)  genannt  wurde,  mit  einem  Zyklus  von  Fresken 
aus  der  Geschichte  Athens,  oder  was  dieser  Zeit  dafür  galt; 
dargestellt  waren  die  Amazonenschlacht,  die  Zerstörung  Troias, 


1  Herod.  IV  88. 

'  über  Polygnots  Verhältnis  zu  Kimons  Schwester  Elpinike  Plut.  Kim.  4, 
oben  S.  169  A.  Das  Theseion  (nicht  der  Tempel,  den  wir  heute  so  nennen)  ist 
infolge  der  Überführung  der  Gebeine  des  Heros  aus  Skyros  (475)  erbaut  worden, 
doch  mag  der  Bau  sich  durch  eine  Reihe  von  Jahren  hingezogen  haben.  Mikon, 
der  auch  Bildhauer  war,  hat  die  Statue  des  Atheners  KaUias,  Sohn  des  Didymias, 
gearbeitet,  der  472  in  Olympia  im  Pankration  gesiegt  hatte  (Paus.  V  9,  3,  VI  6,  1, 
Inschr.  v.  Olymp.  146  =  Loewy  41,  vgl.  CIA.  I  418.  419).  Da  die  Inschrift  der 
Statue  im  ionischen  Alphabet  geschrieben  ist,  Mikon  sich  aber  darauf  als  Athener 
bezeichnet,  so  war  er  wohl  ein  loner,  der  wie  Polygnot  das  athenische  Bürger- 
recht erhalten  hat,  also  damals  schon  ein  Künstler  von  Ruf.  Loewy  setzt  darauf 
hin  seine  Geburt  und  die  seines  Genossen  Polygnot  um  510  (mündliche  Mit- 
teilung). 


Malerei:  Polygnotos.  211 


die  Schlacht  bei  Marathon  und  der  Sieg  bei  Oenophyta  (unten 
2.  Abt.  §84).  Etwas  früher  fallen  wohl  die  Fresken  im  Theseion 
und  Anakeion,  die  er  ebenfalls  in  Gemeinschaft  mit  Mikon 
geschaffen  hat.  Im  Tempel  der  Athena  Areia  in  Plataeae, 
der  zum  Gedächtnis  des  Sieges  von  dem  Erlös  aus  der  Beute 
gebaut  war,  malte  er  eine  Darstellung  des  Freiermordes, 
mit  Anspielung  auf  die  Vernichtung  des  Perserheeres.  Poly- 
gnotos' berühmtestes  Werk  aber  waren  die  beiden  großen 
Kompositionen  an  den  Wänden  der  Halle  (Xedxi)  ^^^  Knidier 
in  Delphi:  die  Einnahme  von  Troia  und  Odysseus'  Hades- 
fahrt. Sie  nahmen  in  der  Entwicklung  der  griechischen  Malerei 
etwa  die  Stelle  ein  wie  die  Fresken  Giottos  und  Orcagnas 
in   der   Geschichte   der   italienischen   Malerei. 

Diese  Fresken  waren  in  wenigen  Grundfarben  ausgeführt, 
Schwarz,  Weiß,  Rot,  Gelb,  die  aber  bereits  abgetönt  wurden, 
auch  Blau  und  Grün  wurden  hin  und  wieder  verwendet. 
Auch  Schatten  wurden  bereits  angegeben.  Die  Figuren  waren 
in  Gruppen  angeordnet,  wobei  eine  Art  Perspektive  zur  An- 
wendung kam  und  mitunter  schon  kühne  Verkürzungen 
gewagt  wurden.  Erklärende  Beischriften  erleichterten  das 
Verständnis.  Aber  trotz  dieser  einfachen  Mittel  wußte  der 
Meister  seinen  Gestalten  lebendigen  Ausdruck  zu  geben;  seine 
Gemälde  atmeten  eine  erhabene  Hoheit,  wie  sie  die  spätere 
Kunst,  trotz  aller  technischen  Fortschritte,  nicht  mehr  zu 
erreichen  vermocht  hat.  Was  Polygnot  gab,  war  rehgiöse 
Kunst,  wie  die  Dichtungen  seiner  Zeitgenossen  Aeschylos 
und  Pindar.  Noch  Aristoteles  hat  den  Anblick  dieser  Bilder 
für   die   heranwachsende    Jugend   gewünscht  ^ 


^  Über  Polygnot  vor  allem  Hauser  in  Furtwängler-Reichhold,  Griech. 
Vasenbilder  II,  München  1909,  S.  305  ff.  Roberts  Rekonstruktionen  der  poly- 
gnotischen  Gemälde  (Hallische  Winckelmannsprogramme  XVI — XVIII,  1892 
bis  1894),  die  ja  für  ihre  Zeit  sehr  verdienstlich  waren,  wirken  heute  wie  Kari- 
katuren. Bei  dem  völligen  Verluste  der  Schöpfungen  der  großen  griechischen 
Malerei  können  wir  von  ihrer  Technik  nur  aus  den  Vasenbildern  und  Reliefs 
eine  Anschauung  gewinnen.  Dazu  treten,  für  die  Komposition,  die  Beschreibungen 
der  Gemälde  in  der  Poekile  und  der  Lesche  der  Knidier  bei  Pausanias  (I  15 
und  X  25—31). 

14* 


212  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Hinter  den  Fortschritten  der  Malerei  blieb  die  Plastik 
zunächst  noch  etwas  zurück;  sie  folgte  den  Bahnen,  die  ihr 
die  großen  Meister  der  vorhergehenden  Periode  gewiesen 
hatten  ^.  Um  die  Zeit  der  Perserkriege  wirkten  in  Athen 
Kritios  und  Nesiotes,  die  Schöpfer  der  Gruppe  der  Tyrannen - 
mörder,  die  dort  zum  Ersatz  des  von  Xerxes  hinweggeführten 
Werkes  des  Antenor  bald  nach  der  Schlacht  bei  Plataeae 
auf  dem  Markte  errichtet  wurde.  Das  aus  Erz  gebildete 
Original  ist  längst  zugrunde  gegangen;  dafür  bewahrt  das 
Museum  von  Neapel  eine  treffliche  Marmorreplik,  die  auch 
uns  die  Anschauung  des  Werkes  vermittelt.  Es  ist  die  älteste 
wahrhaft  plastisch  komponierte  Gruppe,  die  uns  erhalten  ist.. 
Sonst  steht  sie  im  Kunstcharakter,  wie  es  nicht  anders  sein 
kann,  den  Aegineten  sehr  nahe;  eine  gewisse  Milderung  der 
Härte  mag  ionischem  Einfluß  verdankt  werden,  soweit  sie 
nicht  auf  Rechnung  des  Kopisten  kommt.  Größere  Anmut 
soll  Kaiamis  seinen  Werken  gegeben  haben,  der  noch  mit 
Onatas  zusammen  gearbeitet  hat,  aber  bis  wenigstens  zur 
Mitte  des  V.  Jahrhunderts  tätig  gewesen  ist.  Hochberühmt 
waren  namentlich  ein  Frauenbild  von  seiner  Hand,  die  sog. 
Sosandra,  in  Athen,  und  eine  Kolossalstatue  des  Apollon 
in  Apollonia  am  Pontos.  Für  uns  ist  er  ein  bloßer  Name  ^. 
Sein  Zeitgenosse,  der  Samier  Pythagoras  (tätig  von  476 — 452)  ^, 
der  nach  Rhegion  übersiedelte  und  darum  meist  Rheginer 
genannt  wird,  soll  nach  dem  Urteil  eines  antiken  Kunst - 
forschers  zuerst  Rhythmus  und  Symmetrie  erstrebt  haben. 
Von  seinem  Philoktet  in  Syrakus  rühmte  man,  daß  der  Be- 
schauer den  Schmerz  der  Wunde  mitempfinde.  Er  bildete 
meist  Athletenstatuen ;  doch  auch  von  seinem  Kunstcharakter 
fehlt  uns   noch   die   konkrete  Anschauung. 

^  Literaturnachweise  im  Anhang  zu  Springer-Michaelis,  Handbuch  der 
Kunstgeschichte  I »,  Leipzig  1911.  Die  antiken  Zeugnisse  bei  Overbeck,  Schrift- 
quellen, Leipzig  1868,  und  Loewy,  Inschr.  griech.  Bildhauer,  Wien  1885.  Zur 
Chronologie   Robert,   Hermes  XXXV,   1900,    S.   141  ff. 

-  Über  Kaiamis  Studniczka,  Abh.  Sachs.  Ges.  phil.-hist.  Kl.  25,  4,  1905, 
S.  Iff.,  Reisch,  Österr.  Jahreshefte  IX,  1906,  S.  199  ff.,  Furtwängler,  S.-B. 
Bayer.  Akad.  1907,  S.  160  fE. 

3  Robert,  Hermes  XXXV,  1900,  S.  184. 


Plastik.  —  Pheidias.  213 

Sie  alle  aber  wurden  weit  in  den  Schatten  gestellt  durch 
den  Athener  Pheidias  (etwa  500 — 432),  der  die  archaische 
Plastik  zur  Vollendung  führte,  wie  Polygnot  die  archaische 
Malerei.  Er  war  von  Hause  aus  Erzbildner;  als  solcher  schuf 
er  eine  Kolossalstatue  der  Athena  Promachos  für  die  Akropolis 
und  eine  figurenreiche  Gruppe,  welche  die  Athener,  in  Kimons 
Zeit,  zum  Gedächtnis  des  Sieges  von  Marathon  nach  Delphi 
weihten  ^,  Miltiades  zwischen  Athena  und  Apollon,  umgeben 
von  den  attischen  Stammesheroen.  Durch  diese  Werke  ge- 
langte er  zu  panhellenischem  Ruhme :  und  so  wurden  ihm  die 
beiden  größten  Aufträge  zuteil,  die  diese  Zeit  zu  vergeben 
hatte:  das  Kolossalbild  des  Zeus  für  den  Tempel  in  Olympia 
und  das  Kolossalbild  der  Athena  für  den  Parthenon.  Sie 
waren  bestimmt,  dem  Beschauer  die  Gottheit  in  ihrer  ganzen 
überirdischen  Majestät  vor  Augen  zu  führen,  und  bestanden 
demgemäß  aus  dem  kostbarsten  Material;  das  Antlitz  und 
die  anderen  entblößten  Körperteile  aus  Elfenbein,  die  Ge- 
wänder und  das  übrige  Beiwerk  aus  Gold.  Es  war  eine  Technik, 
die  sich  aus  der  alten  Holzschnitzerei  entwickelt  hatte;  ein 


1  Paus.  X  10,  1—2,  Pomtow,  Klio  VIII,  1908,  S.  84  ff.,  wo  die  weitere 
Literatur.  Da  Miltiades  im  Jahre  nach  der  Schlacht  verurteilt  worden  ist, 
auch  die  Hervorhebung  eines  der  Strategen  unmittelbar  nach  der  Schlacht 
undenkbar  wäre,  so  kann  die  Gruppe  erst  einige  Jahrzehnte  später  aufgestellt 
worden  sein,  und  dann  natürlich  nicht  aus  der  marathonischen  Beute.  Auf 
Weihinschriften  wird  der  Ort  des  Sieges  nur  ausnahmsweise  angegeben,  in  der 
Regel  nur  der  Name  des  Feindes,  oder  es  heißt  einfach  dmö  Tiliv  iroXeiLiiuJV. 
Es  liegt  also  kein  Grund  vor,  die  Gruppe  Pheidias  abzusprechen.  Sein  ältestes 
Werk,  von  dem  wir  Kenntnis  haben,  ist  das  Höavov  ^TTixpuöov  im  Tempel 
der  Athena  Areia  in  Plataeae  (Paus.  IX  4,  1).  Der  Tempel  ist  nicht  aus  der 
Beute  von  Marathon  gebaut  (Paus.  a.  a.  O.),  da  ja  Plataeae  480  zerstört  worden 
ist,  sondern  aus  der  Beute  von  Plataeae,  wie  Plut.  Arist.  20  richtig  angibt; 
er  wird  also  kaum  vor  470  fertig  geworden  sein.  Die  Zeusstatue  in  Olympia 
muß  älter  sein  als  die  Parthenos,  schon  darum,  weil  der  Zeustempel  eher  fertig 
geworden  ist,  als  der  Parthenon;  auch  wurde  Pheidias  gleich  nach  der  Vollendung 
der  Parthenos  wegen  Unterschleifs  angeklagt  (unten  Abschn.  X.),  und  selbst  wenn 
wir  die  Angabe  verwerfen,  nach  der  er  im  Gefängnis  gestorben  wäre  (Plut, 
Per.  31),  bleibt  es  undenkbar,  daß  die  Eleier  ihm  dann  noch  die  Anfertigung 
des  Zeusbildes  übertragen  hätten.  Auch  bezieht  das  Datum  für  Pheidias'  äKjuri 
bei  Plin.  XXXIV  49  (Ol.  83  =  448)  sich  doch  ohne  Zweifel  auf  die  Einweihung 
dieser  Statue. 


214  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

hölzerner  Kern  war  mit  Goldblech  und  Platten  aus  Elfenbein 
überkleidet.  Von  dem  Eindruck,  den  solche  Werke  im  Halb- 
dunkel der  Tempelcellen  auf  den  Beschauer  hervorbringen 
mußten,  mögen  uns  die  Mosaiken  auf  Goldgrund  in  altchrist- 
lichen und  byzantinischen  Kirchen  eine  schwache  Vorstellung 
geben.  Wer  in  den  Tempel  zu  Olympia  trat,  glaubte  den 
Göttervater  zu  sehen,  wie  ihn  Homer  geschildert  hatte,  ruhig 
und  mild,  in  erhabener  Größe;  er  fühlte  sich  in  eine  höhere 
Region  entrückt,  und  mochte  über  dem  Anblick  aller  Sorgen 
und  Nöte  des  Lebens  vergessen  ^.  Nicht  ganz  so  hoch  stand 
die  Statue  der  Parthenos ;  der  Künstler  hatte  hier  der  Tradition 
des  Kultbildes  mehr  Konzessionen  machen  müssen,  als  gut 
war,    was   die   künstlerische   Wirkung   abschwächte. 

Inzwischen  hatten  die  Fortschritte  der  Malerei  die  Plastik 
zu  beeinflussen  begonnen.  Der  Bahnbrecher  der  neuen  Zeit 
ist  hier  Myron  aus  dem  Städtchen  Eleutherae  an  der  attisch - 
boeotischen  Grenze.  Er  zuerst  hat  es  vermocht,  die  bewegte 
Einzelgestalt  in  lebensvoller  Weise  wiederzugeben.  Keines 
seiner  zahlreichen  Werke  zeigt  diese  Meisterschaft  in  so  hohem 
Maße,  wie  der  Diskoswerfer,  dessen  beste  Replik  in  Rom 
im  Palazzo  Massimo  steht.  Von  seinen  zahlreichen  Athleten - 
Statuen  war  die  berühmteste  die  des  Wettläufers  Ladas,  von 
der  keine  Nachbildung  auf  uns  gelangt  ist.  Hochgefeiert 
waren  auch  seine  Tierbilder,  namentlich  das  Erzbild  einer 
Kuh,  das  in  unzähligen  Epigrammen  besungen  worden  ist  ^. 

Die  stärkste  Einwirkung  übte  die  Malerei  natürlich  auf 
das  Relief.  Wir  sehen  das  recht  deutlich  an  dem  plastischen 
Schmucke  des  Parthenon.  Während  dieMetopen  noch  archai- 
schen Charakter  tragen,  zeigt  der  Fries  bereits  eine  voll- 
ständige Beherrschung  der  Technik,  in  der  Komposition 
ebenso,  wie  in  der  Schönheit  der  Formen.  Dargestellt  ist 
die    Prozession    an    den    Panathenaeen,    dem    größten    Feste 


^  Vgl.  die  Beschreibung  bei  Dion  Chrysost.  XII  51  f.  Arnim. 

^  Da  sein  Sohn  Lykios  um  446  als  Bildhauer  tätig  war  (C/A  IV  1,  418  h, 
S.  184  =  Dittenb.  Syll.  ^  15),  muß  Myron  etwa  um  500  geboren  sein  oder  doch 
nicht  viel  später;  Athletenstatuen  von  seiner  Hand  sind  aus  den  Jahren  456 
und  448  bezeugt. 


Pheidias.  —  Myron.  —  Die  Parthenon- Skulpturen.  —  Polykleitos.     215 

Athens;  den  Glanzpunkt  bildet  der  Aufzug  der  Reiterei,  der 
in  unübertrefflicher  Lebendigkeit  und  Naturwahrheit  ge- 
schildert ist;  die  steigenden  und  ausschlagenden  Rosse,  die 
Reiter  mit  den  fliegenden  Mänteln  lassen  den  Einfluß  Myrons 
erkennen.  Noch  größere  Vollendung  zeigen  die  als  Rund- 
bilder gearbeiteten  Figuren  der  Giebelgruppen,  denen  die 
Plastik  aller  Zeiten  nur  wenig  technisch  Gleichwertiges  an  die 
Seite  stellen  kann.  Und  doch  sind  es  Werke  namenloser  Künstler, 
namenlos  schon  im  Altertum,  das  diese  Skulpturen  überhaupt 
keines  Wortes  der  Erwähnung  gewürdigt  hat;  da  der  Fries 
allein  eine  Länge  von  160  m  hat,  mußte  die  Ausführung 
natürlich  in  der  Hand  einfacher  Steinmetzen  liegen.  Nichts 
anderes  vielleicht  kann  uns  einen  so  hohen  Begriff  von  der 
Stufe  des  Könnens  geben,  welche  die  Plastik  damals  m  Athen 
erreicht  hatte. 

Der  Peloponnes  blieb  hinter  Athen  nicht  zurück.  Auch 
hier  wurde  der  Archaismus  jetzt  überwunden.  Die  aeginetische 
Schule  freilich  verfiel,  seit  die  Insel  unter  athenische  Herrschaft 
gekommen  war.  Um  so  kräftiger  blühte  die  Schule,  die  Hage- 
laidas  in  Argos  begründet  hatte.  Hier  wirkte,  einer  Künstler- 
familie entsprossen,  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts 
Polykleitos,  ein  Meister  von  streng  methodischer  Schulung, 
der  auf  das  vollendete  Ebenmaß  der  Proportionen  das  höchste 
Gewicht  legte  und  dafür  in  seinem  Lanzenträger  (Doryphoros) 
ein  vielbewundertes  Muster  gegeben  hat.  Nach  diesem  Vorbilde 
hat  er  zahlreiche  Siegerstatuen  geschaffen,  sein  Höchstes  aber 
im  Götterbilde  geleistet.  Nach  dem  Brande  des  alten  Hera- 
tempels bei  Mykenae  (423)  fiel  ihm,  als  dem  anerkannt  ersten 
Meister  seiner  Vaterstadt  und  damals  ganz  Griechenlands, 
die  Aufgabe  zu,  für  den  neuen  Tempel  das  Kultbild  zu  schaffen. 
Es  war  eine  Kolossalstatue  aus  Gold  und  Elfenbein,  zwar 
von  kleineren  Dimensionen  als  der  Zeus  des  Pheidias,  aber 
dessen  würdiges  Gegenstück;  in  der  feinen  Durchführung 
des  einzelnen  und  vor  allem  durch  den  freien  Stil  diesem  noch 
überlegen  ^. 

^  Der  Neubau  des  Tempels  muß  eine  Reihe  von  Jahren  erfordert  haben, 
um  so  mehr,  als  Argos  von  420  bis  wenigstens  412  mit  Sparta  im  Kriege  stand 


216  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Um  dieselbe  Zeit  blühte  in  Athen  Alkamenes,  angeblich 
ein  Schüler  des  Pheidias;  wie  dieser  hat  er  hauptsächlich 
Götterbilder  geschaffen,  in  Marmor,  Erz  und  chryselephantiner 
Technik,  von  so  erhabener  Schönheit,  daß  ihm  spätere 
Kunstforscher  den  ersten  Platz  nach  seinem  großen  Meister 
zuerkannt  haben  ^.  Für  uns  ist  er  ein  bloßer  Name,  da  keine 
der  erhaltenen  Statuen  mit  Sicherheit  auf  ihn  zurückgeführt 
werden  kann.  Wohl  aber  besitzen  wir  noch  ein  Werk  seines 
Zeitgenossen  Paeonios  aus  Mende  in  der  thrakischen  Chalkidike, 
ein  Weihgeschenk,  das  die  Messenier  von  Naupaktos  in  Olympia 
aufgestellt  haben:  Nike,  die  nach  der  Erde  herabschwebt; 
die  Virtuosität,  mit  der  das  wehende  Gewand  im  Marmor 
gebildet  ist,  zeigt  deutlich  den  Einfluß  der  Malerei.  In  ähn- 
lichem Stil,  aber  von  noch  feinerer  Durchbildung  im  einzelnen, 
sind  die  Siegesgöttinnen  auf  den  Reliefs  von  der  Balustrade 
des  Niketempels  am  Eingang  zur  Akropolis  in  Athen,  deren 
Meister  uns  nicht  genannt  wird,  und  also  vielleicht  nur  ein 


und  also  schwerlich  für  andere  Zwecke  viel  Geld  zur  Verfügung  hatte.  Und 
der  Tempelbau  wie  die  chryselephantine  Statue  müssen  doch  sehr  bedeutende 
Summen  erfordert  haben,  jedenfalls  mehrere  hundert  Talente.  Unter  diesen 
Umständen  ist  es  kaum  denkbar,  daß  die  Statue  vor  Ende  des  Jahrhunderts 
fertig  geworden  sein  sollte;  einen  terminus  ante  quem  gibt  der  Ausbruch  des 
korinthischen  Krieges.  Wir  hören  dpnn  auch,  daß  Polykleitos  für  Amyklae 
ein  Denkmal  des  Sieges  bei  Aigospotamoi  geschaffen  hat  (Paus.  III  18,  8). 
Der  jüngere  Künstler  dieses  Namens  kann  hier  nicht  gemeint  sein,  da  er  ein 
halbes  Jahrhundert  später  die  Tholos  in  Epidauros  erbaut  hat  (Paus.  II  27,  5). 
Es  ist  also  ein  Anachronismus,  wenn  Piaton  (Prot.  311  c)  die  Söhne  Polyklets 
den  Söhnen  des  Perikles  (geboren  um  460)  gleichaltrig  sein  läßt.  Die  Sieger- 
statuen des  Kyniskos  (um  Ol.  80),  des  Aristion  und  Pythokles  (Ol.  82)  können 
dann  allerdings  nicht  wohl  von  dem  großen  Polykleitos  geschaffen  sein,  wenn 
wir  nicht  annehmen  wollen,  daß  sie  erst  lange  nach  den  Siegen,  die  sie  ver- 
herrlichen sollen,  gefertigt  sind.  Sonst  müßte  sie  von  einem  älteren  Künstler 
gleichen  Namens  herrühren,  der  ja  derselben  Familie  angehört  haben  mag. 
Das  Material  bei  Robert,  Hermes  XXXV,  1900,  S.  185  ff.,  der  nur  seine  frühere 
richtige  Ansicht  über  Polyklets  Lebenszeit  (Arch.  Märch.  S.  98  ff.)  nicht  hätte 
zurücknehmen  sollen. 

^  Alkamenes  ist  noch  zur  Zeit  der  Wiederherstellung  der  Demokratie 
in  Athen,  403/2,  tätig  gewesen  (Paus.  IX  11,  6),  seine  Wirksamkeit  fällt  folghch 
in  die  Zeit  des  peloponnesisrchen  Krieges,  und  er  könnte  also  nur  in  Pheidias' 
letzten  Jahren  und  als  ganz  junger  Mensch  dessen  Schüler  gewesen  sein. 


Alkamenes.   Paeonios.  —  Fortschritte  der  Malerei.  217 

Steinmetz  gewesen  ist;   auch  hier  haben  malerische  Motive 
zum  Vorbild  gedient. 

Denn  eben  damals  waren  in  der  Malerei  epochemachende 
Fortschritte  gelungen,  die  sie  weit  über  die  Stufe  hinausheben, 
welche  sie  durch  Polygnotos  erreicht  hatte,  und  sie  in  kurzer  Zeit 
auf  die  Höhe  ihrer  Entwicklung  führen  sollten.  Den  Ausgangs- 
punkt dafür  bildete,  wie  es  scheint,  die  Dekorationsmalerei 
für  die  Bühne.  Der  Künstler  mußte  danach  streben,  bei  den 
Zuschauern  die  Illusion  der  Wirklichkeit  hervorzurufen,  was 
nur  durch  die  Anwendung  einer  Art  Perspektive  zu  erreichen 
war.  Das  soll  zuerst  durch  Agatharchos  aus  Samos  geschehen 
sein,  der  angeblich  schon  für  Aeschylos  tätig  gewesen  ist,  aber 
noch  die  Zeiten  des  peloponnesischen  Krieges  erlebt  hat. 
Durch  ihn  wurde  Apollodoros  aus  Athen  angeregt,  der 
,,  Schattenmaler",  der  das  neue  Prinzip  auf  die  Tafelmalerei 
übertrug  und  es  zugleich  vervollkommnete  und  folgerecht 
durchführte.  So  wurde  er  der  Entdecker  der  dritten  Dimension 
auf  der  Bildfiäche;  erst  jetzt  war  es  möglich,  statt  bloßer 
Umrißzeichnungen,  wie  sie  die  Vasenbilder  zeigen,  plastisch 
wirkende  Bilder  zu  geben  ^.  Das  führte  zu  einer  völligen 
Umwälzung  der  malerischen  Technik.  Die  neue  Malweise 
fand  sofort  ihren  ersten  großen  Meister  in  Zeuxis  aus  Herakleia, 
in  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  ^.  Sein  berühmtestes 
Bild  war  wohl  seine  Helena;  es  war  das  erste  Mal,  daß  ein 
Künstler  den  vollen  Glanz  weiblicher  Schönheit  mit  dem 
Streben  nach  der  Illusion  der  Wirklichkeit  zur  Darstellung 
brachte,  und  das  Bild  wirkte  denn  auch  auf  die  Beschauer 
wie  eine  Offenbarung  aus  einer  neuen  Welt.  Der  Andrang 
soll  so  groß  gewesen  sein,  daß  der  Künstler  Eintrittsgeld 
erheben  mußte,  wobei  er  sehr  gute  Geschäfte  gemacht  haben 
soll.  Daß  seine  Bilder  hohe  Preise  erzielten,  ist  unter  diesen 
Umständen  sehr  begreiflich;  so  soll  ihm  König  Archelaos 
von  Makedonien  für  die  Ausführung  der  Wandgemälde  in 
seinem  Palaste  ein  Honorar  von  400  m.  gezahlt  haben.    Neben 


1  Pfuhl,  Apollodoros  ö  aKiaYqpctqpoi;,  Jahrb.  Arch.  Inst.  XXV,  1910,  S.  12  ff. 
-  Sein  Eros  im  Aphroditetempel  zu  Athen  erwähnt  bei  Aristoph.  Acharn. 
991  (mit  dem  Scholion),  also  425,  damals  wohl  noch  nicht  lange  gemalt. 


218  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung, 

Zeuxis  Steht  sein  Altersgenosse  Parrhasios  aus  Ephesos.  Auch 
er  wirkte  in  Athen,  für  das  er  ein  hochberühmtes  Bild  des 
Stadtheros  Theseus  malte.  Überhaupt  hat  er  seine  Stoffe 
fast  ausschließlich  dem  Kreise  der  Götter  und  Heroen  ent- 
nommen. Der  Beifall  der  Zeitgenossen  und  der  Nachwelt 
ist  auch  ihm  in  reichem  Maße  zuteil  geworden;  man  stritt 
darüber,  ob  er  oder  Zeuxis  der  größere  Künstler  wäre.  Uns 
ist  hier,  bei  dem  völligen  Untergang  der  Schöpfungen  der 
griechischen   Malerei,    jedes    eigene    Urteil   versagt. 

Die  Fortschritte  der  großen  Malerei  mußten  auch  auf 
die  Vasenmalerei  zurückwirken.  Seit  Polygnot  und  Mikon 
kommt  sie  ganz  in  Abhängigkeit  von  der  großen  Kunst,  der 
sie  ihre  Gestalten,  oft  auch  die  ganze  Komposition  entnimmt. 
Demgemäß  werden  jetzt  wieder  mit  Vorliebe  Darstellungen 
aus  dem  Mythos  gegeben.  Die  Zeichnungen  sind  von  hoher 
Vollendung  und  Anmut,  aber  die  Maler  selbst  fühlten,  daß 
sie  nichts  Selbständiges  mehr  zu  schaffen  vermochten  und 
setzen  darum  nur  noch  ausnahmsweise  ihre  Namen  auf  die 
Gefäße.  Dem  neuen  Stile,  der  durch  Apollodoros  aufkam, 
vermochte  dann  die  Technik  der  rotfigurigen  Vasen  überhaupt 
nicht  mehr  zu  folgen,  und  sie  geriet  darum  seit  dem  pelo- 
ponnesischem  Kriege  in  raschem  Verfall.  Dafür  beginnt  jetzt 
die  Fabrikation  der  sogenannten  Lekythen,  schlanker  Gefäße 
mit  dünnem  Halse,  von  weißem  Ton  mit  polychromen  Dar- 
stellungen, technisch  bei  weitem  das  Vollendetste,  was  die 
griechische  Vasenmalerei  geschaffen  hat.  Sie  waren  meist 
bestimmt,  den  Toten  ins  Grab  mitgegeben  zu  werden.  Doch 
blieb  ihre  Verwendung  auf  Attika  und  die  Nachbargebiete, 
wie  Euboea,  beschränkt,  und  ein  größerer  Export  der  Gefäße 
dieses  Stils  hat  nicht  stattgefunden;  denn  Unteritalien,  das 
bisher  das  hauptsächlichste  Absatzgebiet  für  die  attischen 
Vasen  gebildet  hatte,  begann  sich  nun  auf  eigene  Füße  zu 
stellen. 

Wie  die  bildenden  Künste,  standen  auch  Musik  und 
Dichtung  noch  hauptsächlich  im  Dienste  des  Kultus;  an  den 
Festen,  die  mit  immer  steigendem  Glänze  zu  Ehren  der  Götter 
gefeiert  wurden,  fanden  sie  ein  reiches  Feld  der  Betätigung. 


Fortschritte  der  Malerei.  —  Vasenmalerei.  —  Dichtkunst.  219 

Auch  auf  diesem  Gebiete  nahm  Athen  jetzt  die  Führung. 
Hier  war  um  die  Zeit  der  Perserkriege  die  Tragödie  durch 
Phrynichos  und  vor  allem  durch  Aeschylos  zu  hoher  Aus- 
bildung gelangt  (oben  IIS.  419) ;  mit  der  reichen  Fülle  dessen, 
das  in  diesen  Dramen  geboten  wurde,  vermochten  die  älteren 
Gattungen  der  Poesie  nicht  zu  wetteifern.  Das  alte  Volksepos 
war  längst  tot,  wenn  auch  die  Gesänge  Homers  bei  Festen 
noch  immer  durch  Rhapsoden  zum  Vortrag  kamen;  und  die 
Versuche,  ein  Kunstepos  zu  schaffen,  blieben  ohne  durch- 
greifenden Erfolg,  so  oft  sie  auch  unternommen  wurden. 
Gegen  den  alten  Homer  konnte  eben  niemand  aufkommen. 
So  besang  Panyassis  aus  Halikarnassos,  ein  Oheim  des  Ge- 
schichtschreibers Herodot,  bald  nach  den  Perserkriegen  die 
Taten  des  Herakles  und  die  Gründung  der  ionischen  Kolonien; 
Xenophanes  aus  Kolophon  verfaßte  ein  Epos  über  die  Gründung 
von  Elea  in  Italien.  Erfreulicher  waren  die  Leistungen  in  der 
Elegie,  die  in  dieser  Zeit  sehr  lebhaft  gepflegt  wurde,  auch 
von  bedeutenden  Dichtern,  wie  Sophokles,  Ion  aus  Chios, 
Euripides;  doch  wurde  auf  diesem  Gebiete  gegenüber  der 
vorhergehenden  Periode  kein  Fortschritt  erreicht,  bis  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  Antimachos  von  Kolophon  in  seiner 
Lyde  der  Elegie  neue  Bahnen  öffnete.  Die  Elegien  des  Theognis, 
die  Trinklieder  des  Alkaeos  und  Anakreon  blieben  nach  wie 
vor  populär;  wer  anderes  suchte,  fand  sangbare  Lieder  genug 
in  den  lyrischen  Partien  der  Dramen  ^. 

In  Athen  sind  die  musikalischen  und  dramatischen  Auf- 
führungen 2  schon  sehr  bald  nach  der  Zerstörung  der  Stadt 
durch  die  Perser  wieder  aufgenommen  worden,  spätestens 
im  Frühjahr  475.  Bald  darauf  wurde  die  Technik  der  Tragödie 
durch  Einführung  eines  dritten  Schauspielers  verbessert 
(um  465 — 460),  eine  epochemachende  Neuerung,  durch  die 
erst  eine  Handlung  im  vollen  Sinne   des  Wortes   ermöglicht 


1  Aristoph.  Aana\r\<;  fr.  223  K.,  Riiier  629. 

'^  Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  in  Athen.  Sonder- 
schriften des  österreichischen  archäologischen  Instituts  VI,  Wien  1906.  Im  übrigen 
verweise  ich  auf  die  Handbücher  der  griechischen  Literaturgeschichte  und  die 
Artikel   über   die   einzelnen   Dichter   in   Pauly-Wissowa-Kroll. 


220  VII.  Abschnitt,  —  Kunst  und  Dichtung. 

wurde.  Die  Tragödie  hatte  damals  ihren  anerkannt  größten 
Meister  in  Aeschylos  (oben  IIS.  419),  der  484  seinen  ersten 
Sieg  gewonnen,  472  seine  Perser  auf  die  Bühne  gebracht 
hatte,  und  noch  im  hohen  Alter,  458,  sein  reifstes  und  groß- 
artigstes Werk  aufführen  ließ,  die  Orestie.  Hier  pulsiert, 
bei  aller  Dürftigkeit  der  Handlung  und  trotz  der  noch  immer 
endlosen  Chorgesänge,  wirklich  dramatisches  Leben;  wir 
sehen  im  ersten  Teile  die  Heimkehr  Agamemnons  und  seine 
Ermordung,  im  zweiten  den  Muttermord,  im  dritten  wagt 
es  der  Dichter,  den  Chor  der  Erinyen  auf  die  Bühne  zu  bringen, 
und  wir  hören  ihr  markdurchschauerndes  Lied.  Aber  an  der 
Aufgabe,  die  Sühne  des  Unsühnbaren  darzustellen,  mußte 
des  Dichters  Kunst  scheitern;  das  Stück  endet  mit  einem 
Prozeß,  in  dem  Apollon  den  Advokaten  spielt  und  Athena 
die  parteiische  Vorsitzende. 

Doch  schon  war  Aeschylos  ein  gefährlicher  Nebenbuhler 
erstanden.  Sophokles  (etwa  495 — 406)  ^  war  ein  Sohn  der 
neuen  Zeit,  herangewachsen  unter  den  Eindrücken  der  Perser- 
kriege; er  hat,  in  der  Technik  und  im  Inhalt  seiner  Stücke, 
wie  kein  zweiter,  den  Idealen  dieser  neuen  Zeit  Ausdruck 
gegeben.  Er  wußte  die  Handlung  reicher  zu  gestalten  und 
ließ  die  lyrischen  Partien  dagegen  zurücktreten;  an  Stelle 
der  schwülstigen,  aeschyleischen  Chorlieder  treten  einfache, 
leicht  verständliche  Kompositionen,  oft  von  hoher  poetischer 
Schönheit,  wahre  Perlen  der  Lyrik.  Niemand  hat  ihn  in  der 
Kunst  übertroffen,  den  dramatischen  Knoten  zu  schürzen 
und  ohne  Anwendung  gewaltsamer  Mittel  zu  lösen.  So  konnte 
es  nicht  fehlen,  daß  er  an  den  großen  Dionysien  im  Frühjahr 
468  gegen  Aeschylos  den  Sieg  gewann.  Freilich  die  Erhaben- 
heit der  aeschyleischen  Gedankenwelt  suchen  wir  bei  ihm 
vergebens;  es  sind  Menschen,  nicht  mehr  Heroen,  die  er  auf 
die    Bühne    bringt,    aber    künstlerisch    stilisierte    Menschen, 


^  Das  Todesjahr  steht  fest  durch  die  Frösche  des  Aristophanes ;  dem 
entsprechend  geben  die  Chronographen  den  Archon  Kallias  (406/5).  Erster 
Sieg  unter  Apsephion  468/7  (Marm.  Par.  ep.  56,  Plut.  Kim.  8).  Über  das  Geburts- 
jahr hatte  naan  keine  sicheren  Angaben;  die  Ansätze  schwanken  zwischen  500 
und   495    (Jacoby   zum   Marm.   Par.    a.  a.  0.). 


Aeschylos.  —  Sophokles.  —  Euripides.  221 

Typen  ohne  rechte  Individualität,  ähnlich  denen,  welche 
die  zeitgenössische  Plastik  bildete.  Die  Konflikte  in  diesen 
Dramen  vermögen  uns  darum,  trotz  aller  dichterischen 
Vollendung  des  Ganzen,  doch  nicht  recht  zu  erwärmen.  Und 
hier  und  da  zeigt  sich  eine  wahrhaft  erschreckende  Gefühls- 
roheit, wie  in  der  Elektra,  in  der  Sophokles  in  oberflächlicher 
Glätte  denselben  Stoff  behandelt,  den  Aeschylos  zu  seinem 
tiefsinnigsten  Werke  gestaltet  hatte.  Das  ethische  Problem, 
mit  dem  Aeschylos  in  seiner  Orestie  gerungen  hatte,  existiert 
für  Sophokles  einfach  nicht;  Apollon  hat  den  Muttermord 
befohlen,  und  damit  ist  die  Sache  abgetan.  An  die  Stelle 
wahrer  Frömmigkeit  tritt  scheinheilige  Jesuitenmoral.  Aber 
Sophokles  gab,  was  die  Zeitgenossen  verlangten;  seine  Tra- 
gödien sind  die  dichterische  Verklärung  des  perikleischen 
Athen,  wie  die  Werke  eines  Iktinos  und  Pheidias  dessen 
künstlerische  Verklärung  sind.  Solange  er  lebte,  hat  auf  dem 
attischen  Theater  niemand  gegen  ihn  aufkommen  können. 
Und  doch  brachte  die  Zeit  eine  reiche  Fülle  dramatischer 
Talente  hervor.  Auch  waren  es  nicht  mehr  Athener  allein, 
die  für  die  Bühne  ihrer  Stadt  tätig  waren;  das  Theater  Athens 
gewann  nationale  Bedeutung,  und  Dichter  aus  anderen  Städten 
begannen  dort  in  die  Schranken  zu  treten,  wie  Ion  aus  Chios, 
Achaeos  aus  Eretria,  Neophron  aus  Sikyon,  die  sehr  Tüchtiges 
geleistet  haben,  so  wenig  sie  sich  auch  mit  Sophokles  messen 
konnten.  Aber  der  bedeutendste  unter  Sophokles'  Nach- 
folgern, der  einzige,  der  schon  bei  Sophokles'  Lebzeiten  ihm 
als  ebenbürtiger  Meister  zur  Seite  gestellt  wurde,  war  doch 
ein  Athener,   Euripides   (etwa  480 — 406)^.     Mit  ihm  zog  der 


^  Euripides  war  soeben  gestorben,  als  Aristophanes  seine  an  den  Lenaeen 
405  aufgeführten  Frösche  schrieb.  Demgemäß  setzte  Apollodor  seinen  Tod 
unter  den  Archon  Kallias  406/5  (Diod-  XIII  103,  5),  nach  Vorgang  von  Erato- 
sthenes  und  Timaeos  (Jacoby,  Apollodors  Chronik  S.  257).  Das  Marmor  Par. 
ep.  63  gibt  den  Archon  Antigenes  (401/6).  Erste  Aufführung  unter  Kallias 
456/5  (Vita  bei  Westermann  S.  134,  29).  Das  Geburtsdatum  beruht  auf  Konjektur ; 
es  wird  entweder  mit  der  Schlacht  bei  Salamis  480/79,  oder  mit  Aeschylos' 
erstem  Siege  unter  Philokrates  485/4  (Marm.  Par.  ep.  50)  gleichgesetzt.  Die 
kürzlich  gefundenen  Fragmente  von  Satyros'  Lebensbeschreibung  des  Dichters 


222  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Realismus  auf  der  attischen  Bühne  ein.  Seine  Personen 
tragen  zwar  noch  die  heroische  Maske,  doch  nur,  weil  diese 
einmal  durch  das  Herkommen  vorgeschrieben  war;  es  sind 
Menschen  aus  des  Dichters  eigener  Zeit,  nicht  mehr  Typen, 
sondern  Individuen,  mit  allen  ihren  Schwächen  und  Leiden- 
schaften. Und  die  Konflikte,  die  sie  durchkämpfen  und  in 
denen  sie,  je  nachdem  das  Los  fällt,  siegen  oder  zugrunde  gehen, 
sind  die  Konflikte  des  wirklichen  Lebens.  Dabei  wird  auch 
den  Frauen  ihr  Recht;  Euripides  hat  das  Weib  für  die  Poesie 
entdeckt,  oder  wenn  man  will,  nach  Homer  zuerst  wieder- 
entdeckt, und  demgemäß  nimmt  die  Liebe  unter  seinen  drama- 
tischen Motiven  eine  hervorragende  Stellung  ein.  Er  ist  dabei 
gewagten  Situationen  nicht  aus  dem  Wege  gegangen  und  hat 
dadurch  bei  den  Zeitgenossen  schweren  Anstoß  erregt.  Nicht 
minderen  Anstoß  gab  es,  daß  er  die  Gedanken  der  neuen  Welt- 
anschauung, die  eben  damals  hervorzutreten  begannen,  von 
der  Bühne  herab  in  die  Massen  warf.  So  ist  es  ihm  versagt 
geblieben,  wirkliche  Popularität  zu  erringen;  er  hat  nur  wenige 
Siege  gewonnen  und  sein  Leben  lang  mit  den  erbittertsten 
Anfeindungen  zu  kämpfen  gehabt.  Aber  den  Besten  seiner 
Zeit  hat  er  genug  getan;  seine  Schöpfungen  wurden  bald  allen 
Gebildeten  vertraut,  und  wenn  die  Komödie  nicht  müde 
wurde,  ihn  mit  beißendem  Spotte  zu  überschütten,  so  zeugt 
sie  eben  damit  für  seine  alles  überragende  Bedeutung,  wie 
sie  denn  selbst  durchaus  unter  euripideischem  Einfluß  steht. 
Ihm  gehörte  die  Zukunft;  die  Tragödie  ist,  während  des  ganzen 
nächsten  Jahrhunderts,  den  Bahnen  gefolgt,  die  er  gewiesen 
hatte,  und  seine  eigenen  Stücke  haben  sich  auf  der  Bühne 
behauptet,  solange  es  ein  antikes  Theater  gegeben  hat.  Außer 
Homer  hat  kein  anderer  griechischer  Dichter  eine  so  tief- 
greifende Wirkung  geübt. 

In  der  Komposition  der  lyrischen  Partien  schloß  Euri- 
pides sich  den  Neuerungen  an,  die  zu  seiner  Zeit  eine  Um- 
wälzung in  der  Musik  herbeiführten.  Schon  die  großen  Klassiker 
um  die  Wende  vom  VI.  zum  V.  Jahrhundert  hatten  begonnen, 

(Oxyrh.  Pap.  IX  S.  153)  enthalten  über  die  Chronologie  nichts  und  lehren  uns 
auch  sonst  über  Euripides'  Leben  kaum  etwas  Neues. 


Euripides.  —  Die  neue  Musik.  223 

mehr  Gewicht  auf  die  Musik  zu  legen,  als  auf  den  ihr  unter- 
legten Text;  bei  Simonides'  Neffen  Bakchylides  hat  dieser 
Text  kaum  mehr  poetischen  Wert  als  ein  gutes  Libretto. 
Der  Chorlyrik  als  solcher  war  damit  das  Todesurteil  gesprochen. 
Die  Entwicklung  ist  dann  auf  diesem  Wege  weiter  gegangen. 
Um  die  Mitte  des  V.  Jahrhunderts  trat  dem  Klassizismus 
gegenüber  eine  neue  Richtung  auf,  die  danach  strebte,  eine 
reichere  Klangwirkung  zu  erzielen  und  der  Musik  dramatisches 
Leben  zu  geben;  sie  fand  ihre  ersten  großen  Vertreter  in  dem 
Kitharoeden  Phrynis  aus  Mytilene  (um  450)  ^  und  dem  Dithy- 
rambiker  Melanippides  aus  Melos  (in  der  Zeit  des  peloponne- 
sischen  Krieges)  ^.  Auf  Phrynis'  Schultern  stand  Timotheos 
aus  Milet  (etwa  450 — 360),  der  den  neuen  Stil  in  der  Kitharoedik 
zur  Vollendung  führte,  aber  auch  im  Dithyrambos  sehr  Be- 
deutendes geleistet  hat^;  neben  ihm  fand  Melanippides  in 
Telestes  aus  Sehnus  (um  400),  Philoxenos  aus  Kythera  (435 
bis  380)  und  Polyidos  ebenbürtige  Nachfolger  *.  Die  Anhänger 
des  Alten  schrien  natürlich  ach  und  wehe  über  diesen  , .Ver- 
fall" der  Musik;  aber  die  Bewegung  schritt  siegreich  weiter, 
und  bald  kam  die  Zeit,  wo  die  großen  Meister  dieser  griechischen 
„Zukunftsmusik"  selbst  als  Klassiker  galten,  deren  Kom- 
positionen die  Theater  beherrschten  und  deren  Lieder  in  den 
Schulen  gelernt  wurden.  Sehr  bezeichnend  ist  es  dabei,  daß 
man  jetzt  den  ethischen  Wert  dieser  Musik  nicht  genug  zu 
rühmen  wußte,  die  vielen  Zeitgenossen  geradezu  unsittlich 
erschienen  war  ^. 


^  Er  siegte  in  Athen  an  den  Panathenaeen  446  (Schol.  Aristoph.  Wolken 
971,  Wilamowitz,   Timoth.   Pers.   S.   66,   1). 

*  Suidas  s.  v.,  Xenoph.  Denkw.  I  4,  3.  Daß  er  unter  Perdikkas  von  Make- 
donien gestorben  ist,  folgt  aus  Suidas  a.  a.  O.  nicht;  da  er  aber  bei  Diod.  XIV 
46,  6  nicht  genannt  wird,  scheint  er  398  nicht  mehr  am  Leben  gewesen  zu  sein. 

*  Marm.  Par.  ep.  76,  Diod.  a.  a.  O.  Das  Textbuch  zu  seinen  Persern  ist 
uns  auf  einem  Papyrus  aus  dem  IV.  Jahrh.  v.  Chr.  erhalten;  herausgegeben 
von  Wilamowitz,  Leipzig  1903;  der  poetische  Wert  ist  gleich  Null,  die  Musik 
leider  verloren. 

*  Diod.  a.  a.  0.,  über  Philoxenos  auch  Marm.  Par.  ep.  69. 

*  Polyb.  IV  20,  9,  und  die  Dekrete  von  Knosos  und  Priansos  für  Menekles 
aus  Teos,  Le  Bas-Waddington  III  81,  82  =   Michel  65.  66. 


224  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Neben  Athen  fand  die  dramatische  Kunst  ihre  zweite 
Heimat  in  Syrakus,  der  Großstadt  des  griechischen  Westens. 
Aeschylos  hat,  unter  Hieron,  seine  Perser  hier  zum  zweitenmal 
aufgeführt  und  ein  eigenes  Stück,  die  ,,Aetnaeerinnen"  für  die 
syrakusische  Bühne  geschrieben.  Seit  dem  Sturz  der  Tyrannis 
hören  wir  freilich  von  der  Aufführung  von  Tragödien  in  Syrakus 
nichts  mehr;  daß  aber  die  Tradition  nicht  abgerissen  ist, 
zeigt  das  Beispiel  des  älteren  Dionysios,  der  sich  nur  in  seiner 
Vaterstadt  zum  Tragiker  ausgebildet  haben  kann,  und  doch 
offenbar  in  seiner  Jugend,  ehe  er  an  die  Spitze  des  Staates  trat. 

Wenn  die  Tragödie  in  Syrakus  immer  eine  exotische 
Pflanze  geblieben  ist,  so  entwickelte  sich  dafür  dort  ein  anderer 
Zweig  der  dramatischen  Kunst,  die  Komödie.  Die  ersten 
Anregungen  mögen  aus  den  Isthmosstädten  gekommen  sein, 
namentlich  aus  Megara,  wo  am  Demeterfest  seit  alter  Zeit 
derbe  Schwanke  improvisiert  wurden,  bei  denen  es  recht 
ungeniert  zuging;  ihre  kunstmäßige  Ausbildung  aber  konnte 
die  Komödie  erst  in  der  Großstadt  erhalten.  Sie  fand  ihren 
ersten  Meister  in  Epicharmos,  der,  im  sikelischen  Megara 
geboren,  infolge  der  Zerstörung  seiner  Vaterstadt  durch  Gelon 
noch  in  jungen  Jahren  nach  Syrakus  übergesiedelt  war  und 
hier  unter  Hieron  als  Dichter  aufzutreten  begann;  da  er  ein 
Alter  von  90  Jahren  erreicht  haben  soll,  mag  er  noch  die  Zeiten 
des  peloponnesischen  Krieges  erlebt  haben.  Er  entnahm 
seine  Stoffe  dem  Leben  des  Tages,  wobei  oft  eine  Parodie 
des  Göttermythos  als  Einkleidung  diente;  politische  Fragen 
konnte  er  unter  Hieron  nicht  wohl  auf  die  Bühne  bringen 
und  scheint  es  auch  später  nicht  getan  zu  haben.  Wohl  aber 
hat  er  an  den  geistigen  Strömungen  der  Zeit  regen  Anteil 
genommen  und  vielfach,  im  Ernst  wie  im  Scherz,  philosophische 
Fragen  behandelt;  im  Alter  hat  er  ein  populär-philosophisches 
Lehrgedicht  und  eine  Spruchsammlung  verfaßt,  als  praktischen 
Ratgeber  in  allen  Lebenslagen.  Die  dürftigen  Reste  gestatten 
nicht,  uns  von  der  Komposition  seiner  Dramen  ein  Bild  zu 
machen;  es  scheint,  daß  er  einen  Chor  nicht  verwendete, 
dafür  aber  drei  und  vielleicht  noch  mehr  Schauspieler  auf- 
treten ließ.    Die  hohe  Anerkennung,  die  er  bei  Mit-  und  Nach- 


Die  Tragödie  in  Syrakus.  —  Epicharmos.  —  Die  attische  Komödie.     225 

weit  gefunden  hat,  läßt  keinen  Zweifel,  daß  er  zu  den  alier- 
bedeutendsten  Erscheinungen  der  griechischen  Literatur  ge- 
hört; hat  doch  Piaton  kein  Bedenken  getragen,  ihn  neben 
Homer  zu  stellen  ^. 

Natürlich  stand  Epicharmos  nicht  allein;  wir  hören, 
daß  Phormis  und  Deinolochos  zu  seiner  Zeit  in  Syrakus  Dramen 
derselben  Art  aufgeführt  haben,  und  zahlreiche  andere  Namen 
werden  verschollen  sein.  Die  Komödie  hat  in  Syrakus  noch 
Jahrhunderte  weiter  geblüht,  freilich  ist  sie  bald  von  ihrer 
Höhe  herabgesunken  und  zum  Rüpelspiel  entartet  (OXuaKeg, 
unten  HI  1  S.  515).  Auch  der  Mimos  ist  aus  der  Komödie 
hervorgegangen,  Darstellungen  aus  dem  Volksleben,  in  unge- 
bundener Rede,  in  Gesprächsform,  eine  Gattung,  in  der  um 
die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  Sophron  Vortreffliches 
geleistet  hat  ^. 

Um  dieselbe  Zeit  etwa,  wie  in  Syrakus,  fand  die  Komödie 
auch  in  der  Großstadt  des  griechischen  Ostens,  in  Athen,  eine 
Stätte,  und  zwar  in  ganz  spontaner  Entwicklung,  ohne  jede 
Beeinflussung  durch  den  großen  sicilischen  Dichter.  Die 
Komödie  hat  hier,  ebenso  wie  die  Tragödie,  ihre  Wurzel  in 
den  Dionsysosfesten,  dem  athenischen  Karneval,  bei  dem 
junge  Leute  in  phantastischem  Kostüme  umherzogen,  dessen 
wesentlichsten  Bestandteil  ein  riesiger  Phallos  bildete;  dabei 
wurden  zu  Ehren  des  Gottes  und  zur  Freude  des  Publikums 
Lieder  gesungen  und  Tänze  aufgeführt,  die  mit  diesem  Kostüme 
in  Einklang  standen,  und  endlich  dem  Volke,  in  langer  Schelt- 
rede, sein  Sündenregister  vorgehalten.  An  Stelle  der  Im- 
provisation trat  dann  die  vorbereitete  Rede,  das  Ganze  erhielt 
künstlerischen  Zuschnitt,  und  endlich  nahm  der  Staat  die 
Sache  in  die  Hand  und  sorgte  für  die  Aufführung  von  Komödien, 

1  Plat.  TheaeU  162  e.  Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.  §  152.  Lorenz, 
Leben  und  Schriften  des  Koers  Epicharmos,  Berlin  1864.  Die  Fragmente  bei 
Kaibel,  Com.  Graec.  fragni.  I,  Hibeh  Papyri  I  S.  14. 

*  Reich,  Mimus  I,  Berlin  1903,  die  Fragmente  bei  Kaibel,  Com.  Graec. 
fragm.  I  152—182,  Wilamowitz,  Hermes  XXXIV,  1899,  S.  208.  Sophrons 
Zeit  (verwirrt  Suidas  s.  v.  Kord  H^pHriv  Kai  Eupitribriv)  ergibt  sich  daraus, 
daß  sein  Sohn  Xenarchos,  der  gleichfalls  Mimen  gedichtet  hat  (Aristot.  Poel. 
I  1447  b)  unter  Dionysios  dem  Älteren  tätig  gewesen  ist  (Suidas  'PriYivou?). 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  15 


226  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

wie  er  für  die  Aufführung  von  Tragödien  sorgte.  Das  ist 
in  der  Zeit  der  Perserkriege  geschehen;  die  ältesten  Dichter, 
die  uns  genannt  werden,  sind  Chionides  und  Magnes  \  in 
Perikles'  Zeit  tritt  dann  Kratinos  hervor,  der  erste  klassische 
Meister  des  attischen  Lustspiels.  Er  war  ein  strammer  Zecher, 
der  mit  trockener  Kehle  nicht  dichten  konnte  und  über  dem 
Becher  nur  zu  oft  das  Dichten  vergaß;  er  selbst  hat  diesen 
Konflikt  in  einem  seiner  besten  Stücke,  der ,, Flasche"  (TTuTivri) 
auf  der  Bühne  behandelt  (423).  Es  war  der  glänzende  Ab- 
schluß einer  langen  Laufbahn;  schon  im  nächsten  Jahre  ist 
der  Dichter  hochbetagt  gestorben.  Neben  ihm  wirkten  Krates 
(seit  449)  und  Pherekrates  (seit  437),  die  sich  mehr  an  Epi- 
charmos  anschlössen,  ihren  Stücken  eine  festere  Handlung 
gaben,  in  den  Invektiven  Maß  hielten  und  so  die  Richtung 
anbahnten,  die  nach  einigen  Jahrzehnten  in  der  attischen 
Komödie  zur  Herrschaft  kommen  sollte.  Um  den  Anfang 
des  peloponnesischen  Krieges  traten  dann  eine  Reihe  jüngerer 
Dichter  hervor,  Phrynichos  (seit  429),  Piaton  (seit  etwa  428) 
und  vor  allem  Eupolis  (seit  429)  und  Aristophanes  (seit  427), 
die  auf  Kratinos'  Bahn  weiter  schreitend  diese  sogenannte 
„alte"  Komödie  zur  Vollendung  führten.  Auch  in  ihren 
Stücken  zeigt  sich  der  Ursprung  aus  dem  alten  Phallosliede, 
in  dem  grotesken  Kostüm  der  Darsteller,  der  phantastischen 
Handlung,  dem  Mangel  an  jeder  Rücksicht  auf  gute  Sitte 
und  Anstand;  auch  die  Scheltrede  (,,Parabase")  blieb  und 
damit  die  politische  Färbung,  Bei  der  freien  Verfassung 
Athens  führte  das  zu  den  schärfsten  Angriffen  auf  die  be- 
stehenden Zustände  wie  auf  die  leitenden  Männer,  überhaupt 
auf  jeden,    der  irgendwie   im  öffentlichen  Leben  hervortrat. 

^  Suidas  Xiiuvibri?,  öv  Kai  Xifovax  upiwTaYUJviöxriv  yeviaQai  Tf\(;  dpxaiai; 
KUJ|uiijbia?,  bibdcTKeiv  b'  ^xeaiv  r\'  Ttpö  tüliv  flepcriKiuv,  also  488/7  oder  487/6; 
wahrscheinlich  sind  in  diesem  Jahre  zuerst  Komödien  von  Staats  wegen  auf- 
geführt worden  (Ed.  Meyer  IV  S.  93).  Magnes  hat  an  den  Dionysien  472  einen 
Sieg  errungen  (Kaibel  bei  Wilhelm,  Urk.  dram.  Aufführungen  S.  173).  Über 
die  Entwicklung  der  älteren  Komödie  Aristoph.  Ritter  520  ff.  Für  die  Chrono- 
logie grundlegend  Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  in  Athen, 
Wien  1906.  Die  Fragmente  am  besten  bei  Kock,  Comicorum  Atticorum  fragm.y 
Leipzig  1880. 


Die  attische  Komödie.  —  Dramatische  Aufführungen.  227 


Aber  über  dem  allem  ausgegossen  liegt  der  Hauch  jener  unver- 
gleichlichen Anmut,  der  alle  Schöpfungen  der  attischen  Kunst 
dieser   Zeit   verklärt. 

Die  Aufführung  eines  griechischen  Dramas  würde  auf 
uns  Neuere  freilich  einen  sehr  fremdartigen  Eindruck  gemacht 
haben.  Da  am  hellen  Tage  unter  freiem  Himmel  gespielt 
wurde,  vor  Zehntausenden  von  Zuschauern,  so  trug  der  Schau- 
spieler vor  dem  Gesicht  eine  Maske,  die  ihn  weithin  kenntlich 
machte;  ein  Überrest  der  alten  Vermummung  bei  den  Dionysos - 
festen,  die  sich  ja  noch  bis  heute  in  unserem  Karneval  erhalten 
hat.  Die  Kunst  des  Schauspielers  blieb  damit  auf  den  Vortrag 
und  das  Gebärdenspiel  beschränkt.  Auch  sonst  war  das 
Theaterkostüm  konventionell:  Schuhe  mit  Leisten  unter  den 
Sohlen  und  hohen  Absätzen,  langer,  bis  auf  den  Boden  herab - 
wallender  Chiton,  Polster  zur  Verstärkung  der  Körperformen; 
ein  Aufzug,  in  dem  uns  die  Schauspieler  wie  lebende  Marionetten 
erschienen  sein  würden  ^.  Gespielt  wurde  ausschließlich  an 
den  Festen  des  Dionysos.  So  wurden  in  Athen  in  älterer  Zeit 
nur  einmal  im  Jahre  Tragödien  aufgeführt,  an  den  ,, großen 
Dionysien"  im  Frühling,  dann  aber  gleich  eine  ganze  Menge 
hintereinander,  da  jedesmal  drei  Dichter  mit  je  drei  Tragödien 
und  einem  Satyrspiel  um  den  Sieg  stritten.  Später,  etwa 
seit  440,  sind  Tragödien  auch  an  den  Lenaeen,  im  Winter, 
aufgeführt  worden.  Komödien  wurden  an  beiden  Festen 
gegeben,  und  zwar  jedesmal  drei.  Da  fast  nur  neue  Stücke 
gegeben  wurden,  war  der  Bedarf  an  Dramen  sehr  bedeutend, 
und  dem  entsprach  denn  auch  die  Produktion,  um  so  mehr, 
als  der  Staat  sie  durch  materielle  Belohnungen  zu  fördern 
suchte,  die  er  den  Dichtern  aussetzte.  Allein  für  die  großen 
Dionysien  müssen  in  der  Zeit  von  Kleisthenes  bis  zum  Ende 
des  peloponnesischen  Krieges  an  1200  Tragödien  und  Satyr- 
spiele geschrieben  worden  sein,  ferner  mehrere  hundert  für 
die  Lenaeen  und  im  ganzen  gegen  500  Komödien.  Die  Dichter 
dieser  Periode  entwickelten  denn  auch  zum  Teil  eine  staunens- 


^  Schon  auf  Lukian  (uepi  öpxHOeujc;  27)  haben  sie  diesen  Eindruck  ge- 
f      macht. 

15* 


228  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

werte  Fruchtbarkeit;  Aeschylos  z.  B.  hat  90,  Sophokles  130, 
Euripides  92,  Aristophanes  40  Dramen  geschrieben  i,  so  daß 
der  Bedarf  des  athenischen  Theaters  an  Tragödien  und  Satyr- 
spielen im  V.  Jahrhundert  zu  etwa  einem  Fünftel  allein  durch 
die  drei  großen  Tragiker  gedeckt  worden  ist. 

Außerhalb  Athens  sind  in  dieser  Zeit,  wenn  wir  von 
Syrakus  absehen,  Dramen  noch  kaum  gegeben  worden; 
man  begnügte  sich  mit  den  althergebrachten  musikalischen 
Aufführungen.  Hauptsächlich  aber  blieb  das  Interesse  des 
Volkes  auch  jetzt  noch  den  gymnastischen  Wettkämpfen 
zugewandt;  das  große  Turnfest,  das  alle  4  Jahre  in  Olympia 
gehalten  wurde,  blieb  nach  wie  vor  das  vornehmste  National- 
fest, zu  dem  die  Zuschauer  aus  allen  Teilen  der  griechischen 
Welt  zusammenströmten,  während  die  musischen  Agone 
in  Delphi  eine  ähnliche  Popularität  nicht  gewinnen  konnten, 
obgleich  sie  doch  ebenfalls  mit  einem  großen  Turnfest  ver- 
bunden waren,  und  diese  heiligste  Stätte  in  Hellas  schon 
an  sich  eine  mächtige  Anziehungskraft  üben  mußte.  Die 
Wettkämpfe  wurden  freilich  mehr  und  mehr  zu  Schaustellungen 
eines  professionellen  Athletentums.  Ganz  besonderer  Gunst 
erfreuten  sich  die  Pferderennen;  reiche  Familien  setzen  ihren 
Stolz  darein,  einen  Rennstall  zu  halten,  nirgends  mehr  als 
in  Sparta  2,  und  ein  Wagensieg  in  Olympia  oder  Delphi  wurde 
von  der  öffentlichen  Meinung  nicht  weniger  gefeiert  als  ein 
Sieg  beim   Wettlauf   oder  beim   Ringkampf   im    Stadion. 

Wir  dürfen  uns  nach  dem  allen  von  der  Wirkung  der 
hohen  Kunstblüte  dieser  Zeit  auf  die  Masse  des  Volkes  keine 
übertriebenen  Vorstellungen  machen.  Die  weit  überwiegende 
Mehrzahl,  alle,  die  nicht  in  größeren  Städten  lebten  oder  die 
Mittel   hatten,    dorthin   zu   reisen,    bekam   davon   überhaupt 


^  Die  Zahlen  sind  natürlich  nur  approximativ  richtig;  sie  gehen  auf  die 
alexandrinischen  Kataloge  zurück. 

^  Vgl.  das  Verzeichnis  der  Wagensiege  des  Spartaners  Dämonen  Inscr. 
Lacon.  213.  Es  wurden  damals,  in  der  Zeit  kurz  vor  Ausbruch  des  peloponne- 
sischen  Krieges,  im  spartanischen  Gebiet  an  sechs  Festen  solche  Rennen 
gehalten  (^v  TaiaFöxiu,  AGdvma,  'EXeuÄuvia,  IIoÄoibaia  "EXei,  noÄoibaia 
©eupiqt,  äv  ApiovTia?). 


Die  Turnfeste.  —  Ethische  Wirkung  der  Kunst.  —  Humanität.       229 

kaum  etwas  zu  sehen  oder  zu  hören;  den  höchsten  Kunst- 
genuß, die  Tragödie,  bot  fast  allein  Athen.  Hier  mag  aller- 
dings auch  der  gemeine  Mann  einen  gewissen  Firnis  ästhetischer 
Bildung  gewonnen  haben,  aber  eine  ethische  Wirkung  konnten 
Aufführungen  kaum  haben,  die  nur  ein-  oder  zweimal  im 
Jahre  stattfanden  ^  und  deren  Eindruck  zum  Teil  durch  die 
Nuditäten  des  Satyrspiels  oder  die  Gemeinheiten  der  Komödie 
neutralisiert  wurde.  Lauter  als  alles  spricht  die  Roheit,  mit 
der  sich  das  Publikum  im  Theater  benahm;  da  wurde  gebrüllt 
und  getobt  und  zum  Zeichen  des  Mißfallens  mit  allem  Mög- 
lichen nach  der  Bühne  geworfen  2,  Der  Pöbel  blieb  eben  Pöbel, 
trotz  aller  schönen  Verse,   die  er  zu  hören  bekam. 

Allerdings  war  man  humaner  geworden.  Unter  dem 
Einfluß  der  demokratischen  Strömung  wurde,  in  Kleisthenes' 
Zeit,  in  Athen  Bürgern  gegenüber  die  Folter  abgeschafft, 
was  in  der  modernen  Welt  erst  im  Laufe  der  zweiten  Hälfte 
des  XVHL  Jahrhunderts  erreicht  worden  ist;  gegen  andere 
Freie  kam  sie  nur  in  besonders  schweren  Fällen  zur  An- 
wendung, und  nur  Sklaven  blieben  ihr  nach  wie  vor  unter- 
worfen ^.  Verstümmelung  und  andere  barbarische  Strafen 
(oben  IIS.  352)  waren  längst  abgekommen,  ja  selbst  die 
Todesstrafe  wurde  in  der  humansten  Weise  vollzogen,  indem 
man  dem  Verurteilten  den  Schierlingsbecher  zu  trinken  gab  *. 
Athen  mag  hier  dem  Vorgang  anderer  Staaten  gefolgt  sein; 
jedenfalls  aber  mußte  das  Beispiel  Athens  im  ganzen  attischen 
Reiche  maßgebend  werden,  seit  die  Kriminalverbrechen 
von  athenischen  Gerichten  abgeurteilt  wurden.  Freilich 
waren  nicht  alle  Teile  der  griechischen  Welt  so  weit  vor- 
geschritten,   in    Makedonien     bestand     die    Folter    noch    zu 


^  Piaton  hat  jedenfalls  an  eine  solche  ethische  Wirkung  nicht  geglaubt, 
da  er  die  Tragödie  geradezu  als  unsittlich  verurteilt  hat  {Polit.  X  698  e). 

*  Piaton  Gesetze  III  701  a,  Demosth.  vdGes.  337,  vKranz  262,  Athen.  IX 
406  f. 

^  Meier  und  Schoemann,  Att.  Prozeß  *,  S.  893  fF.  Über  die  Zeit  des  ^iri 
ZKanavbpiou  ivriq)icf|aa  (Andok.  vdMyst.  43),  durch  das  die  Folterung  aufgehoben 
wurde,  s.  oben  I  1  S.  167. 

*  Thalheim  in  Hermanns   Antiquitäten  ^  II  1  S.  120  ff. 


230  VII.  Abschnitt.  —  Kunst  und  Dichtung. 

Alexanders  Zeit  ^,  und  Dionysios  hat  nach  der  Einnahme 
von  Motye  griechische  Überläufer  ans  Kreuz  schlagen  lassen  ^. 

Es  war  also  nicht  so  unberechtigt,  wenn  die  Athener 
sich  etwas  auf  ihre  Menschenfreundlichkeit  (qpiXavOpuuTTia) 
zugute  taten  ^;  stand  doch  auf  ihrem  Markte,  und  hier  allein 
von  allen  griechischen  Städten,  ein  Altar  des  Mitleids  [IXeoc;)  *. 
Daher  die  Fürsorge  des  Staates  für  die  arbeitsunfähigen 
Bürger  und  die  humane  Behandlung  der  Sklaven  (oben  S.  158). 
Das  kam  auch  den  Tieren  zugute;  Athen  ist  wohl  der  erste 
Staat  gewesen,  der  die  Tierquälerei  unter  Strafe  gestellt 
hat  ^.  Die  orphischen  Lehren  von  der  Wesensgleichheit  alles 
dessen  was  lebt,  mögen  dazu  mitgewirkt  haben.  ,,Es  gibt 
Erinyen  auch  für  die  Hunde,"  lautete  ein  griechisches  Sprich- 
wort ^,  und  Zeus  oder  Apollon  strafen  den  Frevler,  der  Vögeln 
ihre  Nester  zerstört '.  So  standen  die  Griechen,  die  Athener 
wenigstens,  in  diesem  Punkte  sittlich  höher  als  heute  die 
christlichen  Völker  am  Mittelmeer. 

Das  hinderte  nicht,  daß  in  der  Leidenschaft  des  Partei - 
kampfes  mitunter  die  ärgsten  Greuel  verübt  wurden.  Und 
selbst  die  humanen  Athener  haben  mit  kaltem  Blute  ganze 
Bürgerschaften  hinschlachten  lassen,  die  sich  gegen  ihre 
Herrschaft  empört  hatten.  Nicht  besser  trieben  es  die  Lake- 
daemonier;  sie  ließen  in  den  ersten  Jahren  des  peloponnesischen 
Krieges  die  Mannschaft  aller  Kauffahrer  aus  Athen  und  dessen 
Bundesstädten,    ja    sogar    aus    neutralen    Staaten,    über    die 


^  Sie  soll  z.  B.  im  Prozeß  gegen  Philotas  zur  Anwendung  gekommen  sein 
(Curt.  VI  11,  13  ff.).  Ebenso  in  Phokis  zur  Zeit  des  heiligen  Krieges  im 
Prozeß  gegen  Philon  (Diod.  XVI  56,   4). 

-  Diod.  XIV  53,  5.  Der  Akragantiner  Polos  zählt  bei  Plat.  Gorg.  473  c 
die  barbarischen  Strafen  auf,  die  einen  gestürzten  Tyrannen  bedrohen;  worauf 
Sokrates  erwidert  |aop|Lio\ÜTTev  au,  iL  Y^^vaie  TTiiJXe. 

^  Leopold  Schmidt,  Ethik  der  alten  Griechen  II  276  ff. 

*  Paus.  I  17,  1.  Später  sind  solche  Altäre  auch  sonst  errichtet  worden, 
z.  B.  in  Epidauros  (Dittenb.  Syll.  ^  782),  vgl.  Diod.  XIII  22,  7. 

■^  Plut.  irepi  aapKoq).  I  996  ASrivaToi  tuj  ^uivra  töv  Kpiöv  ^Kbeipavxi 
biKriv  ^Ti^GriKav. 

*  Paroemiogr.  Gr.  I  397,  II  161.     Eioi  Kai  Kuvutv  'Epivueq. 
^  Aeschyl.  Agam.  48  ff. 


Humanität.  —  Mathematik  und  Astronomie.  231 

Klinge  springen,  die  in  ihre  Hände  fielen  ^.  Es  war  den  Athenern 
nicht  zu  verdenken,  wenn  sie  Repressalien  nahmen  und  nun 
ihrerseits  die  peloponnesischen  Gesandten  hinrichten  ließen, 
die  zum  Großkönig  reisten  -.  Als  die  Syrakusier  das  athenische 
Belagerungsheer  zur  Ergebung  gezwungen  hatten,  wurden 
die  beiden  Feldherren  zum  Tode  geführt,  die  Truppen,  denen 
man  in  der  Kapitulation  das  Leben  zugesichert  hatte,  in  die 
Steinbrüche  eingeschlossen,  wo  sie,  allenUnbilden  der  Witterung 
ausgesetzt,  bei  mangelhafter  Verpflegung,  zum  großen  Teil 
langsam  verkommen  sind.  Nach  dem  Siege  bei  Aegospotamoi 
haben  die  Spartaner  alle  athenischen  Gefangenen  nieder- 
gemacht, wofür  ähnliche  Grausamkeiten  zur  Rechtfertigung 
dienen  mußten,  welche  die  Athener  begangen  haben  sollten. 
Später  sind  solche  Barbareien  nicht  mehr  vorgekommen 
oder  doch  nur  ganz  vereinzelt.  Es  kann  kein  Zweifel  sein, 
daß  das  eine  Folge  des  intellektuellen  Fortschritts  gewesen 
ist,  den  die  Nation  seit  den  Perserkriegen  gemacht  hatte, 
und  der  eben  in  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  in 
weitere  Kreise  zu  dringen  begann.  Denn  aller  Kulturfortschritt 
ist   in   letzter   Linie   Fortschritt   im   Wissen. 


VIII.  Abschnitt. 

Die  Aufklärung. 

Die  wissenschaftliche  Bewegung,  die  in  der  zweiten 
Hälfte  des  VI.  Jahrhunderts  begonnen  hatte,  war  seitdem 
in  immer  breiter  werdendem  Strome  dahingeflutet  ^.  Mathe- 
matik und  Astronomie  fanden,  außer  in  Pythagoras'  Schule, 
auch  in  ihrer  alten  Heimat  lonien  Pflege.  Allerdings  die 
astronomischen  Entdeckungen  der  Pythagoreer  blieben  hier 
im  Osten  noch  unbekannt  oder  fanden  doch  Ablehnung;  die 

1  Thuk.  II  67,  4,  III  32. 
^2  Thuk.  II  67. 

^  Die  Zeugnisse  und  Fragmente  am  besten  bei  Diels,  Vorsokraiiker.  Sonst 
vgl.  namentlich  Gomperz,  Griechische  Denker  I. 


232  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Erde  galt  dort  nach  wie  vor  als  flache  Scheibe,  die  von  der 
Luft  getragen  mitten  im  Räume  schwebe.  Aber  es  war  immer- 
hin ein  sehr  bedeutender  Fortschritt,  wenn  Anaxagoras  aus 
Klazomenae  in  Perikles'  Zeit  ^  lehrte,  die  Sonne  sei  eine 
glühende  Steinmasse,  ,, größer  als  der  Peloponnes",  der  Mond 
erhalte  sein  Licht  von  der  Sonne,  habe  Berge  und  Täler  wie 
die  Erde  und  sei  von  lebenden  Wesen  bewohnt.  Auch  mit 
mathematischen  Problemen,  wie  der  Quadratur  des  Kreises, 
hat  Anaxagoras  sich  beschäftigt.  Neben  ihm  steht,  als  einer 
der  Begründer  der  mathematischen  Wissenschaft,  sein  etwas 
jüngerer  Zeitgenosse  Oenopides  aus  Chios.  Hippokrates, 
ebenfalls  aus  Chios  und  also  wohl  Oenopides'  Schüler,  schrieb 
um  die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  das  erste  mathe- 
matische Lehrbuch.  Auch  durch  selbständige  Forschung 
hat  er  die  Mathematik  gefördert.  Er  hat  den  Satz  bewiesen, 
daß  Kreisflächen  den  Quadraten  ihrer  Durchmesser  pro- 
portional sind;  und  wenn  er  auch  das  Problem  der  Ver- 
doppelung des  Würfels  noch  nicht  zu  lösen  vermochte,  so 
hat  er  doch  wenigstens  den  W^eg  zu  dessen  Lösung  gezeigt. 
Die  Fortschritte  der  Mathematik  und  Astronomie  fanden 
jetzt  zur  Regelung  der  Zeitrechnung  praktische  Anwendung. 
Die  Sonnenuhr,  eine  Erfindung  der  Babylonier  ^^  gelangte 
schon  im  VL  Jahrhundert  nach  Griechenland  und  damit 
die  Einteilung  des  Tages  in  12  Stunden;  der  Milesier  Anaxi- 
menes  (oben  I  1,  S.  438)  soll  die  erste  solche  Uhr  in  Sparta 
aufgestellt  haben  ^.  Auch  die  Aufgabe,  das  im  bürgerlichen 
Leben  geltende  Mondjahr  mit  dem  Sonnenjahr  in  Einklang 
zu  bringen,  wurde  jetzt  von  der  Wissenschaft  in  Angriff  ge- 
nommen. Oenopides  bestimmte  das  Sonnenjahr  auf  365  Tage 
8  Stunden  57  Minuten,  und  berechnete  danach  eine  Periode 
von  59   Sonnenjahren  gleich   730  Mondmonaten,   die  er  auf 


^  Seine  Lebenszeit  ist  bestimmt  durch  seine  Beziehungen  zu  Perikles 
und  die  Anklage  wegen  Asebie  kurz  vor  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges; 
danach  setzte  man  seine  Geburt  in  Ol.  70,  500 — 496  v.  Chr.  (Diog.  Laert. 
II  7).     Jedenfalls  kann  er  nicht  älter  gewesen  sein. 

-  Herod.  II  90. 

"  Plin.  Nat.  Bist.  II  187. 


Mathematik  und  Astronomie.  —  Erdkunde.  233 

eine  Kupfertafel  eingegraben  in  Olympia  aufstellte  ^,  Noch 
vollkommener  war  der  neunzehnjährige  Zyklus,  den  der 
Athener  Meton  im  Jahre  432  entwarf;  das  von  ihm  berechnete 
Sonnenjahr  überstieg  den  wahren  Wert  nur  um  eine  halbe 
Stunde  (genauer  30'  9").  Doch  gelangte  dieser  verbesserte 
Kalender  zunächst  noch  nirgends  zur  offiziellen  Einführung; 
man  behalf  sich,  so  gut  es  gehen  wollte,  mit  der  alten  unvoll- 
kommenen Oktaeteris  2. 

Von  einer  wissenschaftHchen  Erdkunde  konnte  natürlich 
keine  Rede  sein,  solange  die  Kugelgestalt  unseres  Planeten 
noch  nicht  zur  Anerkennung  gelangt  war.  Man  baute  auf 
dem  Grunde  weiter,  den  Hekataeos  gelegt  hatte;  in  dessen 
Weise  verfaßten  Dionysios  aus  Milet,  dann,  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts,  Phileas  und  der  Astronom  Euktemon  aus 
Athen,  um  die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  Damastes  aus 
Sigeion  Erdbeschreibungen,  letzterer  soll  auch  eine  Erdkarte 
entworfen  haben  ^. 

Die  Beobachtung,  daß  die  nördlichen  Länder  ein  kälteres, 
die  südHchen  ein  wärmeres  Klima  haben,  mußte  sich  seit 
der  Erschließung  Aegyptens  und  der  Besiedelung  der  Nord- 
küste des  Pontos  den  Griechen  von  selbst  aufdrängen.  Ebenso, 
daß  der  Charakter  von  Flora  und  Fauna  durch  das  KHma 
bedingt  ist;  und  man  ist  selbst  dazu  übergegangen,  auch  die 
Verschiedenheit  zwischen  den  einzelnen  Völkern  in  Körperbau 
und  geistiger  Anlage  von  den  klimatischen  Bedingungen 
ihres  Wohnorts  abzuleiten  ^  Wodurch  freilich  die  Verschieden- 
heiten des  Klimas  bedingt  werden,  das  zu  erklären,  war  die 
Geographie  außerstande,  so  lange  sie  sich  der  Lehre  von  der 
Kugelgestalt  der  Erde  verschloß;  es  war  nur  ein  dürftiger 
Notbehelf,  wenn  Anaxagoras  und  nach  ihm  Herodot  meinten, 

1  Adolf  Schmidt,  Griech.  Chronol.  S.  424. 

2  A.  Schmidt  a.  a.  0.  S.  434  ff. 

^  Von  Phileas  kennen  wir  kaum  mehr  als  den  Namen;  Euktemon  liegt 
vielleicht  bei  Avienus  für  die  westlichen  Küstenländer  des  Mittelmmeeres  als 
Quelle  zugrunde  (vgl.  Rehm,  Euktemon  in  Pauly-Wissowa  VI  1060).  Über 
Damastes  FHG.   II  64  und  Schwartz  in  Pauly-Wissowa  IV  2050. 

*  So  namentlich  Hippokrates  (oder  wer  sonst  der  Verfasser  sein  mag) 
in  der   Schrift  TTepi  ä^puuv  ubctxujv  Kai  töttujv. 


234  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

die  Sonne  würde  von  den  Winterstürmen  nach  Süden  ge- 
drängt. Die  richtige  Erklärung  hatte  bereits,  von  pytha- 
goreischen Voraussetzungen  ausgehend,  Parmenides  in  seiner 
Zonenlehre  gegeben;  nur  daß  er  soweit  ging,  die  Tropenzone 
und  die  beiden  arktischen  Zonen  als  ganz  unbewohnbar  hinzu- 
stellen. 

Von  den  biologischen  Wissenschaften  ist  es  die  Medizin, 
die  ihres  praktischen  Nutzens  wiegen  zuerst  Anbau  zu  finden 
pflegt,  selbst  bei  Völkern,  denen  sonst  der  Begriff  einer  Wissen- 
schaft noch  nicht  aufgegangen  ist.  Im  Altertum  galt  Aegypten 
als  das  klassische  Land  der  Heilkunde,  und  schon  die  Odyssee 
feiert  den  Ruhm  der  aegyptischen  Ärzte  ^.  Die  Überreste 
der  aegyptischen  medizinischen  Literatur,  die  auf  uns  gelangt 
sind,  haben  indes  diesen  Ruf  keineswegs  gerechtfertigt;  sie 
zeigen  vielmehr,  daß  die  aegyptische  Heilkunde  nichts  anderes 
gewesen  ist,  als  ein  Gemisch  von  wüstem  Aberglauben  und 
roher  Empirie.  So  ist  die  griechische  Medizin  in  noch  höherem 
Grade  die  selbständige  Schöpfung  des  griechischen  Geistes, 
als  es  bei  der  Astronomie  oder  der  Mathematik  der  Fall  ist. 

Der  Naturmensch  sieht  die  Krankheit  als  Wirkung 
übernatürlicher  Kräfte  an  und  sucht  demgemäß  auch  durch 
übernatürliche  Mittel  sich  dagegen  zu  schützen,  durch  Opfer, 
Gebete  und  Beschwörungen.  So  zeigt  uns  der  Eingang  der 
Ilias  die  Pest  im  griechischen  Lager;  aber  niemand  denkt 
daran,  etwa  die  Ärzte  zu  Rate  zu  ziehen,  sondern  man  fragt 
den  Wahrsager,  und  sucht  auf  dessen  Geheiß  Apollons  Zorn 
zu  versöhnen.  Namentlich  waren  es  die  Tempel  des  Heil- 
gotts  Asklepios,  bei  denen  die  Leidenden  Hilfe  suchten;  die 
Kranken  legten  sich  im  Heihgtum  zum  Schlummer  nieder, 
und  aus  den  Träumen,  die  ihnen  der  Gott  dabei  offenbarte, 
deuteten  die  Priester  die  Natur  des  Übels  und  bestimmten 
das  Heilmittel.  Die  glückHch  genesenen  pflegten  dann  Tafeln 
mit   der   Geschichte  ihrer   Heilung  im  Tempel   aufzuhängen. 

So    krasser    Aberglaube    nun    auch    hier    mit    unterHef  2, 

^  b  229  ff. 

*  Geschichten  solcher  wunderbarer  Heilungen,  aus  dem  Asklepieion  bei 
Epidauros,  Inscr.  Argol.  951  ff. 


Erdkunde.  —  Medizin.  235 

SO  hat  doch  die  Entwicklung  der  Medizin  in  Griechenland 
eben  an  die  Asklepieien  angeknüpft,  namentlich  an  die  be- 
rühmten Tempel  von  Kos  und  Knidos,  wo  die  Menge  der 
beständig  zuströmenden  Kranken  reiche  Gelegenheit  zur 
Beobachtung  bot.  Und  zwar  wurde  die  ärztHche  Kunst,  wie 
alle  Kunst  in  der  griechischen  Vorzeit,  in  bestimmten  Famihen 
erblich,  die  dann  ihre  Abstammung  auf  den  Heilgott  Asklepios 
selbst  zurückzuführen  pflegten.  Als  solche  Asklepiaden  er- 
scheinen schon  in  der  Dias  Machaon  und  Podaleirios,  die 
Arzte  des  griechischen  Heeres  vor  Troia.  Bereits  in  dieser 
Zeit  zeigt  sich  ein  achtbarer  Anfang  anatomischer  Kennt- 
nisse; und  vor  allem  wird  die  Besprechung  mit  Zauberformeln, 
die  im  Volke  noch  lange  in  Übung  bheb,  von  den  Ärzten  nicht 
mehr  angewendet  ^.  Im  Laufe  der  nächsten  Jahrhunderte 
ist  dann  ein  reicher  Schatz  medizinischen  Wissens  aufgehäuft 
worden,  der  durch  mündHche  Tradition  vom  Lehrer  auf  den 
Schüler  sich  fortpflanzte.  Der  Lehrling  mußte  sich  dabei 
durch  feierUchen  Eidschwur  verpflichten,  seinen  Meister 
gleich  den  eigenen  Eltern  zu  ehren,  den  Kranken  nach  Wissen 
und  Vermögen  beizustehen  und  sich  jeden  Mißbrauchs  seiner 
Stellung  zu  enthalten  ^.  Die  Heilkunde  erreichte  auf  diesem 
Wege  eine  verhältnismäßig  hohe  Ausbildung.  Schon  König 
Dareios  hatte  einen  griechischen  Arzt  in  seinen  Diensten, 
Damokades  aus  Kroton,  dessen  Kunst  die  der  berühmten 
aegyptischen  Ärzte  in  den  Schatten  stellte.  Auch  Hippo- 
krates  spricht  mit  großer  Hochachtung  von  den  Leistungen 
seiner  Vorgänger.  Seit  den  Perserkriegen  begann  sich  dann 
auch  eine  medizinische  Literatur  zu  entwickeln,  die  bald 
einen  beträchtlichen  Umfang  erreichte  ^. 

^  Weder  Machaon  bei  der  Behandlung  der  Wunde  des  Menelaos  (A  213  ff.), 
noch  Patroklos  bei  der  Behandlung  der  Wunde  des  Eurypylos  (A  844  ff.,  0  393 f.) 
wenden  solche  Zauberformeln  an.  Dagegen  besprechen  t  457  die  Söhne  des 
Autolykos   die  Wunde  ihres  Neffen   Odysseus. 

*  Dieser  „Eidschwur"  ist  eines  der  ältesten  Stücke  der  unter  Hippokrates' 
Namen  überheferten   Sammlung  medizinischer  Schriften   (IV  628  ff.  Littre). 

3  Xen.  Denkwürdigkeiten  IV  2.  10.  Uns  ist  davon  nur  das  Corpus  der 
Hippokrateer  erhalten,  in  das  allerdings  auch  manche  fremde  Bestandteile 
eingedrungen  sind. 


236  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Unter  den  medizinischen  Schulen,  die  sich  in  dieser 
Zeit  bildeten,  nahm  eine  der  hervorragendsten  Stellen  die 
von  Kroton  ein,  der  außer  dem  schon  erwähnten  Damokades 
der  Pythagoreer  Alkmaeon  in  der  zweiten  Hälfte  des  V.  Jahr- 
hunderts angehörte.  Ferner  die  Schule  von  Knidos,  deren 
berühmtester  Vertreter  Euryphon  war,  einer  der  ältesten 
medizinischen  Schriftsteller;  auch  Ktesias  ist  aus  ihr  hervor- 
gegangen, der  um  die  Wende  vom  V.  zum  IV.  Jahrhundert 
Leibarzt  des  persischen  Königs  Artaxerxes  war.  Alle  anderen 
Schulen  aber  stellte  die  von  Kos  in  den  Schatten  mit  ihrem 
großen  Meister  Hippokrates  (geb.  460).  Es  sind  die  Schriften 
dieser  Schule,  denen  wir  fast  ausschließlich  unsere  Kenntnis 
der  griechischen  Medizin  des  V.  Jahrhunderts  verdanken, 
und  die  grundlegend  für  die  ganze  spätere  Entwicklung  der 
medizinischen  Wissenschaft  geworden  sind. 

Der  Glaube  an  übernatürliche  Ursachen  der  Krank- 
heiten war  jetzt  bei  den  Ärzten  vollständig  überwunden. 
Nirgends  in  der  Sammlung  der  hippokratischen  Schriften 
ist  von  Beschwörungen  und  Zaubermitteln  die  Rede,  nirgends 
wird  der  Besuch  der  Asklepieien  auch  nur  erwähnt.  Wie 
dieser  Aberglaube  auch  bei  den  Gebildeten  allen  Kredit  ver- 
loren hatte,  zeigt  Aristophanes,  der  in  seinem  Plutos  die 
Incubation  dem  Gelächter  der  Zuschauer  preisgibt.  Mit  großer 
Feinheit  spricht  sich  ein  Hippokrateer  über  diese  Fragen 
aus  bei  der  Beschreibung  einer  unter  den  Skythen  herrschenden 
Krankheit  (öriXeia  vovaoq) ,  die  von  diesen  göttlicher  Ein- 
wirkung zugeschrieben  wurde.  ,,Auch  mir  scheint  dieses 
Leiden  göttlichen  Ursprungs  zu  sein,  und  ebenso  alle  übrigen 
Krankheiten,  keine  göttlicher  als  die  andere,  noch  auch  mensch- 
licher, sondern  alle  göttHch.  Jede  Krankheit  aber  hat  ihre 
natürliche  Ursache,  und  ohne  natürliche  Ursache  geschieht 
überhaupt  nichts."  Selbst  Geisteskrankheiten  werden  in 
dieser  Weise  beurteilt. 

Grundlage  aller  Medizin  ist  die  Kenntnis  des  mensch- 
lichen Körpers.  Allerdings  waren  die  reHgiösen  Vorurteile 
noch  zu  stark,  um  eine  Zergliederung  menschlicher  Leichen 
anders   als  in  Ausnahmefällen  zu  gestatten;   immerhin  aber 


Anatomie  und  Physiologie.  —  Pathologie  und  Therapie.  —  Alkmaeon.     237 

hatten  die  Hippokrateer  in  der  Anatomie  und  Physiologie 
ein  recht  ausgebreitetes  Wissen,  das  wir  freilich  mit  unserem 
Maßstab  nicht  messen  dürfen.  So  fehlte  ihnen  völlig  die 
Kenntnis,  daß  Empfindung  und  Bewegung  durch  die  Nerven 
vermittelt  werden;  das  Gehirn  galt  ihnen,  und  noch  Aristo- 
teles, als  kalte  Masse,  bestimmt,  den  im  Körper  erzeugten 
überflüssigen  Schleim  an  sich  zu  ziehen.  Sehr  unvollkommen 
waren  natürlich  auch  die  Vorstellungen  von  dem  Gefäßsystem, 
wie  ja  das  Altertum  überhaupt  zur  Erkenntnis  des  Kreis- 
laufs nicht  gekommen  ist. 

Unter  diesen  Umständen,  und  bei  dem  Mangel  aller 
optischen  und  chemischen  Hilfsmittel  konnte  von  einer  wissen- 
schaftlichen Erforschung  der  pathologischen  Vorgänge  noch 
kaum  die  Rede  sein.  In  der  knidischen  Schule  herrschte 
eine  wüste  Kasuistik,  die  unzählige  Krankheiten  annahm 
und  für  jede  ein  Spezifikum  hatte.  Hippokrates  dagegen 
meinte,  die  Gesundheit  beruhe  auf  der  richtigen  Mischung 
der  im  Körper  enthaltenen  vier  Säfte,  Blut,  Schleim,  schwarze 
und  gelbe  Galle;  die  Krankheit  auf  der  Störung  dieses  Ver- 
hältnisses. Übrigens  war  er  sich  der  Grenzen  des  ärztlichen 
Könnens  wohl  bewußt;  der  beste  Arzt  wäre  die  Natur  selbst 
(vou(Tujv  cpuffie?  iTiTpoi).  Die  Bemühungen  der  Hippokrateer 
waren  darum  in  erster  Linie  darauf  gerichtet,  den  natür- 
lichen Heilungsprozeß  zu  unterstützen;  aber  wo  es  darauf 
ankam,  schreckten  sie  auch  vor  energischen  Eingriffen  nicht 
zurück.  ,,Was  Arzeneien  nicht  heilen,  heilt  das  Eisen,  was 
das  Eisen  nicht  heilt,  heilt  das  Feuer,  was  aber  auch  das  Feuer 
nicht  heilt,  das  ist  überhaupt  nicht  zu  heilen",  lautet  ein 
bekannter  Lehrsatz  der  Schule.  In  der  Tat  hatte  die  Chirurgie 
bereits  eine  verhältnismäßig  hohe  Vollendung  erreicht;  nur 
Amputationen  wagte  man  noch  nicht,  da  man  die  Unterbindung 
der  Adern,  das  wichtigste  blutstillende  Mittel  nicht  kannte. 

Weiter  vorgeschritten  war  man  zum  Teil  in  Kroton. 
Hier  hat  der  Pythagoreer  Alkmaeon  zuerst  erkannt,  daß  das 
Gehirn  das  Organ  des  Denkens  ist,  eine  Entdeckung,  die 
freilich  erst  ein  Jahrhundert  später  zur  allgemeinen  Aner- 
kennung gelangen  sollte;  die  Gesundheit  sei  bedingt  durch  das 


238  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Gleichgewicht  der  im  Körper  wirksamen  Kräfte,  des  Feuchten 
und  Trockenen,  des  Kalten  und  Warmen,  des  Bittren  und 
Süßen  usw.,  die  Krankheit  entstehe  aus  der  Störung  dieses 
Gleichgewichtes;  bei  der  Therapie  handele  es  sich  also  darum, 
das  Gleichgewicht  wieder  herzustellen.  Gegenüber  der  Humoral - 
pathologie  des  Hippokrates  bezeichnet  diese  Theorie  ohne 
Zweifel   einen   bedeutenden    Fortschritt. 

In  dieser  krotoniatischen  Schule,  oder  doch  unter  ihrem 
Einfluß,  hat  Empedokles  seine  Bildung  erhalten.  Er  stammte 
aus  einer  der  angesehensten  Familien  von  Akragas;  sein 
Großvater,  dessen  Namen  er  trug,  hat  mit  einem  Rennpferde 
in  Olympia  einen  Sieg  errungen  (496),  sein  Vater  Meton  stand 
in  erster  Reihe  bei  der  Befreiung  der  Vaterstadt  von  der 
Tyrannis  (473),  er  selbst  hat  später  die  Verfassung  in  demo- 
kratischem Sinne  reformiert  ^.  Schon  sein  Großvater  soll 
Anhänger  der  orphischen  Lehre  gewesen  sein  und  als  solcher 
bei  dem  Festmahl  zur  Feier  seines  in  Olympia  errungenen 
Sieges  den  Gästen  statt  des  üblichen  Opferstieres  einen  mit 
kostbaren  Spezereien  gewürzten  Riesenkuchen  in  Form  eines 
Stieres  vorgesetzt  haben  ^;  Empedokles  selbst  ist  dem  Glauben, 
in  dem  er  erzogen  war,  zeitlebens  treu  gebHeben  und  hat  als 
Weihpriester  und  Wahrsager  mit  Wort  und  Schrift  eifrige 
Propaganda  dafür  gemacht.  Dabei  war  er  ein  berühmter 
Arzt;  wohin  er  kam,  strömte  die  Menge  zusammen,  den  großen 
Mann  zu  sehen  und  Hilfe  in  Krankheit  oder  Rat  für  ihr 
Seelenheil  zu  erbitten. 

Aber  Empedokles  war  doch  zu  sehr  Gelehrter  und  Sohn 
seiner  Zeit,  als  daß  er  nicht  das  Bedürfnis  gefühlt  hätte,  für 
seinen    Glauben    die    wissenschaftlichen    Beweise    zu    finden. 


1  Diog.  Laert.  VIII  51  ff. 

^  Athen.  I  3  e,  Diog.  VIII  53.  Man  mag  über  diese  Erzählung  denken 
wie  man  will,  jedenfalls  ist  bei  einem  Gelehrten  wie  Empedokles,  der  an  der 
Schwelle  der  sophistischen  Bewegung  stand  und  einer  ihrer  hauptsächlichsten 
Vorläufer  gewesen  ist,  der  orphische  Glaube  nur  zu  erklären,  wenn  er  darin 
erzogen  war.  Fr.  139  Diels  kann  sich  auf  ein  früheres  Leben  beziehen;  wenigstens 
sehe  ich  nicht,  wie  Empedokles  zu  dem  Grade  der  Heiligkeit  hätte  gelangen 
können,  den  er  sich  fr.  146  vindiziert,  wenn  er  in  diesem  Leben  die  Todsünde 
begangen  hätte,  Fleisch  zu  essen. 


Älkmaeon.  —  Empedokles.  239 

Er  schloß  sich  dabei  an  Parmenides  an  und  dessen  Lehre  von 
der  Unzerstörbarkeit  des  Seienden,  wie  er  Parmenides  auch 
darin  gefolgt  ist,  daß  er  seinen  Werken  poetische  Form  gab 
und  sie  damit  einem  weiten  Hörer-  und  Leserkreise  zugänglich 
machte.  Ist  nun  das  Sein  überhaupt  unzerstörbar,  dann  ist 
es  auch  unser  eigenes  Sein,  unsere  Seele;  denn  ,,kein  weiser 
Mann  wird  sich  dergleichen  in  seinen  Sinnen  träumen  lassen, 
solange  wir  leben,  was  man  so  Leben  heißt,  nur  solange  seien 
wir  vorhanden,  und  widerfahre  uns  schlimmes  und  gutes, 
dagegen  bevor  wir  Sterbliche  geworden  und  nachdem  wir 
uns  wieder  aufgelöst  haben,  seien  wir  nichts'.'.  Die  Seele 
muß  also  nach  dem  Tode  in  andere  Körper  eingehen,  und 
zwar  keineswegs  nur  in  menschliche  Körper,  sind  doch  die 
Seelen  der  Tiere,  und  selbst  das,  was  die  Pflanze  belebt,  unserer 
eigenen  Seele  wesensgleich.  Ebenso  haben  wir  vor  unserer 
Geburt  schon  in  allerhand  Tierkörpern  und  auch  als  Pflanzen 
gelebt.  So  hatte  Empedokles  die  orphische  Lehre  von  der 
Seelenwanderung  philosophisch  begründet;  es  war  natürlich, 
daß  er  hier  nicht  stehen  blieb,  und  mit  den  Orphikern  weiter 
annahm,  was  sich  freilich  nicht  mehr  beweisen  ließ,  daß  unsere 
Seele  göttlichen  Ursprungs,  und  zur  Strafe  für  eine  Sünde, 
die  sie  begangen,  verurteilt  ist,  ihren  Weg  durch  unzählige 
sterbliche  Leiber  zu  nehmen,  bis  sie  dereinst,  geläutert,  wieder 
zu  ihrem  Ursprung  zurückkehrt.  Die  Körperwelt  aber  ist  nach 
Empedokles  aus  vier  qualitativ  verschiedenen  Elementen 
zusammengesetzt,  Erde,  Wasser,  Luft,  Feuer,  die  von  zwei 
Kräften,  der  Attraktion  und  Repulsion  bewegt  werden, 
oder  wie  der  Philosoph  selbst  mit  orphischer  Terminologie 
es  ausdrückt,  von  Liebe  und  Haß.  So  wurde  Empedokles 
der  Begründer  einer  Lehre,  welche  die  Naturwissenschaft  zwei 
Jahrtausende  hindurch  beherrscht  hat  und  die  in  zeitgemäßer 
Umbildung  noch  unserer  heutigen  Chemie  zugrunde  liegt. 
Er  hatte  damit  die  Möglichkeit,  die  Erscheinungen  zu  erklären, 
ohne  sie  wie  Parmenides  als  Sinnentrug  betrachten  zu  müssen. 
In  seinem  philosophischen  Lehrgedicht  schildert  er  uns,  wie 
zu  Anfang  alle  Grundstoffe  gleichmäßig  durcheinander  gemischt 
waren  und  dieses  Gemenge  die  Gestalt  einer  gewaltigen  Kugel 


240  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

((TqpaTpoq)  hatte  und  unbewegt  war;  ganz  so,  wie  Parmenides 
sein  reines  Sein  sich  gedacht  hatte.  Dann  aber  kam  durch 
den  Kampf  der  Liebe  und  des  Hasses  Bewegung  in  die  Masse; 
Luft  und  Feuer  nahmen  die  äußeren  Teile  des  Sphaeros  ein, 
während  sich  in  dessen  Mitte  aus  den  beiden  anderen  Elementen 
die  Erde  bildete.  Diese  Welt  wird  dereinst  durch  die  Macht 
des  Hasses  zerstört  werden  und  die  Elemente  in  den  Sphaeros 
zurückkehren,  aus  dem  dann  wieder  eine  neue  Welt  entstehen 
wird;  und  so  wird  das  fortgehen  in  ewigem  Kreislauf.  Be- 
sonders bemerkenswert  ist  dabei  seine  Lehre  von  der  Ent- 
stehung der  organischen  Wesen.  Zuerst  bildeten  sich  die 
Pflanzen,  darauf  wuchsen  einzelne  Teile  von  Tieren  aus  dem 
Boden,  die  sich  dann,  wie  es  der  Zufall  fügte,  miteinander 
vereinigten.  Von  den  so  entstandenen  Organismen  gingen 
die  unzweckmäßig  gebildeten  unter  und  nur  die  zweckmäßig 
gebildeten  erhielten  sich.  Wie  man  sieht,  spricht  Empedokles 
hier  einen  Gedanken  aus,  der  in  unserer  Zeit  der  Naturforschung 
neue  Wege  gewiesen  und  auch  die  Geisteswissenschaften 
mächtig  beeinflußt  hat^). 

Es  ist  etwas  Großes,  was  Empedokles  geleistet  hat; 
sein  System  ist  der  erste  rationelle  Versuch  einer  mechanischen 
Naturerklärung.  Aber  freihch,  auch  er  vermochte  nicht  zu 
sagen,  woher  denn  der  erste  Anstoß  zur  Bewegung  des  Sphaeros 
gekommen  sei,  und  eben  so  wenig  war  er  im  stände  zu  be- 
weisen, daß  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Substanzen, 
die  uns  in  der  Sinnenwelt  entgegentreten,  wirkhch  aus  seinen 
vier  Elementen  hervorgegangen  sei.  Dieser  letzteren  Schwierig- 
keit suchte  sein  Zeitgenosse,  der  Mathematiker  Anaxagoras 
aus  Klazomenae  (oben  S.  232)  zu  begegnen  durch  die  An- 
nahme   einer    unendlichen    Vielheit    qualitativ   verschiedener 

^  Von  Empedokles  ist  uns  mehr  erhalten,  als  von  irgend  einem  anderen 
griechischen  Philosophen  vor  Piaton,  Demokrat  allein  ausgenommen.  Trotzdem 
ist  er  von  den  Neueren  durchweg  mißverstanden  worden.  Zwischen  den  KaGapjnoi 
und  TTepl  qpuöeuii;  besteht  gar  kein  Gegensatz,  weder  ein  psychologischer  noch 
ein  logischer,  außer  soweit  zwischen  Wissen  und  Glauben  überhaupt  ein  solcher 
Gegensatz  besteht;  vielmehr  ergänzen  beide  Gedichte  einander.  Nur  der  wird 
ihn  einen  Scharlatan  nennen,  der  in  jedem  Priester  einen  Scharlatan  sieht. 
Da  hat  Epikur  ihn  viel  richtiger  beurteilt  (Lucret.  I  729  ff.). 


Empedokles.  —  Anaxagoras.  —  Diogenes.  Arcbelaos.  —  Zenon.  Melissos.  241 

Urstoffe,  von  „Samen  der  Dinge",  aus  deren  Mischung  und 
Trennung  alles  hervorgehe.  Und  in  der  Tat,  wenn  wir  einmal 
die  qualitative  Einheit  der  Materie  aufgeben,  warum  nicht 
ebensogut  10  000  Elemente  annehmen,  als  vier  mit  Empe- 
dokles.? Der  feinste  und  reinste  aller  Stoffe  aber  ist  der  Geist 
(voo?) ,  in  dem  Anaxagoras  die  bewegende  und  gestaltende 
Kraft  des  Universums  erkennt:  ,,wie  die  Dinge  sein  sollten, 
und  wie  sie  geworden  sind  und  jetzt  sind  und  sein  werden, 
das  alles  hat  der  Geist  angeordnet".  Damit  war  der  Begriff 
der  Teleologie  in  die  Wissenschaft  eingeführt,  ein  Gespenst, 
das  noch  heute  umgeht.  Die  Weltbildung  selbst  aber,  nachdem 
der  ,, Geist"  einmal  den  Plan  vorgezeichnet  und  den  Anstoß 
gegeben  hatte,  läßt  auch  Anaxagoras  in  durchaus  mechanischer 
Weise  vor  sich  gehen;  und  so  hat  sein  System  allerdings  der 
duahstischen  Naturauffassung  den  Weg  gebahnt,  steht  aber 
selbst  in  der  Hauptsache  noch  auf  monistischem   Boden. 

Doch  die  Elementenlehre  ist  nur  eine  Hilfskonstruktion, 
die  unser  Denken  auf  die  Dauer  nicht  befriedigen  kann,  am 
wenigsten  in  der  Gestalt,  die  ihr  Anaxagoras  gegeben!  hatte. 
So  griff  denn  um  den  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges 
Diogenes  aus  Apollonia  wieder  auf  die  altionische  Vorstellung 
von  dem  einen  Urstoff  zurück,  und  zwar  sah  er  diesen, 
die  Lehre  des  Anaximenes  wieder  aufnehmend,  in  der  Luft. 
Aber  er  war,  mit  Anaxagoras,  überzeugt,  daß  die  zweck- 
mäßige Ordnung  der  Welt  ein  denkendes  Wesen  als  Urheber 
fordert,  und  dies  Wesen  könne  kein  anderes  als  die  Luft  sein: 
,,denn  gerade  sie,  dünkt  mich,  ist  Gott,  ist  allgegenwärtig  und 
alles  verwaltend  und  in  allem  vorhanden.  Und  es  gibt  auch 
nicht  das  geringste,  das  nicht  an  ihrem  Wesen  teil  hätte". 
Zu  ähnlichen  Ergebnissen  gelangte  um  dieselbe  Zeit  Anaxa- 
goras' bedeutendster  Schüler  Archelaos.  So  war  denn  der 
Monismus  gerettet,  aber  um  teuren  Preis,  und  der  Spott  war 
nur  zu  berechtigt,  den  die  Komödie  über  das  neue  System 
ausschüttete.  Die  Naturphilosophie  hatte  ihren  eigenen 
Bankrott  erklärt. 

Parmenides'  Lehre  von  der  Einheit  des  Seins  und  der 
Unmöglichkeit    der    Bewegung    fand    Verteidiger    an    seinen 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  16 


242  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Schülern  Zenon  aus  Elea  und  Melissos  aus  Samos,  demselben, 
der  als  Stratege  die  Verteidigung  seiner  Vaterstadt  gegen 
Perikles  geleitet  hat  (oben  S.  196) ;  durch  sie  wurde  dies  System 
auch  im  Osten  der  griechischen  Welt,  in  Athen  und  lonien, 
bekannt.  Dabei  wurden,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  die  Ein- 
seitigkeiten des  Meisters  noch  überboten;  Melissos  ging  so  weit, 
die  Körperlichkeit  des  Seins  überhaupt  zu  leugnen,  weil  es 
ja  sonst  Teile  haben  müsse  und  keine  Einheit  mehr  wäre; 
Zenon  suchte  durch  dialektische  Spitzfindigkeiten  zu  erweisen, 
daß  die  Bewegung,  ebenso  wie  die  Vielheit  der  Dinge  durch 
das  Denken  nicht  zu  begreifen  sei,  und  wir  es  also  nur  mit 
Sinnestäuschungen  zu  tun  hätten.  Die  Zeitgenossen  waren 
außerstande,  seine  blendenden  Trugschlüsse  zu  widerlegen; 
aber  es  war  eine  zweischneidige  Waffe,  die  Zenon  schwang, 
und  auch  sein  eigenes  System  ist  dadurch  zertrümmert  worden, 
denn  solche  Lehren  führten  geraden  Weges  zur  Skepsis. 

Erkenntnistheoretische  Zweifel  waren  auch  sonst  auf- 
getaucht. Bereits  Heraklit  hatte  gesagt,  daß  Augen  und 
Ohren  schlechte  Zeugen  sind,  und  seine  Schule  ist  darin  noch 
weiter  gegangen.  So  gelangte  Kratylos  schließHch  dahin, 
überhaupt  gar  kein  Urteil  mehr  auszusprechen,  weil  ja  jeder 
Satz  die  Aussage  über  ein  Sein  enthalte,  dieses  aber  in  seinem 
Wesen  nicht  erfaßt  werden  könne.  Und  wie  Heraklit,  wenn 
auch  von  ganz  anderen  Voraussetzungen  aus,  warnt  Empe- 
dokles  seine  Leser,  dem  Sinnenscheine  zu  trauen.  Doch  hat 
er  sich  mit  dem  Erkenntnisproblem  nicht  näher  beschäftigt. 
Auch  hier  sind  die  Schüler  über  den  Meister  hinausgegangen; 
so  suchte  Gorgias  den  Beweis  zu  führen,  daß  es  überhaupt 
kein  Seiendes  gäbe,  gäbe  es  aber  auch  ein  Seiendes,  so  sei  es 
doch  für  uns  in  seinem  Wesen  nicht  erkennbar,  und  wäre  es 
erkennbar,  so  würde  diese  Erkenntnis  doch  nicht  mitteilbar 
sein.  Freihch  war  es  ihm  dabei  wohl  hauptsächlich  darum  zu 
tun,  ein  blendendes  Paradoxon  aufzustellen  ^. 

Dieser  Selbstzersetzung  der  Wissenschaft  trat  Protagoras 
aus  Abdera  (etwa  480 — 410)  entgegen,  in  seiner  Schrift  ,,Von 

^  Isokr.  im  Prooemion  der  Helena,  H.  Goruperz,  Sophistik  und  Rhetorik, 
Leipzig  1912,  S.  24  ff. 


Erkenntnistheoretische  Zweifel.  —  Protagoras.  —  Geschichtschreibung.      243 

der  Wahrheit",  durch  die  er  der  Begründer  der  Erkenntnis- 
theorie geworden  ist.  An  die  Spitze  stellte  er  den  berühmten 
Satz:  „Das  Maß  aller  Dinge  ist  der  Mensch,  der  seienden, 
daß  sie  sind,  der  nichtseienden,  daß  sie  nicht  sind".  Das  heißt, 
alle  Erkenntnis  ist  relativ,  bedingt  durch  das  erkennende 
Subjekt.  Es  sind  also  sehr  viele  Auffassungen  der  Dinge 
möglich,  die  alle  subjektiv  gleichberechtigt  sein  können. 
Daraus  folgt  aber  natürlich  keineswegs,  daß  Protagoras  nun 
die  Möglichkeit  einer  objektiven  Erkenntnis  geleugnet  hätte; 
seine  ganze  Tätigkeit  als  Forscher  und  Lehrer  zeugt  laut  für 
das  Gegenteil. 

Die  erkenntnistheoretischen  Zweifel  haben  es  bewirkt, 
daß  die  Forschung  sich  mehr  und  mehr  von  der  Naturwissen- 
schaft abwandte.  Sie  fand  dafür  reichen  Ersatz  in  der  Be- 
schäftigung mit  dem  Geistesleben,  wo  noch  so  gut  wie  alles 
zu  tun  war.  Die  Saat,  die  einst  Hekataeos  ausgestreut  hatte, 
begann  jetzt  aufzugehen;  Akusilaos  aus  Argos  und  Pherekydes 
aus  Leros  verfaßten  in  Hekataeos'  Art  Werke  über  die  grie- 
chische Urgeschichte,  und  die  weltbewegenden  Ereignisse  der 
Perserkirege  hatten  zur  Folge,  daß  die  Geschichtschreibung 
sich  auch  der  jüngsten  Vergangenheit  zuzuwenden  begann. 
Dionysios  aus  Milet  gab  eine  Geschichte  dieser  Zeit  \  Charon 
aus  Lampsakos  behandelte  die  Weltgeschichte  im  Rahmen 
einer  Chronik  seiner  Vaterstadt  (ujpoi  Aa|uijiaKnvd)v)  etwa  in 
der  Art,  wie  in  byzantinischer  Zeit  Malalas  von  Antiochien 
seine  Weltchronik  schrieb  oder  im  Mittelalter  Giovanni  Villani 
seine   Chronik  von   Florenz  2. 

Doch  alle  diese  Versuche  wurden  tief  in  den  Schatten 
gestellt  durch  die  Geschichte  der  Perserkriege,  die  Herodotos 

^  Lehn;ann-Haupt,  Klio  II  337.  III  330;  zitiert  werden  rd  ,ueTd  AapeTov 
iv  ßißXioK;  e'  und  TTepaiKd,  natürlich  handelt  es  sich  um  dasselbe  Werk,  das 
also,  wenn  der  erste  Titel  korrekt  überliefert  und  nicht  etwa  Kord  Aapeiov 
zu  lesen  ist,  erst  die  Zeit  des  Xerxes  ausführlicher  behandelt  haben  könnte. 
Das  einzige,  Schol.  Herodot.  III  61  erhaltene  Fragment  (fehlt  FHG.)  bezieht 
sich  allerdings  auf  den  sog.  falschen  Smerdis.  Über  Vermutungen  ist  hier  nicht 
hinauszukommen. 

2  Vgl.  Wiedemann,  Philol.  XLIV,  1875,  S.  171,  Schwartz,  Art,  Charon 
in  Pauly-Wissowa  III  2179.    Charon  erzählte  noch  die  Flucht  des  Themistokles 

16* 


244  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

aus  Halikarnassos  in  Perikles'  Zeit  verfaßt  hat,  die  erste 
groß  angelegte  historische  Darstellung,  die  überhaupt  ge- 
schrieben worden  ist.  Der  Kampf  zwischen  Griechen  und 
Persern  wird  aufgefaßt  als  eine  Episode  in  dem  großen  Kampfe 
zwischen  Europa  und  Asien,  der  mit  dem  Raube  der  lo  durch 
phoenikische  Schiffer  seinen  Anfang  genommen  habe;  doch 
läßt  Herodot  die  mythischen  Zeiten  beiseite  und  beginnt 
mit  der  Unterwerfung  der  ionischen  Städte  durch  die  Könige 
von  Lydien.  Darauf  schildert  er  uns  die  Entstehung  und  das 
Wachstum  des  Perserreiches  und  geht  dann  zu  seiner  eigent- 
lichen Aufgabe  über,  der  Erzählung  der  Kämpfe  der  Griechen 
gegen  Dareios  und  Xerxes.  Den  Schluß  bildet  die  Befreiung 
loniens  durch  die  Schlacht  bei  Mykale.  Die  Darstellung 
wird  durch  Einstreuung  reichen  geographischen  und  ethno- 
graphischen Materials  belebt,  das  der  Verfasser  zum  großen 
Teil  selbst  auf  weiten  Reisen  gesammelt  hat.  In  der  An- 
ordnung des  Stoffes  nahm  er  sich  das  Epos  zum  Vorbild, 
wie  auch  seine  Weltanschauung  im  Grunde  noch  die  alte 
homerische  ist.  Auch  Herodot  erkennt  überall  die  Hand  der 
Gottheit,  die  alles  nach  ihrem  Willen  lenkt;  aber  natürlich 
teilt  er  nicht  mehr  den  naiven  Glauben  Homers,  sondern 
steht  als  rechter  Sohn  seiner  Zeit  auf  dem  rationalistischen 
Standpunkt  des  Hekataeos,  für  den  es  keine  Wunder  mehr 
gibt.  Von  einer  wirklichen  Einsicht  in  die  Ursachen  der 
Begebenheiten  kann  also  bei  ihm  keine  Rede  sein,  um  so 
weniger,  als  es  ihm  an  politischen  und  militärischen  Kennt- 
nissen ganz  fehlte;  er  beschränkt  sich  im  wesentlichen  auf  die 
Wiedergabe  der  Berichte  seiner  Gewährsmänner;  nur  seine 
Sympathien  für  Athen  und  seine  Begeisterung  für  die  Demo- 
kratie treten  überall  hervor.  Aber  er  hat  diese  Berichte  zu 
einem  lebensvollen  Bilde  verwebt,  das  schon  die  Zeitgenossen 
zur  Bewunderung  hinriß  und  uns  noch  heute  mit  unwider- 
stehHcher  Macht  in  seinen  Bann  zieht;  er  hat  die  Geschicht- 
schreibung als   Kunstform  begründet  und  ist  in  dieser   Be- 

zu  Artaxerxes  (Plut.  Them.  27),  hat  also  jedenfalls  nach  465  geschrieben;  wie 
lange  nachher,  wissen  wir  nicht.  Die  TTepmKCi,  die  er  verfaßt  haben  soll,  werden 
mit  dem  zweiten  Teil  der  '"Qpoi  identisch  sein. 


Herodot.  —  Wissen  und  Glaube.  245 

Ziehung  für  alle   Folgezeit  ein  selten  erreichtes  Vorbild  ge- 
blieben ^. 

Aber  schon  hatte  die  Forschung  begonnen,  die  Grundlage 
zu  erschüttern,  auf  der  Herodots  Weltanschauung  beruht. 
Eine  so  revolutionäre  Zeit,  die  alles  Bestehende  vor  den 
Richterstuhl  ihrer  Kritik  zog,  mußte  mit  Notwendigkeit 
dahin  kommen,  auch  die  Voraussetzungen  des  religiösen 
Glaubens  auf  ihre  Haltbarkeit  hin  zu  prüfen.  Mit  den  anthro- 
pomorphistischen  Vorstellungen  hatte  die  Philosophie  bereits 
aufgeräumt,  seit  Xenophanes  zuerst  begonnen  hatte,  sie  zu 
bekämpfen.  Bei  Anaxagoras  hatte  sich  der  Gottesbegriff 
zur  Weltseele  verflüchtigt,  die  zwar  den  Weltplan  ent- 
worfen hat,  aber  in  den  Verlauf  der  Dinge  nicht  eingreift. 
Protagoras  ist  dann  noch  einen  Schritt  weiter  gegangen. 
,,Über  die  Götter  weiß  ich  nichts  zu  sagen,  weder  daß  sie  sind, 
noch  daß  sie  nicht  sind,  noch  welcherlei  Art;  denn  vieles 
hindert  unsere  Erkenntnis,  die  Dunkelheit  des  Gegenstandes, 
und  die  Kürze  des  menschlichen  Lebens."  Also  es  gibt  keinen 
zureichenden  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  freilich  auch 
keinen  entscheidenden  Gegenbeweis.  Wer  so  dachte,  hatte 
mit  der  Religion  abgeschlossen;  denn  wie  kann  man  Wesen 
anbeten,  die  vielleicht  überhaupt  nicht  vorhanden  sind } 
Die  vollen  Konsequenzen  daraus  hat  dann  um  den  Anfang 
des  peloponnesischen  Krieges  Diagoras  aus  Melos  gezogen; 
er  war  der  erste,  der  den  Mut  hatte,  die  Existenz  der  Götter 
offen  zu  leugnen.  Seitdem  blieb  diese  Frage  ein  Gegenstand 
lebhafter  Diskussion  unter  den  Gebildeten,  wie  sie  denn  von 
Euripides  mehrfach  auf  der  Bühne  behandelt  worden  ist. 
Der  Forschung  erwuchs  jetzt  das  Problem,  die  Entstehung 
der  Rehgion  zu  erklären.  Während  Prodikos  von  Keos  den 
Götterglauben  aus  dem  Naturkultus  ableitete,  was  bei  der 
Durchsichtigkeit  der  griechischen  Mythologie  ja  sehr  nahe  lag, 
erklärte  der  Athener  Kritias,  Piatons  Oheim,  die  Religion 
als  eine  Erfindung  kluger  Männer,  zu  dem  Zweck,  die  Massen 
durch  die  Furcht  vor  den  Göttern  zu  sittlichem  Handeln 
zu  zwingen. 

1  Oben  I  1  S.  26,  unten  2.  Abt.  §  1,  Ed.  Meyer,  Forschungen  II  196  ff. 


246  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Der  alte  Glaube,  der  das  Sittengesetz  auf  göttliches 
Gebot  zurückführte,  war  damit  in  sein  Gegenteil  verkehrt. 
Der  Weg  war  jetzt  frei  zu  einer  Kritik  der  geltenden  Sittlich- 
keitsbegriffe. Daß  Gesetz  und  Herkommen  keinen  Maßstab 
für  den  sittlichen  Wert  unserer  Handlungen  abgeben  können, 
zeigte  schon  ein  Blick  auf  die  so  weit  voneinander  abweichenden 
Sitten  der  verschiedenen  Völker.  So  kam  man  dahin,  der 
menschlichen  Satzung  (vö|uo(;)  ein  Naturrecht  (cpudei  ökaiov) 
gegenüberzustellen,  das  allein  absolute  Geltung  beanspruchen 
könne.  Die  Frage  war  nur,  was  man  denn  unter  Naturrecht 
zu  verstehen  habe.  Daß  in  der  Natur  nur  das  Recht  des 
Stärkeren  gilt,  ist  klar,  und  es  hat  denn  auch  schon  damals 
nicht  an  solchen  gefehlt,  die  das  Naturrecht  in  diesem  Sinne 
verstehen  wollten  und  die  Lehre  vom  Übermenschen  predigten, 
dem  alles  erlaubt  sei.  Doch  das  waren  natürlich  nur  ver- 
einzelte Stimmen.  Demgegenüber  betonte  Protagoras,  daß 
wir  eben  nicht  im  Naturzustande  leben,  wie  die  Tiere,  son- 
dern innerhalb  der  menschlichen  Gesellschaft,  deren  Bestand 
ohne  Achtung  vor  den  Rechten  anderer  nicht  möghch  ist; 
dieses  Gefühl  ist  denn  auch  der  großen  Mehrzahl  der  Menschen 
von  Natur  eingepflanzt,  wer  es  aber  nicht  hat,  der  muß  aus 
der  Gesellschaft  gestoßen  werden,  wie  ein  Pestkranker  ^. 
Alle  Menschen  sind  von  Natur  Brüder,  sagt  ein  anderer  Ver- 
treter der  Aufklärung,  der  Eleier  Hippias,  und  nur  das  Gesetz 
hat  Schranken  zwischen  ihnen  errichtet  ^.  Es  sind  die  Ge- 
danken, die  im  Staatsleben  zur  Demokratie  geführt  hatten, 
auf  die  hier  die   Sittenlehre  gegründet  wird. 

Und  noch  in  anderer,  ebenso  folgenreicher  Weise  wirkte 
die  Demokratie  auf  das  Geistesleben  zurück.  Mehr  als  je  vorher 
war  die  Herrschaft  über  das  Wort  jetzt  unerläßhches  Er- 
fordernis für  jeden,  der  zu  Einfluß  und  Macht  gelangen  oder 
auch^  nur  die  eigene  Sache  mit  Erfolg  vor  Gericht  führen 
wollte.  Da  galt  es,  vor  einer  Versammlung  von  mehreren 
hundert  Geschworenen  zu  reden,   die  zum  größten  Teil  den 

1  Plat.   Proiag.  322  c,  s.   oben   S.  123  A.  2. 

^  Wenigstens  legt  ihm  Piaton  im  Protagoras  (337  c)  diese  Worte  in  den 
Mund.      Vgl.   Dümmler,    Akademika    S.    252. 


Naturrecht.  —  Redekunst,  —  Gorgias.  —  Die  Gerichtsrede.         247 

unteren  Klassen  der  Bürgerschaft  angehörten  und  nicht  die 
Bildung  besaßen,  um  einer  etwas  verwickeiteren  juristischen 
Beweisführung  folgen  zu  können;  alles  hing  also  von  der 
Geschicklichkeit  ab,  mit  der  die  Parteien  ihre  Sache  vorzutragen 
wußten.  So  kam  man  dazu,  darüber  nachzudenken,  worauf 
denn  die  Wirkung  der  Rede  beruhe,  und  ob  es  nicht  möglich 
sei,  dem  Mangel  natürHcher  Begabung  durch  Kunst  nach- 
zuhelfen oder  die  vorhandene  Anlage  weiter  auszubilden. 
Der  große  Empedokles  ist  einer  der  ersten,  die  sich  mit  diesen 
Problemen  beschäftigt  haben;  auf  dem  von  ihm  gelegten 
Grunde  baute  sein  Schüler  Gorgias  weiter  (geb.  etwa  460)  ^, 
der  dann  infolge  der  Zerstörung  seiner  Vaterstadt  Leontinoi 
durch  die  Syrakusier  nach  dem  griechischen  Mutterlande 
übersiedelte,  wo  er  in  Thessalien  seinen  dauernden  Wohnsitz 
nahm  und  lange  Jahre,  bis  an  seinen  Tod,  als  Lehrer  der  Bered- 
samkeit tätig  gewesen  ist.  Seinen  Ruhm  suchte  er  vor  allem 
in  der  Festrede  (Xoto?  eTTibeiKTiKÖ(;).  Er  gefiel  sich  dabei 
in  einer  feierhchen,  halb  dichterischen  Sprache  voll  kühner 
Metaphern  und  gesuchter  Antithesen,  mit  strenger  Responsion 
der  Satzglieder,  wobei  die  Rede  in  endlosen  Perioden  dahinfloß. 
Uns  erscheint  das  alles  ja  unerträghch,  die  Zeitgenossen  aber 
waren  hingerissen  von  dem,  was  ihnen  hier,  zum  ersten  Male, 
geboten  wurde,  und  gaben  sich  dem  Genuß,  solche  Reden 
zu  hören,  mit  nicht  geringerer,  vielleicht  noch  größerer  Be- 
geisterung hin,  wie  etwa  der  Aufführung  einer  Tragödie  oder 
eines  Dithyrambos.  So  lange  er  lebte,  ist  Gorgias  der  ge- 
feiertste Meister  der  Redekunst  gebheben. 

Etwa  um  dieselbe  Zeit  hatten  in  Syrakus  Korax  und  sein 
Schüler  Teisias  die  Theorie  der  Gerichtsrede  ausgebildet, 
wozu  die  nach  dem  Sturze  der  Tyrannis  (465)  eingeführten 
Volksgerichte  die  äußere  Veranlassung  gaben;  sie  sind  auch 
die  ersten,  die  Lehrbücher  der  Rhetorik  veröffentlicht  haben. 
Um  die  Ausbildung  der  Kunst  des  Beweises,  der  Dialektik, 
dieses  wesentlichsten  Bestandteils  der  griechischen  Rhetorik, 
erwarb    sich    Parmenides'    Schüler    Zenon    große   Verdienste, 

^  Diels,  Gorgias  und  Empedokles,  S.-B.  Berl.  Akad.  1884.  Über  Gorgias' 
Lebenszeit  unten  2.  Abt.  §  154. 


248  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

SO  daß  er  von  Aristoteles  geradezu  ihr  Begründer  genannt 
wird.  In  derselben  Richtung,  und  mit  noch  größerem  Erfolg, 
war  um  dieselbe  Zeit  auch  Protagoras  tätig.  Er  zuerst  hat 
den  Satz  aufgestellt,  man  könne  über  jeden  Gegenstand  zwei 
einander  widerstreitende  Behauptungen  aufstellen,  und  mit  der 
gleichen  subjektiven  Berechtigung  verteidigen.  Thrasymachos 
aus  Kalchedon,  einer  der  ersten  Advokaten  dieser  Zeit,  trat 
dann  dem  gorgianischen  Schwulste  mit  der  Forderung  ent- 
gegen, der  Stil  der  Rede  solle  nichts  anderes  sein,  als  die 
idealisierte  Sprache  des  täglichen  Lebens,  scharf  und  klar, 
mehr  durch  Gründe  wirkend,  als  durch  farbenprächtige  Bilder. 
Es  ist  die   Sprache,  wie  sie  für  die  Gerichtsrede  paßt. 

Die  neue  Kunst  fand  bald  überall  in  Griechenland  eifrige 
Pflege,  nirgends  mehr  als  in  Athen,  seit  das  dortige  Volks- 
gericht zum  Obertribunal  des  ganzen  Reiches  geworden  war. 
Sie  hat  hier,  kaum  begründet,  in  Antiphon  aus  Rhamnus, 
Kritias,  Andokides,  dem  Geschichtschreiber  Thukydides  be- 
deutende Meister  gefunden,  bis  Athen  dann,  in  der  nächsten 
Generation,  zum  hauptsächlichsten  Sitz  der  Beredsamkeit 
werden  sollte. 

Dichter,  Künstler  und  Ärzte  waren  von  jeher  in  der 
griechischen  Welt  umhergezogen,  um  Ruhm  und  Verdienst 
zu  suchen;  es  ist  selbstverständlich,  daß  Männer  wie  Gorgias 
und  Protagoras  sich  nicht  mit  derti  engen  Wirkungskreise 
begnügen  konnten,  den  ihre  leontinische  oder  abderitische 
Heimat  ihnen  bot.  Ja  die  Zerstörung  von  Leontinoi  durch 
die  Syrakusier  im  Jahre  423  würde  Gorgias  auch  ohne  das 
in  die  Fremde  getrieben  haben.  Die  beste  Gelegenheit,  um 
die  neue  Lehre  in  die  weitesten  Kreise  zu  tragen,  boten  die 
großen  Nationalspiele;  so  hat  Gorgias  vor  den  versammelten 
Hellenen  in  Olympia  und  Delphi  zwei  seiner  berühmtesten 
Reden  gehalten,  und  seitdem  gehörten  dort  rhetorische  Vor- 
träge zu  dem  stehenden  Festprogramm.  Ohne  etwas  Reklame 
ging  es  dabei  freilich  nicht  ab;  das  Publikum  war  einmal  daran 
gewöhnt  und  wollte  es  nicht  anders.  Wie  die  Rhapsoden 
in  prächtigem  Gewände,  den  Kranz  auf  dem  Haupte,  den 
Stab  in  der  Hand,  ihre  Vorträge  hielten,  so  suchten  auch  die 


Die  Gerichtsrede.  —  Die  Sophisten.  —  Honorare.  —  Höherer  Unterricht.    249 

„Lehrer  der  Weisheit"  („Sophisten"),  wie  sie  genannt  wurden  \ 
durch  gewählte  Tracht  Aufsehen  zu  erregen;  um  ihre  Meister- 
schaft zu  beweisen,  waren  sie  bereit,  aus  den  Stegreif  über 
jedes  Thema  zu  sprechen,  jedem,  der  es  wollte,  auf  behebige 
Fragen  Rede  und  Antwort  zu  stehen.  Männer  wie  Protagoras 
hatten  das  freilich  bald  nicht  mehr  nötig;  wohin  sie  kamen, 
öffneten  sich  ihnen  alle  Pforten  und  die  vornehme  Jugend 
strömte  ihren  Vorträgen  zu. 

Geistige  Arbeit  war  in  Griechenland  stets  honoriert 
worden.  Pindar  und  Simonides  haben  sich  ihre  Lieder  gut 
bezahlen  lassen,  die  dramatischen^Dichter,  die  bei  den  Auf- 
führungen im  athenischen  Theater  den  Sieg  errangen,  er- 
hielten ansehnliche  Geldpreise,  und  vor  allem  die  Ärzte  haben 
schon  damals  mit  ihrer  Kunst  sehr  viel  Geld  verdient.  Natür- 
lich haben  auch  die  Sophisten  ihren  Unterricht  nicht  umsonst 
gegeben;  die  Honorare  waren  anfangs  recht  hoch,  so  lange 
die  neue  Kunst  noch  von  wenigen  gelehrt  wurde,  sind  dann 
aber  allmählich  heruntergegangen,  und  selbst  die  berühmtesten 
Sophisten,  wie  Gorgias,  sind  durch  ihre  Lehrtätigkeit  doch  nur 
zu  mäßigem  Wohlstand  gelangt  (oben  S.  101). 

So  wurde  der  griechischen  Jugend  zum  ersten  Male  ein 
höherer  Unterricht  geboten.  Bisher  hatte  dem  Jüngling  der 
besseren  Stände  als  Ideal  vorgeschwebt,  Siege  in  den  National- 
spielen zu  erringen;   demgemäß  brachte  er  fast  den  ganzen 


^  In  diesem  Sinne  braucht  Pindar  {Isthm.  V  36)  das  Wort  in  bezug  auf 
die  Dichter,  Herod.  IV  95  in  bezug  auf  Pythagoras.  Die  Auffassung  der  Neueren 
ist  lange  durch  Piatons  Polemik  gegen  die  Sophisten  bedingt  gewesen;  eine 
objektivere  Auffassung  ist  dann  durch  Grote  (Hist.  of  Greece  VIII)  angebahnt 
und  namentlich  von  Th.  Gomperz  {Gr.  Denker  I)  näher  begründet  worden. 
Einen  Rückfall  in  alte  Anschauung  bezeichnet  H.  Gomperz'  Sophistik  und 
Rhetorik  (Leipzig  1912);  er  begeht  die  petitio  principii,  erst  die  Sophisten  nach 
Piaton  zu  schildern  und  sich  dann  auf  Piaton  zum  Beweise  der  Richtigkeit 
des  so  gezeichneten  Bildes  zu  berufen.  Er  sieht  in  den  großen  Sophisten  des 
V.  Jahrhunderts,  Protagoras  allein  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  ausgenommen, 
nur  Redekünstler  ohne  jedes  andere  ernste  Interesse.  Die  Frage,  wodurch  denn 
dann  die  Umwälzung  in  der  griechischen  Weltanschauung  hervorgebracht 
worden  ist,  die  eben  in  dieser  Zeit  eintrat,  scheint  er  sich  nicht  vorgelegt  zu 
haben. 


250  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 


Tag  auf  dem  Turnplatze  zu,  während  die  geistige  Ausbildung 
sich  auf  Lesen  und  Schreiben,  etwas  Musik  und  die  Kenntnis 
der  hauptsächlichsten  Dichter  beschränkte.  Die  Lehren 
der  Philosophen  und  Mathematiker  waren  nicht  über  die  engsten 
Kreise  hinausgedrungen,  und  selbst  sozial  hochstehende 
Männer  waren  in  diesen  Dingen  meist  von  krassester  Un- 
wissenheit. Es  war  eine  seltene  Ausnahme,  daß  Perikles  sich 
durch  Anaxagoras  in  die  Naturwissenschaft  einführen  ließ 
und  mit  Protagoras  über  ethische  Fragen  diskutierte;  und 
es  ist  ihm  von  vielen  Seiten  verargt  worden.  Aber  schon  in  der 
nächsten  Generation  wurde  einige  Bekanntschaft  mit  der 
Redekunst  ein  notwendiges  Erfordernis  für  jeden,  der  auf  Bil- 
dung Anspruch  machte;  und  nicht  mit  der  Redekunst  allein, 
denn  die  großen  Männer,  von  denen  diese  Umwälzung  im 
griechischen  Geistesleben  ausging,  wußten  sehr  wohl,  daß  die 
bloße  rhetorische  Dressur  den  Redner  nicht  macht.  So  war 
Protagoras  bemüht,  seinen  Schülern  eine  tüchtige  ethische 
Ausbildung  zu  geben,  um  sie  dadurch  zu  charaktervollen 
Männern  zu  erziehen,  die  imstande  wären,  sowohl  ihr  eigenes 
Hauswesen  wie  den  Staat  in  richtiger  Weise  zu  leiten.  Hippias 
aus  Elis  ging  noch  weiter  und  zog  auch  Mathematik,  Astronomie 
und  Musik  in  den  Bereich  seines  Unterrichts,  während  Gorgias 
und  Thrasymachos  sich  mehr  auf  die  Rhetorik  im  engeren  Sinne 
des  Wortes  beschränkten.  Natürlich  wurde  das  Turnen  dadurch 
keineswegs  aus  der  Erziehung  verdrängt,  aber  es  wurde  doch 
ein  gewisses  Gleichgewicht  zwischen  geistiger  und  körperlicher 
Ausbildung  hergestellt. 

Das  Auftreten  der  Sophisten  brachte  im  griechischen 
Geistesleben  eine  Umwälzung  hervor,  so  tiefgreifend  und 
zugleich  so  plötzlich  eintretend,  wie  vielleicht  keine  zweite 
im  ganzen  Verlauf  der  Weltgeschichte.  Die  alten  ionischen 
Denker  hatten  meist  jedes  Heraustreten  in  die  Öffentlichkeit 
verschmäht  und  ihre  Lehre  nur  einem  kleinen  Schülerkreise 
mitgeteilt;  die  Versuche,  die  Xenophanes  und  nach  seinem 
Vorbild  Parmenides  und  Empedokles  mit  einer  Popularisierung 
der  Ergebnisse  ihrer  Forschung  gemacht  hatten,  waren  im 
ganzen  erfolglos  geblieben  oder  hatten  doch  nur  im  Westen 


Höherer  Unterricht.  —  Die  neue  Weltanschauung.  —  Thukydides.     251 

der  griechischen  Welt  eine  Wirkung  geübt.  Erst  der  Unter- 
richt der  Sophisten  hat  der  neuen  Weltanschauung  zum  Siege 
verhelfen.  Die  ältere  Generation,  die  um  die  Mitte  des  Jahr- 
hunderts bereits  das  fertige  Mannesalter  erreicht  hatte,  stand 
mit  wenigen  Ausnahmen  der  neuen  Bildung  ablehnend  oder 
doch  teilnahmslos  gegenüber,  während  die  damals  heran- 
wachsende Jugend  in  ihrer  großen  Mehrheit  sich  ihr  bedingungs- 
los hingab.  So  ging  denn  in  dieser  Zeit  ein  tiefer  Riß  durch 
die  griechische  Welt;  zwei  Weltanschauungen  standen  fast 
unvermittelt  einander  gegenüber.  Sophokles  und  Euripides 
haben  nebeneinander  für  die  attische  Bühne  geschrieben; 
der  Altersunterschied  zwischen  beiden  betrug  noch  nicht 
20  Jahre  und  doch  trennt  sie  ein  Abgrund;  der  ältere  wurzelt 
mit  seinem  ganzen  Denken  in  der  Vergangenheit,  während 
der  jüngere  den  Ideen  Ausdruck  gegeben  hat,  denen  die  Zu- 
kunft gehörte.  Euripides'  Dramen  sind  die  poetische  Ver- 
klärung der  neuen  Bildung;  er  hat  alle  die  Probleme  auf  der 
Bühne  behandelt,  die  in  den  Kreisen  der  Sophisten  verhandelt 
wurden,  ohne  Rücksicht  auf  die  Vorurteile  der  großen  Menge, 
die  meist  gar  nicht  imstande  war,  seinem  Gedankenfluge  zu 
folgen;  und  auch  die  neue  Kunst  der  Rhetorik  hat  er  in  den 
Dienst  seiner  Muse  gestellt.  So  hat  er  zur  Verbreitung  der 
neuen  Gedanken  vielleicht  noch  mehr  beigetragen,  als  die 
berühmtesten  Sophisten  seiner  Zeit;  aber  er  hat  es  erkauft 
mit  dem  Verzicht  auf  jene  Popularität,  die  seinem  Rivalen 
Sophokles  in  so  reichem  Maße  zu   teil  wurde. 

Ähnlich  wie  zwischen  den  beiden  großen  Tragikern  ist 
das  Verhältnis  zwischen  den  beiden  großen  Historikern  dieser 
Zeit;  Thukydides  (um  460  geboren)  ist  kaum  20  Jahre  jünger 
als  Herodot,  aber  er  ist  durch  die  Schule  der  sophistischen 
Bildung  gegangen.  Bei  ihm  spielt  die  Gottheit  keine  Rolle 
mehr;  die  Geschichte  ist  ihm  einfach  ein  Produkt  ethischer 
und  politischer  Faktoren.  An  der  Stelle  der  liebenswürdig- 
naiven Darstellung  Herodots  tritt  der  scharfpointierte,  wenn 
man  will,  etwas  manirierte  Stil,  wie  er  von  den  Sophisten 
gelehrt  wurde.  Dabei  hat  Thukydides  vor  Herodot  das  Ver- 
ständnis poHtischer  und  mihtärischer  Dinge  voraus.      Einer 


252  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

vornehmen  Familie  Athens  angehörig,  ist  er  zum  höchsten 
Staatsamt,  der  Strategie,  gelangt;  ein  militärischer  Mißerfolg 
brachte  ihm  die  Verbannung,  die  ihn  der  Vaterstadt  20  Jahre 
lang  fernhielt  (424 — 404).  Die  unfreiwillige  Muße  benutzte  er 
zur  Abfassung  eines  Geschichtswerkes  über  den  großen  Krieg 
zwischen  Athen  und  den  Peloponnesiern,  der  für  ihn  selbst 
so  verhängnisvoll  geworden  war.  Seine  Verbindungen  stellten 
ihm  das  beste  Material  zur  Verfügung,  und  er  hat  es  mit 
Kritik  und  im  ganzen  auch  mit  Unparteilichkeit  verarbeitet; 
daß  seine  persönlichen  Sympathien  und  Antipathien  in  der 
Darstellung  gleichwohl  überall  hervortreten,  wird  ihm,  der 
Zeitgeschichte  schrieb,  niemand  zum  Vorwurfe  machen. 
Auch  mit  der  älteren  Geschichte  hat  er  sich  eingehend  be- 
schäftigt, und  wir  verdanken  diesen  Studien  jenen  meister- 
haften Abriß  der  Kulturentwicklung  des  griechischen  Volkes, 
den  er  seinem  Werk  als  Einleitung  vorangestellt  hat.  Dabei 
werden  Forschungsmethoden  verwendet  und  kritische  Grund- 
sätze, zwar  nicht  immer  befolgt,  aber  doch  aufgestellt,  die 
unsere  Wissenschaft  noch  heute,  besser  gesagt,  heut  wieder 
beherrschen.  So  bleibt  Thukydides  der  Ruhm,  die  wissen- 
schaftliche Geschichtschreibung  begründet  zu  haben;  in  der 
ganzen  historiographischen  Literatur,  die  uns  aus  dem  Alter- 
tum erhalten  ist,  nimmt  sein  Werk  den  ersten  Platz  ein.  Zu- 
gleich ist  es  auch  das  einzige  große  Werk  der  sophistischen 
Periode,  das  auf  uns  gelangt  ist.  So  kommen  wir  leicht  dahin, 
dem  Verfasser  als  eigenes  Verdienst  anzurechnen,  was  er  der 
Zeitströmung  dankte,  von  der  er  getragen  wurde  und  in  deren 
Mitte  er  stand. 

Wenn  Thukydides  im  wesentlichen  Zeitgeschichte  gegeben 
hat,  unternahm  es  sein  Altersgenosse  Hellanikos  aus  Mytilene  ^, 
die  gesamte  Geschichte  des  griechischen  Volkes  seit  den 
mythischen  Zeiten  zur  Darstellung  zu  bringen.  Besonderes 
Gewicht  legte  er  dabei  auf  die  Chronologie,  und  er  hat  den 
Ruhm,  diesen  Zweig  der  historischen  Wissenschaft  begründet 
zu  haben.     Kritik  gegenüber  seinen  Quellen  lag  ihm  freilich 

1  Jacoby,   Art.   Hellanikos  in   Pauly- Kroll  VIII   104  ff. 


Thukydides.  —  Hellanikos.  —  Andere  Historiker,  253 

noch  ebenso  fern  wie  Herodot;  der  Mythos  galt  auch  ihm  als 
Geschichte.  So  nahm  er  zur  Grundlage  seines  chronologischen 
Systems  das  Verzeichnis  der  Priesterinnen  des  Heratempels 
bei  Mykenae,  das  in  seinen  echten  Teilen  immerhin  in  ziem- 
lich frühe  Zeiten  hinaufreichen  mochte,  weiterhin  aber  will- 
kürlich bis  in  die  graueste  Vorzeit  verlängert  worden  war  ^. 
Darauf  gestützt  wußte  Hellanikos  denn  zum  Beispiel  anzu- 
geben, daß  die  Sikeler  in  der  dritten  Generation  vor  dem 
troischen  Kriege,  als  Alkyone  im  26.  Jahr  Priesterin  war, 
in  die  nach  ihnen  benannte  Insel  hinübergewandert  wären  ^. 
Um  die  einzelnen  Ereignisse,  namentHch  der  mythischen  Zeit 
in  diesen  chronologischen  Rahmen  einzuordnen,  bediente 
er  sich  der  Rechnung  nach  Generationen,  die  ihm  von  seinen 
genealogischen  Studien  her  sehr  nahe  lag.  Auf  diesem  Wege 
bestimmte  er  die  Rückkehr  der  Herakliden  auf  das  Jahr  1149, 
die  Zerstörung  Troias  auf  1209,  den  Regierungsantritt  des 
Kekrops  auf  1606;  Ansätze,  die  im  großen  und  ganzen  für  die 
griechische  Chronologie  der  späteren  Zeit  maßgebend  ge- 
blieben sind.  Neben  diesem  Hauptwerke  verfaßte  Hellanikos 
noch  eine  Reihe  kleinerer  Schriften,  von  denen  seine  Chronik 
Athens  Erwähnung  verdient  als  der  erste  Versuch,  die  Geschichte 
dieser  geistigen   Hauptstadt  Griechenlands  darzustellen. 

In  ähnlichen  Bahnen  bewegte  sich  die  Forschung  des 
Damastes  aus  Sigeion  (um  400)  ^,  der  Hellanikos'  Schüler 
gewesen  sein  soll,  und  des  Sophisten  Hippias  aus  Elis;  letzterer 
hat  unter  anderem  ein  Verzeichnis  der  Sieger  in  den  olym- 
pischen Spielen  zusammengestellt  (oben  I  2  S.  150).  Der 
Lyder  Xanthos  schrieb  die  Geschichte  seines  Volkes,  in  griechi- 
scher Sprache;  Hippys  aus  Rhegion  behandelte  die  Geschichte 
der  Gründung  der  Kolonien  in  Italien  und  Sicilien,  und  Anti- 
ochos  aus  Syrakus  verfaßte  ein  ausführhches  Werk  über  die 
Geschichte  der  Westhellenen  von  den  ältesten  Zeiten  bis  auf 
den  peloponnesischen  Krieg  *.     Nicht  eigenthch  historischen 


1  S.  oben  IIS.  23. 

-  Hellan.  fr.  58  bei  Dionys.  Archaeol.  I  22. 

^  Suidas  AaitidcTTri?,  FHG.  II  64. 

*  S.  unten  2.  Abt.  §  12. 


254  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Inhalts  scheinen  dagegen  die  ,, Reiseerinnerungen"  ('Embr||uiai) 
des  Ion  aus  Chios  gewesen  zu  sein;  vielmehr  diente  das  Histo- 
rische hier,  wie  später  in  Piatons  Dialogen,  nur  zur  Ein- 
kleidung, wobei  es  mit  der  Wahrheit  nicht  so  genau  genommen 
wurde,  und  namentlich  Anekdoten  einen  breiten  Raum  ein- 
nahmen ^. 

Wie  die  Geschichte  als  Wissenschaft,  so  ist  auch  die 
Sprachwissenschaft  von  der  Sophistik  geschaffen  worden. 
Die  Beschäftigung  mit  der  Rhetorik  mußte  von  selbst  zum 
Nachdenken  über  Bau  und  Entstehung  der  Sprache  anregen, 
und  so  hat  schon  Protagoras  diese  Untersuchungen  in  Angriff 
genommen.  Er  zuerst  hat  die  Redeteile  unterschieden,  die 
Geschlechter  der  Nomina,  die  Tempora  und  Modi  der  Verben 
bestimmt,  und  die  seitdem  gültige  Terminologie  der  Grammatik 
geschaffen  ^.  Auch  mit  der  Frage,  ob  die  Sprache  dem  Menschen 
von  Natur  (cpucrei)  eigen,  oder  erst  durch  die  Kulturentwick- 
lung (vö|Liuj)  geschaffen  sei,  hat  er  sich  beschäftigt  und  sich 
für  die  letztere  Alternative  entschieden.  Er  leitete  daraus 
für  den  Sprachforscher  das  Recht  ab,  die  Anomalien  des 
Sprachgebrauchs  zu  verbessern;  was  ihn  denn  freihch  im 
Eifer  der  Entdeckung  zu  manchen  unhaltbaren  Behauptungen 
verleitet  hat.  Auf  dem  von  Protagoras  gelegten  Grunde  baute 
dann  Prodikos  aus  Keos  weiter,  der  sich  namenthch  um  die 
Synonymik  Verdienste  erwarb.  Gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
beschäftigten  sich  Hippias  aus  Ehs  und  Demokritos  aus 
Abdera  mit  Lautphysiologie. 

Schon  früher  hatte  die  Kritik  und  Interpretation  der 
Dichter  begonnen,  vor  allem  Homers,  dessen  altertümhche 
Sprache  dem  Verständnis  so  viele  Schwierigkeiten  bot.  In 
erster  Linie  waren  es  die  Rhapsoden,  die  durch  ihren  Beruf 
auf  solche  Untersuchungen  geführt  wurden.  Als  ältester 
wird  Theagenes  aus  Rhegion  genannt  ^,   der  bald  zahlreiche 


^  Vgl.  besonders  das  bei  Athen.  XIII  603  e  erhaltene  längere  Fragment 
über  Sophokles,  und  unten  2.  Abt.  §  70. 

«  ZeUer  I«  1141. 

^  Diels,  Vorsokratiker  c.  72.  Angeblich  aus  Kambyses'  Zeit,  was  kaum 
richtig  sein  kann. 


Sprachwissenschaft.  —  Homerkritik.  —  Technische  Literatur.         255 

Nachfolger  fand,  wie  Stesimbrotos  aus  Thasos^,  in  Perikles' 
Zeit,  und  Glaukon  aus  Teos-.  Auch  Historiker  und  Sophisten 
haben  sich  gelcgenthch  mit  diesen  Fragen  beschäftigt.  Um 
die  Anstöße  zu  beseitigen,  welche  der  Inhalt  des  Epos  dem 
religiösen  und  ethischem  Empfinden  dieser  Zeit  bot  (oben  I  1 
S.  442),  griff  man  zu  allegorischer  Erklärung,  in  der  namenthch 
Metrodoros  aus  Lampsakos,  ein  Schüler  des  Anaxagoras, 
sich  auszeichnete:  Agamemnon  sei  der  Äther,  Achilleus  die 
Sonne,  Hektor  der  Mond,  Helena  die  Erde,  Alexandros  die 
Luft,  und  in  dieser  Art  weiter  ^.  Glaukos  aus  Rhegion  und 
Damastes  aus  Sigeion  machten  dann,  gegen  Ende  des  Jahr- 
hunderts, den  ersten  Versuch  einer  literargeschichtlichen 
Darstellung  *. 

Überhaupt  begann  um  diese  Zeit  eine  recht  ansehnliche 
technische  Literatur  sich  zu  bilden.  Jene  große  Sammlung 
medizinischer  Schriften,  die  uns  unter  dem  Namen  des  Hippo- 
krates  überliefert  ist,  ist  im  Laufe  des  V.  Jahrhunderts  ent- 
standen, in  der  Hauptsache  in  dessen  zweiter  Hälfte,  zum 
Teil  unter  dem  direkten  Einflüsse  der  Sophistik.  Polykleitos 
und  Parrhasios  schrieben  über  die  Theorie  ihrer  Kunst,  Iktinos 
über  den  von  ihm  erbauten  Parthenon.  Der  Handbücher  der 
Mathematik  und  Rhetorik  ist  oben  gedacht  worden.  Auch 
Reden,  die  besonderen  Erfolg  gehabt  hatten,  wurden  jetzt 
durch  Abschriften  vervielfältigt.  Selbst  Kochbücher  hat  es 
in  dieser  Zeit  schon  gegeben  ^.  Wer  auf  höhere  Bildung  An- 
spruch erhob,  mußte  jetzt  seine  BibHothek  haben,  wenn  diese 
auch  noch  von  recht  bescheidenem  Umfange  war,  und  dem- 
gemäß begann  der  Buchhandel  sich  zu  entwickeln,  dessen 
Mittelpunkt  natürlich  Athen  wurde  ^. 


1  FHG.  II  52. 

2  Plat.  Ion  630  c  d,  Aristot.  Rhet.  III  1403  b,  doch  wohl  identisch  nait 
dem  Homeriker  Glaukon  bei  Plat.  Ion  530  c  d  und  Aristot.  Poet.  25  S.  1461  a. 

*  Diels,   Vorsokratiker  c.  48. 

*  Hiller,  Die  Fragmente  des  Glaukos  von  Rhegion,  Rh.  Mus.  XLI,  1886, 
S.  398  ff.,  Jacoby,  Art.  Glaukos  in  Pauly-Wissowa  VII  1418.  Über  Damastes 
Suidas  u.  d.  N. 

"  Plat.  Gorg.  518  b,  Athen.  XII  516  c,  Polyd.  VI  70  f. 
«  Birt,  Das  antike  Buchwesen,   Berlin  1882,   S.  430  ff. 


256  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

All  dies  mannigfaltige  Wissen  hat  Demokritos  aus  Abdera 
zu  beherrschen  und  in  seinem  Geiste  zusammenzufassen  ver- 
mocht (geb.  um  460)  ^.  Er  war  ein  Universalgenie  wie  im 
folgenden  Jahrhundert  Aristoteles;  wie  dieser  war  er  zugleich 
Naturforscher  und  Philosoph  oder,  wie  man  damals  sagte, 
Sophist;  und  er  hat  auf  beiden  Gebieten  Großes  geleistet,  das 
Höchste  darin,  daß  er  die  Ergebnisse  der  Naturforschung 
und  des  Denkens  zu  einer  einheitlichen  Weltanschauung  ver- 
schmolzen hat,  was  Aristoteles  nie  vollständig  gelungen  ist. 
Seine  zahlreichen  Schriften  umfaßten  so  ziemlich  alle  Zweige 
der  damaligen  Wissenschaft:  Mathematik,  Astronomie,  Geo- 
graphie, Medizin,  Biologie,  Physik,  Erkenntnistheorie,  Ethik, 
Philologie,  Kunstlehre.  In  seinem  Denken  steht  er  unter  dem 
Einflüsse  seines  großen  Landsmanns  Protagoras  (oben  S.  245  ff. ) . 
Namentlich  in  seiner  Ethik  hat  er  sich  eng  an  diesen  an- 
geschlossen. An  und  für  sich  ist  nichts  gut  und  schlecht, 
sondern  nur  in  Beziehung  auf  die  Empfindungen,  welche  die 
Dinge  in  uns  erregen.  Das  Recht  des  Stärkeren  ist  allerdings 
in  der  Natur  begründet,  aber  es  wird  gebändigt  durch  die 
Staatsordnung,  von  deren  Bestehen  unser  ganzes  Wohl  und 
Wehe  abhängig  ist.  Darum  besteht  die  erste  Tugend  in  der 
Pflichterfüllung  gegenüber  der  Gemeinschaft  und  den  einzelnen 
MitgHedern;  wer  diese  Pflicht  verletzt,  wer  raubt  und  mordet, 


^  So  Apollodor,  s.  Jacoby,  Apollodors  Chronik  S.  290  fE.  Der  Ansatz 
gründet  sich  auf  Demokrits  Angabe  im  MiKpöc;  bioiKoa|LiO(;,  er  sei  v^oi;  Kaxd 
irpeaßOxriv  ÄvaHayöpav  gewesen  (Diog.  Laert.  IX  41),  und  muß  also,  was  das 
Geburtsjahr  angeht,  ungefähr  richtig  sein;  ob  er  freilich,  wie  angegeben  wird, 
ein  Alter  von  90  (Diod.  XIV  11,  5)  oder  gar  von  109  Jahren  (Diog.  Laert.  IX 
39.  43)  erreicht  hat,  ist  mehr  als  zweifelhaft.  Daß  bei  Diod.  a.  a.  0.  angegebene 
Todesdatum  404/3  kann  also  sehr  wohl  richtig  sein.  Demokrit  selbst  gab  an^ 
daß  er  den  MiKpöi;  bidKoa|Lio?  730  Jahre  nach  der  Eroberung  von  Troia  ge- 
schrieben habe  (bei  Diog.  IX  41);  nur  wissen  wir  nicht,  welcher  troischen  Ära 
er  folgte.  Jedenfalls  gehört  seine  schriftstellerische  Tätigkeit  in  die  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges.  Die  sehr  umfangreiche  Sammlung  der  unter  Demo- 
krits Namen  überlieferten  Schriften  ist  durch  Thrasyllos  in  15  Tetralogien 
geordnet  worden;  es  mögen  manche  Werke  seiner  Schüler  darunter  gewesen 
sein.  Daß  aber  die  ethischen  Hauptschriften,  die  man,  um  Sokrates  den  Ruhm 
lassen  zu  können,  der  Begründer  der  wissenschaftlichen  Ethik  gewesen  zu  sein, 
Demokrit  so  lange  abgesprochen  hat,  echt  sind,  ist  heut  allgemein  anerkannt. 


Demokrit,  —  Atomistik.  257 


den  soll  man  totschlagen  wie  eine  wilde  Bestie.  Und  zwar 
gilt  das  auch  für  unseren  Verkehr  mit  den  Tieren;  nur  solche, 
die  „unrecht  tun  oder  tun  wollen",  ist  es  zu  töten  erlaubt. 
Das  Rechte  aber  sollen  wir  tun  nicht  aus  Furcht  vor  den 
Schrecken  der  Unterwelt,  die  nur  in  der  Einbildung  be- 
stehen, noch  vor  menschlicher  Strafe,  sondern  weil  es  das 
Rechte  ist,  aus  Achtung  vor  uns  selbst.  Das  Bewußtsein, 
unsere  Pflicht  getan  zu  haben,  gibt  uns  jene  heitere  Ge- 
mütsruhe (euGuiLiin),  die  das  höchste  Gut  ist,  das  wir  erreichen 
können.  Denn  Glück  und  Unglück  hängen  nicht  von 
äußeren  Dingen  ab,  sondern  in  unserer  Seele  wohnt  unser 
guter  oder  böser  Dämon,  und  nur  zur  Entschuldigung  ihres 
eigenen  Unverstandes  haben  die  Menschen  das  Wahnbild 
der  Tyche  erschaffen.  Dauernde  Befriedigung  geben  allein 
geistige  Genüsse,  die  Betrachtung  schöner  Kunstwerke,  und 
vor  allem  die  wissenschaftliche  Forschung;  denn  ,,die 
Bildung  ist  im  Glück  ein  Schmuck,  im  Unglück  eine  Zu- 
fluchtstätte". 

Auch  für  Demokrits  naturwissenschaftliches  Denken 
bildet  Protagoras'  Relativitätstheorie  den  Ausgangspunkt. 
Der  Sinnenschein  trügt,  aber  hinter  der  Welt  der  Erscheinungen 
liegt  die  reale  Welt,  die  wir  durch  unser  Denken  zu  erkennen 
vermögen.  Es  gibt  in  Wahrheit  nichts  als  die  Materie  und 
den  leeren  Raum;  und  zwar  besteht  die  Materie  aus  kleinsten 
Körperchen,  die  ewig  und  unveränderlich  sind,  und  die  Demo- 
krit deswecren  als  „Atome"  bezeichnet.    Sie  sind  einander  an 

O  ff 

Ouahtät  gleich,  aber  verschieden  an  Gestalt,  Größe  und  darum 
auch  an  Schwere;  kraft  dieser  Schtvere  fallen  sie  im  leeren 
Räume  nach  unten,  aber  mit  verschiedener  Geschwindigkeit, 
und  ballen  sich  infolge  dessen  zu  Körpern  zusammen.  Die 
Schwere  und  Härte  der  Körper  hängen  von  der  Menge  der 
Atome  ab,  aus  denen  sie  bestehen,  und  davon,  wie  dicht  die 
Atome  aneinander  gedrängt  sind;  Geschmack  und  Farbe 
von  dem  Eindruck,  den  die  Atome  nach  Größe  und  Gestalt 
auf  unsere  Sinne  hervorbringen.  Und  da  es  überhaupt 
nichts  gibt,  als  Atome  und  leeren  Raum,  so  muß  auch 
unsere  Seele  aus   Atomen  bestehen,    freilich  Atomen   feinster 

17 
Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  -*  ' 


258  VIII.  Abschnitt.  —  Die  Aufklärung. 

Art,    durch    deren    Bewegung    das    Denken    hervorgebracht 
wird  ^. 

So  war  denn  ein  System  der  Naturerklärung  von  groß- 
artiger Einfachheit  und  Folgerichtigkeit  geschaffen.  Um  den 
Kosmos  zu  bilden,  genügt  Demokrit  neben  der  qualitativ 
einheitlichen  Materie  eine  einzige,  empirisch  nachweisbare 
Naturkraft,  die  Gravitation.  Aber  erst  die  moderne  Natur- 
wissenschaft hat  ihm  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen;  seine 
eigene  Zeit  war  für  diese  Lehre  noch  nicht  reif.  Denn  eben, 
als  das  System  hervortrat,  war  die  Welt  mit  Naturphilosophie 
übersättigt,  und  andere  Probleme  standen  im  Vordergrund 
des  Interesses.  Auch  war  ja  Demokrits  System  nichts  anderes 
als  eine  Hypothese,  die  wohl  die  Forderungen  unseres  Denken 
befriedigt,   für  die  aber  ein  Beweis  nicht  zu  führen  war.     So 


^  Wie  Piaton  die  atomistische  Lehre  totschweigen  wollte,  so  hat  man 
später,  als  das  nicht  mehr  möglich  war,  in  der  platonischen  Schule,  um  Demokrit 
etwas  am  Zeuge  flicken  zu  können,  die  Behauptung  aufgestellt,  nicht  Demokrit 
sei  der  Urheber  dieser  Lehre,  sondern  ein  gewisser  Leukippos,  von  dem  man 
freilich  sonst  nichts  zu  sagen  wußte,  nicht  einmal  woher  er  gewesen  wäre.  Als 
angeblichen  Lehrer  Demokrits  machte  man  ihn  zum  Abderiten,  als  Gottes- 
leugner zum  Melier  (was  schon  im  Altertume  in  MiXriöioq  korrumpiert  worden 
ist),  wegen  des  Einflusses  der  eleatischen  Lehre  auf  den  Atomismus  zum  Eleaten 
und  Schüler  des  Parmenides  oder  Zenon.  Theophrastos  meinte,  Leukippos  habe 
den  |Li^Ya<;  bidKoa|uoi;  geschrieben,  der  sonst  überall  als  Werk  Demokrits  galt. 
Aristoteles  nennt  da,  wo  er  auf  die  atomistischen  Lehren  zu  sprechen  kommt, 
fast  immer  Demokrit  neben  Leukippos;  er  hat  also  offenbar  an  die  Existenz 
des  Leukippos  nicht  recht  geglaubt.  Epikur,  der  als  Demokriteer  doch  wissen 
mußte,  wie  die  Sachen  standen,  hat  denn  auch  die  Legende  von  Leukippos  aufs 
schärfste  zurückgewiesen:  oijbk  AeÜKmiröv  Tiva  -fefevf\aQai  q)iXöaoqpov  (Diog. 
Laert.  X  13).  Das  beweist  jedenfalls,  daß  Demokrit  in  seinen  Werken  Leukippos 
niemals  genannt  hatte,  was  er  doch  unbedingt  getan  haben  würde,  wenn  er 
diesem  das  Wesentlichste  seines  Systemes  verdankte.  Das  allein  würde  zur 
Entscheidung  der  Sache  genügen.  Auch  ist  es  ja  an  und  für  sich  klar,  daß  ein 
System  wie  die  Atomistik  nur  von  einem  großen  Naturforscher  herrühren  kann; 
ein  solcher  war  Demokrit,  daß  es  auch  Leukippos  gewesen  wäre,  ist  durch  nichts 
zu  erweisen.  Wenn  Diels  den  Beweis  führen  will,  der  Atomismus  sei  schon  vor 
Demokrit  nachweisbar,  so  ist  das  vollständig  mißlungen,  denn  die  Sachen  können 
auch  umgekehrt  liegen,  als  er  annimmt,  und  wir  wissen  ja  außerdem  nicht, 
wann  Demokrit  zu  schreiben  begonnen  hat.  Die  ganze  Frage  sollte  durch  die 
Bemerkungen  Rohdes,  Kl.  Schriften  I  205  ff^.  erledigt  sein,  die  Diels  nicht  zu 
widerlegen  vermocht  hat. 


Atomistik.  —  Athen  geistiger  Mittelpunkt.  —  Sparta.  259 


hat  die  Atomenlehre  bei  den  Zeitgenossen  kaum  Beachtung 
gefunden,  die  Schüler  aber,  die  Demokrit  hinterließ,  sind 
immer  mehr  in  erkenntnistheoretischen  Zweifeln  versunken 
und  haben  darüber  das  naturphilosophische  System  des 
Meisters  vernachlässigt,  bis  es  ein  Jahrhundert  später  Epikur 
aus  der  Vergessenheit  zog  und  zur  Grundlage  der  eigenen 
Lehre  machte. 

Dazu  kam  noch  ein  Zweites.  Demokrit  lebte  in  dem 
abgelegenen  Abdera  an  der  thrakischen  Küste,  und  er  hat 
zwar  zu  Studienzwecken  weite  Reisen  gemacht,  aber  es  ver- 
schmäht, in  der  Art  wie  sein  Landsmann  Protagoras  als 
Wanderlehrer  aufzutreten.  So  blieb  er  außerhalb  seiner 
engeren  Heimat  unbekannt,  namentlich  auch  in  Athen  ^. 
Und  Athen  wurde  eben  damals,  wie  es  schon  lange  der  Mittel- 
punkt des  Kunstlebens  war,  auch  zum  wissenschaftlichen 
Zentrum  der  Nation.  Hier  wirkte  in  Perikles'  Zeit  Anaxagoras, 
hier  haben,  wenn  auch  meist  nur  vorübergehend,  alle  be- 
deutenden Sophisten  gelehrt.  Nur  wer  in  Athen  sich  An- 
erkennung zu  erringen  vermochte,  konnte  zum  geistigen  Führer 
der  Nation  werden. 

Wie  anders  Sparta.  Auch  dies  hatte  einst  in  der  Pflege 
geistigen  Lebens  in  erster  Reihe  gestanden;  aber  diese  Zeit 
war  lange  vorüber.  Seit  den  Perserkriegen  hatte  man  hier  nur 
noch  den  einen  Gedanken,  den  bösen  Geist  der  Revolution 
nicht  ins  Land  zu  lassen  und  schloß  sich  infolgedessen  mit 
einer  Art  chinesischer  Mauer  gegen  alle  Neuerungen  ab. 
Wie  man  in  einer  Zeit  hochentwickelter  Geldwirtschaft  kein 
Gold  und  Silber  im  Verkehr  duldete  und  an  dem  alten  Eisen- 
geld festhielt,  so  wollte  man  hier  von  der  modernen  Musik 
und  der  modernen  Bildung  nichts  wissen,  konnten  doch  die 
meisten  Spartaner  kaum  lesen  und  schreiben  2).     So  bildete 

^  Demokr.  fr.  116  Diels  bei  Diog.  Laert.  IX  36  r|\0ov  yäp  €i?  ÄGrjvai; 
Kai  ouTi^  |ue  ^YvuJKev.  Noch  Piaton  hat  ihn  totschweigen  können,  wenn 
er  auch  vielleicht  an  einigen   Stellen  auf  ihn  anspielt. 

^  Isokr.  Panath.  209  oiibk.  ^pä\x\ji(XTa  |LiavGdvou0i,  251  f|v  Xäßaiai  töv 
ävaYVUJGÖ|Lievov.  Ganz  so  schlimm  ist  es  freilich  nicht  gewesen;  Ypd|U|uaTa 
?veKa  Tf|<;  XP^i«?  i\x.6.vQavov  sagt  Plut.  Inst.  Lac.  4  S.  237.  Vgl.  Aristot. 
Poltt.  V  1339  b. 

17* 


260  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

sich  eine  tiefe  Kluft  zwischen  Sparta  und  dem  übrigen  Hellas  ^. 
Die  Stadt,  die  der  Nation  einen  Tyrtaeos  und  Alkman  gegeben 
hatte,  hat  im  V.  und  IV.  Jahrhundert  keinen  einzigen  Mann 
mehr  hervorgebracht,  der  sich  auf  geistigem  Gebiete  aus- 
gezeichnet hätte. 


IX.  Abschnitt. 

Die  Reaktion. 

Neue  Gedanken  werden  zunächst  immer  angefeindet. 
Wieviel  mehr  mußte  das  bei  Lehren  der  Fall  sein,  die  alles 
Bestehende  vor  den  Richterstuhl  ihrer  Kritik  zogen,  bereit, 
es  rücksichtslos  zu  verwerfen,  wenn  es  die  Prüfung  nicht 
bestand,  einer  geistigen  Bewegung,  die  vor  nichts  Halt  machte, 
nicht  einmal  vor  dem  altgeheiligten  Götterglauben.  Die 
ganze  ältere  Generation,  die  nicht  mehr  umlernen  konnte 
oder  doch  wollte,  die  große  Masse  des  Volkes,  der  für  höhere 
Bildung  jedes  Verständnis  abging,  war  also  fest  überzeugt, 
daß  jeder  ,, Sophist",  d.  h.  nach  dem  damahgen  Sprach- 
gebrauch jeder  Lehrer  der  Philosophie  und  Rhetorik,  ein 
sittlich  verworfener  Mensch  sei;  etwa  so,  wie  heute  gläubige 
Katholiken  sich  einen  Freimaurer  vorstellen,  oder  viele  von 
denen,  die  sich  Gebildete  nennen,  einen  Materialisten.  Daß 
der  Unterricht  solcher  Männer  nur  zum  Verderben  der  Jugend 
führen  könne,  ergab  sich  aus  solchen  Prämissen  von  selbst. 
So  unbegründet  nun  dieser  Vorwurf  in  den  meisten  Fällen 
auch  war  —  man  denke  nur  an  die  Verurteilung  des  Sokrates 
auf  eben  diese  Anklage  hin  —  so  fehlte  es  dafür  doch  nicht 
an  einem  gewissen  Schein  der  Berechtigung.  Denn  was  die 
Hörsäle  der  Sophisten  füllte,  war  viel  weniger  der  Wunsch 
nach  abstrakter  philosophischer   Bildung,   als  das   Bedürfnis 


^  I  77,  6  äjaiKTa  yop  fä  xe  koö'  i)(iä<;  av-covc,  vömina  xoTi;  äXXoiq  ^x^^^' 
Kai  irpoa^Ti  ei<;  ^Kaaxoq  iZubv  ouxe  xoüxok;  xP^toi,  ouö'  die,  f]  ä\\r\  'EXXäq 
vofiiZei. 


Sparta.  —  Die  Aufklärung  und  die  öffentliche  Meinung.  261 


nach  Aneignung  der  praktisch  verwertbaren  Redekunst; 
ähnHch  wie  heute  unsere  Universitäten  sich  leeren  würden, 
wenn  sie  aufhören  wollten,  zu  einem  Brotstudium  anzu- 
leiten. Die  Rhetorik  aber  ist  an  und  für  sich  sitthch  indifferent. 
Sie  ist  eine  Waffe,  die  dem,  der  sie  besitzt,  eine  Überlegenheit 
über  alle  anderen  gibt,  oder  damals  doch  gab;  für  den  Ge- 
brauch dieser  Waffe  ist  der  Lehrer  so  wenig  verantwortlich, 
wie  der  Verkäufer  eines  Revolvers  verantwortlich  ist  für  den 
Mord,  den  etwa  der  Käufer  damit  begeht.  Der  Redner  hat 
als  Redner  nur  die  eine  Aufgabe,  die  Zuhörer  von  der  Gerechtig- 
keit der  Sache  zu  überzeugen,  die  er  vertritt;  ob  diese  Sache 
in  Wahrheit  gerecht  ist  oder  nicht,  ist  dabei  zunächst  völlig 
gleichgültig.  Und  je  schlechter  eine  Sache  steht,  um  so  größere 
Geschicklichkeit  von  selten  des  Verteidigers  wird  erfordert, 
wenn  sie  trotzdem  siegreich  durchgefochten  werden  soll. 
Insofern  hatten  die  Gegner  der  Sophistik  nicht  so  unrecht, 
wenn  sie  meinten,  die  neue  Kunst  liefe  darauf  hinaus,  die 
schwächere  Sache  zur  stärkeren  zu  machen  (töv  iittou  Xötov 
KpeiTTuu  TTOieTv).  Aber  ungerechtfertigt  war  es,  wenn  sie  der 
Rhetorik  zum  Vorwurf  machten,  daß  sie  in  ein  System  brachte, 
was  empirisch  geübt  worden  war,  so  lange  eine  menschliche 
Gesellschaft  bestand.  Und  noch  ungerechtfertigter,  wenn 
man  die  einzelnen  Lehrer  der  Beredsamkeit  dafür  verant- 
wortlich machte.  Um  so  mehr,  als  die  Sophisten,  gerade 
weil  sie  die  Gefahren  einer  einseitigen  Ausbildung  in  der 
formalen  Rhetorik  sehr  wohl  erkannten,  gleichzeitig  bemüht 
waren,  ihre  Schüler  zu  sittlich  tüchtigen  Männern  auszubilden. 
Daß  manche  unlautere  Elemente  in  den  Kreis  der  Sophisten 
sich  eindrängten,  daß  manche  von  denen,  die  aus  ihren  Schulen 
hervorgegangen  waren,  von  den  erworbenen  Kenntnissen 
einen  gewissenlosen  Gebrauch  machten,  ist  natürlich;  aber 
die  neue  Bildung  deswegen  anzuklagen,  war  ungefähr  ebenso 
berechtigt,  als  wenn  jemand  heute  die  Eisenbahnen  abschaffen 
wollte,  weil  hin  und  wieder  einmal  ein  Unfall  passiert. 

Nicht  geringeren  Anstoß  gaben  die  naturwissenschaft- 
lichen Lehren  der  Vertreter  der  Wissenschaft.  Daß  Anaxagoras 
die  Gestirne  für  glühende  Steinmassen  erklärte,  erschien  der 


262  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

öffentlichen  Meinung  als  Gotteslästerung,  und  es  ist  ihm 
daraufhin  der  Prozeß  gemacht  worden,  der  ihn  zwang,  Athen 
zu  verlassen,  obgleich  er  einen  Perikles  zum  Beschützer  hatte 
(siehe  unten  Abschnitt  X).  Freilich  fand  er  in  Lampsakos 
ehrenvolle  Aufnahme  ^;  man  war  eben  im  asiatischen  Griechen- 
land, wo  die  Wiege  der  Wissenschaft  gestanden  hatte,  auf- 
geklärter als  in  Athen,  das  nicht  ohne  Grund  den  Anspruch 
erhob,  die  gottesfürchtigste  Stadt  in  Hellas  zu  sein.  Auch 
Prqtagoras,  so  vorsichtig  er  sich  über  die  Götter  ausgedrückt 
hatte,  konnte  doch  schheßhch  einer  Anklage  wegen  Religions- 
frevels  nicht  entgehen,  und  hielt  es  für  klug,  sich  dem  Richter- 
spruch durch  die  Flucht  zu  entziehen  (etwa  415)  ^).  Selbst 
Euripides  soll  einmal  einen  solchen  Prozeß  zu  bestehen  gehabt 
haben,  der  aber,  falls  es  wirklich  dazu  gekommen  ist,  mit  seiner 
Freisprechung  geendet  hat^). 

Solche  Polizeimaßregeln  konnten  der  Wissenschaft  natür- 
lich keine  Gefahr  bringen.  Vielmehr  war  es  die  Wissenschaft 
selbst,  die  ihren  Gegnern  den  Weg  bahnte.  Die  Spekulation 
hatte  sich  mit  kühnem  Mute  herangewagt  an  die  höchsten 
Probleme;  aber  noch  fehlte  die  empirische  Grundlage,  auf 
der  es  möglich  gewesen  wäre,  diese  Fragen,  wenn  auch  nicht 
zu  lösen,  so  doch  der  Lösung  näher  zu  führen.  Was  die  Philo- 
sophie bot,  waren  im  wesentlichen  nichts  anderes  als  Hypo- 
thesen, die  auf  dem  Wege  der  Deduktion  aus  allgemeinen 
Prinzipien  abgeleitet  waren.  So  wurde  denn  eines  dieser 
Systeme  nach  dem  anderen  mit  leichter  Mühe  von  der  Kritik 
vernichtet^  bis  schließhch  die  Wissenschaft  dahin  gelangte, 
überhaupt  die  Möglichkeit  aller  wahren  Naturerkenntnis 
zu  leugnen  (oben  S.  242).  Schon  der  alte  Xenophanes  hatte 
das  ausgesprochen: 


1  Diog.  Laert.  II  14  f. 

^  S.  unten  2.  Abt.  §  154.  Daß  die  Anklage  auf  Asebie  lautete,  sagt  Timon 
fr.  48  W  \ 

^  Satyros  Leben  des  Eurip.  X  fr.  39  {Oxyrh.  Pap.  IX).  Der  Ankläger  soll 
Kleon  gewesen  sein,  so  daß  die  Sache  vor  422  fallen  würde.  Vgl.  Aristot  Rhet. 
III  1416  a.  . 


Euripides'  Palinodie.  —  Die  religiöse  Bewegung.  263 


Selbst  wer  die  volle  Wahrheit  uns  enthüllte, 
Nie  würd'  er  wissen,  ob  es  Wahrheit  ist, 
Denn  alles  was  wir  sagen  bleibt  Vermutung. 

Die  Relativitätstheorie  des  Protagoras,  die  Skepsis  des  Gorgias 
sind  nur  eine  weitere  Ausführung  dieses  Gedankens.  Diese 
Resignation  war  ja  bei  dem  damahgen  Stande  des  Wissens 
nicht  ganz  unberechtigt;  der  Fehlschluß  lag  nur  darin,  daß 
man  an  Stelle  eines  mutigen  ignoramus  ein  feiges  ignorabimus 
setzte. 

Es  ist  diese  Stimmung,  der  der  greise  Euripides  Ausdruck 
gibt,  in  einem  der  letzten  Dramen,  die  er  geschrieben  hat, 
den  Bakchen.  Hier,  an  der  Schwelle  des  Grabes,  wendet  der 
Dichter  von  der  ganzen  Weltanschauung  sich  ab,  deren  wirk- 
samster Vorkämpfer  er  bis  dahin  gewesen  war.  Das  ganze 
Stück  ist  eine  Verherrhchung  jenes  enthusiastischen  Dionysos- 
dienstes, welcher  der  orphischen  ReHgion  und  auch  den 
thrakisch-phrygischen  Geheimkulten  zugrunde  liegt.  Es 
predigt  die  Lehre,  daß  menschliche  Weisheit  nichts  ist  gegen- 
über der  von  der  Zeit  geheiligten  Überlieferung.  Das  Leben 
ist  kurz;  es  ist  Torheit  zu  grübeln  über  Dinge,  die  keines 
Sterblichen  Geist  erfassen  kann.  Was  das  schlichte  Volk 
glaubt,  dem  soll  man  sich  anschließen.  Es  kostet  ja  so  wenig, 
die  Macht  der  Gottheit  anzuerkennen,  die  durch  Naturgesetz 
gegeben  und  deren  Verehrnug  durch  die  alte  menschliche 
Satzung  geboten  ist  ^.  So  entsagt  der  Dichter  hier  allem, 
was  sein  langes  Leben  hindurch  den  besten  Teil  seines  Strebens 
gebildet  hatte.  Es  ist  nicht  das  Alter  allein,  das  ihm  den  Sinn 
trübt;  es  ist  ebenso  die  Zeitströmung,  die  in  seinen  Worten 
zum  Ausdruck  kommt.  Das  Wissen,  wie  es  in  den  Schulen 
der  Sophisten  gelehrt  wurde,  konnte  das  Bedürfnis  weiter 
Kreise   nicht   befriedigen;    sie   verlangten   nach    Glauben. 

Freilich,   eine  Rückkehr  zu  dem  frommen  Glauben  der 
Väter  war  genau  so  unmöglich,  wie  die  Rückkehr  zu  der  Ver- 
fassung  der   Ritterzeit,   welche   die   politische   Reaktion   an-  . 
strebte.      Die   Sophistik   hatte   zu   gründliche   Arbeit    getan. 
Aber  das  religiöse  Bedürfnis  blieb,  und  je  weniger  es  in  der 

1  Bakch.  200  ff.  395  ff.  430  f.  890  ff. 


264  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

Staatsreligion  Befriedigung  fand,  desto  mehr  kamen  andere 
Kulte  in  Aufnahme,  Jene  rehgiösen  Reformbestrebungen, 
die  im  VI.  Jahrhundert  auf  enge  Kreise  der  höheren  Gesell- 
schaftsklassen beschränkt  geblieben  waren,  begannen  mehr 
und  mehr  in  den  Massen  Boden  zu  finden.  Die  griechische 
Welt  füllte  sich  mit  orphischen  Bettelpriestern  und  Wahr- 
sagern. Sie  drohten  mit  der  ewigen  Verdammnis  allen,  die 
an  ihre  Predigt  nicht  glaubten;  dem  aber,  der  sich  in  ihre 
Sekte  aufnehmen  ließ,  versprachen  sie,  was  er  nur  wünschen 
mochte:  Vergebung  der  eigenen  Sünden  und  der  Sünden  der 
Vorfahren,  ein  seliges  Leben  im  Jenseits,  Zaubermittel,  um 
sich  hier  unten  an  seinen  Feinden  zu  rächen.  Das  alles  stand 
ja  schwarz  auf  weiß  in  den  Schriften  des  Orpheus  und  des 
Musaeos  ^.  Es  fanden  sich  denn  auch  Gläubige  in  Menge; 
recht  fromme  Leute  liefen  jeden  Monat  mit  Weib  und  Kind 
zu  den  orphischen  Weihen  ^.  Den  in  diesem  Glauben  Ver- 
storbenen legte  man  wohl  Täfelchen  ins  Grab,  mit  Versen 
aus  den  orphischen  Schriften,  bestimmt,  der  Seele  über  ihr 
Verhalten  bei  der  Ankunft  im  Hades  Anweisung  zu  geben, 
und  sie  über  ihr  Schicksal  im  Jenseits  zu  beruhigen  ^. 

Noch  größeren  Zulauf  fanden  die  Mysterien,  die  ja  mit 
der  orphischen  Lehre  so  nahe  verwandt  waren.  Eleusis  sah 
im  V.  Jahrhundert  seine  Glanzzeit,  wozu  allerdings  die  poli- 
tische Stellung  Athens  das  ihrige  beigetragen  hat.  Aus  allen 
Teilen  von  Hellas  strömten  die  Gläubigen  zu  der  heihgen 
Feier  zusammen;  der  alte  Tempel  vermochte  die  Menge  der 
Besucher  nicht  mehr  zu  fassen  und  es  wurde  nötig,  einen 
Neubau  zu  errichten,  den  Iktinos,  der  Schöpfer  des  Parthenon, 
leitete  *.     Auf  Anregung  des  delphischen  Orakels  bestimmte 

»  Piaton  V.  Staat  II  S.  363  c  ff.,  vgl.  oben  I  1  S.  433. 

^  Theophr.   Charakt.  16. 

^  Goldplättchen  mit  solchen  Versen  (aus  dem  IV.  Jahrhundert)  sind 
mehrfach  in  Gräbern  Unteritaliens  gefunden  worden,  dem  alten  Sitze  der  pytha- 
goreischen Lehre  (oben  I  1  S.  432,  Dieterich,  De  hymnis  orphicis,  Dissert.  Mar- 
burg 1891,   Nekyia   S.   81  ff.,   Leipzig  1894). 

*  Find.  fr.  137  A,  Sophokl.  fr.  753  N  \  Zweimonatiger  Gottesfrieden 
für  die  Besucher  des  Festes:  CIA.  I  1  und  IV  1  S.  3  (bald  nach  den  Perser- 
kriegen).    Über  den  Neubau  des  Tempels  Plut.  Per.  13  und  oben  S.  207. 


Mysterien  von  Eleusis.  —  Mysterien  von  Samothrake.  265 

ein  athenischer  Volksbeschluß  um  die  Mitte  des  V.  Jahr- 
hunderts, daß  von  allem  in  Attika  und  den  Bundesstaaten 
geernteten  Getreide  eine  Abgabe  an  den  eleusinischen  Tempel 
entrichtet  würde,  zum  Danke  dafür,  daß  einst  Demeter  den 
Menschen  den  Feldbau  gelehrt  hatte;  und  zwar  sollte  ^/^%  des 
Ertrages  an  Weizen,  Vi2%  des  Ertrages  an  Gerste  der  Göttin 
geweiht  werden.  Auch  manche  von  Athen  unabhängige 
Staaten  haben  diese  Abgabe  geleistet,  selbst  als  das  athenische 
Reich  schon  in  Trümmern  lag;  Athen  und  seine  Kleruchien 
sind  dem  alten  Brauch  noch  in  Alexanders  Zeit  nachgekommen^. 
Zu  kaum  geringerem  Ansehen  gelangten  die  Mysterien, 
die  auf  der  Insel  Samothrake  im  Heiligtum  der  Kabiren 
begangen  wurden.  Diese  ,, großen  Götter",  wie  man  meist 
schlechtweg  sagte,  galten  als  Retter  in  jeder  Not  und  Gefahr 
und  namentlich  die  Seefahrer  empfahlen  sich  ihrem  Schutze  2. 
Der  Ursprung  ihres  Kultus  geht  in  die  vorhellenischen  Zeiten 
zurück;  ist  doch  Samothrake  so  viel  wir  wissen  überhaupt 
niemals  von  Griechen  besiedelt  worden  (oben  IIS.  100), 
und  auch  später,  als  die  Insel  längst  hellenisiert  war,  haben 
sich  im  Ritual  Reste  der  alten  Sprache  erhalten.  Ebenso 
finden  wir  den  Kult  der  Kabiren  auf  dem  benachbarten  Lemnos, 
das  erst  am  Ausgang  des  VI.  Jahrhunderts  griechisch  ge- 
worden ist,  und  in  der  Troas,  deren  griechische  Kolonisation 
kaum  über  das  VII.  Jahrhundert  hinaufreicht.     Wohl  durch 

1  CIA.  IV  1  27  b  S.  59  =  Dittenb.  Syll.  ^  20,  aus  der  Zeit  zwischen  444 
und  dem  Anfang  des  peloponnesischen  Krieges.  Daß  die  Abgabe  noch  um  380 
auch  von  unabhängigen  Staaten  entrichtet  wurde,  zeigt  Isokr.  Paneg.  31;  in 
Alexanders  Zeit  (329/8)  steuerten  nur  noch  Athen  und  seine  Kleruchien,  vgl. 
die  eleusinische  Tempelrechnung  CIA.  IV  2,  834  b,  Foucart,  Bull,  de  Corr.  Hei'. 
VIII  (1884)  S.  211. 

2  Robert  bei  Preller,  Mythol.  I  *  847  ff. ;  der  Artikel  MeTCxXoi  Oeoi  in 
Roschers  Lexikon  ist  ziemlich  wertlos.  Der  Name  wurde  früher  von  phoen.  kbr 
(Vokalisierung  unbekannt),  hebr.  kabir  ,, gross"  abgeleitet;  doch  steht  diese 
Annahme  ganz  in  der  Luft,  so  lange  der  Kult  der  Kabiren  bei  den  Semiten 
nicht  nachgewiesen  ist  (Herod.  III  37  beweist  nichts).  Est  enim  quoddam  genus 
argumeniorum  velitare  et  ad  omnem  usum  aptum  illud  ex  nominibus  ductum,  quo 
res  maximal  effici  possunt  (Lobeck,  Aglaophamus  S.  1282,  die  ganze  Stelle  ist 
sehr  lesenswert).  Über  das  Wesen  der  Kabiren  haben  wir  nur  Vermutungen, 
die  ich  hier  nicht  um  eine  neue  vermehren  will. 


266  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 


Vermittlung  der  aeolischen  Ansiedler  ist  dieser  Kultus  dann-, 
etwa  im  VI.  Jahrhundert  nach  dem  boeotischen  Mutterlande 
gelangt,  wo  die  Kabiren  in  Anthedon  und  bei  Theben  Tempel 
hatten,  und  ebenfalls  Mysterien  zu  ihrer  Ehre  gefeiert  wurden  ^. 
Auch  auf  den  Inseln  des  Aegaeischen  Meeres  und  an  dessen 
thrakischen  und  kleinasiatischen  Küsten  hat  sich  der  Dienst 
der  Kabiren  verbreitet;  doch  hat  von  allen  diesen  Stätten 
nur  Samothrake  eine  panhellenische  Bedeutung  gewonnen, 
und  auch  dieses  erst  seit  der  Zeit  des  peloponnesischen 
Krieges  ^. 

In  die  griechischen  Kolonien  an  den  Küsten  der  Bar- 
barenländer sind  fremde  Kulte  natürlich  schon  sehr  früh 
eingedrungen.  So  w^urde  der  aegyptische  Ammon  zum  Haupt- 
gott von  Kyrene  ^,  während  der  Dienst  der  Kybele  bei  den 
Griechen  Kleinasiens  Eingang  fand  •*.  Im  V.  Jahrhundert 
begannen  dann  auch  die  Handels-  und  Industriestädte  des 
griechischen  Mutterlandes  sich  mit  Orientalen  zu  füllen; 
da  gab  es  lydische,  phrygische,  syrische,  aegyptische  Kauf- 
leute  in  Menge  ^,  und  die  Sklaveilmassen,  die  immer  mehr 
anschwollen,  stammten  in  ihrer  großen  Mehrzahl  aus  den 
Ländern  des  Ostens  oder  aus  Thrakien.  Alle  diese  Barbaren 
hielten  zäh  fest  an  ihrem  heimischen  Kultus;  die  einzelnen 
Landsmannschaften  schlössen  sich  in  Korporationen  zu- 
sammen, um  im  Hause  eines  der  Mitglieder  die  heilige  Hand- 


1  Über  das  Kabirion  bei  Theben  Athen..  Mitteil.  XIII  (1888)  S.  81  ff., 
412  ff.,  Kern,  Hermes  XXV  (1890)  S.  1  ff.  Die  Ausgrabungen  haben  gezeigt, 
daß  orphische  Elemente  in  den  boeotischen  Kabirenkultus  eingedrungen  sind. 
Der  Athener  Methapos,  der  diesen  Kult  gestiftet  haben  soll  (Paus.  IV  1,  7), 
ist  rein  mythisch. 

*  Archäologische  Untersuchungen  auf  Samothrake,  2  Bde.,  Wien  1875.  1880, 
Rubensohn  a.  a.  O.  Älteste  Erwähnungen  dieser  Mysterien  Herod.  II 51,  Aristoph. 
Fried.  277. 

'  E.  Meyer,  Ammon  in  Roschers  Lexikon. 

*  In  der  uns  erhaltenen  Literatur  ward  die  Göttin  (unter  dem  Namen 
KüßrjXK;)  zuerst  erwähnt  bei  dem  Ephesier  Hipponax  (fr.  121)  in  der  II.  Hälfte 
des  VI.  Jahrhunderts. 

5  Xen.  V.  d.  Eink.  II  3;  zahlreiche  Belege  dafür  auch  in  den  attischen 
Inschriften. 


Mysterien  von  Samothrake.  —  Aufnahme  fremder  Kulte.  267 

lung  ZU  begehen  ^,  Das  Fremdartige  dieser  Zeremonien,  das 
Geheimnis,  mit  dem  sie  sich  meist  umgaben,  konnte  nicht 
verfehlen,  einen  tiefen  Eindruck  auf  die  griechische  Be- 
völkerung zu  machen;  fromme  Gemüter  glaubten  hier  den 
Weg  zum  Heil  gefunden  zu  haben.  So  machten  die  fremden 
Religionen  zahlreiche  Proselyten,  und  besonders  waren  es, 
wie  immer  in  solchen  Fällen,  die  Frauen,  die  sich  dazu  herbei - 
drängten  ^. 

In  dieser  Weise  gelangte  schon  um  die  Zeit  der  Perser- 
kriege der  Dienst  der  phrygischen  Göttermutter  auch  nach 
dem  europäischen  Griechenland;  in  Athen  wurde  ihr  ein 
Heiligtum  am  Markte  errichtet,  für  das  Pheidias'  Schüler 
Agorakritos  die  Statue  fertigte.  Wenig  später,  etwa  in  der 
ersten  Hälfte  des  IV.  Jahrhunderts,  erhielt  die  ,, große  Mutter" 
auch  in  Olympia  einen  Tempel  ^.  Es  folgte  der  ebenfalls 
phrygische  Sabazios,  ein  dem  Dionysos  verwandter  Gott, 
dessen  Kult  mit  dem  Kult  der  Göttermutter  aufs  engste 
verbunden  war;  die  phrygisch-thrakischen  Korybanten,  die 
thrakischen  Göttinnen  Kotyto  und  Bendis;  die  letztere  erhielt 
um  die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  einen  Tempel  im 


^  Foucart,  Des  Associations  religieuses  chez  les  Grecs,  Paris  1873. 

*  Aristoph.  Lysistr.  387  ff.,  vgl.  auch  Euripides  Bakchen. 

'  Find.  fr.  79.  80;  erste  Erwähnung  des  Staatskultes  der  jarirrip  in  Athen 
CIA.  I4  (bald  nach  den  Perserkriegen);  wir  wissen  freihch  nicht,  ob  hier  die 
Göttermutter  gemeint  ist  oder  Demeter,  die  in  Agrae  am  Ilisos  unter  dem  Namen 
ILiriTrip  verehrt  wurde  (CIA.  I  273,  vgl.  201).  Die  Statue  des  Agorakritos  in  dem 
Metroon  am  Markte  (Phn.  XXXVI  17,  dazu  Michaehs,  Athen.  Mitteil.  II  S.  1. 
A.  2)  stellte  die  Göttin  dar  mit  Löwen  am  Thron  und  einem  Tympanon  in  der 
Hand  (Arrian.  Peripl.  Pont.  Eux.  11  S.  9,  vgl.  das  attische  Relief  bei  Röscher 
Lexikon  II  1663);  also  galt  sie  ihm  und  seinen  Auftraggebern  für  die  phrygische 
Göttermutter.  Damit  stimmen  die  Tempellegenden  (bei  Photios  und  Suid. 
lariTpaYÜpTriq  und  Schol.  Aristoph.  Pluios  431).  Vgl.  den  Ausspruch  des  An- 
tisthenes:  Kai  y\  inrixrip  TiiJv  öeiüv  Opuyia  iOTiv  (Diog.  Laert.  VI  1).  Über 
einen  geheimnisvollen  Zusammenhang  zwischen  dem  Metroon  und  dem  un- 
mittelbar daneben  liegenden  Buleuterion  ist  in  neuerer  Zeit  viel  gefabelt  worden; 
aber  wenn  im  IV.  Jahrhundert  das  Staatsarchiv  sich  im  Metroon  befand,  so 
erklärt  sich  das  sehr  einfach  aus  der  Nähe  des  Rathauses.  Wahrscheinlich  ist 
das  Metroon  eben  in  Agorakritos'  Zeit,  also  unter  Perikles,  erbaut  worden.  — 
Über  das  Metroon  in  Olympia  Baudenkmäler  von  Olympia  (Berlin  1892)  S.  39  f. 


268  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

Peiraeeus,  bei  dem  ihr  alljährlich  ein  glänzendes  Fest  mit 
Fackelläufen  gefeiert  wurde  ^.  Aus  Kypros  kam  der  Kult  des 
Adonis  und  der  Aphrodite  von  Paphos  2.  Der  Dienst  des 
Ammon  gelangte  aus  Kyrene  nach  dem  gegenüberliegenden 
Lakonien,  wo  dem  Gott  in  Sparta  und  dessen  Hafenstadt 
Gytheion  Tempel  errichtet  wurden;  schon  Pindar  dichtete 
einen  Hymnus  auf  ihn,  und  stiftete  ihm  auf  der  Burg  von 
Theben  eine  Statue.  Seit  dem  Ausgang  des  V.  Jahrhunderts 
gewann  das  Orakel  des  Ammon,  auf  der  libyschen  Oase, 
in  Hellas  ein  Ansehen,  kaum  geringer  als  das  der  altnationalen 
Orakelstätten  von  Dodona  und  Delphi  ^. 

Bereits  um  die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  waren 
die  meisten  dieser  orientalischen  Kulte  in  Athen  weit  ver- 
breitet. Alle  Augenblicke  zogen  Prozessionen  der  Verehrer 
des  Sabazios  und  der  ,, großen  Mutter"  unter  wüstem  Lärm 
durch  die  Straßen;  am  Adonisfest  hallte  die  Stadt  wieder 
von  den  Klageliedern  der  Weiber  um  den  Gott,  der  in  der 
Blüte  der  Jugend  dem  Tode  verfallen  war  *.  Besonders  drängte 
sich  das  Volk  zu  den  Weihen,  die  mit  den  phrygisch-thrakischen 
Kulten  verbunden  waren.  Die  Gläubigen  versammelten  sich 
des  Nachts,  bei  rauschender  Flötenmusik,  unter  Trommel- 
wirbel und  wildem  Geheul;  bald  drehte  sich  alles  in  rasendem 
Tanze,  bis  die  Ekstase  auf  den  höchsten  Grad  gesteigert  war. 
Dann  setzten  die  neu  aufzunehmenden  Mitglieder  sich  nackt 
auf  den  heiligen  Schemel;  dort  wurden  sie  mit  Erde  und  Kleie 
abgerieben,  und  dann  mit  Wasser  gereinigt;  dabei  wurden 
Stellen  aus  den  rituellen  Schriften  verlesen,  voll  phrygischer 


^  Sabazios:  Aristoph.  Lysistr.  388,  Vögel  875,  Wesp.  9  f.,  Hören  fr.  566 
Kock;  Kotyto  schon  Aeschyl.  fr.  57  N  ^  (aus  den  Edonen),  und  besonders  Eupolis 
Bapten,  Rapp  in  Roschers  Lexikon  Art.  Kotys;  über  die  Korybanten  Immisch 
ebend.  Art.  Kurefen;  über  Bendis  Piaton  im  Eingang  der  Bücher  vom  Staate, 
ihr  Kult  als  Staatskultus  bezeugt  CIA.  I  210  fr.  k  S.  93  (Anfang  des  peloponne- 
sischen Krieges),   CIA.   II  741   (aus  334/3). 

*  Adonis:  Aristoph.  Frieden  420,  Lysistr.  389  ff.,  Plut.  Nik.  13,  Alk.  18. 
Im  Jahre  333  erhielten  die  in  Athen  ansässigen  Metoeken  aus  Kition  auf  Kypros 
die  Erlaubnis  zum  Bau  eines  Aphroditetempels  (CIA.   II  168). 

'   Über  Ammon  vgl.  den  Artikel  Eduard  Meyers  in  Roschers  Lexikon. 

*  Aristoph.  und  Plut.  a.  a.  0.  (oben  A.  2),  Demosth.  v.  Kr.  259  f. 


Die  fremden  Kulte  u.  d.  öffentliche  Meinung.  —  Einfluß  a.  d,  griech.  Kulte.  269 

Brocken,  die  kein  Mensch  verstand;  zum  Schluß  sprach  der 
Eingeweihte  die  heihge  Formel:  ,,ich  bin  der  Sünde  entflohen, 
ich  habe  das  Heil  gefunden".  Daran  schlössen  sich  dann  weiter 
Darstellungen  aus  der  heiligen  Legende,  wobei  die  scham- 
losen Symbole  des  orientalischen  Aberglaubens  offen  zur 
Schau  gestellt  wurden.  Da  die  Hefe  des  Volkes,  beide  Ge- 
schlechter vermengt,  an  diesen  nächtHchen  Weihen  Teil 
nahm,  und  jede  staatliche  Aufsicht  fehlte,  war  den  ärgsten 
Ausschweifungen  hier  Tür  und  Tor  geöffnet. 

Die  große  Mehrzahl  der  Gebildeten  sah  natürlich  mit 
Ekel  auf  solches  Treiben.  Die  Komödie  wurde  nicht  müde, 
diesen  wüsten  Aberglauben  von  der  Bühne  herab  dem  Ge- 
lächter der  Zuschauer  preis  zu  geben;  Aristophanes  schrieb 
ein  eigenes  Stück,  die  Hören,  dagegen,  an  dessen  Schluß 
,,der  Phryger,  der  Flötenbläser,  der  Sabazios"  mit  Schimpf 
und  Schande  zur  Stadt  hinausgejagt  wurde.  Auch  das  del- 
phische Orakel,  das  die  Konkurrenz  der  neuen  Gottheiten 
wie  begreiflich  sehr  ungern  sah,  ermahnte  wiederholt,  die 
Götter  nach  dem  Brauch  der  Väter  zu  ehren  ^.  Aber  die  großen 
Handelsstädte  konnten  den  zahlreichen  ansässigen  Fremden 
die  freie  Religionsübung  nicht  beschränken,  und  auch  unter 
der  Bürgerschaft  hatten  die  neuen  Kulte  bereits  zu  feste 
Wurzeln  geschlagen,  als  daß  Polizeimaßregeln  noch  irgend 
welchen  Erfolg  versprochen  hätten.  Man  ließ  also  die  Dinge 
gehen  und  kam,  wie  wir  gesehen  haben,  schheßhch  dahin, 
eine  Reihe  dieser  Kulte  in  die   Staatsreligion  aufzunehmen. 

Auch  auf  die  griechischen  Geheimkulte  haben  diese 
orientalischen  Rehgionen  Einfluß  geübt;  der  Kult  der  Götter- 
mutter und  der  ihr  verwandten  Gottheiten  drang  in  die  orphi- 
schen  Mysterien  ein  und  verband  sich  darin  mit  dem  Dionysos - 
dienste  ^.  So  begann  hier  jene  Theokrasie  sich  vorzubereiten, 
die  auf  die  spätere  Entwicklung  der  Rehgion  des  Altertums 
von  so  unermeßlichem  Einfluß  gewesen  ist.  Vor  der  Unsitt- 
lichkeit    des    asiatischen    Gottesdienstes    aber    bewahrte    die 


1  Xen.  Denkw.   IV  3,  16,  Cic.   Gesetze  II  16,  40. 

"  Eurip.  Kreter  fr.  472  N  -.    Altorphisch  kann  das  nicht  wohl  sein,  da  die 
Göttermutter  in  der  orphischen  Theogonie  keine   Stelle  hat. 


270  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 


Orphiker  ihre  asketische  Lehre,  die  geschlechtliche  Enthaltsam- 
keit vorschrieb,  oder  wenigstens  als  etwas  verdienstliches  pries. 
Daß  freilich  auch  hier  nur  zu  oft  hinter  der  frommen  Maske 
ganz  andere  Wünsche  sich  bargen,  liegt  in  der  Natur  der  Sache 
und  kehrt  auch  sonst  bei  asketischen  Rehgionen  ganz  ebenso 
wieder  ^. 

Reinere  Anschauungen  bot  der  Pythagoreismus.  Aus 
dieser  Quelle  stammt  wahrscheinlich  die  Vorstellung,  daß  die 
Seele  des  Frommen  und  Gerechten  nach  dem  Tode  in  den 
Himmel  eingeht,  und  nur  der  Leib  auf  Erden  zurückbleibt. 
Sie  findet  sich  in  der  uns  erhaltenen  Literatur  zuerst  bei  dem 
Sikelioten  Epicharmos,  dessen  Weltanschauung  ja  so  vielfach 
von  der  pythagoreischen  Lehre  beeinflußt  ist  ^,  Um  den 
Anfang  des  peloponnesischen  Krieges  hat  dieser  Glaube  dann 
auch  in  Athen  Verbreitung  gefunden.  In  der  Grabschrift, 
welche  der  Staat  den  vor  Poteidaea  gefallenen  Bürgern  setzen 
ließ,  wird  gesagt,  daß  die  Seelen  dieser  Tapferen  in  den  Äther 
eingegangen  seien;  wohl  das  einzige  Beispiel  eines  Hinweises 
auf  eine  Fortdauer  nach  dem  Tode  in  einem  öffentlichen 
Denkmale  dieser  Zeit  ^.  Ebenso  hat  Euripides  dieser  An- 
schauung mehrfach  Ausdruck  gegeben  ^.  Zu  anderen  Zeiten 
wieder  hatte  er  orphische  Anwandlungen^: 

Wer  weiß  es,  ob  das  Leben  nicht  der  Tod, 
Und  erst  der  Tod  dort  drüben  Leben  heißt? 


^  Eur.  Hippol.  956  öripeuouai  yöp  cejavoic;  Xöyoiöiv,  aiaxpa  |Lir|xaviu|aevoi. 

*  Epicharm.  fr.  245.  265  Kaibel.  Eine  verwandte  Vorstellung  findet  sich 
in  den  Xpucrä  "Eirri,  am  Schluß:  f|v  W  ö.'no\d\^ac,  a\h\xa  ic,  aiO^p'  ^\eu6epov 
IXer]?,  Ifföeai  äGdvaTOi;  Geöi;  ä|nßpoTO?,  ouk^ti  Gvrixöi;,  vgl.  über  den  pytha- 
goreischen Seelenglauben  Diog.  Laert.  VIII  32,  und  mehr  bei  Zeller  1  *  452. 
Die  Ableitung  aus  der  ionischen  Philosophie  scheint  mir  weniger  wahrscheinlich ; 
ohnehin  ist  diese  Lehre  älter  als  Diogenes  von  Apollonia. 

^  CIA.  I  442  Ai6r)p  jndju  v|juxä?  (jireb^EaTO,  auu[uaTa  hk  x6ujv]  roivbe. 

*  Hiket.  533  (vgl.  1140),  Chrysippos  fr.  839  N  «,  mit  deutlichem  Anklang 
an  Epicharmos.  Sehr  bemerkenswert  Helena  1013  ö  voOi;  TUJv  KaxöavövTUJV 
Zf\  \i.^v  Ol),  YviI^HTiv  b'  ?xei  äOctvoTov  de,  dGcivaTov  [alQip'  ^lairecnjuv.  Vgl. 
Dieterich,  Nekyia  S.  103  ff.,   Rohde,  Psyche  II  ^  258. 

ß  Polyid,  fr.  638  N  ^  vgl.  Phrixos  fr.  833  und  Hippol.  189  ff.  Im  letzteren 
Stücke  sind  Hippolytos  selbst  und  wohl  auch  die  alte  Amme  der  Phaedra  An- 
hänger der  orphischen  Lehre. 


Pythagoreismus.  —  Diagoras.  —  Sokrates.  271 


Freilich,  die  grobsinnliche  Eschatologie,  wie  sie  in  Eleusis 
gelehrt  und  in  der  heiligen  Handlung  mimisch  dargestellt 
wurde,  mußte  gebildeten  Männern  wie  ein  Mummenschanz 
erscheinen.  Diagoras  aus  Melos  hatte  den  Mut,  das  öffentlich 
auszusprechen  und  dabei  überhaupt  die  Existenz  der  Götter 
zu  leugnen;  natürlich  wurde  er  dafür  in  Athen  geächtet  und 
ein  Preis  auf  seinen  Kopf  gesetzt  (kurz  vor  431),  doch  fand 
er  im  Peloponnes  eine  Zuflucht  ^. 

Solchen  Angriffen  gegenüber  machte  das  Bedürfnis  sich 
geltend,  für  die  Grundlagen  der  Religion  die  wissenschaftlichen 
Beweise  zu  geben  und  so  zu  einer  Weltanschauung  zu  gelangen, 
die  Wissen  und  Glauben  versöhnt.  Das  hatte,  von  orphischen 
Voraussetzungen  ausgehend,  bereits  Empedokles  getan  (oben 
S.  238);  Anaxagoras  hatte  dann,  mit  seiner  Lehre  von  der 
Weltseele  (Noos),  wenigstens  den  intelligenten  Urheber  der 
Weltordnung  retten  wollen  (oben  S.  241).  Auf  diesem  Wege 
ging  dann  der  Athener  Sokrates  weiter  2.  Geboren  um  470 
als  Sohn  eines  Bildhauers,  hatte  er,  der  Sitte  gemäß,  das  väter- 
liche Handwerk  erlernt,  darin  aber  bald  kein  Genügen  ge- 
funden. Schon  der  Knabe  glaubte  göttliche  Inspirationen  zu 
haben,  eine  innere  Stimme  zu  vernehmen,  die  ihn  warnte,  zu 
tun,  was  schädlich  war;  und  dieses  ,,Daemonion",  wie  er  es 
nannte,  hat  den  Mann  während  seiner  ganzen  Laufbahn 
begleitet.  Es  konnte  auch  wohl  geschehen,  daß  er  plötzlich 
in  tiefes  Nachdenken  versank,  und  regungslos  stehen  blieb, 
unbekümmert  um  alles,  was  um  ihn  her  vorging;  einmal, 
im  Lager  vor  Poteidaea,  soll  er  einen  ganzen  Tag  und  die 
folgende  Nacht  so  dagestanden  haben.    So  gab  denn  Sokrates 


1  S.  unten  2.  Abt.  §  153. 

-  Da  Sokrates  nichts  Schriftliches  hinterlassen  hat,  kennen  wir  seine 
Lehre  nur  aus  den  Werken  seiner  Schüler,  am  besten  aus  Xenophon,  denn  der 
platonische  Sokrates  ist  nur  eine  Maske,  hinter  die  sich  Piaton  selbst  verbirgt, 
und  Aeschines'  Dialoge  sind  bis  auf  wenige  Fragmente  verloren.  Für  die  sehr 
ausgedehnte  moderne  Literatur  muß  ich  auf  die  Handbücher  der  Geschichte 
der  Philosophie  verweisen;  sie  ist  übrigens  meist  wertlos,  da  jeder  sich  seinen 
Sokrates  nach  dem  eigenen  Bilde  zurechtmacht.  In  der  Regel  pflegt  er  weit 
überschätzt  zu  werden;  weltgeschichtliche  Wirkung  hat  erst  der  Sokrates  der 
platonischen  Dialoge  geübt. 


272  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

sein  Handwerk  auf,  und  wandte  sich  ganz  dem  Berufe  zu, 
für  den  er  von  der  Gottheit  bestimmt  zu  sein  glaubte,  der 
Aufgabe,  seine  Mitbürger  durch  Belehrung  über  ihre  sittlichen 
Pflichten  zu  bessern.  Freilich  nicht  als  Professor,  oder  wie 
man  damals  sagte,  Sophist;  dazu  hätte  weder  seine  dürftige 
Bildung  ausgereicht,  noch  hätte  es  seiner  Neigung  entsprochen. 
Vielmehr  war  er  den  lieben  langen  Tag  auf  dem  Markte  oder 
auf  der  Gasse  zu  finden,  wo  er  mit  jedem,  der  wollte  —  und 
müßige  Leute  gab  es  in  der  Großstadt  genug  —  oder  auch 
nicht  wollte,  Gespräche  anknüpfte  über  beliebige  Themen, 
wie  sie  gerade  die  Gelegenheit  bot.  Dank  seiner  glänzenden 
dialektischen  Begabung  und  der  beständigen  Übung  war  es 
ihm  ein  leichtes,  jeden,  der  sich  in  eine  Diskussion  mit  ihm 
einließ,  in  seinen  Schlingen  zu  fangen,  selbst  Sophisten  von 
Ruf  hatten  einen  schweren  Stand  gegen  ihn.  Dagegen  fehlte 
es  ihm  an  schöpferischer  Begabung,  er  ist  nie  dazu  gelangt, 
ein  System  zu  entwickeln  oder  überhaupt  ein  wissenschaft- 
liches Werk  zu  verfassen,  und  beschränkte  sich  durchaus 
auf  die  mündliche  Lehre.  Und  da  er  keinen  methodischen 
Kursus  abhielt,  konnte  er  Honorar  nicht  beanspruchen; 
seine  große  Bedürfnislosigkeit  setzte  ihn  in  den  Stand,  von 
den   Zinsen   seines   kleinen   Vermögens   zu    leben  ^. 

Für  das  Verständnis  naturwissenschaftlicher  Probleme 
fehlten  ihm  die  nötigen  Kenntnisse;  er  war,  wie  alle  Frommen 
im  Lande,  der  Meinung,  daß  es  gottlos  sei,  sich  mit  solchen 
Dingen  zu  beschäftigen.  Auch  sei  es  ganz  überflüssig;  denn  eine 
wahre  Erkenntnis  sei  doch  nicht  zu  gewinnen,  und  selbst  wenn 
sie  zu  gewinnen  wäre,  würde  sie  uns  ja  nichts  nutzen.  An 
Natursinn  fehlt  es  ihm  »anz;  die  Bäume  können  mich  nichts 


^  Gegen  die  Legende  von  Sokrates'  Armut  hat  schon  Demetrios  von 
Phaleron  Einspruch  erhoben  (bei  Plut.  Arist.  1),  der  allerdings  wohl  nach  der 
anderen  Seite  hin  übertreibt.  Jedenfalls  hat  Sokrates  nicht  zur  Thetenklasse 
gehört,  da  er  als  Hoplit  gedient  hat.  Zwar  gab  es  auch  Theten,  die  auf  Staats- 
kosten als  Hopliten  ausgerüstet  wurden;  aber  man  wird  dazu  schwerlich  ältere 
Männer  genommen  haben,  und  Sokrates  war  bei  Poteidaea  etwa  ein  Vierziger, 
bei  Dehon  über  45  Jahre  alt.  Armut  ist  eben  ein  relativer  Begriff,  und  auch 
ein  Zeugite,  der  ohne  eigene  Arbeit  leben  wollte,  mußte  sich  kümmerlich  genug 
durchschlagen. 


Sokrates.  273 

lehren,  pflegte  er  zu  sagen.  Überhaupt  huldigte  er  einem 
platten  Utilitarismus.  Wir  sollen  das  Gute  tun,  weil  es  das 
für  uns  Nützliche  ist.  Niemand  wird  sich  selbst  mit  Absicht 
Schaden  zufügen;  es  genügt  also,  die  Menschen  über  ihr  wahres 
Interesse  zu  belehren,  damit  sie  diesem  Interesse  gemäß,  d.  h. 
tugendhaft  handeln,  denn  die  Tugend  ist  weiter  nichts,  als  die 
Erkenntnis  des  wahrhaft  Nützlichen,  also  des  Guten.  Darum 
ist  sie  lehrbar.  Daß  in  der  Menschenbrust  neben  dem  kühlen 
Verstände  auch  Leidenschaften  wohnen,  kümmerte  Sokrates 
nicht;  wie  er  sich  selbst  vollständig  in  der  Gewalt  hatte, 
forderte  er  es  auch  von  den  anderen. 

Es  galt  nun  aber  zu  bestimmen,  was  denn  das  für  uns 
Nützliche  sei;  und  darin  sah  Sokrates  seine  wichtigste  Aufgabe. 
Er  glaubte  sie  lösen  zu  können,  indem  er  untersuchte,  ,,was 
jedes  Ding  eigentlich  wäre",  und  zwar  meinte  er,  daß  es  dafür 
genüge,  jeden  Begriff,  der  in  der  Sprache  gegeben  war,  durch 
eine  Definition  zu  bestimmen.  Daß  damit  kein  Wissen  zu 
gewinnen  ist,  sondern  höchstens  eine  wissenschaftliche  Termino- 
logie, sah  er  nicht,  und  so  lief  die  Sache  auf  ein  Spiel  mit 
Worten  hinaus.  Das  ist  es,  was  uns  heute  die  ganze  Sokratik 
so  ungenießbar  macht.  Er  fand  denn  auch,  was  er,  bewußt 
oder  unbewußt,  suchte,  die  Bestätigung  der  geltenden  Volks- 
moral; darüber  hinaus  ist  er  kaum  fortgeschritten.  Ja  die 
sokratische  Sittenlehre  würde  geradezu  unsittlich  sein,  wenn 
Sokrates  wirklich  dabei  stehengeblieben  wäre.  Aber  Sokrates 
war  ja  nicht  bloß  Philosoph,  sondern  vor  allem  ein  Mann 
voll  tiefer  Rehgiosität;  und  so  stellte  er  die  Forderung,  daß 
wir  die  Tugend  üben  sollen,  nicht  allein  darum,  weil  die  Tugend 
uns  nützt,  sondern  eben  so  sehr,  weil  ein  tugendhaftes  Leben 
ein  gottgefälliges  ist.  Gerade  darin  zeigt  sich  die  Güte  der 
Gottheit,  daß  sie  von  uns  nur  das  fordert,  was  zu  unserem 
eigenen  Besten  dient.  Hier  liegt  der  eigentliche  Kern  der 
sokratischen  Lehre.  Natürlich  mußte,  wie  alles  andere,  so  auch 
die  Existenz  der  Gottheit  bewiesen  werden;  Sokrates  fand, 
Anaxagoras  folgend,  den  Beweis  in  der  zweckmäßigen  Ordnung 
der  Welt,  die  nur  das  Werk  eines  intelligenten  Urhebers  sein 
könne.     Ferner  berief  er  sich  auf  den  consensus  gentium,  den 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  18 


274  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

allgemeinen  Glauben  aller  Völker  an  das  Bestehen  einer 
göttlichen  Weltregierung.  Und  zwar  meinte  er,  die  zweck- 
mäßige Einrichtung  der  Welt  sei  mit  spezieller  Rücksicht 
auf  uns  Menschen  geschaffen.  Über  die  Frage,  ob  Monotheis- 
mus, ob  Polytheismus,  scheint  Sokrates  dagegen  keine  näheren 
Untersuchungen  angestellt  zu  haben,  wie  er  sich  überhaupt 
dem  Volksglauben  möglichst  anschloß,  das  Ritual  beobachtete, 
und  auf  Orakelsprüche  und  die  ganze  Mantik  großes  Gewicht 
legte.  Daß  er  dabei  die  geläuterten  Vorstellungen  von  dem 
Wesen  der  Gottheit  annahm,  wie  sie  zu  seiner  Zeit  im  Bewußt- 
sein der  Gebildeten  lebten,  und  von  den  großen  Dichtern 
seit  Simonides  ausgeprägt  waren,  ist  selbstverständHch. 
Den  orphischen  Lehren  dagegen  und  den  Geheimkulten 
überhaupt  stand  er  ganz  fern,  und  er  hat  denn  auch  die  Un- 
sterblichkeitslehre nicht  angenommen,  oder  doch  nur  als 
Hypothese  betrachtet,  weil  man  von  den  Dingen  nach  dem 
Tode  nichts  sicheres  wissen  könne. 

Der  großen  Menge  erschien  Sokrates  als  Sonderhng,  noch 
mehr  als  die  Sophisten  von  Beruf,  die  doch  wenigstens  mit 
ihrer  Kunst  Geld  machten.  In  intellektuellen  Kreisen  aber 
wurde  er  ein  gern  gesehener  Gesellschafter,  dem  alle  Türen 
sich  öffneten,  und  so  begann,  etwa  seit  dem  Anfang  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges,  eine  größere  Zahl  Schüler  sich  um  ihn 
zu  sammeln.  Es  war  eine  bunt  gemischte  Gesellschaft;  junge 
Männer  aus  den  ersten  Familien  Athens,  wie  Alkibiades, 
wie  Kritias  und  seine  Vettern  Piaton  und  Glaukon,  wie  Hermo- 
genes,  der  Sohn  des  Hipponikos,  des  reichsten  Mannes  der 
Stadt,  und  daneben  Leute  geringeren  Standes  wie  der  Hand- 
werker Aeschines  und  Antisthenes,  der  Sohn  einer  thrakischen 
Sklavin.  Auch  Fremde  kamen,  um  Sokrates  zu  hören;  so 
Kebes  und  Simmias  aus  Theben,  Eukleides  aus  Megara, 
Aristippos  aus  Kyrene.  Um  die  Zeit  des  Nikiasfriedens  war 
Sokrates  bereits  der  berühmteste  Philosoph  in  Athen,  so  daß 
Aristophanes  eben  ihn  zum  Protagonisten  des  Stückes  sich 
ausersah,  in  dem  er  die  Bestrebungen  der  ,,  Sophisten"  in 
komischer  Verzerrung  dem  Pubhkum  von  der  Bühne  aus 
vorführte.      Wirkung  auf  weitere   Kreise  aber  hat   Sokrates 


Sokrates.  —  Politische  Reaktion,  —  Volksbildung.  275 


Lehre  erst  gehabt,  als  die  Schüler,  nach  dem  Tode  des  Meisters, 
sich  an  die  breite  Öffentlichkeit  wandten,  und  ihr  in  literari- 
schem Gewände  die  sokratischen  Gespräche  zugänglich  machten, 
ein  jeder  so,  wie  er  sie  aufgefaßt  hatte. 

Mit  der  Reaktion  auf  geistigem  Gebiete  ging  eine  politische 
Reaktion  Hand  in  Hand.  Waren  doch  Wissenschaft  und 
Demokratie  derselben  Wurzel  entsprossen;  aber  wie  die 
Wissenschaft  durch  unfruchtbare  Skepsis  ihren  theologischen 
Gegnern  den  Weg  gebahnt  hatte,  so  war  es  zum  großen  Teil 
die  Schuld  der  Demokratie,  wenn  die  öffentliche  Meinung 
jetzt  begann,  sich  von  ihr  abzuwenden.  Gleiches  Recht  für 
alle  war  das  Zauberwort  gewesen,  das  um  die  Zeit  der  Perser- 
kriege die  bestehenden  Staatsordnungen  umgestürzt  hatte, 
um  die  Majoritätsherrschaft  an  deren  Stelle  zu  setzen.  Aber 
als  nun  das  Ziel  erreicht  war,  begann  man  inne  zu  werden, 
daß  auch  hier  die  Wirklichkeit  ganz  anders  aussah,  als  die 
Theorie.  Denn  die  niederen  Volksklassen  waren  noch  keines- 
wegs reif  für  die  Ausübung  der  politischen  Rechte,  in  dem 
Maße,  wie  sie  ihnen  von  den  demokratischen  Verfassungen 
geboten  ward. 

Allerdings,  die  Kenntnis  des  Lesens  und  Schreibens  war 
in  Athen  ziemlich  allgemein  verbreitet,  obgleich  es  auch  hier 
Ausnahmen  gab  ^.  Doch  was  wollte  das  sagen  in  einer  Zeit, 
wo  Bücher,  schon  wegen  ihres  hohen  Preises,  der  großen 
Menge  so  gut  wie  ganz  unzugänglich  waren.  Die  musische 
und  gymnastische  Bildung  aber  war  durchaus  auf  die  höheren 
Klassen  beschränkt;  der  Mann  aus  dem  Volke  wußte  meist 
von  den  Dichtern  nicht  mehr,  als  unser  Volk  von  Schiller 
und   Goethe  ^.      Auch   der   bildende    Einfluß    der  Teilnahme 


^  In  der  Zeit  der  Perserkriege  war  es  in  Athen  möglich,  beim  Ostrakismos. 
die  schriftliche  Abstimmung  einzuführen;  doch  vgl.  die  Anekdote  bei  Plut 
Aristeid.  7.  Auch  der  Wursthändler  bei  Aristoph.  Ritt.  188  kann  zur  Not  lesen, 
sonst  ist  er  freilich  ganz  ungebildet.  Der  Hirt,  der  in  Euripides  Theseus  (fr.  385) 
eine  Botschaft  ausrichtet,  kann  nicht  lesen;  der  Dichter  mag  sich  ihn  aber  als 
Sklaven  gedacht  haben. 

=  Aristot.  Poet.  9,  8,  Polit.  VIII  1342,  vgl.  oben  S.  228.  Daher  die  Gering- 
schätzung,   mit  der    die  küXoI  KÖToGoi  auf   die  ßdvauaoi  herabsahen.      Vgl. 

18* 


276  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

am  politischen  Leben,  wie  sie  die  Demokratie  jedem  Bürger 
bot,  darf  nicht  überschätzt  werden;  schon  darum,  weil  es  nur 
ein  Bruchteil  der  Bürgerschaft  war,  der  die  Volksversammlung 
regelmäßig  besuchte  ^,  oder  an  den  Sitzungen  der  Heiiaea 
Anteil  nahm.  Welches  Verständnis  für  Fragen  der  äußeren 
Politik  oder  für  verwickelte  Finanz-  und  Verwaltungsfragen 
war  also  bei  den  Proletariern  vorauszusetzen,  welche  die  Volks- 
versammlungen füllten,  und  deren  Stimmen  dort  den  Aus- 
schlag gaben.'*  Die  Menge  mußte  notwendig  zum  willenlosen 
Werkzeug  werden  in  den  Händen  derer,  die  es  verstanden 
hatten,  sich  ihr  Vertrauen  zu  erwerben.  Der  sicherste,  jeden- 
falls der  einfachste  Weg  dazu  war  aber,  der  Masse  des  Volkes 
auf  Staatskosten  materielle  Vorteile  zu  verschaffen.  Selbst 
ein  Perikles  hat  diesen  Verhältnissen  mehr  Konzessionen 
machen  müssen  als  gut  war;  was  war  da  von  Staatsmännern 
niedrigerer  Gesinnung  zu  erwarten  ?  So  wuchs  in  wenigen 
Jahrzehnten  ein  Demagogentum  heran,  das  den  gemeinen 
Instinkten  der  Massen  schmeichelte,  um  auf  die  Massen  ge- 
stützt  den    Staat   zum  eigenen   Nutzen  auszubeuten. 

Das  war  schlimm  genug,  aber  es  wäre  zu  ertragen  ge- 
wesen. Gegen  die  Macht  der  Volksversammlung  bildeten 
die  Beamten  ein  Gegengewicht,  die  der  Natur  der  Sache 
nach  in  ihrer  großen  Mehrzahl  aus  den  besitzenden  und  ge- 
bildeten Klassen  hervorgingen.  Auch  mußten  Anträge,  über 
die  in  der  Volksversammlung  abgestimmt  werden  sollte, 
erst  durch  den  Rat  gehen,  und  wenn  dieser  auch  nichts  weiter 
war,  als  ein  Ausschuß  aus  der  Versammlung,  meist,  wie  in 
Athen,  durch  das  Los  bestimmt,  so  war  es  doch  in  einer  solchen 
Körperschaft  leichter,  verständigen  Anträgen  Gehör  zu  schaffen; 
und  der  Ratsbeschluß  wurde  dann  in  der  Regel  vom  Volke 
ohne  weiteres  angenommen.  Auch  konnte  jeder  gesetzwidrige 
Volksbeschluß  vor  Gericht  angefochten  werden,  und  blieb 
dann  bis  zur  Entscheidung  der  Sache  suspendiert.    Die  gesetz- 

[Xen.]  Staat  d.   Athen.   I  5  iv  bi  tlü  br||LiLU  ä|ua6ia  re   uXeiöxr)    Kai   draEia 
Kai  TTovripia'   r\  re   yäp   irevia   aijTovc,  |uä\Xov   äyei   ^iri  toi  aiaxpd  Kai  f] 
diTaibeuöia  Kai  x]  ä|aaGia. 
1  Thuk.  VIII  72. 


Die  Gefahren  der  Massenherrschaft.  —  Verwaltung.  —  Rechtspflege.     277 


gebende  Macht  endlich  stand  zwar  natürlich  dem  souveränen 
Volke  zu ;  die  Ausübung  dieses  Rechtes  aber  war  durch  so  viele 
verfassungsmäßige  Kautelen  eingeschränkt,  daß  hier  unüber- 
legte Beschlüsse  nicht  leicht  gefaßt  werden  konnten.  Es  blieb 
ja  trotzdem  für  Mißbrauche  aller  Art  Tür  und  Tor  offen; 
aber  die  Gefahren  der  Massenherrschaft  waren  auf  dem  Gebiete 
der  Verwaltung  doch  zum  großen  Teil  paralysiert,  und  wenn 
die  besitzenden  Klassen  in  den  griechischen  Demokratien 
sich  hier  über  etwas  zu  beklagen  hatten,  so  war  es  haupt- 
sächlich über  den  hohen  Steuerdruck.  In  Athen  fiel  auch 
das  fort,  da  die  Staatsbedürfnisse  im  wesentlichen  mit  den 
Einnahmen  aus  den  auswärtigen  Besitzungen  und  den  Tributen 
der  Bündner  bestritten  wurden,  bis  der  peloponnesische  Krieg 
auch  hier  dazu  zwang,  die  Steuerkraft  der  Bürger  in  Anspruch 
zu  nehmen. 

Was  aber  ganz  unerträglich  war,  waren  die  Zustände 
in  der  Rechtspflege.  Die  griechische  Demokratie  ging  von 
dem  Grundsatze  aus,  daß  jeder  Bürger,  der  ein  gewisses  Alter 
erreicht  hatte  (in  Athen,  und  in  der  Regel  wohl  auch  sonst, 
30  Jahre)  zum  Geschworenen  qualifiziert  sei.  Wenn  aber 
arme  Leute  auf  der  Richterbank  saßen,  lag  die  Gefahr  der 
Bestechung  sehr  nahe;  nicht  weil  die  Armen  an  sich  bestech- 
licher gewesen  wären,  als  die  Reichen,  sondern  weil  sie  natür- 
lich für  eine  viel  geringere  Summe  zu  haben  waren.  Um  dieser 
Gefahr  zu  begegnen,  gab  es  nur  das  Mittel,  die  Gerichtshöfe 
aus  Hunderten  von  Geschworenen  zusammenzusetzen.  Eine 
so  große  Zahl  von  Richtern  konnte  aber  auf  die  Dauer  nur 
dann  zusammengebracht  werden,  wenn  der  Staat  sich  ent- 
schloß, ihnen  für  das  Opfer  an  Zeit  und  Mühe  einen  Ent- 
gelt zu  gewähren  (oben  S.  155).  Das  mußte  dann  weiter  zur 
Folge  haben,  daß  die  Bürger  der  ärmeren  Klassen  sich  zum 
Richteramt  drängten,  denn  es  war  ja  sehr  viel  bequemer, 
den  Sold  für  eine  Sitzung  in  der  Gerichtshalle  zu  empfangen, 
als  den  Tagelohn  im  Schweiße  des  Angesichts  zu  erarbeiten. 
In  demselben  Maße  aber  zogen  die  Wohlhabenden  sich  von 
dem  Amte  zurück;  die  karge  Entschädigung  konnte  für  sie 
nicht  in  Betracht  kommen,  und  für  den  Ausfall  des  Urteils 


278  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

blieben  doch  die  Stimmen  der  Proletarier  entscheidend,  die 
unter  den  Geschworenen  die  große  Mehrzahl  bildeten.  Auch 
war  es  wahrhaftig  kein  Vergnügen,  halbe  Tage  lang  unter 
dem  stinkenden  Pöbel  zu  sitzen  ^.  So  wurden  die  Volks - 
gerichte,  je  länger  je  mehr,  zu  einer  Domäne  der  unteren 
Klassen  der  Bürgerschaft,  und  es  bildete  sich  jenes  Ge- 
schworenenproletariat, das  die  Komödie  uns  mit  so  unüber- 
trefflicher Lebendigkeit  schildert. 

Und  nun  vergegenwärtige  man  sich  eine  Versammlung 
von  zweihundert,  fünfhundert,  ja  tausend  solcher  Geschwo- 
renen, berufen,  über  die  verwickeltsten  Fälle  in  politischen, 
Kriminal-  und  Zivilprozessen  das  Urteil  zu  sprechen.  Von 
der  Bildung  einer  selbständigen,  juristisch  begründeten  An- 
sicht konnte  bei  Richtern  dieser  Art  nur  sehr  selten  die  Rede 
sein;  in  der  Regel  mußte  es  von  der  größeren  oder  geringeren 
Geschicklichkeit  des  Anklägers  oder  Verteidigers  abhängen, 
ob  der  Wahrspruch  so  oder  so  ausfiel.  Und  doch  war  die 
Unwissenheit  der  Richter  noch  immer  das  kleinere  Übel. 
Wo  nur  das  Mein  und  Dein  in  Frage  kam  und  die  Geschworenen 
von  dem  Ausgang  des  Prozesses  nicht  persönlich  berührt 
wurden,  also  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  war  immerhin  zu 
erwarten,  daß  sie  ihren  Spruch  nach  bestem  Wissen  und 
Gewissen  abgeben  würden.  Aber  wie,  wenn  es  sich  um  einen 
Prozeß  handelte,  der  das  ganze  öffentliche  Leben  des  Staates 
in  seinen  Grundfesten  aufwühlte,  die  Anklage  z.  B.  eines 
hervorragenden  Staatsmannes  oder  Feldherrn.'*  Wohl  werden 
überall  die  Entscheidungen  im  politischen  Prozeß  von  der 
Strömung  des  Tages  beeinflußt  sein,  so  lange  Menschen  auf 
der  Richterbank  sitzen.  Aber  um  wie  viel  mehr  mußte  das 
nicht  der  Fall  sein  bei  einem  solchen  vielhundertköpfigen 
Gerichtshofe,  einer  Volksversammlung  im  Kleinen,  von  den- 
selben Leidenschaften  wie  diese  bewegt,  wo  das  Gefühl  der 
Verantwortlichkeit  durch  die  scheinbare  Bedeutungslosigkeit 
des  einzelnen  Stimmsteines  abgestumpft  wurde.?  Die  lange 
Reihe  ungerechter  Wahrsprüche,  die  von  Perikles  bis  Phokion 


^  Aristoph.  RiUer  898. 


Rechtspflegfe    —  Konfiskationen.  —  Sykophanten.  279 


durch  die  ganze  Geschichte  der  athenischen  Volksgerichte 
wie  ein  roter  Faden  sich  hinzieht,  ztigt  nur  zu  deutlich,  was 
von  einem  solchen  Tribunal  zu  erwarten  stand. 

Aber  auch  das  war  noch  immer  das  Schlimmste  nicht. 
Die  chronische  Finanznot  der  meisten  griechischen  Demo- 
kratien, die  zum  großen  Teil  eben  durch  die  Aufwendungen 
zugunsten  der  „enterbten"  Klasse  verursacht  war,  führte 
dahin,  das  Defizit  im  Staatshaushalt  durch  Konfiskationen 
zu  decken,  für  die  politische  Prozesse  den  Vorwand  abgeben 
mußten.  Seit  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  wurde 
es  etwas  ganz  gewöhnliches,  daß  der  Ankläger  die  Geschworenen 
aufforderte,  einen  Angeklagten  schuldig  zu  sprechen,  damit 
aus  dem  eingezogenen  Vermögen  der  Richtersold  bestritten 
werden  könne,  für  den  sonst  keine  Mittel  vorhanden  seien  ^. 
,,Es  ist  eine  bekannte  Sache",  sagt  ein  attischer  Redner, 
,,daß  der  Rat,  wenn  genug  Geld  in  den  Kassen  ist,  das  Recht 
nicht  verletzt;  wenn  der  Staat  sich  aber  in  Finanznot  befindet, 
dann  kann  der  Rat  nicht  umhin,  Denunziationen  entgegen 
zu  nehmen,  das  Vermögen  der  Bürger  zu  konfiszieren  und 
den  Anträgen  der  verworfensten  Redner  Folge  zu  geben"  ^. 

Solche  Zustände  zogen  das  Sykophantentum  groß,  das 
bereits  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  V.  Jahrhunderts  in 
Athen  einen  erschreckenden  Umfang  gewonnen  hatte.  Es 
war  ungefähr  dasselbe,  was  heute  die  Revolverpresse  ist, 
nur  daß  die  Sache  in  sehr  viel  größerem  Maßstabe  betrieben 
wurde  und  ohne  daß  der  Staat  sich  ernstlich  ins  Mittel 
gelegt  hätte.  Gewandte  Advokaten  machten  ein  Geschäft 
daraus,  von  reichen  Leuten  unter  der  Bedrohung  mit  einer 
Anklage  Geld  zu  erpressen;  und  da  bei  der  Zusammensetzung 
der  Geschworenengerichte  der  Ausgang  eines  Prozesses 
schlechterdings  nicht  zu  berechnen  war,  hatte  das  Manöver 
in  den  meisten  Fällen  den  gewünschten  Erfolg  ^.  Wer  sich 
dagegen  schützen  wollte,  dem  bheb  kaum  ein  anderes  Mittel, 


1  Aristoph.   Riiier  1358  ff.,   Lysias   (27)  g.  Epikr.   2. 
*  Lysias  (30)  g.  Nikom.  22,  vgl.  [Xen.]  Staat  der  Athen.  I  13,  Aristot.  Polit. 
VI  1320  a. 

^  Vgl.   Westermann  Art.  auKoqpctvxri?  in  Paulys   Real-Emyklopädie. 


280  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

als  selber  einen  Sykophanten  zu  besolden,   der  dann  seinen 
Genossen  das  Handwerk  legte  ^. 

Aber  die  demokratische  Bewegung  blieb  hierbei  nicht 
stehen  und  konnte  nicht  stehen  bleiben.  Wenn  die  Gleichheit 
der  politischen  Rechte  aller  Bürger  einmal  verfassungsmäßig 
anerkannt  war,  war  es  dann  nicht  eine  logische  Konsequenz 
dieses  Grundsatzes,  daß  alle  Bürger  auch  an  Besitz  gleich 
sein  sollten.?  Die  Macht  dieses  Gedankens  war  so  stark,  daß 
selbst  Männer,  die  alles  andere  waren  als  Demokraten,  sich 
ihr  nicht  entziehen  konnten;  in  allen  Idealverfassungen  dieser 
Zeit  kehrt  diese  Forderung  wieder,  mochte  man  nun  das 
Eigentum  selbst  verteilen  wollen,  oder  nur  denErtrag,  den 
das  Eigentum  brachte.  Wie  allgemein  diese  Frage  in  Athen 
diskutiert  wurde,  zeigt  die  ,,  Weiberversammlung"  des  Aristo - 
phanes,  ein  Stück,  in  dem  der  Dichter  seinen  Zuschauern  die 
Folgen  der  Verwirklichung  solcher  Ideen  auf  der  Bühne  vor 
Augen  stellt.  Es  hat  denn  auch  nicht  an  Versuchen  gefehlt, 
die  Theorie  in  die  Praxis  hinüberzuführen.  So  wurde  in  Leon- 
tinoi  im  Jahre  423  der  Beschluß  gefaßt,  das  gesamte  Grund- 
eigentum an  alle  Bürger  neu  aufzuteilen,  was  dann  zur  Folge 
hatte,  daß  die  Besitzenden  sich  den  Syrakusiern  in  die  Arme 
warfen  und  mit  deren  Hilfe  den  Pöbel  und  seine  Führer  aus 
dem  Lande  jagten  2.  Auf  Samos  wurden  im  Jahr  412  die 
Grundbesitzer  mit  Hilfe  der  Athener  erschlagen  oder  ver- 
trieben, und  ihre  Häuser  und  Felder  unter  die  Menge  ver- 
teilt ^.  Überhaupt  war  fast  jede  tiefer  gehende  politische 
Umwälzung  mit  mehr  oder  weniger  einschneidenden  Ände- 
rungen in  den  Besitzverhältnissen  verbunden;  und  wenn 
es  auch  im  allgemeinen  nur  selten  zu  so  extremen  Maßregeln 
kam,  wie  in  den  Fällen,  die  eben  erwähnt  wurden,  die  Mög- 
lichkeit einer  Konfiskation  ihres  Eigentums  hing  doch  be- 
ständig wie  ein  Damoklesschwert  über  den  Häuptern  der 
Besitzenden. 


^  Xen.  Denkw.  II  9. 

2  Thuk.  V  4,  unten  S.  354. 

»  Thuk.  VIII  21,  unten  S.  385. 


Reform  der  Besitzverhältnisse.  —  Umschwung  in  der  öftentlichen  Meinuno-.    281 


So  war  denn  die  Demokratie,  die  das  gleiche  Recht  Aller 
auf  ihre  Fahne  geschrieben  hatte,  zur  Klassenherrschaft 
geworden,  kaum  besser  als  die,  welche  im  VII.  Jahrhundert 
bestanden  hatte,  nur  daß  der  Druck  jetzt  von  unten  kam, 
statt  wie  damals  von  oben.  Demgegenüber  traten  alle  Gegen- 
sätze innerhalb  der  besitzenden  Klasse  selbst  in  den  Hinter- 
grund ^.  Das  war  um  so  leichter,  als  ein  eigentlicher  Interessen - 
konflikt  zwischen  Grundbesitz  und  mobilem  Kapital  sich 
noch  kaum  hatte  bilden  können;  die  griechischen  Staaten 
waren  dazu  viel  zu  klein,  die  Geldwirtschaft  zu  wenig  ent- 
wickelt, der  Grundbesitz  die  einzige  wirklich  sichere  Kapital- 
anlage ^.  ,,Es  ist  verzeihhch",  schreibt  ein  Zeitgenosse  des 
peloponnesischen  Krieges,  ,,wenn  ein  Mann  aus  dem  Volke 
demokratisch  gesinnt  ist,  denn  jedem  ist  es  zugute  zu  halten, 
wenn  er  für  seinen  eigenen  Vorteil  sorgt;  wer  aber  nicht  zum 
gemeinen  Volke  gehört  und  doch  lieber  in  einer  Demokratie 
leben  möchte  als  in  einer  OHgarchie,  der  denkt  im  Trüben 
zu  fischen  und  weiß,  daß  seine  Schurkereien  in  einem  demo- 
kratischen Staate  eher  ungestraft  durchgehen,  als  in  einem 
oligarchischen"  ^.  So  wandte  sich  denn  die  öffentliche  Meinung, 
die  ja  von  den  besitzenden  und  gebildeten  Klassen  gemacht 
wird,  immer  mehr  von  der  Demokratie  ab.  In  Athen  wurde 
die  Komödie  nicht  müde,  die  Auswüchse  des  herrschenden 
Systems  mit  beißendem  Spotte  zu  geißeln,  und  die  Führer 
der  demokratischen  Partei  anzugreifen,  zuerst  Perikles,  dann 


^  Aristot.  Polit.  V  1304  b  ai  |u^v  ouv  brj^oKpaTfai  |Lid\iaTa  jueToßdXXouai 
öid  xriv  Tüjv  briiuaYuuYiI'v  haÖc^^mv  xd  |uev  yöp  fb{a  GUKoqpavxoövTe«;  toCk; 
Tdq  ouaiai;  ^xovra^  auaTp^qpouoiv  auToüq  (öuvdYei  yäp  Kai  toO<;  dxöicTTOuc; 
ö  Koivö(;  qpößoc;),  xd  bd  Koivfj  xö  TTXf|0o<;  dtrdYovxei;. 

^  [Xen.  ]  Staat  d.  Athen.  II  14  stellt  die  Y^w^PTOÖvxe^  Kai  irXoucTioi 
in  Gegensatz  zum  Demos,  ebenso  Aristoph.  Ekkl.  197  f.  Nikias  hatte  haupt- 
sächlich bewegliches  Vermögen  (Lys.  vAristophVerm.  47),  der  reiche  Bankier 
Pasion  hatte  einen  beträchtlichen  Teil  seines  Vermögens  in  Grundbesitz  an- 
gelegt (unten  Bd.  III).  Überhaupt  ist  der  Literatur  dieser  Zeit  der  Interessen- 
gegensatz zwischen  Grundbesitz  und  mobilem  Kapital  noch  ganz  fremd.  Wenn 
Xenophon  Oekon.  VI  6  die  xexvixai  (Handwerker)  den  y^^PTOI  (Bauern) 
entgegenstellt,   so   ist   das   etwas   wesentlich   anderes. 

3   [Xen.]  Staat  d.  Athen.  II  20. 


282  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

in  schärferer  Tonart  Kleon,  Hyperbolos,  Kleophon  und  wie 
sie  alle  heißen.  Thukydides  hält  die  demokratische  Staatsform 
für  einen  ganz  offenbaren  Wahnsinn,  worüber  man  unter 
verständigen  Leuten  kein  Wort  zu  verlieren  brauche  ^.  So- 
krates  erklärte  es  für  eine  Torheit,  daß  man  die  Staatsämter 
durch  das  Los  besetze,  während  doch  niemand  daran  dächte, 
etwa  einen  Steuermann,  oder  einen  Baumeister  oder  Flöten- 
spieler durch  das  Los  zu  ernennen  ^.  Später  hat  Piaton  sich 
überhaupt  vom  Staatsleben  ferngehalten,  weil  in  der  Demo- 
kratie eine  ersprießliche  politische  Wirksamkeit  doch  nicht 
möglich  sei. 

Die  so  dachten,  richteten  naturgemäß  ihre  Augen  auf 
Sparta,  den  Staat,  der  fast  allein  in  Griechenland  seine  alte 
Verfassung  durch  die  Stürme  der  Zeit  nach  den  Perserkriegen 
bewahrt  hatte,  und  der  jetzt  der  einzige  sichere  Hort  der 
konservativen  Interessen  schien.  So  wurde  die  Bewunderung 
der  spartanischen  Verfassung  und  überhaupt  des  spartanischen 
Wesens  Mode  bei  der  gebildeten  Jugend;  und  da  es  leider 
mit  der  Einführung  spartanischer  Institutionen  noch  gute 
Wege  hatte,  so  begnügte  man  sich  einstweilen  damit,  die 
Äußerlichkeiten  des  spartanischen  Wesens  nachzuäffen.  Die 
athenischen  Stutzer  gefielen  sich  darin,  in  langem  Haar,  mit 
schmutzigen  Händen,  im  kurzen  spartanischen  Mantel  und 
lakonischen  Schuhen  durch  die  Straßen  zu  laufen;  als  Sport 
betrieben  sie,  wie  die  Spartaner,  den  Faustkampf,  und  waren 
auf  ihre  zerhauenen  und  verquollenen  Ohren  nicht  weniger 
stolz,  als  unsere  Korpsstudenten  auf  ihre  Renomierschmisse  ^. 
Das  war  ja  nun  alles  sehr  kindisch  und  an  sich  auch  sehr 
harmlos;  aber  es  war  ein  charakteristisches  Symptom  für  die 
Strömung  der  öffentlichen  Meinung,  und  die  Stimmung,   die 


^  Thuk.  VI  89,  6  ^Ttel  br||U0KpaTiav  fe  koI  dYiTvÜJöKo.uev  oi  qppovoövTei; 
Ti,  Kai  axixöq  otbevöq  äv  xeipov,  öölu  koi  *  \oibuupri0ai|ui "  äX\ä  -rrepi  ö,uo- 
XoYouinevri?  ävoiaq  oub^v  öv  koivöv  Xd^oiTO. 

2  Xen.  Denkw.  I  2,  9. 

*  Plat.  Protag.  342  b  c,  Demosth.  gKonon  34  S.  1267.  Der  Komödie  bot 
diese  Lakonomanie  natürlich  einen  dankbaren  Stoff,  vgl.  Aristoph.  Wesp.  475  f., 
Vögel  1193  ff.,  Piaton  fr.  124  Kock  usw. 


Lakonomanie.  —  Idealverfassungen.  —  Die  Verfassung  der  guten  alten  Zeit.  283 

sich  darin  ausspricht,  fand  auch  in  ernsteren   Bestrebungen 
ihren  Ausdruck.  ^ 

Denn  eben  die  spartanischen  Staatseinrichtungen  sind 
es  gewesen,  woran  die  ersten  Versuche  angeknüpft  haben, 
auf  rationellem  Wege  eine  Idealverfassung  zu  entwerfen. 
So  der  Begründer  der  griechischen  Staatswissenschaft,  der 
große  Mathematiker  Hippodamos  aus  Milet,  in  Perikles'  Zeit. 
Er  verlangte,  nach  spartanischem  Vorbild,  eine  ständische 
Gliederung  der  Bevölkerung;  und  zwar  sollte  es  drei  Stände 
geben:  Krieger,  Bauern  und  Handwerker.  Allerdings  sollten, 
im  Gegensatz  zu  Sparta,  auch  die  Bauern  und  Handwerker 
volles  Bürgerrecht  haben,  so  daß  die  Verfassung  des  Hippo- 
damos sich  darstellte  als  ein  Kompromiß  zwischen  der  spar- 
tanischen Staatsordnung  und  der  Demokratie;  aber  schon 
Aristoteles  hat  mit  Recht  bemerkt,  daß  tatsächlich  der  Krieger- 
stand zum  ausschlaggebenden  Faktor  in  einem  so  organi- 
sierten Staate  hätte  werden  müssen  ^.  Auch  die  Idealver- 
fassung, die  um  dieselbe  Zeit  oder  wenig  später  Protagoras 
von  Abdera  entwarf,  scheint  auf  dem  ständischen  Prinzip 
beruht  zu  haben;  doch  wissen  wir  darüber  nichts  Näheres  ■^. 

Die  große  Menge  der  Gebildeten  aber  hatte  ganz  andere 
Ideale.  Wie  schön  war  es  zu  der  Väter  und  Großväter  Tagen 
gewesen,  gegenüber  der  schlechten  Gegenwart;  war  es  da  nicht 
das  Einfachste,  zu  den  Zuständen  jener  Zeit  zurückzukehren  ? 
Aristophanes  und  die  attische  Komödie  überhaupt  schildern 
wieder  und  wieder  die  gute  alte  Zeit  der  Marathonkämpfer; 
Eupolis  ließ  in  einem  seiner  Stücke  die  großen  Staatsmänner 
der  Vergangenheit  aus  dem  Hades  heraufsteigen,  um  der 
lebenden  Generation  gründlich  den  Text  zu  lesen.  Selbst 
Perikles,  der  doch  so  viel  getan  hatte,  um  die  radikale  Demo- 
kratie zu  vollenden,  der  bei  seinen  Lebzeiten  deswegen  so 
bitter    bekämpft    worden    war,    erschien    gut    konservativen 


»  Aristot.  Polit.  II  1267  b— 1268  b. 

*  Diog.  Laert.  IX  55,  Favorinus  abend.  III  57,  nach  dessen  Angabe  die 
Grundgedanken  der  platonischen  Staatslehre  schon  von  Protagoras  ausgesprochen 
sein  sollen.  Das  ist  ja  ohne  Zweifel  sehr  übertrieben,  aber  es  kann  doch  wohl 
nicht  ganz  und  gar  aus  der  Luft  gegriffen  sein. 


284  IX.  Abschnitt.  —  Die  Reaktion. 

Leuten  schon  wenige  Jahre  nach  seinem  Tode  in  verklärtem 
Licht  ^.  Von  dem,  was  die  Ver^ssung  der  guten  alten  Zeit 
(irdTpioq  TToXireia)  eigentlich  gewesen  war,  wußte  man  frei- 
lich sehr  wenig;  es  stand  also  jedem  frei,  sich  diese  Ver- 
fassung seinem  Ideal  gemäß  auszumalen.  Davon  machte 
man  denn  im  Parteiinteresse  auch  reichlichen  Gebrauch. 
Ein  charakteristisches  Beispiel  dafür  ist  das  Bild,  das  Aristo- 
teles, ohne  Zweifel  nach  einer  Schrift  aus  der  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges,  von  der  Verfassung  Drakons  entwirft  ^; 
es  entspricht  ungefähr  der  Verfassung,  wie  sie  zur  Zeit  der 
Perserkriege  gewesen  war.  Ähnlich  suchte  man  in  Sparta 
gegenüber  den  revolutionären  Bestrebungen  die  bestehende 
Verfassung  zu  stützen  dadurch,  daß  man  sie,  so  wie  sie  war, 
als  das  Werk  des  Lykurgos  hinstellte.  Solon  dagegen,  den 
man  als  den  Begründer  der  athenischen  Demokratie  ansah, 
wurde  als  gewissenloser  Demagoge  gezeichnet,  der  seine 
Stellung  dazu  benutzt  habe,  sich  selbst  und  seine  Freunde 
durch  Landspekulationen  zu  bereichern  ^  Die  Demokraten 
blieben  natürhch  die  Antwort  nicht  schuldig,  und  so  wogte 
der  publizistische  Kampf  herüber  und  hinüber.  Das  mußte 
dann  weiter  zur  Folge  haben,  daß  man  sich  bemühte,  die  Sache 
durch  Urkundenforschung  zur  Entscheidung  zu  bringen. 
Der  Sophist  Thrasymachos  scheint  der  erste  gewesen  zu  sein, 
der  auf  die  Notwendigkeit  solcher  Studien  hingewiesen  hat  *; 
und  die  Anregung  blieb  nicht  ohne  Erfolg.  Bei  der  oligarchi- 
schen  Umwälzung  im  Jahre  411  in  Athen  wurde  der  Beschluß 
gefaßt,  die  kleisthenischen  Gesetze  aus  dem  Archiv  hervor- 
zusuchen,  damit  sie  für  die  Reform  der  Verfassung  als  Material 
dienen  könnten  ^. 


^  Er  wird  in  Eupolis  Demen  neben  Miltiades  und  Aristeides  aus  dem  Hades 
heraufzitiert,  Thukydides  urteilt  sehr  günstig  über  ihn  (unten  S.  294), 
und  auch  Isokrates  spricht  von  Perikles  mit  hoher  Achtung.  Piaton  freilich 
blieb  unversöhnlich. 

*  Aristot.  An.  4,  vgl.  oben  I  2  S.  261. 

3  Aristot.  ATT.  6,  2 — 3,  vgl.  Wilamowitz  Aristot.  u.   Athen  I  62. 

*  Thrasym.  fr.  1  bei  Dionys.  Hai.  Demosth.  3  S.  959,  vgl.  Wilamowitz 
a.  a.  O.  I  173. 

s  Aristot.  An.  29. 


Verfassungsgeschichtliche  Forschung.  —  Hetaerien.  285 

So  erwuchsen  aus  der  politischen  Polemik  die  Anfänge 
der  verfassungsgeschichtlichen  Forschung,  die  denn  auch 
diesen  ihren  Ursprung  nie  ganz  zu  verleugnen  vermocht  hat. 
Daran  schloß  sich  dann  weiter  eine  Kritik  der  bestehenden 
Staatsformen  an.  Eine  solche  hatte  Kritias  für  Athen  und 
Sparta  gegeben  i;  und  noch  uns  ist  die  Schrift  eines  athenischen 
Oligarchen  aus  der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  er- 
halten 2,  worin  der  Nachweis  geführt  wird,  daß  die  Verfassung 
Athens  zwar  ganz  nichtswürdig  sei,  aber  vortrefflich  auf  den 
Vorteil  der  besitzlosen  Menge  berechnet;  Reformen  seien 
unmöglich  und  eine  Revolution  von  innen  heraus  aussichtslos. 
Hier  schheßt  der  Verfasser;  durch  welche  Mittel  die  Demokratie 
doch  gestürzt  werden  könne,  durfte  er  in  Athen  freilich  nicht 
sagen. 

Bei  dieser  Lage  blieb  den  besitzenden  Klassen  zunächst 
nichts  übrig,  als  nach  Möglichkeit  gegen  die  Mißbräuche  der 
Volksherrschaft  sich  zu  schützen.  Die  Besitzenden  schlössen 
sich  also  zu  Verbänden  (^raipiai)  zusammen,  ,,zur  Beein- 
flussung der  Wahlen  und  zum  Schutz  gegen  die  Willkür  der 
Gerichte"  ^.  An  und  für  sich  hatten  diese  Vereine  durchaus 
keine  verfassungswidrige  Richtung,  wie  sie  denn  unangefochten 
bestanden  haben  trotz  des  bis  zum  krankhaften  gesteigerten 
Argwohns  des  Volkes  gegen  alles,  was  oligarchischen  Be- 
strebungen auch  nur  entfernt  ähnlich  sah;  aber  allerdings 
ließ  diese  Organisation  sich  eintretenden  Falles  zu  revo- 
lutionären Zwecken  vortrefflich  verwerten. 


1  Wilamowitz,  Aristot.  u.  Athen  1 174  ff.,  Dümmler,  Hermes  XXVII  (1892) 
S.  260  ff.  (zum  großen  Teil  unrichtige  oder  unerweisbare  Hypothesen).  Die 
Fragmente  FHG.  II  68. 

^  Die  unter  Xenophons  Schriften  erhaltene  AGrivaiuJV  iroXireia,  vgl. 
besonders  Kirchhoff,  Abh.  d.  Berl.  Akad.  1874.  1878,  Müller- Strübing,  Philologus 
Suppl.  IV,  1880,  Kaiinka,  Die  pseudoxenophontische  AGrivaiuJV  TToXlTeia, 
Leipzig  1913. 

*  Thuk.  VIII  54,  4  läc,  re  Suvuj,uoaia(;,  aiitep  ^tuyxövov  itpÖTepov  ^v 
Tf)  TTÖXei  ouöai  ^Tri  biKOK;  koi  äpxaic;.  H.  Büttner,  Geschichte  der  politischen 
Hetaerien  in  Athen,  Leipzig  1840,  W.  Vischer  Kl.  Schriften  I  153  ff.,  vor  allem 
G.  M.  Calhoun,  Athenian  Clubs  in  Poliiics  and  Litigation,  Bulletin  of  the 
Universiiy  of  Texas  Nr.  262,  Austin,  Texas  1913. 


286    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Durch  das  alles  war  der  Boden  für  eine  Umwälzung  vor- 
bereitet; denn  keine  Verfassung  kann  von  Dauer  sein,  in  der 
die  besitzenden  und  gebildeten  Klassen  nicht  die  ihnen  ge- 
bührende Stellung  einnehmen.  Noch  hatte  die  Demokratie 
einen  festen  Halt  an  dem  athenischen  Reiche.  Aber  dieses 
Reich  war  im  Innern  bereits  tief  unterwühlt,  und  nur  die 
unbedingte  Überlegenheit  der  Athener  zur  See  hielt  die  wider- 
strebenden Teile  vereinigt;  es  mußte  zusammenbrechen, 
sobald  ein  Unfall  eintrat,  der  diese  Überlegenheit  in  Frage 
stellte.  Und  auf  die  Länge  konnte  eine  solche  Katastrophe 
nicht  ausbleiben. 


X.  Abschnitt. 


Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des 

Nikias. 

Seit  den  Friedenschlüssen  Athens  mit  Persien  (448)  und 
den  Peloponnesiern  (446)  herrschte  in  Griechenland  tiefe 
Ruhe,  die  nur  einmal  auf  einen  Augenbhck  durch  den  samischen 
Aufstand  gestört  worden  war;  aber  eben  in  dieser  Krisis 
hatten  beide  Verträge  glänzend  die  Probe  bestanden,  und  so 
schien  der  Nation  noch  auf  ein  halbes  Menschenalter  hinaus, 
bis  zum  Ablauf  der  30  Jahre,  auf  die  die  Waffenruhe  mit  den 
Peloponnesiern  abgeschlossen  war,  die  Ruhe  im  Innern  und 
nach  außen  gesichert.  Daß  es  nicht  dazu  kam,  war  die  Schuld 
der   Politik   des   leitenden    athenischen    Staatsmannes. 

Den  äußeren  Anlaß  gaben  die  Verhältnisse  im  griechischen 
Westen.  Korinth  war  schon  seit  Jahrhunderten  mit  seiner 
Kolonie  Kerkyra  verfeindet  ^,  die  der  Mutterstadt  an  Be- 
deutung kaum  nachstand  und  ihrem  Handel  nach  dem  Adriati- 
schen  Meer  und  Itahen  scharfe  Konkurrenz  machte;  der 
Besitz  der  von  beiden  Städten  an  den  Küsten  von  Epeiros 
und  Illyrien  gegründeten  Kolonien  bildete  infolgedessen  eine 


1  Thuk.  I  25,  3    4,  vgl.  I  13,  4. 


Krieg  zwischen  Koiintli  und  Kerkyra.  287 

Quelle  beständigen  Zwistes.  Einen  Streitfall  dieser  Art  hatte 
Themistokles  nach  dem  Perserkriege  als  Schiedsrichter  zu- 
gunsten Kerkyras  beigelegt^;  jetzt  brach  ein  neuer  Konflikt 
aus.  In  der  kerkyraeischen  Kolonie  Epidamnos  {Durazzo) 
hatte  der  Pöbel  die  Besitzenden  vertrieben,  diese  aber  riefen 
die  umwohnenden  lUyrier  zu  Hilfe  und  brachten  ihre  Gegner 
in  der  Stadt  bald  in  so  schwere  Bedrängnis,  daß  sie  gezwungen 
waren,  die  Mutterstadt  Kerkyra  um  Beistand  anzurufen  (435). 
Doch  dort  wollte  man  mit  dem  Gesindel  nichts  zu  tun  haben, 
und  nun  wandten  die  Demokraten  in  Epidamnos  sich  nach 
Korinth.  Hier  nahm  man  es  nicht  so  genau  und  ergriff  gern 
die  Gelegenheit,  einen  Schlag  gegen  Kerkyra  zu  führen.  Man 
sandte  also  eine  Besatzung  nach  Epidamnos;  da  Kerkyra 
das  Meer  beherrschte,  auf  dem  Landwege  über  ApoUonia. 
Die  Kerkyraeer  antworteten  mit  der  Absendung  eines  Ge- 
schwaders, das  den  Verbannten  die  Hand  reichte  und  mit 
ihnen  vereinigt  die  Belagerung  der  Stadt  begann.  Jetzt 
rüstete  Korinth  eine  große  Entsatzflotte  aus.  Kerkyra  brauchte 
den  Angriff  nicht  zu  fürchten,  denn  es  besaß  die  stärkste  und 
tüchtigste  Kriegsmarine  in  Griechenland,  die  athenische 
allein  ausgenommen  (oben  S.  115);  gleichwohl  wünschte 
es  den  Krieg  zu  vermeiden  und  war  bereit,  sich  einem  Schieds- 
gericht zu  unterwerfen.  In  Korinth  aber  wollte  man  von 
einem  Vergleiche  nichts  wissen  und  heß  die  Flotte  in  See 
gehen.  So  kam  es  bei  dem  Vorgebirge  Leukimme,  nahe  der 
Südspitze  Kerkyras,  zur  Schlacht,  in  der  die  Korinthier  vöUig 
geschlagen  wurden.  Am  selben  Tage  ergab  sich  Epidamnos, 
und   die   korinthische    Besatzung  wurde   kriegsgefarigen  ^. 

Korinth  durfte  diese  Niederlage  nicht  hinnehmen.  Es 
begann  also  mit  Aufgebot  aller  Kräfte  zu  rüsten,  und  es  gelang 
denn  auch,  mit  Hilfe  der  verbündeten  Nachbarstädte  und  der 
Kolonien  Leukas  und  Ambrakia,  im  Lauf  von  zwei  Jahren  eine 
Flotte  zusammenzubringen,  die  der  kerkyraeischen  mehr  als 
gewachsen  war.  Jetzt  blieb  Kerkyra  nichts  übrig,  als  sich 
an   den   einzigen   Staat  um  Hilfe  zu  wenden,    der  wirksame 

1  Plut.  Them.  24,  vgl.  Thuk.   I  136,  1. 
-  Thuk.  I  24—29.     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  90. 


288    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Unterstützung  gewähren  konnte,  Athen.  Kerkyra  tat  diesen 
Schritt  sehr  ungern,  denn  es  verzichtete  damit  auf  die  poli- 
tische Aktionsfreiheit,  die  es  bisher  sich  durch  alle  Wechsel - 
fälle  des  Geschicks  zu  bewahren  gewußt  hatte;  aber  es  hatte 
keine  andere  Wahl.  Athen  seinerseits  aber  hatte  das  höchste 
Interesse  daran,  zu  verhindern,  daß  Kerkyra  unter  korinthische 
Herrschaft  geriete,  und  damit  die  kerkyraeische  Seemacht 
den  Zwecken  Korinths  dienstbar  würde.  Und  nicht  minder 
wichtig  war  der  Besitz  Kerkyras  für  die  Beziehungen  Athens 
zu  Itahen  und  Sicilien.  Dem  gegenüber  mußten  alle  anderen 
Erwägungen  in  den  Hintergrund  treten.  Die  athenische 
Volksversammlung  nahm,  allerdings  nach  lebhafter  Opposition, 
das  von  Kerkyra  angebotene  Bündnis  an  (Sommer  433), 
doch  wurde  in  Rücksicht  auf  die  Peloponnesier  nur  eine 
DefensivaUianz  abgeschlossen.  Ein  Geschwader  von  10  Trieren 
wurde  sogleich  nach  Kerkyra  abgesandt;  man  erwartete 
offenbar,  daß  die  moralische  Unterstützung  Athens  genügen 
würde,  die  Korinthier  von  weiteren  Feindseligkeiten  ab- 
zuhalten ^. 

Ohne  Zweifel  war  Athen  formell  vollkommen  berechtigt, 
das  Bündnis  abzuschließen,  und  die  Peloponnesier  selbst 
haben  das  später  anerkannt  dadurch,  daß  sie  aus  der  Haltung 
Athens  in  dieser  Frage  keinen  Kriegsgrund  abgeleitet  haben. 
Da  indes  Kerkyra  mit  Korinth  im  Kriege  stand,  so  war  der 
Abschluß  des  Bündnisses  eine  unfreundliche  Handlung  gegen 
Korinth,  und  er  wurde  dort  als  solche  empfunden. '  Doch 
man  war  weit  davon  entfernt  einzulenken,  und  noch  im 
August  stach  die  große  Flotte  in  See.  Die  Kerkyraeer  er- 
warteten den  Feind  an  der  Einfahrt  in  den  Sund,  der  ihre 
Insel  vom  Festlande  trennt,  bei  den  Sybota- Inseln;  gegen 
etwa  80  korinthische  Schiffe  standen  60  Schiffe  von  Kerkyra, 
und  die  10  athenischen  Trieren.  In  dem  nun  sich  entwickelnden 
Kampfe  blieben  letztere,  ihrer  Instruktion  gemäß,  zunächst 
untätige  Zuschauer;  als  aber  die  Kerkyraeer  durch  die  Über- 
zahl des  Feindes  zum  Weichen  gebracht  wurden,  sahen  sich 


1  Thuk.  I  30—45.     CIA.  I  179. 


Kerkyra  im  Bund  mit  Athen.  —  Schlacht  bei  Sybota.  289 

die  Athener  doch  gezwungen,  in  die  Schlacht  einzugreifen, 
um  eine  Landung  der  Sieger  auf  der  verbündeten  Insel  zu 
hindern.  Das  würde  nun  freilich  bei  der  geringen  Zahl  der 
attischen  Schiffe  wenig  Erfolg  gehabt  haben,  wenn  nicht 
gerade  zu  rechter  Zeit  eine  Verstärkung  von  weiteren  20 
Trieren  aus  Athen  eingetroffen  wäre,  deren  Erscheinen  die 
Korinthier  bewog,  den  Kampf  abzubrechen  und  nach  dem 
Festland  zurückzurudern.  So  blieb  die  Schlacht  ohne  Ent- 
scheidung; freilich  hatte  die  kerkyraeische  Flotte  viel  schwerere 
Verluste  gehabt,  als  die  korinthische. 

Am  nächsten  Morgen  boten  die  vereinigten  Athener 
und  Kerkyraeer  den  Peloponnesiern  von  neuem  die  Schlacht 
an.  Diese  wagten  den  frischen  Trieren  aus  Athen  gegenüber 
keinen  Kampf;  andererseits  waren  die  athenischen  Feld- 
herren durch  ihre  Instruktionen  gebunden,  sich  auf  den  Schutz 
des  kerkyraeischen  Gebiets  zu  beschränken,  sonst  aber  jede 
Feindseligkeit  mit  den  Korinthiern  zu  vermeiden.  So  konnte 
die  peloponnesische  Flotte  ungehindert  ihren  Rückzug  an- 
treten; sie  tat  es  unter  Protest  gegen  den  angeblichen  Friedens - 
bruch   der  Athener.      Kerkyra  war   gerettet  ^. 

Aber  zugleich  war  es  zwischen  Athenern  und  Pelopon- 
nesiern zum  erstenmal  seit  dem  Abschluß  des  dreißigjährigen 
Friedens  zum  Kampfe  gekommen;  man  mochte  streiten, 
wen  die  Verantwortung  traf,  die  Tatsache  blieb  bestehen, 
daß  der  Friede,  wenn  nicht  formell,  so  doch  faktisch  gebrochen 
war.  Es  war  vorauszusehen,  daß  Korinth  die  Herausforderung 
nicht  unbeantwortet  lassen  würde;  war  es  doch  durch  die 
neue  Machtstellung,  die  Athen  in  Kerkyra  gewonnen  hatte, 
in  seinen  vitalsten  Interessen  bedroht.  So  beschloß  Perikles, 
dem    Schlage   zuvorzukommen. 

An  der  thrakischen  Küste,  auf  dem  flachen  Isthmos, 
der  die  fruchtbare  Halbinsel  Pallene  mit  dem  Rumpf  der 
Chalkidike  verbindet,  hatten  die  Korinthier  in  Periandros' 
Zeit  die  Kolonie  Poteidaea  begründet  (oben  IIS.  254).    Die 

^  Thuk.  I  45 — 55.  Das  zweite  athenische  Geschwader  ist  am  Anfanp 
der  zweiten  Prytanie  433/2  in  See  gegangen  (CIA.  1  179,  besser  Dittenb.  Syll.  '^ 
26,  unten  2.  Abt.  §  90),  über  die  Stärke  der  Flotten  unten  2.  Abt.  §  92  ff. 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  19 


290    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Mauern  liefen  von  Meer  zu  Meer,  vom  Thermaeischen  zum 
Toronaeischen  Busen,  und  schlössen  demnach  Pallene  voll- 
ständig gegen  den  Kontinent  ab.  Infolge  dieser  günstigen 
Lage  blühte  Poteidaea  bald  zur  ersten  Stadt  in  diesen  Gegenden 
empor.  Allein  in  Thrakien  hatte  sie  gleich  nach  Salamis  es 
gewagt,  der  nationalen  Sache  sich  anzuschließen,  ungeschreckt 
durch  die  zahllosen  Scharen  der  Perser,  deren  Belagerung 
sie  siegreich  Trotz  geboten  hatte  (oben  S.  52).  Dann  war 
Poteidaea  in  den  attischen  Seebund  eingetreten;  galt  es  doch, 
die  persischen  Garnisonen  aus  den  thrakischen  Festungen 
zu  vertreiben.  Aber  das  Band,  das  es  an  die  Mutterstadt 
knüpfte,  hatte  Poteidaea  darum  nicht  gelöst;  Jahr  für  Jahr 
empfing  es  aus  Korinth  seinen  Oberbeamten,  den  ,,Epida- 
miurgos".  Es  war  ein  Verhältnis,  das  unhaltbar  werden 
mußte,  sobald  die  Beziehungen  zwischen  Athen  und  Korinth 
sich  zu  trüben  begannen;  und  Perikles  hielt  es  jetzt  an  der 
Zeit,  diesem  Zustand  ein  Ende  zu  machen.  Ein  attischer 
Volksbeschluß  befahl  den  Poteidaeaten,  den  korinthischen 
Beamten  aus  der  Stadt  zu  weisen  und  ihre  Befestigungen 
auf  der  Seite  nach  Pallene  hin  niederzulegen. 

Einen  sichereren  Weg,  Poteidaea  zum  Aufstand  zu 
treiben,  hätte  man  gar  nicht  einschlagen  können.  Die  un- 
kriegerischen und  auf  sich  selbst  gestellten  Städte  loniens 
hatten  sich  ohne  Widerstand  der  Entfestigung  gefügt,  die 
Athen  über  sie  verhängte;  Poteidaeas  Bürgerschaft  war  aus 
anderem  Stoffe  und  hatte  außerdem  einen  Rückhalt  an 
Korinth  und  an  König  Perdikkas  von  Makedonien,  der  mit 
Athen  seit  kurzem  im  Kriege  stand.  Als  daher  der  Versuch, 
die  Rücknahme  der  attischen  Forderungen  zu  erwirken,  erfolg- 
los blieb,  erklärte  Poteidaea  seinen  Austritt  aus  dem  Seebunde. 
Die  benachbarten  Bottiaeer  und  Chalkider  folgten  dem  Bei- 
spiel. Sie  verließen  ihre  kleinen  Städte  am  Meer,  die  gegen 
die  athenische  Flotte  doch  nicht  zu  verteidigen  waren,  und 
siedelten  nach  Olynthos  über,  zu  dessen  künftiger  Größe 
damit  der  Grund  gelegt  wurde   (Frühjahr  432)  ^. 


1  Thuk.  I  56—58. 


Abfall  von  Poteidaea.  291 


In  Athen  war  man  seiner  Sache  so  sicher  gewesen,  daß 
man  durch  die  Nachricht  vom  Abfalle  Poteidaeas  vollständig 
überrascht  wurde.  Man  hatte  allerdings  ein  Geschwader 
von  30  Trieren  mit  1000  Hopliten  an  Bord  nach  Makedonien 
geschickt,  aber  diese  Macht  war  ganz  unzureichend,  um  gleich- 
zeitig gegen  Perdikkas  und  die  empörten  Städte  der  Chalkidike 
vorzugehen.  Ja  sie  reichte  nicht  einmal  hin  zu  einer  Blockade 
Poteidaeas,  so  dringend  nötig  es  auch  war,  der  Stadt  keine 
Zeit  zu  lassen,  sich  auf  eine  Belagerung  vorzubereiten.  Man 
beschränkte  sich  also  auf  Angriffe  gegen  die  makedonischen 
Küstenplätze:  Therme  wurde  genommen,  Pydna  belagert. 
Jetzt  endlich,  es  war  schon  gegen  Ende  Sommer,  kamen 
Verstärkungen  aus  Athen,  2000  Hopliten  und  40  Trieren  unter 
dem  Strategen  Kallias  ^.  Aber  auch  diese  Streitkräfte  waren 
durchaus  ungenügend  für  die  Aufgabe,  die  hier  zu  lösen  war. 
Es  blieb  nichts  übrig,  als  Perdikkas  den  Frieden  zu  bewilligen, 
um  endlich  gegen  Poteidaea  vorgehen  zu  können.  Dort  waren 
aber  unterdessen  1600  peloponnesische  Hopliten  eingetroffen, 
Söldner  und  korinthische  Freiwillige,  und  damit  waren  die 
Aufständischen  den  Athenern  auch  numerisch  gewachsen, 
um  so  mehr,  als  Perdikkas,  sowie  sein  Gebiet  von  den  Athenern 
geräumt  war,  den  eben  geschlossenen  Vertrag  brach  und  den 
Chalkidern  ein  Reiterkorps  zu  Hilfe  schickte.  Zwar  blieb 
den  Athenern  vor  den  Mauern  Poteidaeas  in  offener  Feld- 
schlacht der  Sieg  ^^  aber  die  vorhandenen  Kräfte  reichten 
nur  aus,  der  Stadt  die  Verbindungen  nach  Norden  hin  ab- 
zuschneiden; die  gegen  Pallene  gewandte  Südfront  bheb 
zunächst  offen,  und  erst  eine  weitere  Verstärkung  von  1600 
Hopliten  im  nächsten  Frühjahr  (431)  ^  setzte  die  Athener 
in  den  Stand,  auch  nach  dieser  Seite  hin  ihre  Einschließungs- 
linien  zu  vollenden.  Jetzt  waren  nahe  an  5000  attische  Hopliten, 
zahlreiche  Bundesgenossen  und  70  Trieren  vor  Poteidaea 
vereinigt;  ein  Heer,  wie  es  Athen  nie  zuvor  zu  einer  über- 


1  CIA  IV  179  a  b,  S.  159  ff. ;  besser  bei  Kolbe,  Hermes  XXXIV,  1899. 
380  ff.     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  59. 

*  Die  Grabschrift  auf  die  gefallenen  Athener  CIA.   I  442. 
=<  Über  die  Zeit  unten  2.  Abt,   §  91. 

19* 


292    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 


seeischen  Expedition  aufgeboten  hatte  i.  Gegenüber  solchen 
Streitkräften  hielt  es  Perdikkas  angezeigt,  wieder  Frieden 
mit  den  Athenern  zu  machen;  er  erhielt  Therme  zurück  und 
stellte  dafür  ein  Kontingent  gegen  die  Chalkider  (Sommer  431)2. 

Inzwischen  waren  die  Korinthier  auch  nach  anderer 
Seite  hin  gegen  Athen  tätig  gewesen.  Daß  die  Erhebung 
Poteidaeas  nur  dann  Erfolg  haben  könne,  wenn  die  Stadt 
aus  dem  Peloponnes  wirksame  Unterstützung  erhielt,  war 
von  vornherein  klar;  und  Poteidaea  war  denn  auch  erst  zum 
Abfall  geschritten,  als  seine  Gesandten  von  den  Ephoren 
in  Sparta  das  Versprechen  einer  solchen  Unterstützung  er- 
halten hatten  ^.  Es  handelte  sich  jetzt  darum,  dieses  Ver- 
sprechen durch  die  spartanische  Volksversammlung  rati- 
fizieren zu  lassen.  Das  war  nicht  ganz  leicht;  denn  mit  so 
großer  Besorgnis  man  auch  in  Sparta  die  Machtstellung  Athens 
betrachten  mochte,  so  sehr  man  geneigt  war,  Korinth  den 
erbetenen  Rückhalt  zu  gewähren,  so  bestand  doch  einmal  der 
dreißigjährige  Frieden  mit  Athen,  und  man  scheute  sich,  die 
geschworenen  Eide  zu  brechen.  Und  es  war  kein  geringerer 
als  der  alte  König  Archidamos,  der  durch  seine  Stellung  wie 
durch  sein  persönliches  Ansehen  einflußreichste  Mann  Spartas, 
der  für  die  Erhaltung  des  Friedens  eintrat. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  sehr  fraglich,  ob  die 
Ephoren  in  der  Volksversammlung  die  für  ihre  Kriegspolitik 
erforderliche  Mehrheit  gefunden  haben  würden,  hätte  nicht 
Athen  selbst  den  gewünschten  Vorwand  geliefert.  Dort  hatte 
man  nämhch  soeben  auf  Perikles'  Antrag  den  Bürgern  von 
Megara  den  Aufenthalt  auf  attischem  Boden  und  allen  Verkehr 
mit  den  Häfen  im  ganzen  attischen  Reiche  untersagt  und 
damit  den  megarischen  Handel  so  gut  wie  vollständig  lahm- 
gelegt. Die  Maßregel  war  motiviert  mit  kleinen  Übergriffen 
der  Megarer,  wie  sie  zwischen  feindseligen  Nachbarn  nie 
fehlen;  der  wahre  Grund  war  der  Groll,  der  sich  seit  der  Er- 
hebung des  Jahres  446  in  Athen  gegen  Megara  angesammelt 

1  Thuk.  I  59—66. 
-  Thuk.  II  29,  6. 
*  Thuk.  I  68. 


Das  megarische  Psephisma.  —  Intervention  Spartas.  293 

hatte  ^.  So  gerechtfertigt  dieser  Groll  nun  an  und  für  sich 
auch  sein  mochte,  so  ist  es  doch  klar,  daß  Athen  in  diesem 
Augenblicke  nichts  weniger  Opportunes  tun  konnte,  als  die 
Annahme  des  ,,megarischen  Psephisma".  Denn  Megara 
gehörte  zur  peloponnesischen  Symmachie;  und  wenn  auch 
der  Vertrag  von  446/5  über  den  Verkehr  zwischen  beiden 
kontrahierenden  Teilen  keine  ausdrückliche  Bestimmung 
enthielt  -,  so  galt  es  doch  nichtsdestoweniger  in  Hellas  für 
selbstverständlich,  daß  das  Recht  freien  Verkehrs  durch  den 
Friedenszustand  gewährleistet  sei  ^.  Den  besten  Beweis 
dafür  hatten  die  Athener  selbst  geliefert  dadurch,  daß  sie 
den  Megarern  die  Handelsfreiheit  mit  dem  athenischen  Reiche 
bis  jetzt  nicht  zu  beschränken  gewagt  hatten.  Damit  war 
die  Entscheidung  gegeben.  Sparta  konnte  gar  nicht  anders, 
als  sich  seiner  Bundesstadt  annehmen,  wenn  es  nicht  über- 
haupt auf  die  Führung  im  Peloponnes  verzichten  wollte. 
Die  Rücksicht  auf  das  mächtige  Korinth  tat  das  übrige.  So 
erklärte  denn  zuerst  die  spartanische  Volksversammlung 
und  darauf  auch  der  peloponnesische  Bundestag,  daß  Athen 
den  Frieden  gebrochen  habe  (Herbst  432)  *.  Eine  Kriegs- 
erklärung war  das  noch  nicht;  aber  wenn  Athen  jetzt  nicht 
nachgab,   war  der   Krieg  allerdings   unvermeidlich. 


1  Thuk.  I  67,  4;  139,  1.  2,  Aristoph.  Acharn.  531,  Fried.  609;  aus  den 
letzteren  beiden  Stellen  ergibt  sich,  daß  Perikles  selbst  den  Antrag  gestellt 
hatte,  und  zwar,  nach  Philoch.  Schol.  Aristoph.  Fried.  605,  unter  Pythodoros 
(432/1),  s.  unten  S.  296  Anm.  ;  im  Herbst  dieses  Jahres  führten  die  Megarer 
deswegen  in  Sparta  Beschwerde  (Thuk.  I  67,  4).  Aus  Aristoph.  Acharn.  515  ff. 
zu  schließen,  es  hätte  schon  vor  Perikles'  Psephisma  eine  Handelssperre  gegen 
Megara  bestanden,  ist  widersinnig,  da  ja  erst  dieses  Psephisma  die  Handels- 
sperre verfügt  hat;  Aristophanes  ist  doch  kein  Historiker,  dessen  Worte  man 
auf  die  Goldwage  legen  könnte.  —  Das  Psephisma  des  Charinos  über  die  äanovboq 
Koi  ÖKripuKTOi;  ^XÖP»  gegen  Megara  (Plut.  Per.  30)  gehört  natürlich  erst  in  die 
Zeit  nach  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  (vgl.  Thuk.  H  31,  3;  IV  66,  1); 
die  Ermordung  des  Herolds  Anthemokritos  (Brief  PhiHpps  bei  Demosth.  XII  4, 
Paus.  I  436,  3,  Harpokr.  Suid.)  hat  mit  den' beiden  Psephismen  nichts  zu  tun. 

-  Thuk.  I  144.  2.  Auch  die  Urkunde  des  Nikiasfriedens  enthält  keine 
solche  Bestimmung. 

ä  Thuk.   I  67,  4. 

*  Thuk.  I  67—88,  119—125. 


294    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

In  Athen  begann  eben  um  diese  Zeit  das  perikleische 
Regiment  bedenklich  zu  wanken.  Seit  Perikles  ohne  Neben- 
buhler an  der  Spitze  des  Staates  stand,  hatte  er  aufgehört, 
ausschließlich  den  Interessen  der  besitzlosen  Menge  zu  dienen. 
Denn  die  Demagogie  war  ihm  nie  etwas  anderes  gewesen  als 
ein  Mittel  zur  Erringung  der  Macht;  jetzt,  wo  das  Ziel  erreicht 
war,  lenkte  er  in  gemäßigtere  Bahnen  ^,  Er  gewann  sich  damit 
allerdings  die  Sympathien  der  breiten  Schichten  der  besitzenden 
und  gebildeten  Klassen;  selbst  ein  so  konservativer  Mann 
wie  der  Historiker  Thukydides  steht  nicht  an,  der  perikleischen 
Staatsleitung  das  begeistertste  Lob  zu  spenden.  Aber  Perikles 
verlor  darüber  einen  großen  Teil  seiner  Popularität  bei  den 
Massen.  Man  kam  hier  immer  mehr  zu  der  Überzeugung, 
daß  bei  dem  Kampfe  um  die  Erweiterung  der  Volksrechte  der 
Kampfpreis  selbst  allmählich  zugrunde  gegangen  sei.  Lebte 
man  denn  überhaupt  noch  in  einer  Demokratie,  wenn  derselbe 
Mann  jahraus  jahrein  die  Militärmacht  des  Staates  wie  seine 
finanziellen  Hilfsquellen  zur  unbeschränkten  Verfügung  hatte, 
und  die  Beziehungen  Athens  nach  außen  und  zu  den  Bundes- 
staaten nach  seinem  Gutdünken  leitete? 

An  die  Spitze  dieser  Opposition  von  unten  trat  der  reiche 
Gerbermeister  Kleon  aus  dem  städtischen  Demos  Kydathe- 
naeon  ",  ein  Mann  ohne  jede  höhere  Bildung  und  in  seiner 
Brutalität  ein  echter  Emporkömmling^,  aber  auch  von  rück- 
sichtsloser Energie,  und  ausgerüstet  mit  jener  natürlichen 
Beredsamkeit,  die  es  vermag,  die  Massen  zu  begeistern  und 
mit  sich  fortzureißen.  Für  sich  allein  wäre  diese  Opposition 
wenig  zu  fürchten  gewesen,  aber  sie  fand  Bundesgenossen 
bei  einem  großen  Teil   der  Besitzenden,    bei   allen  denen,  die 

1  Thuk.  II  65  Koreixe  bä  tö  TTXfjGo^  i\e\)Q4.pvj<;,  Kai  oOk  fiTCTO  luäWov 
bif  aÖToO  fi  auTÖi;  Y]'^e,  vgl.  Plut.  Per.  15. 

*  Herxnippos  fr.  46  Kock,  Sotion  bei  Diog.  Laert  II 12.  Schon  sein  Vater 
Kleaenetos  hat  Leiturgien  geleistet  (CIA    II  971  a). 

'  Thuk.  III  36  ßiaiÖTOTOC  tujv  ttoXitujv,  vgl  die  Rede,  die  ihn  Thuky- 
dides in  der  mytilenaeischen  Sache  halten  läßt  (III  37 — 40)  und  Aristophanes 
Ritter.  Der  Paphlagone  in  diesem  Stück  ist  freilich  eine  Karikatur,  aber  eine 
gute,  und  eine  solche  muß  die  charakteristischen  Züge  des  Originals  wieder- 
geben. 


Opposition  gegen  Perikles.  295 

es  Perikles  niemals  verziehen  hatten,  daß  er  es  gewesen  war, 
der  den  Demos  zum  maßgebenden  Faktor  im  Staate  erhoben, 
der  ihn  gewöhnt  hatte,  auf  öffentliche  Kosten  zu  leben  und 
sich  zu  vergnügen. 

Es  kam  dazu,  daß  Perikles  den  religiösen  und  sozialen 
Vorurteilen  seiner  Mitbürger  weniger  Rechnung  trug,  als  für 
einen  Mann  in  seiner  Stellung  ratsam  gewesen  wäre.  Er  war 
ein  Anhänger  der  neuen  Aufklärung  und  stand  zu  ihren 
Koryphäen  in  den  engsten  Beziehungen^;  die  große  Masse 
des  Volks  aber,  und  keineswegs  bloß  der  Pöbel,  betrachtete 
diese  Männer  mit  tiefstem  Mißtrauen  und  befürchtete,  nicht 
mit  Unrecht,  von  ihnen  die  Vernichtung  des  alten  Götter- 
glaubens. Noch  anstößiger  war  Perikles'  Verhältnis  zu  Aspasia, 
in  der  die  öffenthche  Meinung  nun  einmal  nur  die  Hetaere 
sah,  und  die  ja  außerdem  ebenfalls  den  Kreisen  der  Aufklärer 
angehörte.  Hier  setzten  denn  auch  die  Angriffe  der  Gegner 
zunächst  ein;  denn  Perikles  selbst  stand  zu  hoch,  als  daß 
ein  direktes  Vorgehen  gegen  ihn  irgendwelchen  Erfolg  ver- 
sprochen hätte.  So  wurde  Perikles'  Freund  Anaxagoras  wegen 
Gottlosigkeit  der  Prozeß  gemacht  und  der  greise  Philosoph 
gezwungen,  Athen  den  Rücken  zu  kehren.  Desselben  Ver- 
brechens und  außerdem  noch  der  Verführung  freier  Frauen 
zu  unsittlichem  Lebenswandel  wurde  Aspasia  angeklagt 
und  nur  mit  Aufgebot  all  seines  Einflusses  konnte  Perikles 
sie  vor  der  Verurteilung  retten.  Dann  kam  die  Reihe  an 
Pheidias.  Unter  der  Beschuldigung,  bei  der  Anfertigung 
des  großen  Bildes  der  Stadtgöttin  Gold  und  Elfenbein  unter- 
schlagen zu  haben,  wurde  er  ins  Gefängnis  geworfen,  wo  er 
noch  vor  dem  Spruch  des  Urteils  gestorben  ist,  DemMetoeken 
Menon,  der  die  Denunziation  gegen  ihn  eingebracht  hatte, 
wurde  durch  Volksbeschluß  Steuerfreiheit  bewiüigt  und 
damit  indirekt  Pheidias  für  schuldig  erklärt  2.     Das  war  zu- 


*  Plut.  Per.  4—6.  36.  Vgl.  Protagoras  fr.  9  Diels  bei  Plut.  Trostschrift 
an  Apollonios  33  S.  118. 

^  Diod.  XII  39,  Plut.  Per.  31  f.  Über  den  Prozeß  gegen  Anaxagoras  auch 
Plut.  Nik.  23,  Diog.  Laert.  II  12,  andere  Stellen  bei  Diels,  Vorsokratiker.  Über 
den  Prozeß  gegen  Aspasia  Aeschines  der  Sokratiker  bei  Plut.  Per.  32  =  Athen. 


296    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

gleich  ein  Schlag  gegen  Perikles,  der  als  Kommissar  die  Auf- 
stellung der  Statue  geleitet  hatte,  und  also  für  die  dazu  be- 
willigten Gelder  verantwortlich  war;  doch  ist  es  zu  einer  förm- 
lichen  Anklage    gegen   ihn   nicht    gekommen. 

Perikles  fühlte  sich  in  seiner  leitenden  Stellung  erschüttert, 
und  er  war  entschlossen,  den  drohenden  Sturm  nach  außen 
abzulenken.  Der  erste  Schritt  nach  dieser  Richtung  war  der 
Abschluß  des  Bündnisses  mit  Kerkyra  433.  Seitdem  hatte 
er  systematisch  auf  den  Bruch  mit  den  Peloponnesiern  hin- 
gearbeitet; das  Vorgehen  gegen  Poteidaea,  das  megarische 
Psephisma  waren  offene  Herausforderungen  an  Sparta  und 
seine  Verbündeten.  Und  als  nun  eine  spartanische  Gesandt- 
schaft in  Athen  erschien,  um  wegen  dieser  Übergriffe  Be- 
schwerde zu  führen,  da  trat  Perikles  mit  dem  ganzen  Schwer- 
gewicht   seines    noch    immer    unermeßlichen    Einflusses    und 


XIII  589  e  (Dittmar,  Aesch.  v.  Sphetios,  Berlin  1912,  S.  22  A.  85),  vgl.  Schol. 
Aristoph.  RiiterdQd.  Prozeß  gegen  Pheidias:  Aristoph.FriW^n605undPhiIochoros 
in  den  Scholien  zu  der  Stelle.  Der  auf  einem  Genfer  Papyrus  erhaltene  Bericht 
(J.  Nicole,  Le  Proces  de  Phidias,  Genf  1910,  dazu  L.  Pareti,  Rom.  Miit.  XXIV, 
1910,  S.  271  ff.)  ist  leider  so  schwer  beschädigt,  daß  kaum  etwas  daraus  zu 
entnehmen  ist;  mit  Apollodor,  wie  Nicole  meint,  hat  der  Bericht  natürlich 
nicht  das  geringste  zu  tun,  vgl.  Pareti  a.  a.  O.  Daß  alle  diese  Prozesse  in  dieselbe 
Zeit  gehören,  und  zwar  unmittelbar  vor  den  Ausbruch  des  peloponnesischen 
Krieges,  ist  an  sich  klar  und  auch  in  den  Quellen  ausdrücklich  bezeugt.  Phi- 
lochoros  a.  a.  0.  setzt  den  Prozeß  des  Pheidias  unter  Pythodoros  (432/1);  da 
aber  der  Scholiast,  der  uns  dies  Zeugnis  aufbewahrt  hat,  der  Ansicht  war,  dieser 
Pythodoros  sei  der  siebente  vor  Skythodoros  gewesen,  unter  den  er  das  megarische 
Psephisma  setzt,  so  emendieren  die  Neueren  seit  Palmerius  ^rri  Oeobuipou, 
obgleich  die  Handschriften  beidemal  ^trl  TTu9obibpou  geben.  Der  Einspruch 
Karl  Müllers  {FHG.  I  S.  400)  ist  ungehört  verhallt.  Mir  scheint  klar,  daß  der 
Scholiast  oder  schon  seine  Quelle  eine  korrupte  Archontenliste  vor  sich  hatte, 
in  der  der  Archon  von  432/1  ZKuSöbujpoc;,  der  von  438/7  TTueöbuipoq  hieß.  Wie 
hätte  denn  Aristophanes  darauf  verfallen,  können,  das  megarische  Psephisma 
mit  dem  Prozeß  des  Pheidias  zusammenzubringen,  wenn  7  Jahre  dazwischen 
lagen  ?  Ferner  ergibt  sich  aus  den  Baurechnungen  des  Parthenon,  daß  im 
14.  Jahre  (434/3)  Gold  und  Elfenbein  verkauft  wurde  (vgl.  die  Bearbeitung 
der  Urkunde  bei  Cavaignac,  Etüde  sur  l'hist.  financiere  d'  Athene s,  Paris  1908); 
auch  dadurch  wird  wahrscheinlich,  daß  die  Statue  erst  damals  vollendet  worden 
ist.  Das  Richtige  hat  längst  Nissen  gesehen  {Hist.  Zeitschr.  N.  F.  XXVII,  1889, 
S.  406  f.);  näher  begründet  ist  es  von  Pareti  a.  a.  0. 


Perikles  treibt  zum  Kriege.  297 

seiner  amtlichen  Stellung  dafür  ein,  jede  noch  so  unbedeutende 
Konzession  zu  verweigern  ^.  Wie  die  Parteien  in  Sparta  zu- 
einander standen,  würde  die  Aufhebung  des  megarischen 
Psephisma  aller  Voraussicht  nach  genügt  haben,  den  drohenden 
Sturm  zu  beschwören  ^■,  denn  die  sonstigen  Forderungen 
der  Spartaner,  Athen  solle  von  Poteidaea  ablassen  und  Aegina 
die  Freiheit  geben,  waren  kaum  ernsthaft  gemeint,  und  wurden 
sogleich  fallen  gelassen,  wie  sie  denn  auch  formell  ganz  un- 
gerechtfertigt waren.  Voi*  14  Jahren  hatte  Athen  mit  viel 
schwereren  Opfern  den  Frieden  erkauft  und  doch  seine  Groß- 
machtstellung  behauptet;  es  war  eine  Phrase,  wenn  Perikles 
jetzt  erklärte,  die  Ehre  des  Staates  gebiete  es,  an  dem  einmal 
gegen  Megara  gefaßten  Beschluß  festzuhalten.  Aber  diese 
Sprache  war  trefflich  auf  die  Leidenschaften  der  großen  Menge 
berechnet,  und  sie  war  in  Athen  fast  immer  ihres  Erfolges 
gewiß.  Die  lakedaemonischen  Forderungen  wurden  also  auf 
Perikles'  Antrag  abgewiesen;  dagegen  erklärte  Athen  sich 
bereit,  wegen  der  streitigen  Punkte  ein  Schiedsgericht  anzu- 
nehmen ^.  In  der  Form  stellte  man  sich  damit  allerdings 
streng  auf  den  Boden  der  Verträge^;  aber  nach  allem  was 
vorgefallen  war,  mußte  diese  Antwort  den  Peloponnesiern 
wie  Hohn  kHngen.  Wo  war  denn  ein  Schiedsrichter  zu  finden, 
wenn  ganz  Hellas  für  oder  wider  Partei  nahm?  So  wurden 
die  Verhandlungen  abgebrochen  und  im  Peloponnes  begannen 
die  Rüstungen. 

Gewiß,  der  Krieg  zwischen  den  beiden  hellenischen 
Vormächten,  zwischen  Demokratie  und  OHgarchie,  wäre 
früher  oder  später  doch  unvermeidlich  gewesen.  Nur  daß 
er  gerade  in  diesem  Augenbhck  ausbrach,  war  Perikles'  Werk. 
Und  man  kann  nicht  sagen,  daß  der  Zeitpunkt  glücklich 
gewählt  war.    War  doch  Athen  eben  jetzt  vollständig  isoliert 


1  Thuk.  I  127  ÜL)v  fäp  buvaTUJTaroq  tujv  koG'  ^auTÖv  Kai  cxyujv  t^v 
TToXiTeiav  rivavTiouTO  irävTa  Toi<;  AaKebaiuovioiq  Kai  oOk  eia  üireiKeiv,  ä\\ 
i.c,  TÖv  TTÖXeiLiov  lÄpfia  Touq  'A0r]va(ou<;. 

■'  Thuk.   I  139,  1,  Plut.  Per.  29. 

=>  Thuk.  I  139—145. 

*  Das  haben  die  Spartaner  selbst  später  anerkannt:  Thuk.  VII  18,  2. 


298    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 


und  auf  die  eigene  Kraft  angewiesen;  dem  einzigen  Staat, 
auf  dessen  Unterstützung  man  hätte  rechnen  können,  Argos, 
waren  durch  seinen  Vertrag  mit  Sparta  noch  auf  ein  Jahrzehnt 
die  Hände  gebunden.  Dazu  kam  der  Krieg  in  Thrakien,  der 
ein  volles  Drittel  des  athenischen  Landheeres  in  Anspruch 
nahm.  Und  auch  abgesehen  von  allem  dem,  war  jedes  Jahr, 
das  dem  Frieden  erhalten  bheb,  ein  unschätzbarer  Gewinn 
für  Athen  und  für  Hellas.  Perikles  wußte  das  alles  natürlich 
so  gut  wie  irgendein  anderer  ^;  wenn  er  trotzdem  zum  Kriege 
trieb,  so  waren  es  offenbar  Rücksichten  der  inneren  Politik, 
die  ihn  dazu  bewogen,  und  die  öffenthche  Meinung  in  Hellas 
war  darüber  auch  gar  nicht  im  Zweifel  ^.  Skrupel  in  der  Wahl 
seiner  Mittel  hat  Perikles  niemals  gekannt;  und  wie  er  einst 
in  Athen  den  Klassenkampf  entzünden  geholfen  hatte,  so 
entzündete    er   jetzt    den    hellenischen    Bürgerkrieg. 

Perikles  hatte  sein  nächstes  Ziel  erreicht;  alles  hing 
nun  davon  ab,  ob  er  imstande  sein  würde,  den  Krieg  erfolg- 
reich zu  führen.  Er  selbst  redete  darüber  in  der  Volksversamm- 
lung mit  großer  Zuversicht,  und  ohne  Zweifel  sprach  er  damit 
nur  seine  wirkliche  Meinung  aus;  er  würde  den  Krieg  nicht 
herbeigeführt  haben,  wenn  er  nicht  von  der  Gewißheit  des  Sieges 
überzeugt  gewesen  wäre.  Und  in  der  Tat  gebot  Athen  noch  immer 


^  Theophrast  bei  Plut.  Per.  23. 

^  So  schon  Aristophanes  {Acharn.  515  ff.,  Frieden  609,  Andokides  v.  Fr.  8, 
und  später  Ephoros  (bei  Diod.  XII  39).  Ich  sehe  nicht,  wie  Perikles'  Politik 
von  anderen  Voraussetzungen  aus  verständlich  ist.  Man  hat  gemeint,  Perikles 
hätte  den  Krieg  provoziert,  um  Megara  zu  gewinnen,  aber  das  erinnert  doch 
gar  zu  sehr  an  die  Geschichte  von  jenem  Bauern,  der  sein  Haus  anzündete, 
um  die  Wanzen  daraus  zu  vertreiben,  mit  dem  Unterschiede,  daß  der  Bauer 
wenigstens  seine  Wanzen  los  wurde,  Athen  aber  Megara  durch  den  Krieg  nicht 
bekommen  hat  Vgl.  auch  Ed.  Meyer,  Forschungen  II  S.  304.  —  Der  Perikles- 
Kultus,  der  ja  noch  immer  in  schönster  Blüte  steht,  sträubt  sich  natürlich, 
die  Tatsache  anzuerkennen,  daß  der  große  athenische  Staatsmann  den  pelo- 
ponnesischen  Krieg  aus  persönlichen  Gründen  zum  Ausbruch  gebracht  hat. 
Thukydides  ist  weniger  zartfühlend  gewesen;  er  hält  es  für  eine  selbstverständ- 
liche Sache,  daß  ein  Staatsmann  von  egoistischen  Motiven  geleitet  wird,  und 
legt  demgemäß  solche  Beweggründe  auch  den  Männern  unter,  die  er  am  höchsten 
bewundert,  einem  Brasidas  (V  16,  1),  einem  Nikias  (a.  a.  0.),  einem  Phrynichos 
(VIII  50,  vgl.  VIII  27,  5). 


Hilfsquellen  Athens.  299 


über  eine  gewaltige  Macht  ^.  Sämtliche  Inseln  des  Aegaeischen 
Meeres  von  Kreta  nordwärts  waren  ihm  untertänig,  mit  der 
einzigen  Ausnahme  von  Melos  und  Thera;  an  der  thrakischen 
Küste  gehorchten  ihm  auch  jetzt  noch,  nach  dem  Abfall  von 
Poteidaea  und  Olynthos,  der  größte  Teil  der  chalkidischen 
Halbinsel  und  alle  Griechenstädte  vom  Strymon  zum  Bosporos; 
ebenso  fast  alle  Griechenstädte  Asiens  von  Kalchedon  bis 
Knidos.  Im  Westen  standen  Zakynthos  ^,  Kerkyra,  die 
Messenier  von  Naupaktos,  die  Akarnanen  und  Amphilocher, 
Rhegion  und  Neapolis  in  Italien,  Leontinoi  und  Segesta  in 
Sicilien  mit  Athen  im  Bunde.  Die  jährlichen  Einnahmen 
des  Reiches  betrugen  gegen  600  Talente,  eine  Summe,  wie 
sie  kein  anderer  Staat  der  damaligen  Welt  einnahm,  mit 
Ausnahme  des  persischen  Reiches  und  etwa  der  Republik 
Karthago.  Aus  den  Überschüssen  dieser  Einnahmen  war  ein 
Reservefonds  von  6000  Talenten  angesammelt  worden.  In 
den  Arsenalen  des  Peiraeeus  lagen  300  Trieren;  außerdem 
verfügte  Athen  über  die  Flotten  von  Lesbos,  Chios  und  Ker- 
kyra; und  mehr  noch  als  die  Zahl  wog  die  erprobte  Tüchtigkeit 
der  athenischen  Marine,  die  auf  der  ganzen  Welt  keinen  Rivalen 
zu  fürchten  hatte.  Schhmmer  bestellt  war  es  mit  der  Land- 
macht Athens.  Allerdings  mochte  das  attische  Reich  den 
peloponnesischen  Bund  an  Volkszahl  um  mehr  als  das  doppelte 
übertreffen;  und  die  13  000  Hophten  und  1000  Reiter,  die 
Athen  selbst  aufzustellen  vermochte  ^,  brauchten  den  Ver- 
gleich mit  keiner  anderen  griechischen  Bürgerwehr  zu  scheuen, 
die  von  Sparta  und  Theben  allein  etwa  ausgenommen.  Da- 
gegen war  die  Bevölkerung  der  Städte  in  Kleinasien  und  auf 
den  Inseln  durchaus  unkriegerisch,  und  was  noch  mehr  ins 
Gewicht  fiel,  politisch  ganz  unzuverlässig.     Athen  war  also 


^  Vgl.  die  Übersichten  bei  Thuk.  II  9  und  13. 

^  Die  Insel  war  mit  Kerkyra  verbündet  (Thuk,  I  47)  und  dadurch  auch 
mit  Athen.  Akarnanien  wurde'  durch  den  Gegensatz  zu  den  korinthischen 
Kolonien  Ambrakia  und  Leukas  auf  die  athenische  Seite  gedrängt.  Das  Bündnis 
ist  durch  Phormion  abgeschlossen  (Thuk.  II  68,  8),  wohl  schon  vor  dem  dreißig- 
jährigen Frieden. 

=  Vgl.  Klio  V,  1905,  S.  356  ff. 


300    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias* 

♦ 


im  wesentlichen  angewiesen  auf  das  Aufgebot  seiner  eigenen 
Bürger  und  seiner  iCleruchen  in  Lemnos,  Imbros,  Skyros, 
Oreos;  es  konnte  nicht  daran  denken,  ein  Hophtenheer  auf- 
zustellen, das  dem  Aufgebot  des  peloponnesischen  Bundes 
an  Zahl,   oder  gar  an   Qualität  gewachsen  gewesen  wäre. 

Perikles  war  von  dieser  Inferiorität  Athens  zu  Lande 
so  vollständig  überzeugt,  daß  er  von  vornherein  entschlossen 
war,  auf  jede  Verteidigung  Attikas  zu  verzichten.  Die  Be- 
völkerung und  ihre  bewegliche  Habe  sollte  hinter  den  Mauern 
der  Hauptstadt  in  Sicherheit  gebracht,  der  Peloponnes  durch 
die  Flotte  blockiert  und  durch  Landungen  in  Atem  gehalten 
werden.  Bei  der  unbedingten  Überlegenheit  Athens  zur  See 
und  der  Stärke  seiner  Befestigungen  die  jeden  Versuch  einer 
Belagerung  von  vornherein  aussichtslos  machte,  schien  dieser 
Kriegsplan  zum  sicheren  Siege  führen  zu  müssen.  Die  Frage 
war  nur,  wer  die  Sache  am  längsten  aushielt.  Denn  der  Schaden, 
den  die  Verheerung  einiger  Küstenstriche  des  Peloponnes 
durch  die  attische  Flotte  verursachte,  kam  gar  nicht  in  Betracht 
gegen  den  Ruin  der  gesamten  Landbevölkerung  Attikas, 
den  die  peloponnesische  Invasion  herbeiführen  mußte;  der 
Kern  der  feindlichen  Macht  aber  blieb  für  Athen  unverwund- 
bar. So  ansehnlich  ferner  der  Schatz  war,  den  Perikles  auf 
der  Burg  gesammelt  hatte,  er  mußte  durch  einige  Kriegsjahre 
erschöpft  werden,  und  dann  stand  Athen  vor  der  Notwendig- 
keit, die  Treue  der  Bundesgenossen  durch  Erhöhung  der 
Tribute  auf  eine  schwere  Probe  zu  stellen.  War  es  gewiß,  daß 
sie  diese  Probe  bestehen  würde.?  Und  wie,  wenn  Athen  gar 
von  unvorhergesehenen  Unglücksfällen  betroffen  wurde  .f* 
Aber  auch  wenn  Perikles'  Berechnungen  sämtlich  in  Erfüllung 
gingen,  wenn  Athen  sein  Machtgebiet  im  vollen  Umfang 
behauptete,  wenn  die  Peloponnesier  im  Laufe  der  Jahre  des 
Krieges  müde  wurden,  so  war  das  höchste,  was  sich  bei  dem 
perikleischen  Kriegsplan  erreichen  ließ,  ein  fauler  Frieden 
auf  Grund  des  bisherigen  Besitzstandes.  War  das  ein  Ziel, 
das   so   unermeßlicher   Opfer  wert   gewesen  wäre.'*  ^ 

^  Vgl.  Pflugk-Harttung,  Perikles  als  Feldherr,  Stuttgart  1884.  Ein  ähn- 
liches Urteil  über  den  perikleischen  Kriegsplan  habe  ich  gleichzeitig  in  meiner 


Perikles'  Kriegsplan.  —  Stimmung  in  Hellas.  301 


Im  Peloponnes  hatte  man  indes  mit  Eifer  gerüstet.  Mit 
Boeotien  wurde  ein  Bündnis  geschlossen  und  damit  nicht 
nur  eine  sehr  ansehnhche  Verstärkung  der  verfügbaren  Streit- 
kräfte gewonnen,  sondern  vor  allem  eine  gesicherte  Operations - 
basis  für  den  Einfall  in  Attika,  der  im  nächsten  Sommer 
erfolgen  sollte.  Ebenso  schlössen  die  im  Jahr  446  gleichzeitig 
mit  Boeotien  von  der  athenischen  Herrschaft  befreiten  Land- 
schaften Lokris  und  Phokis  sich  den  Peloponnesiern  an  ^. 
Von  den  peloponnesischen  Kolonien  im  Westen,  die  ja  ebenso 
wie  ihr  Mutterland  von  den  Expansionsbestrebungen  Athens 
bedroht  waren,  erwartete  man  Unterstützung  an  Schiffen  ^. 
Gegen  Argos  war  man  durch  den  451  abgeschlossenen  dreißig- 
jährigen Frieden  noch  auf  weitere  10  Jahre  gesichert.  Über- 
haupt standen  die  Sympathien  der  großen  Mehrheit  der 
Nation  durchaus  auf  der  Seite  Spartas,  dessen  Sieg  den  ge- 
knechteten Bundesstaaten  Athens  die  Freiheit,  dem  Reste 
von  Hellas  die  Befreiung  von  der  Gefahr  bringen  mußte, 
ebenfalls  der  Knechtschaft  Athens  zu  verfallen  ^.  Die  Athener 
haben  denn  auch  im  Laufe  des  Krieges  durch  politische  Propa- 
ganda so  gut  wie  garnichts  erreicht,  während  die  Peloponnesier 

Attischen  Politik  (Leipzig  1884)  S.  22  ff.  ausgesprochen.  Da  Thukydides  für 
den  perikleischen  Kriegsplan  voll  Bewunderung  ist,  hat  dies  Urteil  natürlich 
bei  den  modernen  Thukydides-Theologen  die  lebhafteste  Entrüstung  erregt. 
Aber  welches  Gewicht  kann  denn  die  Ansicht  eines  Mannes  haben,  der  seine 
militärische  Unfähigkeit  Brasidas  gegenüber  so  glänzend  bewiesen  hat  ?  Daß 
Perikles  wohl  daran  tat,  zur  Verteidigung  Attikas  keine  Feldschlacht  zu  wagen, 
wird  allerdings  niemand  bestreiten,  der  imstande  ist,  sich  ein  Bild  von  der 
damaligen  militärischen  Lage  zu  machen  (Delbrück,  Strategie  des  Perikles, 
Berlin  1890),  aber  ebensowenig,  daß  im  ersten  Kriegsjahr  sehr  viel  mehr  hätte 
geschehen  können,  als  die  unfruchtbare  Flottendemonstration  um  den  Pelo- 
ponnes und  die  militärisch  zwecklose  Verheerung  der  Megaris.  Kythera  z.  B. 
hätte  schon  damals  besetzt  werden  können.  Wer  freilich  auf  Grund  von  Thuk. 
II  13  glaubt,  Athen  habe  29  000  Hopliten  aufstellen  können,  wird  Perikles' 
Kriegsplan  verurteilen  müssen;  denn  mit  einer  solchen  Macht,  die  sich  ja  noch 
durch  Bundeskontingente  hätte  verstärken  lassen,  wäre  Athen  sehr  wohl  im- 
stande gewesen,  eine  Feldschlacht  zu  liefern,  mindestens  doch  eine  Defensiv- 
schlacht in  starker  Stellung. 

1  Thuk.  II  9. 

«  Thuk.   II  7. 

*  Thuk.  II  8.  4—5. 


302     X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

derselben  ihre  hauptsächlichsten  Erfolge  zu  verdanken  hatten. 
Auch  das  delphische  Orakel  gab  dieser  Stimmung  Ausdruck 
und  verhieß  den  Peloponnesiern  den  Sieg,  wenn  sie  den  Krieg 
mit  Nachdruck  führen  würden;  der  göttliche  Beistand  sei 
ihnen  in  jedem  Falle  gewiß  ^. 

So    ging   man    denn   im    Peloponnes   voll    Enthusiasmus 
und  Siegeszuversicht  in  den  Krieg.     Man  war  überzeugt,  die 
Macht  Athens  in  wenigen   Feldzügen  durch  die  Verheerung 
Attikas  brechen  zu  können  ^;    und  nach  den  mühelosen  Er- 
folgen des  Jahres  446  war  es  ja  sehr  begreiflich,  daß  man  die 
Zukunft   im   rosigen   Lichte   sah.      Erfahrene    Kriegsmänner 
freilich,  wie  der  alte  König  Archidamos,  schüttelten  zu  solchen 
Erwartungen  das  Haupt  ^;    sie  sahen  voraus,  daß  der  Krieg, 
in  den  man  sich  zu  stürzen  im  Begriffe  stand,  sehr  langwierig 
werden  würde,  und  erkannten,  daß  eine  Niederwerfung  Athens 
nur  dann  möglich  sei,  wenn  es  gelang,  den  Feind  auf  seinem 
eigenen  Elemente,   der  See,  zu  überwinden.     Dazu  gehörten 
aber,   von   allem  übrigen   abgesehen,   sehr   große   Geldmittel, 
die  der  Peloponnes  aus  eigener  Kraft  aufzubringen  ganz  außer- 
stande war.     Allerdings  lagen  die  Tempelschätze  von  Delphi 
und    Olympia   im   peloponnesischen   Machtbereich;    aber    die 
Lakedaemonier   waren   viel   zu   fromme    Leute,    als    daß    sie 
gewagt  hätten,  daran  zu  rühren  *.   Und  ob  der  peloponnesische 
Bund   innerlich   hinreichend   gefestigt  war,    die   Wechselfälle 
eines  langen  Krieges  zu  überstehen?    Noch  jetzt  war  er  kaum 
etwas  anderes,  als  was  er  vor  einem  Jahrhundert  bei  seiner 
Gründung    gewesen    war,      ein    loses    Aggregat     souveräner 
Staaten,   die  nichts  zusammenhielt,   als  ihr  guter  Wille  und 
die    Furcht    vor    der    mihtärischen    Überlegenheit    Spartas. 
Schon   einmal,    nach    den   Perserkriegen,    war   der    Bund   in 
Stücke  gegangen,  und  es  hatte  lange  Kämpfe  geko'stet,   ihn 


1  Thuk.  I  118.  3. 

2  Thuk.  V  14.  3. 
="  Thuk.  I  81.  6. 

*  In  Korinth  und  Athen,  wo  man  aufgeklärter  war,  scheint  man  das 
allerdings  befürwortet,  beziehungsweise  gefürchtet  zu  haben:  Thuk.  I  121, 
3;  143.  1. 


Machtmittel  der  Peloponnesier.  —  Überfall  von  Plataeae,  303 


wieder  aufzurichten.  Der  Kriegseifer,  der  den  Peloponnes  jetzt 
erfüllte,  mußte  in  wenigen  Jahren  verraucht  sein;  und  wenn 
dann  ein  ernstlicher  Unfall  eintrat,  wer  vermochte  für  die 
Treue  der  Bundesgenossen  zu  bürgen?  Immerhin  lagen  die 
Aussichten  auf  Erfolg  für  die  Peloponnesier  viel  besser  als 
für  Athen;  denn  eine  Flotte  konnte  der  Peloponnes  im  Laufe 
der  Zeit  sich  schaffen,  Athen  aber  niemals  ein  dem  pelo- 
ponnesischen  ebenbürtiges  Landheer.  Wenn  es  trotzdem 
27  Jahre  gedauert  hat,  bis  das  attische  Reich  niedergeworfen 
war,  so  lag  die  Schuld  zumeist  an  der  Unfähigkeit  der  leitenden 
Männer  in  Sparta,  oder  vielmehr  an  der  verrotteten  spar- 
tanischen Verfassung,  die  alle  Nachteile  der  Monarchie  und 
Oligarchie  in  sich  vereinigte  und  wie  eigens  darauf  berechnet 
schien,  aufstrebenden  Talenten  den  Weg  zu  verlegen.  Und 
darin  liegt  auch  der  Grund,  daß  Sparta,  als  es  endlich  am 
Ziele  stand,  die  Früchte  seines  Sieges  nicht  festzuhalten 
vermocht  hat. 

Der  Krieg  war  also  beschlossen;  die  peloponnesischen 
Rüstungen  näherten  sich  ihrer  Vollendung,  im  Sommer  431 
sollte  das  Bundesheer  in  Attika  einfallen.  Auf  der  Nation 
lag  jene  Gewitterschwüle,  wie  sie  großen  Katastrophen  voraus- 
geht. Überall  drängte  sich  die  abergläubische  Menge  um  die 
Wahrsager;  daß  Delos,  die  heilige  Insel  Apollons,  zum  ersten 
Male  seit  Menschengedenken  von  einem  Erdbeben  erschüttert 
wurde,  galt  als  bedeutsames  Vorzeichen,  und  selbst  der  auf- 
geklärte Geschichtschreiber  dieser  Zeit  hat  es  nicht  verschmäht, 
die   Tatsache   der   Nachwelt   zu   überliefern  ^. 

Dei  Feindseligkeiten  begannen  in  Boeotien.  Hier  hatte 
sich,  wie  wir  wissen  (oben  IIS.  391),  die  Stadt  Plataeae 
schon  vor  den  Perserkriegen  von  den  übrigen  Städten  der 
Landschaft  getrennt  und  war  mit  Athen  in  enge  Verbindung 
getreten,  an  der  sie  seitdem  durch  alle  Wechselfälle  des  Schick- 
sals   hindurch    festgehalten    hatte.       Diese    attische    Festung 

^  Thuk.  II  8.  —  über  die  Zustände  in  Athen  während  des  Krieges  vgl 
außer  den  oben  I  1  S.  28  angeführten  Schriften  von  Müller- Strübing,  G.  Gilbert 

Beiträge  zur  inneren  Geschichte  Athens  im  Zeilalter  des  peloponnesischen  Krieges, 
Leipzig  1877,  und  meine  Attische  Politik  seit  Perikles,  Leipzig  1884. 


304    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

mitten  in  Boeotien,  kaum  drei  Wegstunden  von  Theben 
entfernt,  war  für  dieses  eine  beständige  Drohung;  doppelt 
gefährlich  jetzt,  wo  man  am  Vorabend  des  Krieges  stand. 
So  faßte  man  den  Plan,  sich  noch  vorher  der  Stadt  zu  be- 
mächtigen. Die  ohgarchische  Partei  in  Plataeae  selbst  bot 
zu  dem  Unternehmen  die  Hand;  mit  ihrer  Hilfe  drang  in  einer 
regnerischen  Nacht,  etwa  Anfang  März  431,  ein  Korps  von 
300  thebanischcn  Hophten  in  die  Stadt  ein.  Indes  die  große 
Mehrzahl  der  Bürgerschaft  wollte  von  einem  Anschluß  an  den 
boeotischen  Bund  nichts  wissen.  Die  Ankunft  der  Verstärkung 
aus  Theben  verspätete  sich,  und  als  der  Morgen  graute,  waren 
die  Thebaner  überwältigt  und  gezwungen,  die  Waffen  zu 
strecken.  Die  Gefangenen,  180  an  Zahl,  darunter  Männer 
aus  den  besten  Familien  Thebens,  wurden  sofort  hingerichtet; 
die  Abmahnung  aus  Athen  kam  zu  spät.  Die  blutige  Tat 
sollte  furchtbar  auf  die  Häupter  ihrer  Urheber  zurückfallen  ^. 

Athen  antwortete  auf  den  Friedensbruch  mit  der  Fest- 
nahme aller  in  Attika  befindlichen  Boeoter;  das  attische 
Heer  überschritt  den  Kithaeron,  setzte  Plataeae  in  ver- 
teidigungsfähigen Zustand  und  brachte  den  nicht  kriegs- 
tüchtigen Teil  der  Bevölkerung  nach  Athen  in  Sicherheit  ^. 
Aber  man  vermied  jedes  aggressive  Vorgehen  gegen  Boeotien; 
je  mehr  Perikles  sich  bewußt  war,  den  Krieg  provoziert  zu 
haben,  um  so  sorgfältiger  war  er  bestrebt,  die  formelle  Ver- 
antwortlichkeit für  den  Beginn  der  Feindseligkeiten  den 
Gegnern  zuzuschieben. 

Zwei  Monate  nach  dem  Überfall  von  Plataeae,  im  Mai, 
sammelte  König  Archidamos  auf  dem  Isthmos  die  pelo- 
ponnesischen  Bundeskontingente,  zwei  Drittel  der  feld- 
tüchtigen  Mannschaft,  etwa  20  000  Hopliten.  Ehe  er  vor- 
rückte, machte  er  noch  einen  letzten  Versuch,  den  Ausbruch 
des  Krieges  zu  hindern;  vielleicht,  daß  in  Athen  angesichts 
des  feindlichen  Heeres  noch  in  der  zwölften  Stunde  die  Friedens - 
partei  die  Oberhand  gewann.  Perikles  scheint  etwas  Ähnliches 
gefürchtet  zu   haben;   er   ließ   den   lakedaemonischen  Herold 

1  Thuk.   II  2—6.     Über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.   §  98. 
"  Thuk.  II  6. 


Archidamos  in  Attika.  305 


gar  nicht  in  die  Stadt  und  sandte  ihn  sofort  unter  mihtärischem 
Geleit  an  die  Grenze  ^. 

Archidamos  setzte  nun  sein  Heer  in  Marsch  und  rückte, 
durch  etwa  5000  boeotische  Hophten  verstärkt,  in  Attika 
ein.  Treu  dem  gefaßten  Entschlüsse,  sich  streng  in  der  Defen- 
sive zu  halten,  hatte  Perikles  noch  wenige  Wochen  vor  dem 
Einmarsch  der  Peloponnesier  ein  Korps  von  1600  Hopliten 
nach  Poteidaea  abgehen  lassen  (oben  S.  291).  Er  verzichtete 
denn  auch  darauf,  durch  einen  Vorstoß  nach  der  Megaris 
die  Pässe  der  Geraneia  in  seine  Hand  zu  bringen  und  damit 
den  Peloponnesiern  den  Weg  nach  Attika  zu  verlegen;  eine 
Operation,  die  übrigens,  mit  den  Boeotern  im  Rücken,  mili- 
tärisch recht  bedenklich  gewesen  wäre.  Aber  auch  in  Attika 
selbst  setzte  er  dem  Feinde  nicht  den  geringsten  Widerstand 
entgegen,  eine  so  treffliche  Verteidigungslinie  die  Höhen 
geboten  hätten,  welche  die  Ebene  von  Athen  und  die  Ebene 
von  Eleusis  trennen.  Er  wußte,  wie  viel  die  Disziplin  seiner 
Bürgermilizen  zu  wünschen  ließ,  und  fürchtete,  gegen  seinen 
Willen  zur  Feldschlacht  fortgerissen  zu  werden,  die  bei  der 
großen  Übermacht  des  Gegners  zu  einer  sicheren  Niederlage 
geführt  haben  würde. 

Archidamos  konnte  also  ungehindert  vorrücken  und 
die  Felder  verwüsten,  auf  denen  das  Getreide  eben  in  Reife 
stand.  Während  dessen  strömte  die  Landbevölkerung  in  die 
Tore  der  Hauptstadt;  Wagen  mit  Hausrat,  Herden  von  Rindern 
und  Schafen  drängten  sich  in  den  Straßen  ^.  Wenige  fanden 
bei  Verwandten  und  Freunden  Unterkunft;  die  große  Masse 
lagerte  in  den  Tempeln,  oder  in  Baracken,  die  auf  allen  freien 
Plätzen  der  Stadt  errichtet  wurden  ^  Es  gehört  wenig  Phan- 
tasie dazu,  sich  die  Stimmung  auszumalen,  die  unter  den 
Flüchtlingen  herrschte.  Und  als  nun  die  Peloponnesier  bis 
nach  Acharnae  vordrangen,  etwa  10  km  von  der  Stadt, 
und  unter  den  Augen  der  Bürgerschalt  die  Felder  verheerten 


^  Thuk.  II  10 — 12.     Über  die  Stärke  des  peloponnesischen  Heeres  Klio 
VI,  1906,  S.  77. 

"  Andok.  fr.  4  bei  Suid.  OKcivblS- 
3  Thuk.  II  17. 

B  e  1  o  c  h  ,  Griech.  Geschichte,  II  i.     2.  Aufl.  20 


306    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

und  die  Dörfer  niederbrannten,  da  fehlte  wenig,  daß  es  in 
Athen  zum  offenen  Aufruhr  gekommen  wäre.  Die  kriegs- 
tüchtige  Mannschaft  verlangte  stürmisch  gegen  den  Feind 
geführt  zu  werden.  Aber  Perikles  hielt  die  Leitung  des  Staates 
in  fester  Hand.  Seit  der  Feind  im  Lande  stand,  hatte  er 
diktatorische  Machtvollkommenheit;  Volksversammlung  und 
Gericht  waren  suspendiert,  und  es  war  dem  Volke  damit  die 
Möglichkeit  entzogen,  irgendeinen  unüberlegten  Beschluß  zu 
fassen.  Als  Archidamos  sah,  daß  der  Gegner  ihm  den  Gefallen 
nicht  tat,  eine  Schlacht  anzunehmen,  verließ  er  seine  Stellung 
bei  Acharnae  und  marschierte  über  den  Farnes  und  bei  Oropos 
vorbei  durch  Boeotien  nach  dem  Isthmos,  wo  die  Kontingente 
entlassen  wurden.  Der  ganze  Feldzug  hatte  kaum  einen  Monat 
gedauert  ^. 

Perikles  hatte  indessen  eine  Flotte  von  100  Trieren, 
mit  1000  HopHten  an  Bord,  gegen  den  Peloponnes  in  See 
gehen  lassen.  So  geringe  Kräfte  konnten  selbstverständlich 
nichts  Ernstliches  ausrichten.  Einige  Küstendistrikte  wurden 
verheert,  aber  vor  den  aus  dem  Innern  heranrückenden  Ver- 
stärkungen mußten  die  Athener  sich  jedesmal  eilig  auf  ihre 
Schiffe  zurückziehen.  Doch  wurde  die  wichtige  Insel  Kephallenia 
zum  Anschluß  an  Athen  bewogen  und  in  Akarnanien  die  kleine 
korinthische  Pfianzstadt  Sollion  erstürmt  2. 

Hatte  die  Kriegführung  demnach  nur  sehr  dürftige 
Resultate  ergeben,  so  sollte  dem  Selbstgefühl  des  Volkes 
nach  anderer  Seite  hin  Genugtuung  gegeben  werden.  Die 
wehrlosen  Bewohner  von  Aegina  wurden  von  Haus  und  Hof 
getrieben  auf  die  Beschuldigung,  mit  Sparta  in  hochver- 
räterische Verbindung  getreten  zu  sein;  attische  Kleruchen 
teilten  sich  den  Boden  der  Insel.  Den  Vertriebenen  gewährten 
die  Lakedaemonier  eine  Zuflucht  in  Thyrea  an  der  argeiischen 
Grenze.   Im  Herbst  unternahm  dann  Perikles  mit  dem  Gesamt- 


1  Thuk.  II  18—23. 

2  Thuk.  II  23—25.  30.  Nach  CIA.  I  179  a.  IV  S.  161  ist  die  Abfahrt  der 
Flotte  noch  vor  Ablauf  des  attischen  Jahres  432/1,  wahrscheinlich  am  Ende 
der  9.  Prytanie  (Juni)  erfolgt  (Kolbe,  Hermes  XXXIV,  1899,  S.  393;  Busolt, 
ebenda  XXXV  S.  582). 


Flottendemonstration  der  Athener.  —  Zweiter  Einfall  der  Peloponnesier.   307 

aufgebot  Athens  einen  Rachezug  nach  der  Megaris;  das  offene 
Land  wurde  gründlich  verwüstet,  die  befestigte  Stadt  zu 
nehmen  machte  man  nicht  einmal  den  Versuch  ^. 

Alles  in  allem  genommen,  hatte  Perikles  doch  Ursache, 
mit  den  Ergebnissen  dieses  ersten  Feldzuges  nicht  unzu- 
frieden zu  sein.  Waren  auch  keine  großen  mihtärischen  Erfolge 
erzielt,  so  war  wenigstens  jeder  ernste  Unfall  vermieden  worden. 
Die  feindliche  Invasion  war  auf  die  nördlichen  Distrikte  von 
Attika  beschränkt  geblieben;  bis  unter  die  Mauern  der  Haupt- 
stadt vorzurücken  hatte  der  Feind  nicht  gewagt,  ebensowenig 
Athen  in  der  Flanke  zu  lassen  und  in  die  Paralia  vorzudringen. 
Und  was  die  Hauptsache  war,  der  äußeren  Gefahr  gegenüber 
verstummte  aller  Hader  im  Innern;  fester  als  je  scharte  sich 
die  Bürgerschaft  um  den  Mann,  der  nun  einmal  an  der  Spitze 
des  Staates  stand.  Aber  Perikles  sollte  bald  inne  werden, 
wie  gefährlich  das   Spiel  war,   das  er  spielte. 

Im  folgenden  Frühjahr  (430)  überschritt  König  Archi- 
damos  an  der  Spitze  des  peloponnesischen  Bundesheeres 
von  neuem  die  attische  Grenze,  Hatte  er  im  vorigen  Jahr 
den  Feind  geschont,  um  den  Bruch  nicht  von  vornherein 
unheilbar  zu  machen,  so  war  er  jetzt  entschlossen,  gründhche 
Arbeit  zu  tun.  Volle  40  Tage  blieb  das  Heer  im  Lande,  das 
bis  zu  seiner  äußersten  Südspitze  hin  verwüstet  wurde.  Perikles 
aber  hielt  auch  jetzt  an  seinem  Plane  fest,  eine  Schlacht  nicht 
zu  wagen,  und  gab  den  Süden  Attikas  ebenso  preis  wie  im 
vorigen  Jahre  den  Norden  2. 

Doch  so  schwer  Athen  durch  diese  Verheerung  getroffen 
wurde,  es  trat  alles  zurück  gegenüber  dem  Unheil,  das  die 
Pest  über  die  Stadt  brachte.  Seit  längerer  Zeit  hatte  eine 
ansteckende  Krankheit  Aegypten  und  die  Länder  Vorder- 
asiens verheert,  war  dann  in  Lemnos  eingeschleppt  worden 
und  trat  zu  der  Zeit,  wo  die  Peloponnesier  in  Attika  einfielen, 
in  Peiraeeus  auf,  um  bald  nach  der  oberen  Stadt  vorzudringen. 
Unter  normalen  Umständen  hätte  das  nicht  so  viel  zu  bedeuten 


1  Thuk.  II  27—31,  Plut.  Per.  30. 

2  Thuk.  II  47.  55.  57. 

20' 


308    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

gehabt  ^,  jetzt  aber  war  die  gesamte  Landbevölkerung  Attikas 
innerhalb  der  Belestigungen  Athens  in  engen  und  ungesunden 
Wohnungen  zusammengedrängt,  mit  der  Bevölkerung  der 
Stadt  selbst  eine  Masse  von  etwa  200  000  Menschen.  Unter 
diesen  Umständen  mußte  die  Pest  die  furchtbarsten  Ver- 
heerungen anrichten;  während  der  3  Jahre  (430.  429.  426), 
in  denen  sie  Athen  heimsuchte,  ist  etwa  ein  Viertel  aller  Be- 
wohner Attikas  ihr  zum  Opfer  gefallen  ^,  Unter  dem  er- 
schütternden Eindrucke  dieses  Unglücksschlages  war  die 
bürgerliche  Ordnung  zeitweise  nahe  daran,  sich  aufzulösen. 
Unbegrabene  Leichen  lagen  auf  den  Straßen  und  selbst  in  den 
Heiligtümern;  dumpfe  Verzweiflung  bemächtigte  sich  der 
Massen;  das  Vertrauen  auf  die  Götter,  die  doch  keine  Rettung 
brachten,  begann  zu  schwinden.  Wie  immer  in  solchen  Fällen, 
zeigte  sich  neben  hochherziger  Aufopferung  und  Nächstenliebe 
auf  der  anderen  Seite  die  rückhaltloseste   Selbstsucht  ^. 

Auf  die  Nachricht  von  der  Pest  in  Athen  zog  der  Feind 
ab  *;  und  wirklich  blieb  der  Peloponnes  von  der  Krankheit 
verschont  ^.  Der  bestehende  Kriegszustand  zeigte  sich  als 
wirksamste  Quarantäne;  denn  die  Peloponnesier  töteten 
ohne  Erbarmen  jeden  Athener  oder  athenischen  Bundes- 
genossen, der  in  ihre  Hände  fiel.  Perikles  hatte  indessen, 
um  der  Erregung  des  Volkes  eine  Ableitung  zu  geben,  eine 
große  Expedition  gegen  den  Peloponnes  ins  Werk  gesetzt, 
zu  der  150  Kriegsschiffe  und  4000  Hopliten  aufgeboten  wurden. 
Aber  der  Angriff  auf  das  feste  Epidauros  blieb  ohne  Erfolg, 
und  schHeßlich  beging  man  den  kaum  glaublichen  Fehler, 
die  schon  verseuchten  Truppen  nach  Poteidaea  zu  führen, 
wodurch  natürlich  auch  das  "Belagerungskorps  angesteckt 
wurde.      Militärisch   war   das   Unternehmen   ganz   zwecklos, 

^  Es  ist  auffallend,  wie  selten  in  unserer  doch  verhältnismäßig  reichen 
Überlieferung  über  die  Geschichte  des  V.  und  IV.  Jahrhunderts  von  verheerenden 
Epidemien  die  Rede  ist. 

2  Von  den  14  000  Hopliten  und  Reitern  starben  nach  Thuk.  III  87  4700 
Mann,  wobei  aber  die  Verluste  im  Felde  eingerechnet  sind,  vgl.  Klio  V  372  f. 

3  Thuk.  II  47—54. 
*  Thuk.  II  57. 

5  Thuk.  II  54-55. 


Die  Pest  in  Athen.  —  Perikles'  Sture.  309 

da  die  starke  Festung  durch  Sturm  nicht  zu  nehmen  war 
und  zu  einer  bloßen  Einschließung  auch  die  bereits  dort 
stehenden  Truppen  reichlich  genügten.  Es  wurde  denn  auch 
nicht  das  geringste  erreicht,  und  bald  zwang  die  Pest  dazu, 
das  Heer  nach  Athen  zurückzuführen,  nachdem  man  mehr 
als  1000  Hopliten,  ein  Viertel  der  ganzen  Stärke,  nutzlos 
geopfert  hatte  ^. 

Jetzt  trat  in  Athen  eine  tiefe  Entmutigung  ein.  Man 
begann  Unterhandlungen  mit  Sparta;  dort  aber  stellte  man 
unannehmbare  Forderungen,  und  so  blieb  nichts  übrig,  als 
trotz  der  Pest  den  Krieg  weiter  zu  führen  ^.  Und  nun  brach 
der  Sturm  gegen  den  Mann  los,  dessen  Politik  so  unsägliches 
Unheil  über  den  Staat  gebracht  hatte.  Perikles  sah  sich  von 
seinen  eigenen  Anhängern  verlassen  und  wurde  durch  Volks - 
beschluß  seines  Strategenamtes  entsetzt,  das  er  seit  so  langen 
Jahren  bekleidet  hatte.  Eine  Anklage  wegen  Unterschlagung 
öffentlicher  Gelder  sollte  den  Sieg  der  Opposition  vervoll- 
ständigen und  Perikles  für  immer  politisch  unmöglich  machen. 
Bei  der  herrschenden  Stimmung  konnte  der  Ausgang  nicht 
zweifelhaft  sein;  die  Geschworenen  sprachen  Perikles  schuldig 
und  verurteilten  ihn  zu  einer  schweren  Geldbuße.  Wenig 
hätte  gefehlt,  und  das  Todesurteil  wäre  gegen  den  Mann 
gefällt  worden,  der  soeben  noch  mit  fast  monarchischer  Macht- 
fülle über  die   Hälfte  von   Griechenland   gewaltet  hatte  ^ 

Juristisch    war    der    Spruch    wahrscheinlich    ungerecht, 


1  Thuk.  II  56.  58. 

2  Thuk.  II  59,  2.  65,  2. 

^  Thuk.  II  59 — 65  berichtet  nur  die  Veranlassung  und  den  Ausgang  (II 
65,  3)  des  Prozesses.  Näheres  bei  Flut.  Per.  32.  35,  vgl.  meine  M.  Politik  S.  330 
bis  335,  wo  gezeigt  ist,  daß  die  Angaben  bei  Plut  c.  32  sich  auf  diesen  Prozeß 
beziehen.  Weiteres  bei  Swoboda,  Hermes  XXVIII,  1893,  S.  536  ff.  und  Wila- 
mowitz,  Aristoteles  II  245  £E.  Da  die  Strategenwahlen  für  430/29  ohne  Zweifel 
schon  vor  dem  Einfall  der  Peloponnesier  stattgefunden  haben,  der  Prozeß  aber 
erst  im  Herbst  oder  Winter  zur  Verhandlung  gekommen  ist  (unten  2.  Abt  §  98), 
so  handelt  es  sich  um  eine  Apocheirotonie,  wie  auch  bei  Plut  c.  35  (dqpe\^CF0ai 
xrfv  OTpaTiTfiav)  und  Diod.  XII  45,  4  (dTcoaTiiaavTe«;  Tf|<;  axpa-rtiTia?)  aus- 
drücklich gesagt  ist  Die  feierlichen  Formen,  in  denen  verhandelt  wurd»,  be- 
weisen ferner,  daß  es  sich  um  mehr  handelte,  als  um  eine  gewöhnliche  eöBuva. 


310    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 


denn  Perikles  scheint  einer  der  nicht  sehr  zahlreichen  griechi- 
schen Staatsmänner  gewesen  zu  sein,  die  ganz  reine  Hände 
hatten  ^.  Aber  der  Spruch  sollte  auch  nicht  den  Verwaltungs- 
beamten  treffen,  sondern  den  Politiker,  der  aus  persönlichen 
Motiven  den  hellenischen  Bruderkrieg  entzündet  und  sich 
damit  des  größten  Verbrechens  schuldig  gemacht  hatte,  das 
die  ganze  griechische  Geschichte  kennt. 

Die  Opposition  hatte  also  ihr  nächstes  Ziel  erreicht; 
aber  es  zeigte  sich  bald,  daß  die  eigenthchen  Schwierigkeiten 
erst  jetzt  begannen.  Poteidaea  freilich  ergab  sich  im  Laufe 
des  Winters  (430/29),  nachdem  die  Stadt  2  Jahre  lang  sich 
heldenmütig  verteidigt  hatte  und  durch  den  Hunger  aufs 
äußerste  gebracht  war;  die  Feldherren  des  Belagerungsheeres 
bewilHgten  der  Bürgerschaft  freien  Abzug.  Das  Gebiet  wurde 
an  attische  Kleruchen  verteilt,  und  Poteidaea  bildete  seit- 
dem einen  der  hauptsächlichsten  Stützpunkte  Athens  an 
der  thrakischen  Küste  ^.  Aber  die  Freude  über  den  Erfolg 
wurde  getrübt  durch  die  schwere  Niederlage,  die  das  nun 
freigewordene  Belagerungsheer  im  nächsten  Frühjahr  (429) 
gegen  die  Chalkider  vor  Spartolos  erlitt.  Die  Schlacht  ist 
kriegsgeschichtlich  interessant  dadurch,  daß  die  attischen 
Hopliten,  nachdem  sie  die  feindHchen  Hophten  besiegt,  den 
chalkidischen  Reitern  und  Peltasten  erlagen;  eines  der  ersten 
Anzeichen  dafür,  daß  die  alte  Hoplitentaktik  sich  überlebt 
hatte,  der  man  die  Siege  bei  Marathon  und  Plataeae  ver- 
dankte ^. 

Da  erschien  den  Athenern  eine  unerwartete  Hilfe.  Seit 
Thrakien  von  der  Perserherrschaft  frei  geworden  war,  hatten 
die  Odryser  im  fruchtbaren  Hebrostale  ihre  Macht  über  die 
Nachbarvölker  auszudehnen  begonnen;  unter  König  Sitalkes, 
um    den    Anfang    des    peloponnesischen    Krieges,    erstreckte 


^  Wenigstens  nach  Thukydides'  Urteil,  das  er  eben  bei  dieser  Gelegenheit 
ausspricht  (II  60,  5  xpri|LidTU)v  Kpeiaacuv,  65,  8  xpriMÖTiuv  xe  biaqpavu»^  äbuupö- 
TOTO?  Yevö|aevoO-  Piaton  allerdings  scheint  anderer  Ansicht  gewesen  zu  sein 
{Gorg.  515  c). 

2  Thuk.  II  70,  Diod.  XII  46,  7,  CIA  I  340  =  Ditt.  Syll"^  28. 

8  Thuk.  II  79. 


Einnahme  von  Poteidaea.  —  Zug  des  Sitalkes.  311 

sich  ihr  Reich  von  Abdera  und  dem  oberen  Strymon  bis  zum 
Istros  und  dem  Schwarzen  Meer,  über  ein  Gebiet  von  etwa 
130  000  qkm.  Auch  die  hellenischen  Städte  an  der  Küste 
des  Pontos  hatten  die  Oberhoheit  der  Odryser  anerkennen 
und  sich  zur  Tributzahlung  verstehen  müssen;  die  jährlichen 
Einkünfte  des  Königs  sollen  sich  unter  Sitalkes'  Nachfolger 
Seuthes  auf  800  Talente  Silber  belaufen  haben,  wozu  noch 
bedeutende  Naturalleistungen  hinzukamen  ^.  Im  Jahre  431 
war  Sitalkes  mit  den  Athenern  in  Bund  getreten,  und  es  war 
zum  Teil  sein  Einfluß  gewesen,  der  damals  Perdikkas  von 
Makedonien  bestimmt  hatte,  von  der  peloponnesischen  auf 
die  athenische  Seite  hinüberzutreten  ^.  Seitdem  hatte  der 
thrakische  König  nichts  mehr  für  die  Athener  getan;  jetzt 
endlich  rüttelte  der  Fall  von  Poteidaea  ihn  aus  seiner  Un- 
tätigkeit auf.  Aber  der  Herbst  kam  heran,  ehe  er  seine  Massen 
in  Bewegung  setzte  (429).  Es  war  ein  gewaltiges  Heer,  und 
das  Gerücht  vergrößerte  die  Zahl  bis  ins  maßlose;  erzählte 
man  sich  doch  in  Griechenland,  daß  Sitalkes  100  000  Mann 
zu  Fuß  und  50  000  Reiter  heranführe.  Über  das  Gebirge 
am  oberen  Strymon  rückte  er  von  Norden  her  in  Makedonien 
ein,  dessen  König  Perdikkas  allerdings  mit  Athen  in  Frieden 
stand,  aber  mit  Sitalkes  sich  überworfen  hatte.  Idomene 
am  Axios  wurde  erstürmt,  das  flache  Land  bis  nach  Pella 
hin  verwüstet;  schon  begann  man  in  Thessalien  den  Einbruch 
der  Thraker  zu  fürchten  und  rüstete  sich  zu  ihrem  Empfang. 
Indes  zu  einer  Belagerung  fester  Plätze  waren  die  Barbaren 
ganz  außerstande,  und  so  wandte  sich  Sitalkes  nach  der 
Chalkidike,  wohin  die  Athener  versprochen  hatten,  eine  Flotte 
zu  seiner  Unterstützung  zu  senden.  Aber  es  scheint,  daß  man 
auch  in  Athen  anfing,  vor  dem  barbarischen  Bundesgenossen 


*  Thuk.  II  97.  Das  Reich  umfaßte  etwa  das  bisherige  Bulgarien  und  das 
frühere  Vilajet  Adrianopel.  Den  Ertrag  der  Tribute  schlägt  Thukydides 
auf  400  Talente  an;  ebenso  hoch  hätten  sich  die  Geschenke  belaufen,  die  der 
König  erhielt.  Namentlich  die  letztere  Angabe  ist  offenbar  weit  übertrieben. 
Über  die  Geschichte  des  Odryserreiches  vgl.  Hock,  Hermes,  XXVI,  1891,  S.  76 
bis  117. 

2  Thuk.   I  29;  vgl.  Aristoph.   Acharn.  134  ff. 


312    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Besorgnis  zu  haben;  jedenfalls  blieb  die  Flotte  aus,  und  so 
zwang  der  Mangel  an  Lebensmitteln  und  das  Hereinbrechen 
des  Winters  Sitalkes  zum  Rückzug,  30  Tage  nach  seinem 
Einmarsch  in  Makedonien  ^.  Das  ganze  Unternehmen  war 
vergeblich  gewesen,  und  die  athenische  Herrschaft  auf  der 
Chalkidike  blieb  beschränkt  auf  die  Halbinseln  Pallene,  Sithonia 
und  Akte,   und  die  Städte  Aeneia,   Akanthos,    Stagiros  2. 

Glänzender  hätte  sich  Perikles'  Unentbehrlichkeit  gar 
nicht  beweisen  lassen,  als  es  in  der  kurzen  Zeit  seit  seinem 
Sturze  durch  seine  Feinde  geschehen  war.  Mochte  das  peri- 
kleische  System  so  schlecht  sein  wie  es  nur  wollte,  von  den 
Übeln,  zwischen  denen  man  zu  wählen  hatte,  war  es  noch 
immer  das  kleinere.  So  erfolgte  im  Frühjahr  429  ein  Um- 
schwung der  öffentlichen  Meinung.  Die  unnatürliche  Koalition 
löste  sich  auf,  die  im  vorigen  Jahre  Perikles  gestürzt  hatte. 
Der  Demos  scharte  sich  aufs  neue  um  seinen  alten  Führer, 
und  Perikles  wurde  für  429/8  wieder  zum  Strategen  gewählt  ^. 
Aber  seine  Kraft  war  durch  die  Schläge  der  letzten  Jahre 
gebrochen.  Häusliches  Unglück  trat  hinzu;  seine  beiden 
legitimen  Söhne,  Xanthippos  und  Paralos,  wurden  kurz 
nacheinander  von  der  Pest  hingerafft.  Kaum  hatte  er  um  Mit- 
sommer  429  sein  Strategenamt  angetreten,  so  wurde  auch 
er  von  der  Krankheit  ergriffen  und  erlag  ihr  im  August  oder 
September   des    Jahres  *. 

Jetzt  begann  der  Kampf  der  Parteien  aufs  neue.  Unter 
Perikles'  Freunden  war  der  bedeutendste  Dämon,  der  Sohn 
des  Damonides  aus  Oea,   ein  tüchtiger  Musiker,  der  auch  der 


1  Thuk  II 95—101.  Der  Zug  hatte  toö  xei|UUJV0?  äpxo^^vou  (Thuk.  II 95, 1) 
begonnen. 

*  Der  Umfang  der  athenischen  Herrschaft  auf  der  Chalkidike  in  dieser 
Zeit  ergibt  sich  aus  den  TributHsten  CIA  I  256  (aus  432/1),  259  (aus  427/6) 
und  257  (aus  426/5).  Die  Liste  259  ist  vollständig  erhalten;  der  Gesamtbetrag 
der  Tribute  beträgt  87  tal.  3835  dr.,  während  der  thrakische  Bezirk  vor  dem 
Kriege  gegen  139  tal.  gezahlt  hat. 

*  Thuk.  II  65,  4.  Es  ist  an  sich  klar  und  wird  durch  Thukydides  bestätigt, 
daß  Perikles'  Wiederwahl  erst  bei  den  Archaeresien  für  429/8  erfolgt  sein  kann. 

*  Thuk.  II  65,  5,  Plut.  Per.  36  f.,  Protagoras  fr.  9  Diels  bei  Plut  Trosi- 
schrift  an  Apollonios  33  S.  181. 


Perikles'  Wiederwahl.     Sein  Tod.     Seine  Nachfolger.  313 

neuen  Bildung  nicht  fernstand  und  über  die  Theorie  seiner 
Kunst  geschrieben  hat;  er  war  schon  seit  langen  Jahren  an 
Perikles'  Seite  politisch  tätig  gewesen  und  also  bereits  ein  Mann 
in  höherem  Alter,  gleichwohl  erschien  er  den  Gegnern  so 
gefährlich,  daß  sie  ihn  durch  das  Scherbengericht  aus  Athen 
verbannten  ^  (wohl  Frühjahr  428).  Sonst  hatte  das  persön- 
liche Regiment,  wie  überall,  so  auch  in  Athen  nur  Mittel- 
mäßigkeiten aufkommen  lassen;  Perikles'  Werkzeuge  waren 
geistige  Nullen,  denen  jede  Fähigkeit  zu  selbständiger  Initiative 
abging.  So  der  Mann,  der  Perikles  in  den  letzten  Jahren 
vielleicht   am   nächsten   gestanden    und   dem   er  bei   seinem 


*  Freund  des  Sokrates  und  Prodikos:  Fiat.  Lackes  197  d,  des  Perikles 
noch  in  dessen  letzten  Jahren  Alk.  I  118  c,  bei  Piaton  als  Autorität  in  musi- 
kalischen Dingen  genannt  (Lackes  180  d,  200  ab;  Staat  III  400  b,  IV  424  c). 
Als  Chiron,  der  Perikles  aufgezogen  habe,  wird  er  bei  dem  Komiker  Piaton 
angeredet  (fr.  191  K  bei  Plut.  Per.  4);  auch  nach  Isokrates  XV  (Antid.)  235 
war  Perikles  ein  Schüler  Dämons  tou  kqt'  dKcTvov  töv  xpövov  qppovijiiuJTäTOU 
böEavToq  eivai  toiv  ttoXituiv.  Ähnlich  Plut.  Aristeid.  1,  Per.  4.  Als  Perikles' 
politischer  Ratgeber  erscheint  Dämon  bei  Aristot.  ATT.  27,  4.  Daß  er  älter  als 
dieser  gewesen  wäre,  folgt  daraus  keineswegs;  auch  Anaxagoras  war  ja  mit 
Perikles  etwa  gleichaltrig,  und  Dämon  kann  recht  gut  sogar  etwas  jünger  gewesen 
sein.  Da  ihn  Piaton  in  einer  Komödie  auftreten  ließ,  muß  er  zur  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges  gelebt  haben,  falls  die  Szene  nicht  etwa  in  den  Hades 
gelegt  war.  Agariste  i^  yuvt)  'AXKjLiaiovibou,  Tevo|u^vri  ht  Kai  Adjuujvo?  macht 
im  Mysterienprozeß  415  eine  Aussage  (Andok.  I  16);  es  kann  sein,  daß  sie  die 
Witwe  unseres  Dämon  gewesen  ist.  Der  Ostrakismos  wird  bezeugt  bei  Aristot. 
ATT.  27,  4,  Plut.  Per.  4,  Aristeid.  1,  Nik.  6;  die  von  Carcopino  geäußerten  Zweifel 
{Rev.   At.  gr.  XVIII,  1905,  S.  415  ff.,  Bibl.  de  la  Facuüe  des  Lettres  de  Paris, 

XXV,  1909,  S.  174  ff.)  scheinen  mir  ohne  Begründung.  Es  ist  klar,  daß  der 
Ostrakismos  nur  nach  dem  Tod  des  Perikles  gesetzt  werden  kann,  und  das  wird 
durch  Plut.  Nik.  6  bestätigt.  Daß^Thukydides  nichts  davon  erzählt,  ist  kein 
Gegengrund;  erwähnt  er  doch  auch  den  Ostrakismos  des  Hyperbolos  bloß  bei- 
läufig und  bei  einer  späteren  Gelegenheit.  Ein  Fund  von  Stimmscherben,  wahr- 
scheinlich aus  dieser  Zeit,  ist  vor  kurzem  beimDipylon  gemacht  worden :  11  nennen 
Thukydides,  den  Sohn  des  Melesias,  26  Kleippides,  der  428  die  gegen  Lesbos 
gesandte  Flotte  befehligt  hat,  je  eine  Teisandros,  den  Schwiegervater  von  Perikles 
Sohn  Xanthippos,  und  einen  sonst  unbekannten  Eucharides   (Jahrb.  d.  Inst. 

XXVI,  1911,  Anz.  Sp.  121  f. ).  Da  Dämons  Name  fehlt,  wird  es  sich  um  einen 
anderen  Ostrakismos  aus  dieser  Zeit  handeln.  Vgl.  über  Dämon  Wilamowitz, 
Hermes  XIV,  1879,  S.  318  und  Aristot.  I  134,  und  über  seine  musikalisch-  poli- 
tische  Schrift  Bücheier,  Rk.  Mus.  XL,  1885,  S.  309. 


314    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Tode  die  Sorge  für  seine  Aspasia  anvertraut  hatte,  Lysikles, 
,,der  Viehhändler",  wie  ihn  die  Komödie  nennt  \  Übrigens 
fiel  er  schon  im  Herbst  428/7  auf  einem  Zuge  nach  Karlen  ^. 
Die  Führung  des  Demos  ging  jetzt  auf  Kleon  über,  der,  wie  wir 
wissen,  der  perikleischen  PoHtik  einst  heftige  Opposition 
gemacht  hatte  und  einer  der  hauptsächlichsten  Urheber  von 
Perikles'  Sturze  gewesen  war,  jetzt  aber  die  Ansicht  vertrat, 
daß  man  den  einmal  angefangenen  Krieg  mit  Aufgebot  aller 
Kräfte  zu  Ende  führen  müsse.  Doch  die  soziale  Stellung 
des  Gerbermeisters  war  nicht  derart,  daß  er  auf  eine  Wahl 
zum  Strategen  hätte  rechnen  dürfen,  ein  Ehrgeiz,  der  ihm 
selbst  übrigens  zunächst  noch  sehr  fern  lag;  und  so  konnte 
er  auf  die  Regierung  und  namentlich  auf  den  Gang  der  Krieg- 
führung  nur  indirekt   Einfluß   üben. 

Der  Führer  der  Gegenpartei,  Thukydides,  der  Sohn  des 
Melesias,  war  nach  Ablauf  seiner  zehnjährigen  Verbannung 
(435)  in  die  Heimat  zurückgekehrt,  wo  er  sogleich  an  der 
Agitation  Anteil  nahm,  die  zu  Perikles'  Sturz  führte  ^.  Aber 
er  war  schon  zu  alt,  als  daß  er  noch  jetzt  die  Partei  hätte  leiten 
können  *.  So  ging  die  Führung  auf  Nikias  über,  den  Sohn  des 
Nikerat  OS,  aus  dem  Bezirk  Kydantidae.  Ein  durchaus  achtungs- 
werter  Charakter  und  wie  die  meisten  Mitglieder  der  vor- 
nehmen Häuser  Athens  der  bestehenden  Verfassung  aufrichtig 
zugetan,  auch  ein  ganz  tüchtiger  Subalternoffizier,  fehlte 
es  ihm  doch  an  jeder  höheren  militärischen  und  staatsmänni- 
schen Begabung;  sein  Ansehen  beruhte  vor  allem  auf  seinem 
großen  Reichtum,  worin  ihm  wenige  in  Athen  gleichkamen^- 

^  Aristoph.  Ritter  132.  765  mit  den  Scholl.,  Aeschin.  der  Sokrat.  bei  SchoL 
Plat.  Menex.  235  e,  Plut  Per.  24,  Harpokr.  unter  'Aairaoia.  Vgl.  Müller- 
Strübing,   Aristophanes  S.   620  ff. 

^  Thuk.  III  19. 

*  Satyros  bei  Diog.   Laert.    II  12. 

*  Aristoph.  Acharn.  708  ff.,  Wesp.  947,  falls  diese  Verse  auf  den  Sohn 
des  Melesias  gehen,  vgl.  Kirchner,  Prosopogr.  I  472  und  was  dort  angeführt 
ist.  Ein  Altersgenosse  des  Perikles  muß  Thukydides  jedenfalls  gewesen  sein, 
da  sein  Sohn  Melesias  spätestens  461,  wahrscheinlich  10 — 20  Jahr  früher,  geboren 
ist,  s.   unten  2.  Abt.    §  17. 

«  Plut.  Nik.  2  ff.,  Thuk.  VII  86,  5,  über  seinen  Reichtum  Lys.l9  {v Aristoph. 
Verm.)  47,    Xen.    vdEink.    4,    14. 


Nikias.  —  Belagerung  von  Plataeae.  315 

Nichts  kennzeichnet  vielleicht  besser  den  Mangel  an  Talenten, 
der  jetzt  in  Athen  herrschte,  als  daß  ein  solcher  Mann  die 
leitende  Stellung  im  Staate  einnehmen  und  mit  geringen 
Unterbrechungen  bis  zu  seinem  Tode  behaupten  konnte.  Daß 
unter  diesen  Umständen  an  eine  kräftige  und  zielbewußte 
Politik  und  Kriegführung  von  seiten  Athens  nicht  zu  denken 
war,  bedarf  keiner  Ausführung  ^. 

Die  Peloponnesier  hatten  im  Jahre  429  ihren  Einfall 
nach  Attika  nicht  wiederholt;  zu  verheeren  gab  es  dort  nichts 
mehr,  und  die  noch  immer  nicht  erloschene  Pest  mahnte 
zur  Vorsicht.  So  rückte  König  Archidamos  statt  dessen  in 
das  Gebiet  von  Plataeae,  und  da  die  Versuche  fehlschlugen, 
die  Stadt  zum  gutwilligen  Anschluß  an  die  spartanische  Sache 
zu  bestimmen,  begann  die  Belagerung.  Wenn  die  Plataeer 
auch  alle  Stürme  abwiesen,  so  mußte  doch  früher  oder  später 
der  Hunger  die  Stadt  in  die  Gewalt  der  Boeoter  und  Pelo- 
ponnesier liefern  -.  Das  waren  nun  gerade  keine  glänzenden 
Ergebnisse  des  Feldzuges.  Mehr  versprach  man  sich  von  einer 
anderen  Unternehmung,  die  in  der  zweiten  Hälfte  des  Sommers 
ins  Werk  gesetzt  wurde.  Die  Athener  hatten  nach  Perikles' 
Sturz  (Herbst  430)  endlich  getan,  was  sie  schon  am  Anfang 


1  Vgl.  Thuk.  II  65,  10. 

«  Thuk.  II  71—78.  Müller- Strübing,  Jahrb.  /.  Phil.  CXXXI,  1885,  S.  289fT., 
hat  gezeigt,  daß  diese  Erzählung  wenigstens  zum  Teil  ein  Phantasiestück  ist. 
Für  die  Topographie  grundlegend  Washington,  American.  Journ.  Archaeol. 
VI,  1890,  S.  445  ff.  mit  Plan.  Die  erhaltenen  Mauerreste  in  Polygonalbau  lassen 
keinen  Zweifel,  daß  die  Stadt  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  noch  etwas 
größer  war  als  seit  dem  IV.  Jahrhundert,  was  ja  auch  schon  von  vornherein 
klar  sein  sollte;  der  Umfang  betrug  rund  S^^  km.  Beim  Wiederaufbau  nach 
der  Zerstörung  durch  die  Thebaner  ist  die  äußerste  Südspitze  des  Mauerringes 
abgeschnitten  worden.  W^enn  Grundy,  Topogr.  of  ihe  baltle  of  Piaiaea,  London 
1894,  S.  53  ff.,  um  Thukydides'  Autorität  zu  retten,  die  Stadt  im  Jahr  429  auf 
die  Nordwestecke  des  Stadtplateaus  beschränken  will,  mit  einem  Umfang  von 
1430  Yards  oder  etwa  1300  m  und  einem  Flächenraum  von  etwa  10  ha,  so  steht 
das  in  schroffem  Widerspruch  zu  dem  archäologischenBefund,  denn  die  Zwischen- 
mauer, welche  diese  Nordwestecke  von  der  übrigen  Stadt  trennt,  ist  erst  in 
später  Zeit  aus  von  älteren  Mauern  genommenen  Steinen  erbaut.  Und  ebenso 
verkehrt  ist  es,  in  der  Südecke  das  Plataeae  des  V.  Jahrhunderts  zu  sehen. 


316    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 


des  Krieges  hätten  tun  sollen,  nämlich  ein  Geschwader  nach 
Naupaktos  geschickt,  das  die  Einfahrt  in  den  Krisaeischen 
Golf  blockiert  hielt  und  damit  den  gesamten  Seehandel 
Korinths  lahm  legte  ^.  So  wurde  denn  eine  starke  pelo- 
ponnesische Flotte  gerüstet,  um  diese  Blockade  zu  sprengen, 
und  zugleich  ein  Korps  von  1000  Hopliten  nach  Ambrakia 
gesandt,  das,  vereint  mit  den  Kontingenten  der  Bundes- 
genossen aus  der  dortigen  Gegend,  Akarnanien  zum  Abfall 
von  Athen  bringen  sollte.  Aber  das  peloponnesisch-epeirotische 
Bundesheer  wurde  bei  Stratos  von  den  Akarnanen  zum  Rück- 
zug gezwungen,  während  gleichzeitig  der  attische  Stratege 
Phormion  bei  Naupaktos  die  an  Zahl  weit  überlegene  pelo- 
ponnesische Flotte  in  zwei  Schlachten  aufs  Haupt  schlug  ^. 
Ein  Anschlag  auf  den  Peiraeeus,  den  die  Peloponnesier  dann 
noch  im  Herbst  von  Megara  aus  unternahmen,  blieb  ohne 
Erfolg  2. 

Drei  Jahre  hatte  der  Krieg  jetzt  gedauert,  ohne  irgend- 
eine Entscheidung  zu  bringen.  Aber  Athen  hatte  sein  Macht- 
gebiet nur  durch  die  schwersten  Opfer  zu  behaupten  vermocht, 
während  die  Hilfsquellen  der  Gegner  so  gut  wie  intakt  ge- 
blieben waren.  Der  Kriegsschatz,  auf  dem  hauptsächlich 
Athens  maritime  Überlegenheit  beruhte,  war  bereits  zum 
größten  Teile  erschöpft.  Die  Pest  hatte  in  die  wehrfähige 
Mannschaft  furchtbarere  Lücken  gerissen,  als  die  verlust- 
vollsten  Niederlagen  hätten  tun  können.  Und  noch  viel  bedenk- 
licher war  die  moralische  Einbuße,  die  das  Ansehen  Athens 
infolge  alles  dessen  bei  den  Bundesstaaten  erlitten  hatte. 
Wenn  also  die  Peloponnesier  auch  keinen  einzigen  wirklich 
durchschlagenden  militärischen  Erfolg  aufzuweisen,  ja  wenn 
sie  nicht  einmal  den  Verlust  Poteidaeas  abzuwenden  ver- 
mocht hatten,  wenn  ihre  Versuche,  es  zur  See  mit  Athen 
aufzunehmen,  kläglich  gescheitert  waren,  so  hatte  sich  trotz 
alledem  das  Machtverhältnis  zwischen  beiden  kriegführenden 


1  Thuk  II  69,  1. 
-  Thuk.  II  80—92. 
=*  Thuk.  II  93  f. 


Kämpfe  im  Westen.  —  Abfall  von  Lesbos.  317 

Teilen  sehr  wesentlich  zu  ihren  Gunsten  verschoben.  Das 
attische  Reich  wankte  in  seinen  Grundfesten;  die  Krisis  nahte 
heran. 

Im  Frühjahr  428  fielen  die  Peloponnesier  aufs  neue  in 
Attika  ein.  Gleich  nach  ihrem  Abzüge  erhob  sich  Lesbos  gegen 
Athen  (etwa  Ende  Juni),  die  einzige  Insel  des  Aegaeischen 
Meeres  neben  Chios,  die  sich  ihre  Autonomie  und  ihre  selb- 
ständige Marine  bewahrt  hatte.  Die  Gefahr  war  furchtbar, 
denn  nicht  nur  verfügte  Lesbos  über  eine  bedeutende  See- 
macht und  reiche  finanzielle  Mittel,  sondern  vor  allem,  wer 
vermochte  zu  sagen,  welche  Ausdehnung  der  Aufstand  an- 
nehmen würde.  An  den  Olympien,  die  in  diesem  Sommer 
gefeiert  wurden,  erfolgte  die  Aufnahme  der  Lesbier  in  den 
peloponnesischen  Bund,  und  es  wurde  ein  neuer  Einfall  in 
Attika  beschlossen,  der  noch  im  selben  Herbste  ins  Werk 
gesetzt  werden  sollte.  Doch  Athen  zeigte  sich  der  Lage  ge- 
wachsen. Auf  die  erste  Nachricht  von  dem  Aufstande  wurde 
eine  Flotte  von  40  Trieren  unter  Kleippides  nach  Lesbos 
gesandt,  die  zwar,  da  sie  kein  Landheer  an  Bord  hatte, 
nicht  imstande  war,  etwas  Ernstliches  auszurichten,  aber 
wenigstens  ein  weiteres  Umsichgreifen  des  Aufstandes  ver- 
hinderte. Dann  wurde  mit  100  von  der  Bürgerschaft  selbst 
bemannten  Trieren  eine  Demonstration  gegen  den  Isthmos 
unternommen,  wo  eben  die  peloponnesischen  Kontingente  sich 
zu  sammeln  begannen,  während  andere  30  Schiffe  die  lake- 
daemonische  Küste  verheerten.  Man  hatte  Athen  nach  den 
Verlusten  durch  die  Pest  solcher  Leistungen  nicht  mehr  für 
fähig  gehalten;  um  so  tiefer  war  der  Eindruck,  den  die  große 
Rüstung  hervorbrachte,  und  die  Folge  war,  daß  die  Spartaner 
nach  Hause  zurückkehrten.  Jetzt  ging  ein  athenisches  Heer 
von  1000  Hopliten  unter  dem  Strategen  Faches  nach  Lesbos; 
dazu  kamen  die  Kontingente  der  Kleruchen  auf  Lemnos  und 
Imbros  und  Zuzüge  aus  den  Bundesstädten.  So  gelang  es, 
die  Hauptstadt  der  Insel,  Mytilene,  zu  Lande  und  zur  See 
einzuschließen  ^.  Bei  der  drohenden  Erschöpfung  des  Staats- 
schatzes wurde,  zum  erstenmal  in  diesem  Kriege,  eine  direkte 

1  Thuk.  III  2—18,  Dittenb.  SylL  ^  27. 


318    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Vermögenssteuer  von  200  Talenten  in  Attika  selbst  aus- 
geschrieben, die  freilich  eben  nur  ausreichte,  die  dringendsten 
Bedürfnisse  zu  befriedigen  ^. 

Dem  gegenüber  gingen  die  Lakedaemonier  mit  ihrer 
gewohnten  Langsamkeit  vor.  Während  des  ganzen  Winters 
blieb  Mytilene  sich  selbst  überlassen;  endhch  im  Frühjahr  427 
ging  eine  Hilfsfiotte  von  42  Trieren  dahin  ab,  während  gleich- 
zeitig das  Landheer  den  gewohnten  Einfall  nach  Attika  unter- 
nahm. Aber  es  war  schon  zu  spät.  Wie  in  Mytilene  die  Vor- 
räte zur  Neige  gingen,  brachen  innere  Unruhen  aus,  welche 
die  Übergabe  der  Stadt  an  die  Athener,  und  zwar  auf  Gnade 
und  Ungnade,  herbeiführten.  Die  kleineren  Städte  auf  Lesbos 
und  die  mytilenaeischen  Besitzungen  in  der  Troas  ^  unter- 
warfen sich  darauf  ohne  Widerstand.  Die  peloponnesische 
Flotte  war  bereits  nach  lonien  gelangt,  wo  sie  allgemeinen 
Schrecken  verbreitet  hatte;  vielleicht  hätte  ein  Handstreich 
auf  Mytilene  die  Stadt  den  Athenern  entrissen.  Aber  der 
spartanische  Nauarch  Alkidas  wollte  von  einem  so  gefähr- 
lichen Wagnis  nichts  wissen  und  führte  seine  Schiffe  so  rasch 
wie   möglich   nach   Hause   zurück  ^. 

So  war  die  Krisis  des  lesbischen  Aufstandes  glücklich 
vorübergegangen,  freilich  nicht  bloß  durch  eigenes  Verdienst 
der  Athener,  sondern  noch  mehr  durch  die  Lässigkeit  und 
Ungeschicklichkeit  ihrer  Gegner.  Das  Ansehen  Athens  bei 
seinen  Bündnern  war  aufs  neue  befestigt,  und  man  konnte 
der  Zukunft  jetzt  ruhiger  entgegensehen.  Um  die  Bundes- 
staaten von  jedem  ähnlichen  Versuche  abzuschrecken,  be- 
antragte Kleon  eine  exemplarische  Bestrafung  des  unter- 
worfenen Mytilene.  Alle  erwachsenen  Männer  sollten  hin- 
gerichtet, die  Weiber  und  Kinder  in  die  Sklaverei  verkauft, 
das  Gebiet  an  attische  Kleruchen  verteilt  werden.  Und  so  groß 
war  in  Athen  die  Erbitterung  gegen  die  bundbrüchige  Stadt, 
daß  Kleon  die  Annahme  seines  Antrages  durchsetzte.     Aber 


^  Thuk.  III  19. 

*  Thuk.   IV  52.     Seitdem  erscheinen   diese   sog.   'AKxaTai  iröXeii;  in    den 
athenischen  Tributlisten  {CIA.  I  37.  543.     IV  S.  141). 
8  Thuk.  III  26—35. 


Unterwerfung  von  Mytilene.  319 

kaum  war  der  entsprechende  Befehl  an  den  in  Mytilene  kom- 
mandierenden General  abgegangen,  da  begann  es  den  Athenern 
selbst  vor  dem  gefaßten  Beschlüsse  zu  grauen.     Sehr  vielen 
von  denen,  die  sich  in  der  Volksversammlung  durch  Kleons 
Beredsamkeit   hatten   fortreißen    lassen,    kam   es   jetzt   zum 
Bewußtsein,    daß   man   im    Begriff  stand,    eine    Barbarei   zu 
begehen,   die  in  der  ganzen  Geschichte  Griechenlands  ihres- 
gleichen nicht  hatte;  daß  der  Massenmord  der  Bürger  einer 
der  größten  und  berühmtesten   Städte  in  Hellas  in  der  ge- 
samten   Nation    einen    Schrei    der    Entrüstung    hervorrufen 
und  Athen  die  letzten  Sympathien  rauben  mußte,  die  es  noch 
besaß.   Und  hatten  denn  die  Lesbier  ein  so  furchtbares  Schick- 
sal verdient  ?    50  Jahre  lang  hatten  sie  Seite  an  Seite  mit  den 
Athenern  gegen  Barbaren  und  Hellenen  gefochten,  und  wenn 
sie  jetzt  abgefallen  waren,  so  traf  die  Schuld  die  leitenden 
Klassen,  nicht  aber  die  Masse  des  Volkes,  die  nie  aufgehört 
hatte,   Athen  wohlgesinnt  zu  sein,   und  schließlich  die  Vor- 
nehmen zur  Übergabe  der  Stadt  gezwungen  hatte.     Die  Re- 
gierung ^  benutzte  diesen  Umschlag  der   Stimmung,   um  am 
nächsten  Tage  die  mytilenaeische  Sache  noch  einmal  vor  die 
Volksversammlung  zu  bringen;  aber  auch  jetzt  gelang  es  nur 
mit  knapper  Not,   die  Aufhebung  des   gefaßten   Beschlusses 
durchzusetzen.    Auch  so  war  das  Los,  das  Lesbos  traf,  schwer 
genug:  die  Autonomie  blieb  verloren,  die  Mauern  der  Städte 
wurden    niedergerissen,    die    Flotte    nach    Athen    fortgeführt, 
das   Grundeigentum   eingezogen   und   unter   2700   athenische 
Bürger  verteilt;  alle,  die  bei  dem  Aufstande  in    irgendeiner 
Weise  kompromittiert  waren  und  sich  nicht  durch  die  Flucht 
gerettet  hatten,    über  tausend  an  Zahl,    wurden  hingerichtet. 
Nur  Methymna,  das  allein  von  allen  Städten  der  Insel  Athen 
die  Treue  bewahrt  hatte,  behielt  seine  alte  Unabhängigkeit  ^. 
Es  ist  sehr  begreiflich,  daß  während  des  lesbischen  Auf- 
standes, der  die  Anspannung  aller  Kräfte  erforderte,  Athen 
sich  in  Griechenland  auf  die  strengste  Defensive  beschränkte. 

^  Thuk.   11 1  35,  5  (er  braucht  den  Ausdruck:  Touq  ^v  T^Xei). 
-  Thuk.  III  36 — 50,  Antiphon  5  {vHerodes'  Ermordung)  77  ff.,  Dittenb. 
Syll.  2  29. 


320    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden   des  Nikias. 

Selbst  zum  Entsatz  von  Plataeae,  das  seit  dem  Sommer  429 
von  den  Peloponnesiern  und  Boeotern  belagert  wurde  (oben 
S.  315),  machte  man  nicht  den  geringsten  Versuch,  obgleich 
die  Not  dort  aufs  höchste  gestiegen  war.  So  ergab  sich  die 
Stadt  im  Sommer  427  kurz  nach  dem  Fall  von  Mytilene. 
Von  der  Besatzung  hatte  sich  die  Hälfte  schon  während  des 
Winters  durch  die  feindlichen  Linien  durchgeschlagen;  den 
Rest,  200  Plataeer  und  25  Athener,  ließen  die  Sieger  hin- 
richten, zur  nicht  unverdienten  Vergeltung  für  den  Mord  der 
thebanischen  Gefangenen,  den  die  Plataeer  zu  Anfang  des 
Krieges  verübt  hatten.  Die  Stadt  wurde  zerstört,  das  Gebiet 
kam  an  Theben  ^. 

Wenig  fehlte  und  den  Athenern  wäre  gleichzeitig  ihr 
wichtigster  Verbündeter  im  Westen,  Kerkyra,  verloren  ge- 
gangen. Nur  mit  innerem  Widerstreben  und  unter  dem  Drucke 
einer  Zwangslage  hatte  sich  die  Insel  im  Jahre  433  an  Athen 
angeschlossen;  jetzt,  wo  die  Gefahr  vorüber  und  zugleich 
die  Macht  Athens  durch  den  Krieg  gegen  Lesbos  gelähmt  war, 
hielten  die  besitzenden  Klassen  den  Augenblick  gekommen, 
die  damals  geschlossene  Verbindung  zu  lösen  und  wieder 
in  die  Neutralität  gegenüber  allen  hellenischen  Händeln  zurück- 
zutreten, welche  die  traditionelle  Politik  Kerkyras  war.  Es 
brach  über  diese  Frage  zwischen  den  Besitzenden  und  dem 
Demos  der  Bürgerkrieg  aus.  Durch  mehrere  Tage  wütete  ein 
erbitterter  Straßenkampf,  bei  dem  ein  Teil  der  Stadt  in  Flammen 
aufging;  der  Sieg  neigte  sich  bereits  auf  die  Seite  der  Menge, 
als  die  Ankunft  eines  attischen  Geschwaders  von  12  Trieren 
von  Naupaktos  her  die  Entscheidung  brachte.  400  OHgarchen 
wurden  gefangen  gesetzt,  die  bisherige  Defensivallianz  mit 
Athen  in  ein  Schutz-  und  Trutzbündnis  verwandelt.  Aber  alle 
Erfolge  wurden  in  Frage  gestellt  durch  das  Erscheinen  der 
peloponnesischen  Flotte,  die  eben  von  der  Fahrt  nach  Lesbos 
zurückgekehrt  und  durch  Verstärkungen  auf  55  Trieren 
gebracht  war.  Im  Angesicht  der  Stadt  kam  es  zur  Seeschlacht, 
in    der    den    Peloponnesiern    über    die    völlig   desorganisierte 


1  Thuk.  III  20—24.  52—68. 


Übergabe  von  Plataeae.  —  Bürgerkrieg  auf  Kerkyra.  321 

kerkyraeische  Flotte  mit  leichter  Mühe  der  Sieg  blieb;  das 
attische  Geschwader  war  viel  zu  schwach,  das  Geschick  des 
Tages  zu  wenden.  Es  lag  in  der  Hand  des  lakedaemonischen 
Admirals,  seine  Truppen  ans  Land  zu  setzen  und  Kerkyra 
zu  nehmen;  aber  der  unfähige  Alkidas  fand  auch  jetzt  zu  dem 
entscheidenden  Entschlüsse  nicht  die  Kraft.  Inzwischen 
erschien  eine  attische  Flotte  von  60  Trieren  auf  der  Höhe  von 
Leukas,  und  nun  blieb  den  Peloponnesiern  nichts  übrig  als 
schleuniger  Rückzug.  Kerkyra  war  für  Athen  gerettet.  Unter 
dem  Schutze  der  attischen  Schiffe  hielt  der  kerkyraeische 
Pöbel  ein  furchtbares  Strafgericht  über  seine  Gegner;  die 
gefangenen  Oligarchen  wurden  sämtlich  hingerichtet  oder 
endeten  durch  eigene  Hand;  500  Bürger  der  besiegten  Partei 
flüchteten  auf  das  nahe  Festland  und  setzten  von  hier  aus 
den  Kampf  gegen  die  Demokratie  in  der  Stadt  fort  ^.  Sie  sind 
dann  später  wieder  nach  der  Insel  hinübergegangen,  wo  sie 
sich  zwei  Jahre  lang  in  den  Bergen  behaupteten,  bis  es  endlich 
der  kerkyraeischen  Regierung  mit  athenischer  Hilfe  gelang, 
sie  zur  Ergebung  zu  zwingen.  Die  athenische  Volksversamm- 
lung sollte  über  ihr  Schicksal  entscheiden;  die  Kapitulation 
wurde  aber  unter  einem  Vorwand  gebrochen  und  die  Gefangenen 
sämtlich  niedergemacht  (Spätsommer  425)  ^.  Im  ganzen 
sollen  etwa  1500  Angehörige  der  besitzenden  Klassen  dem 
Pöbel  zum  Opfer  gefallen  sein  ^.  Die  oligarchische  Partei 
war  vernichtet,  und  Kerkyra  segelte  fortan  im  athenischen 
Fahrwasser, 

Die  Sicherung  des  Besitzes  von  Kerkyra  war  für  Athen 
von  um  so  größerer  Wichtigkeit,  als  eben  jetzt  Ereignisse 
eintraten,  welche  die  attische  Intervention  in  Sicilien  zur 
Notwendigkeit  machten.  Denn  kaum  hatte  die  demokratische 
Staatsform  in  Syrakus  feste  Wurzeln  geschlagen,  als  man 
dort  anfing,  in  die  Bahnen  der  deinomenidischen  Politik  ein- 
zulenken und  den  Wiedergewinn  der  Hegemonie  über  die 
Insel   anzustreben.    Gleich  nach  dem  Sturze  des  Duketios  war 

1  Thuk.  III  69—86. 

2  Thuk.  IV  46—48. 

3  Diod.  XIII  48,  2. 

B  e  1  o  c  h,  Griech.  Geschichte.  II,  i.    2.  Aufl.  21 


322    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

es  darüber  zum  Kriege  mit  Akragas  gekommen  (um  446), 
wobei  die  ganze  Insel  für  und  wider  Partei  nahm;  am  Flusse 
Himeras  wurden  die  Akragantiner  unter  schweren  Verlusten 
geschlagen  und  gezwungen,  um  Frieden  zu  bitten  ^.  Syrakus 
war  nun  wieder  die  erste  Macht  im  hellenischen  Westen;  und 
so  blieb  den  chalkidischeri  Städten,  wenn  sie  ihre  Selbständig- 
keit behaupten  wollten,  nichts  übrig,  als  sich  den  Athenern 
in  die  Arme  zu  werfen  (oben  S.  202).  Jetzt  kam  die  Zeit, 
wo  Athen  die  übernommenen  Verpflichtungen  einlösen  sollte. 
Ein  allgemeiner  Krieg  brach  auf  Sicilien  aus.  Auf  der  einen 
Seite  standen  die  chalkidischen  Städte  Naxos,  Katane,  Leon- 
tinoi,  Rhegion,  das  dorische  Kamarina,  und  ein  großer  Teil 
der  eingeborenen  Sikeler;  auf  der  anderen  Seite  Syrakus, 
Gela,  Selinus,  Messene,  Himera,  Lipara,  und  das  epizephyrische 
Lokroi;  Akragas  hielt  sich,  so  weit  wir  sehen,  neutral.  Die 
Syrakusier  waren  ihren  Gegnern  weit  überlegen;  und  so  sah 
Athen  sich  genötigt,  im  Herbst  427  ein  Geschwader  von  20 
Trieren  unter  dem  Strategen  Laches  von  Aexone  seinen 
Bundesgenossen  im  Westen  zu  Hilfe  zu  schicken.  Trotz  dieser 
geringen  Macht  wurden  bedeutende  Erfolge  erreicht  und 
namentlich  Messene  zum  Anschluß  an  die  athenische  Sache 
gebracht  (426).  Wenn  die  Peloponnesier  im  Anfang  des  Krieges 
auf  Unterstützung  seitens  ihrer  Kolonien  im  Westen  gerechnet 
hatten,  so  war  die  Verwirklichung  dieser  Hoffnung  jetzt  in 
weite  Ferne  gerückt  ^. 

Die  Mißerfolge  der  peloponnesischen  Waffen  konnten 
auf  die  inneren  Verhältnisse  Spartas  nicht  ohne  Rückwirkung 
bleiben.  Die  Erwartung,  Athen  durch  die  Verheerung  seines 
Landgebietes  zum  Frieden  zu  zwingen,  war  fehlgeschlagen. 
Man  hatte  auf  die  Erhebung  der  athenischen  Bundesgenossen 
gerechnet;  aber  Poteidaea  war  gefallen,  der  lesbische  Aufstand 
isoliert  geblieben  und  schnell  unterdrückt  worden.  Alle  Ver- 
suche, den  Athenern  auf  ihrem  eigenen  Elemente,  dem  Meer, 
zu  begegnen,  hatten  nur  zu  schmählichen  Niederlagen  geführt. 

1  Diod.  XII  8,  vgl.  26. 

2  Thuk.  III  86.  88.  90,  Diod.  XII  53  f.;  über  Thukydides'  Quelle:  Stein, 
Rh.  Mus.  LV,  1900,  S.  531  ff. 


Krieg  in  Sicilien.  —  Friedensverhandlungen.  323 

Auch  die  Rechnung  auf  einen  inneren  Umschwung  in  Athen 
hatte  getrogen.  Perikles  war  gestürzt  worden,  und  seine 
Gegner  hatten  seine  PoHtik  weitergeführt;  selbst  sein  Tod 
hatte  keine  Änderung  in  der  Lage  gebracht.  Unter  diesen 
Umständen  begann  man  auch  in  Sparta  auf  die  Beilegung  des 
Krieges  zu  denken.  Ihren  äußeren  Ausdruck  fand  diese 
Stimmung  in  der  Rückberufung  des  Königs  Pleistoanax  (Winter 
427/6),  der  vor  19  Jahren  seiner  Würde  entsetzt  und  in  die 
Verbannung  geschickt  worden  war,  weil  er  sein  Heer  von 
der  Grenze  Attikas  zurückgeführt  und  durch  diese  Schonung 
ihres  Gebietes  die  Athener  bewogen  hatte,  den  Frieden  mit 
Sparta  um  die  schwerwiegendsten  Konzessionen  zu  erkaufen  ^. 
Die  Ereignisse  der  letzten  Jahre  hatten  die  damals  befolgte 
Politik  glänzend  gerechtfertigt.  Pleistoanax  war  jetzt  bestrebt, 
die  alten  Beziehungen  zu  Athen  wieder  anzuknüpfen.  Im 
Frühjahr  426  unterblieb  der  gewohnte  Einfall  in  Attika  ^, 
und  die  Unterhandlungen  wurden  wieder  aufgenommen.  Die 
hauptsächlichste  Forderung  Spartas  war  die  Rückführung  der 
Aegineten  auf  ihre  Insel  ^. 

Nikias  und  seine  Freunde  waren  bereit  genug,  auf  die 
Unterhandlungen  einzugehen;  aber  leider  glitt  ihnen  selbst 
immer  mehr  das  Heft  aus  der  Hand.  So  unleugbare  Verdienste 
sie  sich  um  die  Erhaltung  der  Machtstellung  Athens  in  der 
mytilenaeischen  Krise  erworben  hatten,  so  völlig  unfähig 
hatten  sie  sich  erwiesen,  irgendwelche  entscheidende  Erfolge 
über  die  Peloponnesier  zu  erringen.  Und  gerade  dieselben 
Umstände,  welche  die  Kriegspartei  in  Sparta  entmutigten, 
mußten  zur  Stärkung  der  Kriegspartei  in  Athen  beitragen. 
Das  Gefühl,  daß  eine  energische  Leitung  des  Staates  not- 
wendig sei,  machte  sich  in  immer  weiteren  Kreisen  der  Bürger- 
schaft geltend;  und  damit  mußte  der  Einfluß  der  Opposition 
sich  vergrößern.  Schon  in  der  Beratung  über  das  Schicksal 
von  Mytilene  hatte  die  Regierung  nur  mit  knapper  Not  die 


^  Thuk.  V  16,  3,  vgl.  oben  S.  184.    Über  die  Zeit  der  Rückberufung  oben 
I  2  §  67. 

^  Thuk.  III  89.  1.     Ein  Erdbeben  gab  den  Vorwand, 
^  Aristoph.   Acharn.  653  f. 

21* 


324    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Anträge  Kleons  zu  Fall  bringen  können.  Dieser  hatte  damals 
im  Rate  gesessen  und  in  dieser  Stellung  eine  unermüdliche 
Tätigkeit  zur  Herbeischaffung  der  für  den  Krieg  nötigen 
Geldmittel  entwickelt,  unbekümmert  um  die  Erbitterung, 
welche  seine  unnachsichtige  Strenge  bei  der  Eintreibung  von 
Steuerrückständen  bei  den  besitzenden  Klassen  hervorrief  ^. 
Für  das  folgende  Jahr  (427/6)  wurde  er  zum  Hellenotamias 
gewählt  und  erhielt  damit  maßgebenden  Einfluß  auf  die 
Leitung  der  Bundesfinanzen  ^.  Auch  im  Gerichtssaal  trat  die 
Opposition  der  Regierung  siegreich  entgegen.  Selbst  ein  Mann 
wie  Faches,  der  Eroberer  von  Mytilene,  wurde  zur  Verant- 
wortung gezogen  und  entging  nur  durch  Selbstmord  der 
Verurteilung  ^.  Ebenso  ist  die  Absendung  der  Hilfsflotte  nach 
Sicilien  ohne  Zweifel  auf  Kleons  Initiative  zurückzuführen; 
ist  doch  auch  später  die  Eroberung  des  Westens  stets  ein 
Lieblingsplan  der  athenischen  Radikalen  geblieben.  Bei 
den  Wahlen  für  426/5  kam  der  Umschwung  der  öffentlichen 
Meinung  in  voller  Stärke  zum  Ausdruck.  Kaum  einer  der 
im  Amt  befindlichen  Strategen  wurde  wiedergewählt;  an 
ihre  Stelle  traten  Männer  der  Kriegspartei,  darunter  Perikles' 
Brudersohn  Hippokrates  von  Cholargos  ^. 

Die  neue  Regierung  trat  um  Mittsommer  426  ins  Amt, 
zu  spät,  um  in  diesem  Jahre  noch  etwas  Ernstliches  zu  be- 
ginnen. So  erfolgten  Operationen  von  einiger  Bedeutung 
nur  im  Nordwesten  von  Griechenland.  Der  athenische  Strateg 
Demosthenes  von  Aphidna  erlitt  hier,  bei  dem  Versuche  von 
Naupaktos  aus  AetoHen  zu  unterwerfen,  eine  vollständige 
Niederlage;   und  nicht  besser  erging  es  den  Peloponnesiern, 


1  Aristoph.  Ritter  774  ff. 

"  Nach  der  ansprechenden  Vermutung  von  Busolt  (Hermes  XXV,  189Ü, 
S.  640)  auf  Grund  eines  neugefundenen  Bruchstücks  der  Urkunde  CIA.  IV 
179  b  S.  161.  In  dieser  Stellung  machte  Kleon  den  Versuch,  den  Aufwand  für 
die  Reiterei  zu  vermindern  (Aristoph.  Acharn.  6,  Theopomp.  fr.  100,  Gilbert 
Beiträge  S.  133  ff,),  womit  er  freilich  nicht  durchdrang.  Er  muß  also  im  Jahre 
vorher  Ratsherr  gewesen  sein. 

»  Plut.  Nik.  6,  Arist.  26,  meine  Att.  Polit.   S.  33  A.  1. 

*  Aristoph.  Acharn.  1078,  meine  Att.  Polit.  S.  34  f.  302  (unten  2.  Abt. 
§  112). 


Kämpfe  in  Aetolien  und  Akarnanien.  —  Sphakteria.  325 

als  sie  im  Herbste  des  Jahres,  auf  Ambrakia  gestützt,  den 
Versuch  machten,  Akarnanien  von  dem  Bunde  mit  Athen 
abzuziehen.  Demosthenes  machte  hier  die  in  Aetolien  erlittene 
Schlappe  glänzend  wett;  Ambrakia  erlitt  so  schwere  Verluste, 
daß  es  nur  durch  schleunigen  Friedensschluß  mit  Akarnanien 
sich  vom  Untergang  retten  konnte  ^.  Im  folgenden  Jahre  (425) 
wurde  auch  die  korinthische  Kolonie  Anaktorion  von  den 
Akarnanen  und  Athenern  genommen;  die  alten  Bewohner 
mußten  die  Stadt  verlassen  und  wurden  durch  akarnanische 
Ansiedler  ersetzt  ^.  Doch  gelang  es  den  Spartanern,  durch 
die  Gründung  von  Herakleia  Trachis  am  nördlichen  Ausgang 
der  Thermopylen  einen  Stützpunkt  in  Mittelgriechenland  zu 
gewinnen  (Sommer  426)  ^;  freilich  ein  sehr  dürftiges  Resultat 
eines  Kriegsjahres. 

Inzwischen  hatten  in  Sicilien  die  Syrakusier  allmählich 
wieder  die  Oberhand  gewonnen;  es  zeigte  sich,  daß  das  dort 
operierende  athenische  Geschwader  für  seine  Aufgabe  viel  zu 
schwach  war.  Man  beschloß  also,  im  Frühjahr  425  eine  Ver- 
stärkung von  weiteren  40  Trieren  unter  Sophokles  und  Eury- 
medon  nach  dem  Westen  zu  schicken  *.  Gleichzeitig  wurde  im 
geheimen  ein  Schlag  gegen  den  Peloponnes  vorbereitet.  De- 
mosthenes, der  eben  im  frischen  Glänze  seiner  akarnanischen 
Siege  nach  Athen  heimgekehrt  war,  wurde  der  Expedition 
beigeordnet  mit  der  Vollmacht,  die  Flotte  während  ihrer 
Fahrt  an  den  peloponnesischen  Küsten  nach  eigenem  Er- 
messen zu  verwenden.  Mit  richtigem  Blicke  erkannte  er  die 
verwundbarste  Stelle  der  feindlichen  Macht.  Am  Gestade 
Messeniens  öffnet  sich  nach  Westen  die  Bucht  von  Pylos 
(Navarino),  durch  die  langgestreckte  Insel  Sphakteria  vor 
den  Stürmen  des  Ionischen  Meeres  geschützt,  der  beste  natür- 


1  Thuk.  III  94—98.    100—102.    105—114;    Behr,   Hermes  XXX,   1895, 

S.  447  ff. 

2  Thuk.  IV  49. 

*  Thuk.  III  92  f.  Die  Angabe,  daß  10  000  Kolonisten  hier  angesiedelt 
worden  wären  (Diod-  XII 59,  5,  Skymn.  598),  ist  maßlos  übertrieben,  s.  meine 
Bevölkerung  S.  512. 

*  Thuk.  III  115,  IV  2. 


326    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias, 

liehe  Hafen  der  ganzen  Halbinsel.  Die  spartanischen  Herren 
des  Landes  hatten  sich  um  diese  abgelegene  Gegend  wenig 
bekümmert;  ausgedehnte  Waldungen  bedeckten  das  Ufer, 
weit  und  breit  keine  menschliche  Ansiedlung.  So  konnte 
Demosthenes  ungestört  ans  Werk  gehen.  An  der  nördlichen 
Einfahrt  in  den  Hafen  wurde  ein  Kastell  errichtet  und  fünf 
Trieren  unter  Demosthenes'  Befehl  zu  seinem  Schutze  zurück- 
gelassen; dazu  kam  weiter  ein  messenisches  Piratenschiff 
aus  Naupaktos  mit  40  Hopliten  an  Bord.  Man  hoffte  von 
dieser  Stellung  aus  die  Heiloten  im  alten  Messenien  zum  Auf- 
stand zu  bringen.  Der  Rest  der  Flotte  fuhr  nach  Sicilien 
weiter. 

Das  peloponnesische  Bundesheer  war  eben  wieder  in 
Attika  eingefallen,  befehligt  von  Agis,  dem  Sohne  des  Archi- 
damos,  der  vor  zwei  Jahren  (427)  seinem  Vater  auf  den  Thron 
der  Eurypontiden  gefolgt  war^;  auf  die  Nachricht  von  den 
Vorgängen  in  Pylos  kehrten  die  Truppen  eiligst  in  die  Heimat 
zurück.  Gleichzeitig  wurde  auch  die  Flotte  von  60  Trieren, 
die  zur  Unterstützung  der  dortigen  OHgarchen  (oben  S.  320) 
nach  Kerkyra  in  See  gegangen  war,  zurückgerufen  und  nach 
Pylos  geführt.  Die  Athener  wurden  jetzt  zu  Wasser  und  zu 
Lande  eingeschlossen;  um  jeden  Entsatz  vom  Meere  her  un- 
möglich zu  machen,  besetzte  eine  Abteilung  von  400  lake- 
daemonischen  Hopliten  die  Insel  Sphakteria.  Demosthenes 
fand  sich  so  in  sehr  bedenklicher  Lage,  da  die  in  aller  Eile 
aufgeführte  Befestigung  kaum  den  notdürftigsten  Anforde- 
rungen genügte.  Trotzdem  gelang  es  der  attischen  und  messe- 
nischen Besatzung  den  Platz  zu  halten,  bis  die  nach  Sicilien 
bestimmte  Flotte,  die  mittlerweile  auf  56  Trieren  verstärkt 
worden  war,  zur  Hilfe  herankam.  Die  Athener  drangen  in  den 
Hafen,  dessen  Eingang  der  Feind  zu  sperren  versäumt  hatte; 
die  peloponnesische  Flotte  wurde  trotz  ihrer  Überzahl  ge- 
schlagen, die  Insel  Sphakteria  mit  ihrer  Besatzung  vom  Fest- 
lande  abgeschnitten. 

So  unbedeutend  dieser  Erfolg,  rein  militärisch  betrachtet, 

1  Oben  I  2  §  69. 


Sphakteria.  327 

auch  war,  er  reichte  hin,  die  ganze  Lage  von  Grund  aus  zu 
verändern.  Denn  die  400  Mann  auf  Sphakteria  bildeten  etwa 
den  zehnten  Teil  der  gesamten  Hoplitenmacht  Spartas;  und 
man  war  dort  gewillt,  zu  ihrer  Befreiung  jedes  irgend 
mit  der  Würde  des  Staates  verträgliche  Opfer  zu  bringen. 
Waren  bisher  alle  Versuche  zur  Herstellung  des  Friedens 
von  Athen  ausgegangen,  so  eröjffneten  jetzt  die'Lakedaemonier 
die  Unterhandlungen.  Auf  ihren  Betrieb  wurde  zunächst 
ein  Waffenstillstand  geschlossen  und  für  die  Dauer  desselben 
die  gesamte  vor  Pylos  versammelte  peloponnesische  Flotte 
den  Athenern  ausgeliefert;  als  Gegenleistung  gestatteten 
die  Athener  die  Verproviantierung  der  Besatzung  von  Sphak- 
teria. 

Athen  hatte  es  in  seiner  Macht,  einen  vorteilhaften  Frieden 
zu  schUeßen;  selbst  auf  der  Basis  der  Wiederherstellung  des 
Besitzstandes  vor  dem  dreißigjährigen  Vertrage  waren  die 
Lakedaemonier  zu  unterhandeln  bereit.  Aber  Kleon  wollte 
nichts  von  einem  Frieden  wissen,  ehe  nicht  die  Besatzung 
von  Sphakteria  gefangen  in  der  Hand  der  Athener  wäre; 
und  trotz  allen  Widerstrebens  der  besitzenden  Klassen  fanden 
seine  Anträge  die  Majorität  der  Volksversammlung.  Die 
Verhandlungen  wurden  demgemäß  abgebrochen  ^. 

Die  Athener  dachten  natürlich  nicht  daran,  die  einmal 
in  ihren  Händen  befindliche  peloponnesische  Flotte  heraus- 
zugeben; ein  Vorwand  war  bald  gefunden,  um  den  Vertrags- 
bruch zu  beschönigen.  Aber  die  Hoffnung,  die  Besatzung 
von  Sphakteria  durch  Hunger  zur  Kapitulation  zu  bringen, 
schlug  gründlich  fehl;  der  Feind  fand  Wege,  durch  die  Blockade- 
flotte hindurch  Proviant  nach  der  Insel  zu  schaffen.  Das  Ende 
der  guten  Jahreszeit  rückte  immer  näher,  und  war  einmal 
der  Winter  da,  so  wurde  die  Aufrechterhaltung  der  Blockade 
eine  Unmöglichkeit,  und  der  Besatzung  stand  der  Rückzug 
auf  den  Kontinent  offen.  Es  war  klar,  daß  bei  dem  bisher 
befolgten  Plan  nichts  zu  erreichen  war  und  die  einzige  Hoff- 
nung auf  einen  Erfolg  in  einer  Landung  auf  der  Insel  bestand. 


1  Vgl  Philoch.  fr.  105.  106. 


328    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Demosthenes  war  sich  denn  darüber  auch  keinen  AugenbHck 
zweifelhaft;  er  war  bereit,  das  Wagnis  zu  unternehmen,  sobald 
er  aus  Athen  die  nötigen  Verstärkungen  erhielte.  Aber  die 
oberste  Heeresleitung  wollte  von  einem  so  kühnen  Entschlüsse 
nichts  wissen.  Denn  die  Wahlen  im  Frühjahre  425  waren 
unter  dem  Eindrucke  der  bisherigen  Erfolglosigkeit  aller 
Unternehmungen  der  Kriegspartei  für  diese  ungünstig  aus- 
gefallen; zwar  Demosthenes  war  gewählt  worden,  Hippokrates 
aber  und  die  meisten  seiner  politischen  Freunde  waren  unter- 
legen, und  Nikias  nahm  wieder  seinen  alten  Platz  als  leitendes 
Mitglied  des  Strategeion  ein.  Kurze  Zeit  nach  dem  Scheitern 
der  Friedensverhandlungen  hatte  Nikias  seine  neue  Würde 
angetreten;  und  er  war  zu  fest  von  der  Unüberwindlichkeit 
der  Spartaner  überzeugt,  als  daß  er  es  gewagt  hätte,  seinen 
Ruf  als  Feldherr  durch  eine  Landung  auf  Sphakteria  aufs 
Spiel  zu  setzen.  Demgegenüber  drängte  Kleon  mit  aller 
Energie  auf  entscheidende  Maßregeln;  wenn  die  Strategen 
Männer  wären,  könnte  Sphakteria  in  20  Tagen  genommen 
sein.  Da  ließ  sich  Nikias  dazu  hinreißen,  seinen  Gegner  auf- 
zufordern, doch  selbst  das  Kommando  in  Pylos  zu  über- 
nehmen, in  der  sicheren  Voraussicht,  daß  der  Angriff  miß- 
glücken und  Kleons  politischer  Einfluß  dadurch  für  immer 
zerstört  sein  würde.  Kleon  hatte  nie  in  seinem  Leben  eine 
Truppe  geführt,  und  es  war  ihm  nicht  wohl  bei  der  Sache; 
aber  ihm  bheb  keine  Wahl,  Traf  ihn  doch  die  Verantwortung 
dafür,  daß  man  in  Athen  die  lakedaemonischen  Friedens- 
vorschläge zurückgewiesen  hatte.  So  ging  er,  ohne  weiter 
zu  zögern,  an  der  Spitze  der  von  Demosthenes  verlangten 
Verstärkungen  nach  Pylos  ab  und  schritt,  dort  angekommen, 
sogleich  zum  Angriff,  dessen  militärische  Leitung  er  ver- 
ständigerweise Demosthenes  überließ.  Am  zweiten  Tage 
nach  Kleons  Ankunft,  in  der  Morgenfrühe  —  es  war  etwa 
Mitte  August  —  landeten  die  Athener  auf  der  Insel.  Es  mochten 
gegen  10  000  Mann  sein,  die  Demosthenes  und  Kleon  unter 
ihrem  Befehl  hatten;  und  wenn  auch  der  größte  Teil  dieser 
Zahl  aus  den  militärisch  ziemlich  wertlosen  Rudermann- 
schaften der  Flotte  bestand,  so  bildeten  doch  die  etwa  1000 


Sphakteria.  —  Kleon  leitender  Staatsmann.  329 

Hopliten  und  die  1000  Peltasten  und  Bogenschützen  schon 
für  sich  allein  eine  erdrückende  Übermacht  gegen  die  400 
Lakedaemonier.  Aber  es  kam  überhaupt  nicht  zum  Kampfe 
mit  der  blanken  Waffe.  Demosthenes  hielt  seine  Hopliten 
zurück  und  beschränkte  sich  darauf,  den  Feind  durch  seine 
Bogenschützen  und  Peltasten  beschießen  zu  lassen.  Dem- 
gegenüber waren  die  Spartaner  in  ihrer  schweren  Rüstung 
ganz  ohnmächtig;  nach  starken  Verlusten  blieb  ihnen  nichts 
übrig  als  der  Rückzug  in  ihr  befestigtes  Lager,  wo  sie,  von 
allen  Seiten  umstellt,  endhch  die  Waffen  streckten;  es  waren 
noch  292  Hopliten.  Kleon  hatte  sein  Versprechen  glänzend 
eingelöst;  innerhalb  20  Tagen  hatte  er  Sphakteria  erobert 
und  die  Besatzung  gefangen  nach  Athen  geführt  ^. 

Jetzt  erntete  er  die  Früchte  seines  Erfolges.  Mochte 
das  Verdienst  der  militärischen  Leitung  des  Angriffs  auf 
Sphakteria  immerhin  Demosthenes  gebühren,  es  war  doch 
Kleon,  der  den  Oberbefehl  geführt  und  die  Verantwortung 
für  den  Ausgang  getragen  hatte;  sein  Verdienst  war  es,  daß 
die  Verstärkungen  abgesandt  wurden,  die  den  Sturm  erst 
möglich  gemacht  hatten,  und  nicht  mit  Unrecht  feierte  ihn 
darum  die  öffentliche  Meinung  als  Sieger.  Die  höchsten  Ehren, 
die  der  Staat  überhaupt  einem  Bürger  verleihen  konnte, 
wurden  ihm  zuerkannt:  die  lebenslängliche  Speisung  im 
Rathause  und  ein  Ehrensitz  im  Theater.  In  Rat  und  Volks- 
versammlung gab  sein  Wort  jetzt  den  Ausschlag  ^,  sein  Gegner 
Nikias  hatte  durch  seine  schwächliche  Haltung  in  der  pylischen 
Sache  sich  selbst  um  allen  Einfluß  gebracht  und  es  half  ihm 
sehr  wenig,  daß  er  sich  jetzt  plötzlich  aus  seiner  alten  Un- 
tätigkeit aufraffte.  Die  Landung  am  Isthmos,  die  er  unmittel- 
bar nach  der  Eroberung  Sphakterias  unternahm,  führte  zu 
nichts  als  zu  einem  unfruchtbaren  Siege  über  die  korinthische 


1  Thuk  IV  3—41.  über  "die  Topographie'Orundy,  Journ.  Hell.  Stud.  XVI, 
1896,  S.  1  ff.  (mit  Plänen),  XVIII,  1898,  S.  232  ff.,  vgl.  Burrows  ebenda  XVI  55, 
XVIII  147.  345.  Über  das  Taktische  Delbrück,  Strategie  des  Perikles,  Berlin 
1890,  über  die  Chronologie  unten  2.  Abt.    §  100. 

'  S.    Aristophanes'   im  Winter  425/4  aufgeführte  Ritter. 


330    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Landwehr  1;  und  wenn  Nikias  im  nächsten  Frühjahr  (424) 
den  Lakedaemoniern  die  Insel  Kythera  entriß,  so  war  das 
allerdings  ein  glänzender  Erfolg,  aber  man  konnte  mit  Recht 
fragen,  warum  er  diese  Unternehmung  nicht  schon  vor  Jahren 
ins  Werk  gesetzt  hatte  ^. 

Kleon  überließ  dem  Gegner  die  wohlfeilen  Lorbeeren 
und  widmete  seine  ganze  Kraft  den  Verwaltungsgeschäften. 
Die  hauptsächlichste  Schwierigkeit,  mit  der  Athen  in  den 
letzten  Jahren  zu  kämpfen  gehabt  hatte,  war  der  Mangel 
an  Geldmitteln;  seit  der  Schatz  nahezu  erschöpft  war,  genügte 
der  Betrag  der  regelmäßigen  Reichseinnahmen  nicht  entfernt 
für  die  Bedürfnisse  einer  energischen  Kriegsführung.  Unter 
dem  frischen  Eindrucke  des  Sieges  von  Sphakteria,  der  Athens 
Autorität  im  ganzen  Umfang  des  Reiches  aufs  neue  befestigte, 
erhöhte  jetzt  Kleon  die  Tribute  auf  über  1000  Talente,  mehr 
als  das  Doppelte  ihres  bisherigen  Betrages  ^.  Einen  kleinen 
Teil  der  so  gewonnenen  Geldmittel  verwendete  er  zur   Be- 


^  Thuk.  IV  42—44,  vgl.  Aristoph.  Ritter  594  fi. 

2  Thuk.  IV  53—55,  CIA.  I  293  Z.  20  ff. 

^  CIA  I  37,  aus  425/4.  Die  Gesamtsumme  betrug,  nach  dem  Fragment 
CIA.  I  544,  das  den  untersten  Teil  dieser  Stele  bildete  (Cavaignac,  Hist.  financ. 
d'Athenes  pl.  I  2,  Wilhelm,  Wien.  Akad.  Anz.  1909  S.  52)  entweder  960  oder 
1460  tal.,  je  nachdem  wir  das  verlöschte  erste  Zahlzeichen  mit  500  oder  1000 
ergänzen.  Die  Sätze  des  Inseltributs,  die  auf  unserer  Stele  verzeichnet  sind, 
ergeben,  soweit  eine  Vergleichung  mit  den  früheren  Tributsätzen  möglich  ist, 
eine  Erhöhung  von  rund  55  auf  130  tal.,  also  um  nahe  an  140%.  Die  Summe 
des  hellespon tischen  Tributs  betrug  nach  dem  Fragment  CIA  1  543,  das  viel- 
leicht zu  I  37  gehört  (Wilhelm  a.  a.  0.),  jedenfalls  aber  zu  einer  der  nächsten 
Einschätzungslisten,  mehr  als  250  tal.,  nach  CIA.  I  37  z",  das  aber  nicht  zu 
dieser  Stele  gehörig  ist,  296  tal.,  während  dieser  Bezirk  vorher  nur  gegen  90  tal. 
gezahlt  hatte.  Doch  sind  hier  wahrscheinlich  die  pontischen  Städte  einbegriffen, 
die  in  den  Quotenlisten  nie  vorkommen.  Ebenso  ist  425/4  Melos  eingeschätzt 
worden,  das  niemals  Tribut  gezahlt  hat,  und  so  werden  noch  viele  andere  Städte 
m  partibus  infidelium  eingeschätzt  worden  sein.  Es  ist  demnach  allerdings 
wahrscheinlich,  daß  der  Sollbetrag  der  Tribute  425/4  auf  1460  tal.  veranlagt 
worden  ist,  eine  Summe,  die  aber  bei  weitem  nicht  vollständig  eingehen  konnte. 
Andok.  vFr.  9  gibt  den  Betrag  der  Tribute  nach  der  Erhöhung  auf  1200  taL  an, 
Plut.  Arist.  24  auf  1300  tal.;  das  mag  dem  wirklichen  Ertrag  näher  kommen 
und  ist  wahrscheinlich  auch  noch  zu  hoch.  —  Daß  Kleon  der  Urheber  der  Maß- 
regel war,  bedarf  keines  Beweises  und  wird  durch  Aristoph.  Ritter  313  bestätigt. 


Erhöhung  der  Tribute.  —  Einnahme  von  Nisaea.  331 

festigung  seiner  Popularität  in  Athen,  indem  er  den  Richter- 
sold von  täglich  2  Obolen  auf  3  Obolen  erhöhte,  eine  Maß- 
regel, die  durch  die  Steigerung  aller  Lebensmittelpreise,  wie 
sie  infolge  des  Krieges  in  Athen  eintreten  mußte,  immerhin 
gerechtfertigt  werden  konnte  ^. 

Unter  diesen  Umständen  konnte  die  Wahl  Kleons  zum 
Strategen  im  Frühjahr  424  nicht  zweifelhaft  sein,  trotz  aller 
Anstrengungen  der  Gegenpartei.  Selbst  daß  die  Sonne  vor 
der  Wahl  sich  verfinsterte,  blieb  ohne  Eindruck  auf  die  Menge  ^. 
Natürlich  war  auch  der  andere  Sieger  von  Pylos,  Demosthenes, 
unter  den  neuen  Strategen,  und  ebenso  wurde  Hippokrates 
von  Cholargos,  der  im  vorigen  Jahre  unterlegen  war,  jetzt 
wiedergewählt.  So  durfte  man  den  Operationen  des  nächsten 
Sommers  mit  hochgespannten  Erwartungen  entgegensehen. 
In  der  Tat  entwickelte  die  Regierung  eine  sehr  anerkennens- 
werte Energie.  Kaum  ins  Amt  getreten,  rückten  Hippokrates 
und  Demosthenes  mit  dem  Kern  des  attischen  Heeres,  4600 
Hopliten  und  600  Reitern,  gegen  Megara,  wo  man  Verbindungen 
mit  den  Führern  der  demokratischen  Partei  angeknüpft 
hatte,  zu  dem  Zwecke,  die  Stadt  den  Athenern  in  die  Hände 
zu  spielen.  Ein  Tor  der  langen  Mauern,  welche  die  Stadt  mit 
dem  Meere  verbanden,  wurde  den  Athenern  geöffnet,  die 
peloponnesische  Besatzung  auf  den  Hafen  Nisaea  zurück- 
geworfen und  hier  eng  eingeschlossen;  am  nächsten  Tage 
kapitulierte  sie  auf  freien  Abzug.  In  Megara  selbst  haderten 
indes  die  Parteien,  die  Stadt  war  zu  jedem  ernsthchen  Wider- 
stand unfähig  und  schien  den  Athenern  zur  leichten  Beute 
werden  zu  müssen  ^. 

Indes  auch  die  Peloponnesier  hatten  diesmal  den  rechten 
Mann  an  der  rechten  Stelle.  Der  Verlust  von  Pylos  und  Kythera 
hatte  die  Lakedaemonier  endlich  aus  ihrer  bisherigen  Un- 
tätigkeit aufgerüttelt.  Daß  bei  den  beständig  wiederholten 
Einfällen  in  Attika  nichts  herauskam,  hatte  eine  siebenjährige 

^  Müller- Strübing,  Aristophanes  S.  149  ff. 

-  Meine  Mische  Politik  S.  269  f.  305  f.     Aristoph.   Wolken  581—6,  die 
hier  erwähnte  Sonnenfinsternis  fällt  auf  den  21.   März. 
3  Thuk.  IV  66—69. 


332    X.  Abschnitt.  — •  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Erfahrung  bewiesen;  auch  verbot  die  Rücksicht  auf  die  Sicher- 
heit der  Gefangenen  von  Sphakteria  einen  neuen  Zug  gegen 
Athen,  denn  dort  hatte  man  den  Beschluß  gefaßt,  diese  Ge- 
fangenen zum  Tode  zu  führen,  sobald  ein  peloponnesisches 
Heer  die  attische  Grenze  überschritte  ^.  Athen  war  verwundbar 
nur  durch  Schläge  gegen  seine  Bundesgenossen;  und  es  konnte 
nicht  zweifelhaft  sein,  wohin  eine  solche  Unternehmung  zu 
richten  war.  Denn  die  Inseln  und  lonien  waren  bei  der  un- 
bedingten Beherrschung  des  Meeres  durch  die  Athener  jedem 
Angriff  der  Peloponnesier  entrückt;  nur  eine  Stelle  gab  es 
im  ganzen  Umfang  des  athenischen  Bundesgebietes,  die  für 
ein  peloponnesisches  Landheer  erreichbar  war,  die  thrakische 
Küste.  So  entschlossen  sich  die  Peloponnesier  endlich  zu  der 
Maßregel,  die  sie  hätten  ergreifen  sollen,  solange  Poteidaea 
noch  widerstand,  einem  Feldzug  nach  Thrakien.  Aber  auch 
jetzt  waren  es  nicht  mehr  als  700  freigelassene  Heiloten  und 
1000  arkadische  Söldner,  die  zu  dem  Unternehmen  bestimmt 
wurden.  Doch  die  ungenügende  Zahl  wurde  aufgewogen  durch 
die  Person  des  Führers;  denn  an  die  Spitze  des  Korps  trat 
Brasidas,  der  Sohn  des  Tellis,  der  fähigste  Offizier,  den  Sparta 
besaß  ^. 

Eben  jetzt  stand  Brasidas  auf  dem  Isthmos,  beschäftigt, 
sein  kleines  Heer  zusammenzuziehen  und  zu  organisieren, 
als  die  Nachricht  von  dem  athenischen  Angriff  auf  Megara 
eintraf.  Sofort  bot  er  aus  den  benachbarten  Städten  Korinth, 
Sikyon,  Phleius  3700  HopHten  auf  und  führte  diese  Truppen 
und  was  er  von  seinen  eigenen  Leuten  beisammen  hatte,  über 
die  Geraneia.  Gleichzeitig  stiegen  von  Norden  her  2200  boeotische 
Hopliten  mit  600  Reitern  über  den  Kithaeron  und  vereinigten 
sich  vor  Megara  mit  Brasidas,  der  sorriit  gegen  8000  Mann 
unter  seinem  Befehle  hatte  und  den  Athenern  numerisch 
bedeutend  überlegen  war.     Diese  hielten  es  denn  auch  nicht 


1  Thuk.  IV  41,  1. 

^  Wahrscheinlich  ist  er  identisch  mit  dem  eponymen  Ephoren  für  431/0 
(Xen.  Hell.  II  3,  10).  Kurz  vor  seinem  Amtsantritt  hatte  er  Methone  gegen 
die  Athener  verteidigt  (Thuk.  II  25,  2)  und  in  den  Jahren  429,  427,  425  auf 
der  Flotte  gedient  (Thuk.  passim). 


Brasidas  bei  Megara  und  in  Thrakien.  333 

für  ratsam,  die  Schlacht  anzunehmen,  die  Brasidas  ihnen 
anbot,  und  damit  war  Megara  für  die  Peloponnesier  gerettet. 
Die  Führer  der  Demokratie  flohen  nach  Athen,  während 
die  Verbannten  zurückkehrten,  und  eine  oHgarchische  Ver- 
fassung eingeführt  wurde.  Doch  blieb  Nisaea  in  der  Hand 
der  Athener  ^. 

Brasidas  vollendete  nun  seine  Rüstung  und  brach  im 
Spätsommer  nach  Thrakien  auf.  In  Eilmärschen  durchzog 
er  Thessalien,  dessen  Bewohner  in  ihrer  Mehrzahl  den  Athenern 
geneigt  waren,  dem  peloponnesischen  Heere  aber  keine  ernst- 
lichen Hindernisse  in  den  Weg  legten.  Sobald  Brasidas  die 
makedonische  Grenze  überschritt,  trat  König  Perdikkas  auf 
die  peloponnesische  Seite;  die  athenischen  Bundesstädte 
Akanthos  und  Stagiros  folgten  sogleich  diesem  Beispiel. 
Nun,  schon  zu  Anfang  des  Winters,  wandte  sich  Brasidas 
gegen  Amphipolis,  die  Hauptstadt  des  athenischen  Thrakiens. 
Die  Bürgerschaft,  unter  der  die  Athener  nur  eine  kleine  Minori- 
tät bildeten,  war  zum  Teil  zum  Abfall  bereit,  zum  Teil  wenig 
geneigt,  sich  für  die  attischen  Interessen  zu  schlagen.  Einen 
Angriff  hatte  man  zu  dieser  Jahreszeit  so  wenig  erwartet, 
daß  der  athenische  Stratege  Thukydides  von  Halimus,  der  das 
Kommando  in  diesen  Gegenden  führte,  mit  seinem  Geschwader 
von  7  Trieren  nach  Thasos  gefahren  war.  Auf  die  Nachricht 
von  Brasidas'  Erscheinen  vor  Amphipolis  kehrte  er  allerdings 
schleunigst  zurück,  aber  er  kam  zu  spät;  Amphipolis  hatte 
sich  bereits  den  Peloponnesiern  ergeben.  Nur  Ei'on,  die 
Festung  an  der  Mündung  des  Strymon,  die  einst  Kimon  den 
Persern  entrissen  hatte,  Hieb  in  der  Hand  der  Athener  2, 


1  Thuk.  IV  70—74. 

2  Thuk.  IV  78—88.  102—108.  Es  ist  schwer  zu  verstehen,  was  Thukydides 
in  Thasos  zu  tun  hatte,  das  in  keiner  Weise  bedroht  war,  so  wenig  wie  die  gegen- 
überliegenden Küstenorte.  Sein  Platz  wäre  in  Eion  gewesen.  So  haben  die 
athenischen  Geschworenen  gedacht,  die  ihn  verurteilten.  Er  selbst  sagt  kein 
Wort  zu  seiner  Entlastung,  während  er  seine  angeblichen  Verdienste  um  die 
Rettung  von  Eion  hervorhebt  (IV  106,  4).  „Verzweifelt  naiv"  ist  nur  die  Art, 
wie  man  der  Kritik  den  Mund  stopfen  möchte;  das  Bild  des  heiligen  Thukydides 
soll  eben  um  jeden  Preis  rein  bleiben. 


334    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Während  Brasidas  diese  Schläge  gegen  die  athenische 
Macht  in  Thrakien  führte,  hatten  die  athenischen  Waffen 
auch  in  Boeotien  eine  schwere  Niederlage  erlitten.  In  der 
richtigen  Erkenntnis,  daß  eine  siegreiche  Beendigung  des 
Krieges  nur  dann  zu  hoffen  sei,  wenn  es  gelänge,  die  Boeoter 
von  dem  Bündnis  mit  den  Peloponnesiern  abzuziehen,  hatte 
Hippokrates  mit  der  demokratischen  Partei  in  Boeotien 
Verbindungen  angeknüpft.  Von  drei  Seiten  her  sollte  ein 
kombinierter  Angriff  auf  die  Landschaft  ins  Werk  gesetzt 
werden;  die  boeotischen  Verbannten  sollten  sich  Chaeroneias 
bemächtigen;  Demosthenes,  der  nach  der  Einnahme  von 
Nisaea  mit  40  Trieren  nach  Naupaktos  gegangen  war,  sollte 
mit  akarnanischen  Truppen  bei  Siphae  im  Gebiet  von  Thespiae 
landen,  und  zugleich  Hippokrates  selbst  an  der  Spitze  des 
attischen  Gesamtaufgebots  von  Osten  her  in  Boeotien  ein- 
fallen. Der  Plan  mochte  seinen  Urhebern  ein  strategisches 
Meisterwerk  scheinen,  wie  er  sich  denn  auch  in  der  Theorie 
sehr  gut  ausnahm;  leider  war  er  zu  kompliziert,  als  daß  auch 
nur  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auf  ein  Gelingen  zu  rechnen 
gewesen  wäre.  Vor  allem  war  bei  der  Menge  der  Eingeweihten 
das  Geheimnis  nicht  zu  bewahren  gewesen;  die  boeotische 
Regierung  erfuhr,  was  im  Werke  war,  und  ließ  die  bedrohten 
Punkte,  Chaeroneia  und  Siphae,  besetzen.  Die  geplante  demo- 
kratische Erhebung  war  damit  vereitelt.  Und  auch  die  attischen 
Feldherren  operierten  nicht  mit  der  nötigen  Präzision;  Demo- 
sthenes erschien  zu  früh  vor  Siphae  und  wurde  infolgedessen 
von  den  Boeotern  mit  leichter  Mühe  zurückgetrieben.  So 
war  die  ganze  Macht  des  boeotischen  Bundes  gegen  Hippo- 
krates verfügbar,  als  dieser  einige  Tage  später  von  Oropos 
her  die  Grenze  überschritt,  7000  Hopliten,  1000  Reiter  und  über 
10  000  Mann  leichter  Truppen.  Hippokrates  hatte  etwa  die 
gleiche  Zahl  Hopliten  und  Reiter;  an  leichten  Truppen  war 
er  sogar  dem  Feinde  beträchtlich  überlegen.  Trotzdem  wünschte 
er  eine  Entscheidungsschlacht  zu  vermeiden;  er  begnügte  sich 
also,  den  Tempel  des  delischen  Apollon  am  Ufer  des  euboeischen 
Sundes  im  Gebiete  von  Tanagra  mit  einer  Verschanzung 
zu  umgeben  und  dort  eine  Besatzung  zurückzulassen,  während 


Schlacht  beim  Delion.  —  Ende  des  sicilischen  Krieges.  335 

er  seine  Hauptmacht  nach  der  Grenze  zurückführte.  Dabei 
wurde  er  noch  am  späten  Nachmittag  von  den  Boeotern 
angegriffen  und  nach  kurzem  Kampfe  völlig  geschlagen.  Die 
Entscheidung  hatte  die  thebanische  Phalanx  gegeben,  die 
in  tiefer  Kolonne  von  den  Höhen  herabstürmend  den  linken 
athenischen  Flügel  durchbrach  und  dann,  nach  links  um- 
schwenkend, die  ganze  feindliche  Schlachtlinie  aufrollte, 
so  daß  der  bis  dahin  siegreiche  rechte  athenische  Flügel  in  der 
allgemeinen  Flucht  mitgerissen  wurde.  Hippokrates  selbst 
fiel  und  mit  ihm  an  1000  seiner  Hopliten;  nur  die  Nacht  rettete 
das  Heer  vor  völliger  Vernichtung.  Nach  wenigen  Tagen 
ergab  sich  auch  die  Verschanzung  beim  Delion.  Es  war  die 
furchtbarste  Niederlage,  die  Athen  bisher  in  diesem  Kriege 
erlitten  hatte  ^. 

Auch  die  sicilische  Unternehmung  hatte  nicht  die  Erfolge 
gebracht,  die  man  sich  in  Athen  versprochen  hatte.  Laches 
war  im  Herbste  426  vom  Kommando  abberufen  und  durch 


1  Thuk.  IV  76  f.,  78—101,  vgl.  Plat  Symp.  121a,  Laches  181b.  Das 
Delion  lag  am  Meer  (Herod.  VI  118,  Thuk.  IV  100,  5,  Skylax  59,  Paus.  IX  20,  1, 
Liv.  XXXV  51,  Strab.  IX  403)  nach  Thuk.  IV  90,4  10  Stadien  (2  km)  von 
der  oropischen  Grenze,  nach  Liv.  a.  a.  0.,  d.  h.  Polybios  (Nissen,  Unters.  S.  175, 
vgl.  Diod.  XXIX  1)  5  Milien,  also  40  Stadien  (8  km)  vonTanagra,  minus  quaituor 
miliuvi,  also  30  Stadien  (6  km)  von  dem  nächsten  Punkt  der  euboeischen  Küste, 
nach  Strab.  a.  a.  0.  30  Stadien  von  Aulis.  Man  setzt  darauf  hin,  und  wegen 
des  Namens,  das  Delion  nach  Dilesi  (Ulrichs,  Annali  Inst.  XVIII  26  ff.  =  Reisen 
u.  Forsch.  II,  Berlin  1863,  S.  46  ff.).  Strabons  Angabe  würde  allerdings  auf 
Dramesi  führen,  das  6  km  weiter  NW.  liegt;  aber  von  dort  sind  es  nur  etwa 
2  km  nach  Euboea,  und  es  ist  auch  höchst  unwahrscheinlich,  daß  die  Oropia 
sich  so  weit  ausgedehnt  haben  sollte,  ferner  hätten  die  Athener  dann  gegen  das 
von  Tanagra  (Thuk.  IV  91,  1)  kommende  boeotische  Heer  mit  verkehrter  Front 
kämpfen  müssen.  Die  Distanzangabe  bei  Strabon  ist  also  falsch  oder  korrupt.  — 
Burrows  hat  10  Minuten  NO.  der  Station  Schimatari,  wo  die  Bahn  nach  Chalkis 
sich  von  der  Bahn  nach  Larisa  abzweigt,  in  einer  byzantinischen  Kapelle  des 
H.  Demetrios  eingemauert  eine  Weihinschrift  an  Apollon  gefunden  und  will 
darauf  hin  das  Delion  hier  ansetzen  (Annual  Br.  School  Athens  XI,  1904/5, 
S.  153  ff.);  da  es  aber  von  hier  5  km  bis  zum  Meere  sind,  so  bedarf  dieser  Ansatz 
dem  klaren  Wortlaut  der  Zeugnisse  gegenüber  keiner  Widerlegung.  Übrigens 
haben  die  Ausgrabungen  an  dieser  Stelle  keine  Spur  eines  Tempels  ergeben;  bei 
Dilesi  allerdings  ebensowenig  (Burrows  a.  a.  0.   S.   172  Anm.). 


336    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Pythodoros  ersetzt  worden;  bei  seiner  Rückkehr  nach  Athen 
machte  Kleon  dem  abgesetzten  Feldherrn  den  Prozeß,  der 
jedoch  mit  dessen  Freisprechung  endete  ^.  Sein  Nachfolger 
verlor  gleich  im  Frühjahr  425  Messene  an  die  Syrakusier, 
die  nun  von  hier  aus  den  Athenern  die  Beherrschung  der 
Meerenge  streitig  machten.  Die  40  Trieren  unter  Sophokles 
und  Eurymedon,  die  zur  Verstärkung  der  in  den  sicilischen 
Gewässern  operierenden  Flotte  bestimmt  waren,  wurden 
durch  die  Ereignisse  von  Pylos  dort  den  größten  Teil  des 
Sommers  festgehalten  und  gelangten  erst  im  Herbste  nach 
Rhegion.  Jetzt  war  hier  eine  imponierende  Flotte  vereinigt. 
Aber  eben  diese  gewaltige  Machtentfaltung  erregte  bei  den 
Sikelioten  den  sehr  begründeten  Argwohn,  daß  die  Athener 
es  auf  mehr  abgesehen  hätten,  als  den  Schutz  ihrer  chalkidischen 
Bundesgenossen  2.  Gegenüber  der  Gefahr,  mit  der  Athen 
die  Unabhängigkeit  der  ganzen  Insel  bedrohte,  verstummte 
der  innere  Hader;  im  Sommer  424  wurde  in  Gela  zwischen 
den  kriegführenden  Teilen  der  Friede  geschlossen,  im  wesent- 
lichen auf  der  Grundlage  des  gegenwärtigen  Besitzstandes. 
Den  Athenern  blieb  nichts  übrig  als  gute  Miene  zum  bösen 
Spiel   zu   machen  und  nach   Hause  zurückzukehren  ^. 

So  waren  alle  Unternehmungen  der  Kriegspartei  ge- 
scheitert, und  den  einzigen  Erfolg,  dessen  man  sich  rühmen 
konnte,  seit  Nikias  aus  seiner  leitenden  Stellung  verdrängt 
war,  bildete  die  Einnahme  von  Nisaea.  Es  half  sehr  wenig, 
daß  man  die  unglücklichen  Strategen  einen  nach  dem  andern 
vor  Gericht  stellte  und  zu  schweren  Strafen  verurteilte,  zuerst 
die  Befehlshaber  der  nach  Sicilien  gesandten  Flotte,  Eury- 
medon, Sophokles  und  Pythodoros,  dann  Thukydides,  durch 
dessen  Fahrlässigkeit  Amphipohs  verloren  gegangen  war. 
Solche  Prozesse  konnten  höchstens  dazu  dienen,  das  Vertrauen 


'■  Aristoph.  Wespen  891  ff.,  vgl.  240  ff.;  meine  Mische  Politik  S.  337—39. 

^  Thuk.  IV  65,  3,  vgl.  Aristoph.  Ritter  174.  1303. 

»  Thuk.  III  115.  IV  1.  58—65,  Tim.  fr.  97  bei  Polyb.  XII  26  k  26.  Nur 
Morgantine  mußte  von  Syrakus  gegen  eine  Geldentschädigung  an  Kamarina 
abgetreten  werden  (Thuk.   IV  65,  1). 


Waffenstillstand.  —    Fortgang  des  thrakischen  Krieges.  337 

der  Truppen  in  ihre  Führung  zu  erschüttern,  und  das  sollte 
sich  bald  genug  rächen  ^. 

Unter  dem  Eindrucke  des  Schlages  beim  Delion  und 
der  Verluste  in  Thrakien  begann  die  öffentliche  Meinung 
sich  jetzt  von  der  Kriegspartei  abzuwenden.  In  wie  helles: 
Licht  trat  diesen  Leuten  gegenüber  Nikias,  er,  der  nie  eine 
Schlacht  verloren  hatte,  dem  alles,  was  er  unternahm,  zu 
glücken  schien  und  der  trotzdem  seit  Jahren  nicht  müde" 
wurde,  für  den  Frieden  zu  wirken.  In  immer  breiteren  Schichten, 
brach  die  Überzeugung  sich  Bahn,  daß  bei  dem  ganzen  Kriege 
sehr  wenig  herauskam  und  daß  Perikles  recht  gehabt  hatte, 
wenn  er  die  Erhaltung  des  vorigen  Besitzstandes  gleich  zu 
Anfang  als  höchstes  zu  erstrebendes  Ziel  hingestellt  hatte. 
Denn  daß  der  Kern  der  spartanischen  Macht  mit  den  Athen, 
zu  Gebote  stehenden  Mitteln  unverwundbar  war,  hatte  eine 
achtjährige  Erfahrung  jedem,   der  sehen  wollte,   bewiesen. 

Die  Unterhandlungen  zwischen  den  kriegführenden 
Mächten  wurden  also  wieder  aufgenommen.  Zwar  konnte 
man  sich  zunächst  über  die  Friedensbedingungen  noch  nicht 
einigen;  aber  Nikias'  Freund  Laches  brachte  im  Frühjahr  423 
wenigstens  einen  Waffenstillstand  auf  ein  Jahr  zustande, 
und  der  Abschluß  des  definitiven  Friedens  schien  nur  noch  eine 
Frage  der  Zeit  ^. 

Daß  es  noch  nicht  dazu  kam,  war  Brasidas'  Werk.  Die 
Einnahme  von  Amphipolis  hatte  Athens  Ansehen  in  Thrakien 
einen  tödlichen  Stoß  gegeben;  überall  drängten  sich  die  Städte 
zum  Abfall  ^.  Zuerst  traten  das  edonische  Myrkinos  und  die 
thasischen  Kolonien  Galepsos  und  Oesyme  auf  die  pelo- 
ponnesische  Seite  hinüber;  Brasidas  wurde  damit  Herr  der. 
Goldminen  des  Pangaeon.  Bald  folgten  die  kleinen  Städte 
am  Athos  bis  auf  Sane  und  Dion  und  das  wichtige  Torone 
auf   der    Halbinsel    Sithonia  ^.      Endlich    griff   der   Aufstand 


1  Thuk.  IV  65.  V  26,  5.   Philochoros  fr.  104.  IMarkellinos  Leben  des  Thuky- 
dides  26. 

^  Thuk.  IV  117,  die  Urkunde  118  f. 

ä  Thuk.  IV  108,  3. 

•*  Thuk.  IV  107,  3—116. 

Beloch,  Griech.  Geschichte,  II  i.     2.  Aufl.  22 


338    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

sogar  nach  Pallene  hinüber,  obgleich  diese  Halbinsel  durch 
die  Festungswerke  der  attischen  Kolonie  Poteidaea  völlig 
von  dem  übrigen  Kontinente  abgesperrt  war  und  nur  zur  See 
erreicht  werden  konnte.  In, denselben  Tagen,  wo  der  Waffen- 
stillstand in  Athen  und  Sparta  beschworen  wurde,  fiel  hier 
Skione  zu    Brasidas   ab  ^. 

Die  Athener  verlangten  jetzt  natürlich,  daß  diese  Stadt 
ihnen  zurückgegeben  würde,  und  ebenso  natürlich  war  es, 
daß  Brasidas  seine  neuen  Bundesgenossen  nicht  preisgeben 
wollte.  So  war  der  Waffenstillstand,  kaum  abgeschlossen, 
schon  wieder  in  Frage  gestellt,  und  Kleon  tat  alles,  um  den 
Bruch  zu  erweitern.  Auf  seinen  Antrag  wiesen  die  Athener 
das  Schiedsgericht  zurück,  das  die  Lakedaemonier  anboten. 
Skione  sollte  mit  Waffengewalt  unterworfen  und  seine  ganze 
Bürgerschaft,  zur  Strafe  für  den  Verrat,  hingerichtet  werden. 
Ein  Exekutionsgeschwader  von  50  Trieren,  mit  1000  Hopliten 
und  vielen  leichten  Truppen  an  Bord,  wurde  sogleich  nach 
Thrakien   gesandt   und   Nikias   der    Befehl   übertragen  ^. 

Der  athenische  Feldherr  wandte  sich  zunächst  gegen 
Mende,  die  Nachbarstadt  Skiones,  die  inzwischen  ebenfalls 
abgefallen  war  ^.  Von  den  dortigen  Demokraten  unterstützt, 
wurde  er  der  Stadt  mit  leichter  Mühe  Herr;  dann  rückte  er 
vor  Skione,  das,  von  einer  peloponnesischen  Besatzung  ver- 
teidigt, kräftigen  Widerstand  leistete,  so  daß  sich  Nikias 
zu  einer  regelmäßigen  Belagerung  entschließen  mußte.  Diese 
Erfolge  veranlaßten  Perdikkas  von  Makedonien,  der  sich 
eben  mit  Brasidas  überworfen  hatte,  wieder  auf  die  athenische 
Seite  hinüberzutreten;  ein  wertvoller  Erwerb  für  Athen,  da 
der  makedonische  König  den  lakedaemonischen  Verstärkungen 
den  Durchzug  sperrte,  die  schon  für  Brasidas  unterwegs  waren. 
Dieser  blieb  damit  auf  seine  eigne  kleine  Streitmacht  und  die 
Hilfsquellen  seiner  chalkidischen  Bundesgenossen  beschränkt^. 


1  Thuk.  IV  120—122. 

2  Thuk.  IV  122,  5  f.  129,  2. 

3  Thuk.  IV  123. 

*  Thuk.  IV  129—132.    Vertrag  mit  Perdikkas  CIA.  I  42.  43.  IV  1  S.  14 

(Scala,  Staatsverträge  I  S.  62  ff.). 


Schlacht  bei  Amphipolis.  339 

Im  eigentlichen  Griechenland  blieb  übrigens  trotz  dieser 
Kämpfe  in  Thrakien  die  Ruhe  ungestört.  Aber  die  Friedens- 
verhandlungen machten  begreiflicherweise  unter  diesen  Um- 
ständen keine  Fortschritte,  und  auch  der  Waffenstillstand 
wurde  bei  seinem  Ablaufe  im  Frühjahr  422  nicht  weiter  ver- 
längert ^.  Wie  die  Stimmung  in  Athen  war,  zeigt  die  Wahl 
Kleons  zum  Strategen  für  das  nächste  Amtsjahr,  422/1.  Und 
Kleon  war  entschlossen,  Brasidas  seine  Eroberungen  mit 
Waffengewalt  zu  entreißen.  Seit  dem  Siege  von  Sphakteria 
hatte  er  kein  Kommando  mehr  übernommen,  obgleich  er 
ein  Jahr  im  Strategeion  gesessen  hatte;  er  wußte,  daß  er  kein 
Feldherr  war.  Aber  die  Offiziere  von  Beruf  hatten  Amphipolis 
verloren  und  die  Katastrophe  am  Delion  herbeigeführt. 
Schlimmer  hätten  die  Dinge  nicht  gehen  können,  auch  wenn 
ein  militärischer  Dilettant  an  der  Spitze  gestanden  hätte. 
Vor  allem  mußte  verhindert  werden,  daß  der  Zauderer  Nikias 
den  Befehl  gegen  Brasidas  erhielt.  So  entschloß  sich  Kleon, 
die  Leitung  der  Operationen  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen; 
vielleicht  daß  das  Glück  ihm  noch  hold  war  wie  einst  ^.  Noch 
im  Spätsommer,  sobald  die  Zeit  der  Etesien  vorüber  war, 
ging  er  an  der  Spitze  von  1200  athenischen  Hopliten,  300 
Reitern  und  vielen  Bundesgenossen  nach  Thrakien  in  See. 
Der  Anfang  schien  die  kühnsten  Hoffnungen  zu  rechtfertigen: 
Torone  und  Galepsos  wurden  mit  stürmender  Hand  wieder- 
genommen, der  Angriff  auf  Amphipolis  vorbereitet.  Aber 
bei  einer  Rekognoszierung,  die  Kleon  von  Eion  aus  mit  seiner 
ganzen  Macht  gegen  die  Stadt  unternahm,  wurde  er  unver- 
sehens von  Brasidas  angegriffen,  das  Heer  auseinanderge- 
sprengt und  in  regellose  Flucht  geschlagen;  600  Athener  und 
der  Feldherr  selbst  deckten  die  Wahlstatt.  Den  Peloponnesiern 
kostete  der  Sieg  nur  sieben  Mann;  aber  unter  diesen  sieben 
war  Brasidas.     Die  dankbaren  Amphipoliten  errichteten  ihm 


1  Thuk.  V  1. 

^  Nach  dem  stehenden  Brauch  dieser  Zeit  wird  Kleon  Kollegen  gehabt 
haben;  Thukydides  nennt  sie  nicht,  offenbar  mit  Absicht,  um  Kleon  allein  die 
Verantwortung  für  die  Niederlage   zuschieben  zu  können. 

22* 


340    X.  Abschnitt.  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

ein  Denkmal  auf  dem  Markte  ihrer  Stadt  und  erwiesen  ihm 
als   Befreier  heroischfe  Ehren  ^. 

Die  Schlacht  bei  Amphipolis  war  ein  schwerer  Schlag 
für  die  Kriegspartei  in  Athen.  Nicht  nur  daß  sie  ihren  Führer 
Kleon  verloren  hatte,  den  einzigen  wahrhaft  fähigen  Mann, 
den  sie  in  ihren  Reihen  zählte;  noch  schwerer  wog  es,  daß 
auf  Kleons  Andenken  die  ganze  Verantwortung  für  das  ver- 
unglückte thrakische  Unternehmen  lastete.  So  mußte  die 
Leitung  des  Staates  von  selbst  Nikias  zufallen,  und  dieser 
konnte  nun  ungehindert  dem  Ziele  zusteuern,  dem  er  bereits 
vor  zwei  Jahren  so  nahe  gewesen  war.  Hatte  doch  der  Gegner 
selbst  den  Beweis  geliefert,  daß  unter  den  jetzigen  Umständen 
mit  Waffengewalt  in  Thrakien  nichts  zu  erreichen  war  und 
die  Hoffnung  auf  Wiedererlangung  von  Amphipolis  einzig 
in    der   Verständigung   mit    Sparta   beruhte. 

Auch  in  Sparta  hatte  man  allen  Grund,  den  Frieden 
zu  wünschen.  Unter  den  peloponnesischen  Bundesgenossen 
begannen  sich  bedenkliche  Symptome  zu  zeigen.  Mantineia 
hatte  seine  Herrschaft  über  die  südlichen  Gaue  Arkadiens 
bis  zur  lakonischen  Grenze  ausgedehnt  ^  und  geriet  dabei  in 
Krieg  mit  Tegea;  eine  blutige  Schlacht,  die  im  Winter  423/2 
geschlagen  wurde,  blieb  ohne  Entscheidung  ^.  Es  war  dringend 
geboten,  hier  Ordnung  zu  schaffen  und  Mantineia  in  seine 
Schranken  zurückzuweisen.  Auch  mit  den  Eleiern  stand 
Sparta  in  gespannten  Beziehungen,  da  es  in  einem  Streit 
zwischen  Elis  und  dessen  Untertanenstadt  Lepreon  zugunsten 
dieser  letzteren  interveniert  und  zu  ihrem  Schutze  eine  lake- 
daemonische  Besatzung  hineingelegt  hatte  *.  Das  alles  hätte 
nun  nicht  viel  zu  bedeuten  gehabt,  wenn  nicht  der  auf  30  Jahre 
mit  Argos  abgeschlossene  Waffenstillstand  seinem  Ablauf 
so  nahe  gewesen  wäre;  und  Argos  forderte  als  Preis  für  die 
Erneuerung   des   Vertrages   die   Rückgabe   der    Kynuria,    die 


1  Thuk.  V  2  f.  6—11. 

2  Thuk  V  29.  33. 
^  Thuk.  IV  134. 

■*  Thuk.  V  31. 


Folgen  der  Schlacht.  —  Lage  im  Peloponnes.  —  Der  Frieden.      341 

ihm  Sparta  vor  einem  Jahrhundert  entrissen  hatte  ^.  Darauf 
konnte  Sparta  natürlich  nicht  eingehen;  es  war  also  von  der 
höchsten  Wichtigkeit,  mit  Athen  zum  Abschluß  zu  gelangen, 
ehe  der  Krieg  mit  Argos  ausbrach.  Dazu  kam  weiter  der 
Wunsch  nach  Befreiung  der  Gefangenen  von  Sphakteria  und 
Rückgabe  von  Kythera  und  Pylos. 

Freilich  den  Frieden  durch  weitgehende  Konzessionen 
zu  erkaufen  war  man  jetzt  nach  den  Siegen  von  Delion  und 
Amphipolis  in  Sparta  sehr  wenig  geneigt.  Herstellung  des 
Besitzstandes  vor  dem  Kriege  war  das  äußerste,  das  man  zu 
bewilligen  dachte,  und  da  im  Augenblicke  die  peloponnesischen 
Waffen  in  entschiedenem  Vorteil  waren,  so  lag  darin  immerhin 
ein  wichtiges  Zugeständnis.  Bedeutete  doch  ein  Frieden  auf 
solcher  Grundlage  für  Sparta  den  Verzicht  auf  das  stolze 
Programm,  mit  dem  es  vor  10  Jahren  in  den  Kampf  getreten 
Schaft.  Ja  noch  mehr;  Sparta  verpflichtete  sich  damit,  helle- 
nische Städte  an  Athen  auszuHefern,  die  im  Vertrauen  auf  die 
geschworenen  Eide  den  Abfall  gewagt  und  dem  peloponnesi- 
schen Bunde  sich  angeschlossen  hatten. 

So  wurden  die  Feindsehgkeiten  eingestellt,  und  die  Unter- 
handlungen begannen  aufs  neue.  Aber  trotz  des  guten  Willens 
der  leitenden  Männer  auf  beiden  Seiten  verging  der  Winter, 
ohne  daß  ein  Abschluß  erreicht  worden  wäre.  EndHch  im 
Frühjahr  stellten  die  Lakedaemonier  ein  Ultimatum,  dem 
sie  durch  den  Befehl  an  die  Bundesgenossen,  sich  für  einen 
Feldzug  nach  Attika  bereitzuhalten,  den  nötigen  Nachdruck 
gaben.  Das  wirkte.  Nikias  nahm  die  lakedaemonischen  Be- 
dingungen an,  Rat  und  Volk  erteilten  die  Ratifikation.  Gleich 
nach  den  großen  Dionysien  (im  April)  421  wurde  der  Frieden 
abgeschlossen,  oder  wie  die  Griechen  sagten,  ein  Waffen- 
stillstand (cTTTOVÖai)  auf  50  Jahre  zwischen  Athenern  und 
Lakedaemoniern  und  ihren  beiderseitigen   Bundesgenossen  ^. 


1  Thuk  V  14,  4,  oben  II  S.  385. 

-  Thuk.  V  17,  ^K  AiovuGiujv  euGix;  tUjv  äoTiKäiv  (V  20,  1),  die  vom 
8. — 13.  Elaphebolion  gefeiert  wurden,  und  zwar  lief  der  Frieden  vom  24.  bzw. 
25.  Elaphebolion  (c.  19,  1  'EXa(prißoXiOuvo(;  ^ktti  qpGivovTog).  Die  Schwierig- 
keit, die  Kirchhoff  hier  findet  und  die  Ed.  Meyer  Forschungen  II  288  zu  lösen 


342    X.  Absclinitt,  —  Der  peloponnesische  Krieg  bis  zum  Frieden  des  Nikias. 

Die  Grundlage  des  Friedens  bildete  der  Besitzstand 
vor  dem  Ausbruch  des  Krieges.  Demgemäß  sollten  die  Athener 
Pylos  und  Kythera,  die  Lakedaemonier  Amphipolis  heraus- 
geben. Skione,  das  sich  noch  immer  hielt,  wurde  der  Rache 
Athens  überlassen,  und  nur  für  die  peloponnesische  Besatzung 
freier  Abzug  ausbedungen.  Als  Ersatz  für  Plataeae,  das 
herauszugeben  die  Boeoter  sich  weigerten,  sollten  die  Athener 
Nisaea  behalten.  Die  chalkidischen  Städte,  die  während 
des  poteidaeatischen  Aufstandes  oder  später  bei  Brasidas' 
Zug  bis  zum  Abschluß  des  Waffenstillstandes  von  Athen  ab- 
gefallen und  noch  nicht  wieder  unterworfen  waren:  Olynth os, 
Akanthos,  Stagiros,  Argilos,  Stolos,  Spartolos,  Mekyberna, 
Sane,  Singos  sollten  unabhängig  bleiben,  aber  an  Athen  den 
Tribut  zahlen,  den  einst  Aristeides  festgesetzt  hatte.  Endhch 
sollten  die  Gefangenen  beiderseits  in  Freiheit  gesetzt  werden  ^. 

Athen  hatte  erreicht,  wofür  es  zum  Schwerte  gegriffen 
hatte;  es  ging,  scheinbar  wenigstens,  mit  unverminderter 
Macht  aus  dem  Kampfe  hervor.  Das  Programm,  das  Perikles 
am  Anfang  des  Krieges  aufgestellt  hatte,  war  siegreich  durch- 
geführt worden.  Und  während  die  athenische  Seeherrschaft 
unerschüttert  dastand,  hatte  Spartas  militärisches  Ansehen, 
auf  dem  seine  Stellung  in  Hellas  beruhte,  durch  die  Kapi- 
tulation von  Sphakteria  einen  schweren  Stoß  erlitten.  Von 
diesem  moralischen  Erfolge  abgesehen,  aber  hatte  Athen  nicht 
den  geringsten  Machtzuwachs  erlangt.  Wohl  aber  war  der 
Schatz,    auf    den    Athens    Kriegsbereitschaft    beruht    hatte, 


sucht,  existiert  nicht;  cOöO?  ist  ein  dehnbares  Wort.  Daß  Aristophanes'  Eirene 
an  den  Dionysien  aufgeführt  worden  ist,  zeigt  nur,  daß  der  Prähminarfrieden 
abgeschlossen,  beweist  aber  nicht,  daß  der  definitive  Abschluß,  d.  h.  die  Eides- 
leistung, bereits  erfolgt  war.     So  richtig  Busolt  III  2  S.  1191,  3. 

^  Die  Urkunde  des  Friedens  bei  Thuk.  V  18  f.  —  Mekyberna,  Sane,  Singos 
sind  nachträglich  in  den  Entwurf  des  Vertragsinstruments  eingefügt  In  der 
gekünstelten  Erklärung,  die  Steup,  Thuk.  Stud.  I,  Kirchhoff  Thuk.  und  sein 
Urkundenmaterial  S.  35,  von  der  diese  Städte  betreffenden  Bestimmung  geben, 
vermag  ich  beim  besten  Willen  einen  vernünftigen  Sinn  nicht  zu  finden.  Wenn 
Sane  im  Herbst  424  am  Bündnis  mit  Athen  festhielt  (Thuk.  IV  109,  5),  so  muß 
es  eben  später  zu  Brasidas  übergetreten  sein;  Mekyberna  kann  nach  dem  Frieden, 
freiwiUig  oder  gezwungen,  sich  wieder  an  Athen  angeschlossen  haben  (V  39,  1), 


Ergebnis  des  Krieges.  343 


aufgezehrt  worden  bis  auf  einen  Rest  von  1000  Talenten, 
den  man  gleich  zu  Anfang  für  den  äußersten  Notfall  zurück- 
gelegt hatte,  so  daß  Athen  jetzt  ausschließlich  auf  die  Tribute 
seiner  Untertanen  angewiesen  war;  die  Bürgerschaft  war 
durch  den  Krieg  und  die  Pest  mehr  als  dezimiert  worden, 
das  Land  durch  die  Einfälle  der  Peloponnesier  zur  Wüste 
geworden.  Noch  lange  Jahre  mußten  hingehen,  ehe  diese 
Verluste  ausgeglichen  werden  konnten.  Dagegen  waren  der 
Peloponnes  und  Boeotien  von  den  Verheerungen  des  Krieges 
so  gut  wie  unberührt  geblieben,  hatten  auch  keine  schweren 
Verluste  im  Felde  gehabt  und  die  Kriegskosten  aus  den  laufen- 
den Einnahmen  bestritten.  Das  Machtverhältnis  zwischen 
beiden  Teilen  hatte  sich  also  sehr  wesentHch  zuungunsten 
Athens  verschoben.  Athen  bedurfte  einer  längeren  Reihe 
von  Jahren  der  Sammlung,  um  das  alte  Gleichgewicht  wieder 
herzustellen;  aber  die  einzige  Bürgschaft,  daß  ihm  diese 
Frist  gewährt  werden  würde,  bildete  ein  Blatt  Papier,  oder 
was  auf  dasselbe  herauskam,  eine  Inschrift  auf  einem  Marmor- 
blocke. Mochte  also  auch  Nikias  von  seinem  Friedenswerke 
sehr  befriedigt  sein,  die  Opposition  durfte  fragen,  welche 
Notwendigkeit  denn  vorlag,  Athen  gerade  in  dem  Augenbhck 
durch  einen  Vertrag  die  Hände  zu  binden,  in  dem  der  Waffen- 
stillstand zwischen  Sparta  und  Argos  unmittelbar  vor  seinem 
Ablauf  stand  ^,  und  die  Spannung  in  den  beiden  Demokratien 
Mantineia  und  Elis  gegen  die  peloponnesische  Vormacht 
einen  Grad  erreicht  hatte,  der  eine  Krisis  innerhalb  der  spar- 
tanischen Eidgenossenschaft  mit  Sicherheit  voraussehen  ließ. 
Die  Ereignisse  der  nächsten  Jahre  sollten  auf  diese  Frage 
eine  nur  zu  beredte  Antwort  geben. 


^  Kleon  hatte  schon  seit  Jahren  auf  ein  Bündnis  mit  Argos  hingearbeitet: 
Aristoph.  Ritter  465  f. 


344  XI.  Absclinitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

XL  Abschnitt. 

Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

Griechenland  hatte  den  Frieden;  auf  ein  halbes  Jahr- 
hundert, wie  es  in  dem  beschworenen  Vertrage  hieß.  Aber 
die  Gegensätze,  die  vor  10  Jahren  zum  Kriege  geführt  hatten, 
blieben  in  voller  Schärfe  bestehen.  Und  die  Art,  wie  die  Be- 
stimmungen des  Vertrages  ausgeführt  wurden,  gab  diesen 
Gegensätzen  sogleich  neue  Nahrung.  Die  spartanische  Re- 
gierung war  allerdings  bereit  genug,  ihren  vertragsmäßigen 
Verpflichtungen  nachzukommen;  hatte  sie  doch  selbst  das 
höchste  Interesse  daran,  Pylos,  Kythera  und  die  Gefangenen 
von  Sphakteria  zurückzuerhalten.  So  setzte  man  denn  in 
Sparta  sofort  die  athenischen  Gefangenen  in  Freiheit  und 
sandte  an  Klearidas,  der  nach  Brasidas'  Tode  in  Thrakien 
kommandierte,  den  Befehl,  Amphipolis  den  Athenern  zu 
übergeben.  Aber  dieser  Offizier  war  weit  davon  entfernt, 
an  den  Bundesgenossen  zum  Verräter  zu  werden,  zu  deren 
Befreiung  vom  athenischen  Joch  er  selbst  mitgeholfen  hatte. 
Er  schützte  also  die  Unmöglichkeit  vor,  mit  seinen  schwachen 
Kräften  etwas  gegen  den  Willen  der  Chalkider  auszurichten, 
und  begnügte  sich  damit,  seine  Truppen  aus  den  thrakischen 
Plätzen  herauszuziehen  und  nach  dem  Peloponnes  zurück- 
zuführen ^.  So  blieb  die  für  Athen  bei  weitem  wichtigste 
Bestimmung  des  Friedens  ein  toter  Buchstabe;  und  infolge- 
dessen weigerten  sich  nun  die  Athener,  Pylos  und  Kythera 
zu  räumen  oder  auch  nur  die  Gefangenen  von  Sphakteria  in 
Freiheit  zu  setzen. 

Nicht  geringere  Verlegenheiten  erwuchsen  Sparta  von 
Seiten  seiner  eigenen  Bundesgenossen.  Kein  Staat  hatte 
in  diesem  Kriege  größere  Opfer  gebracht  als  Korinth,  dessen 
Seehandel  so  lange  Jahre  durch  die  athenische  Blokade  lahm- 
gelegt worden  war.  Und  nun  gewährte  der  Frieden  nichts  von 
alledem,   wofür   es   zum    Schwerte   gegriffen:    Poteidaea   und 


1  Thuk.  V  21,  34, 1. 


Ausführung  der  Friedensbedingungen.  —  Der  argeiische  Sonderbund.     345 

Kerkyra  blieben  im  Besitz  Athens,  ja,  Korinth  sollte  nicht 
einmal  seine  Kolonien  Anaktorion  und  Sollion  von  den  Akar- 
nanen  zurückerhalten  ^.  So  weigerten  denn  die  Korinthier 
dem  Frieden  die  Annahme,  und  sie  fanden  Unterstützung 
bei  den  Chalkidern  in  Thrakien,  die  entschlossen  waren,  niemals 
in  die  Abtretung  von  Amphipolis  zu  willigen  oder  wieder 
Tribut  an  die  Athener  zu  zahlen.  Auch  die  Boeoter  wollten 
von  Frieden  nichts  wissen  und  verstanden  sich  Athen  gegen- 
über nur  zu  einem  Waffenstillstand  mit  zehntägiger  Kün- 
digungsfrist ^. 

Gegenüber  dieser  Krisis  in  der  eigenen  Bundesgenossen- 
schaft sah  Sparta  keinen  anderen  Ausweg,  als  sich  Athen 
noch  weiter  zu  nähern.  Dort  fand  man  bei  Nikias  bereites 
Entgegenkommen.  Das  Ideal  Kimons  schien  sich  zu  verwirk- 
lichen; zwischen  den  beiden  griechischen  Vormächten  wurde 
ein  Defensivbündnis  abgeschlossen.  Athen  konnte  nun  die 
Herausgabe  der  Gefangenen  von  Sphakteria  nicht  länger 
weigern,  und  so  war  wenigstens  die  dringendste  Forderung 
der  Spartaner  befriedigt  ^. 

Die  Katastrophe  im  Peloponnes  wurde  durch  diese 
Wendung  der  lakedaemonischen  Politik  nur  beschleunigt. 
Die  Eidgenossenschaft  brach  zusammen;  Elis,  Mantineia, 
Korinth,  die  Chalkider  in  Thrake  fielen  von  Sparta  ab  und 
traten  in  Bündnis  mit  Argos  ^.  Der  Versuch,  auch  Tegea 
zum  Anschluß  an  diesen  Bund  zu  bewegen,  blieb  allerdings 
ohne  Erfolgt,  ja,  es  gelang  den  Spartanern,  Mantineia  die 
Herrschaft  über  die  Parrhasia  im  Süden  Arkadiens  zu  ent- 
reißen®; aber  im  wesentlichen  war  Sparta  doch  jetzt  im 
Peloponnes  isoliert.  Und  auch  mit  Athen  war  trotz  des  eben 
beschworenen  Bündnisses  zu  keinem  aufrichtigen  Einver- 
nehmen zu  kommen.    Man  weigerte  sich  dort,  und  mit  vollem 


1  Thuk.  V  30,  2. 

2  Thuk.  V  26,  2. 

3  Thuk.  V  22—24. 
*  Thuk.  V  27—31. 

^  Thuk.  V  32,  3—4. 
6  Thuk.  V  33. 


346  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschatt. 

Recht,  Pylos  und  Kythera  zu  räumen  so  lange  Amphipolis 
nicht  zurückgegeben  war,  und  Korinth,  Boeotien  und  die 
Chalkider  den  Frieden  nicht  angenommen  hatten;  Sparta 
aber  konnte  bei  seiner  jetzigen  bedrohten  Lage  nicht  daran 
denken,  diese  Staaten  mit  Waffengewalt  zur  Annahme  der 
athenischen  Forderungen  zu  zwingen.  So  mußten  die  Unter- 
handlungen mit  Athen  resultatlos  bleiben,  oder  vielmehr, 
das  einzige  Ergebnis  war  eine  wachsende  Entfremdung  zwischen 
den  beiden  verbündeten  Mächten  ^. 

Unter  diesen  Umständen  brachten  die  nächsten  Ephoren- 
wahlen  zum  Teil  Männer  der  Kriegspartei  in  Sparta  ans 
Ruder  ^.  Die  Folge  war,  daß  Sparta  sein  altes  Bündnis  mit 
Boeotien  erneuerte  (Ende  des  Winters  421/0)  ^  Und  nun 
erhob  auch  in  Athen  die  Opposition  wieder  das  Haupt.  An 
ihrer  Spitze  stand  jetzt  Hyperbolos  von  Perithoedae,  wie 
K^eon  ein  Mann  aus  den  Kreisen  der  Gewerbtreibenden,  der 
schon  seit  einigen  Jahren  in  der  Volksversammlung  wie  im 
Gerichtssaal  eine  hervorragende  Stellung  eingenommen  hatte  *. 
Er  konnte  sich  rühmen,  nächst  Kleon  der  in  den  besitzenden 
und  gebildeten  Kreisen  bestgehaßte  Mann  zu  sein,  und  er  ist 
diesem  Haß  schließlich  bei  der  oligarchischen  Reaktion  des 
Jahres  411  zum  Opfer  gefallen.  Ihm  zur  Seite  trat  ein  Mann 
ganz  anderer  Art,  Alkibiades,  der  Sohn  des  Kleinias  aus  dem 
Demos  Skambonidae,  ein  naher  Verwandter  des  Perikles, 
in  dessen  Hause  er  nach  dem  frühen  Tode  seines  Vaters  erzogen 
worden  war.  Seine  vornehme  Abkunft,  sein  Reichtum,  seine 
körperhchen  Vorzüge  und  hohen  Geistesgaben  machten  ihn 
bald  zum  Löwen  der  Gesellschaft  Athens,  in  der  er  den  Ton 
angab,  und  die  stets  bereit  war,  sich  seinen  Launen  zu  beugen. 
Der  Weg  zu  einer  glänzenden  politischen  Laufbahn  stand 
ihm  offen  wie  wenigen;  aber  so  hervorragende  militärische 
und  diplomatische  Talente  er  auch  besaß,  zum  Staatsmann 

^  Thuk.  V  35. 

"  Thuk.  V  36. 

3  Thuk.  V  39. 

*  Aristoph.  Frieden  679  ff.,  Frösche  blO,  überhaupt  in  den  Komödien 
aus  dieser  Zeit  sehr  häufig  genannt,  in  Eupolis'  MapiKÖi;  (421),  in  Piatons 
Hyperbolos  hatte  er  die  Titelrolle.    Weiteres  AU.  Polii.  S.  49  f. 


Hyperbolos.   —  Alkibiades.  —  Bündnis  zwischen  Athen  und  Argos.     347 

fehlte  es  ihm  an  Selbstbeherrschung,  und  so  ist  sein  Wirken 
ohne  dauernden  Erfolg  geblieben  und  hat  seiner  Vaterstadt 
nicht  zum  Segen  gereicht.  Eben  jetzt  hatte  er  das  30.  Jahr 
überschritten  und  stand  so  in  dem  Alter,  in  dem  ihm  die  Be- 
werbung um  das  höchste  Staatsamt,  die  Strategie,  möglich 
war.  Die  Traditionen  seiner  Familie  wiesen  ihn  auf  die  Seite 
der  entschiedenen  Demokratie,  und  bei  dem  Mangel  an  mili- 
tärischen Kapazitäten  in  deren  Reihen  konnte  es  nicht  fehlen, 
daß  er  hier  mit  offenen  Armen  aufgenommen  wurde,  so  wenig 
er  auch   vom  Volksführer  an  sich  hatte  ^. 

Die  Friedenspartei  unterlag  denn  auch  bei  den  Feld- 
herrenwahlen im  Frühjahr  420.  Nikias  wurde  nicht  wieder- 
gewählt, und  statt  seiner  trat  Alkibiades  in  das  Strategeion  ^. 
Auf  seinen  Antrag  wurde  nun  sogleich  ein  Defensivbündnis 
mit  Argos  und  seinen  Verbündeten  Mantineia  und  Elis  ab- 
geschlossen, was  freilich  zur  Folge  hatte,  daß  Korinth  sich 
jetzt  wieder  Sparta  näherte  ^.  Um  zwischen  Argos  und  Athen 
eine  nahe  Verbindung  zu  sichern,  schritten  beide  Staaten 
im  folgenden  Jahre  zum  Angriff  auf  Epidauros,  das  seiner- 
seits von  Sparta  Unterstützung  erhielt  *.  Die  Feindseligkeiten 
zwischen  Athen  und  Sparta  hatten  also  aufs  neue  begonnen, 
wenn  auch  nur  am  dritten  Ort,  und  nun  erfolgte  in  Athen 
auf  Alkibiades'  Antrag  die  Erklärung,  daß  die  Lakedaemonier 
den   Frieden   gebrochen   hätten    (Winter   419/8)  ^. 

^  Hauptquellen  sind,  neben  der  Komödie,  die  Dialoge  Piatons  und  die 
Lebensbeschreibung  Plutarchs.  Vgl.  Att.  Polit.  S.  50  f.  und  über  Alkibiades' 
Familie  unten  2.  Abt.  §  14.  —  Daß  die  Bewerber  um  das  Strategenamt  das 
30.  Jahr  überschritten  haben  mußten,  ist  zwar  nicht  überliefert,  wird  aber 
gerade  durch  den  Fall  des  Alkibiades  sehr  wahrscheinlich,  da  ein  Mann  wie  er 
sonst  ohne  Zweifel  eher  zu  der  Würde  gelangt  wäre.  Vgl.  Hauvette-Besnault, 
Les  Strateges  atheniens,   Paris  1885,    S.   44. 

*  Plut.  Alk.  15,  Nik.  10,  vgl.  Loeschcke  De  titulis  aliquot  atticis  (Dissert. 
Bonn  1876)  S.  24  f. 

3  Thuk.  V  34—48,  die  Urkunde  c.  47  und  CIA.  IV  46  b  S.  14,  Scala, 
Staatsver träge  I  76  ff.,  wo  die  weitere  Literatur.  Die  Frage,  wie  die,  übrigens 
unwesentlichen,  Abweichungen  des  inschriftlichen  Textes  von  Thukydides  zu 
erklären  sind,  berührt  nur  die  Thukydides-Kritik. 

*  Thuk.  V  53—56. 

«  Meine  Attische  Politik  S.  307  f. 


348  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

Es  war  klar,  daß  dieser  Beschluß  einer  Kriegserklärung 
sehr  nahe  kam.  Demgegenüber  rafften  die  besitzenden  Klassen 
sich  zu  energischster  Anstrengung  auf,  und  wirklich  gelang 
es  bei  den  nächsten  Strategenwahlen  (Frühjahr  418),  die 
Gewalt  wieder  in  die  Hände  des  Nikias  und  seiner  Freunde 
zu  bringen.  Alkibiades  wurde  nicht  wiedergewählt;  ein  Zeichen, 
daß  die  Mehrheit  der  Bürgerschaft  auch  jetzt  von  einer  Politik 
der  Abenteuer  nichts  wissen  wollte  ^. 

Sparta  hielt  es  nun  an  der  Zeit,  aus  der  bisher  beob- 
achteten Reserve  herauszutreten.  Sobald  um  Mittsommer  418 
die  neue  Regierung  in  Athen  ins  Amt  getreten  war,  rückte 
König  Agis  an  der  Spitze  des  ganzen  lakedaemonischen  Auf- 
gebots nach  Arkadien,  zog  die  Kontingente  der  dortigen 
Verbündeten  an  sich,  umging  durch  ein  geschicktes  Manöver 
die  Stellung  der  Argeier  und  ihrer  peloponnesischen  Bundes- 
genossen bei  Methydrion  und  vereinigte  sich  in  Phleius  mit 
den  Boeotern  und  den  Truppen  der  Bundesstädte  am  Isthmos. 
Er  mochte  jetzt  gegen  20  000  Hopliten  unter  seinem  Befehl 
haben  und  war  dem  Feinde  an  Zahl  wie  an  Qualität  der 
Truppen  weit  überlegen.  Aber  die  feste  Stellung  der  Argeier 
auf  der  Höhe  des  Passes,  durch  den  die  Straße  von  Nemea 
nach  Argos  führt,  war  durch  einen  Frontangriff  nicht  zu 
nehmen;  Agis  ließ  also  den  Feind  durch  die  Boeoter  beobachten, 
während  er  selbst  mit  den  Lakedaemoniern  und  Arkadern 
von  Phleius  aus  auf  unwegsamen  Pfaden  das  Gebirge  über- 
schritt und  durch  das  Tal  des  Inachos  in  die  argeiische  Ebene 
hinabstieg.  Er  stand  jetzt  dem  Feinde  im  Rücken  und  zwang 
damit  die  Argeier,  den  Paß  von  Nemea  zu  räumen;  da  aber 
die  Boeoter  dem  Gegner  nicht  auf  den  Fersen  blieben,  kam 
Agis  zwischen  den  Mauern  von  Argos  und  dem  argeiischen 
Heere  in  eine  so  bedenkliche  Lage,  daß  er  es  für  geraten  hielt, 
mit  dem  argeiischen  Strategen  Thrasyllos  einen  Waffenstill- 
stand auf  vier  Monate  abzuschließen,  und  unter  dessen  Schutze 
das  Gebiet  von  Argos  zu  räumen.  Beide  Heere  waren  mit 
dieser    Lösung   sehr    unzufrieden,    denn    hüben    und    drüben 

1  Thuk.  V  66,  3. 


Krieg  zwischen  Sparta  und  Argos.  —  S'chlacht  bei  Mantineia.        349 

meinte  man  den  sicheren  Sieg  in  der  Hand  zu  haben;  die 
Argeier  hätten  Thrasyllos  beinahe  gesteinigt  und  verurteilten 
ihn  zum  Verlust  seines  Vermögens,  in  Sparta  entging  Agis 
nur  mit  knapper  Not   einer  harten   Bestrafung  ^. 

Jetzt  endlich,  als  alles  vorüber  war,  landeten  bei  Argos 
1000  athenische  Hopliten  und  300  Reiter  unter  den  Strategen 
Laches  und  Nikostratos.  Um  aber  den  üblen  Eindruck,  den 
die  Zögerung  in  der  Hilfleistung  in  Argos  hervorbringen  mußte, 
nach  Möglichkeit  abzuschwächen,  war  Alkibiades  dem  Heer 
als  Gesandter  beigeordnet,  der  Mann,  der  bisher  alle  Ver- 
handlungen mit  Argos  geführt  hatte,  und  der  wenn  irgend- 
ein anderer  dort  persona  grata  war.  Es  war  eine  gefährliche 
Wahl;  denn  Alkibiades  überschritt  den  ihm  gewordenen 
Auftrag  und  begann  auf  eigene  Hand  Politik  zu  treiben.  Sein 
Einfluß  bewirkte,  daß  die  Verbündeten,  ohne  sich  an  den 
eben  geschlossenen  Waffenstillstand  zu  kehren,  eine  kräftige 
Offensive  gegen  die  lakedaemonischen  Bundesgenossen  in 
Arkadien  unternahmen,  von  der  die  athenischen  Strategen 
sich  um  so  weniger  ausschließen  konnten,  als  ein  Angriff  auf 
unmittelbar  spartanisches  Gebiet  nicht  im  Plane  lag.  Es 
gelang  denn  auch,  Orchomenos  nach  kurzer  Belagerung  zum 
Anschluß  an  Argos  zu  bringen.  Nun  verlangten  die  Eleier, 
daß  man  gegen  Lepreon  ziehe;  und  als  sie  überstimmt  wurden, 
verließen  ihre  3000  Hopliten  das  Bundesheer  und  kehrten 
nach  Hause  zurück.  Dieser  Zwiespalt  wurde  für  die  Sache 
der  Verbündeten  verhängnisvoll.  Denn  die  Lakedaemonier 
zogen  auf  die  Nachricht  der  Einnahme  von  Orchomenos  mit 
ganzer  Macht  ins  Feld,  vereinigten  sich  mit  den  Kontingenten 
von  Tegea  und  den  übrigen  südarkadischen  Gauen  und  rückten 
vor  Mantineia.  In  der  Ebene  unter  den  Mauern  der  Stadt 
kam  es  zur  Schlacht,  der  größten,  die  seit  langer  Zeit  zwischen 
Griechen  geschlagen  worden  war.  Beide  Heere  mochten  sich 
an  Zahl  annähernd  gleich  sein,  etwa  je  8000 — 10  000  Schwer- 
bewaffnete; aber  die  Argeier  und  Athener  hielten  dem  Stoße 
der   spartanischen    Hopliten    nicht    stand,    und    nun   wurden 


1  Thuk.  V  57—60.  63. 


350  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

auch  die  anfangs  siegreichen  Mantineier  auf  dem  rechten 
Flügel  von  der  allgemeinen  Flucht  fortgerissen.  Die  Ver- 
bündeten verloren  1100  Mann,  darunter  die  beiden  athenischen 
Strategen  Laches  und  Nikostratos;  der  Verlust  der  Sieger 
soll  sich  auf  etwa  300  Mann  belaufen  haben.  Der  Flecken 
von  Sphakteria  war  ausgetilgt,  das  militärische  Ansehen 
Spartas  in  Griechenland  aufs  neue  befestigt   (August  418)  ^. 

Argos  schloß  nun  Frieden  und  Bündnis  mit  Sparta 
und  löste  seinen  Bund  mit  Athen;  bald  darauf  erfolgte  eine 
Verfassungsänderung  in  oligarchischcm  Sinne  (Anfang  417). 
Mantineia  mußte  in  einen  30  jährigen  Frieden  mit  Sparta 
willigen,  in  dem  es  allen  Ansprüchen  auf  die  Hegemonie  in 
Arkadien  entsagte.  Achaia,  wo  bisher  nur  Pellene  mit  Sparta 
verbündet  gewesen  war,  trat  jetzt  ganz  in  den  peloponnesischen 
Bund  ein.  Auch  Elis  schloß  Frieden  und  gab  seinen  Anspruch 
auf  Lepreon  auf,  ohne  indes  sein  altes  Bundesverhältnis  mit 
Sparta  zu  erneuern.  Nie  zuvor  hatte  Sparta  den  Peloponnes 
so  vollständig  beherrscht  ^. 

So  war  Athen  jetzt  mehr  als  je  in  Griechenland  isoliert; 
es  war  alles  verloren,  was  Alkibiades'  Politik  in  den  letzten 
Jahren  erreicht  hatte.  Mochte  immerhin  Alkibiades  selbst 
ein  großer  Teil  der  Verantwortung  dafür  treffen,  so  war  es  doch 
Nikias,  der  dem  verbündeten  Argos  jede  wirksame  Unter- 
stützung versagt  hatte,  und  der  damit  die  eigentliche  Schuld 
an  allem  Unheil  trug.  Seine  Gegner  beeilten  sich,  ihren  Vorteil 
aus  dieser  Lage  zu  ziehen.  Auf  Hyperbolos'  Antrag  beschloß 
das  Volk,  im  Frühjahr  417  ein  Scherbengericht  abzuhalten. 
Der  Führer  des  Demos  rechnete  darauf,  daß  die  Entscheidung 
gegen  Nikias  ausfallen  und  dieser  auf  10  Jahre  aus  Athen 
verbannt  würde;  aber  auch  wenn  diese  Erwartung  trog,  hatte 
Hyperbolos  selbst  dem  Anschein  nach  wenig  zu  fürchten. 
War  es  doch  klar,  daß  Nikias'  Anhänger  ihre  Stimmen  nicht 
gegen  Hyperbolos,  sondern  gegen  Alkibiades  abgeben  würden, 
der  allein  eine  wirkliche  Gefahr  für  den  Frieden  und,  wie  viele 

1  Thuk.  V  61—75.     Über    die    Heeresstärken    Klio   VI,    1906,    S.    68  ff. 
^  Thuk.  V  76—82,  1.    Wegen  Achaia  vergl.  auch  Thuk.  II  9,  2;  Elis  hat 
sich  am  dekeleiischen  Krieg  nicht  beteihgt. 


Folgen  der  Schlacht.  —  Ostrakismos  des  Hyperbolos.  351 

meinten,  auch  für  die  Freiheit  Athens  bildete.  Und  allerdings 
lag  bei  dem  Bedürfnis  der  besitzenden  Klassen  nach  Ruhe, 
bei  Nikias'  noch  immer  unermeßlichem  Einfluß  die  Mög- 
lichkeit eines  ungünstigen  Ausgangs  für  Alkibiades  nahe 
genug.  Dieser  war  denn  auch  keineswegs  gewillt,  die  Gefahr 
zu  bestehen.  Er  löste  also  sein  Bündnis  mit  der  extremen 
Demokratie  und  ging  in  Nikias'  Lager  hinüber;  beide  ver- 
einigten die  Stimmen  ihrer  Anhänger  gegen  Hyperbolos. 
So  geschah  das  Unerwartete;  das  Volk  fand  Hyperbolos 
schuldig,  nach  der  Tyrannis  über  Athen  zu  streben,  und 
sandte  ihn  in  die  Verbannung.  Er  ging  nach  Samos  und  hat 
die  Heimat  nicht  wiedergesehen  ^.  An  der  Institution  des 
Ostrakismos  aber,  die  ja  längst  antiquiert  war,  haftete  fortan 
der  Fluch  der  Lächerlichkeit;  und  wenn  sie  auch  nicht  förm- 
lich aufgehoben  wurde,  ist  sie  doch  seitdem  ein  toter  Buchstabe 
geblieben. 

Nikias  und  Alkibiades  waren  jetzt  die  Herren  der  Lage. 
Beide  wurden  unmittelbar  nach  dem  Ostrakismos  zu  Strategen 
gewählt  und  auch  für  das  nächste  Jahr  (416/5)  im  Amte 
bestätigt  2.  Aber  Alkibiades  war  doch  seit  seinem  Bruch 
mit  der  extremen  Demokratie  Nikias  gegenüber  in  der  Stellung 
eines  abhängigen  Verbündeten.  So  konnte  Nikias  die  Unter- 
werfung von  Amphipolis  ins  Auge  fassen,  die  er  mit  Recht 
für  Athens  dringendste  Aufgabe  hielt  ^.  Denn  die  Eroberung 
von  Skione  war  der  einzige  Erfolg  gewesen,  dessen  die  Athener 
seit  Abschluß  des  Friedens  sich  in  Thrakien  rühmen  konnten; 
nach  dem  Abzug  der  peloponnesischen  Besatzung  hatte  die 
Stadt  sich  im  Sommer  421  ergeben  müssen,  die  Bürger  waren 
als  Rebellen  hingerichtet,  das  Gebiet  an  die  nach  Athen  ge- 

1  Thuk.  VIII  73,  Plut.  Alk.  13,  Arist.  7,  Nik.  11.  Das  Jahr  ist  nicht  über- 
liefert; auf  417  führt  Theopomp.  fr.  103  und  eine  Erwägung  der  politischen 
Lage,  vgl.  meine  Attische  Politik  S.  339  f.  Auf  diesen  Ostrakismos  bezieht  sich 
die  unter  Andokides'  Namen  überUeferte  Rede  gegen  Alkibiades,  eine  Fälschung 
des  IV.  Jahrhunderts;  der  fingierte  Sprecher  ist,  wie  sich  aus  dem  Schluß  und 
Theophrast  bei  Plut.  Nik.  11,  Alk.  13  ergibt,  Phaeax.  Über  diesen  Thuk.  V  4, 
Aristoph.  Ritter  1375,  Eupolis  fr.  95  K  (I  281). 

*  Meine  Attische  Politik  S.  308. 

8  Thuk.  VI  10,  4. 


352  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

flüchteten  Plataeer  verteilt  worden  ^.  Wohl  aber  hatten  die 
Chalkider  einige  kleinere  Orte  eingenommen,  die  zu  Athen 
hielten  2.  Jetzt,  noch  vor  Mittsommer,  ging  Nikias  an  der 
Spitze  einer  Flotte  nach  der  thrakischen  Küste  in  See;  aber 
König  Perdikkas  von  Makedonien,  der  ihm  dort  die  Hand 
reichen  sollte,  war  nicht  zur  Stelle;  er  hatte  soeben  wieder 
einmal  die  Farbe  gewechselt  und  sich  mit  Sparta  und  Argos 
verbündet  ^.  Infolgedessen  vermochte  Nikias  nichts  aus- 
zurichten und  mußte  sich  endlich  dazu  verstehen,  mit  den 
Chalkidern  einen  Waffenstillstand  zu  schließen  *.  Perdikkas 
wurde  der  Krieg  erklärt  und  über  die  Häfen  seines  Reiches 
die  Blockade  verhängt  ^. 

Inzwischen  aber  war  in  Argos  eine  Erhebung  gegen  die 
oligarchische  Regierung  erfolgt;  und  da  die  Lakedaemonier 
mit  der  Hilfe  zögerten,  wurde  die  Demokratie  hergestellt, 
die  nun  sogleich  das  Bündnis  mit  Sparta  aufsagte  und  sich 
wieder  an  Athen  anschloß.  So  war  die  Lage  im  Peloponnes 
mit  einem  Schlage  verändert;  Sparta  hatte  die  beste  Frucht 
des  Sieges  bei  Mantineia  verloren  und  sah  sich  aufs  neue  der 
Koalition  der  beiden  großen  griechischen  Demokratien  gegen- 
über. Der  Versuch,  Argos,  nach  dem  Vorbilde  Athens,  durch 
Schenkelmauern  mit  dem  Meer  zu  verbinden,  wurde  allerdings 
von  den  Lakedaemoniern  in  einem  Winterfeldzuge  verhindert, 
auch  die  argeiische  Landstadt  Hysiae  eingenommen,  sonst 
aber  wurde  nichts  erreicht,  und  der  kleine  Krieg  an  der 
argeiischen  Grenze  ging  weiter  ^. 

Athen  glaubte  jetzt  den  Spartanern  alles  bieten  zu  dürfen. 
Man  beschloß  also  die  Eroberung  von  Melos,  das  als  Kolonie 
Spartas  galt  und  mit  diesem  in  enger  Freundschaft  verbunden 
war,  wenn  es  auch  formell  der  peloponnesischen  Eidgenossen - 

1  Thuk.  V  32. 

^  Thuk.  V  35,  1  (Thyssos),  39, 1  (Mekyberna),  82, 1  (Dion). 

3  Thuk.  V  80,  2. 

*  Thuk.  VI  7,  4. 

*  Thuk.  V  83,  4,  Dittenb.  Syll.  ^  37.  In  diese  Zeit  etwa  gehört  der  Ver- 
trag mit  den   Bottiaeern,  Dittenb.  Syll.  ^  36. 

*  Thuk.  V  82.  83.  Angeblicher  Exzeß  eines  der  Führer  der  Oligarchie: 
Paus.  II  20,  2.     Urkunde  des  Vertrages  mit  Argos  CIA.  I  50. 


Krieg  in  der  Chalkidike.  —  Argos.  —  Eroberung  von  Melos.  353 

Schaft  nicht  angehörte  ^  Schon  vor  10  Jahren  (426)  hatte 
Nikias  an  der  Spitze  einer  Flotte  von  60  Trieren  mit  2000 
Hopliten  an  Bord  die  Insel  zu  unterwerfen  versucht,  aber 
nichts  ausgerichtet  ^;  nur  das  benachbarte  Thera,  das  sich 
bis  dahin  gleichfalls  vom  Seebunde  ferngehalten  hatte,  wurde 
tributpflichtig  gemacht  ^  Jetzt,  wo  Athen  die  Hände  frei 
hatte,  sollte  das  damals  Versäumte  nachgeholt  werden. 
Im  Vertrauen  auf  die  Hilfe  Spartas  ließen  die  Melier  es  auf 
eine  Belagerung  ankommen  (Sommer  416).  Diese  Hoffnung 
sollte  nun  freilich  trügen,  zur  See  war  Sparta  gegen  die  atheni- 
sche Flotte  ohnmächtig,  und  daß  bei  einem  Einfall  in  Attika 
nichts  herauskam,  hatte  die  Erfahrung  des  letzten  Krieges 
bewiesen.  Vor  allem,  man  wollte  in  Sparta  keinen  Krieg  gegen 
Athen  und  Argos  zugleich.  Selbst  als  die  Besatzung  von  Pylos 
Raubzüge  in  das  spartanische  Gebiet  unternahm,  ließ  man 
sich  aus  seiner  passiven  Haltung  nicht  aufrütteln  und  be- 
schränkte sich  darauf,  nun  auch  seinerseits  die  Kaperei  gegen 
Athen  freizugeben  *.  So  blieb  Melos  sich  selbst  überlassen. 
Die  Stadt  hielt  sich  bis  tief  in  den  Winter,  aber  das  Ende 
war  doch  eine  Kapitulation  auf  Gnade  und  Ungnade.  Obgleich 
Melos  nie  zum  athenischen  Bunde  gehört  hatte,  wurden  die 
Bürger  nach  dem  barbarischen  Kriegsrecht  behandelt,  das 
man  seit  einigen  Jahren  gegen  abgefallene  Bundesgenossen 
zur  Anwendung  brachte;  die  erwachsenen  Männer  wurden 
hingerichtet,  der  Rest  der  Bevölkerung  in  die  Sklaverei  ver- 
kauft. Eine  attische  Kleruchie  von  500  Mann  trat  an  die  Stelle 
der  alten  Bewohner  ^. 


^  Das  letztere  ergibt  sich  aus  dem  Schweigen  des  Thukydides  (II  9)  be 
der  Aufzählung  der  beiderseitigen  Bundesgenossen,  ebenso  aus  dem  Dialog 
zwischen  den  Athenern  und  Meliem  V  85 — 112. 

2  Thuk.  III  91. 

2  Es  wird  zuerst  in  den  Listen  des  29.  Jahres  (426/5)  aufgeführt,  mit 
einem  Tribute  von  3  tal.  (CIA.  I  257).  Im  Jahr  431  war  es  noch  unabhängig 
gewesen  (Thuk.  II  9,  4);  wahrscheinlich  hat  es  sich  ohne  Kampf  unterworfen, 
und  das  ist  der  Grund,  warum  Thukydides  die  Sache  nicht  erwähnt. 

*  Thuk.  V  115,  2. 

5  Thuk.  V  84—116,  Dittenb.  Syll  ^  37  Z.  28  (-  CIA.  1 181),  Plut.  Alk.  16, 
[Andok.]  4,  22. 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  23 


354  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

Noch  Während  def  Belagerung  von  Melos  wurden  Athens 
Blicke  wieder  nach  dem  griechischen  Westen  gelenkt.  Seit 
dem  Frieden  von  Gela  (424)  hatte  man  sich,  von  dringenderen 
Aufgaben  in  Anspruch  genommen,  um  die  dortigen  Ver- 
hältnisse nicht  mehr  ernstlich  bekümmert,  so  sehr  dazu  Anlaß 
gewesen  wäre.  Denn  kaum  war  der  Frieden  geschlossen,  als  in 
Leontinoi  Unruhen  ausbrachen;  die  Führer  des  Demos  be- 
antragten eine  Neuverteilung  des  Grundeigentums,  und  die 
besitzenden  Klassen  sahen  sich  dadurch  gezwungen,  bei  der 
•mächtigen  Nachbarstadt  Syrakus  Beistand  zu  suchen.  Mit 
deren  Hilfe  wurde  der  Demos  vertrieben;  die  Besitzenden 
siedelten  nach  Syrakus  über  und  erhielten  dort  Bürgerrecht. 
Das  leontinische  Gebiet  wurde  dem  syrakusischen  Staat 
einverleibt  ^. 

In  Athen  nahm  man  die  Vernichtung  der  verbündeten 
Gemeinde  hin,  ohne  zu  etwas  anderem  als  zur  Absendung 
einer  Gesandtschaft  sich  aufzuraffen,  die  natürlich  erfolglos 
blieb  (422)  -.  So  wuchs  den  Gegnern  der  Mut,  und  wenige 
Jahre  später  überzog  Seimus  das  benachbarte  Segesta  mit 
Krieg  (416),  das  gleichfalls  mit  Athen  im  Bunde  stand  ^. 
Viel  zu  schwach,  dem  Angriff  aus  eigener  Kraft  zu  widerstehen, 
wandten  sich   die   Segestaner  nach  Athen  um  Hilfe  *. 

Über  die  formelle  Verpflichtung  Athens,  die  erbetene 
Unterstützung  zu  gewähren,  konnte  nicht  der  geringste  Zweifel 
sein.  Und  ebensowenig  darüber,  daß,  wenn  Athen  auch 
diesmal  untätig  blieb,  es  allen  politischen  Einfluß  im  Westen 
verlieren  mußte.  Trotzdem  fehlte  es  nicht  an  solchen,  die 
bereit  waren,  dieses  Opfer  zu  bringen,  in  der  Überzeugung, 
daß  die  gefährdete  Stellung  Athens  in  Griechenland  selbst  die 
Sammlung  aller  Kräfte  erfordere.  Erst  solle  man  die  Chalkidike 
wiedergewinnen,  ehe  mau  ein  neues  Unternehmen  gegen 
Sicilien  plane.      Und  kein  geringerer  als  Nikias  war  es,  der 


1  Thuk.  V  4. 
^  Thuk.  a.  a.  0. 

3  Oben  S.  202.    Auch  aus  Thuk.  VI  6,  2  (toO<;   Xoittoü«;  en  Su|u,uc[xou(;) 
ergibt  sich,  daß  Segesta  mit  Athen  verbündet  war. 

"■  Thuk.  VI  6.     Aus  anderer  Quelle  (Timaeos)  Diod.  XII  82. 


Athenische  Expedition  nach  Sicilien.  355 

diese  Ansicht  in  der  Volksversammlung  vertrat.  Aber  er 
wurde  diesmal  von  seiner  eigenen  Partei  im  Stiche  gelassen; 
Athen  hatte  zu  wichtige  Handelsinteressen  im  Westen,  als 
daß  die  besitzenden  Klassen  ein  Aufgeben  der  dortigen  Macht- 
stellung des  Staates  hätten  ertragen  können.  Die  extreme 
Demokratie  aber  hatte  schon  unter  Kleon  die  Unterwerfung 
Siciliens  angestrebt  (oben  S.  324);  sie  war  weit  davon  entfernt, 
jetzt  ihrer  Vergangenheit  ins  Gesicht  zu  schlagen.  Alkibiades 
endlich  trat  mit  dem  ganzen  Gewichte  seines  Einflusses  für  das 
Unternehmen  ein,  dessen  Leitung  ihm  selbst  zufallen  mußte, 
und  das  ihm  endlich  den  ersehnten  großen  Wirkungskreis 
für  die  Entfaltung  seiner  Talente  zu  gewähren  schien.  So 
wurde  denn  mit  überwältigender  Majorität  der  Beschluß 
gefaßt,  Segesta  Hilfe  zu  leisten  und  die  Unabhängigkeit  von 
Leontinoi  wieder  herzustellen.  Auch  Nikias  gab  jetzt  nach 
und  ließ  es  geschehen,  daß  er  selbst  zu  einem  der  Führer  der 
Expedition  gewählt  wurde;  neben  ihn  traten  Alkibiades  und 
Lamachos,  wohl  der  tüchtigste  Offizier,  den  Athen  damals 
hatte,  wenn  er  auch  bisher  noch  zu  keinem  wichtigeren  Kom- 
mando gelangt  war.  War  der  sicilische  Krieg  einmal  nicht 
abzuwenden,  so  sollte  wenigstens  verhindert  werden,  daß 
Alkibiades  die  unbeschränkte  Leitung  desselben  in  die  Hand 
bekäme  ^. 

In  der  Tat  erschien  das  Unternehmen,  militärisch  be- 
trachtet, ohne  jedes  Bedenken.  Athen  war  während  des 
letzten  Krieges  imstande  gewesen,  eine  sehr  ansehnliche 
Flotte  nach  Sicilien  zu  entsenden,  ohne  daß  seine  maritime 
Überlegenheit  über  die  Peloponnesier  dadurch  im  geringsten 
geschwächt  worden  wäre;  um  wieviel  mehr  jetzt,  wo  man  in 
Griechenland  Frieden  hatte.  Und  gesetzt,  daß  die  Expedition 
erfolglos  blieb,  oder  daß  inzwischen  in  Griechenland  neue 
Verwicklungen  ausbrachen,  welche  die  Zurückrufung  der 
Flotte  notwendig  machten,  so  schien  die  athenische  Meeres- 


1  Thuk.  VI  8—26.  Plut.  Nikias  12,  Alk.  17.  Über  Lamachos  unten  2.  Abt. 
§  89.  Aristophanes,  der  ihn  in  den  Acharnern  und  im  Frieden  (473.  1290)  als 
einen  Führer  der  Kriegspartei  scharf  angreift,  läßt  ihm  später  volle  Gerechtigkeit 
widerfahren:  Frösche  1039,  vgl.  Thesm.  841. 

23* 


356  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 


herrschaft  in  jedem  Falle  die  Sicherheit  des  Rückzuges  zu 
verbürgen  ^. 

Auch  an  den  nötigen  finanziellen  Mitteln  fehlte  es  nicht. 
Um  den  erschöpften  Schatz  wieder  zu  füllen,  hatte  man  nach 
dem  Frieden  die  Tribute  in  dem  bisherigen  gegenüber  den 
aristeidischen  Sätzen  um  mehr  als  das  Doppelte  gesteigerten 
Betrag  weiter  erhoben,  wie  er  während  des  Krieges  fest- 
gesetzt worden  war;  den  Vorwand  dazu  bot  die  Verpflichtung 
des  Staates,  den  Göttern  die  für  den  Krieg  entliehenen  Summen 
zurückzuerstatten.  Dadurch  war  es  möglich  gewesen,  an 
den  Schatz  der  Athena  eine  Abschlagszahlung  von  3000 
Talenten  zu  leisten  und  mit  den  Rückzahlungen  an  die  übrigen 
Götter  zu  beginnen,  deren  Schätze  während  des  Krieges  zur 
besseren  Kontrolle  einer  einheitlichen  Verwaltung  unterstellt 
worden  waren  ^.  Auch  hatten  die  Segestaner  sich  verpflichtet, 
die  Kriegskosten  aus  ihren  eigenen  Tempelschätzen  zu  be- 
streiten, und  sogleich  eine  erste  Rate  von  60  Talenten  als 
Monatssold   für   ebenso   viele  Trieren   vorausbezahlt  ^. 

Eine  andere  Frage  ist  es  freilich,  ob  die  hochgespannten 
Erwartungen  sich  erfüllen  konnten,  welche  die  öffentliche 
Meinung  in  Athen  an  das  Unternehmen  knüpfte.  Die  Ein- 
nahme von  Syrakus  lag  allerdmgs  im  Bereiche  der  Möglichkeit. 
Hat  doch  nur  wenig  gefehlt,  daß  sie  gelungen  wäre;  was  dann 
zu  einer  Oberhoheit  Athens  über  die  ganze  Insel  geführt  haben 
würde.  Und  der  Besitz  Siciliens  würde  Athen  zur  herrschenden 
Macht  am  westlichen  Mittelmeer  erhoben  haben,  wie  es  bereits 
die  herrschende  Macht  am  östlichen  Mittelmeer  war.  Einer 
solchen  Stellung  Athens  gegenüber  hätte  auch  der  Peloponnes 
seine  Selbständigkeit  nicht  auf  die  Dauer  behaupten  können, 
und  Athen  würde  die  Führung  der  ganzen  Nation  in  die  Hand 
bekommen  haben  *.    Die  Frage  war  nur,  ob  Athen  stark  genug 


^  Auch  Thukydides  (II  65,  11)  hält  das  Unternehmen  an  sich  für  keinen 
Fehler,  sondern  tadelt  nur  die  Art,  wie  es  ausgeführt  wurde. 

*  CIA.  I  32;  s.  unten  2.  Abt.   §  148  ff. 
3  Thuk.  VI  6,  2;  8,  1. 

*  Thuk.   VI  90  läßt  Alkibiades  diese   Pläne  vor  der  lakedaemonischen 
Volksversammlung  entwickeln. 


Expedition  nach  Sicilien.  —  Der  Hermenfrevel.  357 


war,  die  Herrschaft  über  Sicilien  festzuhalten.  Mit  der  poli- 
tischen Propaganda  war  hier  nichts  zu  machen,  da  die  Insel 
bereits  durch  und  durch  demokratisch  war,  durch  Besatzungen 
waren  so  volkreiche  Städte  kaum  im  Gehorsam  zu  halten, 
und  zu  einer  Kolonisation  im  großen  Stile  war  die  attische 
Bürgerschaft  nicht  zahlreich  genug.  Es  würde  also  voraus- 
sichtlich gegangen  sein,  wie  vor  jetzt  30  Jahren  in  Mittel- 
griechenland, und  die  athenische  Herrschaft  im  Westen,  auch 
wenn  es  gelungen  wäre,  sie  aufzurichten,  sehr  bald  zusammen- 
gebrochen sein;  die  Schwächung  von  Syrakus  aber,  welche 
die  Folge  eines  athenischen  Sieges  gewesen  wäre,  würde  nur 
Karthago  in   die   Hände  gearbeitet  haben. 

Der  Größe  des  Unternehmens  entsprachen  die  Rüstungen. 
Die  Flotte  zählte  134  Trieren,  von  denen  Athen  selbst  100  gestellt 
hatte,  darunter  60  Schlachtschiffe  und  40  zum  Truppen- 
transport; an  Landungstruppen  hatte  man  reichlich  4000 
Hopliten  an  Bord,  darunter  1500  Athener  und  500  Argeier. 
Athen  hatte  wohl  schon  ebenso  starke  oder  auch  stärkere 
Flotten  in  See  gehen  lassen,  aber  noch  keine,  die  so  sorgfältig 
ausgerüstet  gewesen  wäre  ^. 

Schon  war  alles  zur  Abfahrt  bereit,  als  ein  unheimliches 
Vorkommnis  die  Stadt  in  die  höchste  Aufregung  stürzte. 
Eines  Morgens  fand  man  fast  alle  Hermen,  welche  die  Straßen 
und  öffentlichen  Plätze  Athens  schmückten,  an  den  Köpfen 
verstümmelt.  Die  abergläubische  Menge  sah  in  diesem  uner- 
hörten Religionsfrevel  ein  schlimmes  Vorzeichen  für  die 
Expedition  nach  Sicilien;  zugleich  argwöhnte  man  eine  Ver- 
schwörung zum  Umsturz  der  bestehenden  Verfassung.  Das 
war  nun  offenbar  ein  ganz  grundloser  Verdacht;  denn  ab- 
gesehen von  der  völligen  Aussichtslosigkeit  jedes  Versuches, 
unter  den  gegenwärtigen  Umständen  die  Demokratie  in  ihrer 
Hochburg  zu  stürzen,  welcher  Verschwörer  konnte  so  töricht 
sein,  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  selbst  auf  sein  Treiben  zu 
lenken?     Soviel  war  ja  allerdings  klar,  daß  hier  mehr  vorlag, 


^  Thuk.  VI  30 — 32,  43 — 44.     über  die  Zusammensetzung  der  Expedition 
s.  unten  2.  Abt.  §  122. 


358  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

als  die  mutwillige  Tat  einer  Gesellschaft  trunkener  Zech- 
brüder; ein  so  systematisches  Vorgehen  setzt  das  Einver- 
ständnis zahlreicher  Teilnehmer  voraus.  Es  wurde  also  dem 
Rat  unbeschränkte  Vollmacht  in  der  Sache  gegeben,  eine 
Untersuchungskommission  ernannt  und  für  die  Angeber 
Belohnungen  ausgesetzt.  Nun  regnete  es  Denunziationen, 
bei  denen  allerdings  über  den  Hermenfrevel  zunächst  nichts 
herauskam,  wohl  aber  eine  Anzahl  anderer  Religionsvergehen 
enthüllt  wurden.  Namentlich  wurde  Alkibiades  beschuldigt, 
in  seinem  Hause  eine  Parodie  der  eleusinischen  Mysterien  zur 
Aufführung  gebracht  zu  haben.  Alkibiades  verlangte  natürlich 
sogleich  vor  Gericht  gestellt  zu  werden;  bei  dem  Rückhalt, 
den  er  an  dem  Heere  hatte,  an  dessen  Spitze  er  stand,  war 
seine  glänzende  Freisprechung  so  gut  wie  gewiß.  Aber  eben 
deswegen  suchten  seine  Gegner  die  Sache  zu  verschleppen; 
und  es  war  auch  in  der  Tat  kaum  möglich,  die  schon  zum 
Auslaufen  bereite  Expedition  zurückzuhalten,  bis  der  Prozeß 
entschieden  war.  Das  Volk  beschloß  also,  Alkibiades  solle 
nach  Sicilien  abgehen  und  erst  nach  seiner  Rückkehr  sich 
gegen  die  Anklage  verantworten  ^.  Der  Sache  nach  kam  das 
auf  eine  Niederschlagung  des  Verfahrens  heraus;  man  konnte 
Alkibiades  das  Kommando  nicht  lassen,  wenn  man  ihn  für 
schuldig  hielt,  und  wer  hätte  es  wagen  wollen,  ihn  zur  Rechen- 
schaft zu  ziehen,  wenn  er  als  Sieger  aus  dem  Feldzuge  heim- 
kehrte ? 

Endlich,  um  Mittsommer,  konnte  die  Expedition  in  See 
gehen;  die  ganze  Stadt  gab  den  Scheidenden  bis  zum  Peiraeeus 
das  Geleit.  Ohne  Unfall  gelangte  man  über  das  Ionische 
Meer  an  die  italische  Küste.  Aber  man  fand  dort  sehr  kühle 
Aufnahme;  selbst  Rhegion,  die  alte  Verbündete  Athens, 
weigerte  diesmal  den  Anschluß.  Auch  in  Sicilien  war  man 
voll  schwerer  Besorgnis;  der  Zweck  einer  so  gewaltigen  Rüstung 
konnte  doch  kein  anderer  sein,  als  die  Insel  der  Herrschaft 
Athens  zu  unterwerfen.  Aber  man  war  in  keiner  Weise  auf 
den  Krieg  vorbereitet,  und  die  syrakusische  Flotte  war  in  so 


1  Thuk.  VI  27—29,  Andok.  vdMyst.  11  ff.,  Plut.   Alk.  18  f. 


Ankunft  der  Flotte  in  Sicilien.  —  Fortgang  des  Hermenprozesses.     359 

tiefem  Verfall,  daß  es  Wahnsinn  gewesen  wäre,  dem  Feinde 
zur  See  entgegenzutreten.  Im  athenischen  Kriegsrat  drang 
nun  Lamachos  darauf,  die  Gunst  des  Augenblicks  zu  benutzen, 
geraden  Weges  auf  Syrakus  loszusegeln  und  die  Belagerung 
zu  beginnen;  ein  Plan,  der  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  zur 
Einnahme  der  Stadt  geführt  haben  würde.  Aber  er  konnte 
damit  den  beiden  angesehenen  Kollegen  gegenüber  nicht 
durchdringen,  und  so  wurde  auf  Alkibiades'  Vorschlag  be- 
schlossen, methodisch  zu  verfahren  und  erst  die  kleineren 
Städte  zum  Anschluß  zu  bringen,  um  sich  so  eine  sichere 
Operationsbasis  zu  schaffen.  Doch  nur  das  chalkidische  Naxos 
trat  zunächst  auf  die  athenische  Seite;  die  Schwesterstadt 
Katane  folgte  erst,  als  die  Athener  durch  ein  erbrochenes 
Tor  eingedrungen  waren.  Das  athenische  Heer,  das  bisher 
vor  den  Toren  von  Rhegion  gelagert  hat,  wurde  jetzt  hierhin 
übergeführt  ^. 

Währenddessen  war  in  Athen  die  Untersuchung  wegen 
der  Religionsfrevel  weitergegangen.  Eine  Reihe  der  an- 
gesehensten Bürger  wurde  ins  Gefängnis  geworfen  und  zum 
Teil  hingerichtet,  die  Stadt  war  in  fieberhafter  Aufregung. 
Überall  witterte  man  Verschwörer;  niemand  war  sicher,  ob 
er  nicht  im  nächsten  Augenblick  auf  die  Aussage  eines  gewissen- 
losen Angebers  hin  verhaftet  und  zum  Tode  geführt  werden 
würde.  Da  entschloß  sich  einer  der  Angeklagten,  Andokides 
von  Kydathenaeon,  ein  junger  Mann  aus  sehr  vornehmem 
Hause,  ein  Geständnis  zu  machen:  er  selbst  habe  mit  einer  An- 
zahl seiner  Freunde  die  Hermen  verstümmelt.  Ob  die  Angabe 
richtig  war,  ist  niemals  ermittelt  worden;  wie  die  Sachen 
lagen,  war  sie  eine  rettende  Tat,  und  Rat  und  Volk  ergriffen 
begierig  den  Ausweg,  der  sich  hier  bot,  um  aus  der  unhalt- 
baren Lage  herauszukommen.  Die  von  Andokides  Beschul- 
digten wurden  hingerichtet,  soweit  man  ihrer  habhaft  w^erden 
konnte;  auf  den  Kopf  derer,  die  sich  geflüchtet  hatten,  wurde 
ein  Preis  gesetzt;  die  übrigen  Angeklagten  wurden  sogleich 
aus  dem  Gefängnis  befreit.    Der  Angeber  erhielt  Straflosigkeit, 


1  Thuk.  VI  44—52. 


360  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athehischen  Seeherrschaft. 

fand  es  aber  doch  bald  geraten,  die  Heimat  zu  verlassen,  die 
er  erst  nach   Jahren  wiedergesehen  hat  ^. 

Der  Hermenfrevel  schien  also  gesühnt;  es  blieb  der 
Mysterienfrevel.  Auch  in  dieser  Sache  waren  inzwischen 
neue  Denunziationen  erfolgt;  und  wieder  war  es  Alkibiades, 
den  man  der  Tat  beschuldigte  ^.  Es  ist  ja  auch  an  und  für  sich 
gar  nicht  unwahrscheinlich,  daß  diesen  Anklagen  etwas  Wahres 
zugrunde  lag,  und  daß  Alkibiades  den  Mummenschanz,  den 
man  zur  Erbauung  der  Gläubigen  in  Eleusis  aufführte,  einmal 
in  lustiger  Weinlaune  parodiert  hat.  Jedenfalls  ergriffen  seine 
Gegner  mit  Eifer  die  Gelegenheit,  die  sich  ihnen  hier  bot,  ihn 
von  seiner  Höhe  herabzustürzen.  Allen  voran  Androkles 
von  Pitthos,  ein  Führer  der  radikalen  Partei,  der  eben  im 
Rate  saß  und  dort  großen  Einfluß  übte  ^.  Denn  die  extreme 
Volkspartei  konnte  es  Alkibiades  nicht  vergessen,  daß  es 
sein  Abfall  von  der  gemeinsamen  Sache  gewesen  war,  der 
vor  zwei  Jahren  beim  Ostrakismos  gegen  Hyperbolos  die 
Entscheidung  gegeben  hatte.  Und  auch  die  Gemäßigten 
hatten  keinen  Anlaß,  sich  besonders  für  den  Mann  zu  er- 
wärmen, der  bei  allem,  was  er  tat,  nur  seinen  eigenen  Vorteil 

^  Hauptquelle  ist  neben  Thuk.  VI  53.  60  die  Mysterienrede  des  Andokides. 
die  aber  natürlich  die  Tendenz  verfolgt,  diesen  möglichst  rein  zu  waschen, 
Daß  sie  nur  mit  Vorsicht  benutzt  werden  darf,  zeigen  auch  die  abweichenden 
Angaben  des  Thukydides,  die  unter  Lysias'  Namen  erhaltene  Anklagerede  gegen 
Andokides  und  des  letzteren  eigene  Rede  von  seiner  Rückkehr.  Die  Komödie 
bietet  fast  nichts,  obgleich  Aristophanes'  Vögel  im  Winter  nach  dem  Prozeß 
zur  Aufführung  kamen;  Plut.  Alk.  18 — 21,  Diod.  XIII  2,  Nepos  Ale.  3  kommen 
kaum  in  Betracht.  Tö  h^  aaqpdi;  oubeic;  oöxe  TÖre  ouxe  öarepov  ^x^i  eiireiv  irepl 
TÜJV  bpaadvTUJV  tö  ^pyov  sagt  Thukydides  (VI  60,  2),  und  ich  maße  mir  nicht  an, 
mehr  wissen  zu  wollen.  Doch  kann  der  Zweck  wohl  nur  der  gewesen  sein,  das 
sicilische  Unternehmen  noch  in  letzter  Stunde  durch  ein  ungünstiges  Vorzeichen 
nicht  zustande  kommen  zu  lassen.  Ob  nun  gerade  die  Korinthier  die  Sache 
angestiftet  haben,  wie  Kratippos  meinte  (bei  [Flut.]  Leben  des  Andok.  834  d 
ihm  folgend  Philoch.  fr.  110),  mag  dahingestellt  bleiben;  es  gab  auch  in  Athen, 
Leute  genug,  die  das  gleiche  Interesse  hatten.  Vgl.  Wilamowitz,  Aristot.  II 
113,  1.  Von  neueren  Spezialuntersuchungen  ist  zu  nennen  Götz,  Der  Hermo- 
kopidenprozeß,  Jahrb.  f.  Phil.  Suppl.  VIII  (1876).  Das  Beste  bleibt  immer 
noch  die  betreffende  Partie  bei  Grote. 

-  Andok.  vdMyst.  16. 

3  Thuk.  VIII  65,2,  Plut.  Alk.  19,  Andok.  vdMyst.  27. 


Alkibiades'  Sturz.  361 


verfolgte  und  stets  bereit  war,  den  Staat  in  neue  kriegerische 
Verwicklungen  zu  stürzen.  So  vereinigten  sich  gegen  Alki- 
biades Männer  aus  beiden  Parteien;  Kimons  Sohn  Thessalos 
war  es,  der  die  Anklage  einbrachte,  unterstützt  von  dem 
radikalen  Volksführer  Androkles.  Auf  dessen  Antrag  wurde 
Aikibiades  nach  Hause  zurückgerufen,  um  sich  sogleich  vor 
Gericht  zu  verantworten. 

Es  hätte  in  Alkibiades'  Hand  gelegen,  der  Vorladung 
den  Gehorsam  zu  weigern,  gestützt  auf  seine  Beliebtheit 
bei  dem  Heere;  jener  erste  Volksbeschluß,  der  den  Prozeß 
bis  nach  Beendigung  des  Krieges  vertagte,  konnte  dafür 
den  passenden  Vorwand  abgeben.  Auch  fühlte  die  athenische 
Regierung  sich  ihrer  Sache  so  wenig  sicher,  daß  sie  ihre  Ab- 
gesandten ausdrücklich  angewiesen  hatte,  offene  Gewalt  zu 
vermeiden.  Aber  im  entscheidenden  Augenblick  fand  Alki- 
biades doch  nicht  den  Mut,  aus  den  Schranken  der  Gesetz- 
lichkeit herauszutreten;  er  mochte  darauf  rechnen,  daß  sein 
persönliches  Erscheinen  genügen  würde,  um  alle  Gefahr  zu 
beschwören.  Kaum  aber  hatte  er  die  Heimreise  angetreten, 
als  ihm  die  Sachen  in  anderem  Lichte  erschienen;  und  so 
entwich  er  in  Thurioi  von  seinem  Schiff  und  ging  in  freiwillige 
Verbannung.  Er  hatte  sich  damit  selbst  das  Urteil  gesprochen, 
und  demgemäß  erkannte  das  Gericht  in  dem  jetzt  eröffneten 
Kontumazverfahren.  Über  Alkibiades  und  seine  Mitangeklagten : 
seinen  Oheim  Axiochos  von  Skambonidae,  seinen  Vetter 
Alkibiades  von  Phegus,  seinen  Gaugenossen  Adeimantos 
wurde  die  Todesstrafe  verhängt,  ihr  Andenken  verflucht,  ihr 
Vermögen  eingezogen  ^. 

Der  Mann  war  gestürzt,  der  während  der  letzten  Jahre 
in  Athen  fast  allmächtig  gewesen  war.   Und  Nikias,  der  Führer 

^  Thuk.  VI  61,  Plut.  Alk.  21  f.,  wo  die  Eisangelie  des  Thessalos  im  Wort- 
laut gegeben  ist,  Andokides  vdMyst.  16.  65.  Xen.  Hell.  I  2,  13.  Über  Androkles 
Thuk.  VIII  65,  2,  Plut.  Alk.  19.  Er  saß  damals  im  Rate  (Andok.  Myst.  27). 
Rechnungen  über  den  Erlös  aus  dem  eingezogenen  Vermögen  der  in  diesem 
Prozesse  Verurteilten  CIA.  I  274—76,  IV  S.  35.  177  f.,  Köhler  Hermes  XXIII 
395.  Über  die  Verwandtschaft  des  Alkibiades  mit  Axiochos  Piaton  Euthydem. 
275  a  und  Töpffer  Alt.  Geneal.  S.  179  f.,  unten  2.  Abt.  §  14.  Daß  auch  Adeimantos 
ein  Verwandter  des  Alkibiades  gewesen  ist,  ist  sehr  wahrscheinlich. 


362  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

der  Konservativen,  stand  fern  in  Sicilien;  übrigens  war  auch 
er,  zwar  nicht  selbst,  aber  durch  seine  Brüder  beim  Hermen- 
prozeß compromittiert  ^.  So  fiel  die  Leitung  des  Staates  jetzt 
den  Führern  der  radikalen  Partei  zu,  die  die  Erregung  des 
Volkes  über  die  Religionsfrevel  mit  solchem  Geschick  zu 
benutzen  verstanden  hatten;  neben  Androkles  vor  allen 
Peisandros,  der  in  der  Untersuchungskommission  gesessen 
hatte  und  ihr  einflußreichstes  Mitglied  gewesen  war  ^.  Sie 
und  ihre  Freunde  trifft  für  die  Politik  Athens  in  der  nächsten 
Zeit  die  Verantwortung. 

Nikias  und  Lamachos  waren  jetzt  die  alleinigen  Befehls- 
haber der  athenischen  Flotte.  Sie  benutzten  den  Rest  des 
Sommers  zu  einer  Fahrt  nach  Segesta,  wobei  sie  sich  über- 
zeugten, daß  auf  eine  irgend  wirksame  Unterstützung  von 
dieser  Seite  her  nicht  zu  rechnen  sei.  Endlich  im  Spätherbst 
unternahmen  sie  eine  Landung  bei  Syrakus.  In  der  Ebene 
am  großen  Hafen,  beim  Tempel  des  olympischen  Zeus,  kam 
es  zur  Schlacht  gegen  das  ganze  syrakusische  Aufgebot,  das 
trotz  seiner  überlegenen  Zahl  völlig  geschlagen  wurde.  Doch 
blieb  der  Sieg  unfruchtbar,  da  Nikias  es  bei  der  vorgerückten 
Jahreszeit  für  geboten  hielt,  den  Beginn  der  Belagerung  auf 
das  nächste  Frühjahr  zu  verschieben.  Das  Heer  ging  nach 
Naxos  und  Katane  zurück  und  bezog  dort  die  Winter- 
quartiere ^. 

Die  Athener  hatten  also  einen  halben  Sommer  nutzlos 
verzettelt.  Während  des  folgenden  Winters  waren  sie  ver- 
geblich bemüht,  Messene  auf  ihre  Seite  zu  bringen;  doch  blieb 
die  Stadt  wenigstens  in  dem  Kriege  neutral.  Besseren  Erfolg 
hatten  sie  bei  den  Sikelern,  die  in  Syrakus  ihren  natürlichen 
Feind  sahen  und  demgemäß  die  Athener  bereitwillig  unter- 
stützten,   soweit   sie    nicht    durch   syrakusische    Besatzungen 


^  Eukrates  und  vielleicht  auch  sein  zweiter  Bruder  Diognetos  hatten  eine 
Zeitlang  in  Untersuchungshaft  gesessen   {Andok.vdMyst.  47,  15). 

^  Andok.  Myst.  36,  Aristoph.  Lysistr.  490  f.  Überhaupt  wird  Peisandros 
in  den  Komödien  dieser  Jahre  ebenso  angegriffen  wie  vorher  Kleon  und  Hyper- 
bolos. 

3  Thuk.  VI  62—72. 


Erste  Operationen  in  Sicilien.  363 

im  Zaume  gehalten  wurden.  Auch  einige  tyrrhenische  Städte 
traten  aus  demselben  Grunde  aut  die  athenische  Seite.  Kama- 
rina,  das  beide  Teile  zu  gewinnen  suchten,  erklärte  neutral 
bleiben  zu  wollen,  schickte  aber  dann  doch  unter  der  Hand  den 
Syrakusiern  Beistand.  Auch  Akragas  hielt  sich  neutral,  und 
ebenso  wies  Karthago  die  athenischen  Annäherungsversuclie 
zurück.  Aber  es  wurde  doch  wenigstens  soviel  erreicht,  daß 
außer  Selinus  und  Gela  keine  andere  Stadt  Siciliens  mit 
Syrakus  in  offenes  Bündnis  trat  ^. 

Dem  athenischen  Heere  fehlte  es  bis  jetzt  so  gut  wie  ganz 
an  Reiterei,  einer  Waffe,  die  für  einen  Feldzug  in  Sicilien 
unentbehrlich  war.  Es  wurden  also  mit  Anbruch  des  Früh- 
jahrs 250  Reiter  von  Athen  abgesandt,  die  in  Sicilien  «beritten 
gemacht  werden  sollten,  da  ein  Transport  so  vieler  Pferde 
auf  eine  so  weite  Entfernung  untunlich  schien.  Sie  kamen 
etwa  Mitte  Mai  in  Katane  an,  und  nun  endlich  beschlossen 
Nikias  und  Lamachos  ernsthaft  gegen  Syrakus  vorzugehen  ^. 
Die  Syrakusier  hätten  also  Zeit  genug  gehabt,  sich  auf  die 
Belagerung  vorzubereiten.  Sie  hatten  denn  auch,  unter  dem 
Eindrucke  der  Niederlage  im  vorigen  Herbst,  das  im  Amt  be- 
findliche Kollegium  von  15  Strategen  abgesetzt  und  an  dessen 
Stelle  drei  neue  Strategen  erwählt,  darunter  Hermokrates, 
den  Führer  der  Opposition  ^.  Es  wurden  nun  einige  Außen- 
werke angelegt  und  namentlich  die  Vorstadt  am  Theater, 
der  sog.  Temenites,  in  die  Befestigung  hineingezogen,  man 
versäumte  es  aber,  die  Höhe  von  Epipolae  zu  sichern,  die  im 
Westen  der  Stadt  aufragt  und  die  ganze  Umgegend  strategisch 
beherrscht.  So  konnten  die  Athener,  ohne  Widerstand  zu 
finden,  an  der  nahen  Küste  landen  und  in  raschem  Anlauf  die 


1  Thuk.  VI  72—88.  Über  die  Tyrrhener  VI  88,  6;  103  2;  VII  53,  2;, 
57,  10.  Mit  den  Campanern,  welche  die  Neopoliten  413  für  die  Athener  in  Sold 
nahmen,  haben  diese  Tyrrhener  nichts  zu  tun,  denn  die  campanischen  Söldner 
kamen  erst  nach  der  Niederlage  der  Athener  nach  Sicilien  (Diod.  XIII  44,  2), 
auch  waren  die  Tyrrhener  nicht  Söldner,  sondern  Bundesgenossen.  —  Messene 
wird   unter  den   syrakusischen    Bundesgenossen   niemals  erwähnt. 

2  Thuk.  VI  94,  vgl.  unten  2.  Abt.  §  6. 

3  Thuk.  VI  72  f. 

*  Thuk.  VI  75,  1. 


364  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

wichtige  Stellung  besetzen;  ein  Versuch,  sie  von  dort  zu  ver- 
treiben, blieb  ohne  Erfolg.  Bald  darauf  kam  den 
Athenern  eine  weitere  Verstärkung  von  400  Reitern  ihrer 
sicilischen  Bundesgenossen;  freilich  blieb  die  syrakusische 
Reiterei  noch  immer  weit  überlegen.  Es  handelte  sich  nun 
darum,  die  Stadt  durch  eine  etwa  5  km  lange  Umwallung 
vom  Hafen  Trogilos  im  Norden  nach  dem  großen  Hafen  im 
Süden  von  der  Verbindung  mit  dem  Inneren  der  Insel  abzu- 
schließen. Vergebens  suchten  die  Belagerten  den  Fortschritt 
dieser  Arbeiten  durch  Ausfälle  und  die  Errichtung  von  Gegen- 
werken zu  hindern.  Die  Athener  blieben  in  allen  Gefechten 
siegreich;  allerdings  fiel  in  einem  dieser  Kämpfe  der  Stratege 
Lamachos,  dessen  Energie  die  bisherigen  Erfolge  hauptsächlich 
verdankt  wurden.  Aber  der  Mut  der  Verteidiger  war  gebrochen. 
Die  athenischen  Linien  wurden  von  der  Hochfläche  im  Westen 
der  Stadt  bis  an  den  großen  Hafen  herabgeführt,  in  den  nun 
auch  die  Flotte  einlief,  die  bisher  im  Norden  von  Syrakus 
bei  Thapsos  gelegen  hatte.  Die  nördliche  Hälfte  der  Um- 
schließungswerke war  freilich  noch  nicht  fertig,  aber  ihre 
Vollendung  schien  nur  noch  eine  Frage  kurzer  Zeit,  und  schon 
begann  man  in   Syrakus  von  Ergebung  zu  sprechen  ^. 

Da  im  letzten  Augenblick  kam  der  bedrängten  Stadt 
Rettung.  Schon  während  des  Winters  hatten  die  Syrakusier 
an  Korinth  und  Sparta  Gesandte  geschickt  und  das  Ver- 
sprechen der  Unterstützung  erhalten;  hatten  doch  die  Pelo- 
ponnesier  selbst  das  höchste  Interesse  daran,  zu  verhindern, 
daß  Sicilien  von  Athen  abhängig  würde  ^.  Zum  Befehlshaber 
des  Hilfsheeres  wurde  ein  Mann  bestimmt,  der  wie  kein  zweiter 
in  Sparta  mit  den  Verhältnissen  des  Westens  vertraut  war, 
Gylippos,  ein  Sohn  jenes  Kleandridas,  der  nach  seiner  Ver- 
bannung im  Jahre  445  sich  nach  Thurioi  gewandt  hatte  und 
dort  rasch  zu  bedeutendem  Einfluß  gelangt  war  3.  Gylippos 
erkannte,  daß  vor  allem  schnelle  Hilfe  von  nöten  sei;  und  da  die 


1  Thuk.  VI  96—103.    Über  die  Topographie,  die  athenischen  Belagerungs- 
werke und  die  Gegenwerke  der  Syrakusier  unten  2.  Abt.   §  126  fE. 

2  Thuk.  VI  73.  88. 

*  Thuk.  VI  93,  vgl.  oben  S.  202. 


Belagerung  von  Syrakus.  —  Gylippos  in  Sicilien.  365 

Ausrüstung  des  nach  Sicilien  bestimmten  Geschwaders  mit 
der  im  Peloponnes  einmal  hergebrachten  Langsamkeit  be- 
trieben wurde,  ging  er  selbst  indes  mit  nicht  mehr  als  4  Trieren 
in  See,  gelangte  glücklich  durch  die  Straße  von  Messina,  die 
Nikias  zu  sperren  versäumt  hatte  und  landete  an  der  Nord- 
küste der  Insel  in  Himera.  Die  Himeraeer  ließen  sich  bereit- 
finden, ihm  ein  Korps  von  1000  Mann  und  100  Reitern  zur 
Verfügung  zu  stellen;  auch  aus  Selinus,  Gela  und  von  den 
umwohnenden  Sikelern  kam  Zuzug,  so  daß  Gylippos  bald 
etwa  3000  Mann  unter  seinem  Befehle  hatte,  mit  denen  er  quer 
durch  die  Insel  auf  Syrakus  rückte.  Hier  kam  er  gerade  noch 
zur  rechten  Zeit  an,  um  durch  die  Lücke  der  athenischen 
Zirkumvallationslinie  in  die  Stadt  zu  gelangen.  War  schon 
die  materielle  Unterstützung,  die  er  brachte,  nicht  unbe- 
deutend, so  fiel  doch  die  moralische  Wirkung  seines  Eintreffens 
noch  weit  mehr  ins  Gewicht.  .  Das  Bewußtsein,  von  den 
Stammesgenossen  im  Peloponnes  nicht  verlassen  zu  sein, 
einen  Spartiaten  zum  Führer  zu  haben,  weitere  Verstärkungen 
erwarten  zu  dürfen,  gab  den  Syrakusiern  neuen  Mut.  Gylippos 
schritt  nun  ohne  Zögern  zum  Angriff;  während  er  selbst  durch 
eine  geschickte  Demonstration  die  athenische  Hauptmacht 
in  ihren  Verschanzungen  festhielt,  gelang  es  einer  Abteilung 
seines  Heeres  in  überraschendem  Ansturm  die  Höhe  von 
Epipolae  zurückzugewinnen.  Nun  galt  es,  diese  wichtige 
Stellung  durch  eine  befestigte  Linie  mit  der  Stadt  zu  ver- 
binden. Diese  Mauer  würde  die  Richtung  der  athenischen 
Zirkumvallationslinie  in  rechtem  Winkel  geschnitten  und 
deren  Vollendung  unmöglich  gemacht  haben;  es  handelte 
sich  also  für  Nikias  darum,  den  Bau  des  syrakusischen  Werkes 
um  jeden  Preis  zu  verhindern.  So  führte  er  sein  Heer  aus  den 
Verschanzungen  heraus  und  nahm  die  Schlacht  an,  die  der 
Gegner  ihm  anbot.  In  einem  ersten  Treffen  blieb  den  Athenern 
der  Sieg,  aber  sie  waren  doch  nicht  imstande,  den  Fortgang 
des  feindlichen  W^erkes  zu  hemmen,  und  als  es  dann  noch 
einmal  zum  Kampfe  kam,  wußte  Gylippos  seine  numerische 
Überlegenheit  besser  zu  verwerten,  und  die  Athener  wurden 
hinter  ihre  Wälle  zurückgeworfen.     Die  Syrakusier  konnten 


366  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 


nun  ihre  Mauer  in  aller  Ruhe  vollenden,  und  die  Gefahr  einer 
Einschließung   wa,r   von   der    Stadt   abgewendet  ^. 

Nikias  sah  sich  jetzt  zu  Lande  auf  die  Defensive  be- 
schränkt. Um  sich  für  alle  Fälle  wenigstens  die  Verbindung 
mit  dem  offenen  Meere  zu  sichern,  hatte  er  gleich  nach  Gylippos' 
Ankunft  die  Landspitze  Plemmyrion  befestigt,  die,  der  Stadt 
gegenüber  von  Süden  her  vorspringend,  die  Einfahrt  in  den 
großen  Hafen  beherrscht  ^.  Doch  die  Lage  des  athenischen 
Heeres  wurde  von  Tag  zu  Tag  ernster.  Der  Feind  erhielt  be- 
ständig neue  Verstärkungen.  Noch  im  Herbst  kamen  12 
korinthische  Schiffe;  im  folgenden  Frühjahr  (413)  weitere 
3000  Mann  aus  den  sicilischen  Städten;  die  Spartaner  und 
Boeoter  sandten  900  Hopliten  ^.  Und  jetzt  wagten  es  die 
Syrakusier  und  ihre  Verbündeten,  dem  Feinde  auch  zur  See 
zu  begegnen;  war  doch  die  athenische  Flotte  im  kläglichsten 
Zustande,  die  Schiffe,  die  beständig  im  Dienst  sein  mußten, 
zum  großen  Teil  kaum  mehr  seetüchtig,  die  Mannschaften 
durch  Krankheit  und  Desertionen  gelichtet.  Trotzdem  fiel 
der  erste  Versuch,  sich  mit  den  Athernern  zur  See  zu  messen, 
für  die  Syrakusier  ungünstig  aus;  aber  während  der  See- 
schlacht nahm  Gylippos  mit  dem  Landheer  die  Befestigungen 
auf  dem  Plemmyrion.  Die  Einfahrt  in  den  großen  Hafen  war 
damit  für  die  Athener  auf  das  höchste  erschwert.  Bald  er- 
neuten die  Syrakusier  auch  ihren  Angriff  zur  See,  und  diesmal 
mit  besserem  Erfolge;  die  Athener  wurden  auf  ihrem  eigenen 
Elemente  geschlagen  und  auf  ihr  Lager  zurückgetrieben. 
Nikias  war  jetzt  vollständig  eingeschlossen  und  verloren, 
wenn  nicht  bald  Entsatz  kam  K 

Während  so  Athener  und  Peloponnesier  sich  in  Sicilien 
bekämpften,  war  auch   in  Griechenland  der  Krieg  zwischen 


1  Thuk.  VI  104,  VII  1—6. 

-  Thuk.  VII  4. 

3  Thuk.  VII  7.  19.  21.  32  f.  Auch  Korinth  und  Sikyon  hatten  700 
Hopliten  abgesandt  (19,  4),  die  aber,  durch  einen  Sturm  nach  Kyrene  ver- 
schlagen, erst  im  August  in  Syrakus  anlangten  (50,  2).  Über  das  boeotische 
Kontingent  unten  2.  Abt.   §  125. 

*  Thuk.  VII  21—25.  36—41. 


Erste  Seekämpfe  vor  Syrakus.  —  Besetzung  von  Dekeleia.  367 


beiden  Mächten  zum  offenen  Ausbruch  gekommen.  Bisher 
hatten  die  Gegner  sich  wohl  am  dritten  Ort  nach  Möglichkeit 
Abbruch  getan,  doch  einer  direkten  Verletzung  des  feindlichen 
Gebietes  sich  enthalten.  Als  aber  im  Sommer  414  ein  lake- 
daemonisches  Heer  in  die  Argeia  einrückte  und  das  Land 
weithin  verwüstete,  konnte  Athen  nicht  länger  untätig  zusehen. 
Um  der  verbündeten  Stadt  Luft  zu  machen,  landete  ein 
attisches  Geschwader  an  der  lakonischen   Küste  ^. 

Hatten  die  Spartaner  bisher  Bedenken  getragen,  durch 
einen  Einfall  in  Attika  den  beschworenen  Frieden  zu  brechen, 
so  bekamen  sie  jetzt  freie  Hand.  Im  Frühjahr  413  überschritt 
das  peloponnesische  Bundesheer,  von  König  Agis  geführt, 
zum  erstenmal  wieder  seit  12  Jahren  die  attische  Grenze. 
Und  diesmal  begnügte  man  sich  nicht,  wie  früher,  mit  einem 
kurzen  Einfall.  Die  Spartaner  zeigten,  daß  sie  vom  Feinde 
gelernt  hatten.  Nachdem  die  Ebene  um  Athen  verheert  war, 
errichtete  Agis  auf  den  Höhen  von  Dekeleia  ein  befestigtes 
Lager,  etwa  20  km  von  der  Hauptstadt  und  ebensoweit  von 
der  boeotischen  Grenze;  eine  Stellung,  trefflich  gewählt,  um 
den  ganzen  Norden  Attikas  militärisch  zu  beherrschen.  Agis 
selbst  blieb  hier  mit  einer  starken  Besatzung  zurück,  die 
nun  eine  beständige  Drohung  für  Athen  bildete  und  die 
Bürger  zu  fortwährendem  angestrengten  Wachtdienst  auf  den 
Mauern  zwang.  Von  einer  Bebauung  des  Landes  konnte 
jetzt  überhaupt  nicht  mehr  die  Rede  sein;  der  Viehstand 
ging  aus  Mangel  an  Futter  zugrunde,  und  die  Sklaven  be- 
gannen zu  Tausenden  aus  der  Stadt  zum  Feinde  überzu- 
laufen ^. 

Offenbar  wäre  es  jetzt  das  richtige  gewesen,  die  Flotte 
und  das  Heer  aus  Sicilien  zurückzurufen,  sobald  das  Meer 
schiffbar  wurde.  Nikias  hatte  das  schon  im  letzten  Herbste 
befürwortet,  da  ein  Erfolg  doch  nicht  mehr  zu  erreichen  sei  ^. 
Aber  die  Regierung  glaubte  von  Athen  aus  besser  imstande 
zu  sein,  die  militärische  Lage  zu  beurteilen,  als  der  komman- 


1  Thuk.  VI  105. 

*  Thuk.  VII  18—19.  27—28,  vgl.  VI  91,  7,  Kratippos  12,  4. 

"  Thuk.  VII  8.  10—15. 


368  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

dierende  General  im  Felde;  oder  vielmehr,  die  radikalen 
Volksmänner,  die  seit  dem  Hermenprozeß  an  der  Spitze  Athens 
standen,  wußten  sehr  wohl,  daß  es  mit  ihrer  Macht  zu  Ende 
sein  müßte  in  dem  Augenblick,  wo  das  sicilische  Unternehmen 
aufgegeben  wurde,  für  das  sie  die  Verantwortung  trugen. 
Man  hatte  also,  um  Mittwinter,  Nikias  eine  Verstärkung  von 
10  Schiffen  geschickt^;  kurz  darauf  gingen  20  Schiffe  unter 
Konon  nach  Naupaktos,  um  die  Absendung  von  Verstärkungen 
aus  dem  Peloponnes  nach  Sicilien  zu  verhindern,  was  freilich 
nicht  gelang,  da  die  Korinthier  diesem  Geschwader  überlegene 
Kräfte  entgegenstellten  ^.  Inzwischen  wurde  eine  zweite 
Expedition  nach  Sicilien  ausgerüstet,  nicht  viel  schwächer  als 
diejenige,  die  vor  zwei  Jahren  dorthin  abgegangen  war;  und 
man  ließ  sie  im  Frühjahr  in  See  stechen,  obgleich  die  Pelo- 
ponnesier  eben  damals  Dekeleia  besetzt  hatten.  Den  Befehl 
erhielt  Demosthenes,  der  gefeiertste  Feldherr,  den  Athen  in 
diesem  Augenblick  besaß;  neben  ihm  stand  Eurymedon,  der 
bereits  im  vorigen  Kriege  auf  Sicilien  befehligt  hatte.  In 
Italien  fanden  die  Athener  diesmal  bessere  Aufnahme;  Meta- 
pont  stellte  zwei  Trieren  und  300  Speerwerfer,  Thurioi,  wo 
eine  Revolution  soeben  die  athenische  Partei  ans  Ruder 
gebracht  hatte,  700  Hopliten  und  ebenfalls  300  Mann  leichte 
Truppen.  Gegen  Mittsommer  gelangte  die  Flotte  nach  Syrakus, 
noch  gerade  zu  rechter  Zeit,  um  Nikias  vor  sicherem  Ver- 
derben zu  retten  ^. 

Es  waren  73  Trieren  mit  5000  Hopliten  und  zahlreichen 
Leichtbewaffneten,  die  Demosthenes  und  Eurymedon  heran- 
führten. Die  militärische  Lage  war  dadurch  mit  einem  Schlage 
verändert,  die  Athener  wieder  der  stärkere  Teil,  und  Demo- 
sthenes drängte  demgemäß  auf  sofortige  kräftige  Offensive. 
Alles  hing  von  dem  Besitz  von  Epipolae  ab;  und  da  die  offenen 
Angriffe  auf  die  syrakusischen  Befestigungen  ohne  Erfolg 
blieben,  beschloß  man  einen  nächtlichen  Überfall.  Zuerst 
ging  alles  vortrefflich;  beim  Scheine  des  Mondes  wurde  die 

1  Thuk.  VII  16. 
*  Thuk.  VII  17. 
3  Thuk.  VII  16.  20.  26.  31.  35. 


Sturm  auf  Epipolae.  —  Seeschlachten  im  Hafen  von  Syrakus.        369 

Höhe  erstiegen,  die  feindlichen  Werke  im  Rücken  gefaßt,  die 
Besatzung  in  die  Flucht  getrieben.  Aber  beim  weiteren  Vor- 
rücken gegen  die  Stadt  hin  gerieten  die  Athener  in  Unordnung; 
der  Feind  erholte  sich  von  dem  ersten  Schrecken  und  hielt 
wieder  stand,  und  nun  wurden  die  Athener  ihrerseits  zurück- 
geworfen. In  der  Verwirrung  des  Nachtgefechtes  löste  sich 
bald  alles  in  regelloser  Flucht;  mit  großen  Verlusten  gelangten 
die  Athener  endlich  von  den  steilen  Höhen  herab  in  ihr  Lager 
(Ende  Juli  413)  \ 

Demosthenes  war  jetzt  mit  Recht  der  Ansicht,  daß  jede 
weitere  Fortsetzung  der  Belagerung  zwecklos  sei.  Nikias 
widersprach  anfangs;  er  fürchtete  die  Verantwortung  für 
das  mißglückte  Unternehmen  und  wiegte  sich  noch  immer 
in  der  Illusion,  mit  Hilfe  seiner  Verbindungen  in  Syrakus 
die  Stadt  in  die  Hand  zu  bekommen.  Endlich,  nachdem  man 
einige  Wochen  nutzlos  verloren  hatte,  während  beständig 
Verstärkungen  nach  Syrakus  strömten,  gab  auch  er  seine 
Zustimmung.  Am  Abend  des  27.  August  lag  die  Flotte  bereit, 
das  Heer  aus  dem  Hafen  zu  führen,  als  die  Mondscheibe  sich 
plötzlich  verfinsterte.  Die  Truppen  nahmen  das  für  ein 
schlimmes  Zeichen,  und  Nikias,  der  selbst  nicht  weniger 
abergläubisch  war  als  seine  Matrosen,  und  dem  außerdem 
der  Aufschub  ganz  gelegen  kam,  widersetzte  sich  jetzt  der 
Abfahrt  und  erklärte,  zu  bleiben,  bis  ein  neuer  Vollmond  am 
Himmel  stände.  Mit  dieser  Zögerung  war  das  Schicksal  des 
Heeres  entschieden.  Denn  die  Syrakusier  steckten  sich  nun 
das  Ziel,  den  Belagerern  den  Rückzug  abzuschneiden  und 
sie  vor  den  Mauern  ihrer  Stadt  zu  vernichten.  Sie  boten  also 
dem  Feinde  von  neuem  die  Seeschlacht  an,  die  dieser,  falls 
er  seine  Verbindungen  offenhalten  wollte,  nicht  weigern 
durfte.  Aber  in  der  Enge  des  Hafens  konnten  die  Athener 
ihre  Manöverierfähigkeit  nicht  entwickeln,  während  sie  mit 
ihren    leichtgezimmerten     Schiffen    gegenüber     den    stärker 


1  Thuk.  VII  42—45.  Den  Verlust  gibt  Diod.  XIII  11,  5  auf  2500,  Plut. 
Nik.  21  in  runder  Zahl  auf  2000  Mann  an,  offenbar  weit  übertrieben.  Thuk. 
VII  45,  2  sagt  nur  ouk  öXifOi.  Die  Zeit  ergibt  sich  aus  der  Mondfinsternis  vom 
27.  August,  s.  unten  2.  Abt.   §  102. 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  24 


370  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft. 

gebauten  peloponnesischen  und  syrakusischen  Trieren  im 
Nachteil  waren.  So  endete  der  Tag,  trotz  der  numerischen 
Überlegenheit  der  Athener  mit  deren  völliger  Niederlage; 
der  Stratege  Eurymedon  fiel,  18  Schiffe  wurden  genommen 
und  ihre  ganze  Mannschaft  niedergemacht.  Die  Syrakusier 
waren  nun  Herren  des  Hafens,  und  sie  gingen  sogleich  daran, 
dessen  Einfahrt  zu  sperren.  Wohl  machten  die  Athener  noch 
einen  letzten  verzweifelten  Versuch,  die  Blockade  zu  sprengen. 
Alle  noch  irgendwie  seetüchtigen  Schiffe  der  Flotte  —  es 
waren  110  —  wurden  ins  Wasser  gezogen  und  gegen  den 
Feind  geführt,  der  nur  über  76  Trieren  verfügte.  Die  Leute 
wußten,  daß  die  um  ihre  Rettung  kämpften  und  fochten  mit 
dem  Mut  der  Verzweiflung.  Aber  auch  jetzt  blieben  alle 
Anstrengungen  vergebens;  mit  einem  Verlust  von  50  Schiffen 
wurden  die  Athener  auf  ihr  Lager  zurückgetrieben  ^. 

Das  Heer  war  jetzt  völlig  demoralisiert;  an  eine  Wieder- 
holung des  Versuches,  dem  Feinde  zur  See  zu  begegnen,  war 
nicht  zu  denken.  Auch  das  Lager  war  nicht  länger  zu  halten, 
da  die  Vorräte  zu  Ende  gingen;  es  blieb  nichts  übrig  als  der 
Rückzug  zu  Lande.  Alles  Gepäck,  alle  Kranken  und  Ver- 
wundeten mußten  zurückgelassen  werden,  die  Flotte  fiel  dem 
Feinde  zur  Beute.  Die  nächste  befreundete  Stadt  war  Katane; 
aber  der  direkte  Weg  dahin  war  durch  die  feindlichen  Be- 
festigungen auf  Epipolae  versperrt,  und  der  Versuch,  sich 
am  Anapos  aufwärts  nach  Akrae  hin  einen  Weg  zu  öffnen, 
wurde  von  den  Syrakusiern  abgeschlagen.  Es  blieb  also  nur 
die  Küstenstraße,  die  von  Syrakus  in  südwestlicher  Richtung 
über  Eloros  nach  Kamarina  führte.  Man  verfügte  noch  immer 
über  etwa  20  000  Mann  ^,  allerdings  zum  großen  Teil  für  den 
Kampf  zu  Lande  wertlose  Rudermannschaften.  Eine  um- 
sichtige Führung  hätte  ein  solches  Heer  vielleicht  trotz  allem 
zu  retten  vermocht;  doch  es  fehlte  daran  ebensosehr  wie 
an  der  nötigen  Disziplin  bei  den  Truppen.  Man  war  nicht 
einmal  darauf  bedacht,  das  Heer  zusammenzuhalten.  Nikias, 
der  an  der  Spitze  marschierte,  ging  vorwärts  ohne  Rücksicht 

1  Thuk.  VII  47—71.     Diod.  XIII  12—17. 
-  S.  unten  2.  Abt.  §  124. 


Der  Rückzug.  —  Katastrophe  am  Assinaros.  371 


auf  Demosthenes,  der  die  Nachhut  führte  und  durch  die 
beständigen  Angriffe  der  verfolgenden  Syrakusier  zu  lang- 
samcrem Marsche  genötigt  war.  So  kam  ein  weiter  Zwischen- 
raum zwischen  die  beiden  atKenischen  Heerteile;  der  Feind 
konnte  sich  mit  ganzer  Macht  auf  Demosthenes  werfen,  der 
nach  tapferem  Widerstände  zur  Ergebung  gezwungen  wurde. 
6000  Mann  streckten  die  Waffen  i. 

Jetzt  kam  die  Reihe  an  Nikias.  Unter  unablässigen 
Angriffen  seitens  der  feindlichen  Reiter  und  leichten  Truppen 
gelangte  er  an  den  Assinaros,  einen  der  kleinen  Flüsse,  die 
bei  dem  heutigen  Noto  von  den  Bergen  herab  ins  Ionische 
Meer  strömen.  Hier  löste  alle  Ordnung  sich  auf,  es  erfolgte 
ein  furchtbares  Blutbad,  endlich  ergab  sich  Nikias  mit  dem 
Rest  seiner  Truppen  dem  Sieger  (Anfang  Oktober).  Da  keine 
förmliche  Kapitulation  erfolgt  war,  blieb  der  größte  Teil 
der  Gefangenen  den  Soldaten  des  siegreichen  Heeres  als  Beute; 
,,ganz  Sicilien  wurde  voll  davan",  wie  der  Geschichtsschreiber 
des  Krieges  sagt.  Doch  retteten  sich  nicht  unbedeutende 
Teile   des  athenischen   Heeres   nach    Katane  ^. 

1  Thuk.  VII  72—82. 

2  Thuk.  VII  82—85,  [Lysias]  /.  Polystr.  23—26,  Paus.  VII  16,  5.  Über 
den  Rückzug  Holm  bei  Lupus,  Syrakus  S.  146  ff.,  Pais,  Ricerche  storiche  e  geo- 
grafiche  S.  189  ff.,  Ciaceri  in  Pais'  Studi  Storici  III  353  ff.,  Pisa  1894.  Thuky- 
dides  nennt  drei  Flüsse,  welche  die  Athener  überschreiten  mußten,  den  Kakyparis, 
Erineos,  Assinaros.  Heute  gibt  es  südlich  vom  Anapos  überhaupt  nur  dre 
Flüsse,  die  das  ganze  Jahr  hindurch,  also  auch  im  Oktober,  Wasser  haben: 
den  Cassibile,  Fiume  di  Noto,  Teilaro,  oder  wie  er  beim  Volke  heißt,  Atiddaru. 
Der  letztere  müßte  also  der  Assinaros  sein,  denn  über  die  Identität  des  Cassibile 
mit  dem  Kakyparis  läßt  der  Name  keinen  Zweifel.  Nun  ist  aber  zweifellos  der 
Atiddaru  der  schon  von  Pindar  erwähnte  Eloros  {Nem.  IX  40).  Es  bleibt  also 
nur  die  Alternative:  entweder  war  der  Erineos  im  Altertum  wasserreicher  als 
heute  und  ist  in  einem  der  jetzt  meist  trockenen  Flußbetten  zwischen  Cassibile 
und  Fiume  di  Noto  zu  erkennen  (Holm),  oder  Eloros  und  Assinaros  sind  ein 
und  derselbe  Fluß  (Pais).  Das  erstere  ist  sehr  unwahrscheinlich,  da  es  sich 
nur  um  ganz  kurze  Rinnsale  handelt,  für  letztere  Annahme  spricht  der  'EXibpiO(; 
dyiuv,  T6XoO|Li6vO(;  ^iri  'EXdjpou  TroxainoO,  den  Hesychios  erwähnt,  und  der 
kaum  etwas  anderes  sein  kann  als  die  Äaoivapia  ^optri,  welche  die  Syrakusier 
zum  Gedächtnis  des  Sieges  gestiftet  haben  (Plut.  Nik.  28).  Leider  ist  aus  dem 
unklaren  Bericht  des  Thukydides  nicht  mit  Sicherheit  zu  erkennen,  ob  Demo- 
sthenes nördlich  oder  südlich  vom  Kakyparis  kapituliert  hat;  ist  das  letztere 

24* 


372  XI.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  athenischen  Seeherrschaft, 

So  hatten  die  Syrakusier  den  vollständigsten  Sieg  errungen, 
einen  Sieg,  wie  er  nie  zuvor  von  Hellenen  über  ein  hellenisches 
Heer  gewonnen  worden  war.  Aber  sie  befleckten  ihren  Erfolg 
durch  barbarische  R^che  an  dem  wehrlosen  Feinde.  Die 
beiden  Feldherren  Nikias  und  Demosthenes  wurden  gegen 
alles  hellenische  Kriegsrecht  hingerichtet;  vergebens  hatte 
Gylippos  sie  zu  retten  versucht.  Die  übrigen  Gefangenen, 
soweit  sie  in  der  Gewalt  des  Staates  waren,  wurden  in  den 
Steinbrüchen  eingeschlossen,  jenen  weitgedehnten  Latomien, 
die  tief  in  den  Felsen  eingeschnitten,  mit  üppigster  Vegetation 
bedeckt,  heute  einen  der  anziehendsten  Punkte  für  den  Be- 
sucher von  Syrakus  bilden,  damals  aber  noch  völlig  kahl  ein 
Bild  trostloser  Öde  boten.  Hier  blieben  die  Gefangenen  über 
zwei  Monate,  allen  Unbilden  der  Witterung  ausgesetzt,  bei 
der  dürftigsten  Nahrung;  dann  wurden  sie  als  Sklaven  ver- 
kauft, mit  Ausnahme  der  Athener  selbst  und  ihrer  Bundes- 
genossen aus  Italien  und  Sicilien.  Diese  wurden  noch  bis  zum 
nächsten  Frühjahr  gefangen  gehalten;  was  aus  denen  ge- 
worden ist,  die  diesen  schrecklichen  Winter  überstanden, 
hat  Thukydides  zu  berichten  nicht  wert  gehalten  ^. 

Die  Nachricht  von  dieser  Katastrophe  wirkte  in  Hellas 
wie  ein  Donnerschlag;  der  Nimbus  der  Unbesiegbarkeit  war 
zerrissen,  der  die  athenische  Flotte  seit  dem  Tage  von  Salamis 
umgeben  hatte.  Im  Peloponnes  rüstete  man  sich,  nunmehr 
den  Athenern  auch  zur  See  zu  begegnen;  Syrakus  versprach 


der  Fall,  wie  zuletzt  auch  Holm  für  wahrscheinlich  hielt  (bei  Lupus  S.  156), 
So  ist  der  Assinaros  der  Atiddaru;  die  Distanzangabe  bei  Thuk.  VII  81,  3,  vgl. 
81,  1;  82,  3  läßt  darüber  (trotz  Holm)  nicht  den  geringsten  Zweifel.  Unweit 
nördlich  der  Mündung  des  Atiddaru  erhebt  sich  die  Colonna  della  Pizzuta,  eine 
riesige,  aus  großen  Steinquadern  aufgemauerte  Säule  aus  griechischer  Zeit,  in 
der  man  ein  Denkmal  des  Sieges  gesehen  hat  (abgebildet  bei  Orsi,  Not.  Scavi 
1899,  S.  243  und  Pais  a.  a.  0.  S.  194).  Reste  einer  ähnhchen  Säule  finden  sich 
aber  auch  nördUch  von  Noto,  am  Oberlauf  des  Flusses  (Ciaceri  a.  a.  0.  S.  360); 
eine  dritte,  jetzt  verschwundene  Säule  dieser  Art  scheint  nach  Fazello  (Buch  IV 
Kap.  2)  bei  den  Ruinen  von  Alt-Noto  gestanden  zu  haben.  Demnach  kann 
von  einer  Beziehung  auf  den  Sieg  der  Syrakusier  nicht  die  Rede  sein.  Vgl.  Orsi, 
a.  a.  0.  S.  242  ff.  —  Über  die  Chronologie  des  Rückzuges  unten  2.  Abt.  §  102. 
1  Thuk.  VII  86.  87. 


Schicksal  des  besiegten  Heeres.  —  Folgen  der  Katastrophe.         373 

Hilfe,  überall  im  Umkreis  des  athenischen  Reiches  bereiteten 
sich  die  Städte  zum  Abfall.  Kein  Mensch  in  Griechenland 
glaubte,  daß  Athen  nach  solchen  Verlusten  imstande  sein 
würde,  auch  nur  noch  einen  Feldzug  zu  überstehen  ^. 


XII.  Abschnitt. 

Der  Fall  der  Demokratie. 

Der  Kampf  zwischen  den  beiden  großen  griechischen 
Demokratien,  den  die  Katastrophe  am  Assinaros  beendet 
hatte,  sollte  in  seinen  Folgen  beiden  verhängnisvoll  werden; 
der  Siegerin  nicht  minder  als  der  Besiegten.  Syrakus  war, 
nach  der  Anspannung  aller  Kräfte  während  der  anderthalb- 
jährigen Belagerung,  tief  erschöpft,  die  Finanzen  zerrüttet; 
hatte  doch  der  Krieg  schon  über  2000  Talente  (11  000  000  Mk.) 
erfordert,  und  es  blieb  noch  eine  drückende  Schuldenlast  ^. 
Nicht  weniger  schwer  waren  die  einzelnen  Bürger  getroffen 
worden,  da  während  so  langer  Zeit  alle  wirtschaftliche  Tätig- 
keit zum  Stillstand  gekommen  war.  Und  noch  waren  die 
athenischen  Verbündeten  auf  Sicilien  unbezwungen,  und  wer 
vermochte  zu  sagen,  welche  Haltung  Karthago  der  neuen 
politischen  Lage  gegenüber  einnehmen  würde?  Athen  aber 
hatte  die  gute  Hälfte  seiner  Flotte  vor  Syrakus  eingebüßt, 
und  gerade  die  besten  Schiffe;  der  Kern  des  Hoplitenheeres, 
weit  über  2000  Mann,  war  gefallen  oder  lag  gefangen  in  den 
syrakusischen  Steinbrüchen.  Und  die  Kosten  des  Unter- 
nehmens hatten  fast  alle  Überschüsse  aufgezehrt,  die  während 
der  letzten  Friedensjahre  sich  angesammelt  hatten.  Es  war 
eine  Katastrophe,  noch  ungleich  schwerer  als  einst  die  Nieder- 
lage in  Aegypten. 

Gleichwohl  ließ  man  auch  jetzt  in  Athen  den  Mut  nicht 
sinken.    Noch  stand  das  Reich;  noch  immer  besaß  man  eine 


^  Thuk.  VIII  2. 

■'  Thuk.  VII  48,  6;  49, 1. 


374  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Flotte,  die  an  Zahl  wie  an  Tüchtigkeit  jeder  anderen  Seemacht 
in  Griechenland  überlegen  war.  Auch  der  Schatz  war  noch 
keineswegs  völlig  erschöpft,  und  namentlich  der  Reservefonds 
von  1000  Talenten  noch  ganz  unberührt,  den  man  gleich 
zu  Anfang  des  Krieges  für  den  äußersten  Notfall  beiseite 
gelegt  hatte.  Ein  weiterer  glücklicher  Umstand  war  es,  daß 
die  sicilische  Katastrophe  am  Ende  des  Sommers  erfolgt  war, 
so  daß  man  für  dieses  Jahr  keinen  feindlichen  Angriff  mehr 
zu  besorgen  hatte.  Man  hatte  also  den  ganzen  Winter  Zeit, 
für   den  bevorstehenden   Entscheidungskampf  zu   rüsten  ^. 

Natürlich  war  es  jetzt  vorbei  mit  dem  Einfluß  jener 
radikalen  Demagogen,  die  das  sicilische  Unternehmen  ins 
Werk  gesetzt  hatten,  Peisandros,  Androkles,  Demostratos 
und  ihrer  Genossen  ^.  Ja,  man  begann  zu  der  Einsicht  zu 
kommen,  daß  die  unbeschränkte  Demokratie,  wie  Ephialtes 
und  Perikles  sie  begründet  hatten,  überhaupt  unfähig  sei, 
den  Staat  durch  die  Krisis  hindurchzuführen,  die  ihm  bevor- 
stand. Man  erkannte  die  Notwendigkeit,  die  Regierungs- 
gewalt gegenüber  den  wechselnden  Majoritäten  der  Volks- 
versammlung zu  stärken.  So  schritt  man  zur  Verfassungs- 
änderung. Als  höchsteVerwaltungsbehörde  wurde  ein  Kollegium 
von  zehn  Probulen  geschaffen,  durch  Volkswahl  aus  älteren 
bewährten  Männern  besetzt,  denen  ein  wesentlicher  Teil  der 
Funktionen  übertragen  wurde,  die  seit  Kleisthenes  der  Rat 
versehen  hatte  ^.    Auch  die  Leitung  des  Finanzwesens  wurde 


^  Thuk.  VIII  1.  Über  den  Reservefonds,  der  erst  im  nächsten  Jahre  zur 
Verwendung  gelangte,  Thuk.  VIII  15  (vgl.  II  24)  und  Philochoros  fr.  116. 

^  Thuk.  VIII  1,  1  xaXeTToi  |u^v  rjaav  toxc,  Hu)Li7rpo6u|ari6eTöi  tüliv  f)riTÖpuJV 
TÖv  ^kttXouv  —  iliarep  ouk  auToi  ijjriqpiactinevoi,  wie  Thukydides  beißend 
hinzusetzt.  Aristoph.  Lysistr.  490  (aufgeführt  an  den  Lenaeen  411)  beweist 
keineswegs,  daß  Peisandros  noch  nach  der  sicilischen  Katastrophe  leitenden 
Einfluß  hatte;  die  Stelle  geht  auf  die  Zeit  vorher. 

^  Thuk.  VIII  1,  3  und  Aristophanes  Lysistrate  (aufgeführt  Anfang  411). 
Da  die  Probulen  durch  die  Revolution  von  411  beseitigt  wurden,  wissen  wir 
natürlich  über  ihre  Kompetenz  nur  sehr  wenig.  Die  Zehnzahl  bezeugt  Aristot. 
ATT.  29,  2.  Daß  der  Rat  im  wesentlichen  durch  die  Einsetzung  der  Probulen 
depossediert  war,  zeigt  die  Anspielung  bei  Aristoph.  Thesmoph.  808,  vgl.  Wila- 
mowitz,   Aristot.  u.    Athen  II  344. 


Verfassungsrerorm  in  Athen.  —  Steuerreform  im  Reiche.  375 

zum  Teil  dem  Rate  entzogen  und  dafür  eine  neue  Behörde, 
das  Kollegium  der  Poristen,  geschaffen.  In  der  inneren  Ver- 
waltung sollte  die  äußerste  Sparsamkeit  durchgeführt  werden; 
freilich  an  dem  Krebsschaden  des  Budgets,  den  Soldzahlungen 
an  die  Bürger  für  Ausübung  der  politischen  und  richterlichen 
Funktionen,   wagte   man   noch    nicht   zu   rütteln  ^. 

Zugleich  schritt  man  zu  einer  Steuerreform  im  Reiche, 
Die  Tribute  waren  bereits  auf  eine  so  drückende  Höhe  empor- 
geschraubt worden,  daß  an  eine  weitere  Steigerung  nicht  zu 
denken  war,  am  wenigsten  im  jetzigen  Augenblick,  wo  das 
Reich  in  seinen  Grundfesten  wankte.  Man  entschloß  sich 
also,  sie  ganz  zu  beseitigen  und  ersetzte  sie  durch  einen  Wert- 
zoll von  5%  auf  die  gesamte  Ein-  und  Ausfuhr  der  Häfen  des 
Bundesgebietes.  Man  versprach  sich  davon  eine  Erhöhung 
des  finanziellen  Erträgnisses;  ein  weiterer  Vorteil  des  neuen 
Systems  war  es,  daß  jetzt  die  gewaltsame  Eintreibung  rück- 
ständiger Zahlungen  fortfiel,  die  mehr  als  alles  andere  die 
athenische  Herrschaft  verhaßt  gemacht  hatte.  Da  die  Er- 
hebung der  Zölle  durchweg  an  Unternehmer  in  Pacht  gegeben 
wurde,  war  die  Reform  ohne  große  Schwierigkeit  durchführbar; 
der  einzige  Unterschied  gegen  früher  war,  daß  die  Verpachtung 
jetzt  für  Rechnung  des  Reiches  erfolgte.  Allerdings  war  es 
ein  mächtiger  Schritt  auf  der  Bahn  zum  Einheitsstaate,  den 
Athen  damit  tat;  aber  wie  die  Dinge  lagen,  wären  noch  viel 
einschneidendere  Maßregeln  am  Platze  gewesen.  Jedenfalls 
hat  das  System  sich  bewährt;  denn  als  man  im  korinthischen 
Kriege  daran  ging,  das  zerstörte  Reich  wieder  aufzurichten, 
hat  man  nicht  die  Tribute,  wohl  aber  die  Bundeszölle  von 
neuem  ins  Leben  gerufen  ^. 

1  Thuk.  VIII 1,  3,  und  über  die  Poristen  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  249  ff. 
Sie  werden  zuerst  erwähnt  in  Antiphons  Rede  über  den  Choreuten  (49),  die 
spätestens  412  gehalten  ist.  Br.  Keils  Ansatz  auf  425  (Hermes  XXIX,  1894, 
S.  32  ff.  337  ff.)  beruht  nur  auf  seinem  „Kleisthenischen  Staatskalender", 
s.  darüber  unten  2.  Abt,   §  97. 

-  Thuk.  VII  28,  4  erzählt  die  Steuerreform  nach  der  Besetzung  von 
Dekeleia  durch  die  Peloponnesier;  natürlich  ließ  sie  sich  nicht  von  heute  auf 
morgen  durchführen,  sie  wird  also  wohl  kaum  vor  dem  Winter  413/2  ins  Leben 
getreten  sein.     Vgl.  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  43  ff. 


376  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 


Indessen  begann  das  athenische  Reich  zusammenzu- 
brechen. Die  wichtigsten  Inseln,  Euboea,  Lesbos,  Chios, 
schickten  heimlich  Abgesandte  zu  Agis  nach  Dekeleia  oder 
nach  Sparta  selbst  und  erklärten  sich  zum  Abfall  bereit, 
sobald  eine  peloponnesische  Flotte  an  ihren  Küsten  sich  zeige. 
In  Sparta  beschloß  man,  zunächst  Chios  die  Hand  zu  reichen, 
dessen  Anschluß  bei  seiner  starken  Flotte  und  seinen  reichen 
finanziellen  Hilfsquellen  besonders  wertvoll  w^ar.  Es  wurde 
also  in  Korinth  ein  Geschwader  von  21  Trieren  gerüstet  und 
nach  Chios  bestimmt;  doch  waren  die  Korinthier  nicht  zu 
bewegen,  vor  dem  isthmischen  Feste  in  See  zu  gehen,  dessen 
Feier  gerade  bevorstand.  Darüber  erfuhr  man  in  Athen,  was 
im  Werke  war;  und  als  die  Peloponnesier  endlich  ausliefen, 
sahen  sie  sich  von  einer  gleich  starken  athenischen  Flotte 
angegriffen  und  gezwungen,  im  Peiraeos  Zuflucht  zu  suchen, 
einem  einsamen  Hafen  an  der  Grenze  zwischen  Korinth  und 
Epidauros.     Hier  wurden  sie  von  den  Athenern  blockiert  ^. 

Inzwischen  aber  war  ein  Geschwader  von  5  Schiffen, 
unter  dem  Spartaner  Chalkideus,  von  Lakonien  direkt  nach 
Chios  gesegelt.  Sein  Erscheinen  im  Hafen  genügte,  um  die 
Stadt  zum  Anschluß  an  die  Peloponnesier  zu  bestimmen 
(um  Mittsommer  412);  Erythrae,  Klazomenae,  Teos  folgten 
sogleich  dem  Beispiel  der  mächtigen  Nachbarstadt.  Die 
Mannschaft  der  peloponnesischen  Schiffe  blieb  als  Besatzung 
in  Chios  zurück;  Chalkideus  selbst  fuhr  mit  25  chiischen 
Schiffen  weiter  nach  Milet  und  bewog  auch  dieses  zum  Abfall, 
während  ein  anderes  chiisches  Geschwader,  von  Landtruppen 
unterstützt,  die  Teos  benachbarten  Städte  Aerae  und  Lebedos 
zum  Anschluß  an  die  Sache  des  Aufstandes  brachte.  Darauf 
gingen  13  chiische  Schiffe  nach  Lesbos,  wo  die  beiden  wich- 
tigsten Städte,  Methymna  und  Mytilene,  sogleich  zu  ihnen 
übertraten;  dasselbe  taten  Kyme  und  Phokaea  auf  dem  Lesbos 
gegenüberliegenden  Festland  ^. 


>  Thuk.  VIII  5—11. 

-  Thuk.  VIII  11—19,  über  Phokaea  und  Kyme  vgl.  Thuk.  VIII  31.  Die 
Zeit  des  Abfalls  von  Chios  ergibt  sich  aus  der  Folge  der  Ereignisse  bei  Thukydides, 
verglichen  mit  Philoch.  fr.  116.     S.  unten  2.  Abt.  §  103. 


Abfall  loniens.  —  Athen  und  Persien.  377 

Und  nun  trat  auch  Persien  dem  Bündnisse  gegen  Athen 
bei.  Die  Beziehungen  zwischen  beiden  Mächten,  die  zu  keiner 
Zeit  gute  gewesen  waren,  hatten  sich  in  den  letzten  Jahren 
bedeutend  verschlechtert.  Denn  die  kleinasiatischen  Satrapen 
hatten  den  Krieg  Athens  gegen  die  Peloponnesier  benutzt, 
um  ihr  Machtgebiet  in  lonien  und  Karicn  zu  erweitern;  schon 
430  war  Kolophon  von  den  Persern  genommen  worden  ^, 
einige  Jahre  später  lasos  2.  Auch  Sparta  hatte  mit  Persien 
Unterhandlungen  angeknüpft,  die  allerdings  ohne  Ergebnis 
geblieben  waren  ^,  da  Sparta  sich  noch  nicht  entschließen 
konnte,  die  kleinasiatischen  Griechen  dem  Könige  preis- 
zugeben. Demgegenüber  war  natürlich  Athen  bemüht  ge- 
wesen, zu  einer  Verständigung  mit  Persien  zu  kommen,  und 
es  war  denn  auch  nach  König  Dareios'  Thronbesteigung  (424) 
gelungen,  die  Erneuerung  des  mit  Artaxerxes  geschlossenen 
Vertrages  zu  erlangen  ^  Nicht  lange  darauf  (um  420)  brach 
in  Kleinasien  ein  Aufstand  aus;  der  Satrap  von  Sardes, 
Pissuthnes,  erhob  sich  gegen  seinen  Herrn,  wurde  aber  von 
den  königlichen  Truppen  unter  Tissaphernes  gefangen  ge- 
nommen und  zum  Könige  gesandt,  der  ihn  hinrichten  ließ, 
worauf  Tissaphernes  die  erledigte  Satrapie  erhielt  ^.  Doch 
setzte  Pissuthnes'  Sohn  Amorges  in  Karien  mit  griechischen 
Söldnern  den  Kampf  fort.  Da  Athen  in  dieser  Zeit  durch  das 
sicilische  Unternehmen  in  Anspruch  genommen  war,  benutzte 

1  Thuk.  III  34,  1. 

-  lasos  hat  noch  421/0  (CIA.  I  262,  dazu  Wilhelm,  Wietier  Akad.  phil. 
hist.  Kl.  Anz.  1909  S.  50)  Tribut  gezahlt,  war  aber  412  im  Besitze  von  Pissuthnes' 
Sohne  Amorges  (Thuk.  VIII  28,  2). 

3  Thuk.  II  67  (vgl.  Herod.  VII  137),  IV  60,  2. 

^  Aristoph.  Acharn.  61  ff.  (Anfang  425),  Thuk.  IV  50,  3  (Frühjahr  424), 
Andok.  vFr.  29  (Gesandtschaft  des  Epilykos,  Sohnes  des  Peisandros,  die  nach 
dessen  Lebensverhältnissen  nur  in  diese  Zeit  gehören  kann,  vgl.  Kirchner, 
Prosopogr.  I  325,  und  Köhler,  Hermes  XXVII,  1892,  S.  68  ff.);  doch  scheint 
mir  sehr  unwahrscheinlich,  daß  der  Volksbeschluß  für  Herakleides  aus  Klazo- 
menae,  Dittenb.  Syll.  ^  58  sich  auf  diese  Verhandlungen  bezieht. 

^  Ktes.  52;  die  Annahme,  daß  hier  eine  Verwechslung  mit  dem  Aufstande 
des  Amorges  vorliegt  (E.  Meyer  IV  S.  556  A),  scheint  mir  in  keiner  Weise  be- 
gründet; vielmehr  wird  Amorges'  Erhebung  nur  verständlich,  wenn  der  Abfall 
des  Vaters  vorhergegangen  war. 


378  XII,  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

der  neue  Satrap  die  günstige  Gelegenheit,  sich  des  wichtigen 
Ephesos  zu  bemächtigen  ^,  was  dann  die  athenische  Regierung 
veranlaßte,  Amorges  unter  ihren  Schutz  zu  nehmen.  Das  war 
eine  offene  Provokation  Persiens;  und  als  wenig  später  die 
Katastrophe  von  Syrakus  erfolgte,  beschloß  der  König,  seine 
alten  Ansprüche  auf  die  griechischen  Küstenstädte  Klein- 
asiens endlich  zur  Geltung  zu  bringen.  Sogleich,  noch  im 
Winter  413/2,  traten  nun  Pharnabazos,  der  Satrap  von 
Phrygien  am  Hellespont,  und  Tissaphernes  mit  Sparta  in 
Unterhandlungen,  und  sobald  Milet  in  der  Hand  der  Pelo- 
ponnesier  war,  schloß  Tissaphernes  im  Namen  des  Königs 
mit  ihnen  ein  Bündnis  ab.  Die  Peloponnesier  erkannten  das 
Recht  des  Königs  auf  alles  Gebiet  an,  das  ihm  selbst  gehörte, 
oder  seinen  Vorfahren  gehört  hatte.  Der  König  seinerseits 
verpflichtete  sich  dagegen,  der  in  den  asiatischen  Gewässern 
operierenden  peloponnesischen  Flotte  den  Sold  zu  zahlen, 
so  lange  der  Krieg  mit  Athen  dauerte  ^.  Die  Peloponnesier 
sahen  sich  so  mit  einem  Schlage  aller  finanziellen  Sorgen 
enthoben;  allerdings  um  den  Preis  der  Auslieferung  der  asiati- 
schen Griechen  an  die  Barbaren.  Doch  das  ließ  man  sich  im 
Peloponnes  wenig  anfechten;  man  schloß  vielmehr  den  Vertrag 
mit  dem  Hintergedanken,  den  Persern  ihre  Beute  wieder  zu 
entreißen,  sobald  man  erst  mit  Athen  fertig  wäre  ^.  Indes 
auch  Sparta  sollte  die  Erfahrung  machen,  daß  es  nicht  immer 
leicht  ist,  die  Geister  zu  bannen,  die  man  beschworen  hat.  Das 
Beispiel,  das  Sparta  gegeben,  fand  bei  Spartas  Feinden  nur 
zu  bereitwillige  Nachahmung;  und  so  wurde  der  Vertrag  von 
Milet  zum  ersten  Gliede  in  jener  verhängnisvollen  Kette  von 
Ereignissen,  die  den  Großkönig  innerhalb  weniger  Jahrzehnte 

^  Thukydides  berichtet  den  Abfall  der  Stadt  nicht;  gleich  nach  dem 
Abschluß  des  Bündnisses  der  Peloponnesier  mit  Persien  erscheint  sie  auf  pelo- 
ponnesischer  Seite  (VIII  19).  Als  Alkibiades  in  Olympia  siegte  (416),  war 
Ephesos  noch  mit  Athen  verbündet:  Satyros  fr.  1  bei  Athen  XII  534  b  (daraus 
Plut.   Alk.  12). 

^  Ktes.  Pers.  52,  Andok.  vFr.  29,  vgl.  Thuk.  VIII  5,  5. 

3  Über  die  Verhandlungen  Thuk.  VIII  5.  6.  8;  die  Vertragsurkunden 
VIII  18.  37. 

*  Thuk.  VIII  84. 


Bündnis  der  Perser  mit  den  Peloponnesiern.  —  Krieg  in  lonien.      379 

zum  obersten  Schiedsrichter  aller  hellenischen  Angelegenheiten 
erheben  sollte. 

In  Athen  hatte  man  indessen  eifrig  gerüstet;  galt  es 
doch  den  Kampf  um  die  Existenz.  Auf  die  Nachricht  von 
dem  Abfall  von  Chios  faßte  man  den  Beschluß,  die  1000  Talente 
anzugreifen,  die  man  als  letzte  Reserve  für  den  äußersten 
Notfall  zurückgelegt  hatte.  Ein  Geschwader  von  8  Trieren 
unter  Strombichides,  das  sogleich  nach  Samos  hinüberging, 
war  freilich  viel  zu  schwach,  der  überlegenen  Seemacht  von 
Chios  gegenüber  die  Fortschritte  des  Abfalls  zu  hemmen  ^. 
Bald  aber  kamen  Verstärkungen  über  Verstärkungen:  erst 
12  Schiffe  unter  Thrasykles,  dann  16  unter  Diomedon,  endlich 
10  unter  Leon;  und  jetzt  wurden  Lesbos  und  Klazomenae 
zurückerobert,  Milet  blockiert,  auf  Chios  Truppen  ans  Land 
gesetzt  und  die  Bürger  in  mehreren  Treffen  geschlagen,  die 
reiche  Insel  weithin  verheert  ^.  Darüber  gelang  es  dann  aller- 
dings den  im  Peiraeos  eingeschlossenen  peloponnesischen 
Schiffen,  die  athenische  Blockade  zu  durchbrechen  und  sich 
nach  Kenchreae,  dem  Hafen  Korinths  am  Saronischen  Busen 
in  Sicherheit  zu  bringen.  Hier  kam  der  lakedaemonische 
Admiral  Astyochos  auf  die  Flotte  und  fuhr  sogleich  mit  4 
Schiffen  nach  Chios  hinüber  ^. 

Gegen  Ende  des  Sommers  ging  noch  eine  athenische 
Flotte  nach  lonien,  48  Trieren  unter  Phrynichos,  Onomakles 
und  Skironides,  mit  3500  Hopliten  an  Bord,  darunter  1000 
Athener  und  1500  Argeier.  Man  landete  bei  Milet;  die  Bürger 
und  ihre  peloponnesischen  und  persischen  Bundesgenossen 
wurden  vor  der  Stadt  in  offener  Feldschlacht  geschlagen,  und 
eben  schickten  die  Athener  sich  an,  die  Belagerung  zu  be- 
ginnen, als  das  Herannahen  einer  starken  feindlichen  Flotte 
gemeldet  wurde.  Es  waren  55  Trieren,  darunter  22,  die  Syrakus 
und  Selinus  ihren  peloponnesischen  Verbündeten  zu  Hilfe 
gesandt  hatten.  Diesen  Kräften  gegenüber  wagten  die  Athener 
vor  Milet   keine   Seeschlacht,    da   im   Falle   einer  Niederlage- 

1  Thuk.  VIII  15.  16,  Philochoros  fr.  116. 
»  Thuk.  VIII  17.  19.  23.  24. 
"  Thuk.  VIII  20.  23. 


380  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 


ihr  Landheer  verloren  gewesen  wäre;  sie  nahmen  also  die 
Truppen  wieder  an  Bord  und  gingen  nach  Samos  zurück. 
Die  Argeier,  die  in  der  Schlacht  bei  Milet  sehr  schweren  Verlust 
erlitten  hatten,  fuhren  jetzt  weiter  nach  Hause;  und  es  scheint, 
daß  Argos  bald  darauf  mit  Sparta  Frieden  geschlossen  hat, 
wenigstens  hören  wir  von  seiner  Beteiligung  am  Kriege  nichts 
weiter^.  Nun  vereinigten  sich  die  Peloponnesier  mit  den  25 
chiischen  Schiffen,  die  bisher  von  den  Athenern  im  Hafen 
von  Milet  blockiert  gehalten  waren.  Durch  unvermuteten 
Angriff  wurde  lasos,  die  Burg  des  Amorges,  erstürmt,  dieser 
selbst  gefangen  und  an  Tissaphernes  ausgeliefert,  dem  auch 
die  Stadt  übergeben  wurde.  Die  peloponnesischen  Söldner 
des  Amorges  traten  bei  ihren  Landsleuten  in  Dienst  und 
wurden  unter  dem  Befehl  des  Spartaners  Pedaritos  nach  Chios 
gesandt  ^.  Der  lakedaemonische  Admiral  Astyochos  ging  nun 
nach  Milet  und  übernahm  das  Kommando  der  großen  pelo- 
ponnesischen Flotte  ^. 

Die  Athener  hatten  inzwischen  ihr  vor  Chios  liegendes 
Geschwader  nach  Samos  gezogen,  um  den  80  peloponnesischen 
Schiffen  vor  Milet  gewachsen  zu  sein.  Im  Herbst  erhielten 
sie  eine  neue  Verstärkung  von  35  Trieren  und  konnten  nun 
den  Angriff  gegen  Chios  wieder  aufnehmen.  Während  die 
Hauptmacht,  74  Schiffe  bei  Samos  blieb,  gingen  30  Schiffe 
und  ein  Teil  der  Hopliten,  die  bei  Milet  gefochten  hatten, 
nach  Chios,  wo  sie  bei  dem  Tempel  des  Apollon  Delphinios 
im  Norden  der  Stadt  eine  feste  Stellung  einnahmen  ■*.  Chios 
wurde  jetzt  zu  Wasser  und  zu  Land  eingeschlossen;  bald 
begann  Mangel  in  der  Stadt  sich  fühlbar  zu  machen,  die  Sklaven 
liefen  in  Masse  zu  den  Belagerern  über,  unter  den  Bürgern 
erhob  die  attische  Partei  wieder  ihr  Haupt,  und  nur  durch 

1  Thuk.  VIII  25—27. 

2  Thuk.  VIII  28. 

3  Thuk.  VIII  33.  36. 

*  Thuk.  VIII  30.  Die  Summe  der  Einzelposten  VIII  15.  19.  23.  25.  30, 
beträgt  129  Schiffe,  doch  waren  darunter  ÖTrXiTaYWToi  (VIII  25,  1),  die  hier 
nicht  eingerechnet  sind.  Da  es  sich  um  den  Transport  von  3500  Mann  handelte 
und  jede  ÖTrXixaYUJTÖi;  etwa  140  Mann  faßte  (unten  2.  Abt.  §  122),  ergeben  sich 
genau  die  25  fehlenden  Schiffe. 


Belagerung  von  Chios.  —  Abfall  von  Knidos  und  Rhodos.  381 

blutige  Strenge  konnte  Pedaritos  die  Ordnung  aufrecht  er- 
halten. Endlich,  da  von  der  großen  peloponnesischen  Flotte 
kein  Entsatz  kommen  wollte,  suchte  er  sich  durch  einen  Ausfall 
Luft  zu  machen,  erlitt  aber  eine  völlige  Niederlage  und  blieb 
selbst  auf  dem  Platze  ^. 

Inzwischen  war  auch  Knidos  zu  Tissaphernes  und  den 
Peloponnesiern  abgefallen,  und  ein  Versuch  der  Athener, 
die  offene  Stadt  mit  Sturm  wiederzunehmen,  war  vergeblich 
geblieben  ^.  Um  Mittwinter  ging  dann  eine  weitere  Verstärkung 
von  27  Schiffen  aus  dem  Peloponnes  nach  Asien  ab,  wagte 
aber  aus  Furcht  vor  der  überlegenen  athenischen  Flotte  nicht, 
ihren  Kurs  direkt  auf  Milet  zu  nehmen,  und  gelangte  so  endlich 
nach  Kaunos  an  der  Südküste  Kariens.  Um  die  Vereinigung 
dieses  Geschwaders  mit  der  peloponnesischen  Hauptmacht  zu 
hindern,  sandten  die  Athener  aus  Samos  20  Trieren  unter 
Charminos  in  die  Gewässer  bei  Rhodos,  wurden  aber  bei 
der  kleinen  Insel  Syme  unvermutet  von  der  großen  pelo- 
ponnesischen Flotte  unter  Astyochos  angegriffen  und  mit 
Verlust  von  6  Schiffen  geschlagen.  Der  lakedaemonische 
Admiral  zog  nun  das  Geschwader  in  Kaunos  an  sich  und  wandte 
sich  dann,  94  Trieren  stark,  gegen  Rhodos,  das  sogleich  zu 
ihm  übertrat;  die  Mannschaft  der  Flotte  nahm  für  den  Rest 
des  Winters   Quartier  auf  der  reichen   Insel  ^. 

So  blieb  den  Athenern  jetzt,  am  Anfang  des  Jahres  411, 
in  lonien  und  Karlen  wenig  mehr  als  die  Inseln  Lesbos,  Samos 
und  Kos  und  die  Küstenplätze  Halikarnassos,  Notion  und 
Klazomenae.  Allerdings  stand  ihre  Herrschaft  am  Helles- 
pont,  in  Thrakien  und  auf  den  Kykladen  noch  unerschüttert; 
aber  niemand  konnte  zweifeln,  daß  auch  hier  der  Abfall  be- 
ginnen würde,  sobald  eine  peloponnesische  Flotte  sich  zeigte. 
Und  überhaupt  war  nicht  abzusehen,  wie  Athen  gegenüber 
der    Koalition    zwischen    den    Peloponnesiern,    Syrakus    und 


1  Thuk.  VIII  31—34.  38—40.  55. 

-  Thuk.  VIII  35. 

=*  Thuk.  VIII 39.  41 — 44.  Anspielung  auf  die  Niederlage  bei  Syme  Aristoph. 
Thesmophor.  804  (aufgeführt  einige  Monate  später,  an  den  Dionysien  411,  vgl. 
Wilamowitz,  Aristoteles  II  343  ff.). 


382  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Persien  sich  auf  die  Länge  behaupten  SDÜte;  wenn  nichts 
anderes,  mußte  die  finanzielle  Erschöpfung  den  Ruin  des 
Staates  herbeiführen.  Denn  der  Schatz  ging  zur  Neige,  während 
die  Einkünfte  durch  die  feindliche  Besetzung  von  Dekeleia 
und  den  Abfall  von  lonien  sich  sehr  beträchtlich  vermindert 
hatten;  und  demgegenüber  erforderte  der  Seekrieg  immer 
wachsende  Mittel  ^. 

Unter  diesen  Umständen  gewann  in  Athen  die  oligarchische 
Bewegung  an  Boden;  die  Zeit  schien  gekommen,  zu  vollenden, 
was  man  nach  der  sicilischen  Katastrophe  begonnen  hatte. 
Ein  großer  Teil  der  geistigen  und  gesellschaftlichen  Elite 
Athens  vereinigte  sich  zu  dem  Werke  des  Umsturzes.  An  die 
Spitze  trat  Antiphon  von  Rhamnus,  einer  der  ersten  Redner 
und  der  erste  Rechtsanwalt  seiner  Zeit,  ein  Mann,  der  aus 
seiner  oligarchischen  Gesinnung  nie  ein  Hehl  gemacht  und 
eben  darum  bisher  vom  öffentlichen  Leben  sich  möglichst 
zurückgehalten  hatte.  Neben  ihm  stand  eine  ganze  Reihe 
philosophisch  und  rhetorisch  gebildeter  Männer,  so  Archepto- 
lemos  von  Agryle,  ein  Sohn  des  berühmten  Architekten  und 
Staatslehrers  Hippodamos  von  Milet,  dem  zum  Lohn  seiner 
Verdienste  das  athenische  Bürgerrecht  verliehen  worden 
war,  der  Sophist  Andron,  der  Tragödiendichter  Melanthios, 
vor  allen  Theramenes  von  Steiria,  dessen  Vater  Hagnon  einst 
mit  Perikles  eng  befreundet  gewesen  war,  und  jetzt,  im  hohen 
Alter,  als  einer  der  Probulen  an  der  Spitze  der  Regierung  stand. 
Dazu  kam  dann  eine  große  Anzahl  anderer  Männer  aus  den 
ersten  Familien  der  Stadt,  wie  Melesias  von  Alopeke,  der 
Sohn  jenes  Thukydides,  der  vor  einem  Menschenalter  mit 
Perikles  um  die  erste  Stelle  im  Staate  gerungen  hatte,  gewesene 
Strategen  wie  Aristarchos,  Aristokrates,  Laespodias,  praktische 
Politiker  wie  Peisandros,  ein  alter  Demokrat  und  Anhänger 
Kleons,  der  jetzt  seine  Schwenkung  zum  Oligarchen  vollzog  ^. 
Außerdem  konnte  man  auf  die  Unterstützung  der  Regierung 

^  Vgl.  Thuk.  VII  28,  4;  76,  6. 

*  Thuk.  VIII  68.  Die  weiteren  Belege  bei  Wattenbach,  De  Quadring. 
Athenis  /actione  (Dissert.  Berlin  1842)  S.  42—46,  und  Gilbert,  Beiträge  S.  307 
bis  313. 


Oligarchische  Bewegung  in  Athen.  —  Alkibiades  in  der  Verbannung-     383 

zählen,  da  die  Probulen  in  Athen  ebenso  wie  die  Mehrzahl 
der  Offiziere  der  Flotte  auf  Samos  der  Verfassungsänderung 
günstig  gesinnt  waren  ^. 

Auch  Alkibiades  war  bereit,  die  Bewegung  zu  fördern. 
Seit  seiner  Verbannung  hatte  er  nur  den  einen  Gedanken 
gehabt,  sich  die  Rückkehr  in  die  Heimat  zu  öffnen:  und  er 
wußte  sehr  wohl,  daß  das  nur  möglich  war,  wenn  Athen  durch 
schwere  Niederlagen  gedemütigt  würde.  So  hatte  er  denn 
kein  Bedenken  getragen,  mit  Aufgebot  seines  ganzen  Ein- 
flusses in  Sparta  zum  Kriege  gegen  seine  Vaterstadt  zu  drängen, 
und  als  der  Krieg  endlich  ausgebrochen  war,  den  ionischen 
Aufstand  nach  Kräften  zu  fördern  ^.  In  Milet  war  er  dann  in 
intime  Beziehungen  zu  Tissaphernes  getreten  und  hatte  sich 
dadurch  den  Lakedaemoniern  verdächtig  gemacht,  deren 
gutes  Einvernehmen  mit  dem  Satrapen  eben  damals  merk- 
lich zu  erkalten  begann.  Denn  Tissaphernes  erkannte  sehr 
wohl,  daß  es  den  Peloponnesiern  nur  um  die  persischen  Sub- 
sidiengelder  zu  tun  war,  daß  sie  aber  sehr  wenig  geneigt  waren, 
die  Griechen  Asiens  dem  Könige  auszuliefern.  Unter  diesen 
Umständen  wurde  Alkibiades  in  Milet  der  Boden  zu  heiß; 
er  ging  also  an  den  Hof  des  Satrapen  und  tat  hier  sein  Möglichstes, 
den  Bruch  zwischen  den  Verbündeten  zu  erweitern.  Und 
wirklich  begann  Tissaphernes  jetzt,  der  peloponnesischen 
Flotte  den  Sold  nur  noch  unregelmäßig  und  in  vermindertem 
Betrage  zu  zahlen  ^. 

Nun  knüpfte  Alkibiades  Unterhandlungen  mit  den 
athenischen  Offizieren  auf  Samos  an.  Er  versprach  ein  Bündnis 
zwischen  Athen  und  dem  Könige  zu  vermitteln,  stellte  aber 
die  Bedingung,  daß  die  ,, Lumpendemokratie"  gestürzt  würde, 
die  ihn  vor  vier  Jahren  in  die  Verbannung  getrieben  hatte. 


^  über  die  Haltung  der  Probulen  Lysias  12  (g.  Eratosth.)  65,  Aristo t. 
Rhet.  III  1419  a,  über  die  Offiziere  auf  Samos  namentlich  Thuk.  VIII  76,  2, 
vgl.  47,  2  und  öfter. 

2  Thuk.  VI  88—92,  VII  18,  1.  Thukydides  sieht  diese  Ereignisse  durch 
die  Brille  des  athenischen  Verbannten,  und  ist  darum  geneigt,  den  Anteil,  den 
Alkibiades  daran  hatte,  zu  überschätzen. 

3  Thuk.  VIII  45.  46. 


384  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie, 

Mit  diesem  Bescheid  ging  Peisandros,  der  als  Trierarch  auf 
der  Flotte  diente,  von  Samos  nach  Athen.  Dort  brach  natürlich 
zuerst  ein  Sturm  des  Unwillens  über  diese  Forderung  aus, 
endlich  aber  siegte  die  Einsicht,  daß  für  Athen  keine  Rettung 
zu  hoffen  sei,  so  lange  die  Peloponnesier  und  der  Perserkönig 
vereinigt  ihm  gegenüberständen.  Das  Volk  beschloß  also, 
eine  Gesandtschaft  an  Tissaphernes  zu  schicken,  um  auf  der 
von  Alkibiades  bezeichneten  Grundlage  zu  verhandeln  ^. 

Es  zeigte  sich  nun  freilich,  daß  Alkibiades  mehr  ver- 
sprochen hatte,  als  er  zu  halten  imstande  war;  denn  Tissa- 
phernes war  keineswegs  geneigt,  es  zum  offenen  Bruche  mit 
den  Peloponnesiern  zu  treiben,  welche  die  ganze  Küste  seiner 
Satrapie  beherrschten,  und  deren  Flotte  gegenüber  er  voll- 
ständig machtlos  war.  Er  stellte  also  den  athenischen  Ge- 
sandten unannehmbare  Bedingungen  und  schloß  dann  so- 
gleich einen  neuen  Vertrag  mit  den  Peloponnesiern,  wie  diese 
ihn  wünschten.  Danach  wurde  ,,das  Land  des  Königs,  soweit 
es  in  Asien  liegt"  als  persischer  Besitz  anerkannt,  die  Frage 
aber,  ob  die  griechischen  Städte  an  der  Küste  dazu  gehören 
sollten,  mit  Stillschweigen  übergangen;  dagegen  verpflichtete 
sich  Tissaphernes,  der  peloponnesischen  Flotte,  die  jetzt  in 
den  asiatischen  Gewässern  lag,  den  Sold  w^eiterzuzahlen, 
bis  der  König  selbst  eine  Flotte  in  das  Aegaeische  Meer  schicken 
würde;  der  Frieden  mit  Athen  sollte  nur  unter  Zustimmung 
beider  Kontrahenten  geschlossen  werden  ^. 

So  war  Athen  von  einer  Verständigung  mit  Persien 
entfernter  als  je;  aber  die  Sachen  waren  jetzt  so  weit  ge- 
diehen, daß  die  Oligarchen  auch  ohne  das  hoffen  konnten, 
ihre  Pläne  durchzusetzen.  In  Athen  selbst  ging  denn  auch 
alles  ganz  glatt.  Noch  während  der  Verhandlungen  waren 
Androkles  und  andere  Führer  der  radikalen  Demokratie 
durch  Meuchelmord  aus  dem  Wege  geräumt  worden;  das 
Volk  war  vollständig  terrorisiert,  und  als  die  Gesandten  von 
Tissaphernes    zurückkamen,    fanden    sie    alles    für    die    Ver- 


'  Thuk.  VIII  53.  54. 

'  Thuk.  VIII  56—57,  die  Urkunde  58. 


Oligarchie  der  Vierhundert.  Ö85 

fassungsänderung  vorbereitet.  Es  hätte  kaum  des  militärischen 
Rückhaltes  bedurft,  den  die  Umsturzpartei  durch  Heran- 
ziehung von  Hopliten  von  den  Kykladen  und  aus  Aegina 
sich  sicherte.  Dank  der  Mitwirkung  der  Regierung  verlief 
alles  in  gesetzlichen  Formen;  ein  Volksbeschluß  hob  die  be- 
stehende Demokratie  auf  und  beschränkte  die  politischen 
Rechte  auf  die  5000  wohlhabendsten  Bürger.  Der  erloste  Rat 
der  500,  der  schon  durch  die  Einsetzung  der  Probulen  vor 
zwei  Jahren  eines  wesentlichen  Teiles  seiner  Kompetenz 
entkleidet  worden  war,  wurde  jetzt  gänzlich  beseitigt;  man 
zahlte  den  Mitgliedern  ihren  Sold  bis  zum  Ende  des  Jahres 
aus  und  schickte  sie  dann  einfach  nach  Hause  (14.  Thargelion, 
Ende  Mai  411).  An  die  Stelle  des  aufgelösten  Rates  trat  ein 
neuer  Rat  von  400  Mitgliedern,  die  zunächst  von  den  Führern 
der  Bewegung  gewählt  wurden,  später  aber  durch  Wahl  aus 
den  5000  bestellt  werden  sollten.  Dieser  Rat  erhielt  unbe- 
schränkte Machtvollkommenheit,  erwählte  aus  seiner  Mitte 
die  Strategen  und  die  übrigen  Behörden,  und  es  blieb  seinem 
Ermessen  anheimgegeben,  ob  und  wann  er  die  Versammlung 
der  5000  berufen  wollte.  Außerdem  wurde  der  Grundsatz 
aufgestellt,  daß  fortan  niemand  mehr  für  die  Verwaltung  von 
Staatsämtern  Besoldung  empfangen  sollte;  bei  der  bedrängten 
Finanzlage  eine  sehr  heilsame  Maßregel  ^. 

Gleichzeitig  war  man  auch  auf  Samos  zur  Aktion  ge- 
schritten. Hier  war  im  vorigen  Sommer  eine  Erhebung  des 
Demos  gegen  die  Grundbesitzer  erfolgt,  bei  der  200  der  letzteren 
erschlagen,  400  verbannt  worden  waren;  die  übrigen  Grund- 
besitzer, die  man  geschont  hatte,  waren  aller  politischen 
Rechte  beraubt  worden.  Infolgedessen  hatte  Athen  den 
Samiern  die  Autonomie  zurückgegeben,  die  sie  nach  dem 
Aufstande  des  Jahres  440  verloren  hatten  ^.  Jetzt  hielten 
die  Besitzenden  auf  Samos  den  Augenblick  für  gekommen, 
ihre  herrschende    Stellung  auf   der  Insel  zurückzugewinnen; 

1  Thuk.  VIII  65—70,  Aristoteles  ATT.  29.  32  (Kap.  30—31)  beziehen 
sich  auf  die  nach  dem  Sturz  der  Vierhundert  durch  Theramenes  eingeführte 
Verfassung,  s.  unten  2.  Abt.   §  131  ff. 

2  Thuk.  VIII  21,  athenischer  Volksbeschluß  für  die  Samier  CIA.   1  56. 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  25 


386  Xri.  Abschnitt,  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

sie  verbanden  sich  also  mit  den  oligarchisch  gesinnten  Offizieren 
der  athenischen  Flotte.  Wie  in  Athen,  begannen  die  Ver- 
schwörer auch  hier  damit,  ihren  entschiedensten  Gegner 
durch  Mord  auf  die  Seite  zu  schaffen,  jenen  Demagogen  Hyper- 
bolos,  der  vor  6  Jahren  durch  den  Ostrakismos  aus  Athen 
verbannt,  auf  Samos  die  Zeit  seiner  Rückkehr  erwartete 
(oben  S.  351).  Die  große  Mehrzahl  der  athenischen  Flotten- 
mannschaften aber  war  gut  demokratisch  gesinnt  und  ver- 
weigerte ihren  Offizieren  den  Gehorsam.  So  wurde  die  oli- 
garchische  Erhebung  mit  Leichtigkeit  niedergeschlagen;  die 
Strategen  und  ein  Teil  der  Subalternoffiziere  der  Flotte  wurden 
abgesetzt  und  neue  Strategen  gewählt,  darunter  die  bisherigen 
Trierarchen  Thrasybulos  und  Thrasyllos,  die  sich  an  die  Spitze 
der  demokratischen  Bewegung  gestellt  hatten.  Das  ganze 
Heer  und  alle  Bürger  von  Samos  verpflichteten  sich  durch 
feierlichen   Eidschwur,    an   der   Demokratie   festzuhalten  ^. 

Es  fragte  sich,  was  weiter  geschehen  sollte.  Denn  zwischen 
der  peloponnesischen  Flotte  und  der  Oligarchie  in  Athen 
befanden  die  Demokraten  auf  Samos  sich  in  einer  nahezu 
verzweifelten  Lage.  Nur  einen  Mann  gab  es,  der  vielleicht 
Rettung  bringen  konnte:  Alkibiades.  Man  rief  ihn  also  nach 
Samos  und  wählte  ihn  zum  Strategen,  was  bei  Alkibiades' 
überlegener  Persönlichkeit  auf  dasselbe  hinauslief,  als  ob 
man  ihn  zum  Oberbefehlshaber  der  Flotte  bestellt  hätte. 
Freilich,  ein  Bündnis  mit  Tissaphernes,  auf  das  man  gehofft 
hatte,  kam  auch  jetzt  nicht  zustande;  aber  der  Satrap  wurde 
doch  wieder  lauer  in  der  Unterstützung  der  Peloponnesier, 
und  vor  allem,  er  sandte  eine  phoenikische  Flotte  von  147 
Trieren  zurück,  die  bereits  bis  nach  Aspendos  in  Pamphylien 
gelangt  war,   und   deren  Erscheinen  im  Aegaeischen    Meere, 


1  Thuk.  VIII  72—76.  Nach  Thukydides  (73,  2)  wäre  die  oligarchische 
Reaktion  auf  Samos  von  denselben  Leuten  ausgegangen,  die  ein  halbes  Jahr 
früher  die  demokratische  Bewegung  gemacht  hatten.  Das  ist  höchst  unwahr- 
scheinlich; das  treibende  Element  sind  doch  offenbar  die  entrechteten  Geomoren 
gewesen  (vgl.  Thuk.  VIII  63,  3).  Immerhin  mag  ja  auch  auf  Samos  mancher 
Demokrat  die  Farbe  gewechselt  haben.  • 


Sieg  der  Demokraten  auf  Samos.  —  Alkibiades  Oberfeldherr.         387 

menschlicher  Voraussicht  nach,  das  sichere  Verderben  Athens 
herbeigeführt  haben  würde  ^. 

Die  Regierung  in  Athen  suchte  jetzt  eine  Verständigung 
mit  der  Flotte;  und  Alkibiades  wies  die  gebotene  Hand  nicht 
zurück.  Sein  Ansehen  bewirkte  es,  daß  die  Mannschaft  von 
dem  Verlangen  abstand,  gegen  denPeiraeeus  geführt  zu  werden, 
was  den  Verlust  aller  athenischen  Besitzungen  in  lonien  und 
am  Hellespont  zur  Folge  gehabt  haben  würde.  Ja,  er  erklärte 
sich  sogar  bereit,  die  Oligarchie  der  Fünftausend  anzuerkennen, 
nur  müsse  der  erloste  Rat  der  Fünfhundert  wieder  hergestellt, 
und  die  Herrschaft  der  Vierhundert  beseitigt  werden  ^. 

Diese  Sprache  verfehlte  in  Athen  ihre  Wirkung  nicht. 
Die  gemäßigten  Mitglieder  des  Regierungskollegiums  waren 
bereit,  Alkibiades  entgegenzukommen;  Antiphon  freilich  und 
seine  ultra-oligarchischen  Freunde  waren  so  weit  gegangen, 
daß  es  für  sie  keinen  Rückzug  mehr  gab.  Aber  sie  sahen,  wie 
der  Boden  unter  ihren  Füßen  wankte,  und  so  griffen  sie  nach 
der  einzigen  Rettung,  die  ihnen  noch  blieb,  der  Verständigung 
mit  Sparta  um  jeden  Preis.  Schon  unmittelbar  nach  der 
Einsetzung  der  Oligarchie  waren  Friedensunterhandlungen 
eröffnet  worden,  aber  an  den  unannehmbaren  Forderungen 
gescheitert,  die  Sparta  bei  der  Gunst  der  politischen  Lage 
stellen  zu  dürfen  geglaubt  hatte;  jetzt  war  Antiphon  bereit, 
auf  alles  einzugehen  und  sogar  die  Selbständigkeit  des  Staates 
zu  opfern,  wenn  nur  die  Oligarchie  bestehen  blieb.  Freilich 
die  Zustimmung  der  Bürgerschaft  oder  auch  nur  der  Majorität 
des  Ratskollegiums  zu  solchen  Bedingungen  zu  erlangen, 
war  keine  Aussicht;  es  mußte  also  Vorsorge  getroffen  werden, 
den  Plan  nötigenfalls  auch  gegen  den  Willen  des  Volkes  ins 
Werk  zu  setzen.  Zu  diesem  Zwecke  schritt  die  Regierung 
zur  Befestigung  der  Landzunge  Eetioneia,  von  der  die  Ein- 
fahrt in  den  Peiraeeus  beherrscht  wird,  und  deren  Besitz 
ihr  die  Möglichkeit  gegeben  hätte,   jederzeit  eine  peloponne- 


1  Thuk.  VIII  81—85.  87. 

2  Thuk.  VIII  82.  86  (Dublette,  vgl.  Holzapfel,  Hermes  XXVIII,  1893, 
S.  462). 

3  Thuk.  VIII  70.  71.  86,9. 

25* 


388  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

sische  Flotte  in  den  Hafen  einzulassen  und  dadurch  Athen 
widerstandslos  in  die  Hand  des  Feindes  zu  spielen  ^. 

Aber  die  Oligarchie  beschleunigte  damit  nur  ihren  eigenen 
Sturz.  Die  Befestigung  von  Eetioneia  erregte  allgemein 
Argwohn,  und  eines  der  einflußreichsten  Mitglieder  der  Re- 
gierung, der  Stratege  Theramenes,  trat  an  die  Spitze  der 
Opposition.  Phrynichos,  einer  der  fähigsten  Führer  der 
Oligarchie,  der  als  Stratege  auf  Samos  befehligt  hatte  (oben 
S.  379),  wurde  auf  offenem  Markte  erschlagen,  und  der  An- 
stifter des  Mordes  blieb  unentdeckt.  Als  nun  eine  peloponne- 
sische  Flotte  bei  Aegina  erschien,  brach  unter  den  Hopliten 
im  Peiraeeus  eine  offene  Meuterei  aus.  Die  Befestigung  von 
Eetioneia  wurde  niedergerissen,  dann  zogen  die  Hopliten 
hinauf  nach  der  Stadt.  Doch  trugen  beide  Teile  Bedenken, 
die  Sache  zum  äußersten  zu  treiben;  es  wurde  also  ein  Kom- 
promiß geschlossen,  in  dem  die  Regierung  sich  verpflichtete, 
endlich  das  Verzeichnis  der  5000  Bürger  zusammenzustellen, 
die  fortan  zur  Ausübung  der  politischen  Rechte  befugt  sein 
sollten.  Die  Versammlung  dieser  5000  würde  dann  aus  ihrer 
Mitte  ein  neues  Ratskollegium  wählen  und  damit  der  Staat 
wieder   zu   verfassungsmäßigen   Zuständen   zurückkehren  ^. 

Die  militärische  Aktionsfähigkeit  Athens  war  durch 
alle  diese  Ereignisse  natürlich  schwer  beeinträchtigt  worden, 
und  die  Gegner  säumten  nicht,  ihren  Vorteil  davon  zu  ziehen. 
Noch  im  Winter,  während  der  oligarchische  Staatsstreich  vor- 
bereitet wurde,  fiel  Oropos,  die  athenische  Untertanenstadt 
an  der  Nordgrenze  Attikas,  durch  Verrat  in  die  Hand  der 
Boeoter  ^.  Mit  Anbruch  des  Frühjahres  (411)  zog  der  Spar- 
taner Derkylidas  mit  einem  kleinen  Truppenkorps  zu  Lande 
von  Milet  nach  dem  Hellespont,  wo  sich  Abydos  und  Lam- 


1  Thuk.  VIII  89.  90.  Die  Erzählung  des  Aristoteles  (An.  32)  ist  auch 
hier  ganz  ungenügend;  wir  lernen  daraus  nur,  daß  die  400  zuerst  auf  der  Grund- 
lage des  gegenwärtigen  Besitzstandes  mit  Sparta  zu  unterhandeln  suchten,  was 
Thukydides  mit  Recht,  als  unwesentlich,  nur  beiläufig  andeutet  (VIII  91,  3). 

^  Thuk.  VIII  91 — 93.  Über  Phrynichos'  Ermordung  vgl.  Lysias  gAgoratos 
70  iT.  und  CIA.  I  59.     Charakteristik:  Thuk.  VIII  27.  48. 

3  Thuk.  VIII  60,  vgl.   [Lys.J  20,  6. 


Aufstand  in  Athen.  —  Oropos.  —  Abfall  des  Hellespont.  = —  Thasos.     389 

psakos  sogleich  an  ihn  anschlössen.  Die  letztere  Stadt  wurde 
freilich  bald  von  den  Athenern  zurückerobert,  die  auf  die 
Nachricht  von  diesen  Vorfällen  mit  24  Schiffen  von  Chios 
herankamen.  Darüber  aber  mußte  die  Blockade  von  Chios 
aufgehoben  werden;  nur  das  Delphinion  blieb  nach  wie  vor 
von  den  Athenern  besetzt  ^.  Als  dann  im  Sommer  ein  pelo- 
ponnesisches  Geschwader  von  10  Trieren  im  Hellespont  sich 
zeigte,  fiel  auch  das  wichtige  Byzantion  von  Athen  ab;  die 
Nachbarstädte  Kalchedon,  Selymbria,  Perinthos,  Kyzikos 
folgten  gleich  darauf  diesem   Beispiel  ^. 

So  war  auch  die  hellespontische  Provinz  im  wesent- 
lichen für  die  Athener  verloren;  es  blieb  ihnen  hier  jetzt  kaum 
mehr  als  der  thrakische  Chersones,  der  von  athenischen 
Kleruchen  besetzt  war  (oben  S.  198),  und  Lampsakos  am 
asiatischen  Ufer.  Und  auch  in  der  thrakischen  Provinz  begann 
der  Abfall  um  sich  zu  greifen.  Die  wichtigste  Bundesstadt 
in  diesem  Teile  des  Reiches  war  Thasos,  das  vor  der  Tribut- 
erhöhung von  424  an  Athen  jährlich  30  Talente  gezahlt  hatte 
und  jetzt  wahrscheinlich  mehr  als  das  Doppelte  dieser  Summe 
steuerte.  Hier  hatten  die  athenischen  Oligarchen  im  Frühjahr 
die  demokratische  Verfassung  gestürzt  und  ihre  eigenen 
Parteigenossen  ans  Ruder  gebracht;  die  neue  Regierung  schritt 
sogleich  dazu,  die  Befestigungen  der  Stadt  wieder  aufzurichten, 
die  einst  Kimon  vor  einem  halben  Jahrhundert  niedergerissen 
hatte,  und  trat  in  Unterhandlungen  mit  den  Peloponnesiern, 
Im  Herbst  sagte  Thasos  sich  von  Athen  los.  Ebenso  das 
kaum  weniger  mächtige  Abdera  an  der  gegenüberliegenden 
Küste  des  Festlandes  '"*. 


^  Thuk.  VIII  61 — 63.  Thukydides  berichtet  seitdem  nichts  mehr  von 
Kämpfen  bei  Chios.  Das  Delphinion  ist  erst  406  von  den  Peloponnesiem  ge- 
nommen worden,  s.  unten  S.  418. 

2  Thuk.  VIII  80.  Über  Kyzikos  Thuk.  VIII  107,  1;  Diod.  XIII  40,  6; 
der  Abfall  von  Kalchedon,  Selymbria,  Perinthos  wird  in  unseren  Quellen  nicht 
erwähnt,  wir  finden  diese  Städte  aber  zu  Anfang  des  folgenden  Jahres  auf  der 
peloponnesischen  Seite,  s.  unten  S.  395. 

3  Thuk.  VIII  64.  Über  den  Abfall  von  Thasos  Kratippos,  II  4;  da 
Thukydides  ihn  nicht  mehr  erzählt,  wird  er  erst  im  Herbst  erfolgt  sein.  Xen. 


390  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Im  Spätsommer,  etwa  Anfang  September,  erschien 
dann  eine  peloponnesische  Flotte  von  42  Schiffen  unter  dem 
Spartaner  Agesandridas  in  den  Gewässern  von  Euboea,  dieselbe 
Flotte,  die  soeben  Aegina  und  den  Peiraeeus  bedroht  hatte 
(oben  S.  388).  In  aller  Eile  bemannte  man  jetzt  in  Athen, 
was  von  Schiffen  zur  Hand  war,  und  sandte  dies  Geschwader 
zum  Schutze  der  Insel  dem  Feinde  entgegen;  es  waren  mit 
den  schon  bei  Euboea  liegenden  Schiffen  im  ganzen  36  Trieren. 
Vor  Eretria  kam  es  zur  Schlacht,  in  der  Agesandridas  über 
die  schlecht  ausgerüsteten  und  mit  ungeübter  Mannschaft 
besetzten  Schiffe  des  Gegners  mit  leichter  Mühe  den  Sieg 
gewann;  22  Trieren  fielen  in  seine  Hände.  Jetzt  erhob  sich 
Eretria  gegen  die  athenische  Herrschaft  und  bald  auch  die 
übrigen  Städte  der  Insel  mit  Ausnahme  natürlich  der  atheni- 
schen Kleruchengemeinde  Oreos  ^.  Die  bei  weitem  wertvollste 
seiner  auswärtigen   Besitzungen  war  für  Athen  verloren. 

Die  Nachricht  von  diesen  Vorgängen  brachte  in  Athen 
eine  Panik  hervor,  schlimmer  als  vor  2  Jahren  die  Kunde 
von  der  Katastrophe  in  Sicilien.  Jeden  Augenblick  erwartete 
man  die  feindliche  Flotte  vor  dem  Peiraeeus  zu  sehen,  was 
bei  der  inneren  Zwietracht,  die  in  der  Stadt  herrschte,  von 
unabsehbaren  Folgen  hätte  sein  können.  Mindestens  lag  es 
in  der  Hand  der  Sieger,  Athen  die  Verbindungen  zur  See 
abzuschneiden  und  damit  die  bei  Samos  liegende  Flotte  zu 
zwingen,  zum  Entsätze  der  Stadt  nach  Griechenland  herüber- 
zukommen. Indes  die  Peloponnesier  fanden  zu  einem  so 
energischen  Entschluß  nicht  die  Kraft,  und  so  war  das 
Schlimmste  für  diesmal  noch  abgewendet  ^. 

Die   Oligarchie  in  Athen  brach  jetzt,   unter   dem  Ein- 

Hell.  1 1,  32  hat  mit  Thasos  nichts  zu  tun,  s.  unten  Abt.  §  105.  Über  Abdera 
Diod.  XIII  72,  2. 

1  Thuk.  VIII  95,  vgl.  [Lys.]  20,  14,  Dittenb.  Syll.  «  47.  48.  Die  Zeit  dieser 
Ereignisse  ergibt  sich  aus  Aristot.  ATT.  33,  1,  wonach  der  Sturz  der  Vierhundert 
Ende  Metageitnion  oder  Anfang  Boedromion  411/0  erfolgt  ist.  —  Die  Inseln 
im  Norden  Euboeas  blieben  Athen  treu,  mindestens  Skiathos  (CIA.  IV  1,  62  b 
S.  166  f.).  Dagegen  ist  Andres  bald  dem  Beispiel  Euboeas  gefolgt,  jedenfalls 
vor  407,  wo  wir  es  auf  peloponnesischer  Seite  finden  (Xen.  Hell.  I  6,  21). 

^  Thuk.  VIII  96. 


Abfall  Euboeas.  —  Sturz  der  Vierhundert.  —  Die  neue  Verfassung.     391 

druck  der  Niederlage,  widerstandslos  zusammen,  und  Thera- 
menes  ergriff  die  Leitung  des  Staates.  Der  Rat  der  Vier- 
hundert wurde  aufgelöst,  die  Entscheidung  über  alle  Staats- 
angelegenheiten in  die  Hand  der  Versammlung  der  „Fünf- 
tausend" gelegt;  dazu  sollten  alle  die  gehören,  die  imstande 
wären,  auf  eigene  Kosten  als  Hopliten  zu  dienen,  also  die 
Bürger  der  drei  oberen  solonischen  Schatzungsklassen.  Aus 
der  Mitte  dieser  sog.  Fünftausend  —  in  Wahrheit  waren  es 
9000  —  wurde  eine  neue  Ratsversammlung  gewählt,  ebenfalls 
von  400  Mitgliedern,  nach  boeotischem  Vorbilde  (oben  S.  181) 
in  vier  Sektionen  geteilt,  von  denen  immer  eine  den  Vorsitz 
hatte.  Die  Strategen  und  die  übrigen  Wahlbeamten,  zu  denen 
fortan  auch  die  Archonten  und  die  Schatzmeister  der  Göttin 
und  der  ,, anderen  Götter"  gehören  sollten,  wurden  aus  dem 
Rate  genommen,  die  Losbeamten  aus  den  übrigen  voll- 
berechtigten Bürgern.  Zur  Reform  des  geltenden  Rechts  wurde 
eine  Kommission  von  Nomotheten  eingesetzt.  An  dem  Grund- 
satze, daß  niemand  für  die  Verwaltung  von  Staatsämtern 
Bezahlung  erhalten  sollte,  wurde  festgehalten.  Um  die  Ver- 
ständigung mit  der  Flotte  anzubahnen,  wurde  das  Verbannungs- 
dekret gegen  Alkibiades  aufgehoben,  doch  waren  die  Mann- 
schaften nicht  zur  Anerkennung  der  neuen  Verfassung  zu 
bringen  und  blieben  unter  ihren  selbstgewählten  Strategen. 
Immerhin  wurde  wenigstens  erreicht,  daß  die  Flotte  ihre 
feindselige  Haltung  gegen  die  Regierung  in  Athen  aufgab 
und  mit  dieser  zusammenwirkte  ^. 

Von  den  Führern  der  gestürzten  Oligarchie  hatten  die 
meisten  sich  rechtzeitig  nach  Dekeleia  in  Sicherheit  gebracht; 
sie  wurden  jetzt,  im  Kontumazverfahren,  zum  Tode  verurteilt 
und  ihre  Güter  eingezogen.  Nur  Antiphon  und  Archeptolemos 
wurden    gefangen    und   hingerichtet  trotz  der  meisterhaften 


^  Thuk.  VIII  97.  Diod.  XIII 38, 2;  42, 2.  Die  Angaben  bei  Aristot.  ATT. 
30.  31  beziehen  sich  auf  die  Verfassung  des  Theramenes,  nicht,  wie  Aristoteles 
glaubte,  auf  die  Oligarchie  der  Vierhundert,  s.  unten  2.  Abt.  §  132.  Zahl  der 
vollberechtigten  Bürger:  [Lys.]  20  (fPolysir.)  13,  vgl.  meine  Bevölkerung  S.  107. 
Die  Rückberufung  des  Alkibiades  erfolgte  nach  Kritias'  Antrag  (fr.  4  bei  Plut. 
Alk.  33)  auf  Veranlassung  des  Theramenes  (Nep.  Ale.  5,  4,  Diod.  a.  a.  0.). 


392  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 


Rede,  mit  der  Antiphon  vor  Gericht  sich  verteidigte.  Sonst 
war  die  Verfassungsänderung  ohne  jedes  Blutvergießen  vor 
sich  gegangen.  Das  Hauptverdienst  an  dem  allem  gebührte 
Theramenes;  ohne  sein  kräftiges  Auftreten  gegen  die  hoch- 
verräterischen Pläne  seiner  Genossen  wäre  Athen  schon  damals 
in  die  Hand  der  Spartaner  gefallen,  und  auch  die  neue  Ver- 
fassung war  im  wesentlichen  sein  Werk.  Er  war  es  denn  auch, 
dem  jetzt  die  Leitung  des  Staates  zufiel.  Seine  bisherigen 
Freunde,  die  oligarchischen  Ultras,  konnten  es  ihm  natür- 
lich niemals  verzeihen,  daß  er  sich  in  der  entscheidenden 
Stunde  von  ihnen  getrennt  und  dem  Interesse  Athens  das 
Interesse  der  Partei  geopfert  hatte.  Sie  nannten  ihn  seitdem 
den  ,,Kothornos";  wie  dieser  an  beide  Füße  paßt,  so  habe  es 
Theramenes  verstanden,  beiden  Parteien,  Oligarchen  und 
Demokraten,  zu  dienen.  Und  doch  war  diese  Beschuldigung 
sehr  ungerecht;  denn  was  Theramenes  nach  dem  Sturz  der 
Vierhundert  geschaffen  hatte,  war  keineswegs  eine  Demokratie, 
sondern  die  Herrschaft  des  Mittelstandes.  Darum  haben  die 
entschiedenen  Demokraten  Theramenes  mit  nicht  geringerem 
Hasse  verfolgt,  als  die  entschiedenen  Oligarchen.  Leider  sollte 
er  nur  zu  bald  die  Erfahrung  machen,  daß  der  athenische 
Mittelstand  nicht  Kraft  genug  hatte,  die  Macht  zu- behaupten, 
die  in  seine  Hände  gelegt  war;  und  als  Theramenes  später, 
ungeschreckt  durch  seinen  Mißerfolg,  es  noch  einmal  ver- 
suchte, seine  Ideale  zu  verwirklichen,  hat  er  dafür  mit  dem 
Leben  zu  büßen  gehabt.  Erst  die  Nachwelt  hat  ihm  Gerechtig- 
keit widerfahren  lassen;  Aristoteles  nennt  ihn  einen  der  besten 
Bürger,  die  Athen  seit  den  Perserkriegen  hervorgebracht  habe, 
und  ähnlich  war  das  Urteil  des  ganzen  späteren  Altertums. 
Wir  aber,  die  wir  heute  in  demselben  Kampfe  stehen,  gegen 
ein  begehrliches  Proletariat  und  ein  ebenso  begehrliches 
Junkertum,  werden  dem  antiken  Vorkämpfer  unserer  Sache 
unsere  Sympathie  nicht  versagen  ^. 


^  Thuk.  VIII97.  98,  Lysias?  (frepi  tou  öriKoO)4.  Über  Antiphons  Prozeß 
[Plutarch]  Leben  des  Antiphon,  Krateros  bei  Harpokr.  "Avbpuuv,  Thuk.  VIII 
68,  2,  und  die  Fragmente  von  Antiphons  Verteidigungsrede.  Das  von  J.  Nicole 
aus  einem  Genfer  Papyrus  unter  dem  Titel  Apologie  d' Antiphon  (Genf  und 


Theramenes.  —  Kämpfe  im  Hellespont.  398 

Indessen  war  die  große  peloponnesische  Bundesflotte 
den  ganzen  Sommer  über  untätig  geblieben.  Im  Frühjahr 
war  Astyochos  allerdings  von  Rhodos  nach  Milet  gefahren, 
hatte  dort  die  Schiffe  aus  Chios  an  sich  gezogen  und  damit 
seine  Flotte  auf  112  Trieren  gebracht,  sich  aber  dann  darauf 
beschränkt,  die  Athener  in  Samos  zu  beobachten,  ohne  die 
Schlacht  anzunehmen,  die  diese  ihm  anboten  i.  Die  Schuld 
daran  trugen  zum  Teil  die  Differenzen  mit  Tissaphernes,  zum 
Teil  die  Unfähigkeit  des  lakedaemonischen  Admirals.  Endlich 
wurde  Astyochos  durch  Mindaros  im  Kommando  ersetzt-,  und 
dieser  entschloß  sich  nun,  den  Kriegsschauplatz  nach  dem 
Hellespont  zu  verlegen,  wo  er  an  dem  Satrapen  Pharnabazos 
eine  bessere  Stütze  zu  finden  hoffte  (Ende  August).  Die 
Peloponnesier  gelangten  auch  glücklich,  an  der  athenischen 
Flotte  vorbei,  nach  Chios  und  von  dort  nach  Abydos.  Die 
Athener  folgten,  war  es  doch  eine  Lebensfrage  für  sie,  die 
Wasserstraße  nach  dem  Pontos  offen  zu  halten,  aus  dem  Athen 
den  größten  Teil  seiner  Getreidezufuhr  erhielt.  Es  kam  denn 
auch  sogleich  in  der  Meerenge  zwischen  Sestos  und  Abydos 
zur  Seeschlacht,  und  den  Athenern  blieb  trotz  ihrer  geringeren 
Stärke  —  76  gegen  88  Trieren  —  der  Sieg;  freilich  ein  Erfolg 
von  mehr  moralischer  als  materieller  Bedeutung,  da  die  Ver- 
luste, 21  peloponnesische  gegen  15  athenische  Schiffe,  auf 
beiden  Seiten  fast  gleich  waren  ^  (September).  Immerhin 
wurde  das  wichtige  Kyzikos  jetzt  von  den  Athenern  zurück- 
gewonnen ^.  Mindaros  rief  nun  die  Flotte  des  Agesandridas 
aus  den  euboeischen  Gewässern  herbei,  gegen  50  Trieren, 
die  aber  beim  Umschiffen  des  Athos  durch  einen  Sturm  zum 


Basel  1907)  veröffentlichte  Bruchstück  kann  aber  dieser  Rede  nicht  angehören, 
■wie  Pasquali  gezeigt  hat  (in  Pais'  Stud.  Storici  1, 1908,  S.  46  ff.).  —  Über  Thera- 
menes' leitende  Stellung  Aristot.  ATT.  28,  3,  Diod.  XIII  42,  2;  über  seine  poh- 
tischen  Ideale  Xen.  Hell.  II  3,  48,  Aristot.  ATT.  28,  5.  Vgl.  meine  Attische  Politik 
S.  76  a.  und  Pöhlig,  Der  Athener  Theramenes,  Fleckeisens  Jahrb.  Suppl.  IX 
S.  224—320,  Leipzig  1877. 

1  Thuk.  VIII  60.  63.  79. 

=  Thuk.  VIII  83.  85.  87. 

»  Thuk.  VIII  99—106. 

*  Thuk.  VIII  107. 


394  XII.  Abschnitt,  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

großen  Teil  vernichtet  wurden  ^.  Dagegen  gelangte  ein  pelo- 
ponnesisches  Geschwader  von  14  Schiffen,  das  von  Rhodos 
herankam,  glücklich  in  den  Hellespont,  wurde  aber  bei  der 
Einfahrt  von  den  Athenern  mit  überlegenen  Kräften  an- 
gegriffen. Sogleich  eilte  Mindaros  mit  seiner  ganzen  Flotte 
von  Abydos  zur  Hilfe,  und  es  entspann  sich  eine  zweite  große 
Seeschlacht.  Die  Entscheidung  gab  Alkibiades,  der  während 
des  Kampfes  mit  18  Schiffen  von  Samos  her  in  den  Hellespont 
einfuhr.  Die  Peloponnesier  mußten  nach  dem  Strande  zurück- 
weichen, wo  ihnen  Pharnabazos'  Heer  einen  sicheren  Rückhalt 
bot;  doch  wurden  30  von  ihrer  Mannschaft  verlassene  Schiffe 
den  Athenern  zur  Beute  ^. 

Der  Winter  machte  für  jetzt  den  Operationen  ein  Ende. 
Im  Frühjahr  erhielten  die  Athener  eine  Verstärkung  von 
20  Schiffen,  die  Theramenes  vom  Peiraeeus  heranführte, 
und  nun  beschloß  Alkibiades,  einen  entscheidenden  Schlag 
gegen  den  Feind  zu  unternehmen.  Mindaros  war  indes  von 
Abydos  nach  Kyzikos  gesegelt  und  hatte  diese  Stadt  wieder 
auf  die  peloponnesische  Seite  gebracht.  Während  er  seine 
Flotte  hier  vor  dem  Hafen  manöverieren  ließ,  wurde  er  unver- 
sehens von  Alkibiades  angegriffen,  von  Kyzikos  abgeschnitten 
und  an  die  offene  Küste  getrieben.  Vergebens  suchte  Pharna- 
bazos, der  auch  diesmal  zur  Stelle  war,  mit  seinem  Heer  die 
Flotte  zu  decken;  die  Athener  landeten  und  erfochten  den 
vollständigsten  Sieg,  Mindaros  fiel,  alle  peloponnesischen 
Schiffe  wurden  genommen,  nur  die  Syrakusier  fanden  Zeit, 
die  ihrigen  zu  verbrennen.  Doch  vermochten  die  Mannschaften 
zum  größten  Teil  sich  zu  retten  (Mai  410)  ^.  .  ;       • 


1  Thuk.  VIII 107,  2,  Diod.  XIII  41,  nach  Ephoros,  der  aber,  durch  eine 
Votivinschrift  im  Athenatempel  von  Koroneia  irregeführt,  die  Größe  des  Ver- 
lustes übertreibt.  Denn  Hippokrates,  einer  der  Führer  der  Flotte  (Thuk.  a.  a.  0. ) 
erscheint  später  in  Mindaros'  Heer  bei  Kyzikos  (Xen.  Hell.  1 1,  23),  und  Agesan- 
dridas  selbst  stand  noch  im  Sommer  408  an  der  Spitze  eines  Geschwaders  an  der 
thrakischen  Küste  (Xen.  Hell.  I  3,  17).  Vgl.  Grote  VII  353.  Immerhin  muß 
die  Einbuße  sehr  beträchtlich  gewesen  sein,  da  sonst  die  peloponnesische  Flotte 
bei  Kyzikos  stärker  gewesen  wäre. 

2  Xen.  Hell.  I  1,  2—8,  Diod.  XIII  45.  46,  Plut.  Alk.  27. 

8  Xen.  Hell.  I  1,  11—18,  Diod.  XIII  49—51,  Plut.  Alk.  28.     Polyaen., 


Schlacht  bei  Kyzikos.  —  Friedensverhandlungen.  395 


So  war  die  große  peloponnesische  Flotte  vernichtet  und 
die  athenische  Meeresherrschaft  wieder  hergestellt;  freilich 
nur  so  lange,  bis  die  Peloponnesier  eine  neue  Flotte  gebaut 
haben  würden.  Es  galt,  die  Frist  nach  Kräften  auszunützen. 
Kyzikos  und  Perinthos  wurden  sogleich  zum  Gehorsam  zurück- 
gebracht; dann  wandte  Alkibiades  sich  nach  dem  Bosporos, 
wo  er  auf  der  Landzunge  Chrysopolis  {Skviari)  gegenüber 
Byzantion  eine  Befestigung  anlegte.  Ein  Geschwader  von 
30  Trieren  unter  Theramenes  wurde  hier  zurückgelassen,  um 
Byzantion  und  Kalchedon  zu  beobachten  und  die  Wasser- 
straße nach  dem  Pontos  freizuhalten.  Der  Zoll,  der  hier  von 
den  Handelsschiffen  erhoben  wurde,  gewährte  einen  wesent- 
lichen   Beitrag  zur   Bestreitung   der   Kriegskosten  ^. 

Der  Schlag  von  Kyzikos  brachte  in  Sparta  die  Friedens- 
partei wieder  zu  maßgebenden  Einflüsse.  Es  schien  ein  Unstern 
über  dem  Seekriege  zu  walten;  und  auch  wer  die  Dinge  noch 
so  sanguinisch  ansah,  mußte  zugeben,  daß  die  Niederwerfung 
Athens  jetzt,  wenn  überhaupt,  erst  in  Jahren  zu  erwarten 
stand.  So  entschloß  man  sich,  auf  Grund  des  gegenwärtigen 
Besitzstandes  den  Frieden  anzubieten;  Dekeleia  sollte  dabei 
für  Pylos  und  Kythera  als  Kompensation  dienen  ^.  Mehr  zu- 
bewilligen,  war  für  Sparta  ohne  Verletzung  seiner  Ehre  un- 
möglich; es  konnte  die  athenischen  Bundesstädte  nicht  preis- 
geben, die  sich  ihm  in  den  letzten  Jahren  angeschlossen  hatten. 
Auch  so  hätte  Athen  einen  sehr  ansehnlichen  Teil  seines  Macht - 
gebietes  gerettet,  mehr  als  es  jemals  nach  der  Schlacht  bei 
Aegospotamoi  wieder  erlangt  hat:  alle  Kleruchien,  Samos, 
Lesbos,  die  Kykladen,  den  thrakischen  Chersones  und  eine 
Reihe  anderer  wichtiger  Punkte.  Wie  die  Dinge  lagen,  waren 
das  immerhin  sehr  annehmbare  Bedingungen;  denn  jeder 
Verständige  mußte  sich  sagen,  daß  Athen  auf  die  Länge  dem 


1,  40, 9.  Die  Stärke  der  peloponnesischen  Flotte  gibt  Xen.  1 1, 17  auf  60  Schiffe, 
Diod.  XIII  50,  2  (vgl.  lustin.  V  4,  2)  auf  80  an.    Über  die  Chronologie  unten 

2.  Abt.  §  105. 

1  Xen.  Hell.  I  1,  19—22.     Diod.  XIII  64. 

*  Diod.  XIII 52.  Nepos  Ale.  5, 5.  lust.  V  4, 4.  Aristeid.  Pan(Uh.  S.  265  Dind. 
Philochoros  fr.  117.118  (unter  Theopompos,  also  noch  vor  Mittsommer  410). 


396  XU.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Kampfe  gegen  die  Peloponnesier  und  den  Großkönig  nicht 
gewachsen  war. 

Aber  auch  in  Athen  taten  die  Siege  im  Hellespont  ihre 
Wirkung.  Die  Niederlage  vor  Syrakus,  dann  der  Abfall  loniens 
hatten  den  Sturz  der  Demokratie  zur  Folge  gehabt;  jetzt, 
wo  die  Meeresherrschaft  Athens  aufs  neue  begründet  schien, 
begann  die  demokratische  Partei  wieder  ihr  Haupt  zu  erheben. 
Wie  es  scheint,  stand  diesen  Bestrebungen  Thrasyllos  nicht 
fern,  der  im  vorigen  Sommer  mit  Thrasybulos  die  demo- 
kratische Bewegung  auf  Samos  geleitet  hatte,  und  nach  den 
Schlachten  im  Hellespont  im  letzten  Herbst  nach  Athen 
gekommen  war,  um  die  Absendung  von  Verstärkungen  für 
die  Flotte  zu  betreiben;  er  wurde  zum  Strategen  gewählt,  und 
damit  ein  weiterer  Schritt  getan  zur  Verschmelzung  der  beiden 
Hälften,  in  die  das  Reich  durch  die  Ereignisse  des  Sommers 
411  zerfallen  war  ^.  Indes  der  eigentliche  Leiter  der  demo- 
kratischen Bewegung  war  Kleophon,  ein  Mann  aus  den  Kreisen 
der  Gewerbetreibenden,  der  jetzt  die  Rolle  des  Kleon  und 
Hyperbolos  wieder  aufnahm  ^.  Und  es  waren  die  Besitzenden 
selbst,  die  durch  ihre  eigenen  Fehler  dieser  Strömung  den 
Weg  gebahnt  hatten.  .Der  Riß  war  unheilbar,  den  erst  die 
Errichtung  der  Oligarchie,  dann  Theramenes'  Abfall  von  der 
oligarchischen  Sache  unter  den  gebildeten  Klassen  Athens 
geöffnet  hatte;  an  ein  Zusammengehen  der  entschiedenen 
Oligarchen  mit  Männern  von  Theramenes'  Richtung,  und 
beider  mit  ehrlichen  Demokraten  wie  Thrasyllos  war  für  jetzt 
und  noch  für  lange  Zeit  nicht  zu  denken.  Dazu  kam,  daß 
gerade  die  fähigsten  Männer  der  Partei  wegen  ihrer  Teilnahme 
an  der  Oligarchie  in  die  Verbannung  getrieben  oder  doch  aufs 
schwerste  kompromittiert  waren.     Theramenes  selbst  mußte 

1  Xen.  Hell.  I  1,  8.  Über  Thrasyllos  Wahl  zum  Strategen  meine  Attische 
Politik  S.  311  f.  und  unten  2.  Abt.   §  105. 

2  Aristot.  ATT.  28,  3,  Diod.  XIII  53,  2  dn^YKJTO?  uJv  TÖre  brnuoYiuTÖ?)' 
vgl.  schon  Aristoph.  Thesmoph.  805  (Dionysien  411);  Xupo'rTOiö<;:  Schol. 
Aristoph.  Thesmoph.  805,  Frösche  681.  Andok.  vdMyst.  146,  Aeschin.  vdGes.lG. 
Ael.  Verm.  Gesch.  XII  43  'YirepßöXou  hi  Kai  KXeoqpüJVTO?  oubel?  öiv  eiitoi  touc; 
iraxdpa?.  In  einem  Stücke  Piatons  hatte  er  die  Titelrolle,  und  auch  sonst  wird 
er   von   der   Komödie   scharf  angegriffen. 


Wiederherstellung  der  Demokratie  in  Athen.  397 

erkennen,  daß  unter  solchen  Umständen  der  Opposition  gegen- 
über jeder  Widerstand  nutzlos  war;  und  es  war  ohne  Zweifel 
aus  diesem  Grunde,  daß  er  Athen  verlassen  hatte,  um  an  der 
Spitze  eines  Geschwaders  nach  dem  Kriegsschauplatz  abzu- 
gehen. 

Auf  die  Nachricht  von  dem  Siege  bei  Kyzikos  brach  denn 
auch  die  Herrschaft  der  ,, Fünftausend"  haltlos  zusammen, 
und  die  Demokratie  wurde  wieder  hergestellt,  im  wesentlichen 
so,  wie  sie  vor  der  Niederlage  in  Sicilien  bestanden  hatte. 
Mit  dem  Beginn  des  neuen  Amtsjahres  (Juli  410)  nahm  der 
erloste  Rat  der  Fünfhundert  wieder  die  Leitung  der  Geschäfte 
in  die  Hand,  und  die  Volksgerichte  begannen  aufs  neue  zu 
funktionieren.  Auf  jeden  Versuch,  die  Demokratie  zu  stürzen, 
wurden  die  schärfsten  Strafen  gesetzt  und  alle  Bürger  durch 
feierlichen  Eidschwur  auf  die  Erhaltung  der  Verfassung  in 
Pflicht  genommen.  Die  Kodifizierung  des  geltenden  Rechtes, 
die  von  der  Oligarchie  in  Angriff  genommen  war,  wurde  weiter- 
geführt, aber  natürlich  jetzt  in  ganz  anderem  Geiste  ^. 

Die  Rückkehr  zur  unbeschränkten  Demokratie  hatte  die 
Wiedereinführung  der  Diäten  für  den  Rat  und  die  Volks - 
gerichte  zur  Voraussetzung,  und  diese  wurde  denn  auch  auf 
Kleophons  Antrag  beschlossen,  allerdings,  der  bedrängten 
Finanzlage  entsprechend,  nur  in  dem  Betrage  von  2  Obolen 


^  Das  Psephisma  des  Demophantos,  durch  das  die  Bürger  auf  die  Demo- 
kratie in  Pflicht  genommen  wurden,  bei  Andok.  vdMyst.  96,  vgl.  Lyk.  gLeokr. 
124 — 127,  Demosth.  20  (gLept.)  159,  H.  Droysen,  De  Demophanti,  Patroclidis, 
Tisameni  populiscitis,  Dissert.  BerUn  1873.  Darin  heißt  es:  öpxei  XPÖvo? 
Toube  ToO  vpr]cpi(T|uaTO(;  f)  ßouXr)  ol  TrevraKÖaioi  oi  Xa^övrec;  Tili  Kuctiauj  öxe 
KXeoY^vri^  itpu)TO<;  dTpaM^äreuev  (unter  dem  Archon  Glaukippos  410/9),  und 
zwar  ist  das  Psephisma  unter  der  Prytanie  der  Aeantis,  der  ersten  dieses 
Jahres  {CIA.  I  188)  zur  Annahme  gelangt.  Wir  sehen  also,  daß  die 
demokratische  Verfassung  bereits  am  Anfang  410/9  funktioniert  hat,  und 
offenbar  ist  sie  eben  mit  dem  Beginn  dieses  Jahres,  1 — 2  Monate  nach  der 
Schlacht  bei  Kyzikos,  in  Kraft  getreten.  Über  die  Gesetzgebung,  die  sich, 
wie  natürlich,  durch  eine  Reihe  von  Jahren  hingezogen  hat,  CIA.  I  57 
(grundlegende  Verfassungsbestimmungen),  61  =  Dittenb.  Sylt.  ^  52,  (die 
Blutgesetze  Drakons  bleiben  in  Geltung),  Lys.  30,  gNikomachides,  Harpokr. 
'AiTÖXriHii;  (kann  sich  auch  auf  die  Zeit  der  6000  beziehen).  Neue  Sitzordnung 
des  Rates  Philoch.  fr.  119. 


398  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

für  die  Sitzung.  Gleichwohl  war  das  Erfordernis  dafür  sehr 
beträchtlich,  und  es  muß  anerkannt  werden,  daß  Kleophon 
es  verstanden  hat,  die  nötigen  Mittel  herbeizuschaffen,  ohne 
die  Energie  der  Kriegführung  zu  lähmen  oder  die  Bürgerschaft 
durch  übermäßige  direkte  Steuern  zu  drücken.  Sogar  die 
Bautätigkeit  des  Staates  wurde  wieder  aufgenommen,  wenn 
auch  in  sehr  bescheidenen  Grenzen.  Kleophon  war  offenbar 
ein  guter  Verwalter  und,  wie  es  scheint,  ein  Mann  von  persön- 
licher Integrität,  wenn  er  auch  ein  weitblickender  Politiker 
so  wenig  gewesen   ist,   wie  alle  seine  Parteigenossen  ^ 


^  Über  Kleophons  Finanzverwaltung  Lys.  19  (vAristoph.  Verm.)  48 
KXeoqpujvTa  bä  irävTe?  laxe,  otv  iroWd  ^xr]  biexeipicre  xci  xf|(;  itöXeuu?  irdvxa, 
Aristot.  ATT.  28,  3  oc,  Kai  xriv  biuußeXiav  diröpicje  irpiJuxoi;,  Aeschin.  vdGes.  78 
biecp6apKiu<;  vo|nfi  \pr\\xäiniv  xöv  bfjiiiov.  Die  Diobelie  ist,  wie  die  Schatzrechnung 
CIA.  I  188  zeigt,  bereits  seit  der  3.  Prytanie  410/9  gezahlt  worden.  Daß  es  sich 
dabei  nicht,  wie  allerdings  Aristoteles  geglaubt  zu  haben  scheint  {Polit.  II  1267b) 
und  darauf  hin  auch  Böckh  annahm  (ßtaatsh.  I  ^  312),  um  ein  Theorikon  handelt, 
habe  ich  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  239  ff.  gezeigt  und  ist  heut  allgemein  an- 
erkannt. J.  Christ  hat  die  Behauptung  aufgestellt,  die  Diobelie  sei  eine  ,,  Staats- 
pension" gewesen,  die  an  alle  Bürger  gezahlt  worden  sei  (bei  Wilamowitz,  Aristot. 
II  212  ff.),  und  es  ist  merkwürdig,  daß  dieser  Einfall  so  viele  Zustimmung  ge- 
funden hat.  Rechnen  wir  auch  nur  12  000  Bürger,  so  betrug  das  Erfordernis 
täglich  4000  dr.,  240  tal.  im  Jahr.  Wo  hätte  diese  Summe  herkommen  sollen, 
und  was  wollen  demgegenüber  die  kleinen  Beträge  besagen,  bis  zu  6^4  dr.  herab, 
die  in  den  Schatzrechnungen  {CIA.  I  188  und  189)  für  die  Diobelie  verrechnet 
werden  ?  Und  sollen  wir  denn  annehmen,  daß  neben  der  Diobelie  noch  Richter- 
sold und  andere  Diäten  gezahlt  worden  sind?  Doch  sicher  nicht;  |ar)  bixöOev 
|aia6ocppeTv  war  ja  eine  der  Grundmaximen  der  Demokratie.  Aber  wer  würde 
sich  dann  noch  zum  Geschworenen  hergegeben  haben,  wenn  er  auch  ohne  das 
seine  2  ob.  bekam  ?  Und  bekam  sie  jeder  Bürger,  dann  doch  auch  die  dbOvaxoi; 
wie  geht  es  da  zu,  daß  sie  dann  später,  im  Frieden,  nur  1  ob.  erhielten  (Lys.  24)  ? 
Aber  wir  wissen  ja  aus  Aristophanes,  daß  der  Richtersold  in  dieser  Zeit  bestanden 
hat  {Frösche  1466),  und  zwar  eben  im  Betrage  von  2  ob.  (v.  140,  mit  dem 
Scholion).  Und  der  Richtersold  verschlingt  alle  Staatseinnahmen  (6  biKa(Txr](; 
aöxä  Kaxairivei  |UÖV0(;).  Wie  konnte  Aristophanes  das  sagen,  wenn  die  ,, Staats- 
pension" den  vielfachen  Betrag  verschlungen  hätte?  Denn  nehmen  wir  selbst 
an,  daß  3000  Geschworene  Tag  für  Tag,  also  abzüglich  der  Feste  300  Tage 
im  Jahre  gesessen  hätten,  was  für  diese  Zeit  viel  zu  hoch  ist,  so  betrug  das  Er- 
fordernis doch  nur  50  tal.  Also  die  „Staatspension"  ist  ein  Phantasiegebilde. 
Aber  immerhin  mögen  in  der  Diobelie  auch  andere  Besoldungen  einbegriffen 
gewesen  sein,  z.  B.  die  Diäten  der  Ratsherren;  sie  waren  ja  früher  höher  gewesen. 


Die  Diobelie,  —  Thrasyllos  in  lonien.  399 

Kleophon  also  war  jetzt  der  erste  Mann  in  Athen;  und 
er  sah  die  militärische  Lage  mit  dem  Optimismus  an,  den  die 
athenischen  Radikalen  immer  gezeigt  haben.  Sein  Einfluß 
bewirkte  es,  daß  die  lakedaemonischen  Friedensvorschläge 
zurückgewiesen  wurden;  ebensosehr  allerdings  wohl  die  Er- 
wägung, daß  es  ziemlich  gleichgültig  war,  was  die  athenische 
Volksversammlung  in  dieser  Sache  beschloß,  und  daß  die 
wahre  Entscheidung  bei  der  Flotte  stand,  oder  vielmehr  bei 
deren  Führer  Alkibiades.  Und  Alkibiades  brauchte  den  Krieg, 
der  ihm  das  Mittel  war,  zu  der  Stellung  im  Staate  empor- 
zusteigen, die  sein  Ehrgeiz  erstrebte;  was  lag  ihm  daran,  ob 
dem  Interesse  Athens  mit  der  Fortsetzung  des  Kampfes  ge- 
dient war? 

So  ging  der  Krieg  seinen  Gang  weiter.  Gleich  nach  dem 
Abbruch  der  Verhandlungen  rückte  König  Agis  aus  seiner 
Stellung  bei  Dekeleia  gegen  Athen  herab,  wagte  es  aber  nicht, 
die  Schlacht  anzunehmen,  die  Thrasyllos  ihm  unter  den  Mauern 
der  Stadt  anbot;  ein  Erfolg,  der  natürlich  in  Athen  großen 
Jubel  erregte  ^.  Nach  dem  Hellespont  wurde  der  Spartaner 
Klearchos  mit  15  Trieren  gesandt,  um  Byzantion  und  die 
Nachbarstädte  zu  sichern  ^.  In  Antandros,  am  Südfuße  des 
Ida,  wurde  mit  dem  Bau  einer  neuen  Flotte  begonnen,  wozu 
Pharnabazos  die  Mittel  gab  ^.  Die  Athener  andererseits  ver- 
mochten nichts  Ernstliches  auszurichten,  da  sie  wohl  das  Meer 
beherrschten,  wo  ihnen  jetzt  kein  Feind  mehr  gegenüberstand, 
aber  nicht  Landtruppen  genug  hatten,  um  eine  Belagerung 
beginnen  zu  können.  Es  wurde  also  in  Athen  eine  neue 
Expedition    ausgerüstet,    50    Trieren    unter    Thrasyllos,    mit 


wie  auch  der  Richtersold,  aber  bei  den  schlechten  Zeiten  mußte  sich  eben  alles 
nach  der  Decke  strecken.  Und  wenn  Aristoteles  sagt,  daß  Kleophon  die  Diobelie 
eingeführt  habe  (^iröpicfe  TTpuJTO(;),  so  ist  das  ganz  richtig;  denn  unter  der  Ver- 
fassung des  Theramenes  hatte  es  überhaupt  keine  Besoldungen  gegeben.  Weiteres 
Rh.  Mus.  a.  a.  O.  —  Über  Kleophons  Integrität  Lys.  19,  48 ;  Piaton  freilich 
nennt  ihn  dtpitaYiöxaTOi;  (Kleophon  ir.hl)  und  auch  Lysias  sagt  irpoaebOKäTO 
Trdvu  TToXXä  ^k  xry;  äpxn«;  ^X^iv. 

1  Xen.  Hell.  I  1,  33  f. 

2  Xen.  Hell.  I  35  ff. 

3  Xen.  Hell.  I  1,  24  ff. 


400  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

1000  Hopliten  und  100  Reitern  an  Bord,  auch  von  den  See- 
leuten waren  5000  mit  leichter  Rüstung  versehen,  um  bei 
Landungen  als  Peltasten  zu  dienen  (Frühjahr  409).  Zunächst 
war  die  Wiedereroberung  loniens  in  Aussicht  genommen. 
Das  Heer  wurde  in  Notion  ausgeschifft,  das  nahe  Kolophon 
trat  sogleich  über,  dann  wandte  sich  Thrasyllos  gegen  Ephesos. 
Hier  aber  fand  er  die  Syrakusier  und  Selinuntier  sich  gegenüber, 
die  inzwischen  den  Neubau  ihres  Geschwaders  vollendet  und 
aus  der  Heimat  eine  Verstärkung  von  5  Trieren  erhalten 
hatten.  Auch  der  Satrap  Tissaphernes  war  mit  seinem  Heere 
zur  Verteidigung  der  bedrohten  Stadt  herbeigeeilt.  So  erlitt 
Thrasyllos  eine  schwere  Niederlage,  die  ihn  400  Mann  kostete 
und  ihn  zwang,  das  Unternehmen  gegen  lonien  aufzugeben. 
Er  wandte  sich  nun  nach  dem  Hellespont  und  vereinigte  sich 
dort  mit  Alkibiades  ^. 

Dieser  hatte  sich  bisher  auf  den  kleinen  Krieg  gegen 
Pharnabazos  und  Klearchos  beschränken  müssen;  Thrasyllos' 
Ankunft  setzte  ihn  in  den  Stand,  entscheidende  Schläge  zu 
führen.  Im  Frühjahr  408  begann  die  Belagerung  von  Kalchedon ; 
ein  Ausfall  der  peloponnesischen  Besatzung  wurde  zurück- 
geschlagen, Pharnabazos,  der  zu  gleicher  Zeit  den  Versuch 
machte,  den  Belagerten  die  Hand  zu  reichen,  vermochte  es 
nicht,  die  attischen  Linien  zu  durchbrechen.  Infolge  dieser 
Niederlage  bequemte  sich  der  Satrap  zu  einem  Vertrage,  in 
dem  er  sich  verpflichtete,  die  Feindseligkeiten  gegen  Athen 
einzustellen,  eine  athenische  Gesandtschaft  zum  Könige 
hinaufzuführen  und  20  Talente  zu  zahlen;  die  Athener  ihrer- 
seits erkannten  die  Unabhängigkeit  Kalchedons  an,  das  aber 
.gehalten  sein  sollte,  fortan  seinen  früheren  Tribut  zu  ent- 
richten, und  die  seit  dem  Abfall  aufgelaufenen  Rückstände 
abzuzahlen.  Alkibiades  ging  nun  nach  Europa  hinüber,  nahm 
Selymbria  ein,  und  nach  längerer  Belagerung  auch  Byzantion  ^. 

1  Xen.  Hell.  II,  34;  2,  1—15.  Diod.  XIII  64,  vgl.  Lys.  32  {gDiogeiton) 
5.  7.  Über  die  Chronologie,  auch  der  folgenden  Ereignisse  unten  2.  Abt. 
§  104  f. 

2  Xen.  Hell.  I  3,  Diod.  XIII  66  f.,  Plut.  Alk.  29—31,  Polyaen.  I  40,  2 
(=  Front.  III  11,  3),  47,  2.  Der  Vertrag  mit  Selymbria  CIA.  IV  S.  18  f.  = 
Dittenb.  Syll.  "  53. 


Kalchedon  und  Byzantion.  —  Verlust  von  Kerkyra  und  Pylos.       401 

Die  hellespontischen  Landschaften,  bis  auf  Abydos,  waren 
jetzt  fast  vollständig  wieder  in  der  Gewalt  der  Athener.  Im 
folgenden  Jahre  (407)  wurden  auch  Thasos  und  Abdera  durch 
Thrasybulos  zum  Gehorsam  zurückgeführt  ^,  so  daß  von  dem 
Reiche,  wie  es  im  Jahre  413  gewesen  war,  im  wesentlichen 
nur  noch  das  ionische  Festland,  Chios,  Rhodos  und  Euboea 
im    Besitze   des   Feindes  blieben. 

Darüber  waren  allerdings  in  Griechenland  wichtige 
Stellungen  verloren  gegangen.  Im  Frühjahr  410  stand  Kerkyra 
auf  dem  Punkte,  zu  den  Peloponnesiern  abzufallen;  die  Demo- 
kraten riefen  Konon,  der  die  athenische  Flottenstation  in 
Naupaktos  befehligte,  zur  Hilfe  herbei,  und  es  kam  nun  zum 
Straßenkampfe,  in  dem  der  Menge  dank  dieser  Unterstützung 
der  Sieg  blieb;  von  den  Angehörigen  der  besitzenden  Klassen 
wurden  viele  getötet,  mehr  als  1000  aus  der  Stadt  getrieben; 
den  ansässigen  Fremden  wurde  das  Bürgerrecht,  den  Sklaven 
die  Freiheit  gegeben.  Bald  aber,  nachdem  Konon  den  Rücken 
gewandt  hatte,  kehrten  die  Verbannten  zurück  und  erzwangen 
ihre  Wiederaufnahme  in  die  Stadt.  Kerkyra  löste  infolgedessen 
sein  Bündnis  mit  Athen,  ohne  sich  indessen  den  Peloponnesiern 
anzuschließen;  es  trat  zurück  in  seine  traditionelle  Neutralität 
gegenüber  den  hellenischen  Händeln  ^. 

So  hatte  Athen  seine  hauptsächlichste  Stütze  im  Westen 
verloren.  Die  Folge  war,  daß  im  nächsten  Jahre  Pylos  von 
den  Lakedaemoniern  genommen  wurde;  eine  Entsatzfiotte 
von  30  Schiffen  unter  Anytos,  die  von  Athen  aus  abgesandt 
worden  war,  wurde  durch  widrige  Winde  am  Vorgebirge  Malea 
festgehalten,  bis  es  zu  spät  war.  Der  Führer  wurde  vor  Gericht 
gestellt,  aber  freigesprochen,  wie  man  sagte,  durch  Bestechung 

1  Xen.  Hell.  I  4,  9,  Diod.  XIII  72,  und  die  Volksbescblüsse  für  Neapolis 
CIA.  IV  1  S.  15  =  Dittenb.  Syll.  ^  49,  der  erste  aus  dem  Jan.  409,  der  zweite 
von  Axiochos  beantragte  wohl  aus  dem  Sommer  407.  Daß  Thasos  in  diesem 
Sommer  zurückgewonnen  wurde,  sagt  Xen.  a.  a.  O.;  Diodor  setzt  die  Einnahme 
richtig  unter  Euktemon  (408/7),  erzählt  sie  aber  erst  nach  Alkibiades'  Abfahrt 
aus  Athen. 

2  Diod.  XIII  48,  vgl.  Thuk.  IV  48,5.  Die  Revolution  scheint  in  das  Früh- 
jahr 410  zu  gehören,  da  Diodor  den  Bericht  darüber  in  die  Erzählung  der 
Expedition  des  Theramenes  einschiebt. 

Bei  och,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  26 


402  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

der  Geschworenen  ^.  Schon  etwas  früher  war  auch  Nisaea 
von  den  Megarern  erobert  worden;  ein  athenisches  Heer,  das 
darauf  gegen  Megara  gesandt  wurde,  blieb  zwar  in  einem  Gefecht 
bei  den  Kerata  siegreich,  vermochte  aber  den  verlorenen  Platz 
nicht  wieder  zu  nehmen  ^. 

Während  Alkibiades  die  hellespontischen  Landschaften 
unterwarf,  waren  in  Sicilien  Ereignisse  eingetreten,  welche 
die  Syrakusier  zwangen,  ihre  Schiffe  aus  dem  Aegaeischen 
Meere  zurückzurufen.  In  Syrakus  war,  nach  dem  Siege  über 
die  Athener,  Hermokrates  der  mächtigste  Mann.  Schon  der 
Friede  von  Gela  (424),  der  dem  ersten  Versuche  der  Athener, 
sich  in  Sicilien  festzusetzen,  ein  Ende  gemacht  hatte,  war 
zum  großen  Teil  sein  Werk  gewesen;  10  Jahre  später  hatte 
er  bis  zu  Gylippos'  Ankunft  und  dann  an  dessen  Seite  die 
Verteidigung  von  Syrakus  geleitet,  und  sein  Verdienst  war 
es  vor  allem,  wenn  man  es  gewagt  hatte,  den  Kampf  mit  dem 
Feinde  auch  zur  See  aufzunehmen.  Als  dann  das  athenische 
Belagerungsheer  vernichtet  war,  hatte  er  mit  Eifer  für  die 
Absendung  eines  syrakusischen  Geschwaders  nach  dem 
griechischen  Osten  gewirkt  und  war  selbst  an  dessen  Spitze 
getreten  ^. 

Aber  eben  diese  Entfernung  von  Syrakus  sollte  ihm 
verhängnisvoll  werden.  Der  Sieg  über  die  Athener  hatte 
zur  Folge  gehabt,  das  Selbstgefühl  der  unteren  Klassen  der 
Bürgerschaft  mächtig  zu  steigern;  sie  drängten  jetzt  nach 
Erweiterung  ihrer  politischen  Rechte.      So  wurde  die  syra- 


1  Xen.  Hell.  I  2,  18  (Winter  409/8),  Diod.  XIII  64,  5—7  (unter  Diokles 
409/8),  vgl.  unten  2.  Abt.  §  106;  über  Anytos'  Prozeß  auch  Aristot.  ATT.  27,  5. 

2  Diod.  XIII  65  (unter  Diokles),  der  einzige,  der  die  Sache  erwähnt.  Da 
nach  Xen.  Hell.  I  1,  36  das  Geschwader,  mit  dem  Klearchos  nach  Byzantion 
ging,  in  erster  Linie  von  Megara  gestellt  war,  sollte  man  annehmen,  daß  Nisaea 
damals  schon  wieder  megarisch  gewesen  ist,  denn  es  ist  doch  kaum  wahrschein- 
lich, daß  die  megarischen  Schiffe  von  Pagae  gekommen  sind.  Wenn  also  Xenophon 
Klearchos'  Sendung  nicht  vorgreifend  berichtet,  müßte  die  Einnahme  von  Nisaea 
ia  den  Sommer  oder  Herbst  410  fallen.  Die  beiden  athenischen  Strategen  Leo- 
trophides  und  Timarchos  können  sehr  wohl  dem  Kollegium  des  Jahres  410/9 
angehört  haben. 

=>  Thuk.  IV  58,  VI  72  f.,  99,  VII  21,  3,  VIII  26,  1. 


Demokratische  Reformen  in  Syrakus.  —  Hermokrates  verbannt.       403 

kusische  Verfassung  durch  den  Volksmann  Diokles  im  Sinne 
der  radikalen  Demokratie  umgestaltet  und  namentlich,  nach 
athenischem  Vorbilde,  die  Besetzung  einer  Reihe  von  Staats- 
ämtern durch  das  Los  eingeführt  ^.  Die  neuen  Machthaber 
sahen  in  Hermokrates  ihren  gefährlichsten  Gegner  ^j  und 
die  Vernichtung  der  syrakusischen  Flotte  bei  Kyzikos  gab 
ihnen  die  erwünschte  Gelegenheit,  den  Feind  beiseite  zu 
schieben.  Hermokrates  wurde  durch  Volksbeschluß  seiner 
Stelle  enthoben  und  aus  Syrakus  verbannt,  und  neue  Strategen 
auf  die  Flotte  gesendet.  Der  abgesetzte  Feldherr  wagte  keinen 
Widerstand;  denn  wenn  er  auch  seiner  Offiziere  sicher  war, 
so  waren  die  Mannschaften  dafür  in  ihrer  großen  Mehrzahl 
überzeugungstreue  Demokraten.  Er  ging  also  nach  Sparta 
und  schloß  sich  dann  einer  Gesandtschaft  an,  die  im  Sommer 
408  zum  König  hinaufreiste  ^. 

Der  Krieg  zwischen  Syrakus  und  den  athenischen  Bundes- 
genossen im  Westen  war  indes  weitergegangen.  In  Thurioi 
allerdings  kam  es  bald  nach  der  Katastrophe  am  Assinaros 
zu  einer  Revolution,  infolge  deren  die  athenisch  Gesinnten 
verbannt  wurden  und  die  Stadt  den  Peloponnesiern  ein 
Geschwader  zu  Hilfe  sandte*.  Katane  aber  leistete  erfolg- 
reichen   Widerstand,    unterstützt    von    den    Trümmern    des 


^  Aristot.  Polit.  V 1304  a,  Diod.  XIII  33—35  (Einführung  des  Loses  34,  6), 
vgl.  19,  4  TUJv  briinaYUJYU'v  dvboEÖTaTO?  i&v;  bei  Plut.  Nik.  28  heißt  er  Eurykles. 
Daß  dieser  Demagog  Diokles  nicht,  wie  Diodor  meint,  mit  dem  alten  Gesetz- 
geber Diokles  (oben  I  1,  350)  identisch  sein  kann,  dem  die  Syrakusier  nach 
seinem  Tode  heroische  Ehren  erwiesen  und  einen  Tempel  errichteten  (Diod. 
XIII  35,  2),  liegt  auf  der  Hand  (Holm,  Gesch.  Steil.  II  78.  417  f.,  De  Sanctis, 
Studi  ital.  di  Fil.  class.  XI,  1903,  S.  433).  Über  Diokles'  Verfassungsreformen 
Holm  a.  a.  0.  und  Freeman,  Hist.  of  Sicüy  III  722  ff. 

^  Über  Hermokrates'  Gegensatz  zur  radikalen  Demokratie  Thuk.  VI 
33—40,  vgl.  Xen.  Hell.  I  1,  27  ff. 

3  Xen.  Hell.  I,  1,  27—31;  3,  13,  vgl.  Thuk.  VIII  85,  3,  weiteres  unten 
2.  Abt.  §  110.  Die  Mannschaft  der  syrakusischen  Schiffe  bestand  zum  größten 
Teil  aus  freien  Leuten  (Thuk.  VIII  84,  2). 

*  Dionys.  Hai.  Lys.  1.  [Plutarch]  Leben  des  Lysias  S.  835  d,  unter  dem 
Archon  Kallias  (412/1),  und  zwar  zu  Anfang  des  Jahres,  denn  im  Spätherbst  412 
stießen  bereits  10  thurinische  Schiffe  zu  der  peloponnesischen  Flotte  an  der  klein- 
asiatischen Küste  (Thuk.  VIII  35,  vgl.  61,  2,  Xen.  Hell.  I  5,  19). 

26* 


404  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

athenischen  Heeres  ^,  um  so  mehr,  als  Syrakus  durch  die  lange 
Belagerung  erschöpft  war  und  den  besten  Teil  seiner  Flotte 
nach  dem  Aegaeischen  Meere  entsendet  hatte.  Einen  schwereren 
Stand  hatten  die  Elymer  von  Segesta  und  Eryx  gegen  ihre 
mächtige  Nachbarstadt  Selinus.  Von  ihren  Feinden  aufs 
äußerste  bedrängt,  blieb  ihnen  endlich  nichts  übrig,  als  sich 
den  Karthagern  in  die  Arme  zu  werfen  ^. 

Karthago  hatte  seit  dem  Unglückstage  von  Himera 
sich  jeder  Einmischung  in  die  sicilischen  Angelegenheiten 
enthalten.  Selbst  während  des  attischen  Krieges  war  es 
neutral  geblieben,  trotz  der  Bundesgenossenschaft,  welche 
die  Athener  angeboten  hatten^;  und  der  Untergang  der 
athenischen  Flotte  im  Hafen  von  Syrakus  war  nicht  dazu 
angetan,  Karthago  zu  einer  Änderung  der  bisher  verfolgten 
Politik  zu  veranlassen.  Aber  man  hatte  jetzt  keine  Wahl 
mehr.  Gelang  es  Selinus,  die  Elymer  zu  unterwerfen,  so  waren 
die  phoenikischen  Plätze  im  Nordwesten  der  Insel  aus  nächster 
Nähe  bedroht,  und  Karthago  war  dann  voraussichtlich  doch 
gezwungen,  unter  noch  ungünstigeren  Bedingungen  den 
Kampf   gegen   die   Hellenen    Siciliens   aufzunehmen. 

So  sandte  man  denn  im  Sommer  409  Segesta  ein  Truppen- 
korps zu  Hilfe,  das  den  Selinuntiern  eine  ernste  Niederlage 
beibrachte;  im  nächsten  Frühjahr  folgte  die  Hauptmasse 
des  Heeres,  karthagische  Bürger,  libysche  Untertanen  und 
iberische  Söldner,  unter  dem  König  Hannibal,  dem  Enkel 
jenes  Hamilkar,  der  einst  bei  Himera  gegen  Gelon  Schlacht 
und  Leben  verloren  hatte.  Die  Karthager  landeten  am  Vor- 
gebirge Libybaeon,  rückten  ohne  Verzug  auf  Selinus  und 
begannen  die  Belagerung.  Die  Mauern  der  Stadt  waren 
während  des  langen  Friedens  verfallen  und  sanken  bald  vor 
den  Maschinen  des  Feindes  zusammen;  dann  wurde  unab- 
lässig gestürmt,  bis  endlich,  am  neunten  Tage,  die  Iberer 
durch  die  Bresche  drangen.  In  der  Stadt  begann  jetzt  ein 
furchtbares  Morden;  die  Barbaren  schonten  weder  Alter  noch 

^   [Lysias]  fPolystratos  24  £E.,  vgl.  Diod.  XIII  56,  2. 

2  Diod.  XIII  43. 

3  Thuk.  VI  88,  6. 


Zerstörungf  von  Selinus  und  Himera.  40Ö 

Geschlecht,  16  000  Menschen  sollen  ihrer  Wut  zum  Opfer 
gefallen  sein.  Nur  5000  Gefangene  wurden  gemacht  und  als 
Sklaven  nach  Afrika  geführt;  noch  geringer  war  die  Zahl  derer, 
denen  es  gelang,  nach  dem  benachbarten  Akragas  sich  zu 
retten.  Die  Stadt  wurde  geplündert  und  ihre  Mauern  zerstört  ^. 

Die  Katastrophe  war  mit  so  furchtbarer  Schnelle  herein- 
gebrochen, daß  die  Syrakusier  keine  Zeit  gehabt  hatten, 
rechtzeitig  zum  Entsätze  herbeizukommen.  In  der  Erwartung 
des  Krieges  mit  Karthago  hatten  sie  mit  Katane  und  Naxos 
Frieden  geschlossen  und  ihre  Flotte  aus  dem  Aegaeischen 
Meere  zurückgerufen  ^1  auf  die  Nachricht  von  der  Landung 
des  Feindes  setzten  sie  sofort  3000  Hopliten  unter  Diokles 
in  Marsch,  die  schon  bis  Akragas  gelangt  waren,  als  der  Fall 
von  Selinus  erfolgte.  Sie  sollten  nur  zu  bald  Gelegenheit  haben, 
sich   mit   den   Karthagern   zu   messen  ^. 

Denn  Hannibal  wandte  sich  jetzt  nach  der  Nordküste 
der  Insel  gegen  Himera,  verstärkt  durch  Zuzüge  aus  den 
sikanischen  und  sikelischen  Städten.  Zum  Schutz  der  be- 
drängten Stadt  eilte  Diokles  mit  seinem  inzwischen  auf  4000 
Mann  verstärkten  Heere  herbei,,  und  gleich  darauf  erschien 
auf  der  Reede  die  Flotte,  die  bisher  im  Aegaeischen  Meere 
gegen  die  Athener  gefochten  hatte.  Aber  gegen  die  Über- 
macht der  Barbaren  war  alles  umsonst.  Ein  Ausfall  der  Be- 
lagerten wurde  mit  schwerem  Verluste  zurückgeschlagen; 
die  Stadt  war  nicht  mehr  zu  halten,  und  man  mußte  sich 
darauf  beschränken,  die  Bevölkerung  in  Sicherheit  zu  bringen. 
Auch  das  gelang  nur  zum  Teil;  während  die  Räumung  noch 
im  Gange  war,  brachen  die  Karthager  in  die  Stadt,  und  was 
noch  von  Bewohnern  zurückgeblieben  war,  fiel  unter  dem 
Schwerte  der  Sieger  oder  geriet  in  Gefangenschaft.    Die  Ge- 

1  Diod.  XIII  44.  54—59.  [Xen.]  Hell.  I  1,  37.  Über  die  Chronologie 
unten  2.  Abt.  §  110.  —  Die  Angaben  über  die  Stärke  des  karthagischen  Heeres 
in  unseren  Quellen  (nach  Ephoros  200  000  Mann  und  4000  Reiter,  nach  Timaeos 
etwas  über  100  000  Mann  [Diodor  XIII  54,  5],  100  000  Mann  auch  nach  [Xen.  j 
Hell.  I  1,  37)  sind  wie  gewöhnlich  sehr  übertrieben,  vgl.  meine  Bevölkerung 
S.  467  f. 

-  Diod.  XIII  56,  2.     Rückberufung  der  Flotte:  lustin.  V  4,  5. 

3  Diod.  XIII  59,  1. 


406  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

fangenen  schlachtete  Hannibal  den  Manen  seines  Großvaters 
als  Totenopfer;  die  Stadt  wurde  dem  Boden  gleich  gemacht, 
und  ihre  Stätte  ist  seitdem  wüst  geblieben.  Dann  schiffte  der 
isiegreiche  Feldherr  sein  Heer  nach  Libyen  ein  und  hielt  in 
Karthago  seinen  triumphierenden  Einzug  ^. 

Der  Untergang  zweier  so  bedeutenden  Städte,  eine  Kata- 
strophe, wie  sie  in  solcher  Furchtbarkeit  die  Griechen  Siciliens 
noch  niemals  betroffen  hatte,  mußte  einen  erschütternden 
Eindruck  hervorbringen.  Und  die  Schuld  lastete  zum  größten 
Teil  auf  der  Regierung  von  Syrakiis.  Obgleich  der  Krieg 
mit  Karthago  seit  einem  Jahr  in  sicherer  Aussicht  gestanden 
hatte,  war  man  bei  Selinus  zu  spät  gekommen  und  hatte 
Himera  nur  mit  ganz  ungenügenden  Kräften  unterstützt. 
Das  mußte  der  jetzt  in  Syrakus  herrschenden  Partei  ver- 
hängnisvoll w^erden,  um  so  mehr,  als  ihr  erster  Mann,  Diokles, 
bei  Himera  den  Befehl  geführt  hatte  und  also  nicht  nur 
politisch,  sondern  auch  militärisch  für  den  unglücklichen 
Ausgang  die  Verantwortung  trug. 

Jetzt  hielt  Hermokrates  den  Augenblick  für  gekommen, 
seine  Rückkehr  nach  der  Vaterstadt  ins  Werk  zu  setzen.  Er 
gat)  also,  auf  die  Nachricht  von  den  Ereignissen  in  Sicilien, 
seine  Reise  zum  Großkönig  auf;  von  seinem  Freunde  Pharna- 
bazos  erhielt  er  die  nötigen  Geldmittel,  um  einige  Schiffe 
auszurüsten  und  ein  kleines  Söldnerkorps  in  Dienst  zu  nehmen^. 
Mit  diesen  Truppen  landete  er  in  Messene;  hier  zog  er  1000 
der  geflüchteten  Bürger  von  Himera  an  sich  und  versuchte 
dann  einen  Handstreich  auf  Syrakus,  der  freilich  erfolglos 
blieb.  Er  wandte  sich  nun  nach  dem  Westen  der  Insel,  wo  er 
Selinus  aufs  neue  befestigte,  die  alten  Bewohner  zurück- 
rief, und  so  eine  Basis  für  die  Ausführung  seiner  weiteren 
Pläne  gewann.  Dann  zog  er  vor  die  phoenikischen  Städte 
Motye  und  Panormos,  machte  in  deren  Gebiet  reiche  Beute 
und  trieb  die  Bürger,  die  gegen  ihn  ausrückten,  hinter  ihre 
Mauern  zurück.  Nach  diesen  Erfolgen  begannen  auch  in 
Syrakus  seine  Anhänger  sich  zu  regen;  Diokles  wurde  gestürzt 

1  Diod.  XIII  69—62,  vgl.  Frontin.  III  10,  3. 

2  Xen.  Hell  I  1,  31. 


Hermokrates'  Rückkehr  und  Ende.  —  Die  Karthager  vor  Akragas.     407 

und  in  die  Verbannung  geschickt,  aber  es  gelang  nicht,  Hermo- 
krates' Rückberufung  beim  Volk  zu  erwirken.  So  machte  er 
noch  einmal  den  Versuch,  seine  Rückkehr  mit  Gewalt  zu 
erzwingen.  Diesmal  wurden  ihm  die  Tore  geöffnet,  und  er 
konnte  bis  zum  Marktplatze  vordringen.  Die  Bürger  aber 
wollten  in  ihrer  großen  Mehrzahl  von  einem  gewaltsamen 
Umsturz  der  Verfassung  nichts  wissen;  von  allen  Seiten 
strömten  sie  in  Waffen  herbei,  und  in  dem  nun  sich  entspinnen- 
den Straßenkampfe  fand  Hermokrates  ein  unrühmliches 
Ende  (407)  i. 

In  Karthago  hatte  man  indes  zu  einem  neuen  Zuge  nach 
Sicilien  gerüstet;  schienen  doch  die  leichten  und  glänzenden 
Erfolge,  die  man  im  vorigen  Feldzuge  errungen  hatte,  die 
Unterwerfung  der  ganzen  Insel  in  den  Bereich  der  Möglichkeit 
zu  rücken.  Vergebens  versuchten  die  Syrakusier  die  Überfahrt 
des  feindlichen  Heeres  zu  hindern;  ihre  Flotte  besiegte  zwar 
ein  karthagisches  Geschwader  von  40  Schiffen  in  der  Nähe 
von  Drepana,  sah  sich  aber  zum  Rückzug  gezwungen,  als 
Hannibal  mit  50  frischen  Trieren  herankam.  Der  karthagische 
Feldherr  setzte  nun  seine  Truppen  ans  Land  und  rückte 
sogleich  vor  Akragas,  das  jetzt,  nach  dem  Fall  von  Selinus 
und  Himera,  die  äußerste  Griechenstadt  gegen  Westen  hin 
war  (Frühjahr  406).  Aber  die  durch  Natur  und  Kunst  gleich 
starken  Befestigungen  leisteten  den  Angriffen  der  Belagerer 
kräftigen  Widerstand;  und  bald  kam  der  bedrängten  Stadt 
Entsatz.  Denn  die  Griechen  Siciliens  und  Italiens  erkannten 
jetzt  endlich  die  ganze  Größe  der  Gefahr,  die  von  Karthago 
her  drohte;  aus  allen  Städten  strömten  die  Kontingente  nach 
Syrakus.  So  kam  ein  Heer  zusammen,  wie  es  die  Westhellenen 
seit  Gelons  Zeit  nicht  mehr  aufgestellt  hatten.    An  der  Spitze 


^  Diod.  XIII  63.  75.  Danach  hätte  Hermokrates  seine  Schiffe  erst  in 
Messene  gebaut  und  dort  auch  die  Söldner  in  Dienst  genommen.  Wie  unwahr- 
scheinlich das  ist,  liegt  auf  der  Hand;  einmal  in  Sicilien  angekommen,  brauchte 
Hermokrates  überhaupt  keine  Schiffe  mehr,  und  Söldner  konnte  er  viel  besser 
im  Peloponnes  anwerben.  Seine  Rückkehr  nach  Sicilien  scheint  noch  im  Herbst 
408  erfolgt  zu  sein,  da  Diodor  sie  in  unmittelbarem  Anschluß  an  den  Fall  von 
Himera  erzählt. 


408  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie, 

von  angeblich  30  000  Mann  überschritt  der  syrakusische 
Oberfeldherr  Daphnaeos  den  Himeras,  schlug  ein  karthagisches 
Korps,  das  ihm  den  Vormarsch  wehren  wollte,  völlig  aufs 
Haupt  und  hielt  bald  seinen  Einzug  in  das  befreite  Akragas. 
Aber  es  gelang  nicht,  die  Karthager  aus  ihrem  stark  befestigten 
Lager  im  Westen  der  Stadt  zu  vertreiben.  Der  Krieg  zog 
sich  in  die  Länge,  und  in  der  volkreichen  Stadt  begannen 
die  Vorräte  auszugehen.  Ein  zur  See  von  Syrakus  gesandter 
Transport  fiel  dem  Feinde  in  die  Hände.  Jetzt  glaubte  man, 
die  Stadt  nicht  länger  halten  zu  können,  und  beschloß,  sie  zu 
räumen  (um  Mittwinter  406/5).  Unter  dem  Schutz  des  Entsatz - 
heeres  wurden  die  Bewohner  nach  Gela  in  Sicherheit  gebracht 
und  ihnen  dann  Leontinoi  zum  Aufenthalt  angewiesen,  das 
seit  der  Übersiedlung  seiner  Bürger  nach  Syrakus  (oben  S.  354) 
verlassen  stand.  Akragas  wurde  ohne  Kampf  von  den  Kar- 
thagern besetzt,  die  nun  hier  für  den  Rest  des  Winters  Quartier 
nahmen  ^. 

In  Syrakus  erhob  sich  auf  die  Kunde  von  diesen  Vor- 
gängen ein  Sturm  der  Entrüstung.  Soviel  war  klar:  entweder 
waren  Daphnaeos  und  seine  Kollegen  im  Kommando  Verräter, 
oder  sie  waren  militärisch  ganz  unfähig;  in  beiden  Fällen 
war  ein  Wechsel  im  Oberbefehl  dringend  geboten.  Jetzt 
erhob  die  Partei  des  Hermokrates  wieder  ihr  Haupt,  an  ihrer 
Spitze  zwei  der  vornehmsten  Bürger,  Hipparinos  und  Philistos, 
und  ein  junger  Offizier,  Dionysios,  der  sich  in  den  Kämpfen 
bei  Akragas  glänzend  hervorgetan  hatte  und  dadurch  zu 
großer  Popularität  gelangt  war.  Diese  Popularität  wurde 
noch  dadurch  gesteigert,  daß  er  einer  Familie  des  Mittel- 
standes angehörte;  denn  in  Syrakus  ebenso  wie  in  Athen 
waren  trotz  der  Demokratie  die  hohen  Befehlshaberstellen 
tatsächlich   ein   Privilegium   der   reichsten   und   vornehmsten 


1  Diod.  XIII  80—90,  Xen.  Hell.  I  5,  21.  Über  die  Topographie  Schubring, 
Akragas  (Leipzig  1870)  und  Cavallari,  Sulla  topografia  di  talune  ciüa  greche  di 
Sicilia,  Arch.  Stör.  Sic.  n.  S.  IV  1879,  der  den  von  Schubring  (und  Holm)  an- 
genommenen Lauf  der  Mauern  in  einem  wesentlichen  Punkte  berichtigt.  Danach 
die  Pläne  bei  Freeman  und  in  Kieperts  Formae  (XIX).  Über  die  Chronologie 
unten  2.  Abt.  §  111. 


Fall  von  Akragas.  —  Dionysios  Oberfeldherr.  409 

Geschlechter.  So  hatte  Dionysios  vollen  Erfolg,  als  er  in  der 
Volksversammlung  auftrat  und  die  Strategen  des  Verrates 
beschuldigte;  auf  seinen  Antrag  wurden  sie  ihres  Amtes  ent- 
hoben und  neue  Feldherren  an  ihrer  Stelle  erwählt,  darunter 
Dionysios  selbst.  Dieser  setzte  nun  weiter  durch,  daß  an- 
gesichts der  furchtbaren  Gefahr,  welche  den  Staat  bedrohte, 
die  Verbannten  zurückgerufen  wurden;  eine  Maßregel,  die 
zunächst  den  geflüchteten  Parteigenossen  des  Hermokrates 
zugute  kam  und  Dionysios  eine  große  Anzahl  ergebener  An- 
hänger sicherte.  Dann  zog  er  nach  Gela,  wo  er  in  einen  inneren 
Zwist  zugunsten  des  Demos  gegen  die  Besitzenden  eingriff; 
eine  Anzahl  der  Vornehmen  wurden  auf  sein  Betreiben  zum 
Tode  verurteilt  und  ihr  Vermögen  eingezogen.  Natürlich 
steigerte  dieses  Verhalten  Dionysios'  Ansehen  bei  der  Menge 
in  Syrakus,  die  nun  endlich  den  Mann  gefunden  zu  haben 
glaubte,  der  imstande  wäre,  den  Staat  zu  retten.  Dionysios 
zögerte  nicht,  diese  günstige  Stimmung  auszubeuten;  er  begann 
nun  gegen  seine  Mitfeldherren  dasselbe  Spiel,  das  ihm  soeben 
seinen  Vorgesetzten  gegenüber  so  gut  gelungen  war,  und 
beschuldigte  auch  sie,  sich  den  Karthagern  verkauft  zu  haben. 
Eine  solche  Anklage  aus  solchem  Munde  war  jetzt  in  Syrakus 
ihres  Erfolges  gewiß;  und  auch  wer  nicht  in  das  Geschrei  über 
den  Verrat  einstimmte,  konnte  sich  der  Überzeugung  nicht 
verschließen,  daß,  wenn  nicht  alles  zugrunde  gehen  solle,  der 
Oberbefehl  in  die  Hände  eines  Mannes  gelegt  werden 
müsse.  Noch  war  es  unvergessen,  wie  einst  zu  der  Größväter 
Tagen  Gelon  als  unbeschränkter  Oberfeldherr  Sicilien  vor  den 
Karthagern  gerettet  hatte.  So  wurden  die  Strategen  ab- 
gesetzt und  Dionysios  der  alleinige  Befehl  über  das  Heer 
übertragen. 

Es  galt  nun,  die  Truppen  zu  gewinnen;  Dionysios  brachte 
also  einen  Volksbeschluß  zur  Annahme,  der  die  Löhnung  auf 
das  Doppelte  des  bisherigen  Betrages  erhöhte.  Dann  befahl 
er  dem  syrakusischen  Aufgebot,  sich  in  Leontinoi  zu  sammeln. 
Hier  wurde  ein  Mordversuch  auf  den  Feldherrn  gemacht, 
wie  seine  Feinde  sagten,  von  ihm  selbst  angestiftet;  er  gab 
ihm    den   Vorwand,    sich    von   der    Heeresversammlung    eine 


410  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Leibwache  von  600  Mann  bewilligen  zu  lassen,  die  er  selbst 
aus  den  zuverlässigsten  Leuten  auswählte  und  auf  über  1000 
Mann  brachte.  Ein  in  Gela  stehendes  Söldnerkorps  von  1500 
Mann,  das  von  den  Akragantinern  angeworben  und  dann  in 
syrakusische  Dienste  getreten  war,  wurde  gleichfalls  nach 
Leontinoi  gezogen.  Auf  diese  Macht  gestützt,  glaubte  Di onysios 
den  Staatsstreich  wagen  zu  können;  er  marschierte  an  der 
Spitze  der  ihm  ergebenen  Truppen  nach  Syrakus,  besetzte 
das  Arsenal  und  nahm  die  ganze  Regierungsgewalt  in  seine 
Hände.  Die  Stadt  blieb  ruhig;  jeder  Widerstand  wäre  doch 
nutzlos  gewesen,  und  dem  Karthagerschrecken  gegenüber 
schien  alles  andere  Nebensache,  wenn  Syrakus  nur  gerettet 
wurde,  gleichviel  wie  und  durch  wen.  Dionysios  ließ  nun 
seine  beiden  einflußreichsten  Gegner,  Daphnaeos  und  Da- 
marchos,  von  der  Volksversammlung  zum  Tode  verurteilen 
und  sie  dann  hinrichten;  er  selbst  vermählte  sich  mit  der 
Tochter  des  Hermokrates  und  gab  Hermokrates'  Schwager 
Polyxenos  seine  Schwester  zur  Ehe  ^. 

Die  Karthager  hatten  den  Ausgang  der  Wirren  in  Syrakus 
in  Akragas  abgewartet;  jedes  Vorgehen  ihrerseits  würde  nur 
der  syrakusischen  Kriegspartei  zugute  gekommen  sein.  Erst 
als  Dionysios  zum  Oberfeldherrn  erwählt  war,  setzten  sie  sich 


1  Diod.  XIII  91—96,  vgl.  Aristot.  Polit.  V  1305  a,  Polyaen  V  2,  2,  Plut 
Apophth.  Reg.  Dionys.  1  S.  175.  Eine  gute  Schilderung  der  Lage  gibt  [Piatons] 
VIII.  Brief  S.  353.  Über  Hipparinos  Arist.  Polit.  V  1306  a;  nach  [Piaton]  Brief 
VIII 353  b  (daraus  Plut.  Dion  3)  wäre  er  vom  Volke  als  0i)jaßou\oi;  dem  Strategen 
Dionysios  zur  Seite  gestellt  worden,  was  in  dieser  Form  ohne  Zweifel  falsch, 
in  der  Sache  aber  richtig  ist,  da  Hipparinos  gewiß  eine  der  einflußreichsten 
Stellen  in  der  neuen  Regierung  bekleidet  hat.  Später  hat  Dionysios  seine  Tochter 
zur  Frau  genommen.  —  Damarchos  ersetzte  Hermokrates  nach  dessen  Ver- 
bannung im  Befehl  über  die  Flotte  an  der  kleinasiatischen  Küste  (Thuk.  VIII 
85,  3,  Xen.  Hell.  I  1,  29),  war  also  offenbar  dessen  Gegner;  wahrscheinlich  hat 
er  dann  neben  Daphnaeos  bei  Akragas  kommandiert.  —  Dionysios  war,  als  er 
zur  Herrschaft  gelangte  (405),  25  Jahre  alt  (Cic.  Tusc.  V  20,  57,  vgl.  Ephoros 
bei  Polyb.  XII  4  a),  also  430  geboren.  Über  seine  Herkunft  Isokr.  Phil.  65, 
Cic.  a.  a.  O.  (bonis  parentibus  atque  honesta  loco  natus,  etsi  id  quidem  alius  alio 
modo  tradidit),  Demosth.  gLept.  161,  Polyb.  XV  35,  2,  Diod.  XIII  96,  4,  XIV 
67,  1.  Anhänger  des  Hermokrates:  Diod.  XIII  79,  9.  Über  Phihstos  Diod. 
XIII  91,  4. 


Dionysios'  Staatsstreich.  —  Verlust  von  Gela  und  Kamarina.         411 

in  Bewegung  und  begannen,  etwa  um  Mittsommer  405,  die 
Belagerung  von  Gela.  Wie  im  Vorjahre  versammelte  sich  in 
Syrakus  das  Bundesheer  der  sicilischen  und  italischen  Griechen, 
dessen  Befehl  diesmal  natürlich  Dionysios  übernahm.  Aber 
der  Ausgang  war  derselbe  wie  vor  Akragas,  freilich  auch  die 
griechische  Verteidigungsstellung  viel  schwächer.  Dionysios' 
Angriff  auf  das  karthagische  Lager  schlug  vollständig  fehl; 
Gela  konnte  nun  nicht  länger  gehalten  werden,  und  es  blieb 
nichts  übrig,  als  auch  diese  Stadt  und  das  benachbarte  Kama- 
rina zu  räumen  und  die  Bewohner  nach  Syrakus  in  Sicherheit 
zu  bringen.  Die  ganze  Südküste  der  Insel  war  damit  in  der 
Hand  des  Feindes,  und  man  stand  vor  der  Belagerung  von 
Syrakus  selbst  ^. 

Auch  die  Militärdiktatur  also  hatte  das  Kriegsglück 
nicht  zu  wenden  vermocht.  Es  war  das  sehr  natürlich;  die 
verrotteten  Zustände,  wie  sie  unter  der  Demokratie  im  syra- 
kusischen  Militärwesen  sich  entwickelt  hatten,  ließen  sich 
von  heute  auf  morgen  nicht  ändern  ^.  Dionysios'  Stellung 
aber  mußte  durch  diese  Ereignisse  um  so  schwerer  erschüttert 
werden,  je  mehr  das  Volk  sich  von  seiner  Leitung  versprochen 


1  Diod.  XIII  108—111.  [Xen.]  Hell.  II  3,  5.  Schubring,  Rhein.  Mus. 
XVIII,  1873,  S.  82  ff.,  der,  um  keine  Lücke  in  dem  Bericht  Diodors  annehmen 
zu  müssen,  heber  zu  der  Auskunft  greift,  der  Gelas  habe  seit  dem  Altertum 
seinen  Lauf  geändert  und  sei  nördlich  an  der  Stadt  vorbeigeflossen,  statt  ■wie 
jetzt  östlich  von  ihr.  Soweit  ich  ohne  Autopsie  urteilen  kann,  ist  das  völlig 
unmöglich.  Wir  müssen  vielmehr  annehmen,  daß  die  Karthager  auch  hier, 
väe  bei  der  Belagerung  von  Akragas,  zwei  Lager  geschlagen  haben,  eines  im 
Westen  der  Stadt  und  das  andere  östUch  davon,  am  Flusse.  Die  Beschreibung 
Diodors,  der  nur  das  Hauptlager  im  Westen  erwähnt,  wird  bei  dieser  Annahme 
ohne  weiteres  klar.  Vgl.  Cultrera,  Rend.  Line.  1908  S.  257  ff.  und  besonders 
Pareti,  Rom.  Mitt.  XXV,  19  S.  1  ff.  —  Beim  Beginn  der  Belagerung  entführten 
die  Karthager  die  Kolossalstatue  des  Apollon,  die  vor  der  Stadt  stand,  und 
sandten  sie  nach  Tyros;  wie  Timaeos  erzählte  (bei  Diod.  XIII  108,  4),  wurde 
Tyros  an  dem  Jahrestage  dieses  Frevels  von  Alexander  erobert.  Demnach 
hätte  die  Belagerung  von  Gela  im  Hekatombaeon  begonnen.    S.  unten  2.  Abt. 

§111. 

^  Charakteristisch  ist,  daß  Dionysios,  als  er  dem  syrakusischen  Aufgebot 
in  Leontinoi  sich  zu  sammeln  befahl,  selbst  annahm  tiöv  ZupaKoaiuJV 
Tou?  irXeiaTou?  ovib'  f^Heiv  eiq  Aeovrivouc  (Diod.  XIII  95,  3). 


412  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 


hatte.  Während  des  Rückzuges  von  Kamarina  kam  es  zur 
Meuterei  im  Heere;  die  syrakusischen  Reiter,  Männer  aus 
den  ersten  Familien  der  Stadt,  sprengten  nach  Syrakus,  wo 
sie  ohne  Widerstand  zu  finden  sich  des  Arsenals  bemächtigten; 
das  Haus  des  Herrschers  wurde  ausgeplündert,  seine  junge 
Gemahlin  so  furchtbar  mißhandelt,  daß  sie  den  Folgen  erlag. 
Darauf  zerstreuten  die  Reiter  sich  in  ihre  Häuser,  im  Glauben, 
daß  alles  getan  sei.  Aber  Dionysios  folgte  ihnen  auf  dem 
Fuße,  an  der  Spitze  seiner  zuverlässigsten  Söldner;  um  Mitter- 
nacht stand  er  vor  der  Stadt,  das  Tor  wurde  erbrochen,  der 
Marktplatz  besetzt,  die  Reiter,  die  sich  vereinzelt  und  ohne 
Ordnung  zur  Wehr  stellten,  zum  Teil  niedergehauen,  zum 
Teil  aus  der  Stadt  geschlagen.  Die  Herrschaft  des  Tyrannen 
war  jetzt  fester  begründet  als  je  ^. 

Im  karthagischen  Heere  war  schon  während  der  Be- 
lagerung von  Akragas  eine  Epidemie  ausgebrochen,  welcher 
der  König  Hannibal  selbst  zum  Opfer  gefallen  war;  jetzt  trat 
die  Seuche  mit  verstärkter  Heftigkeit  auf.  Imilkon,  der  seinem 
Großoheim  Hannibal  in  der  Königswürde  und  im  Oberbefehle 
gefolgt  war  ^,  konnte  unter  diesen  Umständen  nicht  daran 
denken,  die  Belagerung  einer  Festung  wie  Syrakus  zu  be- 
ginnen, um  so  weniger,  als  der  Winter  herannahte.  Auch 
hatte  Sparta  jetzt,  nach  dem  Siege  von  Aegospotamoi  (unten 
S.  424),  die  Hände  frei,  und  es  war  mit  Sicherheit  voraus- 
zusehen, daß  es  Syrakus  nicht  im  Stiche  gelassen  haben  würde. 
Imilkon  eröffnete  also  Unterhandlungen,  und  Dionysios  wies 
die  gebotene  Hand  nicht  zurück.  Man  einigte  sich  auf  der 
Grundlage  des  gegenwärtigen  Besitzstandes.  Die  eroberten 
Griechenstädte   sollten    Karthago    gehören,    die   vertriebenen 

*  Diod.  XIII  112  f. ;  über  den  Tod  der  Gemahlin  des  Dionysios  auch 
Diod.  XIV  44,  Plut.  Dion  3. 

2  Klio  VII,  1907,  S.  25. 

3  Diod.  XIII 114.  Katane  und  Naxos  werden  nicht  ausdrücklich  erwähnt; 
da  aber  sogar  die  Unabhängigkeit  von  Leontinoi  ausbedungen  wurde  (vgl. 
Diod.  XIV  14  f.),  das  im  syrakusischen  Besitz  war,  so  ist  klar,  daß  dasselbe 
von  den  beiden  nördUch  davon  gelegenen  Städten  zu  gelten  hat,  die  bereits  von 
Syrakus  unabhängig  waren.  Das  argumentum  ex  silentio  darf  Diodor  gegenüber 
noch  weniger  angewendet  werden  als  sonst. 


Aufstand  in  Syrakus,  —  Frieden  mit  Karthago.  —  Alkibiades'  Rückkehr,  413 

Bürger  als  tributpflichtige  Untertanen  zurückkehren;  auch 
die  Elymer  und  Sikaner  sollten  Karthago  unterworfen  sein. 
Dionysios  wurde  als  Herrscher  von  Syrakus  anerkannt;  den 
Sikelern  wurde  die  Unabhängigkeit  gewährleistet,  ebenso  den 
Griechenstädten  im  Osten  der  Insel,  Messene,  Naxos,  Katane; 
Leontinoi,  das  seit  423  mit  Syrakus  vereinigt  war,  wurde  als 
selbständige  Gemeinde  wieder  hergestellt.  Kamarina,  Gela, 
Akragas  wurden,  so  gut  es  gehen  wollte,  neu  aufgebaut;  im 
Gebiet  des  zerstörten  Himera  hatten  die  Karthager  schon 
vor  zwei  Jahren  die  Kolonie  Thermae  gegründet,  in  der  nun 
die  noch  übrigen  Himeraeer  Aufnahme  fanden  ^.  Die  Hälfte 
der    Insel  war   jetzt   von   Karthago   abhängig. 

Während  so  die  große  Demokratie  des  Westens  sich 
in  eine  Militärmonarchie  umwandelte,  ging  auch  die  große 
Demokratie  des  Ostens  mit  schnellen  Schritten  ihrem  Unter- 
gang entgegen.  Es  schien  eine  Zeitlang,  als  ob  auch  hier  die 
Monarchie  zum  Siege  gelangen  sollte.  Wenn  Athen  die  Folgen 
der  sicilischen  Katastrophe  und  des  Abfalls  seiner  Bündner 
überwunden,  wenn  es  die  Herrschaft  des  Aegaeischen  Meeres 
wiedergewonnen  hatte,  so  verdankte  es  das  zum  großen  Teil 
dem  Feldherrngenie  des  Alkibiades.  Dieser  stand  seit  411 
an  der  Spitze  der  Flotte,  nicht  durch  Wahl  des  Volkes  in  Athen, 
sondern  der  Mannschaften  der  Flotte  selbst,  und  damit  frei 
von  jeder  Verantwortlichkeit  gegen  die  Behörden  daheim; 
der  Sache  nach  war  er  während  dieser  Zeit  Diktator  im  größten 
Teil  des  athenischen  Reiches.  Jetzt ,  nach  der  vollendeten  Unter- 
werfung des  Hellespontes,  schien  der  Augenblick  gekommen, 
wo  er  seine  Hand  auch  nach  der  Herrschaft  über  Athen  aus- 
strecken konnte.  Er  ließ  sich  also  im  Frühjahr  407  vom  Volk 
zum  Strategen  wählen  und  hielt  auf  die  Nachricht  von  der 
erfolgten  Wahl  unter  dem  Jubel  von  Tausenden  seinen  Einzug 
in  die  Vaterstadt,  die  er  vor  8  Jahren  an  der  Spitze  der  nach 
Sicilien  bestimmten  Flotte  verlassen  hatte  (Ende  Thargelion,  im 
Juni    407).       Seine   Ankunft   brachte    alle    Opposition    zum 

^  Diod.  XIII 79,  Cic.  Verr.  II  35,  86,  vgl.  Freeman  Hist.  of  Sic.  III  510  ff. 
Als  Flecken  des  himeraeischen  Gebietes  hat  Thermae  schon  vorher  bestanden 
(Phihst.  fr.  20,  aus  dem  III.  Buch,  bei  Steph.  Byz.   Qip)ia). 


414  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Schweigen,  die  sich  etwa  noch  regte;  feierlich  wurde  er  von 
dem  religiösen  Fluche  gelöst,  der  vom  Mysterienprozeß  her  auf 
ihm  lastete,  sein  Vermögen  wurde  ihm  zurückgegeben,  ein 
Volksbeschluß  verlieh  ihm  unbeschränkte  Vollmacht  für  die 
Leitung  des  Krieges  ^. 

Das  Ziel  schien  erreicht;  nur  noch  ein  letzter  Schritt 
blieb  zu  tun,  und  Freund  und  Feind  erwartete,  daß  er  ge- 
schehen würde.  Die  Bewerbung  um  die  Strategenwürde 
und  die  Rückkehr  nach  Athen  hatte  nur  dann  einen  Zweck, 
wenn  Alkibiades  entschlossen  war,  die  bestehende  Verfassung 
über  den  Haufen  zu  werfen,  um  in  Athen  dieselbe  Stellung 
einzunehmen,  die  er  bisher  auf  der  Flotte  gehabt  hatte.  Sonst 
war  die  Rückkehr  nach  Athen  ein  schwerer  politischer  Fehler, 
da  Alkibiades  damit  nur  seine  bisherige  Machtvollkommenheit 
opferte,  ohne  irgend  ein  greifbares  Äquivalent  dafür  einzu- 
tauschen. Denn  dieselbe  Volksgunst,  die  ihn  heute  zu  den 
höchsten  Ehren  erhoben  hatte,  konnte  ihn  morgen  herab- 
stürzen, so  lange  seine  Macht  keine  andere  Grundlage  hatte, 
als  die  wechselnden  Majoritäten  der  Volksversammlung.  Und 
es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Herrschaft  ihm  zugefallen 
wäre,  wenn  er  es  gewagt  hätte,  die  Hand  danach  auszustrecken. 
War  doch  ganz  Athen  überzeugt,  daß  nur  unter  Alkibiades' 
Leitung  eine  siegreiche  Beendigung  des  Krieges  zu  hoffen 
war;  die  besitzenden  Klassen  aber  und  namentlich  alle,  die 
bei  der  oligarchischen  Bewegung  kompromittiert  waren, 
würden  die  Tyrannis  begrüßt  haben  als  Erlösung  von  der 
Pöbelherrschaft,  in  die  Athen  unter  Kleophons  Leitung  mehr 
und  mehr  zurücksank  2. 


1  Xen.  Hell.  I  4,  8—20,  Diod.  XIII  68  f.,  Plut.  Alk.  32—34,  Nepos  Ale.  6, 
lustin.  V  4,  6 — 18.  Die  Rückkehr  erfolgte  am  Plynterienfeste,  über  dessen 
Kalenderzeit  A.  Mommsen,  Feste  der  Stadt  Athen  S.  491  ff.  Über  die  Rückgabe 
des  Vermögens  (in  Grundstücken,  statt  in  Geld)  auch  Isokr.  16  irepl  ToO 
ZeuYOU(;)  46. 

-  Über  die  Stimmung  in  Athen  Xen.  Hell.  I  4, 16—17,  Diod.  XIII  68,  4—6, 
Plut.  Alk.  34.  Vgl.  auch  die  ein  Jahr  später  geschriebenen  Frösche  des  Aristo- 
phanes.  Über  die  Verfolgungen  gegen  die  Mitglieder  der  gestürzten  Ohgarchie 
Lys.  25  (briiuou  KaxaX.)  25,  30  (giVjÄom.)  7,  und  namentlich  die  Rede /Pö/ysir., 
vgl.  Aristoph.  Frösche  686  ff. 


Neuschöpfung  der  peloponnesischen  Flotte.  —  Lysandros.  415 

Aber  wie  einst  in  Sicilien,  verließ  Alkibiades  auch  jetzt 
in  der  entscheidenden  Stunde  der  Mut,  aus  der  Bahn  der 
Gesetzlichkeit  herauszutreten  und  alles  an  alles  zu  wagen. 
Er  ließ  die  Gelegenheit  vorübergehen,  zum  eigenen  Verhängnis 
und  zum  Verhängnis  Athens.  Nachdem  er  den  ganzen  Sommer 
in  Athen  vertrödelt  hatte,  ging  er  endlich  im  Herbst  an  der 
Spitze  von  100  Trieren,  1500  Hopliten  und  150  Reitern  zur 
Unterwerfung  loniens  in  See,  begleitet  von  den  hochgespannten 
Erwartungen  seiner  Mitbürger.  Er  sollte  die  Heimat  niemals 
wiedersehen  ^. 

Auf  dem  Kriegsschauplatze  hatten  die  Verhältnisse 
sich  indessen  zuungunsten  Athens  wesentlich  verändert. 
Seit  dem  Tage  von  Kyzikos  waren  die  Peloponnesier  unab- 
lässig bemüht  gewesen,  eine  neue  Flotte  zu  schaffen;  und 
wenn  auch  die  Abberufung  der  sicilischen  Kontingente  diese 
Bemühungen  sehr  erschwert  hatte,  so  wurde  das  Ziel  doch 
endlich  erreicht.  Im  Sommer  407  lag  bei  Ephesos  eine  Flotte 
von  70  Schiffen  versammelt,  die  dann  bis  zum  Winter  auf  90 
vermehrt  wurde;  w^ohl  war  diese  Flotte  der  athenischen 
weder  an  Zahl  noch  an  Qualität  gewachsen,  aber  sie  reichte 
doch  immerhin  aus,  diese  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  im 
Schach  zu  halten  und  ihre  Operationen  zu  hemmen  ^. 

Vor  allem  aber,  die  Spartaner  fanden  zur  Führung  ihrer 
Flotte  endlich  den  rechten  Mann.  Der  neue  Nauarch  Lysandros, 
der  Sohn  des  Aristokritos,  der  im  Frühjahr  den  Befehl  über- 
nommen hatte,  stammte  aus  wenig  begütertem  Hause,  das 
freilich  seinen  Ursprung,  gleich  den  Königen,  auf  Herakles 
zurückführte.  Als  Soldat  von  erprobter  Tüchtigkeit  und 
einer  der  ersten  Feldherren  seiner  Zeit,  verdankte  er  seine 
Erfolge  doch  hauptsächlich  seinem  diplomatischen  Geschick 
und  der  Gabe,  die  Menschen  seinen  Zwecken  dienstbar  zu 
machen.  Sein  Leben  lang  hat  er  nur  den  einen  Ehrgeiz  gekannt, 
seinem  Lande  zu  nützen.  Alle  niederen  Leidenschaften  lagen 
tief  unter  ihm;  Millionen  sind  durch  seine  Hände  gegangen, 
ohne  daß  er  für  sich  selbst  auch  nur  eine  Drachme  genommen 

1  Xen.  Hell.  I  4,  21,  Diod.  XIII  69,  4,  Plut.  Alk.  35. 
-  Xen.  Hell.  I  1,  32;  5,  1.  12. 


416  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

hätte.  Der  Mann,  der  mit  fast  unbeschränkter  Machtvoll- 
kommenheit über  halb  Hellas  geboten  hatte,  ist  in  Armut 
gestorben  ^. 

Daneben  gestalteten  die  Beziehungen  zu  Persien  sich 
intimer  als  je.  Statt  wie  bisher  mit  den  Satrapen  zu  verhandeln, 
hatten  die  Spartaner  endlich  eine  Gesandtschaft  zum  König 
hinaufgeschickt  (408),  und  dieser  war  es  gelungen,  den  per- 
sischen Hof  zu  überzeugen,  daß  die  von  Tissaphernes  befolgte 
Schaukelpolitik  dem  Interesse  des  Reichs  nicht  entspreche. 
Tissaphernes  wurde  demgemäß  seiner  Stellung  als  Satrap 
von  Sardes  entsetzt  und  auf  Karlen  südlich  des  Maeandros 
beschränkt  ^;  nach  Sardes  aber  wurde  als  Satrap  von 
Lydien,  Großphrygien  und  Kappadokien,  zugleich  als  Ober- 
feldherr aller  Streitkräfte  in  Kleinasien,  im  Frühjahr  407 
Kyros  gesandt,  der  zweite  Sohn  des  Königs  Dareios,  ein  eben 
dem  Knabenalter  entwachsener  Jüngling  von  hohem  Streben, 
dessen  Ziel  es  war,  dereinst  statt  seines  älteren  Bruders  Arta- 
xerxes  die  Tiara  der  Achaemeniden  zu  tragen.  Er  war  von 
seinem  Vater  angewiesen,  den  Peloponnesiern  kräftige  Unter- 
stützung zu  gewähren,  und  er  erkannte  bald,  daß  es  auch 
für  seine  eigenen  Zwecke  vom  höchsten  Werte  sei,  sich  an 
Sparta  einen  sicheren  Rückhalt  zu  schaffen.  Lysandros' 
diplomatische  Geschmeidigkeit  trug  viel  dazu  bei,  diese  An- 
näherung zu  erleichtern;  und  so  flössen  denn  die  persischen 
Subsidien  für  die  peloponnesische  Flotte  jetzt  so  reichlich, 
wie  nie  zuvor  ^. 


1  Plut.  Lys.  2,  Theopomp.  fr.  21.  22  {FHG.  I  281).  Nach  Phylarch  fr.  44 
bei  Athen.  VI  271  e,  und  Aehan  Verm.  Gesch.  XII  43  wäre  Lysandros  Mothake 
gewesen  (Sohn  eines  spartiatischen  Vaters  und  einer  heilotischen  Mutter);  eine 
Fabel,  die  keiner  Widerlegung  bedarf.  Wenn  Isokr.  Paneg.  111  sagt,  die  Mit- 
glieder der  Dekarchien  fjpoOvTO  tOuv  eiXdjTUJV  ^vi  bouXeüeiv,  so  geht  das  auf 
die  Harmosten,  nicht  auf  Lysandros. 

^  Tralleis  gehörte  zu  Kyros'   Satrapie:  Xen.   Anab.  I  4,  8. 

3  Xen.  Hell.  I  4,  1—5;  5,  1—10,  Anab.  I  1,  2;  9,  7,  Diod.  XIII  70,  Plut 
Lys.  4.  5,  Alk.  35.  Nach  Plut.  Artox.  2  wäre  Kyros  nach  der  Thronbesteigung 
seines  Vaters  Dareios  (424/3)  geboren,  also  407  höchstens  17  Jahre  alt  gewesen. 
Dementsprechend  heißt  er  Plut.  Lys.  4  |ueipdKiov  (vgl.  Lys.  9).  Die  Zweifel 
Büngers  (Fleckeisens  Jahrb.  CLI,  1895,  375 ff.)  scheinen  mir  unbegründet.  Aller- 


Kyros  in  Kleinasien.  —  Schlacht  bei  Notion.  —  Alkibiades'  Sturz.     417 

Unter  diesen  Umständen  blieben  die  Hoffnungen  un- 
erfüllt, die  man  in  Athen  an  das  Aussegeln  der  großen  Flotte 
untcyf  Alkibiades  geknüpft  hatte.  Für  größere  Unternehmungen 
war  der  Winter  ohnehin  nicht  die  geeignete  Zeit;  bald  hatte 
Alkibiades  mit  finanziellen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  bei 
denen  es  ohne  schwere  Bedrückung  der  Bundesgenossen  nicht 
abging.  Endlich  gelang  es  Lysandros,  während  Alkibiades 
auf  einer  Expedition  abwesend  war,  der  zur  Beobachtung 
von  Ephesos  vor  Notion  liegenden  athenischen  Flotte  eine 
Niederlage  beizubringen,  bei  der  15  Trieren  in  seine  Hände 
fielen;  der  erste  Mißerfolg  zur  See,  den  Athen  seit  5  Jahren 
erlitten  hatte  (Frühjahr  406)  ^ 

Es  war  nur  eine  verhältnismäßig  unbedeutende  Schlappe, 
welche  die  militärische  Lage  ganz  unverändert  ließ;  aber  sie 
machte  in  Athen  einen  um  so  tieferen  Eindruck,  je  sicherer 
man  auf  große  Siege  unter  Alkibiades'  Führung  gerechnet 
hatte.  Dessen  zahlreiche  Feinde  säumten  nicht,  diese  Stimmung 
auszubeuten;  und  sie  erreichten  es  denn  auch,  daß  bei  den 
Strategenwahlen,  die  unmittelbar  nach  der  Niederlage  ge- 
halten wurden,  Alkibiades  unterlag.  Nach  Athen  zurück- 
zukehren verschmähte  er;  da  sein  Ansehen  auch  auf  der  Flotte 
erschüttert  war,  legte  er  den  Befehl  sogleich  nieder;  er  war 
zu  hoch  gestiegen,  als  daß  er  wie  ein  gewöhnlicher  Feld- 
herr zur  gesetzlichen  Rechenschaftsablage  sich  hätte  stellen 
mögen.  So  ging  er  in  freiwillige  Verbannung  auf  die  festen 
Schlösser  am  Hellespont,  deren  Besitz  er  sich  während  der 
Zeit  seiner  Macht  als  Zuflucht  für  den  äußersten  Notfall  ge- 
sichert  hatte.      Das   Kommando   auf   der   Flotte   übernahm 


dings  soll  Kyros'  Bruder  Artaxerxes  86  (Deinon  bei  Plut.  Artox.  30)  oder  94 
([Lukian]  laoKpöß.  15)  Jahre  alt  geworden  sein;  da  er  358  starb,  wäre  er  also 
444  oder  452  geboren.  Ein  so  großer  Altersunterschied  zwischen  beiden  Brüdern 
wäre  allerdings  wenig  wahrscheinlich;  es  ist  aber  sehr  fraglich,  ob  auf  die  Zahlen 
Verlaß  ist.  Jedenfalls  hätte  Bünger  nicht ,, Kinder  des  Kyros"  aus  Plut.  Artox.  3 
herauslesen  sollen.  —  Idealisierte  Charakteristik  des  Kyros  bei  Xen.  Anab.  I  9; 
sie  läuft  genau  besehen  darauf  hinaus,  daß  er  gut  zahlte,  und  seine  Leute  auch 
sonst  gut  behandelte. 

1  Xen.  Hell.  I  5, 11—14,  Diod.  XIII 71,  Plut.  Lys.  5,  Alk.  35,  Nepos  Ale.  7, 
lustin.  V  5  (wertlos). 

Beloch,  Griech.  Geschichte  II,  i.     2.  Aufl.  27 


418  >^il-  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Konon  von  Anaphlystos,  einer  der  Mitfeldherren  des  Alki- 
biades,  der  bei  den  Wahlen  für  das  nächste  Jahr  im  Amte 
bestätigt  worden  war  ^.  ^ 

Um  diese  Zeit  machten  die  Peloponnesier  den  Versuch, 
Athen  durch  einen  Handstreich  zu  nehmen.  Agis,  der  noch 
immer  in  Dekeleia  stand,  zog  Verstärkungen  an  sich  und 
führte  dann  sein  Heer,  12  000  Hopliten  und  ebensoviel  leichte 
Truppen  nebst  1200  Reitern,  in  einer  mondlosen  Nacht  gegen 
die  Stadt.  Doch  die  Athener  hielten  gute  Wacht  und  eilten 
sogleich  auf  die  Mauer,  so  daß  Agis  nichts  übrig  blieb,  als 
unverrichtetersache  wieder  abzuziehen  ^. 

Lysandros'  Amtsjahr  war  inzwischen  längst  abgelaufen 
und  Kallikratidas  übernahm  den  Befehl  über  die  Flotte  (Früh- 
jahr 406).  Der  neue  Nauarch  war  ein  Spartaner  von  altem 
Schrot  und  Korn,  der  sich  nicht  dazu  hergab,  Kyros  den  Hof 
zu  machen;  was  dann  zur  Folge  hatte,  daß  dieser  ihm  die 
Subsidien  sperrte.  Gleichwohl  gelang  es  Kallikratidas,  mit 
Unterstützung  der  kleinasiatischen  Bundesstädte,  die  sehr 
wohl  wußten,  was  auf  dem  Spiele  stand,  seine  Flotte  auf 
140  Trieren  zu  verstärken,  und  er  war  damit  in  der  Lage,  eine 
kräftige  Offensive  zu  ergreifen.  Das  athenische  Kastell  am 
Delphinion  auf  Chios  wurde  erstürmt,  dann  Teos  und  Me- 
thymna  genommen.  Konon  war  viel  zu  schwach,  diese  Erfolge 
zu  hindern;  denn  seine  Seeleute,  denen  er  aus  Geldmangel 
den  Sold'  nur  unregelmäßig  zahlen  konnte,  desertierten  in 
Masse,  so  daß  der  Bestand  seiner  Flotte  auf  70  Trieren  herab- 
sank. Endlich  zwang  ihn  Kallikratidas  vor  dem  Hafen  von 
Mytilene  zur  Schlacht;  30  attische  Trieren  wurden  genommen, 
der  Rest  in  Mytilene  eingeschlossen.  Auch  ein  athenisches 
Geschwader  von  12  Trieren,  das  von  Samos  zur  Hilfe  herbei- 
kam, wurde  bis  auf  2  Schiffe  genommen.     Die  große  Flotte 


1  Xen.  Hell.  I  5,  15—18,  Diod.  XIII  73  f.,  Plut.  Alk.  36,  Lys.  5,  Nepos 
Ale.  7,  vgl.  Lys.  gAlk.  I  36  ff.,  Isokr.  16,  38.    Weiteres  unten  2.  Abt.  §  107. 

^  Diod.  XIII  72,  der  die  Sache  gleich  nach  der  Schlacht  bei  Notion  und 
vor  Alkibiades'  Absetzung  erzählt.  Daß  Xenophon  nichts  davon  erwähnt,  ist 
kein  genügender  Grund,  in  dem  Bericht  Diodor  ein  Duplikat  des  Angriffs  im 
Jahr  410  zu  sehen,  der  bei  Diodor  übergangen  wird. 


Schlacht  an  den  Arginusen.  419 

die  so  lange  das  Aegaeische  Meer  beherrscht  hatte,  bestand 
nicht  mehr:  der  Fall  der  belagerten  Stadt  schien  in  kurzer 
Frist  zu  erwarten,  und  damit  war  menschlichem  Ermessen 
nach  die  Entscheidung  des  Krieges  gegeben  ^. 

So  hatte  sich  die  Lage  gewandelt,  seit  Alkibiades  vor 
kaum  einem  Jahre  zur  Unterwerfung  loniens  ausgesegelt 
war.  Aber  man  begriff  in  Athen,  daß  es  gelte,  das  äußerste 
aufzubieten,  um  den  drohenden  Schlag  abzuwehren.  Was 
noch  von  Schiffen  im  Arsenale  lag,  wurde  in  Stand  gesetzt, 
alle  kriegstüchtige  Mannschaft  in  Attika  aufgeboten;  den 
-Metoeken  wurde  das  Bürgerrecht,  den  Sklaven  die  Freiheit 
versprochen  ^.  Zur  Bestreitung  der  Kosten  wurde  fast  alles 
eingeschmolzen,  was  an  Weihgeschenken  aus  edlem  Metall 
in  den  Tempeln  auf  der  Akropolis  noch  übrig  war  ^;  selbst 
die  goldenen  Statuen  der  Siegesgöttin  wanderten  bis  auf  zwei 
in  die  Münze,  doch  wurde  das  Gewand  der  Parthenos  selbst 
in  dieser  Zeit  höchster  finanzieller  Bedrängnis  nicht  an- 
getastet. So  wurden  110  Trieren  bemannt;  Samos  stellte 
10  Schiffe,  aus  allen  Teilen  des  Aegaeischen  Meeres  wurden 
die  zerstreuten  Geschwader  herangerufen.  Nach  Verlauf  eines 
Monats  konnten  150  Trieren  zum  Entsatz  von  Mytilene  in  See 
gehen.  Auf  die  Nachricht  davon  teilte  Kallikratidas  seine 
Flotte,  die  inzwischen  auf  170  Trieren  verstärkt  worden  war; 
er  ließ  50  Schiffe  vor  Mytilene  zurück  und  fuhr  selbst  mit 
120  Schiffen  dem  Feinde  entgegen.  Bei  der  Inselgruppe 
der  Arginusen,  am  südlichen  Eingang  in  den  Sund  von  Lesbos, 
kam  es  zur  Seeschlacht,  der  größten,  die  bisher  in  diesem 
Kriege  geschlagen  worden  war,  und  noch  einmal  blieb  der 
Sieg  den  Athenern.      Kallikratidas  fiel,   mehr  als   70  seiner 


1  Xen.  Hell.  I  5,  20—6,  24.  Diod.  XIII  76—78.  Polyaen.  I  48,  2.  Er- 
oberung des  Delphinion  und  von  Teos  (die  Handschr.  geben  'Hiöva,  was  nach 
Diod.  XIII  76,  4  zu  verbessern  ist):  Xen.  Hell  I  5,  15.  Wann  Teos,  das  412 
zu  den  Peloponnesiern  abgefallen  war  (oben  S.  376),  von  den  Athenern  zurück- 
gewonnen worden  ist,   wird  nicht  überliefert. 

-  Xen.  Hell.  I  6,  24.  Diod.  XIII  97,  1.  Aristoph.  Frösche  33.  190.  693  f., 
und  Hellanikos  in  den  Scholien  zu  letzterer  Stelle;  über  die  Niken  Foucart, 
Bull.   Corr.  Hell.   XII,  1888,   S.  283  ff. 

=»  CIA.  I  140  S.  69,  vgl.  S.  77,  Schol.  Aristoph.  Frösche  720. 

27* 


420  XII,  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Schiffe  wurden  versenkt  oder  genommen,  der  Rest  rettete 
sich  nach  Chios  und  Phokaea.  Hätten  die  athenischen  Feld- 
herren ihren  Sieg  kräftig  verfolgt,  so  konnte  auch  das  Blockade- 
geschwader vor  Mytilene  vernichtet  werden.  Aber  statt  zu 
handeln,  hielten  sie  Kriegsrat  ab;  darüber  setzte  ein  heftiger 
Nordwind  ein,  der  nicht  nur  die  Fahrt  nach  Mytilene  unmög- 
lich macKte,  sondern  die  Athener  auch  an  der  Rettung  ihrer 
eigenen  Schiffbrüchigen  verhinderte.  So  gelang  es  den  Pelo- 
ponnesiern,  ihre  Landtruppen  und  Vorräte  an  Bord  zu  nehmen 
und  ihr  Geschwader  nach  Chios  in  Sicherheit  zu  bringen 
(August  406)  1. 

Auch  so  hatten  die  Athener  Großes  erreicht;  Konon 
war  entsetzt,  das  maritime  Übergewicht  Athens  wieder  her- 
gestellt. Aber  freilich  war  der  Sieg  teuer  erkauft;  25  Trieren 
mit  fast  ihrer  ganzen  Mannschaft  waren  verloren  gegangen, 
und  diese  Verluste  wurden  um  so  schwerer  empfunden,  als 
die  Flotte  diesmal  nicht  wie  sonst  mit  gemieteten  Ruderern, 
sondern  zum  großen  Teil  mit  athenischen  Bürgern  bemannt 
war.  Bald  ging  das  Gerücht,  die  auf  den  Wracks  und  den 
Schiffstrümmern  umhertreibenden  Seeleute  hätten  gerettet 
werden  können,  wenn  die  Strategen  sie  nicht  hilflos  ihrem 
Schicksal  überlassen  hätten.  Daraufhin  wurden  die  Feld- 
herren vom  Amt  suspendiert  und  zur  Rechenschaft  nach  Athen 
gerufen.  Sie  versuchten  es  nun,  die  Verantwortung  auf  die 
Trierarchen  abzuwälzen,  denen  sie  die  Bergung  der  Schiff- 
brüchigen befohlen  hatten,  darunter  Thrasybulos  und  Thera- 
menes;  aber  sie  verschlimmerten  damit  nur  ihre  Lage,  denn 
jetzt  waren  Theramenes  und  seine  Genossen  gezwungen, 
um  ihrer  Rettung  willen  zu  Anklägern  der  Strategen  zu  werden. 
Es  wurde  ihnen  denn  auch  nicht  schwer,  nachzuweisen,  daß 
sie  den  Befehl,  die  Schiffbrüchigen  zu  bergen,  erst  erhalten 
hatten,  als  der  Sturm  jeden  Rettungsversuch  unmöglich 
machte,  und  damit  die  Verantwortung  auf  die  Strategen 
zurückzuwerfen.  Die  Erbitterung  gegen  diese  wuchs  nun  beim 
Volk  höher  und  höher;  man  beschloß,  die  Sache  nicht  an  das 

1  Xen.  Hell  I  6,  19—38,  Diod.  XIII  97—100.  Über  die  Chronologie 
unten  2.  Abt.   §  103. 


Feldherrenprozeß  in  Athen.  421 

Gericht  zu  verweisen,  sondern  in  der  Volksversammlung 
selbst  zur  Verhandlung  zu  bringen.  Nach  zwei  stürmischen 
Sitzungen  wurde  das  Urteil  gesprochen,  gegen  das  Herkommen 
nicht  über  jeden  Angeklagten  einzeln,  sondern  über  alle  zu- 
gleich; es  lautete  auf  den  Tod  und  Einziehung  des  Vermögens. 
Von  den  8  Strategen,  die  bei  den  Arginusen  befehligt  hatten, 
hatten  zwei,  Protomachos  und  Aristogenes,  in  richtiger  Er- 
kenntnis der  Lage  es  überhaupt  nicht  gewagt,  sich  dem  Volke 
zu  stellen;  die  übrigen  sechs  wurden  hingerichtet.  Es  waren 
Perikles,  der  Sohn  des  großen  Perikles  und  der  Aspasia,  Thra- 
syllos,  der  bei  der  demokratischen  Erhebung  auf  Samos  in 
erster  Reihe  gestanden,  dann  Diomedon,  Lysias,  Erasinides 
und  Aristokrates,  alles  gute  Demokraten  und  verdiente  Offi- 
ziere, die  nach  dem  großen  Siege,  durch  den  sie  soeben  Athens 
Meeresherrschaft  gerettet  hatten,  wohl  auf  mildere  Beurteilung 
Anspruch  gehabt  hätten,  selbst  wenn  sie  wirklich  nicht  alles 
getan  haben  sollten,  was  zur  Rettung  ihrer  verunglückten 
Leute  möglich  war.  So  hat  Sokrates  die  Sache  angesehen,  der 
bei  der  entscheidenden  Abstimmung  unter  den  Prytanen  saß; 
und  die  öffentliche  Meinung  Athens  ist  bald  zu  derselben 
Einsicht  gekommen.  Die  Verurteilung  der  Feldherren  von 
Seiten  der  erregten  Volksmenge  ist  menschlich  zu  begreifen 
und  also  auch  zu  entschuldigen;  aber  sie  bleibt  ein  Schandfleck 
für  Athen  oder  vielmehr  für  die  Verfassung,  unter  der  solche 
Dinge  geschehen  konnten  (Oktober  406)  ^. 


1  Xen.  Hell.  I  7,  II  3,  32.  35,  Diod.  XIII  101—103.  Die  beste  neuere 
Darstellung  ist  noch  immer  die  von  Grote  (Kap.  64,  VII  417  ff.).  Daß  eine 
Verletzung  des  formellen  Rechtes  bei  dem  Prozeß  nicht  stattgefunden  hat,  ist 
richtig  (Fränkel,  Att.  Geschworenenger.,  Berlin  1877,  S.  75  ff.),  aber  nur  darum, 
weil  die  Verteidiger  der  Strategen  gegenüber  dem  Toben  des  Volkes  nicht  den 
Mut  hatten,  die  Ypc^pn  Ttapvöjaujv  aufrecht  zu  erhalten,  die  sie  gegen  den  An- 
kläger Kallixenos  angemeldet  hatten.  Es  ist  ganz  falsch,  zu  meinen,  die  Strategen 
wären  verurteilt  worden,  weil  sie  die  Bergung  der  Toten  unterlassen  hätten 
(so  schon  Diod.  XIII  100  f.);  er  handelte  sich  in  erster  Linie  um  die  Schiff- 
brüchigen (Xenophon  spricht  stets  von  den  vauaTOi,  vgl.  ganz  besonders  Hell. 
I  7,  11).  Herbst,  Schlacht  bei  den  Argimcsen  (Progr.  Hamburg  1855)  ist  ziemlich 
wertlos  und  in  der  Auffassung  verfehlt.  Über  Theramenes'  Haltung  meine 
Att.  Politik  S.  87  f.     Bezeichnenderweise  machen  ihm  die  Neueren  einen  Vor- 


422  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Politische  Motive  scheinen  bei  der  Anklage  gegen  die 
Feldherren  kaum  mitgespielt  zu  haben.  Aber  es  konnte  doch 
nicht  fehlen,  daß  die  Partei  des  Alkibiades  ihren  Vorteil  aus 
dem  Sturz  des  Strategenkollegiums  zog,  das  im  letzten  Früh- 
jahr Alkibiades  und  seine  Freunde  aus  ihrer  leitenden  Stellung 
verdrängt  hatte.  Alkibiades'  Rückberufung  wurde  jetzt  in 
Athen  lebhaft  erörtert  ^,  und  wenn  auch  bei  der  Tyrannen- 
furcht der  Menge  diese  Agitation  erfolglos  blieb,  so  war  doch 
Alkibiades'  Freund  Adeimantos  unter  den  neuen  Strategen, 
die  zum  Ersatz  der  hingerichteten  Feldherren  erwählt  wurden. 
Auch  Theramenes  wurde  gewählt,  seine  Wahl  aber  bei  der 
Prüfung  vor  Gericht  kassiert  ^.  Kleophons  Einfluß  blieb  nach 
wie  vor  in  Athen  maßgebend.  An  die  Spitze  der  Flotte  traten 
Konon,  Adeimantos  und  Philokles;  im  Frühjahr  wählte  man 
noch  drei  andere  Strategen  hinzu,  Menandros  und  Tydeus, 
die  bereits  in  Sicilien  befehligt  hatten,  und  Kephisodotos, 
der  jetzt  zum  ersten  Male  hervortritt.  Die  Feldherren  sollten 
täglich  im  Oberbefehl  abwechseln,  wodurch  natürlich  jede 
Einheitlichkeit   der  Leitung  verloren  ging  ^. 


Wurf  daraus,  daß  er  sich  gegen  die  Anklage  der  Strategen  verteidigte  (wenn 
Kritias  das  bei  Xen.  Hell.  VI  3,  32  tut,  so  ist  das  etwas  ganz  anderes),  während 
sie  von  Thrasybulos  kein  Wort  sagen.  Cet  animal  est  tres  mechant,  quand  on 
l'attaque,  ü  se  defend.  Und  doch  hat  Theramenes  die  Strategen  zu  entlasten 
versucht  (Xen.  Hell.  17,  6).  Wohl  aber  ist  klar,  daß  die  Strategen  sich  selbst 
um  die  Rettung,  der  Schiffrührigen  hätten  bekümmern  müssen,  und  es  gibt 
überhaupt  nichts  Verächtlicheres,  als  wenn  ein  Vorgesetzter  seinen  Unter- 
gebenen zum  Sündenbock  machen  will.  Perikles  und  Diomedon,  die  Gentlemen 
waren,  hatten  das  zu  verhindern  gesucht  (Xen.  Hell.  I  7,  17).  —  Aristokrates 
ist  wahrscheinlich  nicht  identisch  mit  dem  gleichnamigen  Taxiarchen,  der  an 
Theramenes  Seite  die  Herrschaft  der  Vierhundert  stürzen  half,  sondern  mit 
dem  CIA.  I  188  erwähnten  Strategen  der  Flotte  auf  Samos,  vgl.  meine  Alt. 
Politik  S.  327   und  unten  2.  Abt.   §  112. 

^  Aristoph.  Frösche  1422  ff. 

*  Lysias  13  (gAgorat.)  10,  vgl.  meine  Atiische  Politik  S.  90. 

3  Xen.  Hell.  I  7,  1,  über  den  Wechsel  im  Oberbefehl  Diod.  XIII  106. 
Tydeus  (der  Name  ist  in  Athen  selten)  ist  zweifellos  identisch  mit  dem  in  der 
Rede  für  Polystraios  26  erwähnten  athenischen  Befehlshaber  in  Katane;  Menan- 
dros wird  derselbe  sein,  der  im  Frühjahr  413  Nikias  im  Befehl  vor  Syrakus 
beigeordnet  wurde  (Thuk.  VII  16). 


Die  neuen  Strategen.  —  Friedensverhandlungen.  423 


In  Sparta  mußte  die  Niederlage  bei  den  Arginusen  einen 
noch  tieferen  Eindruck  machen,  als  einst  die  Niederlage  bei 
Kyzikos.  Damals  waren  nur  die  leeren  Schiffe  verloren  ge- 
gangen; jetzt  betrug  der  Verlust  über  70  Trieren  mit  der 
ganzen  Bemannung,  gegen  14  000  Mann;  noch  keine  Schlacht 
dieses  Krieges  hatte  auch  nur  annähernd  solche  Opfer  gekostet. 
Und  Sparta  selbst  war  besonders  schwer  betroffen;  denn  von 
den  10  Schiffen,  die  es  gestellt  hatte,  hatte  nur  eins  sich  zu 
retten  vermocht.  Athens  Hilfsquellen  aber  schienen  uner- 
schöpflich und  das  Ende  des  Krieges  ferner  als  je.  Schon 
vor  zwei  Jahren,  nach  Alkibiades'  Erfolgen  am  Bosporos, 
hatte  man  Verhandlungen  angeknüpft,  zunächst  zum  Aus- 
tausch und  der  Auslösung  der  Gefangenen  ^;  jetzt  entschloß 
man  sich,  noch  einmal  den  Frieden  anzubieten,  natürlich 
wieder  auf  der  Grundlage  des  gegenwärtigen  Besitzstandes, 
die  allein  möglich  war.  Aber  Kleophon  war  nach  dem  neuen 
glänzenden  Siege  weniger  als  je  geneigt,  einem  Frieden  zuzu- 
stimmen, der  Athens  Machtgebiet  nicht  im  vollen  Umfange 
wieder  herstellte;  und  auf  seinen  Betrieb  wurden  die  lake- 
daemonischen  Vorschläge  abgewiesen  ^. 

Kyros  und  die  ionischen  Bundesgenossen  der  Pelo- 
ponnesier  verlangten  nun,  daß  Lysandros  wieder  an  die  Spitze 
der  Flotte  gestellt  würde,  der  einzige  Mann,  der  sich  bisher 
in  der  Leitung  des  Seekrieges  bewährt  hatte;  und  Sparta 
konnte  sich  dieser  Forderung  nicht  entziehen.  Es  gab  aller- 
dings ein  Gesetz,  wonach  niemand  mehr  als  einmal  im  Leben 
die  Nauarchie  bekleiden  durfte;  man  half  sich  also  damit, 
daß  man  Lysandros  zwar  nicht  den  Titel,  wohl  aber  die  Kom- 
petenz eines  Nauarchen  gab  ^  Die  reichlichen  Hilfsgelder, 
die  Kyros  nun  zahlte,  machten  es  Lysandros  leicht,  die  bei  den 


1  S.  das  von  Usener,  Fleckeisens  Jahrb.  CHI,  1871,  S.  311  ff.  hergestellte 
Fragment  Androtions   (Archon   EÖKTr||uuuv,    4(^/1). 

^  Aristot.  ATT,  34,  1,  vgl.  Aristophanes  am  Schlüsse  der  Frösche.  Grote 
(VIII  S.  1  A.)  würde  die  Richtigkeit  dieser  Angabe  kaum  bezweifelt  haben, 
hätte  ihm  statt  der  Scholien  zu  Aristophanes  der  Text  der  'ASrivailuv  iroXiTefa 
selbst  vorgelegen. 

3  Xen.  Hell.  II  1,  6  f.,  Plut.  Lys.  7,  näheres  unten  2.  Abt.  §  115. 


424  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Arginusen  erlittenen  Verluste  zu  ersetzen;  freilich  erforderte 
die  Rüstung  Zeit,  und  erst  im  Hochsommer  405  war  die  pelo- 
ponnesische  Flotte  imstande,  wieder  die  Offensive  zu  er- 
greifen ^.  Sie  wandte  sich  nach  dem  Hellespont,  wo  Lam- 
psakos  mit  Sturm  genommen  wurde.  Die  Athener  folgten 
sogleich  und  legten  sich  Lampsakos  gegenüber  am  Ufer  des 
thrakischen  Chersones  auf  der  offenen  Reede  von  Aegos- 
potamoi  vor  Anker;  im  Vertrauen  auf  ihre  überlegene  See- 
tüchtigkeit glaubten  sie  den  Rückhalt  eines  befestigten  Platzes 
entbehren  zu  können.  An  Stärke  standen  die  beiden  Gegner 
sich  annähernd  gleich;  die  Athener  hatten  180,  die  Pelo- 
ponnesier  gegen  200  Trieren;  aber  Lysandros  weigerte  sich 
die  Schlacht  anzunehmen,  welche  der  Feind  ihm  anbot,  und 
blieb  mit  seinen  Schiffen  unbeweglich  im  Hafen  von  Lam- 
psakos. Erst  am  fünften  Tage  schritt  er  unvermutet  zum 
Angriff,  eben  als  die  Athener,  durch  sein  langes  Zögern  sicher 
gemacht,  sich  am  Lande  zerstreut  hatten.  Rasch  durchschnitt 
die  peloponnesische  Flotte  die  schmale  Meerenge;  den  Athenern 
blieb  keine  Zeit,  ihre  Schiffe  zu  bemannen  oder  gar  sich  in 
Schlachtordnung  aufzustellen.  So  fiel  die  athenische  Flotte 
fast  ohne  Widerstand  in  die  Hände  des  Feindes;  nur  20  Schiffe 
mit  dem  Strategen  Konon  entkamen.  Von  der  Bemannung 
der  übrigen  Flotte  rettete  sich  der  größte  Teil  nach  Sestos 
und  anderen  Plätzen  des  Chersones;  immerhin  machte  der 
Sieger  viele  Tausende  von  Gefangenen.  Die  Athener  darunter, 
3000   Mann,    ließ    Lysandros   in    Lampsakos   hinrichten,    zur 


^  Die  Stärke  der  athenischen  Flotte  gibt  Xen.  Hell.  II 1,  30  auf  180  Schiffe 
an,  Diod.  XIII  104,  2  auf  173,  von  denen  20  bei  Samos  zurückgebUeben  wären 
(die  letztere  Angabe  bestätigt  durch  CIA.  IV  2,  1);  die  peloponnesische  Flotte 
war  nach  Plut.  Lys.  9  der  athenischen  an  Zahl  der  Schiffe  ungefähr  gleich,  nach 
Xenophon  II  2,  5  zählte  sie  nach  der  Schlacht  200  Trieren.  Vor  Athen  hatte 
Lysandros  dann,  nach  manchen  Entsendungen,  noch  150  Trieren  (Xen.  Hell. 
II  2,  9).  Eine  Aufzählung  der  einzelnen  Kontingente  und  ihrer  Führer  gibt 
Paus.  X  9,  7 — 10  nach  dem  delphischen  Siegesdenkmal;  die  Inschriften  dieses 
Denkmals  sind  jetzt  bei  den  Ausgrabungen  wieder  aufgefunden  (Homolle, 
Bull.  Corr.  Hell.  XXI,  1897,  S.  284  ff.  Pomtow,  Athen.  Mut.  XXXI,  1906, 
S.  505.  Inschrift  der  Statue  Lysandros'  in  Delphi  Jahrb.  Arch.  Inst.  XVII,  1902, 
Anz.  S.  18). 


Schlacht  bei  Aegospotamoi,  425 

Repressalie  für  Barbareien,  welche  von  athenischer  Seite 
gegen  peloponnesische  Gefangene  verübt  worden  waren.  Nur 
Adeimantos  wurde  verschont;  wie  man  meinte,  weil  er  die 
Flotte  an  Lysandros  verraten  hätte  (August  /  September 
405)  1. 

Nie  ist  ein  großer  Sieg  mit  geringeren  Opfern  gewonnen 
worden;  ohne  ein  Schiff,  ja,  fast  ohne  einen  Mann  einzubüßen, 
hatte  Lysandros  die  ganze  athenische  Flotte  vernichtet.  Der 
Krieg  war  entschieden;  Athen  besaß  jetzt  keine  Mittel  mehr, 
eine  neue  Flotte  auszurüsten.  Selbst  die  wenigen  aus  der 
Niederlage  geretteten  Schiffe  gingen  Athen  zum  Teile  verloren; 
denn  Konon  wagte  es  nicht,  seinen  Mitbürgern  vor  Augen 
zu  treten,  und  suchte  mit  8  Trieren  Zuflucht  bei  dem  Athen 
befreundeten  Könige  von  Salamis  auf  Kypros,  Euagoras  ^. 
Überall  brach  nun  die  athenische  Herrschaft  zusammen; 
die  festen  Plätze  des  Reiches  ergaben  sich  ohne  Widerstand, 
um  so  mehr,  als  Lysandros  den  Besatzungen  freien  Abzug 
gewährte.  So  fiel  erst  Sestos,  dann  Byzantion,  dann  Mytilene; 
zehn  Schiffe  genügten,  um  das  ganze  athenische  Thrakien 
zur  Unterwerfung  unter  Sparta  zu  bringen.  Von  allen  Bundes- 
städten hielt  nur  Samos  fest  an  der  Treue  gegen  Athen  ^. 

Eine  der  geretteten  Trieren  brachte  die  Nachricht  von 
der  Vernichtung  der  Flotte  nach  dem  Peiraeeus.  Es  war  schon 
dunkel,  als  das  Schiff  in  den  Hafen  einlief;  aber  die  Unglücks- 
botschaft verbreitete  sich  noch  am  selben  Abend  gleich  einem 
Lauffeuer  durch  die  ganze  Stadt;  und  wie  ein  Zeitgenosse 
berichtet,  vermochte  niemand  in  dieser  Nacht  ein  Auge  zu 
schließen.    Jetzt  stieg  die  Erinnerung  herauf  an  all  die  Frevel, 

1  Xen.  Hell.  II 1,  Plut.  Lys.  7—13,  Alk.  36  f.,  NeposLys.  8,  Polyaen.  I  45,  2, 
Diod.  XIII  104 — 106.  Der  Schlachtbericht  Diodors  weicht  in  wesentlichen 
Punkten  von  Xenophon  ab  und  ist  größtenteils  wertlos.  Von  Adeimantos'  Verrat 
spricht  auch  Lysias  14  {gAlk.  I)  38,  vgl.  Dem.  vdGes.  19.  In  den  12  geretteten 
Schiffen,  von  denen  Lys.  21  (diToX.  bujpob.)  11  spricht,  sind  offenbar  die  8  Trieren 
nicht  einbegriffen,  die  Konon  nach  Kypros  führte,  vgl.  Isokr.  gKallim.  59.  Über 
die  Zeit  unten  2.  Abt.   §  103. 

2  Xen.  Hell.  II,  1,  29,  Diod.  XIII  106,  6.  Athenisches  Ehrendekret  für 
Euagoras  aus  der  Zeit  von  407  bis  405  CIA.  I  64. 

=»  Xen.  Hell  II  2,  1—6,  Plut.  Lys.  13,  Diod.  XIII  106. 


426  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

die  Athen  in  der  Zeit  seiner  Macht  gegen  andere  hellenische 
Städte  verübt  hatte;  man  gedachte  der  Bürger  von  Melos, 
von  Skione,  von  Torone,  die  man  zum  Tode  geführt,  deren 
Weiber  und  Kinder  man  in  die  Knechtschaft  verkauft  hatte, 
der  Bewohner  von  Aegina  und  Histiaea,  die  man  von  Haus 
und  Hof  hinweg  ins  Elend  getrieben.  Wie,  wenn  die  Sieger 
jetzt  gleiches  mit  gleichem  vergalten?  Aber  man  war  ent- 
schlossen, was  auch  kommen  möge,  wenigstens  mit  Ehren 
zu  fallen.  Die  Stadt  wurde  also  in  Verteidigungszustand 
gesetzt,  allen  denen,  die  wegen  ihrer  Teilnahme  an  der  oli- 
garchischen  Bewegung  des  Jahres  411  oder  als  zahlungs- 
unfähige Staatsschuldner  politisch  rechtlos  geworden  waren, 
wurden  ihre  vollen  Rechte  zurückgegeben,  den  treuen  Samiern 
das  athenische  Bürgerrecht  verliehen.  Nur  die  Verbannten 
zurückzurufen,  konnte  man  sich  auch  jetzt  nicht  entschließen  ^. 
Bald  erschien  Lysandros  mit  150  Schiffen  im  Saronischen 
Busen;  er  nahm  Aegina  ein,  und  legte  sich  dann  vor  den 
Peiraeeus.  Gleichzeitig  führte  König  Pausanias,  der  seinem 
Vater  Pleistoanax  vor  vier  Jahren  (409/8)  auf  dem  Thron 
der  Agiaden  gefolgt  war,  das  Gesamtaufgebot  der  Peloponnesier 
nach  Attika,  wo  er  sich  mit  den  Truppen  vereinigte,  die  unter 
Agis  Dekeleia  besetzt  hielten.  Beide  Könige  rückten  nun 
vor  Athen  und  schlugen  ihr  Lager  bei  der  Akademie,  in  un- 
mittelbarer Nähe  der  Mauern  auf.  Sie  mußten  sich  allerdings 
überzeugen,  daß  die  Stadt  mit  Gewalt  nicht  zu  nehmen  war; 
das  peloponnesische  Heer  kehrte  also  mit  Anbruch  des  Winters 
in  die  Heimat  zurück,  und  nur  die  Flotte  blieb,  um  Athen 
die  Zufuhr  zur  See  abzuschneiden.  Nach  einigen  Monaten, 
etwa  im  Januar,  begannen  in  der  volkreichen  Stadt  die  Vor- 
räte knapp  zu  werden,  und  jetzt  endlich  bequemten  sich 
die    Belagerten    zur    Unterhandlung  ^.      Athen    erklärte   sich 


^  Xen.  Hell.  II,  2,  3  f.  Der  Volksbeschluß  über  die  Rehabilitierung  der 
äTijUoi  bei  Andok.  vdMyst.  11—19,  vgl.  Xen.  Hell.  II  2,  11,  Lysias  25,  27;  der 
Beschluß  über  die  Verleihung  des  Bürgerrechts  an  die  Samier  CIA.  IV  2,  1  b. 
Einsichtige  Pohtiker  hatten  beide  Maßregeln  schon  längst  empfohlen;  vgl. 
Aristoph.   Lysistr.   582  ff.,    Frösche   689  ff. 

2  Xen.  Hell.  II  2,  5—11,  Diod.  XIII  107,  Isokr.  18  (gKalUm.)  60  f. 


Belagerung  von  Athen.  —  Unterhandlungen.  427 

bereit,  auf  das  Reich  bis  auf  Samos  und  die  Kleruchien  zu 
verzichten  und  mit  Sparta  in  Bund  zu  treten.  Auf  solche 
Anerbietungen  konnten  die  Sieger  natürlich  nicht  eingehen; 
sie  forderten  Niederreißung  der  langen  Mauern  auf  eine  Strecke 
von  10  Stadien  (gegen  2  km)  und  Abtretung  aller  auswärtigen 
Besitzungen  bis  auf  Lemnos,  Imbros  und  Skyros,  wo  seit  einem 
Jahrhundert  eine  athenische  Bevölkerung  ansässig  war  und 
es  keine  alten  Bewohner  mehr  gab,  die  man  hätte  zurück- 
führen können.  Aber  Kleophon  konnte  sich  noch  immer  in  die 
Lage  nicht  finden;  auf  seinen  Antrag  beschloß  das  Volk,  nie- 
manden anzuhören,  der  es  wagen  würde,  für  einen  solchen 
Frieden  zu  sprechen  ^. 

Das  war  ja  nun  offener  Wahnsinn;  denn  Athen  hatte 
von  keiner  Seite  Hilfe  zu  erwarten,  und  nur  ein  Wunder  hätte 
die  Stadt  retten  können.  Jede  Verlängerung  des  Widerstandes 
also  konnte  nur  die  Folge  haben,  die  Forderungen  der  Sieger 
zu  steigern,  ja,  die  Gefahr  lag  nahe,  daß  Sparta,  wenn  die 
Verhandlungen  einmal  abgebrochen  waren,  ihre  Wieder- 
aufnahme überhaupt  ablehnte  und  Unterwerfung  auf  Gnade 
und  Ungnade  forderte.  Das  abzuwenden,  erbot  sich  Thera- 
menes,  als  Gesandter  zu  Lysandros  zu  gehen,  um  den  Versuch 
zu  machen,  bessere  Bedingungen  zu  erwirken;  er  wußte  natür- 
lich sehr  wohl,  daß  er  nichts  erreichen  würde,  aber  es  galt,  die 
Verhandlungen  hinzuziehen,  bis  das  Volk  zur  Besinnung  ge- 
kommen wäre.  So  blieb  Theramenes  drei  Monate  in  Lysandros' 
Hauptquartier,  während  die  Hungersnot  in  Athen  immer 
höher  stieg  und  zahlreiche  Opfer  hinwegraffte.  Theramenes* 
Freunde  waren  indessen  nicht  untätig;  die  Friedenspartei 
bekam  im  Rate  das  Übergewicht,  Kleophon  wurde  vor  Gericht 
gestellt,  unter  der  Anklage,  seine  Pflicht  als  Offizier  nicht 
erfüllt  zu  haben,  und  wie  die  Strömung  in  Athen  jetzt  ging, 
gelang  es,  seine  Verurteilung  und  Hinrichtung  durchzusetzen  ^. 


^  Xen.  Hell.  II  2,  12—15,  Lys.  13  {gAgorat.)  8,  Aesch.  vdGes.  76,  Plut. 
Apophth.  Lakon,  22  S.  233.  Bei  der  Aufnahme  der  Samier  in  den  Bürgerverband 
hatte  sich  Athen,  wie  natürlich,  verpflichtet,  keinen  Frieden  zu  schließen,  in  dem 
Samos  nicht   einbegriffen  wäre  {CIA.   IV  2,  1  b). 

-  Xen.  Hell.  II  2,  16,  Lysias  gEratosth.  68  ff.,  gAgorai.  9—12.  20,  gNikom, 


428  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

Der  Hauptgegner  des  Friedens  war  damit  aus  dem  Wege 
geräumt.  Theramenes  kehrte  nun  nach  Athen  zurück  und 
wurde  sogleich  an  der  Spitze  einer  Gesandtschaft  nach  Sparta 
gesandt,  mit  unbeschränkter  Vollmacht  zum  Abschlüsse  des 
Friedens.  Natürlich  konnte  von  Bedingungen,  wie  sie  vor 
vier  Monaten  bewilligt  worden  wären,  jetzt  nicht  mehr  die 
Rede  sein.  Ja,  die  Korinthier,  Thebaner  und  andere  sparta- 
nische Bundesgenossen  stellten  die  Forderung,  daß  Athen 
zerstört,  seine  Bürger  in  die  Sklaverei  verkauft  würden  ^. 
Von  solcher  Barbarei  war  Sparta  weit  entfernt  ^;  hat  doch 
Sparta  seit  der  Eroberung  Messeniens  niemals  eine  hellenische 
Gemeinde  vernichtet.  Athen  wurde  also  der  Frieden  gewährt; 
es  behielt  seine  Unabhängigkeit  und  blieb  im  Besitze  seines 
attischen  Landgebietes  mit  Einschluß  von  Salamis.  Dagegen 
mußte  es  alle  auswärtigen  Besitzungen  abtreten,  die  Be- 
festigungen des  Peiraeeus  und  die  langen  Mauern,  die  den 
Hafen  mit  der  Stadt  verbanden,  niederreißen,  seine  Kriegs- 
schiffe bis  auf  12  ausliefern,  die  Verbannten  zurückrufen 
und  sich   Sparta  gegenüber  zur  Heeresfolge  verpflichten  ^. 

10 — 13.  Daß  Kleophon  vor  Theramenes'  Rückkehr  aus  Sparta  hingerichtet 
wurde,  sagt  Lys.  gAgoratos  12;  da  er  aber  die  beiden  Gesandtschaften  des  Thera- 
menes zu  Lysandros  und  nach  Sparta  zusammenwirft,  so  steht  nichts  im  Wege, 
die  Hinrichtung  Kleophons  schon  vor  die  Rückkehr  des  Theramenes  von  Lysan- 
dros zu  setzen,  was  aus  inneren  Gründen  sehr  wahrscheinlich  ist.  Nach  Schol. 
Aristoph.  Frösche  679  wäre  Kleophon  Stratege  gewesen,  daß  er  wenigstens 
Offizier  war,  werden  wir  annehmen  müssen,  da  er  für  ein  Vergehen  zum  Tode 
verurteilt  wurde  (XemoaTpaTiou),  das  für  einen  gemeinen  Soldaten  nur  eine 
partielle  Atimie  im  Gefolge  gehabt  hätte  (vgl.  Rh.  Mus.  XXXIX,  1884,  S.  255  f.); 
auch  kann  doch  ein  Mann  in  Kleophons  Stellung  nicht  wohl  als  gemeiner  Soldat 
gedient  haben. 

1  Xen.  Hell.  II  2,  19;  3,  8,  VI  5,  35.  46,  Plut.  Lys.  15,  Andok.  vdMysL  142, 
vFr.  21,  Isokr.  14  (Plat.)  31  f.,  18  (gKallim.)  29. 

-  lustin.  V  8,  4.  Es  ist  eine  höchst  ungerechtfertigte  Behauptung  (Polyaen. 
I  45,  5),  Sparta  habe  Athen  verschont,  um  sich  daran  einen  Stützpunkt  gegen 
Theben  zu  schaffen.  Ganz  im  Gegenteil,  politisch  hätte  es  für  Sparta  gar  nichts 
Vorteilhafteres   geben   können   als   die   Zerstörung  Athens. 

'  Xen.  Hell.  II  2,  20,  Plut.  Lys.  14  (gibt  den  Beschluß  der  Ephoren  im 
Wortlaut),  Andok.  vFr.  12,  Diod.  XIII  107,  XIV  3.  Nach  Diodor  und  Aristot. 
ATT.  34,  3,  vgl.  lustin.  V  8,  5,  hätte  der  Vertrag  die  Bestimmung  enthalten, 
•daß  in  Athen    die    irÖTpio«;  iroXireia  bestehen  solle;   das  Friedensinstrument 


Der  Frieden.  —  Einnahme  von  Samos.  429' 


Am  Tage  nach  Theramenes'  Rückkehr  ratifizierte  ein 
Volksbeschluß  diese  Bedingungen,  und  Lysandros  fuhr  mit 
der  peloponnesischen  Flotte  in  den  Peiraeeus  ein,  am  16.  Mu- 
nichion  (April  /  Mai  404).  Lysandros  begann  jetzt  sogleich 
die  langen  Mauern  niederzureißen,  unter  dem  Jubel  seiner 
Bundesgenossen;  sie  meinten,  daß  nun  endlich  die  Freiheit 
der  Hellenen  gesichert  sei.  Sie  sollten  bald  genug  inne  werden, 
daß   sie  nur   den   Herrn  gewechselt   hatten  ^. 

Es  blieb  noch  übrig,  Samos  zur  Unterwerfung  zu  bringen. 
Lysandros  ging  also  nach  kurzem  Aufenthalt  in  Athen  dorthin 
unter  Segel  und  begann  die  Belagerung.  Die  Bürger  ver- 
teidigten sich  mit  dem  Mut  der  Verzweiflung;  wußten  sie  doch. 
daß  sie  durch  die  greuelvolle  Revolution  des  Jahres  412  (oben 
S.  385)  jeden  Anspruch  auf  Schonung  verwirkt  hatten.  Natür- 
lich war  auch  hier  aller  Widerstand  nutzlos;  nach  einigen 
Monaten  mußte  die  *Stadt  sich  ergeben.  Den  Bürgern  wurde 
freier  Abzug  bewilligt,  die  vor  8  Jajiren  vertriebenen  Grund- 
eigentümer kehrten  in  die  Heimat  zurück  und  traten  wieder 
in   den   Besitz  ihrer  Güter  ^. 

Indessen  hatten  in  Athen  die  Parteien  gehadert.  Die 
heimgekehrten  Verbannten  drängten  auf  den  Umsturz  der 
Demokratie,  und  sie  fanden  Unterstützung  bei  den  leitenden 
Männern  des  Rates.  Auch  Theramenes  hoffte  sein  altes  Ideal,, 
eine  gemäßigte  Oligarchie,  jetzt  noch  einmal  verwirklichen, 
zu  können.  Demgegenüber  rüsteten  sich  die  Demokraten  zur 
Abwehr,  an  ihrer  Spitze  die  Strategen  Strombichides  aus 
Euonymia  und  Eukrates  aus  Kydantidae,  ein  Bruder  des 
Nikias;  es  scheint,  daß  es  darauf  abgesehen  war,  die  Führer 
der  oligarchischen  Partei  aus  dem  Wege  zu  räumen.  Doch 
wurde  die  Sache  noch  rechtzeitig  dem  Rat  hinterbracht,  der 

bei  Plutarch  enthält  nichts  darüber,  und  aus  Lys.  gEratosih.  70  ff.  ergibt  sich, 
deutlich,  daß  die  Verfassungsfrage  erst  nach  Lysandros'  Rückkehr  aus  Samos- 
zur  Sprache  kam. 

1  Xen.  Hell.  II  2,  21  f.,  Plut.  Lys.  14  f.  (hier  auch  das  Datum,  vgl.  Thuk. 
V  26,  3). 

*  Xen.  Hell.  II  3,  6  f.,  Diod.  XIV  3,  4  (vorgreifend  erzählt  er  die  Belagerung 
schon  XIII 106,  8),  Plut.  Lys.  14.  Die  Vertnebenen  wurden  zum  Teil  in  Ephesos. 
und  Notion  aufgenommen  {CIA.  II  1  b  S.  393). 


430  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie. 

die  Häupter  der  Verschwörung  sogleich  in  Haft  nehmen  ließ. 
Trotzdem  glaubten  die  Oligarchen  ohne  militärischen  Rückhalt 
nicht  zum  Ziele  kcrmmen  zu  können.  Sie  sandten  also  Bot- 
schaft an  Lysandros  nach  Samos,  und  dieser  lief  nun  mit  seiner 
Flotte  zum  zweitenmal  in  den  Peiraeeus  ein.  Jetzt  wurde 
eine  Volksversammlung  einberufen,  in  der  Theramenes  den 
Antrag  stellte,  die  Demokratie  aufzuheben  und  zu  der  Ver- 
fassung zurückzukehren,  die  ,,zur  Zeit  der  Väter"  bestanden 
hatte.  Natürlich  erhob  sich  eine  heftige  Opposition;  da  aber 
trat  Lysandros  auf  und  erklärte,  daß  Athen  den  Frieden  ge- 
brochen habe;  denn  noch  ständen  die  langen  Mauern,  obgleich 
die  zu  ihrer  Niederreißung  gewährte  Frist  bereits  verstrichen 
sei;  nur  bei  Annahme  der  Vorschläge  des  Theramenes  sei  er 
bereit,  die  Verletzung  des  Vertrages  zu  verzeihen.  Dieser 
Drohung  gegenüber  verstummte  der  Widerstand,  und  es 
wurde  eine  provisorische  Regierung  von  dreißig  Männern 
eingesetzt,  mit  dem  Auftrage,  die  neue  Verfassung  auszu- 
arbeiten (Mittsommer  404).  Die  Wahl  fiel  natürlich  auf  die 
von  Theramenes  und  dem  leitenden  Ausschuß  der  Oligarchen 
bezeichneten  Kandidaten.  Nun  wurde  die  Schleifung  der 
Befestigungen  des  Peiraeeus  und  der  langen  Mauern  vollendet, 
und  die  Kriegsschiffe  an  Lysandros  ausgeliefert;  dieser  entließ 
die  Flottenkontingente  der  Bundesgenossen  in  ihre  Heimat 
und  fuhr  selbst  mit  den  erbeuteten  Schiffen  und  Trophäen  nach 
Gytheion,  dem  Seehafen  Spartas.  Der  lange  Krieg  war  be- 
endet ^. 


^  Xenophon  berichtet  nichts  über  die  Ereignisse  in  Athen  zwischen  der 
Kapitulation  und  der  Einsetzung  der  Dreißig.  In  die  Lücke  treten  Diod.  XIV  3, 
Aristot.  ATT.  34,  3  und  namentlich  Lysias  gEratosth.  71 — 78  und  gAgoratos 
15 — 35.  Daß  die  demokratische  Verschwörung  erst  nach  der  Kapitulation 
erfolgte,  ist  evident;  denn  als  Theramenes  aus  Sparta  zurückkam,  war  die  Hungers- 
not derart,  daß  nur  ein  Wahnsinniger  an  weiteren  Widerstand  hätte  denken 
können.  Dazu  kommt  dann,  daß  zu  der  Zeit  als  Agoratos  die  Verschworenen, 
denunzierte,  die  Blockade  des  Peiraeeus  nicht  mehr  bestand  (Lys.  gAgor.  25), 
und  daß  die  Verhaftung  der  Verschworenen  nicht  lange  vor  der  Einsetzung  der 
Dreißig  erfolgt  ist,  da  erst  der  von  diesen  berufene  Rat  das  Urteil  gesprochen 
hat.  Das  hat  bereits  Grote  gesehen.  Auch  Lysias  widerspricht  nur  scheinbar; 
denn  die  ^KK\n,aia  irepi  Tf|<;  eipt'ivrii;  gAgor.  17  ist  identisch  mit  der  g£rato5//j.  71 


Oligarchie  in  Athen.  431 


Die  Einsetzung  der  Oligarchie  in  Athen  war  das  letzte 
Glied  in  einer  Kette  politischer  Umwälzungen,  welche  den 
Sturz  der  Demokratie  in  fast  dem  ganzen  Umfang  des  früheren 
attischen  Reiches  zur  Folge  gehabt  hatten.  Überall  waren 
es  die  besitzenden  Klassen  gewesen,  deren  Einfluß  den  Über- 
tritt der  Gemeinden  auf  die  peloponnesische  Seite  bewirkt 
hatte  ^;  es  konnte  nicht  fehlen,  daß  die  Gewalt  von  da  an  mehr 
und  mehr  in  ihre  Hände  überging.  So  in  Chios  während  der 
Belagerung  durch  die  Athener  ^.  Auch  die  athenischen  Oli- 
garchen  hatten  bei  der  Revolution  des  Jahres  411  mit  Erfolg 
dahin  gearbeitet,  die  Macht  in  den  Bundesstädten  so  viel  als 
möglich  in  die  Hände  ihrer  politischen  Freunde  zu  bringen; 
und  diese  Regierungen  hielten  sich  mit  Unterstützung  der 
Peloponnesier  zum  Teil  auch  nach  dem  Sturz  der  Vierhundert 
in  Athen  ^.  Ließ  aber  die  Demokratie  sich  nicht  auf  ver- 
fassungsmäßigem Wege  beseitigen,  so  schreckten  die  Oli- 
garchen  auch  vor  gewaltsamem  Umsturz  der  bestehenden 
Verfassung  nicht  zurück,  wobei  sie  sicher  waren,  an  den  pelo- 
ponnesischen  Garnisonen  einen  festen  Rückhalt  zu  finden. 
So  kehrten  im  Jahre  408  mit  Hilfe  des  lakedaemonischen 
Nauarchen  Kratesippidas  die  Verbannten  nach  Chios  zurück 
und   schickten    nun   ihrerseits   die   Demokraten   in    die   Ver- 


erwähnten ^KKXr^aia,  in  der  die  Dreißig  eingesetzt  wurden.  Für  die  Schleifung 
der  langen  Mauern  und  des  Peiraeeus  muß  den  Athenern  ein  paar  Monate  Frist 
gegeben  worden  äein;  diese  Frist  war  verstrichen,  als  Lysandros  von  Samos 
zurückkehrte  und  die  Dreißig  gewählt  wurden.  Daß  aber  die  oligarchische 
Regierung  erst  unter  Pythodoros  eingesetzt  ist,  wie  Aristoteles  angibt  (ATT. 
35,  1),  ist  nicht  ganz  richtig,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  niemand  sein 
eigener  Vater  sein  kann,  und  Pythodoros  erst  von  den  Dreißig  gewählt  ist; 
was  ich  Philol.  XLIII,  1884,  S.  264  darüber  bemerkt  habe,  hat  auch  heute  noch 
Geltung.  Aber  allerdings  wird  die  Verfassungsänderung  gegen  Ende  des  Jahres 
des  Alexias  erfolgt  und  Pythodoros  gleich  damals  ins  Amt  getreten  sein.  Den 
Ergebnissen  der  Untersuchung  von  Schwartz  Rh.  Mus.  XLIV  (1889)  104  fl. 
kann  ich  nach  dem  Gesagten  nicht  zustimmen;  mit  Recht  polemisiert  Boernei 
dagegen  {De  rebus  a  Graecis  410 — 403  gestis,  Dissert.  Gott.  1894  S.  49  ff.), 
dessen  Ansicht  über  die  Zeit  der  Verschwörung  freihch  ebenso  unhaltbar  ist. 

1  So  in  Chios  (Thuk.  VIII  9,  3),  in  Rhodos  (VIII  44,  1). 

-  Thuk.  VIII  38,  3. 

3  Thuk.  VIII  64  f. 


432  XII.  Abschnitt.  —  Der  Fall  der  Demokratie.     * 

bannung  ^.  Aber  erst  Lysandros  hat  die  Verfassungsreform 
im  oligarchischen  Sinne  konsequent  durchgeführt.  Schon 
während  seiner  ersten  Nauarchie  hatte  er  mit  den  oHgarchischen 
Klubs  in  den  kleinasiatischen  Städten  enge  Fühlung  ge- 
nommen ^;  sobald  er  dann  im  Frühjahr  405  zum  zweitenmal 
an  die  Spitze  d'cr  peloponnesischen  Flotte  getreten  war,  begann 
er  ans  Werk  zu  schreiten.  In  Milet  erfolgte  auf  seinen  Betrieb 
eine  Erhebung  der  Oligarchen,  bei  der  eine  große  Anzahl  der 
angesehenen  Demokraten  ermordet  oder  in  die  Verbannung 
getrieben  wurde  ^.  Nach  dem  Siege  von  Aegospotamoi  wurden 
überall  in  den  eroberten  Städten  Regierungskollegien  von 
10  Männern  —  sog.  Dekarchien  —  eingesetzt  und  dieselbe 
Verfassungsreform  dann  auch,  so  weit  als  möglich,  in  den  alten 
Bundesstaaten  durchgeführt.  Die  Mitglieder  dieser  Regierungen 
wurden  den  zuverlässigsten  Parteigenossen  entnommen,  ohne 
Rücksicht  auf  vornehme  Geburt  oder  Reichtum  *;  daß  sie 
durchweg  der  wohlhabenden  und  gebildeten  Klasse  angehörten, 
ist  selbstverständlich. 

So  war  denn  die  Herrschaft  der  besitzlosen  Masse  fast 
im  ganzen  Umkreis  der  griechischen  Welt  hinweggefegt  worden. 
Die  Demokratie  hielt  sich  noch  an  wenigen  Punkten,  in  Argos, 
Mantineia  und  Elis,  in  Kyrene,  auf  Kerkyra  und  in  Unter- 
Italien.  In  Syrakus  herrschte  die  Militärdiktatur,  im  griechi- 
schen Osten  lag  die  Macht  fast  überall  in  den  Händen  der 
Besitzenden,  der  ,, edlen  und  guten"  (KaXoi  KaTaöoi),  wie  sie 
selbst  sich  nannten.  Sie  sollten  jetzt  zeigen,  ob  sie  ein  Recht 
hatten,  auf  diesen  Namen  Anspruch  zu  machen. 


^  Diod.  XIII  65,  Xen.  Hell.  III  2,  11. 
2  Diod.  XIII  70,  Plut.  Lys.  5. 

^  Diod.  XIII  104,  Plut.  Lys.  8.     An  den  Dionysien,  also  wahrscheinlich 
im  Frühjahr  405. 

*  Plut.  Lys.  13,  Xen.  Hell.  II  3,  7,  III  4,  7,  Diod.  XIV  13. 


0 


DF 
2U 

1912- 
Bd.  2 
Abt.l 


Beloch,  Julius 

Griechische  Geschichte 
2.  neugestaltete  Aufl. 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY