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GRIECHISCHE
GESCHICHTE
VON
KARL JULIUS BELOCH
ZWEITE NEUGESTALTETE AUFLAGE
ZWEITER BAND
BIS AUF DIE SOPHISTISCHE BEWEGUNG
UND DEN PELOPONNESISCHEN KRIEG
ERSTE ABTEILUNG
STRASSBURG
VERLAG VON KARL J. TRÜBNER
1914
äonuany
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Alle Rechte, besonders das Recht der Übersetzung,
sind vorbehalten
Bis
Druck von Qsorg Reimer, Berlin W 10.
INHALT.
I. Abschnitt.
Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
Griechen und Barbaren 1. — Das Perserreich 1. — Dareios 5. — Der
Skythenzug 5. — Folgen des Zuges 6. — Belagerung von Naxos. 7. — Der
ionische Aufstand 7. — lonien 8. — Haltung des Mutterlandes 9. — • Einnahme
von Sardes 10. — Unterwerfung von Kypros 11. — Kämpfe in Kleinasien 12. —
Histiaeos 12. — Kleomenes' Sieg über Argos 13. — Schlacht bei Lade. Fall
Milets 15. — Ende des Aufstandes 16. — Neuordnung loniens 17. — Mardonios
in Thrakien 18. — Einnahme von Eretria 19. — Schlacht bei Marathon 20. —
Miltiades' Ende 24. — Krieg zwischen Athen und Aegina 25. — Verfassungs-
reform in Athen 26. — Ostrakismos 29. — Sturz der Alkmeoniden 30. — Aristeides
und Themistokles 31. — Die Flottengründung 32. — Verfassungskämpfe in
Sparta 34. — Damaratos' Absetzung 35. — Kleomenes' Ende 36.
II. Abschnitt.
Der Sieg über Perser und Phoeniker.
Xerxes beschließt die Eroberung Griechenlands 37. — Die Rüstungen 38. —
Übergang über den Hellespont 39. — Stimmung in Hellas 39. — Räumung
Thessaliens 40. — Die Stellung bei den Thermopylen 42. — ■ Seeschlacht am
Artemision 43. — Schlacht an den Thermopylen 44. — Folgen der Katastrophe
46. — Einnahme Athens 47. — Die griechische Flotte bei Salamis 47. — Schlacht
bei Salamis 49. — Die Lage nach der Schlacht 51. — Xerxes' Rückzug 51. —
Die Griechen nach dem Siege 51. — Mardonios' Offensive 53. — Schlacht bei
Plataeae 55. — Unterwerfung Thebens 59. — Mykale 59. — Erhebung loniens.
Belagerung von Sestos 60. — Einnahme von Byzantion 61. — Abfall der loner
zu Athen 61. — Leotychidas in Thessalien 62. — Der delische Seebund 63. —
Feldzüge in Thrakien 65. — Skyros, Karystos und Naxos 66. — Pausanias
aus Byzantion vertrieben 66. — Schlacht am Eurymedon 67. — Anaxilaos von
Rhegion 69. — Hippokrates von Gela 70. — Gelon 70. — Theron von Akragas
71. — Schlacht bei Himera 71. — Hieron 73. — Rückblick 74.
IV Inhalt.
III. Abschnitt.
Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Folgen der Siege 74. — Verschiebung des wirtschaftlichen Zentrums 76. —
Der Peiraeeus 77. — Industrie und Sklavenwirtschaft 79. — Metoeken 80. —
Großstädte 81. — Bevölkerung 84. — Getreideimport 87. — ■ Landwirtschaft
87. — Aufhören der Naturalwirtschaft 89. — Persisclie Reichswährung 89. —
Elektronprägung in Kleinasien 91. — Silberprägung in Griechenland 92. —
Zirkulationsmittel 93. — Steigen der Preise 94. — Zinsfuß 95. — Ertrag der
Industrie 96. — Seehandel 97. — Grundrente 98. — Arbeitslöhne 98. — Geistige
Arbeit 100. — Volksvermögen 101. — Verteilung des Besitzes 103. — Höhe
der Privatvermögen 104. — Lebenshaltung: Wohnung 105. — Kleidung 106. —
Ernährung 107. — Staatshaushalt 109. — Soldzahlungen 109. — Kultus 110. —
Tempelbauten 111. — Zivilverwaltung 112. — Kriegswesen 112. — Marine
112. — Kriegskosten 115. — Staatsdomänen 116. — • Direkte Steuern 117. —
Indirekte Steuern 118. — Höhe der Staatseinnahmen 120. — Ehrenämter 121.
IV. Abschnitt.
Die Demokratie.
Die demokratische Strömung 122. — Die Ziele der Bewegung 124. —
Die Demokratie im athenischen Reiche 125. — Die sicilischen Militärmonarchien
126. — Revolution in Sicilien 127. — Kämpfe gegen die Söldner 128. — Sturz
der Tyrannis in Rhegion 130. — Neuordnung Siciliens 131. — Die demokratische
Bewegung in Italien 133. — Reaktion gegen den Hellenismus. Duketios 134. —
Sturz der Monarchie in Kyrene 137. — Die Demokratie in Boeotien 138. —
Umwälzung im Peloponnes 139. — Pausanias' Sturz 140. — Unterwerfung
Arkadiens 143. — Der Heilotenaufstand 143. — Themistokles' Sturz 144. —
Kimon 147. — Der thasische Aufstand. Drabeskos 148. — Ephialtes 149. —
Kimons Prozeß 150. — Der aegyptische Aufstand 151. — Kimon vor Ithome
152. — Bruch mit Sparta 153. — Sturz des Areopags 153. — Perikles 154. —
Richtersold 155. — Sozialpolitische Maßregeln 156. — Metoeken und Sklaven
158. — Die Frauen 158. — Hetaeren 159. — Thargelia. Aspasia 160. — Die
demokratische Freiheit 161. — Der Adel 162. — Demokratisierung der Gesell-
schaft 163.
V. Abschnitt.
Der Konflikt der Großmächte.
Athen und Sparta 164. — Fall von Ithome. Schlacht bei Oenoe. An-
schluß von Megara an Athen 165. — Athenische Expedition nach Aegypten
166. — Krieg gegen Korinth und Aegina 166. — Schlacht bei Tanagra 167. —
Oenophyta 169. — Fall von Aegina 170. — Die langen Mauern 171. — Offen-
Inhalt. V
sive gegen den Peloponnes 171. — Die Katastrophe in Aegypten 172. — Ver-
legung desBundesschatzes nach Athen 173. — Mißerfolge der Athener in Griechen-
land 174. — Waffenstillstand mit Sparta 175. — Expedition nach Kypros 176. —
Frieden mit Persien 177. — Der heilige Krieg 178. — Erhebung Boeotiens
179. — Der boeotische Bund 180. — Abfall von Euboea und Megara. Die Spar-
taner in Attika 182. — Der dreißigjährige Frieden 183, — Unterwerfung Eu-
boeas 183.
VI. Ab schni 1 1.
Die Friedensjahre,
Pleistoanax abgesetzt 184. — Thukydides und Perikles 185. — Perikles
Alleinherrscher 186. — Zentralisierung des Seebundes 186. — Kleruchien 187. —
Eingriffe in die Autonomie der Bundesstaaten 188. — Gerichtszwang 188. —
Finanzverwaltung 190. — Abschließung der athenischen Bürgerschaft 191. —
Stimmung in den Bundesstaaten 192. — Der samische Aufstand 193. — Gebiets-
verluste Athens in Kleinasien 197. — Gründung von Amphipolis 198. — Die
Athener im Pontos 199. — Thurioi 199. — Athen und Sicilien 202.
VIT. Abschnitt.
Kunst und Dichtung.
Tempelbau 203. — Der Parthenon 205. — Andere Bauten in Athen 206. —
Das Apollonion bei Phigaleia und der Neubau des Heraeon bei Argos 208. —
Theater 208. — Profanbauten 209. — Malerei. Polygnotos 210. — Plastik.
Kritios und Nesiotes. Kaiamis. Pythagoras 212. — Pheidias 213. — Myron
214. — Die Parthenon-Skulpturen 214. — Polykleitos 215. — Alkamenes.
Paeonios. Die ReHefs am Niketempel 216. — Fortschritte der Malerei. Apollo-
doros, Zeuxis, Parrhasios 217. — Vasenmalerei. 218. — Kunstepos. Elegie 219. —
Aeschylos 220. — Sophokles 220. — Euripides 221. — Die neue Musik 223. —
Die Tragödie in Syrakus 224. — Epicharmos 224. — Die attische Komödie 225. —
Dramatische Aufführungen 227. — Die Turnfeste 228. — Ethische Wirkung
der Kunst 228. — Humanität 229.
VHI, Abschnitt.
Die Aufklärung.
Mathematik und Astronomie 231. — Kalender 232. — Erdkunde 233. —
Medizin 234. — Anatomie und Physiologie 236. — Pathologie und Therapie
237. — Empedokles 238. — Anaxagoras 240. — Reaktion gegen die Elementen-
lehre 241. — Parmenides' Schüler 242. — Erkenntnistheoretische Zweifel 242. —
Protagoras 242. — Geschichtschreibung 243. — Herodot 244. — Wissen und
Glaube 245. — Naturrecht 246. — Redekunst 246. — Gorgias 247. — Die Gerichts-
VI Inhalt.
rede 247. — Die Sophisten 248. — Honorare 249. — Höherer Unterricht 249. —
Die neue Weltanschauung 250. — Thukydides 251. — Hellanikos 252. — Andere
Historiker 253. — Sprachwissenschaft 254. — Homerkritik 254. — Technische
Literatur. Buchhandel 255. — Demokrit 256. — Atomistik 257. — Athen
geistiger Mittelpunkt 259. — Sparta 259.
IX. Abschnitt.
Die Reaktion.
Die Aufklärung und die öffentliche Meinung 260. — Die philosophische
Skepsis 262. — Euripides' Palinodie 263. — Die religiöse Bewegung 264. —
Mysterien von Eleusis 264. — Mysterien von Samothrake 265. — Aufnahme
fremder Kulte 266. — Die fremden Kulte und die öffentliche Meinung 269. —
Einfluß auf die griechischen Kulte 269. — Pythagoreismus 270. — Diagoras
271. — Sokrates 271. — Schülerkreis 274. — Volksbildung 275. — Gefahren
der Massenherrschaft 276. — Mißbräuche in der Rechtspflege 277. — Syko-
phanten 279. — Reform der Besitzverhältnisse 280. — Umschwung in der
öffentlichen Meinung 281. — Lakonomanie 282. — Idealverfassungen 283. —
Die Verfassung der guten alten Zeit 283. — Verfassungsgeschichtliche Forschung
285. — Hetaerien 285. — Ergebnis 286.
X. Abschnitt.
Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Krieg zwischen Korinth und Kerkyra 286. — Kerkyra im Bund mit Athen
288. — Schlacht bei Sybota 288. — Abfall von Poteidaea 290. — Das megarische
Psephisma 292. — Intervention Spartas 293. — Opposition gegen Perikles
294. — Kleon 294. — Prozesse gegen Anaxagoras, Aspasia, Pheidias 295. —
Perikles treibt zum Kriege 296. — Hilfsquellen Athens 298. — Perikles' Kriegs-
plan 300. — Stimmung in Hellas 301. — Machtmittel der Peloponnesier 302. —
Überfall von Plataeae 303. — Einfall der Peloponnesier in Attika 304. — Atheni-
sche Flottendemonstration gegen den Peloponnes 306. — Vertreibung der
Aegineten 306. — Rachezug nach der Megaris 307. — Ergebnisse des ersten
Kriegsjahres 307. — Zweiter Einfall der Peloponnesier 307. — Die Pest in Athen
307. — Athenische Expedition gegen den Peloponnes und nach Poteidaea 308. — ■
Perikles' Sturz 309. — Einnahme von Poteidaea. Schlacht bei Spartolos 310. —
Zug der Sitalkes 310. — Perikles' Wiederwahl. Sein Tod 312. — Der Partei-
kampf nach Perikles' Tode 312. — Dämon 312. — Lysikles 313. — Nikias 314. —
Belagerung von Plataeae 316. — Kämpfe in Akarnanien und bei Naupaktos
316. — Ergebnis der drei ersten Kriegsjahre 316. — Abfall von Lesbos 317. —
Einnahme von Mytilene 318. — Übergabe von Plataeae 320. — Bürgerkrieg
auf Kerkyra 320. — Krieg in Sicilien 322. — Politischer Umschwung in Sparta
322. — Friedensverhandlungen 323. — Sieg der Kriegspartei in Athen 323. —
Inhalt. VII
Demosthenes in Aetolien und Akarnanien 324. — Sphakteria 325. — Kleon
als leitender Staatsmann 329. — Erhöhung der Tribute 330. — Einnahme von
Nisaea 331. — Brasidas auf dem Isthmos 332. — Brasidas' thrakischer Feldzug
333. — Schlacht beim Dehon 334. — Ende des sicilischen Krieges 335. — Stra-
tegenprozesse in Athen 336. — Waffenstillstand des Laches 337. — Fortgang
des Krieges in Thrakien 337. — Schlacht bei Amphipolis 339. — Folgen der
Schlacht 340. — Lage im Peloponnes 340. — Der Frieden 341. — Ergebnis
des Krieges 342.
XL Abschnitt.
Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
Ausführung der Friedensbedingungen 344. — Bündnis zwischen Sparta
und Athen 345. — Der argeiische Sonderbund 345. — Sieg der Kriegspartei
in Sparta 346. — Hyperbolos. Alkibiades 346. ■ — Bündnis zwischen Athen
und Argos 347. — Krieg zwischen Sparta und Argos 348. — Schlacht bei Man-
tineia 349. — Oligarchie in Argos 350. — Ostrakismos des Hyperbolos 350. —
Krieg in der Chalkidike 351. — Demokratische Erhebung in Argos 352. —
Eroberung von Melos 352. — Leontinoi in Syrakus einverleibt 354. — Krieg
zwischen Selinus und Segesta 354. — Athenische Expedition nach Sicilien
354. — Der Hermenfrevel 357. — Ankunft der Flotte in Sicilien 358. — Fort-
gang des Hermenprozesses 358. — Alkibiades' Abberufung und Verurteilung
360. — Die neue Regierung in Athen 361. — Erste Operationen in Sicilien 362. —
Haltung der sicilischen Mittel- und Kleinstaaten 362. — Beginn der Belagerung
von Syrakus 363. — Gylippos in Sicilien 365. — Erste Seekämpfe vor Syrakus
366. — Wiederausbruch des Krieges in Griechenland 366. — Besetzung von
Dekeleia 367. — Zweite Expedition nach Sicilien 368. — Sturm auf Epipolae
368. — Seeschlachten im Hafen von Syrakus 369. — Der Rückzug 370. —
Katastrophe am Assinaros 371. — Schicksal des besiegten Heeres 372. — Ein-
druck der Katastrophe in Griechenland 372.
XII. Abschnitt.
Der Fall der Demokratie.
Folgen der sicilischen Katastrophe 373. — Beschränkung der Demokratie
in Athen 374. — Steuerreform im Reiche 375. — Abfall loniens 376. — Spannung
zwischen Athen und Persien 377. — Bündnis der Perser mit den Peloponnesiern
378. — Krieg in lonien 379. — Schlacht bei Milet 379. — Belagerung von Chios
380. — Abfall von Knidos und Rhodos 381. — Ergebnisse des Kriegsjahres
381. — Oligarchische Bewegung in Athen 382. — Alkibiades in der Verbannung
383. — Unterhandlungen zwischen Athen und Tissaphernes 384. — Oligarchie
der Vierhundert in Athen 384. — Sieg der Demokraten auf Samos 385. — Alki-
biades an der Spitze der Flotte 386. — Verhandlungen der oligarchischen Re-
gierung mit Alkibiades und mit Sparta 387. — Aufstand in Athen 388. — Verlust
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. "
VIII Inhalt.
von Oropos 388. — Abfall des Hellespont 388. — Beginnender Abfall in Thrakien
389. — Abfall Euboeas 390. — Sturz der Vierhundert 391. — Die neue Ver-
fassung 391. — Theramenes 392. — Kämpfe im Hellespont 393. — Schlacht
bei Kyzikos 394. — Friedensverhandlungen 395. — Wiederherstellung der
Demokratie in Athen 397. — Die Diobelie 397. — Agis vor Athen 399. — Kle-
archos am Hellespont 399. — Thrasyllos in lonien 399. — Belagerung von
Kalchedon. Einnahme von Byzantion 400. — Verlust von Kerkyra und Pylos
401. — Nisaea von den Megarern zurückgewonnen 402. — Demokratische
Reformen in Syrakus 402. — Hermokrates verbannt 403. — Revolution in
Thurioi 403. — Fortgang des Krieges in Sicilien 403. — Intervention Karthagos
404. — Zerstörung von Selinus 404. — Fall von Himera 405. — Eindruck in
Syrakus 406. — Hermokrates' Rückkehr und Ende 406. — Fall von Akragas
407. — Dionysios Oberfeldherr 408. — Der Staatsstreich 140. — Verlust von
Gela und Kamarina 411. — Aufstand in Syrakus 412. — Frieden mit Karthago
412. — Alkibiades' Rückkehr nach Athen 413. — Neuschöpfung der pelo-
ponnesischen Flotte 415. — Lysandros 415. — Kyros in Kleinasien 416. —
Schlacht bei Notion 417. — Alkibiades' Sturz 417. — Konon in Mytilene ein-
geschlossen 418. — Schlacht an den Arginusen 419. — Feldherrenprozeß in
Athen 420. — Die neuen Strategen 422. — Friedensverhandlungen 423. —
Lysandros wieder an der Spitze der Flotte 423. — Schlacht bei Aegospotamoi
424. — Eindruck in Athen 425. — Belagerung von Athen 426. — Unter-
handlungen 427. — Der Frieden 429. — Einnahme von Samos 62. — Demo-
kratische Verschwörung in Athen 429. — Oligarchie der Dreißig 430. — Oligarchie
in den athenischen Bundesstädten 431.
I. Abschnitt.
Die Erhebung gegen die Fremdherrscliaft.
Das griechische Volk hat das Glück gehabt, sich fast
unbeeinflußt durch gewaltsame Eingriffe von außen in seiner
Eigenart entwickeln zu können, bis es zur vollen geistigen
und politischen Reife gelangt war. Kein fremder Eroberer
hatte es versucht, nach Griechenland vorzudringen; und
als die Hellenen selbst anfingen, sich über die Inseln und
Küsten des Mittelmeeres auszubreiten, fanden sie bei den
Bewohnern derselben keinen nennenswerten Widerstand.
Sogar die Phoeniker wichen zunächst überall vor den Griechen
zurück und überließen diesen fast ohne Kampf die Handels-
reviere, die sie bisher ausgebeutet hatten.
Im VI. Jahrhundert begannen diese Verhältnisse sich
zu ändern. Die kleinasiatischen Griechenstädte kamen unter
lydische, Kypros unter aegyptische Herrschaft; im Westen
schlössen sich die Phoeniker um Karthago zu einem einheit-
lichen Staate zusammen, der bald gegen die Griechen zum
Angriff überging. Eine ernste Gefahr aber für die Freiheit
des griechischen Mutterlandes bildete erst das Aufkommen
der persischen Macht.
Die alten Monarchien des Orients, Medien, Lydien,
Babylonien, Aegypten, waren durch Kyros und Kambyses
eine nach der anderen unterworfen worden (oben IIS. 371ff,).
Die persischen Könige geboten vom Aegaeischen Meere und
der großen Syrte bis zum laxartes und Indos. Ein Reich
war geschaffen worden, wie die Welt es noch nie zuvor ge-
sehen hatte und in dieser Weise auch nicht wieder gesehen
hat oder doch nur noch einmal, in dem Reich Alexanders
Bei och, Griech. Geschichte 11, i. 2. Aufl. 1
2 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
(unten IIP 1 S. 10 A). War doch das Perserreich am Aus-
gang des VI. Jahrhunderts nicht nur die erste, sondern die
einzige überhaupt bestehende Großmacht, neben der es nur
unbedeutende Kleinstaaten gab. Es schien nur von dem
Willen des Großkönigs abzuhängen, wo er die Grenzen seiner
Herrschaft sich setzen wollte.
Denn das Reich verfügte über fast unerschöpfliche
militärische Hilfsquellen ^. Mochte auch das weite iranische
Hochland relativ nur spärlich bewohnt sein, so zählte es
doch bei seiner ungeheueren Ausdehnung (ca. 3 Millionen
Q.-Km.) eine sehr beträchtliche absolute Bevölkerung. Um
so größer war die Volksdichtigkeit in den fruchtbaren Ebenen
am Euphrat und Tigris, im Niltal und in dem alten Kultur-
land Syrien ^. Der König war in der Lage, jede beliebige
Truppenzahl aufzubieten, die er nur zu verpflegen vermochte.
Ebenso gewährte der Besitz der Seeküste vom Nil bis zum
Hellespont die Mittel, um Hunderte von Kriegsschiffen aus-
zurüsten, deren Kern die treffliche Marine der phoenikischen
Handelsstädte bildete.
Die Finanzkraft des Reiches stand hinter seiner mili-
tärischen Leistungsfähigkeit nicht zurück; waren doch die
reichsten Länder der damaligen Welt unter dem Zepter des
Perserkönigs vereinigt. Neben dem Ackerbau blühten Handel
und Industrie, namentlich in der Westhälfte des Reiches;
noch die Hellenen des V. Jahrhunderts blickten auf Städte
wie Memphis, Babylon, Susa, Egbatana mit derselben Be-
wunderung, wie die Reisenden des Mittelalters auf Kairo
oder Bagdad. Die Einkünfte des Großkönigs sollen sich
unter Dareios auf etwa 8000 babylonische Silbertalente (rund
50 Millionen Mark) belaufen haben, wozu dann noch bedeutende
Naturalleistungen kamen ^. Da die laufenden Ausgaben
^ Über die Organisation des Reiches Ed. Meyer, Gesch. des Altert. III
S. 16 ff.
^ Vgl. meine Bevölkerung S. 252 und Ed. Meyer a. a. 0. S. 91.
3 Herod. III 89 ff., vgl. oben I 2 § 131, Weißbach, Philol. LXXI (NF.
XXV), 1912, S. 479 ff. Die 360 tal. Goldstaub (etwa 25 Mill. M.), welche die
indische Satrapie geliefert haben soll, sind hier außer Ansatz gelassen, denn
Das Perserreich.
bei weitem nicht so hohe Summen erforderten, konnten die
Könige große Schätze ansammeln. Alexander soll in Susa
40— 50 000 \ in Persepolis 120 000 Talente Silber 2 er-
beutet haben. Erinnern wir uns dabei, daß der athenische
Staatsschatz zu Anfang des peloponnesischen Krieges nur
6000 Talente enthielt, während die gesamten Einkünfte des
attischen Reiches um diese Zeit 600 Talente nicht überstiegen.
Und alle diese unermeßlichen Machtmittel standen zur
unbeschränkten Verfügung eines einzigen. Neben dem Willen
des Herrschers galt kein anderer Wille im Reich; der vor-
nehme Satrap, wie der gemeine Tagelöhner, sie alle waren
in gleicher Weise Knechte des Königs, sie alle warfen sich
vor der Majestät in den Staub, ein Schauspiel, das jeden
Hellenen mit tiefem Ekel erfüllte. So war die politische
Leistungsfähigkeit des Reiches zum großen Teil bedingt
durch die Persönlichkeit des Herrschers; und auch das Perser-
reich ist dem Fluch aller Monarchie nicht entgangen, daß
der Zufall der Geburt nur selten einen tüchtigen Mann auf
den Thron bringt.
Aber auch sonst barg das Reich Elemente der Schwäche
genug. Schon die große Ausdehnung neutralisierte bis zu
einem gewissen Grade die gewaltigen materiellen Mittel, über
die es verfügte. Erforderte es doch 4 Monate oder mehr,* um
diese Angabe hat genau so viel Wert, wie die Erzählung von den Ameisen,
welche dieses Gold graben sollten (Herod. III 102 ff.); die Berechnung ist sehr
durchsichtig, es kommt gerade 1 tal. auf den Tag. Die Ansätze für die unteren
Satrapien mögen in der Hauptsache richtig sein (vgl. unten Abschn. II), wenn
auch die 500 tal. für Lydien im Verhältnis zu den 700 tal. für Aegypten auf-
fallend hoch scheinen; dagegen sind die Ansätze für die oberen Satrapien stark
übertrieben. Nach Diod. XV 90, 4 hätten Kleinasien und Syrien, die nach Herodot
rund 2000 tal. zahlten, etwa die Hälfte aller Tribute geliefert; nach diesem
Verhältnis würden die Einkünfte Dareios' I. sich einschUeßHch Aegyptens auf
rund 5000 tal. belaufen haben, immer noch eine für die damaUgen Verhältnisse
ungeheure Summe. Doch mag diese Schätzung zu niedrig sein.
1 Arrian. III 16, 7, Diod. XVII 66, Strab. XV 728. 731, Curt. V 2, 11,
Plut. Alex. 36.
2 Diod. XVII 71, Curt. V 6, 9. Diese Angabe ist ohne Zweifel viel zu
hoch, denn Alexander soll bei seinem Tode nur etwa 50000 tal. hinterlassen
haben (lustin. XIII 1, 9; vgl. unten III 1 S. 44).
1*
4 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
ein Heer von Babylon nach Sardes oder an den Nil marschieren
zu lassen, und noch längere Zeit, um die Truppenmassen aus
den weitgedehnten Provinzen zusammenzuziehen. Jeder
größere Feldzug, den der König unternehmen wollte, machte
demgemäß eine mehrjährige Vorbereitung nötig. Auch die
Qualität der Truppen ließ vieles zu wünschen übrig. Die
Bewohner des Reiches waren in ihrer großen Mehrzahl un-
kriegerisch, ganz abgesehen davon, daß sie für ihre fremden
Herren nur widerwillig in den Kampf zogen. Die Perser selbst
allerdings und überhaupt die arischen Stämme des iranischen
Hochlandes waren gute Soldaten, namentlich vorzügliche
Reiter und Bogenschützen. Aber so trefflich diese Waffen
auch auf den weiten Ebenen Asiens zu verwenden waren,
auf durchschnittenem oder gebirgigem Gelände waren die
Perser durch ihren Mangel an Disziplin und ihre leichte Rüstung
den griechischen Hopliten gegenüber im Nachteil; und noch
größer war die moralische Inferiorität der Asiaten, die vor der
Peitsche ihrer Offiziere zitterten, die nur für ihren König und
Herrn fochten, gegenüber den freien Bürgern griechischer Städte.
Es war überhaupt der wundeste Punkt des Perserreiches,
daß es nur auf brutale Gewalt begründet war und durch
brutale Gewalt zusammengehalten wurde. Kein gemeinsames
Interesse irgend einer Art verband die unzähligen Völker
des Reiches; und die Perserherrschaft hat es nicht vermocht,
ja sie hat nicht einmal den Versuch gemacht, diese Völker
zu einem Ganzen zu verschmelzen. Babylonier, Meder,
Aegypter, Kleinasiaten standen sich zu Alexanders Zeit noch
genau so fremd gegenüber wie einst zur Zeit des Dareios;
sie alle, die Meder vielleicht ausgenommen, begrüßten den
Fall der Perserherrschaft als Befreiung von einem unerträg-
lichen Joche.
Schon nach Kambyses' Tode auf seiner Rückkehr aus
Aegypten hatte es einen Augenblick den Anschein gehabt,
als ob das Reich, kaum begründet, sich wieder auflösen sollte.
Im Stammlände Persis brach der Bürgerkrieg aus ^, und
^ Die offizielle Version über diese Vorgänge, wie sie Dareios auf dem
Felsen von Baghistan seinen Völkern verkündet hat, und die griechischen
Dareios. — Der Skythenzug.
eine Reihe der unterworfenen Völker benutzte die Gelegenheit
zu dem Versuch, die Fremdherrschaft abzuschütteln. Erst
nach langen Kämpfen gelang es Dareios, einem Prinzen
aus einer Nebenlinie des Achaemenidenhauses ^, als Groß-
könig anerkannt zu werden und die abgefallenen Provinzen
wieder zu unterwerfen. Er gab dem Reiche jetzt eine straffere
administrative Organisation und regelte namentlich das
Finanzwesen durch feste Normierung der Tribute der einzelnen
Landschaften.
Der neue Großkönig wendete nun seine Blicke dem
Westen zu, den Kyros und Kambyses, von dringenderen
Aufgaben in Anspruch genommen, mehr als gut war ver-
nachlässigt hatten. Eine Eroberung des europäischen Griechen-
lands allerdings scheint wenigstens ursprünglich nicht in
seinen Plänen gelegen zu haben. Vielmehr ließ Dareios eine
Schiffbrücke über den Bosporos schlagen und zog dann durch
das östliche Thrakien, dessen Stämme sich ohne Wid..rstand
unterwarfen. Die Geten in der heutigen Dobrudscha wurden
nach kurzem Kampfe zur Anerkennung der persischen Herr-
schaft gebracht. Inzwischen war die Flotte, aus den Kon-
tingenten der kleinasiatischen Griechenstädte gebildet, längs
der Westküste des Pontos nach Norden gesegelt und in die
Donaumündung eingelaufen; da, wo der Fluß sich zu teilen
beginnt, etwas oberhalb der Spitze des Delta, ging der König
über den Strom und drang in das unwirtliche Gebiet der
Skythen im heutigen Bessarabien ein. Da die Flotte in der
Donau blieb, hat Dareios eine Eroberung des Skythenlandes
Historiker von Herodot an im wesentlichen wiederholt haben, ist in hohem
Grade verdächtig. Ein Mann wie Bartija, der der nächste am Thron war, konnte
nicht heimlich auf die Seite geschafft werden, und noch weniger ist es denkbar,
daß unmittelbar nach Bartijas' Tode ein Betrüger mit der Behauptung Glauben
hätte finden können, er sei der Sohn des Kyros, und noch dazu in Persis selbst,
wo Tausende lebten, die den wahren Bartija gekannt hatten. Wohl aber ist
es klar, daß Dareios alle Ursache hatte, seine Usurpation des Throns zu be-
schönigen.
^ Lehmann-Haupt, Darius und der Achaemenidenstammbaum, Klio VIII,
1908, S. 493 ff.
6 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
offenbar nicht beabsichtigt i; er wollte nur den Skythen
seine Macht zeigen, um ihnen die Lust zu nehmen, den Istros
zu überschreiten, der bestimmt war, auf dieser Seite die
Grenze des Reiches zu bilden, wie sie der laxartes im Nord-
osten bildete. Indes die Skythen stellten sich nicht zum
Kampfe, sie wichen in das Innere ihrer Steppen und Sümpfe
zurück, und dem persischen Heere, das den Feind nirgends
finden konnte, blieb schließlich aus Mangel an Lebensmitteln
nichts übrig, als der Rückzug an die Donau, der nur unter
schweren Verlusten bewerkstelligt werden konnte (um 513) 2.
Das mißlungene Unternehmen mußte das persische
Ansehen in Kleinasien tief erschüttern. Bisher waren die
Perser von Sieg zu Sieg geschritten, der Ruf der Unwider-
stehlichkeit ging vor ihnen her; jetzt machte der Rückschlag
um so größeren Eindruck, als es der König selbst war, der
erfolglos von einem Feldzuge heimkehrte. Wenig fehlte, so
hätte die Mannschaft der griechischen Flotte, der die Hut
der Donaubrücke anvertraut war, diese Brücke abgebrochen
und sich nach Hause zerstreut, was das sichere Verderben
des persischen Heeres gewesen wäre. Der Plan scheiterte
an dem Widerstände des Tyrannen von Milet, Histiaeos,
der sehr wohl wußte, daß seine eigene Stellung an der Spitze
seiner Stadt nur auf dem Rückhalt beruhte, den er an der
Persermacht hatte. So wurde das Schlimmste noch abge-
wendet. Am Hellespont freilich brach ein Aufstand aus,
der aber isoliert blieb und mit leichter Mühe unterdrückt
wurde; ja es gelang den Persern, auch die thrakische Küste
bis zum Strymon hin ihrer Herrschaft zu unterwerfen \
Selbst König Amyntas von Makedonien beeilte sich, die
1 Das hat Grundy, Pers. War S. 58 ff. richtig erkannt. Was Herodot
angibt (IV 1), der König habe den vor mehr als hundert Jahren erfolgten Einfall
der Skythen in Medien rächen wollen, kann unmöglich das wahre Motiv ge-
wesen sein. Die Vermutungen der Neueren bei Busolt, Gr. Gesch. IP 524, 2.
2 Herod. IV 83—143, Ktes. Pers. 16. 17. Die Angaben Herodots über
den Zug sind phantastisch. Wahrscheinlich sind die Perser nicht über den
Tyras (Dnjesir) hinausgekommen (Strab. VlI 305), den sie auch ohne Schiffe
kaum hätten überschreiten können. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 26.
8 Herod. V 1—27,
Folgen des Zuges. — Belagerung von Naxos. — Der ionische Aufstand. 7
Oberhoheit des Großkönigs anzuerkennen^. Aber im ganzen
Westen Kleinasiens gärte es weiter. Sogar Histiaeos
wurde dem König verdächtig, der ihn unter einem ehren-
vollen Vorwand nach Susa berief und dort an seinem Hofe
festhielt ^. Unter solchen Umständen konnte der geringste
Anlaß eine Empörung herbeiführen.
In Milet hatte nach Histiaeos' Abberufung dessen Vetter
und Schwiegersohn Aristagoras die Regierung übernommen»
Der faßte den Plan, die Kykladen seinem Einfluß zu unter-
werfen, wozu die Rückführung verbannter Aristokraten
nach Naxos den Vorwand abgeben sollte. Artaphernes, der
Satrap von Sardes, billigte das Unternehmen, das ja auch
die Interessen des Großkönigs förderte; eine Flotte aus den
griechischen Küstenstädten wurde zusammengebracht und
ein persisches Landungskorps an Bord genommen. Aber
Naxos leistete einen unerwarteten Widerstand, und nachdem
man vier Monate erfolglos vor der Festung gelegen hatte,
blieb nichts übrig als die Rückkehr nach Asien (Ende Sommer
499) \
Das Scheitern dieser Expedition war der Funke, der
den so lange glimmenden Brand zum Ausbruch brachte *.
Aristagoras selbst stellte sich an die Spitze der Bewegung;
er legte die Tyrannis nieder und rief die Milesier zum Freiheits-
kampfe gegen die Barbaren. Die Mannschaften der griechischen
Flotte, die soeben von Naxos zurückgekehrt war und Milet
gegenüber an der Maeandrosmündung lag, schlössen sich
1 Herod. V 17 ff.
2 Herod. V 23—25.
3 Herod. V 28—34. Über die Chronologie s. unten 2. Abt. § 25.
* Herodot (V 35) führt wie gewöhnlich alles auf kleinliche persönliche
Motive zurück. Aristagoras soll gefürchtet haben, zur Strafe für sein miß-
glücktes Unternehmen der Tyrannis entsetzt zu werden. Aber er hat ja den
Aufstand damit begonnen, daß er freiwilHg der Herrschaft entsagte. Also das
kann der Grund nicht gewesen sein. Auch ist es evident, daß der Aufstand
seine große Ausdehnung nicht hätte gewinnen können, wenn nicht alles in
Kleinasien für die Erhebung bereit war. Offenbar sah Aristagoras, daß er die
Bewegung nicht zurückhalten könne, und hielt es für das Klügste, ihre Leitung
selbst zu ergreifen.
8 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
voll Begeisterung an; die auf der Flotte befindlichen Tyrannen
wurden ergriffen und ihren Städten zur Bestrafung aus-
geliefert. Und nun verbreitete sich der Aufstand wie ein
Lauffeuer über die ganze kleinasiatische Küste; überall wurden
die Tyrannen gestürzt und den Persern der Gehorsam ge-
kündigt ^.
lonien war damals das wirtschaftliche und geistige Zentrum
der griechischen Nation und der Länder am Mittelmeer
überhaupt. Wohl waren mit dem steigenden Wohlstand
auch die Ansprüche an die Lebenshaltung gestiegen, die hier
weit reicher und glänzender war, als drüben im Mutterlande;
aber der Luxus, der ja überdies auf die höheren Stände be-
schränkt blieb, hatte das Volk nicht verweichlicht, und auch
die Tatkraft der führenden Klassen keineswegs gelähmt.
Waren es doch ionische Schiffer, die den Pontos, den Adrias,
den fernen Westen bis nach den Säulen des Herakles er-
schlossen hatten, und noch immer weiter erschlossen. Auch
der kriegerische Geist war so wenig erloschen, daß es eben
ionische Söldner waren, die noch bis vor wenigen Jahren
den Kern des aegyptischen Heeres gebildet hatten; und noch
lauter spricht die Tatsache, daß die loner es vermocht haben,
aus eigener Kraft der ganzen Macht des Perserreiches 6 Jahre
lang Widerstand zu leisten und schließlich mehr der eigenen
Zwietracht als den Waffen der Gegner erlegen sind ^.
1 Herod. V 36—38.
^ Was Herodot (z. B. VI 11 ff.) von der Weichlichkeit der loner zu er-
zählen weiß, ist von freundnachbarlicher Abneigung diktiert und steht, wenig-
stens für die Zeit des großes Aufstandes, im Widerspruch mit den Tatsachen.
Für seine eigene Zeit mag es allerdings zum Teil richtig sein, vgl. Xen. Hell.
III 2, 17; 4, 15. Herodots Urteil ist dann, wie gewöhnlich, für die Neueren
maßgebend gewesen, ja sie gehen noch über ihn hinaus. So sieht Ed. Meyer
in Hipponax „den rechten Repräsentanten der ionischen Zustände dieser Zeit. . .
Ideale gibt es nicht mehr, nur Geld will der Dichter haben, und gut essen"
(Gesch. d. Altert. II S. 794). Nun, wenn die loner nichts weiter wollten, hätten
sie sich wahrhaftig nicht gegen Dareios zu erheben brauchen. Materiell ging
es ihnen ja unter der Perserherrschaft sehr gut. Übrigens, was wissen wir denn
von Hipponax ? Die paar Fragmente reichen doch keineswegs aus, um darauf
hin zu behaupten, daß er für nichts Höheres Sinn gehabt habe.
Haltung des Mutterlandes.
Freilich, auf sicheren Erfolg war nur zu rechnen, wenn
die Bewegung an den Stammesgenossen jenseits des Aegaei-
schen Meeres einen Rückhalt fand. Und es lag im eigensten
Interesse der europäischen Griechen selbst, den Aufstand
nicht ohne Unterstützung zu lassen. Es gehörte wahrlich
nur ein sehr geringer Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß
das persische Reich auf die Dauer sich mit dem Besitz des
asiatischen Teils der griechischen Welt nicht begnügen konnte.
Mit welchen Plänen man sich in Susa und Sardes trug, hatte
noch soeben die Unternehmung gegen Naxos gezeigt. Es
war ein Gebot der Selbsterhaltung, dem Angriff zuvorzu-
kommen und den früher oder später doch unvermeidlichen
Kampf aufzunehmen, so lange man noch die asiatischen
Brüder zur Seite hatte. Aristagoras wandte sich also um
Hilfe an die griechische Vormacht Sparta; dort aber ver-
mochte man sich zu einer so großzügigen Politik nicht zu
entschließen und wies das Gesuch ab ^. Besseren Erfolg
hatte Aristagoras in Athen, wo die enge Stammverwandtschaft
und die lebhaften Handelsbeziehungen den lonern warme
Sympathien sicherten. Und auch abgesehen davon hatte
man hier allen Grund, sich an dem Kriege gegen Persien zu
beteiligen. Denn Hippias, als Herr von Sigeion persischer
Reichsfürst, galt viel am Satrapenhofe in Sardes, und Arta-
phernes hatte bereits die förmliche Aufforderung an Athen
gestellt, den vertriebenen Tyrannen wieder aufzunehmen 2.
Vor allem aber winkte die Hoffnung, die Inseln Lemnos und
Imbros wieder zu erlangen, die nach dem Sturze der Peisistra-
^ Herod. V 38. 49 — 51. Die Rede, die Herodot V 49ff. nach spartanischer
Quelle (c. 49) Aristagoras in den Mund legt, ist freilich absurd und hat nur den
Zweck, Spartas kurzsichtige Politik zu entschuldigen. Kein Mensch kann
damals an eine Offensive nach Susa gedacht haben. Aber Sparta verfügte ja
über die beiden ersten Flotten im europäischen Griechenland, die von Korinth
und Aegina; und was 25 Jahre früher gegen Polykrates geschehen war und
20 Jahre später bei Mykale geschehen ist, hätte auch jetzt geschehen können.
Fünfzig peloponnesische Schiffe würden aller Wahrscheinlichkeit nach genügt
haben, das Geschick des Tages von Lade zu wenden (gegen Ed. Meyer III S. 303).
2 Herod. V 96.
10 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
tiden verloren gegangen waren ^. Man tat also was man
konnte und sandte den lonern 20 Schiffe zu Hilfe, etwa die
Hälfte der gesamten Athen zur Verfügung stehenden See-
macht. Auch das Milet von alters her befreundete Eretria
stellte 5 Schiffe ^. Das war alles, was das Mutterland für die
Rettung seiner Kolonien tat. Aber so ungenügend diese
Unterstützung auch sein mochte, sie hatte eine moralische
Wirkung, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann.
In richtiger Erkenntnis der Lage schritten die loner
zur Offensive (Frühjahr 498), ehe der Feind seine Kräfte
gesammelt hatte; und ebenso richtig war es, daß man die
Hauptstadt Kleinasiens, Sardes, zum Ziel des Angriffs sich
aussah ^. Die persische Garnison war nicht stark genug, die
weitgedehnte Stadt zu verteidigen, und zog sich in die unein-
nehmbare Burg zurück. Während aber die Griechen ein-
rückten, brach Feuer aus, das in den durchweg mit Rohr
gedeckten Häusern mit reißender Schnelle um sich griff
und die ganze Stadt in Asche legte. Eine Belagerung der
Burg wagte man nicht, angesichts der heranziehenden per-
sischen Verstärkungen. So blieb nichts übrig als der Rückzug
^ Wenn die Inseln wirklich schon unter Peisistratos erobert worden sind
(oben IIS. 388), müssen sie sich bei Hippias' Sturz der demokratischen Er-
hebung angeschlossen haben, denn sie wurden bald nach Dareios' Skythenzuge
von den Persern erobert, die hier Lykaretos zum Regenten einsetzten, einen
Bruder des Samiers Maeandrios (Herod. V 26, oben IIS. 378). Wären die
Inseln dagegen unter Hippias' Herrschaft geblieben, so hätten die Perser zu
einer Intervention keinen Grund gehabt. Lykaretos ist dann von den Lemniern
erschlagen worden, wie es scheint, nicht lange darauf (Herod, V 27). Dann
müßte die Eroberung durch Miltiades erfolgt sein (Diod. X 19, 6, Charax aus
Pergamon FHG. III 642 fr. 30), falls nicht eine Verwechslung mit dem älteren
Miltiades vorhegt (oben IIS. 388 Anm. 2). Jedenfalls muß die persische Herr-
schaft in irgendeiner Form wieder hergestellt worden sein. Die Vermutung
hegt nahe, daß die Inseln an Hippias zurückgekommen sind, der ja der recht-
mäßige Herrscher war, und hier gestorben sein soll (Suidas '\Tzma(; b); viel-
leicht ist schon Lykaretos sein Statthalter gewesen.
^ Herod. V 97—99.
^ Die Angabe bei Plut De Herod. malign. 24 S. 861, die loner wären nach
Sardes gezogen ßou\ö,uevoi rriv MiXr|TOU \Oaai TroXiopKiav ist absurd; wie
hätten sie an einen Zug ins Innere denken können, wenn sie nicht einmal im-
stande waren, die Perser aus ihrer Stellung vor Milet zu vertreiben ?
Einnahme von Sardes. — Unterwerfung von Kypros. 11
nach Ephesos ^. In ganz Kleinasien aber machte der Brand
von Sardes tiefen Eindruck; die hellespontischen Städte,
Karien, Lykien, Kypros, schlössen sich jetzt dem Aufstande an^.
Die Athener verließen in Ephesos ihre Bundesgenossen
und schifften nach Hause; Lemnos und Imbros wurden nun
wieder mit Athen vereinigt ^. Der Zweck, für den die Athener
zu den Waffen gegriffen hatten, war erreicht, und sie haben
infolgedessen an dem Kriege keinen weiteren Anteil genommen.
Auch war für den AugenbHck für sie nichts zu tun, da die
ionische Flotte das Meer beherrschte, und später, als das Glück
sich gegen die loner wandte, trat in Athen ein politischer Um-
schwung ein, der die Anhänger des Peisistratidenhauses an
die Spitze des Staates brachte (siehe unten S. 13).
Inzwischen hatten die persischen Streitkräfte sich ge-
sammelt. Im Frühjahr 497 ging ein Heer nach Kypros hinüber,
wo die beiden ungriechischen Städte Amathus und Kition
der könighchen Sache treugeblieben waren * und eine sichere
Operationsbasis bildeten. Die ionische Flotte kam zu spät,
die Landung des Feindes zu hindern; sie blieb allerdings in
^ Nach Herod. VI 62 wären die loner von den Persern bis Ephesos ver-
folgt und dort gänzlich geschlagen worden. Charon von Lampsakos (FHG.
I 33, 2 bei Plut. Über Herodots Böswilligkeit 24 S. 861) weiß von dieser Nieder-
lage nichts, und er verdient nicht nur als ältere Quelle, sondern auch aus inneren
Gründen mehr Glauben. Ed. Meyer meint {Gesch. d. Altert. III S. 304 A), Charon
hätte auch sonst zugunsten der Griechen manches verschwiegen. Ich will dar-
über nicht streiten, denn es kommt sehr wenig darauf an. Das Entscheidende
ist, daß der Aufstand sich nicht weiter ausgebreitet haben würde, wenn der
Zug nach Sardes mit einer Niederlage geendet hätte. Herodots Erzählung
des ganzen Aufstandes ist überhaupt gegen die loner voll Mißgunst Das Stärkste
ist wohl, daß er es VI 10 als dyvuJiUGauvri bezeichnet, wenn die Führer der ein-
zelnen ionischen Kontingente vor der Schlacht bei Lade die Aufforderung der
vertriebenen Tyrannen zum Verrat an der Sache des Aufstandes zurückwiesen.
Also Herodot selbst wäre zu einem solchen Verrat fähig gewesen.
2 Herod. V 99—104.
^ Überliefert ist das nicht, es liegt aber in der Natur der Sache.
* Über Amathus Herod. V 108. 114; daß das phoenikische Kition dem
Aufstande fem blieb, ist selbstverständlich und wird durch den Stein von
IdaHon (Gr. Dial. -Inschr. I 60) bestätigt, wenn diese Inschrift wirkHch, wie
gewöhnlich angenommen wird, sich auf den ionischen Aufstand bezieht.
12 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
einer Seeschlacht über die Phoeniker siegreich, aber die ver-
einigten Kontingente der kyprischen Fürsten wurden in der
Ebene von Salamis von den Persern völlig geschlagen, wobei
der König dieser Stadt, Onasilos, das Haupt des Aufstandes,
seinen Tod fand. Jetzt trat Salamis wieder auf die persische
Seite hinüber, und damit war das Schicksal der Bewegung
entschieden. Die Städte, die noch im Widerstände verharrten,
wurden mit Waffengewalt zum Gehorsam zurückgebracht,
zuletzt Soloi nach langer Belagerung ^.
Gleichzeitig waren die Perser auch in Kleinasien zur
Offensive geschritten. Die Städte am Hellespont, Aeolien,
Klazomenae in lonien wurden erobert; in Karien allerdings
erlitten die Feldherren des Königs nach anfänglichen Erfolgen
eine vernichtende Niederlage, die dem weiteren Fortschritt
der persischen Waffen vorderhand ein Ziel setzte. Aber seit
dem Verlust von Kypros war das Schicksal des Aufstandes
besiegelt. Aristagoras' Stellung in Milet wurde jetzt unhalt-
bar; er wandte also der Heimat den Rücken und ging nach
Myrkinos am unteren Strymon in Thrakien, das einst Histiaeos
vom Könige zur Belohnung seiner Verdienste verliehen worden
war. Bei dem Versuche, hier eine Stadt zu gründen — da,
wo später die Athener Amphipolis erbauten — , wurde er von
den Edonern erschlagen (496) ^.
Histiaeos war indessen von Dareios nach Sardes gesandt
worden, um durch seinen Einfluß die loner zur gutwilligen
Unterwerfung zu bewegen ^. Statt dessen zettelte der alte
Tyrann mit unzufriedenen persischen Großen gegen Arta-
phernes eine Verschwörung an, und entfloh dann, als der
Satrap Verdacht schöpfte, nach Chios. Aber seine Hoffnung,
an die Spitze der nationalen Bewegung zu treten, schlug
fehl; die Milesier wollten von ihrem früheren Herrscher nichts
1 Herod. V 108—115.
2 Herod. V 116—126, Thuk. IV 102. Über die Chronologie unten
2. Abt. § 25.
ä Heinlein, Histiaios von Milet, Klio IX, 1909, S. 341 ff. hätte ungedruckt
bleiben können.
Histiaeos. — Umschwung in Athen. — Sparta und Argos. 13
wissen. Endlich erhielt er von den Mytilenaeern einige Schiffe,
mit denen er im Hellespont einen Parteigängerkrieg eröffnete ^
Der Aufstand dauerte nun schon ins fünfte Jahr, und
noch immer war lonien unbezwungen. Der Versuch, die
Griechen durch Verhandlungen zu trennen, war mißglückt,
und mit dem Landheer allein war gegen die stark befestigten
Küstenstädte nichts auszurichten. So erschien denn endlich
im Sommer 494 im Aegaeischen Meer eine phoenikische Flotte,
zu der auch die eben unterworfenen Kyprier ihr Kontingent
hatten stellen müssen ^. Aber auch jetzt, als die Gefahr in
nächster Nähe sich zeigte, blieb das Mutterland untätig.
In Athen war, bald nach der Wiederunterwerfung von Kypros,
wahrscheinlich also unter dem Eindruck dieses Ereignisses,
ein Umschwung erfolgt, der die Alkmeoniden von der Leitung
des Staates herabstürzte und ihren Gegner Hipparchos aus
Kollytos, einen nahen Verwandten des Peisistratidenhauses,
als ersten Archon an die Spitze der Regierung brachte ^.
Die Kriegspolitik gegen Persien wurde infolgedessen jetzt
aufgegeben. Und Sparta, das auch, als es die Hände freigehabt,
den lonern die Unterstützung versagt hatte, stand wieder
einmal mit seiner alten Rivalin Argos im Kriege, der seine
ganze Kraft in Anspruch nahm. Es scheint, daß König Kleo-
menes den Konflikt herbeigeführt hat; wenigstens war er es,
der die Offensive ergriff (um 494). Da er von Süden her nicht
in die argeiische Ebene vorzudringen vermochte, ließ- er sein
Heer durch aeginetische und sikyonische Schiffe von Thyrea
nach Nauplia überführen *; bei dem nahen Tiryns kam es
1 Herod. V 106—7, VI 1—5.
* Herod. VI 6.
ä Über "linrapxo? Xöptiou KoXXuTeü? oben I 2 S. 300 f. 332, sein Ar-
chontat ebenda S. 170. Vgl. unten 2. Abt. § 48.
* Herod. VI 76. 92. Die Wegführung der Geiseln aus Aegina durch Kleo-
menes, die Herodot wegen des angeblichen Medismos der Aegineten kurz vor
der Schlacht bei Marathon erfolgen läßt (VI 49 — 50. 73), gehört wahrscheinlich
in diesen Krieg, an dem die Aegineten sich nur gezwungen beteiligten (VI 92).
Was Herodot von Damaratos' Opposition gegen Kleomenes bei dieser Gelegenheit
erzählt, wird richtig sein; da er aber den ganzen Vorgang um einige Jahre zu
tief herabrückt, muß er Leotychidas dabei mitwirken lassen. Übrigens ist es
14 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft,
zur Schlacht, in der das argeiische Heer nahezu vernichtet
wurde ^. Die stark befestigte Hauptstadt zu nehmen war
Kleomenes allerdings nicht imstande, wie die Spartaner ja
überhaupt im Belagerungskrieg wenig geübt waren; aber
die Macht von Argos war doch auf lange Zeit hinaus lahm-
gelegt. Tiryns und Mykenae gewannen jetzt ihre Unabhängig-
keit zurück und traten in Bund mit Sparta ^. Den meisten
übrigen Perioekengemeinden verlieh Argos sein Bürgerrecht,
nur Kleonae und Orneae blieben in ihrer alten Stellung ^
Um dieselbe Zeit etwa war in lonien die Entscheidung ge-
fallen. Rhodos, Knidos und Halikarnassos, mit den zu diesem
gar nicht ausgeschlossen, daß die Chronographen Leotychidas' Regierungs-
antritt eben nach dieser Herodotstelle datiert haben.
1 Herod. VI 76—82. Nach dem Orakel bei Herod. VI 19 und 77 war die
Niederlage der Argeier mit dem Fall von Milet (494) etwa gleichzeitig, während
nach Herod. VII 148 die Schlacht bei Tiryns kurze Zeit (veuJöTi) vor 480 er-
folgt wäre. Jedenfalls ging sie dem Ausbruch des Krieges zwischen Aegina
und Athen (etwa 488) vorher (Herod. VI 92), höchst wahrscheinhch auch der
Absetzung des Damaratos (491, Plut. Mul. virt. 4 S. 245). Auch Diodor hat
diese Niederlage oder doch deren Folgen für Argos nach dem Ende des ionischen
Aufstandes, und vor dem Zuge des Datis erzählt (X 26, vgl. De Sanctis, Saggi
dt Storia Antica e di Archeologia offerti a G. Beloch, Rom 1910, S. 235 ff.). Die
Angabe bei Paus. III 4, 1 KXeoiu^vri? uj? dßa0i\euaev, auTiKa d(7^ßa\ev ic, xy\m
ApYoXiba beweist nicht das geringste; C. Wells, Journ. Hell. Stud. XXV,
1905, S. 193 ff., hat sich vergeblich bemüht, sie zu verteidigen.
2 Das zeigt ihre Haltung im Perserkriege: IGA. 70, Herod. VII 202. IX 27.
3 Aristot. Polit. V 1303a, Plut. a. a. 0., auch die Angabe über den Synoe-
kismos von Argos bei Paus. VIII 27, 1 muß auf diese Zeit gehen. Herod. VI 83
läßt die boOXoi sich der Herrschaft in Argos bemächtigen. Auch Diod. X 26
spricht von einer Sklavenemanzipation (daß diese Stelle sich auf Argos bezieht,
hat De Sanctis a. a. O. gesehen). Es könnte sich natürlich nur um die leib-
eigene Landbevölkerung handeln, die Gymneten oder Gymnesier (Polyd. III 83,
Steph. Byz. Xioi;, vgl. De Sanctis a. a. O.). Aber wenn es wirklich einmal
solche Leibeigenen in Argos gegeben hat, muß deren Befreiung in viel frühere
Zeit fallen. Dagegen hat Argos später keine Perioekenstädte mehr gehabt, mit
Ausnahme von Kleonae und Orneae, die es noch zur Zeit des peloponnesischen
Krieges waren (Thuk. V67, 2; 72, 4; 74, 3). Der Erzählung von der Verteidigung
der Stadt durch die Frauen (Paus. II 20, 8—10 = Suid. Te\eai\\a, Plut.
Mul. Virt. 4 S. 285, Polyaen. VII 33, Wilamowitz, Textgesch. der griech. Lyriker,
Abh. Gott. Ges. NF. IV 3, BerUn 1900, S. 76 ff., Herzog, Philol, NF. XXV,
1912, S. 17) hegt eine ätiologische Sage zugrunde.
Schlacht bei Lade. 15
gehörigen Inseln Kos und Kalymna, scheinen sogleich bei
Erscheinen der phoenikischen Flotte ihren Frieden mit dem
Könige gemacht zu haben. Die übrigen Städte versammelten
ihre gesamte Seemacht zum Schutz von Milet und nahmen
hier, im Angesicht der Stadt, bei der kleinen Insel Lade, die
Schlacht an. Wohl noch nie hatten so große Flotten gegen-
einander gekämpft. An Zahl der Schiffe waren die loner dem
Gegner annähernd gewachsen ^, aber es fehlte an Disziplin
und an festem Zusammenhalt; auch waren nicht alle Kon-
tingente ganz zuverlässig. Unter den samischen Kapitänen
hatte der vertriebene Tyrann Aeakes viele Anhänger, die
sich nach kurzem Kampfe zur Flucht wandten; jetzt hielten
auch die Lesbier nicht mehr stand, und so endete der Tag
mit einer völligen Niederlage. Milet wurde nun zu Lande
und zur See eingeschlossen und endlich mit Sturm genommen.
Es hatte schwer für seinen Abfall zu büßen. Ein Teil der
Bewohner wurde hinweggeführt und in Babylonien ange-
siedelt; der Tempel ApoUons in Didyma, vor den Toren der
Stadt, das berühmteste Heiligtum loniens, ging in Flammen
auf, seine reichen Schätze fielen den Persern zur Beute. Milet
hat sich nie wieder von diesem Schlage zu erholen vermocht;
seine alte Blüte war für immer gebrochen ^.
^ Herod. VI 9 oi TTepcfduJv axpaTriToi -iru0ö)Lievoi t6 irXfiGoq xuiv 'Idbiuv
veijüv KaxappiObriaav, |urj oü buvaxoi y^vuuvxai öirepßa\da9ai. Die loner hätten
354, die Perser 600 Schiffe gezählt. Letzteres ist eine der stereotypen Zahlen,
auf die persische Flotten geschätzt werden, und die Angabe hat gar keinen
Wert Die Zahl der ionischen Schiffe ist vielleicht nicht so sehr übertrieben,
da die loner doch gewiß die höchsten Anstrengungen gemacht haben, nur
können es nicht Trieren gewesen sein, wie Herodot sagt, der hier, wie gewöhn-
lich, die Verhältnisse seiner eigenen Zeit auf die Zeit der Perserkriege über-
trägt; haben doch selbst Athen und Syrakus auf der Höhe ihrer Macht nie eine
solche Flotte auf einem Punkte zu versammeln vermocht. Die Triere ist erst
kurz vor Xerxes' Zuge zum Linienschiff geworden; vorher bestanden die
Flotten in der Hauptsache aus Fünfzigruderern (Thuk. I 14).
* Herod. VI 6 — 20. Die Worte MiXrixo? |u^v ouv Mi\ri0iujv r]pri|uujxo
enthalten eine starke Übertreibung; erwähnt doch Herodot selber (IX 104)
ein milesisches Kontingent in der Schlacht bei Mykale. Aber allerdings ist ein
Teil der Stadt, das Quartier im Süden, zerstört und nicht wieder aufgebaut
worden (Wiegand, Abh. Berl. Akad. 1908 Anhang S. 3 ff.). Die Angabe, daß
16 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
Jetzt wurde Karien mit leichter Mühe unterworfen;
auch Samos beeilte sich, seinen Frieden mit dem Sieger zu
machen, und nahm seinen alten Herrscher Aeakes, Sylosons
Sohn, wieder auf ^; die Männer, die sich bei der Revolution
kompromittiert hatten, verließen die Insel und suchten
sich eine neue Heimat im Westen, wo sie Zankle in Besitz
nahmen ^. Histiaeos aber ließ den Mut noch nicht sinken.
Er eilte nach Chios, ergriff die Leitung der Bewegung und
dachte, auf die Kräfte dieser Insel, von Lesbos und der
hellespontischen Landschaft gestützt, den Krieg fortzusetzen.
Noch war nicht alles verloren, wenn das Mutterland endlich
der drohenden Gefahr gegenüber die Augen öffnete. Die
Katastrophe Milets sprach wahrlich eine deutliche Sprache;
sie mußte überall in der griechischen Welt einen nieder-
schmetternden Eindruck machen, nirgends tiefer als in Athen,,
der engverwandten und verbündeten Stadt, wo man sich
sagen mußte, durch die eigene tatlose Haltung die Kata-
strophe mitverschuldet zu haben. Hier brachte der Tragiker
Phrynichos im folgenden Frühjahr (493) den ,,Fall Milets'^
auf die Bühne und erzielte damit eine erschütternde Wirkung,
so daß die Regierung, die sich getroffen fühlte, den Dichter
in Strafe nahm^. Die Wahlen führten denn auch im nächsten
Sommer Themistokles an die Spitze des Staates, den Mann,
dem lonien nach 14 Jahren seine Befreiung zu danken haben
sollte; aber es war schon zu spät; noch ehe er sein Amt an-
treten konnte, war die Entscheidung gefallen. Histiaeos
war im Frühjahr nach Thasos hinübergegangen, um die reiche
und mächtige Insel zum Anschluß an die nationale Sache
erst Xerxes den Tempel von Didyma verbrannt hätte (Strab. XIV 634), beruht
nur auf einer Verwechslung.
1 Herod. VI 25.
" Herod. VI 22 ff., Thuk. VI 4, 5. Sie haben dort mit samischen Typen
Münzen geprägt. S. unten S. 69 A. 2.
3 Herod. VI 21. Daß das Stück Themistokles' Politik unterstützen sollte,
ist klar; hat doch Phrynichos auch später in den Phoenissen Themistokles'
Taten verherrlicht (vgl. die Choregeninschrift bei Plut. Them. 5). Über Themi-
stokles' Archontat unten S. 32 Anm. 2.
Ende des Aufstandes, 17
ZU bringen und damit den Verlust des südlichen loniens
wenigstens zum Teil auszugleichen. Hier aber wollte man
es mit Persien nicht verderben, und als nun die phoenikische
Flotte von Milet aus in See ging, mußte Histiaeos eiligst
nach Lesbos zurückkehren. Eine Seeschlacht anzunehmen
war er freilich zu schwach, und auf der Insel wollte er sich
nicht einschließen lassen; er raffte also zusammen, was er an
Truppen noch hatte, und ging nach dem nahen Festland
hinüber. Hier traf er bei Malene am unteren Kaikos, im Gebiet
von Atarneus, auf ein starkes persisches Heer unter Harpagos;
er nahm die Schlacht an, die der Gegner ihm bot, und seine
Truppen hielten lange Zeit wacker stand, mußten aber endlich
dem Angriff der feindlichen Reiterei weichen (Juni 493).
Auf der Flucht fiel Histiaeos in die Hände der Sieger; er
wurde nach Sardes vor Artaphernes geführt und auf dessen
Befehl hingerichtet ^. Es bleibt sein Ruhm, daß er trotz
seinen vertrauten Beziehungen zu Dareios keinen Augenblick
gezögert hat, sich auf die Seite seiner Landsleute zu stellen;
hätte man ihm zu rechter Zeit den Oberbefehl übertragen,
so würde der Ausgang des Aufstandes vielleicht ein anderer
gewesen sein. Auch so hat er getan, was er konnte, um nach
der Niederlage bei Lade zu retten, was noch zu retten war;
erst mit seinem Tode war der Sieg der Perser entschieden.
Ohne Widerstand zu finden, nahm jetzt die phoenikische
Flotte Chios, Lesbos und die hellespontische Landschaft in
Besitz^; der Tyrann des thrakischen Chersones, Miltiades,
der sich gleich zu Anfang der nationalen Bewegung ange-
schlossen hatte, rettete sich durch die Flucht nach Athen *.
Natürlich hatten die abgefallenen Städte bei der Wieder-
unterwerfung zum Teil schwer zu leiden, sonst aber ließen
die Perser Milde walten und waren vielmehr bemüht, die
Wunden, welche der Krieg geschlagen hatte, zu heilen. Der
^ Herod. VI 26 — 30. Die Jahreszeit der Schlacht ergibt sich aus c. 28
bmßalvei, ^k toO 'Arapvioc, vjq dunaujv töv aiTov.
2 Herod. VI 31—33.
3 Herod. VI 41, Auch Lemnos und Imbros sind damals wieder persisch
geworden (Herod. VIII 73).
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 2
18 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
Gesamtbetrag der Tribute wurde nicht erhöht, aber auf
Grund einer Art roher Landesvermessung gerechter verteilt;
das Fehderecht der Gemeinden wurde aufgehoben, und be-
stimmt, daß Streitigkeiten künftig durch Schiedsspruch
geschlichtet werden sollten. Die Tyrannen, soweit sie der
persischen Sache treu geblieben waren, wurden wieder in ihre
Würde eingesetzt; in den übrigen Städten ließ man die
demokratischen Verfassungen bestehen, wie sie während des
Aufstandes eingeführt worden waren. Man hoffte so die
asiatischen Griechen mit der persischen Herrschaft zu ver-
söhnen und einem Wiederausbruch des Aufstandes vorzu-
beugen ^.
Es galt nun, die persische Herrschaft in Thrakien wieder-
herzustellen. Zu diesem Zwecke sandte der König seinen
Schwiegersohn Mardonios mit Verstärkungen nach Klein-
asien, und übertrug ihm den Oberbefehl über die dort stehen-
den Streitkräfte. Im Sommer 492 überschritt er den Hellespont
und zog, von einer starken Flotte begleitet, nach Westen.
Die griechischen Städte unterwarfen sich ohne Schwertstreich,
auch Thasos, das bisher seine Unabhängigkeit behauptet
hatte; ebenso kehrte Makedonien ohne weiteres zu seiner
Lehnspflicht zurück. Nur mit den thrakischen Bergvölkern
hatte Mardonios zu kämpfen; die Bryger an der makedonischen
Grenze wagten sogar einen Überfall auf sein Lager, wobei
Mardonios selbst eine Wunde erhielt. Da inzwischen der
Herbst herangekommen war, beschloß man nach Asien zurück-
zugehen; dabei erlitt die Flotte, während der Umschiffung
des Athos, durch einen Sturm sehr schwere Verluste. Doch
der Zweck des Zuges war erreicht worden, und persische Garni-
1 Herod. VI 42. 43. Die Angabe Herodots, rovc, yoip xupdvvouc; tujv
Mdbviuv Kaxa-noLvaac, 6 Mapbövioq brnnoKpaTiai; KaTiaxa i.(; zäc, n6\ia<i (VI
43) kann nur mit der oben gegebenen Einschränkung richtig sein; denn wir
finden Strattis als Tyrann von Chics im Jahr 479 (VIII 132) wie zur Zeit
des Skythenzuges (IV 138), und auf Aeantides von Lampsakos sind seine
Söhne gefolgt, die erst um 490 großjährig sein konnten (Thuk. VI 59, 3, vgl.
Herod. IV 138, und oben I 2 S. 300).
Mardonios in Thrakien. — Zerstörung von Eretria. 19
sonen sicherten fortan die wichtigsten Festungen an der
thrakischen Südküste ^
Jetzt blieb noch übrig, Athen und Eretria zur Rechen-
schaft zu ziehen für die Unterstützung, die sie dem Aufstand
gewährt hatten. Dazu mußte zunächst die Flotte wieder
instand gesetzt werden, die am Athos so schwer gelitten hatte,
und darüber verging der folgende Sommer; endlich im Früh-
jahr 490 war alles bereit, und die neue Flotte, mit Landungs-
truppen an Bord, konnte von Kilikien aus in See gehen.
Mardonios, der für die Katastrophe am Athos die Verant-
wortung trug, war abberufen worden, und der Befehl wurde
einem Brudersohne des Königs, Artaphernes, übertragen,
dem Sohne des Satrapen von Sardes; ein erfahrener Offizier,
der Meder Datis, wurde ihm als eigentlicher Leiter des Unter-
nehmens zur Seite gestellt. Die Flotte ging zunächst nach
lonien, zog die Kontingente der griechischen Küstenstädte
an sich und wandte sich dann gegen Naxos, das vor 10 Jahren
der Belagerung durch die Perser getrotzt hatte. Diesmal
wagten die Bewohner keine Verteidigung und flüchteten
in die Berge im Innern der Insel; die verlassene Stadt wurde
von den Persern niedergebrannt. Die übrigen Kykladen
unterwarfen sich nun ohne Widerstand; die heilige Insel
Delos wurde mit aller Rücksicht behandelt, die Tempelschätze
nicht angetastet, und Datis selbst brachte am Altar Apollons
ein feierliches Rauchopfer dar. Karystos auf Euboea ergab sich
nach kurzer Belagerung. Das nächste Ziel der Flotte war
Eretria. Die Bürger wußten, daß sie auf keine Schonung
zu rechnen hatten, glaubten aber im Vertrauen auf die Stärke
der Mauern, sich halten zu können, bis aus Athen Hilfe herbei-
käme. Doch schon nach kurzer Berennung öffnete Verrat
dem Feinde die Tore, die reiche Stadt wurde geplündert und
niedergebrannt, die Bewohner gefangen fortgeführt und
später von Dareios in der Nähe von Susa angesiedelt ^. Eretria
^ Herod. VI 43 — 45 und unten 2. Abt. § 34. Über die persischen Garni-
sonen Herod. VII 105—107.
2 Herod. VI 94 — 101. Ein öxpeTTTÖv xpucxoOv ActTiboc; dvd9r||ua
wird in dem delischen Schatzinventar von 279 (Michel 833 Z. 95) aufgeführt.
2*
20 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
ist zwar bald wieder aufgebaut worden, hat aber die Folgen
dieser Katastrophe nie ganz überwunden.
Bis jetzt war den Persern alles nach Wunsch gegangen;
aber es blieb noch der schwierigste Teil ihrer Aufgabe: die
Bestrafung Athens. Doch Datis rechnete darauf, daß ihm
auch hier innerer Zwist den Weg bahnen würde. Denn die
Peisistratiden hatten noch immer zahlreiche und mächtige An-
hänger; ja, der Führer dieser Partei, Hipparchos aus Kollytos,
selbst ein naher Verwandter des Tyrannenhauses, war noch
vor wenigen Jahren zum höchsten Amte des Staates gelangt
(496/5), und sein Einfluß hat es ohne Zweifel bewirkt, daß
Athen fortan sich dem Kriege gegen Persien fernhielt (vgl.
oben S. 13). Und die großen militärischen Erfolge, welche
die Perser in den letzten Jahren errungen hatten, mehr als
alles der frische Eindruck der furchtbaren Katastrophe von
Eretria, mußten weite Kreise zu der Überzeugung bringen,
daß jeder Widerstand doch vergeblich sein würde, und es das
Beste wäre, die Rettung des Staates durch Wiederaufnahme
der Tyrannen zu erkaufen. Darum hatte Peisistratos' Sohn
Hippias, der noch immer in Sigeion als persischer Vasallen-
fürst lebte, sich der Expedition angeschlossen^; auf seinen
Rat sah Datis von einer Landung im Angesicht von Athen
ab und schiffte sein Heer in der Bucht von Marathon aus,
da, wo Peisistratos vor jetzt 60 Jahren, ebenfalls von Eretria
kommend, gelandet war, um seinen Siegeszug nach Athen
anzutreten. Man wollte dem Verrat Zeit lassen, in der Stadt
sein Werk zu tun ^.
Indes die Männer, die an der Spitze Athens standen,
waren entschlossen, alles an die Rettung der Freiheit zu
setzen, allen voran Miltiades, der frühere Herrscher des
thrakischen Chersones, der vor 3 Jahren von den Persern
vertrieben worden war (oben S. 17) ^. Durch seine einfluß-
1 Herod. VI 107, Thuk. VI 59, 4, Suidas '\Tzmac; b; die Zweifel von Wila-
mowitz (Aristot. 1 112) sind nur subjektiver Natur.
2 Herod. VI 107.
^ Er soll damals, bei seiner Rückkehr nach Athen Tupavvibo(; rf)? ^v
Xepaovriöiu angeklagt worden sein (Herod. VI 104). [Demosth. ] gAristog. II 6
Marathon. 21
reichen Familienverbindungen und seinen fürstlichen Reich-
tum war er rasch zu leitendem Einfluß gelangt ^, und eben
jetzt war er einer der zehn Strategen, die das attische Heer
befehligten. Als solcher setzte er einen Volksbeschluß durch,
sich nicht auf die Verteidigung der Stadt zu beschränken,
sondern dem Feinde entgegenzuziehen und es auf eine Schlacht
ankommen zu lassen ^. Das Landgebiet wurde damit vor den
Verheerungen des Feindes geschützt, und vor allem die Machen-
schaften der Verräter im Keime erstickt. Das Heer rückte
also ins Feld und nahm auf den Höhen, welche die Ebene
von Marathon umkränzen, eine die Straße nach Athen deckende
Stellung. Gleichzeitig sandte man nach Sparta um Bundes-
hilfe; es mußten aber im besten Fall etwa 14 Tage vergehen,
ehe diese Hilfe zur Stelle sein konnte.
Es mochten etwa 6 — 7000 Hopliten sein, die hier ver-
sammelt standen; dazu kam mindestens die gleiche Zahl
leichter Truppen und ein kleines Hilfskorps aus dem ver-
bündeten Plataeae. Bei der Schwierigkeit, große Truppen-
massen in einem Transporte zur See zu befördern, ist es
sehr fraglich, ob die persische Flotte eine viel stärkere Zahl
S. 802 verwechselt diesen Prozeß mit dem anderen, in dem Miltiades wenige
Jahre später verurteilt wurde; die Vermutung hegt nahe, daß es sich überhaupt
nur um ein Duplikat dieses letzteren Prozesses handelt Vgl. Nepos Mut. 8,
wo die Tyrannis im Chersones als Hauptursache der Verurteilung im Prozeß von
489 bezeichnet wird.
^ Herod. VI 132 MiXTidbri? koI irpörepov (vor Marathon) eöboKi|Liduiv
irapä Aerivaioi0i. Aristo t. ATT. 28, 2 tou jli^v bri|uou irpoeiaTriKei Zolvönriroq,
Tiijv bi Yvujp{|uaiv MiXiTictbrii;. Vgl. unten 2. Abt. § 50.
^ Das Psephisma des Miltiades bezeugt von Kephisodotos bei Aristot.
Rhet. III 10 S. 1411 a (beiv dEi^vai tö Mi\Tidbou vjjriqpiö|ua), Demosth. vdGes. 303
(Aeschines hatte es einmal verlesen lassen), Plut. QuaesL conv. I 10, 3 S. 628.
Herodot (VI 109) läßt statt dessen die Strategen erst im Lager bei Marathon
darüber beraten, ob man schlagen solle oder nicht, was ja dramatisch viel wirk-
samer ist. Wenn Spätere (lustin. II 9, 10, Suidas 'iTririag a, Nep. Mut. 4)
den Kriegsrat in der Stadt vor dem Ausmarsch halten lassen, so ist das sachHch
ganz richtig, aber offenbar nur Korrektur des Berichts Herodots. Daraus ergibt
sich zugleich, daß die Zweifel, ob Athen damals befestigt war, ganz unbegründet
sind, was übrigens auch ohne das, abgesehen von der Analogie von Städten
wie Argos und Theben, aus Thuk. I 89, 3 und 93, 2 deutUch hervorgeht.
22 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
von Kombattanten an Bord hatte, und namentlich die furcht-
barste Waffe des persischen Heeres, die Reiterei konnte, wenn
überhaupt, nur- in sehr geringer Zahl vertreten sein ^; die
Rudermannschaften aber waren für einen Kampf zu Lande
fast vollständig wertlos. Unter diesen Umständen zögerten
die Perser mit dem Angriff; die Athener andererseits konnten
gar nichts Besseres wünschen, als die Entscheidung bis zur
Ankunft der spartanischen Bundesgenossen hinauszuschieben.
Die entgegengesetzte Erwägung veranlaßte endlich den
persischen Befehlshaber Datis, die Schlacht auch auf un-
günstigem Terrain zu erzwingen, sobald er von dem Aus-
marsche der Spartaner Kunde erhielt ^; aber seine leicht -
gerüsteten Truppen hielten dem Stoße der griechischen
Hopliten nicht stand. Unter großen Verlusten wurden die
Perser nach ihrem Schiffslager gedrängt, das sie mit allen
Kräften zu halten suchten. In der Tat gelang es, die Flotte
zu retten und die Einschiffung zu bewerkstelligen; nur 7
Schiffe blieben in der Hand der Athener. Von den Barbaren
sollen 6400 die Walstatt bedeckt haben; und mag die Zahl
auch weit übertrieben sein, daß die Niederlage eine sehr schwere
war, zeigen die umfassenden Vorbereitungen, die für den näch-
sten Feldzug nach Griechenland getroffen wurden. Der Verlust
der Sieger betrug nur 192 Mann, darunter aber der Polemarch
Kallimachos von Aphidna, und einer der Strategen, Stesileos ^
^ Herodot gibt keine Zahlen, und die Angaben Späterer beruhen offen-
bar nur auf Schätzung. Näheres unten 2. Abt. § 33.
^ Daß die Spartaner versprochen hatten, zuna Vollmonde auszurücken
(Herod. VI 107), können die attischen Strategen vor ihrem Heere nicht ge-
heim gehalten haben, und mußte man also, durch Überläufer oder Gefangene,
auch im persischen Hauptquartier wissen. Da nun die Spartaner gleich nach
der Schlacht (Herod. VI 120, Plat. Menex. 240 c, Gesetze III 698 e) eintrafen,
so muß es eben die Rücksicht auf diese Verstärkung des Feindes gewesen sein,
die Datis zum Angriff bestimmte. So hat Cornelius Nepos' {Mut. 5) Gewährs-
mann die Sache aufgefaßt. Daß die Spartaner die reichlich 200 km, zum Teil
auf schlechten Bergpfaden, von Sparta nach Athen nicht, wie Herodot angibt,
in 3 Tagen zurücklegen konnten, bedarf keiner Bemerkung; sie hatten aller-
mindestens 5 Tage nötig.
^ Die älteste Darstellung der Schlacht gab das Gemälde des Mikon und
Paeanios, in der „bunten Halle", um 460, beschrieben von Paus. I 15, 3, vgl.
Marathon. 23
Datis gab auch jetzt seine Sache noch nicht verloren;
er hoffte, das von Verteidigern entblößte Athen im Einver-
ständnis mit Hippias' Parteigenossen durch einen Hand-
streich zu nehmen. In dieser Absicht umschiffte er Kap Sunion
und erschien mit seiner Flotte auf der Reede von Phaleron,
im Angesicht der Stadt. Aber er kam zu spät; das siegreiche
Heer war bereits von der Walstatt zurückgekehrt und lagerte
unter den Mauern. Eine neue Schlacht konnten die Perser
natürlich nicht wagen, um so weniger, als die Spartaner schon
ganz nahe waren; es blieb also nichts übrig als die Rückkehr
nach Asien ^. Dem greisen Hippias brach über der Vernichtung
seiner Hoffnungen das Herz; er soll gestorben sein, noch
ehe er sein Sigeion wiedererreichte ^.
So war Attika von der Invasion befreit, und alle Pläne
einer monarchischen Restauration zerrannen in ihr nichts.
Aber noch viel größer als die materielle war die moralische
Bedeutung des Sieges. Zum erstenmal waren die Perser
in einer großen Landschlacht geschlagen worden. Allerdings
war der Erfolg hauptsächlich dem Umstände zu danken, daß
der Feind keine Reiterei zur Verfügung gehabt hatte. Doch
gleichviel; der Nimbus der Unbesiegbarkeit, der bis dahin
die Eroberer Asiens in den Augen der Hellenen umgeben
hatte ^, war mit diesem Tage zerstört. Mochten die Barbaren
den Rekonstruktionsversuch von Robert, i8. Hallisches Winckelmannsprogramtity
1895, und B. Schröder, Jahrb. Arch. Inst. XXVI, 1911, S. 281 ff. Die Haupt-
züge dieser Darstellung kehren bei Herodot wieder (VI 109 — 117), von dem
alle anderen Quellen abhängig sind; was sie mehr bieten, ist wertlos oder un-
wesentlich. Das richtige Verständnis der Schlacht verdanken wir Delbrück,
Perserkriege und Burgunderkriege S. 52 — 85. Die topographischen Fragen be-
handelt LoUing, Ath. Mitt. I, 1876, S. 88 ff. Inzwischen hat die Aufgrabung
des öUJpöq gezeigt, daß dieser Hügel wirklich das Grabmal der Marathon-
kämpfer ist (Thuk. II 34, 5, Paus. I 32, 3, Stais, Ath. Mut. XVIII, 1893 S. 46 ff.);
die Schlacht ist also in dem südlichen Teile der Ebene geschlagen worden. Daß
das heutige Dorf Marathon nicht dem antiken Demos entspricht, ist klar, viel-
mehr hat der Demos dem Meer näher gelegen (Milchhöfer, Karten von Attika y
Text III 51 ff.). Über die Chronologie unten 2. Abt. § 23.
1 Herod. VI 115—118.
^ Suidas MuTTiac;. Nach lustin. II 9, 21 wäre er bei Marathon gefallen.
3 Herod. VI 112.
24 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
immerhin mit größerer Macht ihren Angriff erneuern, die
Nation konnte mit Selbstvertrauen der Zukunft entgegen-
sehen.
Auf persischer Seite war man sich keinen Augenblick
darüber zweifelhaft, daß die Scharte von Marathon ausgewetzt
werden müsse. Man hatte den Feind unterschätzt, den Feldzug
mit unzureichenden Mitteln unternommen; es galt den Versuch
in größerem Maßstabe zu wiederholen. Aber über den
Rüstungen zu diesem Zuge starb Dareios, im fünften Jahre
nach dem Tage von Marathon (485); und sein Nachfolger
Xerxes hatte erst Aufstände in Aegypten und Babylonien
niederzuschlagen, ehe er daran gehen konnte, die Pläne seines
Vaters gegen Griechenland wieder aufzunehmen ^. So war
Hellas nach Marathon eine zehnjährige Ruhe gegönnt.
Aber nur in Athen, das freilich zunächst bedroht war,
benutzte man die Frist, sich gegen den kommenden Angriff
zu stärken. Gleich im Jahre nach der Schlacht bei Marathon
machte Miltiades den Versuch, an der Spitze der gesamten
athenischen Flotte die Kykladen zum Abfall von den Persern
zu bringen ^. Es gelang ihm auch wirklich, die westliche
Inselreihe von Keos bis Melos zum Anschluß an Athen zu
bewegen ^, aber die übrigen Kykladen hielten an dem per-
sischen Bündnis fest, und die Belagerung von Paros, die
Miltiades darauf unternahm, blieb erfolglos. Die Alkmeoniden
ließen sich die günstige Gelegenheit zum Sturz ihres Gegners
nicht entgehen. Bei seiner Rückkehr wurde Miltiades von
Xanthippos von Cholargos vor Gericht gezogen, dem Führer
der Volkspartei, der Kleisthenes' Nichte Agariste zur Frau
hatte. Die Geschworenen sprachen zwar über den Sieger
von Marathon nicht das Todesurteil, wie die Anklage be-
antragt hatte, legten ihm aber eine hohe Geldbuße auf. Kurze
Zeit nachher starb Miltiades an einer Wunde, die er vor Paros
1 Herod. VII 1—8. Über den Aufstand in Babylonien Ktes. 29, 21 f.,
vgl. E. Meyer, Gesch. d. Altert. III S. 131.
2 Herod. VI 132 ff., Ephor. fr. 107, aus ihm Nepos Mut. 7.
^ Diese Inseln haben später zur griechischen Flotte gegen Xerxes Schiffe
gestellt, während die übrigen Kykladen mit den Persern im Bunde standen.
Persische Rüstungen. — Miltiades' Ende. — Krieg mit Aegina. 25
erhalten hatte ^. Die Angriffspolitik gegen Persien wurde
jetzt fallen gelassen; man machte nicht einmal den Versuch,
Lemnos und Imbros wieder zu gewinnen, die nach dem
ionischen Aufstand verloren gegangen waren ^.
Statt dessen ließ Athen sich in einen Krieg mit dem
benachbarten Aegina verwickeln (488) ^, der während der
nächsten Jahre alle seine Kräfte in Anspruch nahm. Die
kleine Insel war, wie wir wissen, einer der Hauptplätze der
griechischen Industrie und des griechischen Handels; ihre
Marine die tüchtigste und stärkste in der ganzen griechischen
Welt, seit die Seemacht Athens nach dem Sturze der Peisistra-
tiden verfallen war, und die Schlacht bei Lade die Seemacht
loniens gebrochen hatte. Athen war die benachbarte Insel
schon lange ein Dorn im Auge; jetzt endlich schienen innere
Wirren auf Aegina den Athenern die erwünschte Gelegenheit
zu geben, ihre alten Feinde zu demütigen.
1 Herod. VI 136, Nepos Mut. 8. Über Xanthippos unten 2. Abt. § 15.
Die Buße hätte nach Herodot 50 tal. betragen, die Miltiades' Sohn Kimon
nach dem Tode des Vaters bezahlt hätte. Die Späteren haben sich den Kopf
darüber zerbrochen, woher denn Kimon das viele Geld genommen hätte; sie
lassen den reichen Kallias eingreifen (Nepos Cim. 1), oder Kimon eine reiche
Erbtochter heiraten (Wilamowitz, Aristot. u. Athen II 82, Anm. 18). Aber noch
ein halbes Jahrhundert später, als Athen auf der Höhe seiner Macht stand,
hat es dort kaum jemand gegeben, der 50 tal. besessen hätte (s. unten Abschn. III) ;
es ist also klar, daß die Summe sehr übertrieben ist.
^ Im Jahre 480 stellte Lemnos ein Schiff zur persischen Flotte, das freiUch
bei der ersten Gelegenheit zu den Athenern überging (Herod. VIII 11).
^ Die Zeit ergibt sich aus dem Orakel, das Herodot V 89 an falscher Stelle
erwähnt, wonach zwischen dem Beginn dieses und des nächsten Krieges gegen
Aegina (458) 30 Jahre verflossen sind (vgl. Köhler, Rh. Mus. XLVI, 1891,
S. 1 ff.). Im Jahre 489 war jedenfalls noch Frieden, da Miltiades seine parische
Expedition sonst nicht hätte unternehmen können. Andererseits muß der Krieg
483, als Themistokles sein Flottengesetz einbrachte, bereits einige Jahre gewährt
haben. Wenn Herodot den Ausbruch des Krieges vor Marathon erzählt (VI
87 — 93), so erklärt sich das daraus, daß er den ersten Anlaß dazu in der angeb-
lichen Unterwerfung der Aegineten unter König Dareios sieht, die 491 erfolgt
wäre (VI 49 — 50, 85 — 86), und den einmal begonnenen Bericht darüber nicht
unterbrechen will. Eine Dittographie dieses Berichtes ist, was Herodot V 82 — 87
von einem älteren Krieg zwischen Athen und Aegina erzählt, dessen Zeit er
unbestimmt läßt (Wilamowitz, Aristot. u. Athen II 280 ff.).
26 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
Aegina hatte sich seine aristokratische Verfassung be-
wahrt; aber auch hier gab es eine zahlreiche Partei, die auf
den Umsturz des Bestehenden hinarbeitete und mit Hilfe der
athenischen Demokratie ihr Ziel zu erreichen hoffte^. Indes
der Aufstand brach aus, ehe die Athener zur Stelle waren,
und wurde so von der Regierung mit leichter Mühe unter-
drückt. Allerdings gelang es den Athenern, ein Landungs-
korps auf die Insel zu werfen, den Aegineten aber kam Hilfe
aus Argos, die athenischen Truppen auf Aegina erlitten eine
schv/ere Niederlage und mußten die Insel räumen, auch
zur See wurden die Athener mit dem Verlust von vier Schiffen
geschlagen. Die aeginetische Flotte beherrschte jetzt das
Meer, und die attische Küste lag ihren Verheerungen offen.
Um die Zeit als der Krieg mit Aegina ausbrach, gleich
nach Miltiades' Sturze, war in Athen eine einschneidende Ver-
fassungsänderung im demokratischen Sinne erfolgt. Der
Staat hatte vor der Gefahr der Tyrannis gestanden; es galt
für die Zukunft ihre Wiederkehr zu verhindern. Man schritt
darum zu einer Beschränkung der Macht der Beamten. Die
Archonten waren zwar längst nicht mehr das, was sie zur Zeit
Solons gewesen waren; namentlich der Polemarch hatte den
Oberbefehl im Kriege verloren und war zum Verwaltungs-
beamten geworden, aber auch als solcher hatte er noch eine
sehr einflußreiche Stellung, zog mit ins Feld und führte den
Vorsitz im Kriegsrat. Und der erste Archon war auch jetzt
der Präsident des attischen Staates, der der Politik ihre
Richtung gab. Noch vor wenigen Jahren war Hipparchos
aus Kollytos, der Verwandte und Anhänger der Peisistratiden,
zu diesem Amte gelangt; wer bürgte dafür, daß es künftig,
vielleicht in einem kritischen Augenblick, nicht wieder zu
einer ähnlichen Wahl käme? Es wurde also bestimmt (488/7),
daß fortan die neun Archonten nicht mehr durch Wahl,
sondern durch das Los bestellt werden sollten, und zwar aus
* Nach dem athenischen Bericht, dem Herod. VI 87 folgt, hätten die
Aegineten die Feindsehgkeiten begonnen, indem sie ein athenisches Schiff
wegnahmen, das Festgesandte nach Sunion führten. Das sieht sehr wie ein
Versuch aus, den von den Athenern begangenen Friedensbruch zu beschönigen.
Verfassungsrefonn in Athen. 27
einer Anzahl von den einzelnen Demen erwählter Kandidaten,
die den beiden oberen Schatzungsklassen angehörten; die
durch das Los bezeichneten hatten sich dann noch vor dem
Rate einer Prüfung zu unterziehen. So war es möglich, alle
unzuverlässigen Elemente von dem Amte fernzuhalten; auch
war es klar, daß ein beliebiger Bürger, der durch das Los
Archon wurde, bei weitem nicht die Autorität haben konnte,
wie ein Parteiführer, hinter dem die Majorität der Wähler
stand. Schon dadurch mußte das Amt einen großen Teil
seiner Bedeutung verlieren. Aber es wäre überhaupt ein
Widersinn gewesen, dem erlosten Archon, der vielleicht ein
ganz unfähiger Mensch war, die Kompetenz zu belassen,
die der erwählte Archon gehabt hatte. Es wurde also den
Archonten der größte Teil ihrer bisherigen Machtbefugnis
entzogen, und es blieb ihnen nichts weiter als die Instruktion
der Prozesse, die zu dem Amtsbereich eines jeden von ihnen
gehörten, und eine Reihe von Verwaltungsgeschäften ohne
politische Wichtigkeit. Die Leitung der Zivilverwaltung
ging nun an den Rat der Fünfhundert über, die der Militär-
verwaltung an die Strategen, von denen einer den Vorsitz
im Kriegsrate erhielt, den bisher der Polemarch gehabt hatte.
Wie früher der Polemarch, so wurde fortan der Vorsitzende
Stratege aus allen Athenern gewählt, während die übrigen
Mitglieder des Kollegiums wie bisher aus den einzelnen Phylen
gewählt wurden. Diese Erweiterung der Kompetenz der
Strategen hatte dann zur Folge, daß sie den Befehl über die
aus den Kontingenten der einzelnen Phylen gebildeten Ab-
teilungen des Bürgerheers nicht länger führen konnten;
vielmehr wurde es nötig, zu diesem Zweck eine neue Charge
zu schaffen, die Taxiarchen, die gleichfalls durch Volkswahl
ernannt wurden. Die Strategen widmeten sich den Ver-
waltungsgeschäften, und übernahmen im Kriege, je nach
Bedarf, den Oberbefehl über die Heere und Flotten. Da sie
jetzt, von den untergeordneten Befehlshaberstellen abgesehen,
die einzige Behörde bildeten, die durch Wahl besetzt wurde,
wurde die Strategie das einflußreichste Amt des Staates,
um so mehr, als man trotz alles demokratischen Mißtrauens
28 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
verständig genug war, nach Ablauf des Amtsjahres die Wieder-
wahl zu gestatten. Der Vorsitzende des Strategenkollegiums
wurde so, in gewissem Sinne, zum Präsidenten der athenischen
Republik, wie früher der erste Archon. Aber er war, unter
seinen Amtsgenossen, doch nur primus inter pares, er hatte
keinen Einfluß auf die Zivilverwaltung und war namentlich
finanziell vollständig vom Rate abhängig; so schien das Amt,
auch in den Händen eines ehrgeizigen Mannes, der Freiheit
nicht gefährlich zu sein. Und niemand konnte damals voraus-
sehen, welche Erweiterung des Wirkungskreises der Strategen
schon die nächsten Jahre bringen würden ^.
^ Direkt überliefert ist von dieser Verfassungsreform nur die Änderung
im Wahlmodus der Archonten (Aristot. ATT. 22, 5); um so lauter sprechen die
Tatsachen. Themistokles hat die Anlage des Kriegshafens im Peiraeeus als
Archon begonnen (493/2, Thuk. I 93, 3), später hat der Archon mit den öffent-
lichen Bauten nichts mehr zu tun. Bei Marathon hat der Polemarch den Vorsitz
im Kriegsrat und in der Schlacht den Ehrenplatz auf dem rechten Flügel (Herod.
VI 109, Plut. Quaest. conv. I 10, 3 S. 628, nach Aeschylos); später ist er über-
haupt nicht mehr mit ins Feld gezogen, und schon bei Salamis ist nur noch
von den Strategen die Rede oder vielmehr nur von einem Strategen, Themi-
stokles, der also den Vorsitz im Kollegium gehabt haben muß. Daß es einen
solchen Vorsitzenden, der im Gegensatz zu seinen Kollegen aus allen Athenern
erwählt wurde, im V. Jahrhundert gegeben hat, zeigen alle Strategenkollegien
dieser Zeit, deren Zusammensetzung uns näher bekannt ist, wie ich Att. Polit.
S. 280 ff. näher ausgeführt habe (vgl. unten 2. Abt. § 112); es gibt keine andere
Erklärung der Tatsache, daß sich nie mehr als zwei Strategen aus derselben
Phyle finden, und daß von diesen beiden der eine immer ein hervorragender
Staatsmann oder Feldherr ist. Daß Aristoteles nichts davon sagt, ist nur ein
neuer Beweis dafür, daß er von der Verfassung Athens im V. Jahrhundert
eine sehr ungenügende Kenntnis gehabt hat. Als solche Oberstrategen (aTpaxrjYÖi;
beKOTO? auTÖi; sagt Thuk. II 13, 1 von Perikles) haben Themistokles, Kimon,
Perikles, Nikias, Alkibiades den Staat geleitet. Wie die zehnte Phyle, die keinen
Strategen stellte, wenn nicht etwa zufällig der Oberstratege ihr angehörte,
entschädigt wurde, wissen wir nicht; ein Analogon gibt die Bestellung der
9 Archonten, die ebenfalls jeder einer anderen Phyle angehörten, während
die zehnte den Schreiber stellte (Aristot. ATT. 55, 1). — Der Archon Telesinos
(487/6), unter dem Aristoteles die Reform erzählt (ATT. 22, 5), ist ohne Zweifel
der erste erloste Archon, ganz ebenso wie Aristoteles (ATT. 26, 2) die Zulassung
der Zeugiten zum Archontat unter Mnesitheides erzählt (457/6), der der erste
Archon aus dieser Klasse war. Die Reform ist also im Jahre 488/7 beschlossen
worden, gleichzeitig mit dem Gesetz über den Ostrakismos.
Ostrakismos. 29
Demselben Zwecke wie die Beschränkung der Macht
der Beamten diente ein anderes Gesetz, das in demselben
Jahre vom Volke angenommen wurde ^. Es sollte die Bürger
treffen, die man im Verdacht hatte, nach der Tyrannis zu
streben, und so jeden Versuch eines Umsturzes der bestehenden
Verfassung schon im Keime ersticken. Fortan sollte das Volk
in jedem Frühjahr darüber abstimmen, ob es in Athen einen
Bürger gäbe, welcher der Freiheit gefährlich wäre. Bejahte
die Majorität diese Frage, so wurde eine zweite Versammlung
berufen, in der jeder Athener einen Namen auf ein Stimm-
täfelchen (öaxpaKOv) schrieb; daher wurde die ganze Prozedur
als Ostrakismos bezeichnet. Zur Gültigkeit der Abstimmung
war die Anwesenheit von 6000 Bürgern erforderlich, also
etwa von einem Viertel der damahgen Bürgerzahl Attikas.
Wer die meisten Stimmen gegen sich hatte, mußte das Land
auf 10 Jahre verlassen, blieb aber im Besitze seines Ver-
mögens und trat nach Ablauf der Verbannungsfrist wieder
in den vollen Genuß seiner bürgerlichen Rechte. Es war ein
Kampfgesetz, wie es das Gebot der Selbsterhaltung diktierte,
und nur als solches ist es zu rechtfertigen und überhaupt zu
verstehen ^. Ob es freilich seinen Zweck erfüllt haben würde,
wenn Athen noch einmal ernstlich von der Gefahr der Tyrannis
bedroht gewesen wäre, mag dahingestellt bleiben; wohl aber
liegt es auf der Hand, daß Mißbräuchen aller Art damit Tür
und Tor geöffnet war. Für Parteiführer, die über die Majorität
in der Volksversammlung verfügten, bot diese Institution
ein treffliches Mittel, sich lästiger Gegner auf gute Manier
^ Vgl. oben I 2 S. 332. J. Carcopino, Histoire de l' Ostracisme Athenien^
Bibl. de la Faculte des Lettres XXV, Paris 1909, dessen Ergebnissen ich freilich
nur zum Teil zustimmen kann.
* Das Altertum ist einstimmig in dieser Auffassung des Ostrakismos,
vgl. z. B. Aristot. An, 22, 3, Polit. III 1284, Diod. XI 55 (nach Ephoros),
Androtion fr. 5 etc. Manche Neuere wissen die Sache natürlich viel besser. —
Daß die 6000 Stimmen nicht etwa gegen einen Bürger abgegeben werden
mußten, sondern das Minimum der überhaupt bei dem Ostrakismus abzu-
gebenden Stimmen bezeichnen, scheint mir aus statistischen Gründen wie nach
der Analogie ähnUcher Fälle unzweifelhaft.
30 I. Abschnitt. — ■ Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
ZU entledigen; und in der Tat ist es fast nur aus diesem Grunde
zum Ostrakismos gekommen.
Es kann kaum ein Zweifel sein, daß diese Reformen, die
unmittelbar nach dem Sturz des Miltiades eingeführt wurden,
von der Alkmeonidenpartei ausgegangen sind, wie sie denn
auch vollständig dem Geist der kleisthenischen Verfassung
entsprechen ^. Daß das Gesetz über den Ostrakismos in erster
Linie auf Hipparchos aus Kollytos zielte, war klar; und er
wurde denn auch, gleich im Frühjahr 487, das erste Opfer ^.
Aber die Alkmeoniden sollten nur zu bald erkennen,
daß es eine zweischneidige Waffe war, die sie geschmiedet
hatten. Was den Umschwung herbeiführte, sagt unsere
dürftige Überlieferung nicht; da aber der Krieg mit Aegina
eben um diese Zeit ausgebrochen ist, so wird es sehr wahr-
scheinlich, daß die Alkmeoniden dafür die Verantwortung
trifft, und die Mißerfolge, die der Krieg brachte, ihre Stellung
erschütterten ^ Die Gegner säumten nicht, den günstigen
Augenblick zu nutzen. Schon im folgenden Frühjahr kam
es wieder zum Ostrakismos, und diesmal traf das Los in die
Verbannung zu gehen Megakles, das einflußreichste Mitglied
des Alkmeonidenhauses. Das Jahr darauf traf dasselbe Schick-
sal Alkibiades aus Skambonidae, der Megakles sehr nahe
stand, und endlich wieder ein Jahr später (484) Megakles'
Schwager Xanthippos, den eigentlichen Führer der Alk-
meonidenpartei *.
^ Darum haben die Späteren das Gesetz über den Ostrakismos meist auf
Kleisthenes selbst zurückgeführt; der Irrtum war um so leichter möghch, wenn
es von seinem Neffen Megakles beantragt war. Auch Megakles' Ostrakismos
wurde auf Kleisthenes übertragen (Aelian. Verm. Gesch. XIII 24). S. oben
I 2 S. 332.
^ Aristot. ATT. 22, 4, Androtion fr. 5 bei Harpokration "l-rriTapxo?, oben
I 2 S. 382.
3 S. unten 2. Abt. § 51.
* Aristot. ATT. 22, 5 — 6, s. unten 2. Abt. § 61. Vasenscherben mit der
Aufschrift MeTOKXet; h[i7rTro]KpaTo<; AXoTteKeGe CIA. IV 1, 3, 569 S. 192,
mit XaavGiiriTO^ Appiqppovo«; ebenda 570. 571. Auf Megakles' Ostrakismos
geht Pind. Pyth. VII 18. Den Sieg des Megakles, den diese Ode feiert,
gehört in die 25. Pythiade, Sommer 486, also wenige Monate nach dem Ostra-
kismos. Vgl. Wilamowitz, Aristot. u. Athen II 323 ff.
Sturz der Alkmeoniden. — Aristeides und Themistokles. 31
Jetzt traten die Gegner der Alkmeoniden an die Spitze
des Staates, Aristeides aus Alopeke und Themistokles aus
Phrearrhioi. Aristeides stammte aus vornehmem Hause, das
mit dem eleusinischen Kerykes verwandt war ^, er selbst
aber war nur sehr mäßig begütert ^. Bei Marathon war er
Stratege seiner Phyle gewesen * und dann im nächsten Jahre
zum höchsten Amte im Staate, der Würde des ersten Archon,
gelangt; da Miltiades damals auf dem Gipfel seines Einflusses
stand, hat Aristeides ohne Zweifel zu dessen Parteigenossen
gehört, wie er denn auch später zu Miltiades' Sohne Kimon
in engen Beziehungen gestanden hat. Als Feldherr wie als
Politiker ohne hervorragende Begabung, verdankt er seine
Stellung im Staate hauptsächlich dem Rufe seiner uner-
schütterlichen Rechtschaffenheit*, einer Eigenschaft, die seine
Mitbürger um so höher schätzten, je seltener sie bei ihnen
zu finden war. In dieser Beziehung stand er hoch über
Themistokles, den die öffentliche Meinung in Geldsachen
zu allem fähig hielt, und der durch seine Staatsverwaltung
zum reichen Manne geworden ist ^, während Aristeides seine
Familie beinahe in Dürftigkeit zurückgelassen hat. Als Staats-
mann freilich war Themistokles bei weitem bedeutender;
ja er ist vielleicht das größte politische Genie, das Athen
überhaupt hervorgebracht hat ^. Nicht weil er erkannte,
daß Athens Zukunft auf dem Meere lag, und daß der Staat
wieder einlenken müsse in die Bahnen der Politik des Peisi-
1 Plut. Arist. 25.
^ Plut. Arist. 1. 24. 27, Nep. Arist. 3, 2, Athen. X 419 a. XII 511 c, Ael.
Verm. Gesch. II 43. X 15. XI 9.
* Plut. Arist. 5.
* Herod. VIII 79. 95, Timokreon fr. 1, Eupolis Denien fr. 91, und sehr
oft bei Späteren.
^ Timokr. fr. 1, Herod. VIII 4. 5; Kritias bei Ael. Verm. Gesch. X 17,
und danach Theopomp, bei Plut. Thetn. 25; Plut. Them. 5. Darin steckt ja
sehr viel gehässige Übertreibung; aber warum hat man denn von Aristeides
nichts Derartiges erzählt ?
* Vgl. die Charakteristik bei Thuk. I 138, 3 riv fäp 6 GemöTOKXfic; . . .
Tuiv T6 Trapaxpf|,ua bi" IKaxior-qq ßou\f|? KpäTiöxo? Yvwjutujv, Kai tujv jueWövTUJv
im trXeiaTov xcO Y€vr|ao|u^vou äpiOTOc, eiKaffxric;.
32 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
Stratos; das war so evident, daß es jeder sehen mußte, der
nur einiges politische Verständnis besaß. Sondern weil er
es vermocht hat, Mitbürger dahin zu bringen, nach dieser
Erkenntnis zu handeln, trotz der schweren Opfer, die
er von ihnen fordern mußte. Dadurch ist er der Begründer
der Größe Athens geworden. Es hat ihm zehnjährige Kämpfe
gekostet. Als er nach der Schlacht bei Lade als erster Archon
an die Spitze des Staates getreten war (493/2), hat er die
ersten Schritte in dieser Richtung getan; er hat damals be-
gonnen, was vor ihm Hippias geplant hatte ^, statt der offenen
und schutzlosen Reede von Phaleron die treffliche Bucht
des Peiraeeus zum Kriegshafen umzugestalten ^. Aber zur
Schöpfung einer großen Marine, wie sie Themistokles schaffen
wollte, gehörten sehr bedeutende Geldmittel; und die wieder
hergestellte Demokratie war wenig geneigt, ihre Popularität
durch Anspannung der Steuerkraft des Volkes aufs Spiel
zu setzen. So hatte man die Grundsteuer eingehen lassen,
die unter den Tyrannen erhoben worden war; ja man ging
so weit, die reichen Erträge der laurischen Silbergruben unter
die Bürger zur Verteilung zu bringen. Unter diesen Um-
ständen war zunächst an eine Verwirklichung von Themi-
stokles' Flottenprogramm nicht zu denken, und selbst die
Arbeiten am Kriegshafen blieben unvollendet liegen.
Da kam der Krieg gegen Aegina mit seinen Mißerfolgen.
Athen sah sich zur See wehrlos gegenüber der kleinen Nachbar-
insel, seine Küsten den Verheerungen der feindlichen Flotte
1 Aristot. AH. 19, 2.
* Thuk. I 93, 3. Es hat die höchste Wahrscheinlichkeit, daß der Archon
Themistokles des Jahres 493/2 mit dem berühmten Staatsmann identisch ist;
wenigstens wäre es sehr auffallend, wenn es in dieser Zeit zwei einflußreiche
Politiker namens Themistokles in Athen gegeben hätte. Vgl. auch Euseb. zu
Ol. 71, 1 (496/5) II S. 100 Schoene. Das angebliche Archontat des Themistokles
in 482/1 beruht nur auf einer ganz willkürlichen Kombination; auch wurden
die Archonten, wie wir jetzt wissen, damals bereits erlost. Wenn Herodot (VII
143), Themistokles noch 480 einen ävrip Ic, -rrpiiiTOU? veuJöTi irapiojv nennt, so
hat er offenbar das drei Jahre vorher gegebene Flottengesetz im Auge; es ist
ja klar, daß Themistokles schon eine lange politische Vergangenheit haben
mußte, um eine Maßregel von dieser Wichtigkeit durchzusetzen.
Aristeides und Themistokles. — Die Flottengründung. 33
preisgegeben. Es war ein schmachvoller Zustand, und immer
weiteren Kreisen wurde es klar, daß die Dinge nicht so fort-
gehen durften. Jetzt endlich konnte Themistokles hoffen,
die öffentliche Meinung für seine Flottenpläne zu gewinnen.
Vor allem mußte der Einfluß der Alkmeoniden gebrochen
werden; der bittere Haß, mit den sie später Themistokles
verfolgt haben, zeigt uns, daß er der hauptsächlichste Urheber
ihres Sturzes gewesen ist ^. Nun trat Themistokles mit seinem
Programm hervor; es sollte eine Schlachtflotte von 100 Trieren
erbaut werden, größere Kriegsfahrzeuge, die um diese Zeit
anfingen, die alten Fünfzigruderer zu verdrängen; die Kosten
sollten aus den Erträgen der laurischen Silbergruben be-
stritten werden, die eben damals sehr reiche Überschüsse
ergaben ^. Die Flotte war viel größer, als sie für den Krieg
gegen Aegina nötig gewesen wäre; es ist also kein Zweifel,
daß dieser Krieg für Themistokles nur den Vorwand gab,
und er in Wahrheit gegen Persien rüsten wollte. Natürlich
stieß der Antrag auf sehr lebhafte Opposition, und kein
Geringerer als Aristeides war es, der an ihre Spitze trat. Welche
Motive ihn bestimmten, wissen wir nicht; wahrscheinlich
war er der Ansicht, daß Attika zu klein sei, auf die Dauer
die Lasten einer so großen Flotte tragen zu können; viel
einfacher sei es doch, sich mit Aegina zu verständigen. Die Ge-
fahr eines neuen Perserkrieges aber schien noch in weiter
Ferne zu liegen; und wie konnte man denn überhaupt daran
denken, dem Könige, der über die Flotten von Phoenikien
und lonien gebot, zur See entgegenzutreten? So folgten
auf Xanthippos' Verbannung zwei Jahre innerer Kämpfe,
bis es endlich nochmals zum Ostrakismos kam (Frühjahr 482).
Die Entscheidung fiel gegen Aristeides", und nun gingen
^ Plut. Them. 23. Daher auch das ungünstige Urteil des Herodot, der
zum großen Teil aus alkmeonidischer Tradition schöpfte.
- Herod. VII 144, Aristot. AH. 22, 7.
3 Aristot. ATT. 22, 7, Plut. Arist. 7. Daß Aristeides dem Flottengesetz
Opposition machte, ist nicht direkt überliefert, es folgt aber daraus, daß seine
Verbannung durch den Ostrakismos und das Flottengesetz in dasselbe Jahr
fallen. — Was Alte und Neuere von den politischen Folgen der Flottengründung
(Stärkung der Demokratie) zu erzählen wissen, ist verkehrt; s. unten 2. Abt. § 52.
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 3
34 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
Themistokles' Anträge durch. Als zwei Jahre später die
Perser aufs neue gegen Hellas heranzogen, besaß Athen eine
Flotte, die nicht nur der von Aegina überlegen war, sondern
überhaupt der Flotte jedes anderen griechischen Staates,
die junge, in diesen selben Jahren von Gelon geschaffene
Marine von Syrakus allein etwa ausgenommen.
Während so Athen in der Stille zur ersten griechischen
Seemacht heranwuchs, war der führende Staat in Griechen-
land, Sparta, durch eine schwere innere Krise hindurch-
gegangen. Auch hier war die königliche Gewalt, wie wir
gesehen haben, schon früh durch den Rat der Alten, die Gerusia,
beschränkt worden; andererseits hatte die Volksversammlung
sich das Recht der letzten Entscheidung in allen wichtigen
Staatsangelegenheiten bewahrt ^. Um die Mitte des VIII. Jahr-
hunderts, wenn nicht schon früher, wurde dann eine durch
Volkswahl bestellte Behörde, das Kollegium der Ephoren,
den Königen zur Seite gestellt, zu ihrer Unterstützung in der
Ziviljurisdiktion, und in der Polizeiaufsicht über Bürger
und Untertanen (oben IIS. 216). Dies Amt mußte an Einfluß
in dem Maße gewinnen, als die Könige bei der wachsenden
Ausdehnung des Staatsgebietes immer weniger imstande
waren, jene Funktionen selbst wahrzunehmen; doch
scheint die politische Bedeutung des Ephorats um die Zeit
des großen messenischen Aufstandes noch ziemlich beschränkt
gewesen zu sein ^. Damals wurde Sparta von heftigen inneren
Unruhen erschüttert, die endlich durch einen förmlichen
Vertrag zwischen Volk und Königtum beigelegt wurden;
die Könige mußten schwören, die Gesetze zu halten, die
Ephoren dagegen gelobten im Namen des Volkes, die Könige
^ Tyrt. fr. 4 brmou bd TrX-riGei viKi^v Kai Koiproq SireffGai; auch in der
sog. lykurgischen Rhetra bei Plutarch Lyk. 6 ist wohl zu lesen bä|uuj hk räv
Kupiav riuev Kai KpotToi;.
^ Tyrt. fr. 4 erwähnt die Ephoren nicht, ebensowenig die sog. lykurgische
Rhetra (bei Plut. Lyk. 6), eine Darstellung der älteren spartanischen Verfassung
in Form eines Orakelspruches (vgl. E. Meyer, Forschungen I 262 ff.), wie solche
bereits in Tyrtaeos' Zeit umliefen (Tyrt. fr. 4). Das beweist natürlich keines-
wegs, daß es im VII. Jahrhundert noch keine Ephoren gegeben hat, wohl aber,
daß das Amt damals noch von untergeordneter Bedeutung war.
Verfassungskämpfe in Sparta. 35
im Genuß ihrer Rechte zu schützen, so lange sie ihren Eid
hielten. Dieser Schwur wurde jeden Monat erneuert ^. Die
Ephoren traten damit den Königen als gleichberechtigter
Faktor im Staate zur Seite ^.
Seitdem war es das stete Streben der Könige, diese
Fesseln zu sprengen; und als Kleomenes die Argeier nieder-
geworfen hatte' schien der günstige Moment da zu sein. Der
Sieger von Tiryns begann damit, die legitime Abkunft seines
Amtsgenossen Damaratos aus dem anderen Königshause
zu verdächtigen, und unter diesem Vorwande seine Absetzung
zu erwirken, wobei er durch den Spruch des delphischen
Orakels unterstützt wurde (491) ^. Damaratos suchte in
Persien Zuflucht, wo ihm Dareios die Herrschaft über die
Bergfeste Pergamon und die Nachbarorte im fruchtbaren
Tal des Kai'kos in Mysien verlieh *; seine Stelle in Sparta
nahm Leotychidas ein, das Haupt der älteren Linie des Eury-
pontidenhauses, die vor etwa 80 Jahren vom Throne ver-
drängt worden war (oben I 2 S. 179 f. )^. Der neue König war
^ Xen. Staat d. Laked. 15, 7, Niese, Zur Verfassungsgeschichte Lakedaemons,
in Sybels Hist. Zeitschr. LXII (N. F. XXVI), 1889, S. 69. Dieser Vertrag ist
dann später in die Zeit der dorischen Wanderung zurückdatiert worden, s. die
Belege bei Niese a. a. O.
'^ Bei Flut. Kleom. 10 wird der Ephor Asteropos, der „viele Generationen
nach Theopompos" gelebt hätte, als Begründer der Ephorenmacht genannt,
während Diog. Laert. I 68 dasselbe von Chilon erzählt, der um 560 Ephor war.
König Anaxandridas, dessen erste Ehe kinderlos blieb, wurde von den Ephoren
zur Eingehung einer zweiten Ehe gezwungen (Herod. V 40); König Kleomenes
hatte nach seinem Feldzug gegen Argos sich vor den Ephoren zu verantworten
(Herod. VI 82). Unser Quellenmaterial reicht nicht aus, um die Kompetenz
der Ephoren gegenüber den Königen in dieser Periode im einzelnen zu bestimmen.
3 Herod. VI 51—86. Über die Chronologie oben I 2 S. 182.
* Herod. VI 70, Xen. Hell III 1, 6, Anab. II 1, 3; VII 8, 17, Paus. III 7, 8,
Sex. Empir. Adv. mathem. I 258, Athen. I 29 f.
* Auf Leotychidas' Urgroßvater Hippokratidas ist nicht dessen Sohn
Agesilaos, sondern Damaratos' Großvater Agasikles gefolgt. Das muß etwa
um 570 geschehen sein, und hängt offenbar mit den inneren Wirren zu-
sammen, die damals zu der Beschränkung der Königsmacht durch das
Ephorat geführt haben. Mehr läßt sich bei un?erer Unkenntnis der inneren
Geschichte Spartas in dieser Zeit nicht sagen. Dumm {Spart. Königslisten,
Innsbruck 1878, S. 19 — 30) hat die Hypothese aufgestellt, Agasikles sei der
3*
36 I. Abschnitt. — Die Erhebung gegen die Fremdherrschaft.
natürlich ganz von Kleomenes abhängig, dem er seine Er-
hebung verdankte. Dieser gewann damit eine Stellung, wie
sie seit lange kein König in Sparta besessen hatte; aber eben
das führte eine Reaktion der öffentlichen Meinung herbei,
und Kleomenes sah sich genötigt, das Land zu verlassen.
Er ging nach Arkadien, wo er ein Heer sammelte, um die
Rückkehr mit Gewalt zu erzwingen. So bequemten sich die
Spartaner, ihn wieder in seine Königswürde einzusetzen. Bald
darauf soll er in Wahnsinn verfallen sein; er wurde auf Be-
schluß seiner Geschlechtsgenossen ins Gefängnis geworfen,
und hat sich dort, wie erzählt wird, mit eigener Hand den
Tod gegeben (um 488) ^. Wahrscheinlich haben ihn die
Ephoren aus dem Wege geräumt, im Einverständnis mit seinen
Stiefbrüdern, Leonidas und Kleombrotos, von denen der
ältere, Leonidas, ihm auf dem Thron nachfolgte. Auch Leo-
tychidas entging nur mit knapper Not der Absetzung 2; aber
Damaratos, den Vasallen des Großkönigs zurückzurufen,
konnte man sich doch nicht entschließen, jetzt wo jeden
Augenblick ein neuer Einfall der Perser zu erwarten stand.
Das spartanische Königtum hat sich von diesen Schlägen
nie mehr erholt; fortan sind es die Ephoren, welche der Politik
des Staates ihre Richtung vorschreiben, während die Könige
mehr und mehr zu bloßen Exekutivbeamten herabsinken,
die von den Ephoren ihre Befehle erhalten.
Dies war die Lage in Hellas, als der Sturm losbrach,
der von Osten her so lange gedroht hatte.
älteste Sohn der Hippokratidas gewesen, also die gesetzliche Erbfolge unge-
stört geblieben. Ihm folgt F oralla., Prosopographie der Lakedaemonier , Dissert.
Breslau 1913, S. 154 ff. Das heißt den Knoten zerhauen statt ihn zu lösen,
denn nach Paus. III 7 war Agasikles vielmehr ein Sohn des Archidamos,
und diese Überlieferung, die einzige, die uns Agasikles' Vater nennt, geht
höchst wahrscheinUch durch Ephoros auf die Tradition im Hause der Damara-
tiden in Pergamon zurück, und wir haben keinen Grund diese Tradition zu
verwerfen.
1 Herod. VI 61—75, über die Chronologie oben I 2 S. 174.
2 Herod. VI 85.
Persische Rüstungen. 37
II. Abschnitt.
Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
Die persische Regierung hat der Versuchung lange wider-
standen, ihre Herrschaft auf das griechische Mutterland
auszudehnen. Man war sich offenbar der großen Schwierig-
keiten eines solchen Unternehmens bewußt, zu denen der
Machtzuwachs, der dadurch zu gewinnen war, in keinem
Verhältnis zu stehen schien. Selbst die Expedition des Datis
hatte nur den Zweck, Athen und Eretria für die Unterstützung
zu züchtigen, die sie den Tonern gewährt hatten; Eroberungen
in Griechenland zu machen, lag so wenig im Plane, daß man
nicht einmal Eretria festhielt, das doch bei der unbedingten
Überlegenheit der persischen Flotte auch nach Marathon
mit Leichtigkeit zu behaupten gewesen wäre.
Als aber der alte König Dareios gestorben war (485) ^
und sein Sohn Xerxes den Thron der Achaemeniden bestiegen
hatte, begann die persische Politik sich weitere Ziele zu stecken.
Es war ja an und für sich sehr natürlich, daß der neue König
den Wunsch hegte, wie seine Vorgänger ein Mehrer des Reiches
zu sein. Aber auch abgesehen davon sprachen gewichtige
Gründe dafür, aus der bisher geübten Zurückhaltung heraus-
zutreten, lonien bheb immer ein unsicherer Besitz, solange
die Stammesgenossen jenseits des Meeres frei waren; und
die Unterstützung, die Sparta den Athenern gegen Datis
gesandt hatte, ließ keinen Zweifel daran, daß man bei einem
neuen Kriege gegen Athen auch mit dem peloponnesischen
Bunde zu kämpfen haben würde. So beschloß denn Xerxes,
ganze Arbeit zu tun und Griechenland zur persischen Satrapie
zu machen.
Von einer Unterschätzung des Feindes war der König
weit entfernt, hatte doch noch soeben Marathon gezeigt, daß
man es mit einem Gegner von hervorragender Kriegstüchtigkeit
^ Über die Chronologie der Perserkönige Ed. Meyer, Forschungen II 437 ff.
38 11. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker,
ZU tun hatte. Das Unternehmen wurde demgemäß sehr sorg-
fältig vorbereitet. Man wollte mit so überlegenen Kräften
auftreten, daß schon dadurch jeder Mißerfolg ausgeschlossen
wäre. Es wurde also ein Heer zusammengebracht, wie es die
griechische Welt noch niemals gesehen hatte; die Grabschrift
der bei den Thermopylen gefallenen Peloponnesier gibt die
Stärke des Feindes auf 3 Millionen an ^, nach Herodot hätte
Xerxes 1 700 000 Kombattanten zu Fuß und 80 000 Reiter
über den Hellespont geführt, einschließlich des Trosses, der
Bemannung der Flotte und der Kontingente, die in Europa
zum Heere stießen, hätte die Gesamtzahl 5 283 220 Mann
betragen^. Das sind natürlich maßlose Übertreibungen;
aber an 60000 Kombattanten mag Xerxes' Heer immerhin
gezählt haben ^, Es war ein buntes Gemisch aus fast allen
Völkern des weiten Reiches bis nach dem fernen Indien;
Kontingente sehr ungleich an Bewaffnung wie an militärischem
Wert ^. Bei solchen Massen war natürlich der Seetransport
ausgeschlossen, besonders auch mit Rücksicht auf die zahl-
reiche Reiterei, die den besten Bestandteil des Heeres bildete.
Xerxes war also auf den Landweg längs der thrakischen Küste
angewiesen. Da dieses ganze Gebiet bis zum Olympos hin
seit Mardonios' Zuge zum Reiche gehörte, waren auf dieser
Strecke Hindernisse nicht zu überwinden, abgesehen von den
Schwierigkeiten, welche die Verpflegung des großen Heeres
bot. Um diese zu sichern, wurden an geeigneten Punkten
längs dieser ganzen Küste große Magazine angelegt ^. Weiter
wurde eine starke Flotte gerüstet, deren Kern die Phoeniker
bildeten, zu der aber auch die asiatischen Griechenstädte,
von Kypros bis zum Hellespont, ihre Kontingente stellen
mußten. Die Gesamtzahl der Schiffe wird auf 1207 angegeben \
1 Herod. VII 228.
2 Herod. VII 60 (Infanterie), 87 (Kavallerie), 186 (Gesamtzahl).
^ S. unten 2. Abt. § 31.
* Aufzählung bei Herod. VII 61 ff. Damit ist natürlich noch nicht ge-
sagt, daß alle diese Völker auch wirklich im Herre vertreten waren.
6 Herod. VII 25.
« Aeschyl. Pers. 341 ff., danach Herod. VII 89, nach dem die Flotte
außerdem noch 3000 kleinere Schiffe gezählt hätte (VII 97).
Stimmung in Hellas. 39
in Wahrheit kann die Zahl der Kriegsschiffe nicht wohl mehr
als 500 betragen haben ^. Die Flotte sollte den Übergang
nach Europa sichern, dann dem Zuge des Landheeres folgen
und mit diesem in steter Fühlung bleiben. Um der Wiederkehr
einer Katastrophe vorzubeugen, wie sie Mardonios' Flotte
betroffen hatte, gab Xerxes Befehl, durch den flachen Hals
der Athoshalbinsel einen Kanal zu graben, der freilich, wie es
scheint, nicht zur Vollendung gelangt ist^.
Im Herbst 481 waren endlich die Rüstungen beendet^
die Kontingente sammelten sich in Kleinasien und nahmen
dort Winterquartiere '. Im nächsten Frühjahr brach Xerxes
dann an der Spitze des Heeres von Sardes auf, überschritt
etwa Anfang Juni den Hellespont auf zwei Schiffbrücken
und zog dann weiter der Küste entlang nach Therme in Make-
donien, wo er etwa Ende Juni anlangte ^. Schon im Winter
hatte er Herolde nach Griechenland gesandt, die zur gut-
willigen Unterwerfung auffordern sollten ^.
Dort war die Stimmung sehr trübe. Den gewaltigen
Massen des Königs gegenüber schien den meisten jeder Wider-
stand nutzlos; selbst das delphische Orakel hielt den Sieg
der Perser für sicher und riet zur gutwilligen Ergebung in
das Unvermeidliche^. Der König wollte ja nicht die Hellenen
vernichten; nur Unterwerfung forderte er, und so gut wie die
Stammesgenossen in Asien konnte man es am Ende auch
noch unter persischer Herrschaft aushalten. Für Athen freilich
gab es keine Unterwerfung; nach dem, was vorgefallen war,
hatte man nur die Wahl zwischen Sieg oder Untergang. Und
für Sparta hätte die Unterwerfung unter Persien den Verlust
der Herrschaft über den Peloponnes bedeutet, die es sich
im letzten Jahrhundert erkämpft hatte. Beiden Staaten
war dadurch ihre Haltung vorgezeichnet; und die Politik
1 S. unten 2. Abt. § 30.
« Herod. VII 22. 122, vgl. oben I 1 S. 277.
3 Herod. VII 26.
* Herod. VII 33 ff. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 19 ff.
* Herod. VII 32.
« Herod. VII 140. 141. Pomtow, Jahrb. für Phil. CXXIX, 1884, S. 253 ff.
40 n. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
Spartas war wieder bestimmend für die Glieder seines pelo-
ponnesischen Bundes. Die Militärmacht aber, über die dieser
Bund verfügte, war so bedeutend, daß die übrigen Staaten
des griechischen Festlandes, wenn auch zum Teil widerwillig,
der nationalen Sache sich anschlössen. Nur Argos, die alte
Rivalin Spartas, hielt sich neutral. Das seemächtige Kerkyra
versprach Hilfe, richtete es aber so ein, daß seine Flotte zur
Entscheidung zu spät kam. Gelon, der Herrscher des öst-
lichen Siciliens, machte seinen Beistand von unerfüllbaren
Bedingungen abhängig. Er war bereit, sich dem Könige zu
unterwerfen, wenn diesem, wie es ja sehr wahrscheinlich
schien, in dem bevorstehenden Kriege der Sieg blieb ^.
Auch in den Staaten, die zum Kampfe für die Freiheit
entschlossen waren, war man von Siegeszuversicht weit
entfernt; man setzte seine Hoffnung mehr auf den Beistand
der Götter als auf die eigene Kraft ^. Aber man tat doch,
was nötig war. Noch im Herbst 481 versammelten sich die
Abgeordneten der verbündeten Hellenen auf dem Isthmos ^.
Zunächst wurde in Hellas ein allgemeiner Landfriede ver-
kündet und dadurch endlich der Krieg zwischen Athen und
Aegina zu Ende gebracht. In Athen und wohl auch in anderen
Staaten wurden die politischen Verbannten zurückgerufen ^.
Xerxes' Boten wurden überall abgewiesen, ja in Sparta er-
kannte man Leuten, die es wagten, solche Zumutungen zu
stellen, den Schutz des Völkerrechts ab und ließ sie zum
Tode führen. Man machte damit den Bruch unheilbar, ohne
Zweifel mit voller Absicht, um den verbündeten Staaten die
Gewähr zu geben, daß Sparta bis zum äußersten kämpfen
würde ^.
^ Herod. VII 145—171.
2 Theogn. 773—782, Herod. VII 138, Thuk. III 56, 5,
« Herod. VII 132. 145. 172, Plut. Them. 6.
* Aristot. ATT. 22, 8, Plut. Arist. 8.
^ Herod. VII 172—174.
® Daß die Lokrer und Boeoter nicht schon jetzt, wie Herodot berichtet
(VII 132), Xerxes Erde und Wasser gegeben haben können, ist klar, da sie
ja am Kriege gegen den König teilgenommen haben; Herodot nimmt also hier
voraus, was erst nach den Kämpfen an den Thermopylen geschehen ist. Auch
Räumung Thessaliens. 41
Es galt nun, den Feldzugsplan festzustellen. Als erste
natürliche Verteidigungslinie boten sich die Pässe des Olympos
an der Nordgrenze Thessaliens. Man sandte denn auch, im
Mai 480, als Xerxes am Hellespont stand, ein Heer von 10 000
Hopliten dorthin ab, Peloponnesier, Athener und Boeoter,
doch zeigte es sich sogleich, daß diese Truppen, auch mit dem
thessalischen Aufgebot vereinigt, nicht ausreichten, um die
Pässe zu halten. Ihr ganzes Bundesheer aber nach der make-
donischen Grenze zu schicken und dort, fern von der Heimat,
den Entscheidungskampf aufzunehmen, was ohne Zweifel
das richtige gewesen wäre, konnten sich die Peloponnesier
nicht entschließen; und es blieb dann nichts übrig, als Thessa-
lien zu räumen ■•■. Die Aleuaden, die den thessalischen Bund
die Thessaler haben bis zum letzten Augenblick gezögert, da die Boten die
Zeichen ihrer Unterwerfung erst brachten, als Xerxes an ihrer Grenze in Pierien
stand (Herod. VII 131). — Nach Herod. VI 48. VII 133 hätte schon Dareios
vor Marathon die Hellenen durch Herolde zur Unterwerfung anfordern lassen.
Diese Boten wären in Athen iq tö ßcipaöpov, in Sparta Ic, qppdap geworfen
worden. Aber damals han elte es sich ja gar nicht um die Unterwerfung Griechen-
lands, sondern nur um die Bestrafung von Athen und Eretria; die Sache ist
also vordatiert und die Herolde nach Sparta erst von Xerxes gesandt worden.
Daß man sich dort an ihnen vergriffen hat, ist wegen der Erzählung vom Zorn
des Talthybios bei Herod. VII 134 ff. nicht wohl zu bezweifeln. Höchst un-
wahrscheinlich dagegen und offenbar nur ein Duplikat des Vorganges in Sparta
ist die Erzählung, daß die Athener dasselbe getan haben sollten (weiter aus-
geschmückt bei Plut. Tkem. 6, Paus. III 12, 7). Auch stand ja Athen seit dem
Ausbruch des ionischen Aufstandes mit Persien im Kriege, so daß für Xerxes
gar kein Anlaß vorlag, Herolde dorthin zu schicken, wie denn auch Herod.
VII 133 ausdrücklich sagt, daß er das nicht getan hat.
^ Herod. VII 172 — 174. Da die Peloponnesier im Jahre darauf die Perser,
Thessaler und Boeoter in offener Feldschlacht besiegt haben, trotz der Verluste ,
die sie bei den Thermopylen erlitten hatten, würden sie höchstwahrscheinlich
auch jetzt Sieger geblieben sein, wo ihre eigene Macht noch ungeschwächt
war, und sie die mittel- und nordgriechischen Kontingente an ihrer Seite gehabt
hätten. Wenigstens hätten die Chancen des Sieges viel besser gelegen, falls
nicht etwa Leonidas' Unfähigkeit alles verdorben hätte, und damit konnten
dei Peloponnesier doch nicht rechnen. Aber das ist ex eventu geurteilt. Im
Frühjahr 480 war Griechenland gelähmt durch die übertriebenen Vorstellungen
von der Zahl und Tüchtigkeit des persischen Heeres; es ist sehr begreiflich,
daß man Bedenken trug, alles auf einen Wurf zu setzen. Auch konnte der
Peloponnes, mit Rücksicht auf die überlegene persische Flotte, nicht wohl von
Streitkräften entblößt werden.
42 11. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
leiteten, waren schon vorher bedacht gewesen, durch geheime
Unterhandlungen mit dem Feinde sich für den schlimmsten
Fall den Rücken zu decken, was ihnen bei der exponierten
Lage ihres Landes und der bekannten Abneigung der Pelo-
ponnesier, außerhalb des eigenen Gebietes zu schlagen, kaum
zu verdenken war ^. Das kam den Thessalern jetzt zugute,
als sie, von ihren Bundesgenossen verlassen, gezwungen waren,
sich dem Könige zu unterwerfen. Xerxes änderte nichts
an den Verhältnissen des Landes, das ihm fortan, mit seinen
reichen Hilfsquellen, eine treffliche Operationsbasis bot.
So konnte das persische Heer ohne Schwertstreich bis
in das Herz von Griechenland vordringen. Erst an der Süd-
grenze Thessaliens traf man auf Widerstand. Die Peloponnesier
hätten sich am liebsten auf die Verteidigung des Isthmos
beschränkt, aber sie durften, mit Rücksicht auf Athen,
Mittelgriechenland nicht aufgeben, wie sie Thessalien auf-
gegeben hatten. Es wurde also beschlossen, die Linie der
Thermopylen zu halten. Die bewaldeten Vorhöhen des Oeta
traten hier so dicht an das Ufer des Malischen Busens heran,
daß nur eben für die Straße Raum blieb, die Thessalien mit
Mittelgriechenland verbindet ^. Das enge Defile konnte von
einer geringen Truppenzahl gegen eine große Übermacht
verteidigt werden, vorausgesetzt, daß der Verteidiger das
Meer beherrschte und stark genug war, auch die Bergpfade
zu sperren, auf denen die Stellung in der linken Flanke um-
gangen werden konnte. Im Vertrauen auf die natürliche
Stärke des Passes sandten die Peloponnesier zunächst nur
ein Korps von 4000 Hopliten unter dem Befehl des lake-
daemonischen Königs Leonidas ^; dazu kamen die Gesamt-
^ Herod. VII 6. 131. 172. Daß die Aleuaden Xerxes zu dem Zuge nach
Griechenland aufgefordert hätten, ist natürlich Verleumdung; sie hätten ja
durch einen solchen Schritt nichts zu gewinnen gehabt, da sie bereits über
Thessalien herrschten.
^ Seit dem Altertum hat sich durch die Anschwemmungen des Spercheios
hier ein breites Vorland gebildet, so daß der ganze Charakter der Gegend ver-
ändert ist. Das Beste über die Topographie gibt Grundy, Persian War
S. 257 ff. mit Karte nach eigener Aufnahme.
^ Die Zahl nach der Inschrift des Denkmals, das hier später zum Ge-
dächtnis der gefallenen Peloponnesier errichtet wurde (Herod. VII 228).
Die Stellung bei den Thermopylen, — Artemision. 43
aufgebote der umliegenden Landschaften Boeotien, Lokris
und Phokis, so daß im ganzen über 10 000 Schwerbewaffnete
bei den Thermopylen zum Empfang des Feindes vereinigt
standen, außerdem mindestens die gleiche Zahl Leicht-
bewaffneter ^. Der Rest des Bundesheeres sollte folgen, sobald
die Karneien und Olympien vorüber wären, deren Feier man
aus religiösen Bedenken nicht aufschieben mochte. Die Flotte
nahm gleichzeitig Stellung an der Nordküste von Euboea
bei dem Tempel der Artemis Proseoa im Gebiet von Histiaea,
um dem Feinde die Einfahrt in die mittelgriechischen Ge-
wässer zu wehren ^. Den Befehl führte dem Namen nach
der lakedaemonische Nauarch Eurybiadas; in Wahrheit
der athenische Stratege Themistokles, da die mehr als 100
Schiffe die Athen gestellt hatte, ein gutes Drittel der gesamten
griechischen Seemacht bildeten.
Es war etwa Ende Juli, als die persischen Heeresmassen,
durch ihre neuen thessalischen Bundesgenossen verstärkt,
vor den Thermopylen anlangten. Der starken feindlichen
Stellung gegenüber zögerte Xerxes einige Tage mit dem An-
griff ^; er erwartete die Ankunft seiner Flotte, um dann die
Griechen durch eine Demonstration in ihrem Rücken zur
Räumung des Passes zu zwingen. Die Flotte war denn auch
aus Therme abgesegelt, sobald sie Nachricht von Xerxes'
Ankunft im südlichen Thessalien erhalten hatte. Dabei traf
sie bei Kap Sepias, der SO. -Spitze von Magnesia, ein heftiger
Sturm aus Nordosten, vor dem an dieser felsigen hafenlosen
Küste nur sehr ungenügende Deckung zu finden war, so daß
viele Schiffe zugrunde gingen. Drei Tage wütete das Meer;
als es sich endlich beruhigte, fuhren die Perser in den Sund
von Euboea ein und gingen bei Aphetae vor Anker, am Ein-
gang in den Pagasaeischen Busen, der griechischen Flotte
beim Artemision gegenüber. Ein Geschwader von 15 Schiffen,
1 Herod. VII 202—3, weiteres unten 2. Abt. § 38.
2 Über die Lokalität vgl. LoUing, Ath. Mut. VIII, 1883, S. 7 ff. Der
Tempel der "Apreuii; TTpoariiija lag nicht weit von der Nordspitze der Insel,
zwischen den Dörfern Potokki (w.) und Kurbatsi (ö.).
3 Herod. VII 210.
44 IL Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
das von der Hauptmacht abgekommen war, fiel noch am
Abend dieses Tages in die Hände der Griechen; ebenso am
nächsten Tage eine kilikische Flottenabteilung ^. Endlich
am dritten Tage war die persische Flotte wieder soweit ge-
fechtsfähig, daß sie den Griechen die Schlacht bieten konnte,
fand aber so kräftigen Widerstand, daß sie nach Aphetae
zurückgehen mußte, während die Griechen im Besitze der
Toten und Schiffstrümmer blieben. Beide Teile hatten sehr
schwere Verluste gehabt ^.
Als Xerxes sah, daß er zunächst auf eine Unterstützung
durch seine Flotte nicht rechnen konnte, entschloß er sich
zum Sturm auf die Thermopylen; er durfte nicht zögern,
bis das peloponnesische Hauptheer herankam. Indes die
Frontangriffe auf den Paß blieben ohne Erfolg, da der König
auf dem engen Raum weder seine Übermacht zur Geltung
bringen, noch seine beste Waffe, die Reiterei, überhaupt
verwenden konnte; im Nahkampfe aber war die griechische
Infanterie durch ihre schwere Rüstung der persischen weit
überlegen. Während aber die Aufmerksamkeit der Griechen
nach dieser Richtung in Anspruch genommen war, sandte
Xerxes am Abend des zweiten Kampftages eine auserlesene
Heeresabteilung in die Berge, den Feind im Rücken zu fassen.
Der sehr schwierige Übergang durch das waldbedeckte
Gebirge hätte mit Leichtigkeit verteidigt werden können,
aber die Phoker, denen die Hut dieses Passes anvertraut
1 Herod. VII 188—195. VIII 1—14. Näheres unten 2. Abt. § 35. Da
Kap Sepias nach Strab. VII 330, 32 den Golf von Pagasae von dem Golf von
Therme trennte, auch nach Apoll. Rhod. I 582 f. westHch von Skiathos lag, kann
nur das Kap Kato Georgi verstanden werden, nicht Kap Fori an der Ostküste
von Magnesia, halbwegs zwischen Kato Georgi und der Peneiosmündung, wie
Wace will (The Topography of Pelion and Magnesia, Journ. Hell. Sind. XXVI,
1906, S. 145), vgl. die Kartenskizze Journ. Hell. Stud. XXVIII, 1908, S. 211.
Aphetae muß nach den Angaben Herodots über die Schlacht beim Artemision
an der Südküste von Magnesia gelegen haben, nicht am Südufer des Golfes
von Pagasae, wo Richard Kiepert (Formae orbis ant. XVI Text S. 7) es ansetzt;
nach Wace a. a. 0. S. 146 am Strande von Plataniä, dem ersten Ankerplatz
westlich von Kato Georgi, was richtig sein wird.
2 Herod. VIII 15—18.
Schlacht an den Thermopylen. — Folgen der Katastrophe. 45
war, ließen sich im Schlaf überraschen und dachten dann nur
an die eigene Rettung. Die Perser konnten also ungehindert
weiterziehen und waren mit Tagesanbruch im Besitz der die
Stellung an den Thermopylen beherrschenden Höhen.
Leonidas wäre stark genug gewesen, den Spitzen der
feindlichen Umgehungskolonne überlegene Kräfte entgegen-
zuwerfen und so entweder seine Stellung zu halten oder sich
doch einen geordneten Rückzug zu sichern. Aber im griechi-
schen Heere brach eine Panik aus, und bald wurde die Flucht
allgemein. Nur Leonidas mit seinen Spartanern hielt stand,
»gehorsam den Gesetzen ihres Staates«, wie später die Inschrift
auf dem Denkmal der Gefallenen rühmte. Als aber Xerxes
den Angriff auf den Paß erneuern ließ, und zugleich die Perser
von den Höhen herabstürmten, war gegen die Übermacht
bald jeder Widerstand vergebens; Leonidas fiel, und die
meisten seiner Leute wurden zusammengehauen. Auch einige
Bundeskontingente hatten schwer zu leiden; die Thespier
sollen 700 Mann verloren, die Thebaner die Waffen gestreckt
haben, der griechische Gesamtverlust wird auf 4000 Mann
angegeben. Leonidas trifft als Feldherrn der Vorwurf, nicht
mit der nötigen Umsicht gehandelt zu haben; er hat die Stärke
seiner Stellung überschätzt und nicht ernsthaft genug mit
der Möglichkeit einer Umgehung gerechnet. Als Soldat hat
er seine Pflicht getan, wie sie jeder Spartaner von Ehre an
seiner Stelle getan haben würde. Daß vollends ein spartani-
scher König es ertragen könnte, als Besiegter aus einer Schlacht
heimzukehren, schien ein unfaßbarer Gedanke, bis der letzte
aus Leonidas' Geschlecht, der Sozialreformer Kleomenes,
bei Sellasia zeigte, daß es doch möglich war. Der Glanz
besonderen Heldentums, der Leonidas' Namen umstrahlt,
ist also nicht voll verdient; er verdankt ihn nicht so sehr sich
selbst, als der Sache, für die er gefallen ist ^.
Die Katastrophe an den Thermopylen machte in Griechen-
land einen niederschmetternden Eindruck. Die erste Schlacht ,
war verloren, ein Heer vernichtet, ein spartanischer König
^ Weiteres unten 2. Abt. § 37 ff. Die Legende von Leonidas.
46 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
gefallen, was, solange Menschen denken konnten, noch niemals
geschehen war, der Ruf der spartanischen Unbesiegbarkeit
war zerstört. An eine Verteidigung Mittelgriechenlands war
jetzt nicht mehr zu denken; das peloponnesische Bundesheer
blieb auf dem Isthmos, und arbeitete mit aller Kraft daran,
so gut es in der Eile gehen wollte, hier eine Befestigungslinie
von Meer zu Meer anzulegen ^. Die Flotte verließ auf die
Nachricht von Leonidas' Niederlage noch in der folgenden
Nacht ihre so rühmlich behauptete Stellung beim Artemision
und gab damit Euboea preis; aber den Athenern blieb keine
Wahl, als so schnell sie konnten zum Schutz der bedrohten
Heimat zurückzukehren, und die übrigen Kontingente waren
nicht stark genug, es mit der persischen Flotte aufzunehmen ^.
Die Perser rückten nun in Phokis ein; die Einwohner
flohen zum Teil auf die unzugänglichen Höhen des Parnasos,
die verlassenen Städte gingen in Flammen auf. Die übrige
Landschaft unterwarf sich dem König ^. Daß auch Delphi
dasselbe getan hat, ist bei der Haltung des Orakels schon vor
der Ankunft der Perser sehr wahrscheinlich; jedenfalls mußte
Xerxes aus Rücksicht auf seine thessalischen Bundesgenossen
das Heiligtum schonen *. Ebenso beeilten sich die Boeoter
und opuntischen Lokrer, ihren Frieden mit dem Sieger zu
machen; nur Thespiae und Plataeae hielten an der nationalen
Sache fest und wurden zur Strafe dafür niedergebrannt,
während die Bewohner sich nach Attika und dem Peloponnes
gerettet hatten ^
An eine Verteidigung von Attika war unter diesen Um-
^ Herod. VIII 40. 71. Daß diese Arbeiten schon vorher begonnen hätten,
sagt Herodot nicht, und es wird auch dadurch unwahrscheinlich, daß die Be-
festigung erst im nächsten Sommer vollendet wurde (Herod. IX 7).
2 Herod. VIII 21—22. 40.
3 Herod. VIII 31—34, IX 31.
* Was Herod. VIII 35 ff. von einem persischen Angriff auf Delphi erzählt,
kann, wenn richtig, sich nur auf einen, auf eigene Hand plündernden Haufen
beziehen. Vgl. auch Herod. IX 42. Nach Ktesias 25 wäre Mardonios gegen
Delphi gezogen und hätte dabei den Tod gefunden. Was dann c. 27 weiter
erzählt wird, geht offenbar auf die Plünderung des Tempels von Branchidae.
« Herod. VIII 50.
Einnahme Athens. — Salamis. 47
Ständen nicht zu denken. Athen selbst hätte es allerdings
auf eine Belagerung ankommen lassen können, aber der
Mauerring war nicht weit genug, der ganzen Landbevölkerung
Zuflucht zu gewähren, und vor allem, die waffenfähige Mann-
schaft wurde auf der Flotte gebraucht. Themistokles aber
war mit Recht überzeugt, daß jetzt, nach der Niederlage
an den Thermopylen, die Entscheidung zunächst auf dem
Meere gesucht werden müsse. So setzte er es denn durch,
daß die Stadt aufgegeben und die Räumung des ganzen
Landes beschlossen wurde; die waffenfähigen Männer be-
stiegen die Schiffe, die Weiber und Kinder und die fahrende
Habe wurden nach Salamis, Aegina und dem Peloponnes
hinüber geschafft. Ohne Widerstand zu finden, konnte Xerxes
in Athen einziehen (Mitte August). Nur auf der Akropolis
war eine kleine Besatzung zurückgeblieben, die nach wenigen
Tagen den Angriffen der Perser erlag; der Sieger ließ die Tempel
der Burg in Feuer aufgehen zur Vergeltung für die Zerstörung
von Sardes ^.
Um den Abzug der attischen Bevölkerung zu ermög-
lichen und zugleich Megara und Aegina zu decken, war die
griechische Flotte bei Salamis konzentriert worden. Neue
Verstärkungen hatten die Verluste beim Artemision aus-
geglichen, so daß Eurybiadas jetzt 310 Schiffe unter seinem
Befehl hatte 2. Die feindliche Flotte war inzwischen, ohne
sich mit der Unterwerfung von Euboea aufzuhalten, geraden
Weges durch den Euripos gesegelt und in der Bucht von
Phaleron, dem Hafen Athens, angelangt *. Die Hellenen
standen damit vor der Entscheidung, ob sie die Schlacht
bei Salamis annehmen oder sich nach dem Isthmos zurück-
ziehen sollten, wo das peloponnesische Bundesheer zum
Schutze der Halbinsel versammelt stand. Die Peloponnesier
stimmten begreiflicherweise für das letztere; während die
Athener, Aegineten und Megarer ebenso begreiflicherweise
für das Ausharren bei Salamis eintraten. War doch Salamis
^ Herod. VIII 31—39, 50—55.
2 Herod. VIII 40—49. Aeschyl. Pers. 339. Vgl. unten 2. Abt. § 27 ff.
3 Herod. VIII 66.
48 11. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
das letzte Stück athenischen Bodens, das noch nicht in der
Hand des Feindes war; hier hatte der größte Teil der Be-
völkerung Attikas Zuflucht gesucht und ihre fahrende Habe
hierher gerettet; es wäre sehr schwer gewesen, bei einer
Räumung der Insel auch nur die Personen in Sicherheit zu
bringen. Und Megara und Aegina würden dem feindlichen
Angriff schutzlos offen gelegen haben. Auch militärisch bot
die Stellung große Vorteile; in den engen Gewässern zwischen
der Insel und der attischen Küste konnten die Perser ihre
Überzahl wie ihre bessere Manöverierfähigkeit nicht zur
Geltung bringen, ja es war anzunehmen, daß sie überhaupt
nicht imstande sein würden, auch nur die Einfahrt in den
Sund zu erzwingen. Eine Niederlage schien unter diesen
Umständen kaum zu besorgen; hatte doch die griechische Flotte
am Artemision unter viel ungünstigeren Verhältnissen dem
Feinde das Gleichgewicht zu halten vermocht. Solange aber
die Griechen bei Salamis blieben, war ein Angriff auf den
Peloponnes für Xerxes unmöglich; die befestigte Stellung
auf dem Isthmos konnte zu Lande nicht umgangen werden,
und die persische Flotte war nicht stark genug, ein größeres
Geschwader gegen den Peloponnes zu entsenden und zugleich
den Griechen bei Salamis die Spitze zu bieten. Dem Gewicht
dieser Gründe konnten sich die Peloponnesier nicht entziehen,
um so weniger, als das athenische Kontingent ein gutes Drittel
der ganzen Flotte bildete, was der Stimme des Themistokles
im Kriegsrat ausschlaggebende Geltung verschaffte. Es
wurde also beschlossen, bei Salamis auszuharren ^.
Xerxes wünschte eine Schlacht bei Salamis aus denselben
Gründen zu vermeiden, welche die Griechen zur Wahl dieser
Stellung bestimmt hatten. Er zögerte also solange als
möglich; endlich mußte er doch zum Angriff schreiten. Die
gute Jahreszeit neigte sich ihrem Ende zu, und den Winter
über konnte die große Flotte schon wegen der Schwierigkeit
der Verpflegung nicht in den griechischen Gewässern bleiben.
Ein Rückzug ohne Schlacht aber war nicht viel besser als
1 Herod. VIII 56—64.
Salamis. 49
eine Niederlage. Freilich der griechischen Flotte gegenüber
die Einfahrt in den Sund von Salamis zu erzwingen, wäre
ein ganz aussichtsloses Beginnen gewesen; Xerxes hätte
da nicht mehr Schiffe ins Gefecht bringen können als der
Feind, und bei gleichen Kräften war kein entscheidender
Erfolg zu erwarten. Nur eine Überraschung konnte zum
Ziele führen. Xerxes ließ also eines Abends (es war schon
gegen Ende September) nach Sonnenuntergang seine ganze
Flotte nach Salamis aufbrechen, während zugleich das Land-
heer die der Insel gegenüberliegende Küste besetzte. Die
Griechen hatten nichts weniger als einen solchen nächtlichen
Angriff erwartet; als das Herankommen der Perser gemeldet
wurde, war es zu spät, die Flotte kampfbereit zu machen,
auch war ja die Annahme eines Nachtgefechtes überhaupt
ausgeschlossen. Die Perser, das phoenikische Kontingent
voran, die loner in der Nachhut, gelangten also ohne Hindernis
in den Sund, wo sie längs der attischen Küste in langer Linie
Stellung nahmen, die griechische Flotte, die gegenüber in
den Häfen bei der Stadt Salamis lag, in weitem Bogen um-
fassend. In der ersten Morgenfrühe wurde dann noch eine
Abteilung persischer Truppen nach der kleinen Insel Psyttaleia
[Hagios Georgios) übergesetzt, die vor der Stadt Salamis
mitten im Sunde liegt, an dessen engster Stelle. Die Besatzung
sollte, falls es zur Schlacht kam, die eigenen Schiffbrüchigen
retten, wenn sie hier angetrieben wurden, die feindlichen
niedermachen; weigerten die Griechen die Schlacht, so sollte
die Insel für den Übergang des Landheeres nach Salamis
einen Stützpunkt bilden.
Strategisch hatte Xerxes gesiegt, auch hier wie bis jetzt
überall auf diesem Feldzuge. Der etwa 6 km lange, 1 — 2 km
breite Sund bot genügenden Raum zur Entfaltung, wenn
nicht der ganzen, so doch des größten Teiles der Flotte, den
Griechen war jede Möglichkeit des Rückzuges abgeschnitten,
sie waren rettungslos verloren selbst dann, wenn der Kampf
wie am Artemision unentschieden blieb. Bei der Überlegenheit
seiner Flotte glaubt der König aber auf sicheren Sieg rechnen
zu dürfen, um so mehr, als unter seinen eigenen Augen ge-
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 4
60 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
kämpft werden sollte. An der schmälsten Stelle der Meerenge,
bei einem kleinen Tempel des Herakles, da, wo jetzt die Fähre
nach Salamis geht, ließ er seinen Thronsessel aufschlagen,
von dem , aus er die Schlacht leiten wollte.
Mit Tagesanbruch stellte sich die griechische Flotte in
Schlachtlinie; die Peloponnesier auf dem rechten Flügel gegen
die loner, die Athener auf dem linken Flügel gegen die
Phoeniker. Hier, in den Gewässern um Psyttaleia, wo der
Sund am engsten ist, begann die Schlacht. Die Semiten
konnten ihre überlegene Manöveriertüchtigkeit nicht zur
Geltung bringen, im Kampfe Mann gegen Mann aber waren
sie den Athenern bei weitem nicht gewachsen. Sie begannen
zu weichen und sahen sich bald gegen die attische Küste
zurückgedrängt. Hier angelangt, blieb ihnen keine Wahl,
als nach links auszubiegen, gegen das Zentrum der persischen
Stellung. Dadurch kam auch dieses in Verwirrung; gerade
unter Xerxes' Thron beim Herakleion, wo das Fahrwasser
durch Felsenriffe und Untiefen eingeengt ist, ballten sich
die persischen Schiffe zum Knäuel zusammen und taten sich
gegenseitig mehr Schaden, als ihnen der Gegner zufügen
konnte. Alles drängte darauf, aus dem Sunde herauszukommen,
die ganze persische Schlachtlinie wurde von rechts nach links
aufgerollt, aber wem es gelang, den Athenern zu entfliehen,
fiel den Aegineten und den übrigen Peloponnesiern auf dem
rechten Flügel der griechischen Aufstellung in die Hände.
Der ganze Sund bedeckte sich mit Schiffstrümmern und Leichen,
bis endlich die hereinbrechende Nacht dem Morden ein Ende
machte. Einen so blutigen Tag hatten die griechischen Ge-
wässer noch nie gesehen; die Schmach von Lade war aus-
getilgt. Was von der persischen Flotte noch übrig war,
suchte Schutz auf der Reede von Phaleron.
Sobald der rechte Flügel der persischen Flotte sich zur
Flucht gewandt hatte, noch während im östlichen Teile des
Sundes gekämpft wurde, war eine Abteilung athenischer
Hopliten von Salamis nach Psyttaleia hinübergegangen
und hatte die dort gelandete persische Besatzung zusammen-
gehauen, im Angesichte des Königs, der drüben am Herakleion
Lage nach d. Schlacht. — Xerxes' Rückzug. — Die Griechen nach d. Siege. 61
als ohnmächtiger Zuschauer stand. Ihm bheb nichts übrig,
als sein Heer nach Athen zurückzuführen ^.
Die persische Flotte war der griechischen noch immer
an Zahl gewachsen, aber unter dem Eindruck der Niederlage
konnte sie nicht daran denken, noch einmal die Schlacht
zu wagen. Der Angriff auf den Peloponnes mußte unter diesen
Umständen aufgegeben werden. Immerhin hatte Xerxes
auf diesem Feldzuge Großes erreicht. Athen war gezüchtigt
worden, Griechenland bis zum Isthmos erobert, der glänzende
Sieg an den Thermopylen ein frisches Blatt in dem alten
Ruhmeskranze des persischen Heeres. Die paar hundert
Schiffe, die bei Kap Sepias und bei Salamis verloren gegangen
waren, fielen demgegenüber kaum ins Gewicht, waren sie
doch von den Untertanen gestellt. Und bei den Mitteln, über
die das Reich verfügte, schien es ein leichtes zu sein, den
Verlust zu ersetzen. Das erforderte freilich eine gewisse Zeit.
Aber solange die Perser zu Lande die Oberhand behaupteten,
war ihre Stellung in Griechenland gesichert; und von dieser
Basis aus mußte es früher oder später gelingen, auch den
Peloponnes zu erobern.
In dem verwüsteten Attika allerdings konnte man den
Winter nicht bleiben. Xerxes ließ also, wenige Tage nach
der Schlacht, die Flotte nach Asien zurückgehen und führte
dann das Heer nach Thessalien in die Winterquartiere. Dort
übergab er den Befehl seinem Schwager Mardonios; er selbst
zog weiter nach dem Hellespont, wo er nach beschwerlichem
Marsch durch das rauhe Thrakien um Mitte Dezember an-
langte ^. Den Winter über blieb er in Sardes, um dem Kriegs-
schauplatz nahe zu sein ^
Die Hellenen hatten den Rückzug des Feindes nicht
zu stören gewagt. Man beschränkte sich darauf, wie es einst
Miltiades nach Marathon versucht hatte, die Kykladen zum
Anschluß an die nationale Sache zu bringen und sie durch
Eintreibung von Kontributionen für ihren Abfall zu strafen.
i Aeschyl. Pers. 290—471, Herod. VIII 66—96, unten 2. Abt. § 41—43.
2 Herod. VIII 97—120. Aeschyl. Pers. 480—510.
3 Herod. IX 3. 107.
52 II, Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
Andros, das die Zahlung weigerte, wurde erfolglos belagert.
Dann lösten Heer und Flotte sich auf i; die geflüchtete Be-
völkerung Attikas kehrte zurück in ihre verwüstete Heimat.
In Thrakien erhoben sich im Spätherbst die Städte auf der
Halbinsel Pallene und die benachbarten Bottiaeer gegen die
persische Herrschaft. Zwar das bottiaeische Olynthos wurde
bald erobert und den treugebliebenen Chalkidern übergeben;
Poteidaea auf Pallene aber schlug alle Stürme ab, und die
Belagerer mußten unverrichtetersache abziehen ^. Materiell
hatte der Abfall nicht viel zu bedeuten, um so bedenklicher
war er als Symptom; er zeigte, daß die Niederlage bei Salamis
und der Rückzug des Königs begannen, auch moralisch ihre
Wirkung zu tun.
Für den nächsten Feldzug war den Griechen ihre Auf-
gabe klar vorgezeichnet; sie mußten alles daran setzen, den
Feind aus Griechenland, wenigstens aus Mittelgriechenland
zu vertreiben, solange die persische Flotte nicht aktionsfähig
war. Demgemäß war der griechischen Flotte zunächst nur
eine defensive Rolle zugedacht; 110 Schiffe unter dem Befehl
des spartanischen Königs Leotychidas gingen im Frühjahr
nach Delos, um die Bewegungen des Feindes zu beobachten
und die Kykladen zu schützen ^, während das Landheer
die Offensive ergriff. Doch konnten die Operationen zu Lande,
wegen der Schwierigkeit der Verpflegung großer Heeres-
massen, erst um die Zeit der Ernte beginnen.
1 Herod. VIII 108. 111—112. 124. IX 10. Über den angeblichen Vor-
schlag des Themistokles, zur Zerstörung der Schiffbrücken nach dem Hellespont
zu fahren, s. unten 2. Abt. § 54.
^ Herod. VIII 126. 129. Darum steht der Name der Poteidaeaten auf
dem delphischen Siegesdenkmal.
8 Herod. VIII 131. 132. Daß diesmal ein spartanischer König den Befehl
führte, statt wie im Vorjahr ein bloßer Nauarch, beweist keineswegs, daß die
Flotte zu großen Dingen bestimmt war. Denn im vorigen Feldzuge hatte die
Flotte mit dem Landheer zusammen operieren sollen, und die Spartaner haben,
seit dem Zerwürfnis zwischen Kleomenes und Damaratos auf dem Feldzuge
gegen Athen, niemals beide Könige auf denselben Kriegsschauplatz geschickt
(Herod. V 75). Da war also für Leotychidas kein Platz. In diesem Jahre aber
hatte die Flotte ein selbständiges Operationsfeld.
Mardonios' Offensive. — Rückzug nach Boeotien. 53
Indes Mardonios kam dem Gegner zuvor. Er wußte
natürlich sehr wohl, daß ein Angriff auf die Befestigungen
des Isthmos ganz aussichtslos war, solange er keine Flotte
zur Verfügung hatte, und auch, daß er für dies Jahr auf keine
Unterstützung zur See aus Asien rechnen durfte. Er machte
also den Versuch, die Athener durch große Anerbietungen
auf seine Seite zu ziehen ^. Als das ohne Erfolg blieb, rückte
er, sobald das Getreide zu reifen begann, ins Feld, um einen
militärischen Druck auf Athen auszuüben, oder doch die
Peloponnesier zu zwingen, aus den Verschanzungen am Isthmos
herauszukommen; ein großer Sieg in offener Feldschlacht,
an dem er nicht zweifelte, würde ihm auch ohne Flotte die
Tore des Peloponnes geöffnet haben. Von Thessalien nach
der attischen Nordgrenze ist es nicht weiter, als von Sparta
dorthin; und da Mardonios ein stets schlagfertiges Heer zur
Verfügung hatte, während die Peloponnesier erst mobil machen
mußten, war es natürlich, daß er eher als sie in Boeotien
stand. Die Athener allein aber waren viel zu schwach, die
Pässe des Kithaeron zu halten; es blieb ihnen nichts übrig,
als wie im vorigen Jahre die Landschaft zu räumen und auf
Salamis eine Zuflucht zu suchen. Ohne Widerstand zu finden,
konnten die Perser zum zweitenmal in Athen einziehen (etwa
Anfang Juni). Mardonios erbot sich, den Athenern ihr Gebiet
unversehrt zurückzugeben, wenn sie noch jetzt seine Vor-
schläge annehmen wollten; doch auch diesmal mit nicht
besserem Erfolge als früher ^.
Inzwischen begann das peloponnesische Bundesheer sich
auf dem Isthmos zu sammeln; den Oberbefehl führten
Euryanax und Pausanias, die Brudersöhne des Leonidas,
als Regenten für dessen Sohn, den unmündigen König Plei-
starchos ^. Noch waren die Kontingente bei weitem nicht
alle zur Stelle, als Pausanias die Offensive ergriff und zunächst
eine Abteilung von 1000 Lakedaemoniern auf Megara vor-
rücken ließ, um wenigstens diese Stadt vor dem Feinde zu
1 Herod. VIII 136. 140—4, Plut. Arist. 10.
2 Herod. IX 1—6; über die Chronologie unten 2, Abt. § 22.
^ Über Euryanax und Pausanias s. unten 2. Abt. § 58.
54 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
schützen, und den Athenern die Gewähr zu geben, daß die
Hilfe nahe sei. Auf die Nachricht davon zog auch Mardonios
vor Megara; er hoffte die schwache feindliche Abteilung
auf dem Marsche vernichten zu können. Doch er kam zu
spät; die Lakedaemonier waren bereits hinter den Mauern
von Megara in Sicherheit. In Attika aber, mit dem Kithaeron
im Rücken, wollte er die Entscheidungsschlacht nicht an-
nehmen; ohnehin machte die Schwierigkeit der Verpflegung
ein längeres Verweilen in dem unfruchtbaren Lande unmöglich.
Mardonios zerstörte also, was von Athen nach der Verwüstung
durch Xerxes noch übrig war, und ging dann über Dekeleia
nach Boeotien zurück; hier schlug er nicht weit von Plataeae
am linken Ufer des Asopos ein befestigtes Lager, Das nahe
Theben bot ihm einen sicheren Stützpunkt, das ebene Gelände
ein Schlachtfeld, wie er es für die Entfaltung seiner besten
Waffe, der Reiterei, sich nur wünschen konnte. Zugleich
war das verbündete Boeotien gegen jeden Angriff des Feindes
geschützt. In dieser Stellung beschloß er den Gegner zu er-
warten. Er mochte noch etwa 50 000 Mann asiatischer
Truppen unter seinen Befehlen haben, wozu dann weiter
10 — ^20000 Mann hellenischer Bundesgenossen, Boeoter, Lokrer,
Phoker, Thessaler, Makedonen hinzutraten, die freilich zum
großen Teil recht unzuverlässig waren ^.
Währenddessen hatte die peloponnesische Hauptmacht
den Isthmos überschritten; sie bestand, außer den Lake-
daemoniern und Tegeaten, im wesentlichen nur aus den
Kontingenten der Städte am Isthmos; die meisten Arkader
und die Eleier fehlten noch immer. Auf dem Durchmarsch
zog man die Megarer an sich und vereinigte sich dann bei
Eleusis mit den Athenern. Darauf ging das Heer über den
Kithaeron und nahm auf dessen nördlichen Vorhöhen Stellung,
da, wo die große Straße von Athen nach Theben aus dem
Gebirge tritt. Es waren etwa 12 000 Hopliten aus dem Pelo-
ponnes, gegen 8000 aus Athen, Megara und Plataeae, dazu
reichlich ebensoviel leichte Truppen, im ganzen eine Masse
1 Herod. IX 13—15.
Plataeae. 65
von etwa 50 000 Mann, das größte Heer, das Griechenland
bis dahin aufgestellt hatte. Man war also dem Feinde an Zahl
annähernd gewachsen; bedenklich war nur der Umstand,
daß es den Griechen an Kavallerie sogut wie ganz fehlte,
während dem Feinde außer seinen asiatischen Reitern auch
die trefflichen boeotischen und thessalischen Geschwader
zur Verfügung standen ^.
Die Heere standen sich eine Zeitlang untätig gegenüber.
Die Hellenen wagten es aus Furcht vor der feindlichen Reiterei
nicht, in die Ebene herabzusteigen, und Mardonios schreckte
vor dem Sturm auf die Höhen zurück, wo er seine Reiterei
nicht entfalten konnte. Nach einem glücklichen Gefecht
gegen die feindliche Reiterei, die sich zu weit vorgewagt
hatte, entschlossen sich die Griechen näher an den Feind
heranzurücken, auf die Hügel, die das Asopostal im Süden
begrenzen; ihr linker Flügel stützte sich auf das halbzerstörte
und von seinen Bewohner verlassene Plataeae, der rechte
auf eine Höhe, die jetzt eine Kirche des heiligen Demetrion
trägt, oberhalb der Quelle Gargaphia. Aber die Hoffnung,
Mardonios dadurch zum Angriff zu verlocken, schlug fehl;
vielmehr hielt der persische Feldherr nach wie vor seine
Hauptmacht auf dem linken Ufer des Asopos zurück und
beschränkte sich darauf, den Feind durch seine Reiterei
beunruhigen zu la"=!sen. Infolge der Vorwärtsbewegung nach
glataeae hin war ferner die Hauptverbindungslinie des
Priechischen Heeres, der Paß von Dryoskephalae, ohne Deckung
gebheben, und so gelang es den Persern, hier einen großen
Transport abzufangen, worauf sich dann die griechischen
Proviantkolonnen überhaupt nicht mehr aus dem Gebirge
herauswagten. Es war also notwendig, den Paß zu sichern,
und Pausanias entschloß sich demgemäß zu einer Front-
änderung. Er ließ seinen linken Flügel, das athenische Kon-
tingent, bei Plataeae stehen, nahm sein Zentrum hinter den
Bach Oeroe zurück, der im Osten bei Plataeae vorbeifließt,
eine Stellung, in der er besser vor der Belästigung durch
1 Herod. IX 10. 19, über die Heeresstärken unten 2. Abt. § 32.
56 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
die feindlichen Reiter geschützt war, und rückte selbst an der
Spitze seines rechten Flügels, der Lakedaemonier und Tegeaten,
nach den Vorhöhen des Kithaeron, am Ausgang des Passes
von Dryoskephalae. Die neue Stellung würde eine Länge
von 5 — 6 km gehabt haben und konnte also mit der zur
Verfügung stehenden Truppenzahl sehr gut verteidigt werden,
um so mehr, als beständig verspätete Kontingente aus dem
Peloponnes herbeiströmten. Um aber bei dieser Bewegung
nicht von der persischen Reiterei gehindert zu werden, war
es nötig, sie in der ersten Morgenfrühe vorzunehmen, und
dabei ging es nicht ohne Verwirrung und manche Verzögerung
ab. Das Zentrum war zu weit zurückgegangen und verlor
dadurch die Fühlung mit den Lakedaemoniern; diese selbst
hatten die in Aussicht genommene Stellung am Kithaeron
noch nicht erreicht und standen, vom übrigen Heere getrennt,
auf den flachen Hügeln am Bache Maloeis, bei einem Heiligtum
der eleusinischen Demeter unterhalb Hysiae (beim heutigen
Dorf Kriekuki), als die persischen Reiter herankamen und
einen weiteren Vormarsch unmöglich machten.
Mardonios wünschte eine Entscheidung nicht weniger
lebhaft als Pausanias. Die Hilfsquellen, die ihm Boeotien für
die Verpflegung seines großen Heeres bot, mußten bald er-
schöpft sein, und dann blieb ihm nur die Wahl zwischen
Schlacht oder Rückzug. Jetzt, da er sah, daß die Griechen
ihre Stellung geräumt hatten und auseinandergekommen
waren, schien ihm der günstige Augenblick da zu sein, auf
den er so lange gewartet hatte. Er überschritt also mit ganzer
Macht den Asopos und warf sich mit seinen persischen Kern-
truppen auf die Spartaner, während die Boeoter und die
übrigen griechischen Bundesgenossen gegen die Athener
auf dem linken Flügel vorgingen. Pausanias sah sich so in
einer sehr kritischen Lage; er mußte zunächst sein Zentrum
heranziehen, und inzwischen blieben die Spartaner, Gewehr
bei Fuß, dem feindlichen Pfeilhagel ausgesetzt. Aber sie
hielten stand, bis die Korinthier und andere Kontingente
zur Stelle waren, und jetzt konnte Pausanias zum Angriff
schreiten. Wie einst bei Marathon, zeigte die aufgelöste
Plataeae. 57
Fechtart der leichtbewaffneten Asiaten sich ohnmächtig
gegen die festgeschlossenen Linien der erzgepanzerten Hopliten;
bei dem Versuch, das Gefecht herzustellen, fiel Mardonios
selbst, und sein Tod gab das Signal zur Flucht des persischen
Heeres. Gleichzeitig hatten die Athener auf dem linken
Flügel den Angriff der Boeoter zurückgeschlagen. Die Sieger
schritten nun zum Sturm auf das persische Lager, das nach
kurzem Kampf unter großem Gemetzel genommen wurde,
wobei unermeßliche Beute in ihre Hände fiel. Ein großer Teil
des feindlichen Heeres war überhaupt nicht zum Schlagen
gekommen; Mardonios' Unterfeldherr Artabazos sammelte
die Flüchtigen unter dem Schutze der Reiterei, der gegenüber
die Griechen an eine Verfolgung nicht denken konnten; die
Megarer und Phleiasier, die zu unvorsichtig vorgegangen
waren, erlitten dabei schwere Verluste. So gelang es Artabazos,
den Rückzug in guter Ordnung zu bewerkstelligen, und seine
Truppen, angeblich noch etwa 40 000 Mann, im wesentlichen
intakt, nach Asien zurückzuführen. Die Sieger sollen im
ganzen 1360 Mann eingebüßt haben ^.
Tansanias durfte sich rühmen, die größte Schlacht ge-
wonnen zu haben, die je von Griechen gekämpft worden war.
Seine kühne Vorwärtsbewegung vom Kithaeron nach Plataeae
herab hatte endlich, nachdem sie schon mißlungen schien,
doch vollen Erfolg gehabt; sie hatte den Gegner dazu ge-
bracht, die Schlacht auf dem von Pausanias gewählten Ge-
lände anzunehmen. Das lag nun freilich vor allem daran, daß
Mardonios, wenn auch formell in der Defensive, doch in Wahr-
heit der Angreifer war; als solcher mußte er, unter allen Um-
ständen, eine Schlacht herbeiführen, ganz wie Datis bei
Marathon, Xerxes bei Salamis. Aber auch in der Schlacht
selbst hat Pausanias sich als umsichtiger Feldherr gezeigt,
1 Herod. IX 20—85, unten 2. Abt. § 44^46. Munro, Journ. Hell. Stud.
XXIV, 1904, S. 144 ff. Winter, Die Schlacht bei Plataeae, Dissert. Berlin 1909.
Kahrstedt, Hermes XLVIII, 1913, S. 283 fE. Über die Topographie des
Schlachtfeldes am besten Grundy, Persian war, mit Karte nach eigener Auf-
nahme. Der griechische Verlust bei Plut. Arist. 19 (ob glaubwürdig?), Herod.
IX 69. 70 gibt nur Teilzahlen.
58 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
am glänzendsten in dem kritischen Augenblick, als während
der Frontveränderung des griechischen Heeres der Feind
unerwartet mit ganzer Macht zum Angriff schritt. Euryanax
sah sich seinem Mitfeldherrn gegenüber in den Hintergrund
gedrängt; schon die Zeitgenossen haben nur Pausanias als
den Sieger von Plataeae gefeiert, und dieser selbst hat in der
Aufschrift des Dreifußes, der nach der Schlacht in Delphi
geweiht wurde, die Ehre des Sieges für sich allein in Anspruch
genommen ^.
Die Sieger blieben zehn Tage auf dem Schlachtfelde,
beschäftigt mit der Bestattung der Toten und der Verteilung
der Beute. Aus dem Zehnten wurden Weihgeschenke in
Delphi , Olympia und auf dem Isthmos aufgestellt ^, und auf
dem Schlachtfelde ein Altar Zeus des Befreiers errichtet,
bei dem alle vier Jahre Wettspiele zum Andenken des Sieges
gefeiert werden sollten. Den Plataeern wurde im Namen
der verbündeten Staaten die Unverletzlichkeit ihres Gebietes
gewährleistet ^. Dann zog das Heer gegen Theben, das nach
zwanzigtägiger Belagerung zur Unterwerfung gebracht wurde.
Von den Führern der medischen Partei war der angeschenste,
Attaginos, entflohen, die übrigen wurden Pausanias aus-
geliefert, der sie auf dem Isthmos als Vaterlandsverräter
hinrichten ließ; der boeotische Bund, an dessen Spitze Theben
bisher gestanden hatte, wurde aufgelöst ^. Die Kontingente
des Heeres wurden in ihre Heimat entlassen. Hellas konnte
aufatmen; die Persernot war vorüber. Fortan sollte durch
zwei Jahrhunderte der Boden Griechenlands von keinem
fremden Feinde betreten werden.
1 Thuk. I 132, 2.
2 Herod. IX 81, das delphische Weihgeschenk IGA. 70; Fabricius, Jahrh.
arch. Inst. I, 1886, S. 175 ff.; Domaszewski, N. Heidelb. Jahrh. I, 1891, S. 181ff.;
über das Weihgeschenk von Olympia Paus. V 23, 1. 2; Boissevain in der Fest-
schrift für Hirschfeld, Berlin 1903, S. 69 i?.
^ Inschrift des Altars Simonid. fr. 140, Eleutherien Plut. Arist. 21, Strab.
IX 412, Paus. IX 2, 5, Poseidippos fr. 29 bei Herakl. Krit. (sog. Dikaearchos)
11 {Geogr. Gr. Min. 1 102), Privilegien der Plataeer Thuk. II 71, 2, Plut. Arist. 21.
* Herod. IX 86 — 88, Auflösung der boeotischen Bundes lustin. III 6, 10,
Diod. XI 81. 1. 2.
Unterwerfung Thebens. — Mykale. 59
Jetzt war der Augenblick zur Befreiung der Stammes-
genossen jenseits des Meeres gekommen. Die griechische
Flotte war den Sommer über bei Delos geblieben (oben S. 52),
aber der persische Angriff, den man erwartet hatte, war nicht
erfolgt, die meisten Kontingente der feindlichen Flotte hatten
sich nach der Schlacht bei Salamis in ihre Heimatshäfen
zerstreut und sind auch im nächsten Frühjahr nicht zurück-
gekehrt; der Rest lag zum Schutze loniens bei Samos, war
aber nicht stark genug, um eine Seeschlacht zu wagen ^.
Dagegen erhielt Leotychidas aus Chios und Samos dringende
Aufforderungen, nach lonien hinüberzukommen, wo alles
zum Aufstand bereit sei. So segelten die Hellenen nach Samos,
um die Zeit, als bei Flataeae gekämpft wurde, wahrscheinlich
erst auf die Nachricht von dem entscheidenden Siege. Die
Perser warteten ihre Ankunft nicht ab und gingen nach
der nahen Küste des Festlandes zurück, wo sie am Nordufer
des latmischen Busens, Milet gegenüber, unweit des Vor-
gebirges Mykale, ein befestigtes Lager schlugen, und hier
ihre Schiffe ans Land zogen. Sie glaubten, in dieser starken
Stellung einen feindlichen Angriff abschlagen zu können,
und für den schlimmsten Fall hatten sie den Rückzug zu
Lande frei. Als die Griechen sahen, daß die Perser eine See-
schlacht nicht annahmen, setzten sie ihre Truppen ans Land
und schritten zum Sturm. Die ionischen Kontingente im
persischen Heer machten mit ihren Landsleuten gemeinsame
Sache, und so wurden die Befestigungen nach heftigem Kampfe
genommen. Als alles verloren war, steckten die Perser ihre
Flotte in Brand und räumten das Lager ".
^ Herod. IX 96 ßou\€UO|udvoi0i Y^p 0qpi ^bÖKee vau|uaxiriv jur) iroi^eoBai,
oö fäp dbÖKeov ö|aoToi eivai. Da die griechische Flotte nach Herod. VIII 131:
110 Schiffe zählte, kann die persische höchstens ebenso stark gewesen sein,
während sie nach Salamis doch noch mindestens 300 Schiffe gezählt haben
muß; daraus ergibt sich das oben im Texte Gesagte. Die Phoeniker sollen nach
Herod. 1X96 erst von Samos aus nach Hause gesandt worden sein; aber wenn
das phoenikische Kontingent, das beste und zahlreichste, noch bei der persischen
Flotte war, würde sie doch wohl der griechischen gewachsen gewesen sein. Es
ist also viel wahrscheinlicher, daß die Phoeniker schon gleich nach Salamis
nach Hause gesegelt sind, wie Diod. XI 19, 4; 27, 1 angibt.
^ Herod. IX 96 — 106, der c. 96 erzählt, daß ein persisches Landheer von
60 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Persier und Phoeniker.
Die Folge dieses Sieges war der Abfall ganz loniens;
die von den Persern eingesetzten Tyrannen wurden überall
verjagt, die Inseln Samos, Lesbos und Chios in den helleni-
schen Bund aufgenommen; mit den festländischen Städten,
deren Verteidigung die Peloponnesier nicht übernehmen
mochten, schlössen die Athener ein Separatbündnis ^ Die
hellenische Flotte fuhr nun weiter nach dem Hellespont, wo
Abydos und die meisten anderen Griechenstädte sogleich
übertraten. Da inzwischen der Herbst herangekommen war,
kehrten die Peloponnesier nach Hause zurück; die Athener
dagegen, von ihren neuen ionischen und hellespontischen
Bundesgenossen unterstützt, schritten zum Angriff auf das
Abydos gegenüberliegende Sestos, das von einer persischen
Besatzung gehalten wurde. Die Belagerung des sehr festen
Platzes zog sich bis tief in den Herbst hinein; endlich zwang
der Hunger die Verteidiger, die Stadt zu räumen ^. Der
Hellespont war damit ganz in griechischer Hand und für die
Perser gesperrt, so daß Artabazos, als er mit den Resten des
bei Plataeae geschlagenen Heeres im Spätherbst hier ankam,
bei Byzantion über den Bosporos gehen mußte ^
Mit dem Frühjahr 478 ging die peloponnesische Flotte
von neuem in See, diesmal allerdings nur 20 Trieren stark,
unter dem Befehl des Siegers von Plataeae, Pausanias. Dreißig
attische Schiffe schlössen sich an; dazu kamen die Kontingente
der im vorigen Jahre befreiten loner und Lesbier. Die Inseln
an der karischen Küste wurden zum Abfall von den Persern
gebracht, dann fuhr die Flotte, ohne Widerstand zu finden,
60 000 Mann die Flotte gedeckt habe. Das kann nicht richtig sein, da die grie-
chische Flotte nicht wohl mehr als 2 — 3000 Kombattanten an Bord haben
konnte, und die Rudermannschaften militärisch wertlos waren. Es ist also klar,
daß ein persisches Landheer von irgend nennenswerter Stärke nicht zur Stelle
gewesen ist. Ebenso klar ist es, daß die Griechen nicht so töricht gewesen sein
können, die eroberte feindliche Flotte zu verbrennen; es müssen also die Perser
selbst gewesen sein, die ihre Schiffe verbrannt haben, um sie nicht dem Feind
in die Hände fallen zu lassen.
1 Herod. IX 104, Leo, Verh. der Phil-Vers, in Wiesbaden 1878 S. 60ff.
2 Herod. IX 90—122. Thuk. I 89.
8 Herod. IX 89, s. unten 2. Abt. § 22.
Einnahme von Sestos und Byzantion. — Abfall der Ion er zu Athen. 61
nach Kypros, das ebenfalls zum größten Teile den Persern
entrissen wurde. Von dort wandte man sich wieder nach den
hellespontischen Gewässern zurück, wo nach langer Be-
lagerung Byzantion genommen wurde, die letzte Festung,
die hier noch von den Persern besetzt war ^.
Bisher hatten die Athener auch zur See sich dem spar-
tanischen Oberbefehl willig unterworfen, war doch diese
Unterordnung das einzige Mittel, um ein Zusammenwirken
der peloponnesischen und attischen Flotte möglich zu machen.
Seit aber die loner dem Bunde beigetreten waren, brauchte
man die Peloponnesier nicht mehr, um so weniger, als diese
doch nicht gewillt waren, für den Seekrieg irgendwelche
nennenswerten Anstrengungen zu machen; die 20 Schiffe,
die mit Pausanias gekommen waren, konnten sehr wohl
anderweitig ersetzt werden. Und war es nicht ein Widersinn,
die Flotte von Offizieren befehligen zu lassen, die ihr ganzes
Leben lang nur zu Lande gedient hatten? Dazu kam, daß
das stramm -militärische spartanische Wesen den asiatischen
Griechen sehr unsympatisch war; und Pausanias, der sich
seit seinem Siege bei Plataeae für den leibhaftigen Herrgott
hielt und seine Untergebenen dementsprechend behandelte,
war am wenigsten der Mann dazu, für Sparta Stimmung
zu machen. So kam es denn nach der Einnahme von Byzantion
zur offenen Meuterei auf der Flotte. Die loner weigerten
den Befehlen des spartanischen Admirals den Gehorsam
und trugen die Führung im Seekriege den Athenern an, die
sich natürlich nicht lange bitten ließen (477). Pausanias
wurde auf die Nachricht von diesen Vorgängen nach Sparta
zurückgerufen; aber sein Nachfolger, der Nauarch Dorkis,
fand bei den Bundesgenossen keine bessere Aufnahme. Den
^ Thuk. I 94. 128, 5. Es ist klar, daß die Hellenen nach K}rpros erst fahren
konnten, wenn sie Rhodos und die benachbarten Inseln in ihrer Gewalt hatten,^
vgl. Timokreon fr. 1 und meine Bemerkungen Rh. Mus. XLIII, 1888, S. 107 ff.
und unten 2. Abt. § 53. Damals wird Artemisia von Hahkarnassos den Besitz
von Kos und Kalymna und Nisyros (Herod. VII 99) verloren haben, die später
als selbständige Mitglieder des attischen Seebundes erscheinen. Halikamassoa
selbst ist wahrscheinlich bis zur Schlacht am Eurymedon persisch geblieben.
62 11. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
Spartanern blieb nichts übrig, als zum bösen Spiel gute Miene
zu machen; man rief die peloponnesischen Kontingente von
der Flotte ab und war im Grunde gar nicht so unzufrieden,
die Führung des kostspieligen Seekrieges losgeworden zu
sein ^. Die Gefahren, welche dieser Verzicht auf die See-
herrschaft dereinst heraufführen sollte, ahnte man in Sparta
noch nicht; auch stand man ja zu Athen in den besten Be-
ziehungen. Immerhin ließ man das wichtige Byzantion nicht
aus den Händen und sicherte sich dadurch die Möglichkeit,
jederzeit wieder in die asiatischen Verhältnisse einzugreifen ^.
Inzwischen gab es für Sparta in Griechenland selbst
dringendere Aufgaben zu lösen. König Leotychidas ging
mit einem Heere und einer Flotte nach Thessalien, diese
Landschaft, oder vielmehr die dort herrschenden Adels -
geschlechter für ihren Abfall zu den Persern zu züchtigen (477).
Es wurden denn auch bedeutende Erfolge erreicht; Pagasae,
der Hafen von Pherae, wurde genommen und der Herrscher
dieser Stadt, Aristomedes vertrieben. Aber gegen die Aleuaden
von Larisa, mit ihrer überlegenen Reiterei, vermochte Leo-
tychidas in dem ebenen Lande nichts Ernstliches auszurichten,
wenn er auch in allen Gefechten siegreich war. So verging
der Sommer, ohne eine Entscheidung gebracht zu haben;
das peloponnesische Heer nahm bei Pherae Winterquartiere,
und endlich blieb nichts übrig, als mit den Aleuaden einen
Vertrag zu schließen, der sie in ihrer Stellung an der Spitze
von Larisa beließ. Immerhin war das Übergewicht gebrochen,
das sie bisher in Thessalien gehabt hatten. Doch in Sparta
hatte man mehr erwartet; man sprach von Bestechung, und
dieser Verdacht sollte Leotychidas später verhängnisvoll
werden ^
1 Thuk. I 95, unten 2. Abt. § 68.
^ Das ergibt sich daraus, daß Pausanias später dahin zurückkehren konnte;
s. unten S. 66.
8 Herod. VI 72, Paus. III 7, 9, Plut. de Herod. malign. 21, 2 S. 859. Nach
Plutarch a. a. O. wären zwei thessalische Dynasten, Angelos und Aristomedes,
von Leotychidas gestürzt worden; Aleuaden können das nicht gewesen sein,
da diese ja mit dem spartanischen König ein Abkommen geschlossen haben
(Herod. a. a. 0.), auch herrschten in Larisa damals Thorax und seine Brüder
Leotychidas in Thessalien. — Der Delische Bund. 63
Währenddessen schritt Athen zur Organisation seiner
neuen Bundesgenossenschaft. War es doch klar, daß der
Krieg gegen Persien sich in die Länge ziehen würde; es galt
also, für die Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel Vor-
sorge zu treffen. Und diese Mittel waren reichlich vorhanden;
man brauchte nur die Tribute, die bisher an die Perser ent-
richtet worden waren, an die hellenische Kriegskasse abzu-
führen. Die wenigen Staaten, die eine leistungsfähige Marine
besaßen, wie Samos, Chios, Lesbos, Thasos und Naxos, bheben
von dieser Zahlung befreit und unterhielten dafür ihr Flotten-
kontingent aus eigenen Mitteln; die übrigen zahlten einen
jährlichen Beitrag ((pöpoq) an den Bundesschatz, und wurden
dafür des lästigen Kriegsdienstes ledig, den sie in der Perserzeit
noch neben dem Tribute zu leisten .gehabt hatten^. Athen
(Herod. IX 1, 58). Es handelt sich also um Herrscher anderer thessalischer
Städte. Ein Aristomedes aus Pherae erscheint später als Offizier in persischan
Diensten im Kriege gegen Philipp und bei Issos gegen Alexander (Didym.
zu Demosth. 9, 43, Arr. Anab. II 13, 2); er hat also zu der Philipp feindlichen
Partei in Thessalien gehört, folglich zum Anhang der Tyrannen von Pherae,
vielleicht zum Tyrannenhause selbst. Da nun Leotychidas die Winterquartiere
eben im Gebiet von Pherae genommen hat (Plut. Them. 20, vgl. unten 2. Abt.
§ 72), so liegt die Vermutung sehr nahe, daß auch jener ältere Aristomedes in
Pherae zu Hause war. Der Name "ÄYT^^oe; ist selten, er kommt zwar gerade
in Thessalien {Inscr. Thess. 1228, 27) und im benachbarten Epeiros (Plut. Pyrrh. 2)
vor, paßt aber wenig für den Angehörigen eines vornehmen Hauses; es hegt
also nahe, an eine Verschreibung aus ÄY^^oioq zu denken, was auf das
Dynastengeschlecht von Pharsalos führen würde (delphische Inschrift des
Daochos, Bull. Corr. Hell. XXI, 1897, S. 592 ff. = Michel 1281). Hat der Mann
aber wirklich Angelos geheißen, so mag er ein Bruder des Aristomedes von
Pherae oder Herrscher einer der umhegenden Städte gewesen sein. Über die
Chronologie unten 2. Abt. § 72.
^ Da fast alle Gemeinden, die mit Athen den neuen Bund schlössen, unter
persischer Herrschaft gestanden hatten, liegt es in der Natur der Sache, daß
die bisherigen Tributsätze auch unter der neuen Ordnung in Geltung blieben
oder doch die Grundlage für die neue Veranlagung bildeten. Das sagt denn
auch Herodot mit klaren Worten an einer Stelle, die den Auslegern viel Kopf-
zerbrechen gemacht hat (VI 42); dort wird erzählt, daß Artaphernes nach
Unterdrückung des ionischen Aufstandes (pöpou(; SxaSe ^KdffTOim, oi Kaxd
XÜjpriv biaTeX^ouoi ^xovTeq ^k toütou toö xp^vou dei In Kai ic, i\xk wc, ^röxön"
oav ^E ApTaqpdpveo«^. An die Perser haben die ionischen Städte in Herodots Zeit
keinen Tribut gezahlt, wie an und für sich klar ist und von Thuk. VIII 5, 5
64 11. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
übernahm es, aus diesen Geldern eine Flotte aufzustellen,
die stark genug wäre, das Aegaeische Meer gegen die Perser
zu verteidigen. Die Bestimmung der Höhe des Beitrages,
den jeder Staat zu zahlen hatte, wurde in Aristeides' Hände
gelegt, der durch seine über allem Zweifel stehende Integrität
wie kein zweiter zu diesem Geschäfte geeignet war; und er
entledigte sich denn auch der schwierigen Aufgabe zu
allgemeiner Zufriedenheit. Der Gesamtbetrag belief sich auf
460 attische Talente, oder etwa 2Y2 Millionen Mark, eine
für die griechischen Verhältnisse dieser Zeit ganz ungeheure
Summe, so sehr sie auch hinter den finanziellen Mitteln, die
der Großkönig zur Verfügung hatte, zurückstehen mochte.
Die Gelder sollten bei dem Apollontempel auf Delos, dem
gemeinsamen Heiligtum des ionischen Stammes, nieder-
gelegt und dort von einer athenischen Behörde von 10 Männern,
ausdrücklich bezeugt wird; also spricht Herodot von dem Tribut, der an die
Athener gezahlt wurde. So erklärt es sich auch, daß Lemnos und Imbros
allein von allen athenischen Kleruchien tributpflichtig gewesen sind; sie
waren es in der Perserzeit gewesen und durften natürlich keine privilegierte
Stellung erhalten. Nun soll allerdings die erste Satrapie unter Dareios 400
babylonische oder rund 470 attische Talente gezahlt haben (Herod. III 90),
während die entsprechenden Steuerbezirke des attischen Reiches, der 'luuviKÖi;
und KapiKÖc; cpöpoc;, nicht mehr als 151 tal. gezahlt haben (Pedroli in
meinen Studi di Stör. Ant. I 199). Doch waren gerade die steuerkräftigsten
Gemeinden, Chics, Samos und die Städte auf Lesbos unter der athenischen
Herrschaft tributfrei, Lykien zahlte nur die ganz irrisorische Summe von
10 tal., Pamphylien, das innere Karlen, Magnesia am Maeandros lagen
überhaupt außerhalb des athenischen Machtbereichs. Da Rhodos den
Athenern 25 tal. gezahlt hat, wird der Tribut der drei anderen großen
Inseln in der Perserzeit auf etwa 70 tal. geschätzt werden können, rech-
nen wir weiter 10 tal. auf Magnesia (die 50 tal. bei Nepos Them. 10, 3
sind natürlich nicht der Tribut, sondern die Einkünfte des Stadtherrn Themi-
stokles), je 50 tal. auf Lykien und Pamphylien, 100 tal. auf Karlen, so erhalten
wir annähernd die Summe bei Herodot, der ja nur eine runde Zahl gibt. Auch
kann die Zahl übertrieben sein. Wenigstens ist es ganz ausgeschlossen, daß
das benachbarte Lydien, wie Herodot angibt, 500 tal. gezahlt hat, diese Zahl
ist vielmehr nur haltbar, wenn wir sie auf Lydien und die Küstenprovinz zu-
sammen beziehen, die ja bis gegen Ende des V. Jahrhunderts unter demselben
Satrapen gestanden haben (Krumbholz, De Asiae Minoris satrapis persicisy
Diss. Leipzig 1883, S. 16 ff.).
Feldzüge in Thrakien. 65
den „Schatzmeistern der Hellenen" (Hellenotamien) ver-
waltet werden; hier trat auch die Bundesversammlung zu-
sammen, um über die gemeinsamen Angelegenheiten zu
beraten. Die Führung im Kriege stand den Athenern zu ^.
Es waren schwere Lasten, die der Bund seinen Mit-
gliedern auferlegte, und noch schwerer mußte die Beschränkung
der Autonomie der Einzelstaaten empfunden werden, die durch
das Bundesverhältnis notwendig gegeben war. Aber die
bittere Lehre der Fremdherrschaft war nicht verloren ge-
wesen; selbst diesem so durch und durch partikularistisch
gesinnten Volke war es endlich klar geworden, daß die neu
gewonnene Freiheit nur durch Einigkeit zu behaupten war.
So traten denn alle vom Perserjoche befreiten Städte dem
Bunde bei, außerdem Euboea und die westhchen Kykladen,
die zwar frei geblieben waren, aber die Persergefahr aus
nächster Nähe gesehen hatten. Es erleichterte die Einigung,
daß die meisten dieser Staaten, wie die Athener selbst, ionischen
Stammes waren, und sich, direkt oder indirekt für Kolonien
Athens ansahen.
Die dringendste Aufgabe für den neuen Bund war die
Säuberung der thrakischen Südküste von den noch dort
stehenden persischen Garnisonen. Demgemäß wandte sich
die Bundesfiotte unter Kimon, dem jungen Sohn des Miltiades,
gegen Eion an der Mündung des Strymon und brachte diese
Festung nach hartnäckigem Widerstände in ihre Gewalt (476)»
Es war der erste militärische Erfolg des neuen Bundes, und
er erfüllte die Athener mit berechtigtem Selbstgefühl. Der
wichtige Platz, auf den Athen noch von der Peisistratidenzeit
her Ansprüche hatte, wurde durch eine attische Kolonie
gesichert ^. Auch aus den übrigen thrakischen Festungen
1 Thuk. I 96. Vgl. Rh. Mus. XLIII, 1888, S. 104—113, wo ich, gegen.
Kirchhoff, gezeigt habe, daß der Bund schon von Anfang an annähernd
die Ausdehnung gehabt haben muß, die er bis auf den peloponnesischen Krieg
behalten hat. Über die Organisation des Bundes U. Köhler, Urkunden und'
Untersuchungen zur Geschichte des delisch-attischen Bundes, Abh. Berl. Akad. 1869.
* Thuk. I 98 Herod, VII 107, vgl. die Inschriften der Hermen, die in
Athen zum Gedächtnis des Sieges aufgestellt wurden, bei Aesch. gKtes. 183
und Plut. Kim. 7. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 68.
l'eloch, Griech. Geschichte If, i. 2. Auf 1. 5
€6 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
wurden die persischen Besatzungen jetzt vertrieben; nur
Doriskos unweit der Hebrosmündung hielt sich noch durch
einige Jahre ^.
Bald nach dem Fall von Eion nahm Kimon die kleine
Insel Skyros in Besitz, die bisher ein Seeräubernest gewesen
war, und die nun an attische Kleruchen verteilt wurde (475) ^.
Auch Karystos, die einzige Stadt auf Euboea, die bisher ihre
Unabhängigkeit bewahrt hatte, wurde zum Anschluß an den
Bund gezwungen. Ein Aufstand der Naxier wurde unter-
drückt und die Insel mit dem Verluste ihrer Autonomie be-
straft. Es war das erste Mal, daß ein Bundesstaat sich gegen
Athen aufgelehnt hatte; ein bedenkliches Symptom dafür,
daß die Einigkeit unter den Verbündeten zu schwinden be-
gann ^,
Um dieselbe Zeit etwa gewannen die Athener Byzantion.
Pausanias hatte, wie wir wissen, bei seiner Abberufung hier
eine Besatzung zurückgelassen; später war er ohne Auftrag
seiner Regierung dahin zurückgekehrt, um auf eigene Hand
am Kriege gegen Persien sich zu beteiligen. Er soll sich hier
•eine Hofhaltung nach persischem Muster eingerichtet, per-
sische Tracht angelegt, sich mit medischen und aegyptischen
Trabanten umgeben haben. Man erzählte sich auch, daß er
geheime Verbindungen mit dem Großkönig unterhielte.
Mochte dieser Verdacht nun begründet sein oder nicht, er gab
den Athenern den willkommenen Vorwand zur Intervention.
Byzantion wurde belagert, und Pausanias zur Räumung
des wichtigen Platzes genötigt (472). Die spartanische Re-
gierung erhob keinen Widerspruch, da ihr die Machtstellung
des Siegers von Plataeae am Hellespont mindestens ebenso
unbequem war als den Athenern *.
1 Herod. VII 106.
2 Thuk. I 98. Plut. Kim. 8. Thes. 36, vgl. unten 2. Abt. § 68.
3 Thuk. I 98. Über den Krieg mit Karystos auch Herod. IX 105. S.
unten 2. Abt. § 69.
* Thuk. I 128—131, dem Nepos {Paus. 3) undDiodor (XI 44 f.) folgen,
lust. IX 1, 3. Die Annahme persischer Sitte kann, wenn überhaupt etwas
wahres an der Sache ist, erst in Pausanias' zweiten Aufenthalt in Byzantion
fallen; s. unten 2. Abt. § 58; über die Chronologie § 70.
Pausanias aus Byzantion vertrieben. — Schlacht am Eurymedon. 67
Der König hatte allen diesen Fortschritten der Athener
untätig zusehen müssen, da er nicht imstande war, eine Flotte
nach dem Aegaeischen Meere zu schicken; denn zunächst
galt es, Kypros zum Gehorsam zurückzubringen. Die dort
von Pausanias befreiten Städte (oben S. 61) hatten sich
nach dessen Sturze dem athenischen Seebunde nicht an-
geschlossen und waren Sparta treugeblieben, dieses aber war
nach dem Abfalle Athens und der loner nicht mehr imstande,
die Insel wirksam zu schützen. So wurde die persische Herr-
schaft hier bald wieder hergestellt ^. Nun sollte die Reihe
an lonien kommen, aber man wußte in Susa nur zu gut,
daß ein solches Unternehmen sehr sorgfältige Vorbereitungen
erforderte. Endlich, um 470, waren die Rüstungen vollendet;
eine phoenikische Flotte von 120 Trieren wurde nach Pam-
phylien vorgeschoben, wo sie, in Erwartung weiterer Ver-
stärkungen, an der Mündung des Eurymedon vor Anker ging.
Doch Kimon kam dem Angriff zuvor; er segelte dem Feinde
in die pamphylischen Gewässer entgegen und wandte sich
zunächst gegen Phaseiis, die blühende rhodische Kolonie
^ Direkt überliefert ist davon nichts, da unsere Quellen für diese Zeit nur
von dem sprechen, was die Athener getan haben; wird doch selbst Leotychidas'
thessalischer Zug nur beiläufig bei Gelegenheit der Amtsentsetzung des Königs
erwähnt. So hören wir denn von Kypros seit 478 nichts weiter, bis die Athener
bei Beginn des aegjrptischen Aufstandes wieder eine Flotte dorthin sandten.
In der Zwischenzeit haben sie sich offenbar ujn die Insel nicht gekümmert,
und diese kann also in den Seebund nicht eingetreten sein. Andererseits ist
klar, daß die Perser eine Flotte nach Pamphylien nicht vorschieben konnten,
bis Kypros wieder unterworfen war; die Unterwerfung fällt also zwischen 477
und etwa 470. Es ist, wie man sieht, nach der zweiten Erhebung loniens ge-
gangen, wie nach der ersten; die Perser haben zuerst Kypros zum Gehorsam
zurückgebracht und sich dann, nach sorgfältigen Rüstungen, gegen lonien
gewandt. Nur daß die Toner das zweite Mal den Rückhalt an Athen hatten,
der ihnen das erste Mal fehlte. So allein erklärt es sich, daß der Großkönig
so lange Zeit sich um das Aegaeische Meer nicht gekümmert hat. Auch nach
der Schlacht am Eurjonedon ist Kimon nicht nach Kypros gegangen; ja es
wird als etwas Großes erwähnt, daß die Athener während der nächsten Jahre
sich in Rekognoszierungsfahrten bis jenseits der chelidonischen Inseln vorgewagt
haben (Plut. Kim. 13). Das zeigt uns, daß Kypros damals im sicheren Besitz
der Perser gewesen ist; es ist ja auch gar nicht abzusehen, wie. die Insel ohne
Unterstützung von Athen aus ihre Unabhängigkeit hätte behaupten können.
5*
68 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
an der Ostküste Lykiens, der Mündung des Eurymedon gerade
gegenüber. Bei der exponierten Lage ihrer Stadt war es den
Phaseliten nicht zu verargen, wenn sie Bedenken trugen,
sich gegen ihren Landesherrn, den Großkönig, aufzulehnen;
als aber Kimon Gewalt brauchte, und von der persischen
Flotte keine Hilfe kam, gab Phaseiis den Widerstand auf
und trat in den attischen Seebund ^. So war für die weiteren
Operationen ein fester Stützpunkt gewonnen. Jetzt schritt
Kimon zum Angriff auf die persische Flotte; da der Feind
zu schwach war, um eine Seeschlacht zu wagen, und das
Eintreffen der Verstärkungen abwartete, ließ Kimon seine
Leute ans Land gehen, wie einst Leotychidas bei Mykale,
und erstürmte das Schiffslager der Perser, wobei die ganze
dort liegende Flotte in seine Hände fiel. Es war hohe Zeit,
denn schon nahte eine zweite phoenikische Flotte von 80
Segeln; Kimon griff sie ohne Zögern an, wie es heißt, noch
am selben Tage, und schlug sie bis zur Vernichtung (um 470).
Es war der glänzendste Sieg, der die griechischen Waffen
seit Salamis und Plataeae errungen hatten; Kimon hatte die
höchste Aufgabe gelöst, die dem Feldherrn gestellt ist, die
völlige Zerstörung der feindlichen Streitkräfte. Ein persischer
Vorsloß nach dem Aegaeischen Meer war in absehbarer Zeit
nicht mehr zu besorgen ^.
Die persische Herrschaft an der Südwestküste Klein -
asiens brach infolge diSses Schlages zusammen; Lykien und
der größere Teil Kariens bis tief in das Binnenland hinem
schlössen sich an Athen an und bequemten sich zur Tribut-
zahlung ^ Der Bund umfaßte nunmehr sämtliche Inseln
^ Plut. Kim. 12; die Tributlisten zeigen, daß Phaseiis bis in die Zeit des
peloponnesischen Krieges zum Seebunde gehört hat.
" Thuk. I 100, Plut. Kim. 12. 13, wertvoll durch den Auszug aus dem
Bericht des Kallisthenes, ganz phantastisch Diod. XI 60 — 62 (nach Ephoros).
Die Grabschrift auf die gefallenen Athener Jnth. Pal. VII 258. Von den Neueren
gibt das beste E. Meyer, Forschungen II S. Iff.; einige Nachträge dazu unten
2. Abt. § 69, über die Chronologie § 69.
3 Diod. XI 60, 4, der aber vor die Schlacht setzt, was wenigstens in der
Hauptsache erst eine Folge der Schlacht sein konnte, s. unten 2. Abt. § 59.
Bestätigt wird das durch die Tributlisten. Vgl. Kirchhoff, Hermes XI, 1876,
Die Einheitsbewegung im Westen: Anaxilaos. Hippokrates. 69
des Aegaeischen Meeres mit Ausnahme von Melos, Thera,
Aegina; sämtliche Griechenstädte an der thrakischen Süd-
küste vom Olymp bis zum Bosporos, und die ganze asiatische
Küste vom Bosporos bis Pamphylien. Die Zahl der Bundes-
staaten mochte etwa 250 betragen. Athen war in die Reihe
der Mächte ersten Ranges getreten, und es war nur natürlich,
daß diese gewaltige Machtentfaltung die leitenden Männer
in Sparta mit Besorgnis erfüllte. Wenn auch das gute Ein-
vernehmen zwischen beiden Mächten zunächst noch ungestört
blieb, es war vorauszusehen, daß schon die nächste Zukunft
den Bruch herbeiführen würde.
Während so im griechischen Mutterland die persische
Invasion siegreich zurückgeschlagen, die Brüder jenseits
des Meeres befreit wurden, und die befreiten Städte sich zur
politischen Einheit zusammenschlössen, hatten die Kolonien
in Sicilien eine ganz analoge Entwicklung durchlaufen. Nur
daß die Einheitsbewegung hier von des Tyrannis ausging,
die um den Anfang des V. Jahrhunderts im hellenischen
Westen die herrschende Staatsform bildete. So bemächtigte
sich Anaxilaos von Rhegion (494 — 476) ^ mit Hilfe der Samier,
die nach der Schlacht bei Lade ihre Heimat verlassen hatten
(oben S. 16), des seiner Stadt gegenüberliegenden Zankle,
das nun den Namen Messene annahm, zu Ehren des Tyrannen,
dessen Geschlecht aus Messenien stammte. Doch hat Anaxilaos
die Samier nicht lange darauf vertrieben, und die Stadt mit
neuen Ansiedlern besetzt ^. Zu noch größerer Macht gelangte
S. 1—45, und dazu meine Bemerkungen Rh. Mus, XLIII, 1888, S. 104 ff.
Vor der Schlacht scheinen auf dem karischen Festlande nur der knidische
Chersones (Plut. Kim. 12) und die rhodische Peraea zum Seebunde gehört
zu haben.
1 Diod. XI 48, unten 2. Abt. § 65.
* Herod. VI 22 ff., Thuk. VI 4, 5 — 6. Die Münzen mit samischen Typen
und der Aufschrift Meöcreviov beweisen, daß die Änderung des Stadtnamens
bei der Besitznahme durch die Samier erfolgt ist, wie Herodot richtig angibt
(VII 164), während nach Thukydides die Sache erst nach der Vertreibung der
Samier erfolgt wäre. Ich hebe das hervor zu Nutz und Frommen derer, die
jedes Wort des Thukydides als Orakel betrachten. Über Anaxilaos' Geschlecht
oben I 2 S. 266.
70 II. Abschnitt. — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
Hippokrates, der um den Anfang des V. Jahrhunderts seinem
Bruder Kleandros in der Tyrannis über Gela gefolgt war.
Er unterwarf die südlichen Stämme der Sikeler und die
chalkidischen Kolonien Naxos, Kallipolis und Leontinoi.
In einer großen Schlacht am Flusse Eloros besiegte er die
Syrakusier und nötigte sie zur Abtretung von Kamarina,
das jetzt als Kolonie von Gela neu organisiert wurde. Dieser
Schlag hatte zur Folge, daß die Oligarchie der Grundbesitzer
(Gamoren) in Syrakus durch einen Aufstand des Demos und
der leibeigenen sikelischen Bauern, der sog. Kyllyrier, ge-
stürzt wurde; die Gamoren suchten Zuflucht in der syra-
kusischen Kolonie Kasmenae ^.
Hippokrates war inzwischen auf einem Feldzug gegen
die Sikelerstadt Hybla gefallen; die Tyrannis ging über auf
seinen Reiterobersten Gelon, des Deinomenes Sohn, aus
einem vornehmen geloischen Hause, einen Mann von hervor-
ragenden militärischen und politischen Fähigkeiten (491).
Der neue Fürst nahm die Pläne seines Vorgängers gegen-
Syrakus wieder auf; und bei der Anarchie, die jetzt in dieser
Stadt herrschte, hatte er leichtes Spiel. Der Demos öffnete
ihm die Tore, und Gelon schlug nun in Syrakus seine Residenz
auf (485). Die Gamoren wurden jetzt zurückgeführt, aber
die alten Verhältnisse nicht wieder hergestellt, vielmehr
behielten die Kyllyrier ihre Freiheit. Ähnliche Zustände
wie in Syrakus herrschten in dem nahen Megara; auch hier
hatten der Demos und die Leibeigenen die Oligarchie der
Gamoren gestürzt, ihre Güter eingezogen, und selbst die
Leitung des Staates in die Hand genommen. So konnte Gelon
ohne Schwierigkeit auch diese Stadt unterwerfen; sie wurde
zerstört, die Gamoren erhielten das syrakusische Bürgerrecht,
die früheren Leibeigenen sollen in die Sklaverei verkauft
worden sein. Ein gleiches Schicksal erlitt die chalkidische
Kolonie Euboea. Auch die Bürgerschaft von Kamarina und
^ Herod. VII 1B4 — 155. Über die Schlacht am Eloros auch Pindar Ncm.
IX 40 mit den Scholien. Über Kamarina auch Thuk. VI 5, 3, Phihst. fr. 17.
Über die Kyllyrier oben IIS. 305 Anm. 3. Über die Chronologie unten 2. Abt.
§ 60 ff.
Gelon. — Theron. — Krieg gegen Karthago. 71
die meisten Bürger von Gela wurden in Syrakus angesiedelt,
das damit zur größten Stadt des Westens, ja der hellenischen
Welt überhaupt wurde ^.
In ähnlicher Weise dehnte um dieselbe Zeit Theron,
der Tyrann von Akragas (etwa seit 488 ^) seine Macht über
die Nachbarstädte aus. Selbst Terillos, der Herrscher von
Himera, wurde vertrieben und diese Gemeinde mit Akragas ver-
einigt, so daß sich Therons Reich jetzt quer durch die Mitte
der Insel vom Libyschen bis zum Tyrrhenischen Meere er-
streckte ^. Zu seinem mächtigen Nachbar im Osten trat er
in die engsten Beziehungen; er gab Gelon seine Tochter Dama-
reta zur Frau und verband sich selbst mit einer Nichte Gelons,
der Tochter von dessen jüngerem Bruder Polyzalos *.
Die Einheitsbewegung der sicilischen Griechen konnte
Karthago nicht gleichgültig lassen; hatte man doch erst
vor wenigen Jahren den Angriff des Dorieus abzuwehren
gehabt (oben IIS. 383). Man glaubte also der Gefahr eines
neuen Angriffs zuvorkommen zu müssen, und als Theron
den Tyrannen von Himera, Terillos vertrieben hatte, und
dieser sich nach Karthago um Hilfe wandte, beschloß man
den Krieg. Ein starkes Heer wurde bei Panormos ans Land
gesetzt: karthagische Bürger, konskribierte libysche Unter-
tanen, ligurische und iberische Söldner; den Befehl führte
der König Hamilkar. Anaxilaos von Rhegion, der Schwieger-
1 Herod. VII 155—6, Aristot. Polit. V 1302 b. Über die Revolution in
Megara haben wir die Angaben des zeitgenössischen Dichters Theognis, der
hier zu Hause war und an den Parteikämpfen tätigen Anteil genommen hat
(oben I 2 S. 366 ff.), besonders 63—60, vgl. 1109-1114, 833—836, 1197—1202.
So wird die Behandlung der Stadt durch Gelon verständlich, während nach
Herodots Erzählung Gelons Verhalten vÖlHg unbegreiflich ist. Eine von Herodot
abweichende Version hat Polyaen. I 27, 3; es gab eben über diese Ereignisse,
von Theognis abgesehen, keine zuverlässige Überlieferung, und Herodot hat
die Haltung der Parteien in Syrakus gegenüber Gelon einfach auf die Parteien
in Megara übertragen. — Die syrakusischen Kyllyrier werden seit Gelon nicht
mehr erwähnt; da sie sich ihm freiwillig unterworfen hatten, so ist es klar, daß
er sie nicht wieder in die Knechtschaft zurückstoßen konnte.
" Diod. XI 53, s. unten 2. Abt. § 63.
3 Herod. VII 165.
* Timaeos fr. 86 und 90.
72 II. Abschnitt, — Der Sieg über die Perser und Phoeniker.
söhn des Terillos, schloß Bündnis mit den Barbaren; und
auch Selinus, das sich durch die Fortschritte Therons bedroht
sah, trat der Koalition bei. So ergriff Hamilkar die Offensive
und begann die Belagerung von Himera.
Auf der anderen Seite zog Gelon mit ganzer Macht seinem
Schwiegervater zu Hilfe. Unter den Mauern von Himera
kam es zur Schlacht, und die Karthager wurden bis zur Ver-
nichtung geschlagen (um 480) ^. Die Freiheit der West-
hellenen war gerettet; nicht mit Unrecht hat man diesen Sieg
dem Tage von Salamis an die Seite gestellt ^. Den Krieg
weiter fortzusetzen lag nicht in Gelons Interesse, da eventuelle
Eroberungen im karthagischen Sicilien doch nur Theron
zugute kommen konnten; auch mußte es gegenüber der
Invasion Griechenlands durch die Perser geboten scheinen,
den Konflikt mit Karthago möglichst schnell zu beendigen.
So gewährte Gelon den Besiegten den Frieden auf . Grund
des gegenwärtigen Besitzstandes, gegen eine Entschädigung
von angebhch 2000 Talenten. Auch Anaxilaos und die Seli-
nuntier beeilten sich, mit dem Sieger ihren Frieden zu machen;
sie erhielten ihn gegen Abschluß eines Bündnisses, das sie
zur Heeresfolge verpflichtete. Das ganze hellenische Sicilien
war damit unter Gelons Führung vereinigt ^.
Gelon überlebte seinen großen Sieg nur um wenige Jahre.
Als er 478 mit Hinterlassung eines unmündigen Sohnes starb,
1 Herod. VII 165—7, Diod. XI 1. 20—25 (nach Timaeos), Polyaen. I
27, 2; 28. Einen brauchbaren Schlachtbericht besitzen wir nicht. Über Selinus
Diod. XI 21, 4, XIII 55, 1.
^ Schon Herodot (VII 166) berichtet nach sikeliotischer Quelle, es seien
beide Siege an demselben Tage erfochten worden. Im IV. Jahrhundert hat
man auch einen inneren Zusammenhang zwischen den Ereignissen in Sicilien
und Hellas konstruiert; die Karthager sollten auf Befehl des Xerxes ihren
Zug nach Sicilien unternommen haben. Herodot weiß davon noch nichts, viel-
mehr war nach der Version, die er in seiner Erzählung bevorzugt, der kartha-
gische Angriff im Herbst 481 bereits zurückgeschlagen (VII 158). Auch ist
das karthagische Unternehmen durch die politischen Verhältnisse Siciliens
vollständig motiviert.
® Diod. XI 26. Inschriften des in Delphi zum Gedächtnis des Sieges
errichteten Denkmals Dittenb. Syll.^ 910 und Simonides fr. 141.
Schlacht bei Himera. — Hieron. 73
ging die Regierung auf seinen Bruder Hieron über, der bisher
in Gela geherrscht hatte ^. Unter ihm erreichte die syra-
kusische Tyrannis den höchsten Glanz. Die reiche Beute
von Himera bot die Mittel zu prächtigen Bauten und glänzen«
den Festen. Die ersten Dichter der Nation, Simonides, Pindar,
Bakchylides, Aeschylos, Xenophanes, Epicharmos, wurden
an den Hof gezogen und wetteiferten in der Verherrlichung
des Herrscherhauses. Auch nach außen hin wußte Hieron
sein Machtgebiet auszudehnen. Er schützte die sybaritischen
Kolonien Skidros und Laos gegen die Angriffe Krotons (um
476) 2, ebenso die italischen Lokrer gegen Anaxilaos von
Rhegion ^. Und als Kyme nach dem Sturze seines Tyrannen
Aristodemos auf dem Punkte stand, der etruskischen Über-
macht zu erliegen, trat Hieron für die bedrängten Stammes-
genossen ein; seine Flotte brachte der etruskischen Seemacht
auf der Höhe von Kyme eine Niederlage bei, von der sie sich
nie mehr erholt hat (474) ^. Das Griechentum am Golf von
Neapel war noch einmal gerettet. Zur Sicherung des Er-
1 Diod. XI 38. Pindar nennt Hieron ßamXeu«; (Ol. I 35, Pyth. HI 124),
ebenso seinen Sohn Deinomenes (Pyth. I 116); an anderer Stelle heißt Hieron
einfach ZupaKoaiuuv äpxöc; (Pyth. I 141). Niemand wird bei einem Dichter eine
exakte staatsrechtliche Terminologie suchen. Nach Pindars Vorgang gibt
dann auch Diodor Gelon (XI 26, 6, XI 38, 2. 7), Hieron (XI 66, 1. 4) und selbst
Thrasybulos (XI 67, 1) den Königstitel. Aber daß ein griechischer Tyrann
im V. Jahrhundert diesen Titel nicht geführt haben kann, ist klar, auch haben
ja die Deinomeniden ihre Münzen im Namen des syrakusischen Volkes ge-
schlagen, statt, wie die makedonischen und kyprischen Könige, im eigenen
Namen, und ebenso fehlt der Königstitel auf dem delphischen Weihgeschenk
Gelons (Dittenb. Syll.^ 910). Dementsprechend heißt Gelon denn auch bei
Diod. XIII 94, 5 und Polyaen. 1 27, 1 OTparriYÖ? auTOKpctxiup. Da nun das höch-
ste Amt in einer Republik nicht einem unmündigen Knaben übertragen werden
kann, so konnte Gelons Sohn dem Vater nicht nachfolgen, und der älteste Bruder
trat an die Spitze des Staates. Das ist ein weiterer Beweis dafür, daß Gelon
nicht König gewesen ist, und Hieron ebensowenig, da auch diesem nicht sein
Sohn, sondern sein Bruder Thrasybulos gefolgt ist. Vgl. über die Frage Free-
man, Hist. of Sic. II 499 ff., 536 ff., Wilamowitz, Bcrl. S.-B. 1901 S. 1275 ff.
'' Diod. XI 48, Tim. fr. 90.
ä Pind. Pyth. II 35 mit den SchoUen.
* Pind. Pyth. I 140, Diod. XI 51, IGA. 510.
74 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
rungenen wurde auf Ischia eine syrakusische Kolonie an-
gelegt \
So war durch die Ereignisse von kaum einem Jahr-
zehnt die politische Lage am Mittelmeer völlig verändert
worden. Der Traum der persischen Weltherrschaft war dahin,
und Karthago war in seine Schranken zurückgewiesen. Kein
äußerer Feind bedrohte mehr die Unabhängigkeit Griechen-
lands oder wagte es, den Griechen die Herrschaft des Meeres
streitig zu machen. Neben dem peloponnesischen Bunde
Spartas hatten sich aus der wüsten Masse griechischer Klein-
staaten zwei neue Großmächte erhoben, im Osten der Seebund
Athens, im Westen die syrakusische Militärmonarchie. Das
Schicksal der Welt hing nun zunächst von der Frage ab, wie
das Verhältnis zwischen diesen Mächten sich gestalten würde.
III. Abschnitt.
Der wirtschaftliche Aufschwung nach den
Perserkriegen.
Es ist gesagt worden, die ganze Kulturentwicklung
würde einen anderen Verlauf genommen haben, wenn die
Perser bei Salamis Sieger geblieben wären; so daß wir in
letzter Linie die Güter unserer heutigen Zivilisation Themi-
stokles und seinem Flottengesetz zu verdanken hätten. Das
ist recht oberflächlich geurteilt; von solchen Zufälligkeiten
hängt das Geschick großer Völker nicht ab. Wäre es anders,
so gebührte das Verdienst Hellas aus der Persernot gerettet
zu haben mindestens ebenso sehr als Themistokles jenem
Seesturm, der einen Teil der Flotte des Xerxes an der Küste
von Magnesia zerschmetterte. Vielmehr sind die Griechen
in dem Kampf gegen das Perserreich Sieger geblieben, weil
sie ihren Feinden sittlich und intellektuell überlegen waren.
Wenn es aber auch Xerxes gelungen wäre, die griechische
Halbinsel zu erobern, so würde doch die hellenische Kultur
1 Strab. V S. 248.
Verschiebung des wirtschaftlichen Zentrums. 75
dadurch keineswegs zugrunde gegangen sein, denn diese
Kultur ruhte damals noch hauptsächlich auf lonien, das
ja schon seit mehr als einem halben Jahrhundert unter per-
sischer Herrschaft stand. Auch kann gar kein Zweifel sein,
daß Griechenland sehr bald seine Unabhängigkeit wieder
erlangt haben würde. Hat doch sogar Aegypten sie wieder
zu gewinnen vermocht.
Aber die Siege über die Barbaren haben allerdings die
Wirkung gehabt, die Entwicklung der griechischen Kultur
mächtig zu beschleunigen. Nicht daß der Krieg selbst diese
Blüte herbeigeführt hätte; der Krieg schafft nicht, er zerstört
nur Werte, und die Beute, die man dem Feinde abnahm,
konnte nicht in Betracht kommen gegenüber den Verlusten,
welche der Wohlstand von Hellas durch die persische Invasion
erhtten hatte.. Aber der Krieg hatte die eine Hälfte der griechi-
schen Welt von dem Drucke der Fremdherrschaft befreit,
der anderen ihre Unabhängigkeit nach außen gesichert; er
hatte den Hellenen das stolze Bewußtsein gegeben, das erste
Volk der Erde zu sein. Der Name Barbaren, der ursprünglich
nur die ,, Welschen" bezeichnet hatte, deren Sprache man
nicht verstand, begann jetzt die Bedeutung anzunehmen,
die ihm seitdem geblieben ist ^. Die Tage von Salamis und Himera
waren auch für den phoenikischen Handel vernichtende
Schläge; Griechenland nahm seitdem durch zwei Jahrhunderte
auf dem Meere die Stellung ein, die England so lange behauptet
hat und zum großen Teil noch heute behauptet. Und nicht
zuletzt unter den Ursachen des materiellen Aufschwungs
steht die Entfesselung aller geistigen Kräfte des' Volkes, wie
sie die demokratische Bewegung herbeiführte, die nach den
Siegen über die Perser fast alle griechischen Staaten ergriff.
Allerdings nahmen nicht alle griechischen Landschaften
an diesem Aufschwünge in gleichem Maße Anteil. Hatten
bisher die asiatischen Kolonien an Bildung und Reichtum,
an industrieller und kommerzieller Bedeutung in erster Reihe
1 Vgl. z. B. Euripid. Iph. Aul. 1400 f., Telephos fr. 717, Thrasymachos
fr. 2 Diels.
76 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
gestanden, so ging jetzt mit der politischen auch die wirt-
schaftHche Führung an das griechische Mutterland über.
Schon die erste persische Eroberung hatte lonien tiefe Wunden
geschlagen; das einst so blühende Phokaea war seitdem nur
noch der Schatten seiner alten Bedeutung. Noch weit ver-
hängnisvoller wirkte der Aufstand unter Dareios; Milet, bis
dahin die erste Handels- und Industriestadt der griechischen
Welt, hat sich von der Eroberung im Jahre 494 nie mehr
erholt, und auch die übrigen Städte hatten schwer unter
der Hand des Siegers zu leiden. Die Schlacht bei Mykale
und die ihr folgenden Kämpfe brachten dann wohl die Be-
freiung von der Fremdherrschaft, aber sie stellten zugleich
die Küste in politischen Gegensatz zu ihrem Hinterlande.
So lange der Perserkrieg währte, bis zum sogenannten ,,kimo-
nischen" Frieden, muß der Verkehr zwischen den ionischen
Häfen und dem Innern Kleinasiens zum großen Teil unter-
brochen gewesen sein; und auch später ließ sich bei den ge-
spannten Beziehungen Athens zu den Satrapen von Sardes
das alte Verhältnis nicht wieder herstellen. Den ionischen
Städten war damit der Lebensnerv unterbunden; und es
sind offenbar diese materiellen Interessen gewesen, die es
bewirkt haben, daß die asiatischen Griechen schließlich ohne
allzu großes Widerstreben unter die persische Herrschaft
zurückgekehrt sind.
Während so der persische Orient dem griechischen Handel
zum Teil verschlossen wurde, waren die Kolonien im Westen
mächtig emporgeblüht, begünstigt durch den unerschöpf-
lichen Reichtum ihres jungfräulichen Bodens. Der Handel
dorthin gewann damit eine immer steigende Wichtigkeit,
um so mehr, als gleichzeitig auch die Völker Italiens in der
Kultur fortschritten, und dieses infolgedessen zu einem wich-
tigen Absatzmarkt für die hellenischen Industrie- und Boden -
Produkte wurde ^. Für den Verkehr mit dem Westen aber
hatten die Häfen des griechischen Mutterlandes vor lonien
^ Den Beweis geben die italischen Nekropolen des V. Jahrhunderts.
Leider fehlt uns noch immer eine zusammenfassende Behandlung der dort
gemachten Funde.
Der Peiraeeus. 77
vermöge ihrer Lage einen durch nichts auszugleichenden
Vorsprung. Vor allem Korinth war die natürliche Vermittlerin
dieses Handels, nicht allein als der einzige Hafen des östlichen
Griechenlands, von dem man nach Sicilien gelangen konnte,
ohne die gefährliche Fahrt um das Vorgebirge Malea zu machen^
sondern ebensosehr, weil die erste Stadt Siciliens eine korin-
thische Kolonie war, und wegen der nahen Stammverwandt-
schaft der Korinthier mit der Hauptmasse der Griechen des
Westens. Aber auch die Häfen am Saronischen Golfe lagen
Sicilien immer noch um zwei oder drei Tagfahrten näher als
Milet oder Mytilene, während sie für die Fahrt nach Aegypten
oder nach dem Pontos ebenso günstig gelegen waren als die
ionischen Plätze.
Dank dieser Vorteile wurden Korinth und Aegina um
die Zeit der Perserkriege zu den ersten Handelsstädten der
griechischen Welt ^. Bald aber erwuchs ihnen selbst ein
gefährlicher Konkurrent in dem von Themistokles angelegten
neuen Seehafen Athens, dem Peiraeeus -. Die Werften und
Arsenale für die erste Kriegsflotte Griechenlands, die hier
angelegt wurden, bewirkten allmählich das Zusammenströmen
einer zahlreichen Bevölkerung; bald zog sich auch der Handel
von der schutzlosen Rhede Phaleron nach dem trefflichen
Hafen, und die Machtstellung Athens an der Spitze des See-
bundes tat das übrige ^. Die Konkurrenz Aeginas * wurde
durch die Unterwerfung der Insel um 457 zum großen Teile
^ Von den Reichtümern Aeginas in dieser Zeit erzählt Herodot IX 80
mit naiver Motivierung. Pind. Paean VI 123 övu]|naK\OTa y' Sveoai Auu-
piei |u[e]b^oi0a [ttöIvtiij vöocq [li] t^xoc, 'EXXaviou cpaevvöv äörpov. Als
athenischer Bundesstaat (seit 457) hat die Insel einen Tribut von 30 Talenten
gezahlt, soviel wie sonst bis zur Tributsteigerung von 425/4 nur Thasos mit
seinen reichen Goldbergwerken zu entrichten hatte. Aegina mag immerhin
hoch eingeschätzt worden sein, aber es war doch imstande, die Last zu tragen.
* Wachsmuth, Ein antiker Seeplatz, in Conrads Jahrbüchern für National-
ökonomie, XIII, 1886, S. 83 ff., Stadt Athen II 1—176. Judeich, Topographie
von Athen (München 1905) S. 375 ff.
^ Vgl. [Xenoph. ] Staat der Athen. 1 17, mit meinen Bemerkungen Rh. Mus,
XXXIX, 1884, S. 47 f.
* Perikles nannte die Insel Xr^nv Toö TTeipaiujq (Aristot. Rhet, 10 S. 1411^
Plut. Per. 8).
78 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
gebrochen, und durch die Vertreibung der aeginetischen
Bürgerschaft im Jahre 431 gänzHch zerstört. So war der
Peiraeeus bereits zu Anfang des peloponnesischen Krieges,
was er seitdem bis auf die makedonischen Zeiten geblieben
ist, der erste Handelsplatz der griechischen Welt, wo Schiffe
aus dem Pontos, aus Phoenikien, Aegypten, Kyrene, Sicilien
und Italien ihre Ladungen löschten, und alles zu haben war,
was der Osten und Westen hervorbrachte ^. Noch zu Beginn
des IV. Jahrhunderts, als das athenische Reich in Trümmern
lag, und Athen aus tausend Wunden blutete, die der lange
Krieg und die Revolution ihm geschlagen hatten, betrug der
Wert der jährlichen Ein- und Ausfuhr über 2000 Talente
(etwa 11 Millionen Mark) ^; vor dem Kriege ist er ohne Zweifel
beträchtlich höher gewesen. Was diese Summe nach den
Verhältnissen der damahgen Zeit bedeutete, können wir
daraus entnehmen, daß die Handelsbewegung aller übrigen
Häfen des athenischen Reiches um 414 etwa 30 — 40 000
Talente betragen hat ^. Der neuen Stadt wurde durch Hippo-
damos von Milet, den ersten Architekten der Zeit, der Plan
vorgezeichnet; kein größerer Gegensatz, als die breiten, sich
unter rechtem Winkel schneidenden Straßen des Peiraeeus
und das Gewirr der engen Gassen des alten Athen.
^ [Xen.] Staat der Athen. II 7, Hermippos fr. 63 Kock, vgl. Wilamowitz,
Kydathen S. 76 ff., H. Droysen, Athen und der Westen, Berlin 1882.
2 Der Wertzoll von 2%, der von der Ein- und Ausfuhr im Peiraeeus er-
hoben wurde, ergab gleich nach 400 einen Reinertrag von 30 — 36 tal. (Andok.
vdMyst. 133 f.), entsprechend einem Wert der verzollten Waren von 1500 bis
1800 tal. Rechnen wir die Erhebungskosten, Defraudationen, zollfreien Ein-
gänge u. dgl. dazu, so ergibt sich mindestens die obige Summe. So schon Böckh,
Staatsh. I ^ 430. Vgl. meine Bemerkungen in Conrads Jahrb. f. Nat.-Ökon. und
Statistik, 3. Folge XVIII, 1899, S. 626 ff. und in J. Wolfs Zeitschr. f. Social-
wissenschaft V, 1902, S. 99 ff. Wenn der Getreidezoll schon damals gesondert
verpachtet wurde (vgl. [Demosth. ] gNeaera 27 S. 1353) würde die Handels-
bewegung noch um mehrere hundert Talente höher gewesen sein.
^ Die Athener beschlossen damals die Ersetzung der Tribute durch einen
Wertzoll von 5% auf die Ein- und Ausfuhr und erwarteten davon eine Steigerung
ihrer Einnahmen (Thuk. VII 28, 4). Die Tribute ergaben in dieser Zeit 1000 tal.,
wobei zu berücksichtigen ist, daß Chios, Lesbos, Samos und die meisten Kleruchien
überhaupt keinen Tribut zahlten.
Industrie und Sklavenwirtschaft. — Metoeken. 79
Und mit dem Handel wanderte auch die Industrie aus
lonien nach dem Mutterlande hinüber, Wohl hatte es hier
auch früher an Gewerbtätigkeit nicht gefehlt, und die Erzeug-
nisse derselben sind zum Teil schon im VII., in größerer Menge
im VI. Jahrhundert ins Ausland gegangen; aber eine größere
Industrie hat sich auf der Westseite des Aegaeischen Meeres
doch erst seit den Perserkriegen entwickelt. Infolgedessen
begann man jetzt Massen unfreier Arbeiter nach den Städten
am Saronischen Golf einzuführen. Um die Mitte des V. Jahr-
hunderts soll Korinth 60 000 Sklaven gezählt haben, während
in Attika beim Ausbruch des peloponnesischen Krieges an
70 — 80 000 Sklaven vorhanden sein mochten, so daß in dem
ganzen Industriebezirk des europäischen Griechenlands damals
gegen 200 000 Sklaven beschäftigt waren, und die unfreie
Bevölkerung der freien an Zahl annähernd gleichkam, in ein-
zelnen Städten, wie in Korinth und Aegina, sie überwog ^.
In den übrigen Teilen der griechischen Halbinsel dagegen,
die bei Ackerbau, Viehzucht und Kleingewerbe verharrten,
gab es in dieser Zeit noch so gut wie gar keine Sklaven 2,
außer zur persönlichen Bedienung der Reichen; hier herrschte
nach wie vor die freie, oder, wie in Lakonien und Thessalien,
die halbfreie Arbeit.
Auch die freie Bevölkerung aus den umliegenden Land-
schaften, ja zum Teil selbst aus den Gebieten jenseits des
Meeres strömte nach den Mittelpunkten der Industrie und
des Handels zusammen; und die neuen Ankömmlinge wurden
mit offenen Armen aufgenommen. Namentlich Athen war.
^ Näheres in meiner Bevölkerung der griechisch-römischen Welt (Leipzig
1886) S. 84 ff., wo ich gezeigt habe, daß die ins ungeheure übertriebenen Sklaven-
zahlen bei Athenaeos VI 272 b— d (400 000 Sklaven für Athen, 460 000 für
Korinth, 470 000 für Aegina nur dadurch entstanden sind, daß dieser Schrift-
steller oder seine Quelle das Zeichen M (luupidi;) in der Bedeutung 40 nahm
und die so gelesenen Zahlen M, MF, MZ als Myriaden interpretierte. Doch
ist die Zahl für Aegina, auch so reduziert, ohne Zweifel noch weit übertrieben.
Über Athen unten S. 84 Anm. 1.
- Thuk. I 141 nennt die Peloponnesier auTOupYOi gegenüber den sklaven-
haltenden Athenern. Wegen Phokis und Lokris vgl. Timaeos fr. 67, wegen
Boeotien meine Bemerkungen im Hermes XXIV, 1889, S. 479.
80 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
getreu den Traditionen der kleisthenischen Zeit, in den ersten
Jahrzehnten nach den Perserkriegen sehr liberal in der Er-
teilung seines Bürgerrechts ^, bis Perikles im Jahr 451/0 dem
Drängen der Menge nachgab, welche die mit dem attischen
Bürgerrecht verbundenen materiellen Vorteile allein genießen
wollte, und die Bedingungen für die Aufnahme Fremder
verschärfte ^. Aber auch wer als Bürger nicht zugelassen
war, durfte doch ganz ebenso frei wie die Bürger selbst seinem
Erwerbe nachgehen, und war in derselben Weise durch die
Gesetze geschützt; das Wort Homers von dem ,, rechtlosen
Einsassen" hatte in dieser Zeit seine Geltung verloren. Nur
von der Erwerbung von Grundbesitz waren die Nichtbürger
ausgeschlossen, sofern ihnen nicht durch spezielles Privileg
auch dieses Recht gewährt worden war; da sie indes in ihrer
großen Mehrzahl dem Stand der Gewerbetreibenden ange-
hörten, blieb diese Bestimmung praktisch von nur geringer
Bedeutung. So trat in den größeren Städten neben die Bürger-
schaft eine zahlreiche Klasse von ansässigen Fremden, so-
genannten ,,Metoeken", die sich zum Beispiel in Athen bei
Ausbruch des peloponnesischen Krieges auf wenigstens 30 000
Köpfe behef ^. Es war das allerdings zum großen Teil eine
Folge der Stellung Athens an der Spitze des Seebundes; in
Korinth oder Chios waren die Metoeken ohne Zweifel ver-
hältnismäßig weniger zahlreich, und in dem konservativen
Sparta vollends suchte die Regierung durch Ausweisungen
(HeveXacriai) den Fremdenzufiuß nach Möglichkeit zu be-
schränken *. Daß solche Maßregeln aber auch hier notwendig
wurden, bleibt trotzdem nicht weniger charakteristisch.
^ Isokr. V. Frieden 88.
2 Aristot. An. 26, 4, vgl. Philochoros fr. 90, Plut. Per. 37.
^ Es dienten allein 3000 Metoeken als Schwerbewaffnete (Thuk. II 31),
die große Mehrzahl aber wird den Hoplitenzensus nicht erreicht haben. Dazu
die Weiber und Kinder. Daß die in Attika domizilierten Metoeken zum weitaus
überwiegenden Teil ihren Wohnsitz in der Stadt und deren Vororten hatten,
liegt in der Natur der Sache, und wird durch die Angaben der Inschriften be-
stätigt.
* Müller Dorier II " S. 3, vgl. oben I 1 S. 282.
Groflstädte. 81
So entwickelten sich jetzt städtische Mittelpunkte, die
alles weit hinter sich ließen, was das VI. Jahrhundert gesehen
hatte. Athen kann beim Sturz der Tyrannenherrschaft ein-
schließlich seiner Vororte und der Häfen kaum über 25 000
Einwohner gezählt haben (oben IIS. 280); schon 30 Jahre
später war der Stadt ihr alter Mauerring zu eng geworden,
so daß es nötig wurde, die Befestigungslinie zu erweitern ^;
nach noch einem halben Jahrhundert, beim Ausbruch des
peloponnesischen Krieges, war die Bevölkerung auf etwa
100 000 gestiegen. Mit Athen wetteiferte Syrakus, die Haupt-
stadt Siciliens. Die kleine Insel Ortygia, auf der einst die
Korinthier sich angesiedelt hatten, genügte schon gegen Ende
des VI. Jahrhunderts der wachsenden Bevölkerung nicht
mehr, und es bildete sich auf dem gegenüberliegenden Ufer
des sicihschen Festlandes eine Vorstadt, die mit der Insel
durch einen seinerzeit viel bewunderten Damm in feste Ver-
bindung gebracht wurde ^. Unter der Herrschaft Gelons
ward dann diese Vorstadt — die Achradina, wie sie genannt
wurde — zum Mittelpunkte von Syrakus, an den dann weiter,
nach dem Demetertempel im Westen hin, die neue Vorstadt
Temenites sich ansetzte. Syrakus war in dieser Zeit
ohne Frage die größte Stadt der ganzen griechischen Welt
überhaupt ^. Allerdings war dieses Wachstum zum Teil durch
künstliche Mittel hervorgerufen, wie die Verpflanzung ganzer
Bürgerschaften und die Ansiedlung von Tausenden aus-
gedienter Söldner; aber Syrakus bheb doch auch nach dem
Sturze der Deinomeniden und dem Zerfall ihres Reiches die
Metropole des Westens, und zur Zeit des peloponnesischen
Krieges stand es an Bevölkerung Athen kaum nach *. Auch
sonst fehlte es in Sicilien nicht an bedeutenden Städten, wie
^ Thuk. I 93, 2. Kurz vorher (486) spricht Pindar von den (ueYaXoiröXie?^
Äeävai (Py/Ä. VII 1).
'^ Ibykos fr. 22. Lupus, Die Stadt Syrakus im Altertum, Übersetzung
der Cavallari-Holmschen Topografia archeologica di Siracusa, Straßburg 1887.
^ Herod. VII 156, Find. Pyth. II 1 ,ueYa\OTTÖ\i€? u) ZupdKOöar, er gibt
dies Beiwort sonst nur Athen.
* Thuk. VII 28, 3.
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 6
82 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Gela, und namentlich Akragas, In Italien war das reiche
und blühende Sybaris gegen Ende des VI. Jahrhunderts
von Kroton zerstört worden (oben IIS. 383) ; seitdem nahm
dieses dort den ersten Rang ein. Im griechischen Mutterlande
stand Korinth Athen zunächst; es mochte um 450 etwa 60 000
Einwohner zählen. Dann folgten Sparta, Argos, Theben,
Aegina, Sikyon, Megara, Kerkyra und der Haupthafen von
Thessalien, Pagasae, die wir uns als Städte von etwa 20 bis
30 000 Einwohnern zu denken haben ^. Die altberühmten
Handelsplätze am Euripos, Eretria und Chalkis, kamen jetzt
in Verfall, zum Teil durch die politischen Verhältnisse, zum
Teil infolge des Aufblühens von Athen. Dagegen wurde im
Westen des Peloponnes, wo städtische Mittelpunkte bisher
so gut wie ganz gefehlt hatten, bald nach den Perserkriegen
die Stadt Elis gegründet ^.
Über die relative Bedeutung der Städte des attischen
Reiches gibt uns die Höhe der Tribute Auskunft, die sie an
den Vorort bezahlt haben. Denn es liegt in der Natur der
Sache, daß die finanzielle Leistungsfähigkeit für die Nor-
mierung dieser Ansätze in erster Linie maßgebend war, wenn
auch in vielen Fällen daneben noch andere Rücksichten in
Betracht kamen. Jedenfalls bilden die Tributlisten für die
Erkenntnis der wirtschaftlichen Zustände Griechenlands im
V, Jahrhundert eine Quelle von ganz hervorragender Wichtig-
keit, und so möge die nebenstehende Übersicht hier eine
Stelle finden ^
^ Vgl. meine Bevölkerung der griechisch-römischen Welt, Leipzig 1886.
Sparta und Argos können möglicherweise etwas größer gewesen sein, von
dea übrigen mag die eine oder andere die Zahl von 20 000 Einwohnern nicht
ganz erreicht haben.
2 Diod. XI 54, 1; Strab. VIII 336.
^ Beste Zusammenstellung von Pedroli, / tributi degli alleati d' Atene,
in meinen Siudi di Storia Antica I (Rom 1891). Das seitdem hinzugetretene
Material bei Cavaignac, fyudes sur l'hist. financiere d' Athene s au V^ siede (Bibl.
tcoles frang. 100) Paris 1908, und Wilhelm, Anz. Wien. Akad., phil.-hist. Kl.
1909, Nr. X S. 41 ff. Die Zahlen beziehen sich auf die Schätzungsperiode von
446/5 — 440/39, für die allein das Material annähernd vollständig vorliegt. Bei
Chalkis, Methone und Termera, deren Quoten fehlen, sind die Tributsummen
Mittelstädte. — Städte des athenischen Reiches.
83
Tribute
Gemeinden
30 1. Aegina, Thasos.
Ifii/s t. Faros.
15 t. Abdera, Byzantion.
12 1. Lampsakos.
10 t. Aenos, Chalkis(?), Eretria(?), Perinthos.
9 t. Kalchedon, Kyme, Kyzikos.
7 1. Erythrae.
GYs t. Naxos.
6 1. Andros, Ephesos, lalysos, Kamiros, Lindos, Poteidaea, Samo-
thrake, Skione, Teos, Torone.
6 t. Karystos, Kos, Mende, Miletos, Selymbria, Sermylia.
4 t. Abydos, Keos.
3 t. Aenea, Akanthos, Chersonesos in Karien, Hephaesteia, Knidos,
Kythnos, Methone (?), Peparethos, Phaseiis, Prokonnesos,
Siphnos, Tenedos, Tenos.
2Vjt. Termera(?).
2 t. Arisbe, Olynthos, Phokaea, Singos, Spartolos.
P/s t. Halikarnassos.
172 1. Astypalaea, Galepsos, Kalydna, Keramos, Klazomenae, Ko-
lophon, Maroneia, Myrina auf Lemnos.
Samos, Chios und Lesbos waren tributfrei; sie würden sonst am Anfang
der Liste oder gleich hinter Aegina und Thasos ihre Stelle haben. Alle übrigen
Städte haben 1 1. oder weniger gezahlt.
Auf den ersten Blick tritt in dieser Tabelle die Bedeutung
der Städte an der Wasserstraße des Hellespontos und der
Propontis hervor; ebenso die Wichtigkeit der Kolonien an
der Südküste Thrakiens. Die Kykladeninsel Faros muß im
V. Jahrhundert ein Handelsplatz von ähnlicher Bedeutung
gewesen sein, wie Delos in der Periode nach Alexander, und
in unserer Zeit Syra ^. Dagegen treten die Städte des ionischen
aus anderen Schätzungsperioden eingesetzt. Eretria hat später, als der Tribut
von Chalkis auf 3 tal. herabgesetzt war, denselben Tribut wie dieses gezahlt
(Köhler, Hermes XXXI, 1896, S. 142) und ist darum auch hier in die gleiche
Kategorie mit Chalkis gestellt worden. Die Tribute von Byzantion und Tenedos
sind oben auf ganze Talente abgerundet. Die Tributlisten sind nach allen mög-
lichen Richtungen hin verwertet worden, nur nicht für das Gebiet, in das sie
zunächst gehören, die Wirtschaftsgeschichte; vielleicht finde ich einmal Zeit,
auf diese Frage zurückzukommen.
^ Nepos Milt. 7, 2 Partim insulam opibus elatam. Die Marmorbrüche
allein erklären den hohen Tribut von Paros keineswegs.
6*
84 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Festlandes auffallend zurück, und ganz besonders bezeichnend
sind die geringen Tributsummen von Milet und Phokaea,
der beiden hervorragendsten Handelsstädte loniens im
VI. Jahrhundert.
Das rasche Wachsen der Städte, wenigstens im euro-
päischen Griechenland, hat zur Voraussetzung, daß auch
die Gesamtbevölkerung sich in dieser Periode beträchtlich
vermehrte. Allerdings, die Ausbreitung der griechischen
Rasse über die Küsten des Mittelmeeres war seit der Mitte
des VI, Jahrhunderts zum Stillstand gelangt, im Osten ge-
hemmt durch das Perserreich, im Westen durch die Macht
der Karthager. Aber es sind wahrlich nicht die Ansiedler
gewesen, an denen es gefehlt hat. Wo immer in der hellenischen
Welt sich Gelegenheit fand, eigenen Grundbesitz zu erwerben,
strömten sie zu Tausenden herbei; so bei den Gründungen
von Thurioi und Herakleia am tarantinischen Golfe, von
Aetfia und Kaiakte in Sicilien, von Amphipolis in Thrakien,
von Herakleia Trachis in Griechenland selbst. Es ist bezeich-
nend, daß die Staatswissenschaft noch des IV. Jahrhunderts,
wenn sie auf Populationsverhältnisse zu sprechen kommt, sich
nur mit der Gefahr der Übervölkerung beschäftigt; und
als endlich die persische Herrschaft zusammenbrach, hat
das westliche Asien sich mit einem dichten Netze griechischer
Kolonien bedeckt.
Ganz besonders drängte sich die Bevölkerung, wie natür-
lich, in dem Industriebezirk am Isthmos und am Saronischen
Busen zusammen. Hier lebten auf den 2500 qkm Attikas
zu Anfang des peloponnesischen Krieges über 200 OOOMenschen^
1 Nach den Angaben bei Thuk. II 13 und IV 94, 1 vgl. 90, 1 und 93, 3
über die Wehrkraft Attikas in den Jahren 431 (14 000 Reiter und Bürger-
hopliten von 20 — 60 Jahren) und 424 (Gesamtaufgebot der Bürger und Metoeken
von 20 — 50 Jahren über 20 000 Mann, davon 8000 Hopliten und Reiter), und
III 16, 1 über die Flottenrüstung im Jahr 428 kann die Gesamtzahl der er-
wachsenen Freien männlichen Geschlechts zu Anfang des peloponnesischen
Krieges auf rund 45 000, nach dem Erlöschen der Pest auf rund 35 000 ver-
anschlagt werden, darunter 431 etwa 35 000 Bürger; die freie Gesamtbevölkerung
hat demnach etwa 140 000 bzw. 110 000 Köpfe betragen. Die Sklavenzahl
wird mit Rücksicht auf Thuk. VII 27, 5 und VIII 40, 2 um 414 auf kaum mehr
Bevölkerung, 85
also etwa 80 auf einen Quadratkilometer. Dieselbe Volks -
dichtigkeit wird für die benachbarte Megaris (470 qkm) an-
zunehmen sein, ebenso in der Argolis (4200 qkm) mit ihren
zahlreichen Handels- und Industriestädten, wie Korinth,
Sikyon, Aegina, Argos selbst ^. Ähnlich, zum Teil vielleicht
auch noch größer, war die Dichtigkeit der Bevölkerung auf
einigen der bedeutenderen Inseln, wie Kerkyra, Chios und
Samos *. In den hauptsächlich ackerbautreibenden Land-
schaften dagegen mußte die Bevölkerung verhältnismäßig
viel geringer sein. So kann Boeotien auf annähernd demselben
Flächenraum wie Attika kaum über 150 000 Einwohner
gezählt haben (etwa 60 auf 1 qkm) ^, und die Bevölkerung des
ganzen Peloponnes (22 300 qkm) wird um 430 auf rund eine
Million veranschlagt werden dürfen. Thessalien mit seinen
Nebenländern mußte bei seiner großen Ausdehnung (etwa
16 000 qkm) eine starke absolute Bevölkerung zählen, ob-
gleich bei dem Fehlen bedeutenderer städtischen Mittelpunkte
und den traurigen sozialen Verhältnissen die Volksdichtigkeit
hier ohne Zweifel hinter der in Boeotien beträchtlich zurück -
als 70 000 geschätzt werden dürfen; vor der Pest wird sie nicht wesentlich höher
gewesen sein, da ja die Verluste durch Einfuhr ersetzt werden konnten, und
soweit die Industrie in Betracht kam, ohne Zweifel zum größten Teil ersetzt
worden sind. Wenn Wilamowitz (Arisiot. und Athen II 208) eine Bürgerzahl
von 60 000, Ed. Meyer (Forschungen II 179) von 65 500 annimmt, so beruht
das auf unhaltbaren Voraussetzungen, wie Klio V (1905) S. 356 ff. gezeigt ist.
1 Nach Lysias 34, 7 hatte Argos um 403 etwa 20 000, nach Xen. Hell.
V 3, 16 Phleius um 380 mehr als 5000 Bürger; alle Städte der Landschaft mit
Ausnahme von Phleius und Aegina konnten 394: 14 500 Hopliten ins Feld
stellen (Xen. Hell. IV 2, 16 f., was ungefähr richtig ist; vgl. Klio VI, 1906,
S. 52 ff.). Daraus ergibt sich eine Bürgerzahl von 60 000 und eine bürgerliche
Gesamtbevölkerung von rund 200 000 Seelen, wozu dann noch etwa die Hälfte
an Sklaven zu rechnen ist.
- Über Chios Thuk. VIII 40, über Kerkyra Partsch, Die Insel Korfu,
Ergänzungsheft 88 zuPetermanns Mitteilungen (1887), doch siehe unten 2. Abt. § 92.
3 Das Gesamtaufgebot betrug nach Thuk. IV 93 8000 Hopliten und Reiter
(Effektivstärke), nach Kratippos (Hell. Oxyrh. XI 4) 12 000 (Sollstärke), dazu,
nach Thuk. a. -i. 0. noch reichlich ebenso viele leichte Truppen. Demnach mag
sich die freie Bevölkerung auf etwa 110—120 000 belaufen haben. Vgl. auch
Xen. Denkw. III 5, 2. Die Zahl der Sklaven kann nicht sehr beträchtlich ge-
wesen sein, s. oben S. 79 Anm. 2.
86 in. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
blieb, war es doch neben Makedonien die einzige Landschaft
der griechischen Halbinsel, die Getreide auszuführen ver-
mochte. Sehr dünn bewohnt waren die Gebirgslandschaften
des griechischen Nordwestens, vom ozolischen Lokris bis
hinauf nach Obermakedonien; die Bevölkerung lebte hier
in offenen Weilern zerstreut, die durch weite Waldgebiete
voneinander getrennt waren ^. So mag denn die Bevölkerung
der ganzen griechischen Halbinsel mit den zugehörigen Inseln
in der zweiten Hälfte des V. Jahrhunderts etwa drei bis höch-
stens vier Millionen betragen haben.
Von den Kolonialländern hat Sicilien etwa den gleichen
Flächenraum (25 600 qkm) wie der Peloponnes; die Be-
völkerung mußte bei der soviel jüngeren Kultur der Insel
und dem Vorherrschen des Ackerbaues und der Viehzucht
weniger dicht sein, und wird also für das Ende des V. Jahr-
hunderts auf höchstens 800 000 Einwohner veranschlagt
werden dürfen. Doch standen nur etwa zwei Fünftel der Insel
unter griechischer Herrschaft, und von den Bewohnern werden
kaum mehr als ein Drittel griechischer Abkunft gewesen sein.
Die Gebiete der Kolonien auf dem itaHschen Festlande kamen
Sicilien an Ausdehnung und, da die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse im ganzen dieselben waren, wohl auch an Bevölkerung
annähernd gleich; aber auch hier bildeten die griechischen
Ansiedler nur eine Minderzahl. Sehr stark bevölkert waren
die hellespontischen Landschaften und lonien; doch fehlen
hier genügende Anhaltspunkte zur zifiermäßigen Bestimmung
der Volkszahl, und dasselbe gilt von den Kolonien am Pontos,
auf Kypros und in Libyen. Immerhin werden wir sagen
dürfen, daß die Bevölkerung der Kolonien, einschließlich
der eingeborenen Untertanen, im V. Jahrhundert der des
Mutterlandes etwa gleich gekommen ist, so daß die Gesamt-
bevölkerung aller griechischen Staaten in dieser Zeit etwa
7 — 8 Millionen Bewohner betragen haben mag ^.
1 Thuk. III 94.
* Näheres in meiner Bevölkerung der griechisch-römischen Welt (Leipzig
1886); ferner in J. Wolfs Zeitschr. /. Sozialwiss. II, 1899, S. 601 ff. und für
Sicilien im Arckivio Storico Sicinano, n. s. XIV, Palermo 1889.
Bevölkerung. — Getreideimport. — Landwirtschaft. 87
Schon um die Zeit der Perserkriege war Griechenland
auf den Punkt gelangt, seinen Bedarf an Nahrungsstoffen
zum Teil vom Ausland einführen zu müssen ^. Bei der steigen-
den Bevölkerung nahm dieser Import im Laufe des V. Jahr-
hunderts immer größere Verhältnisse an. Namentlich die
Industriestädte waren in jeder Weise bemüht, die Einfuhr von
Getreide zu befördern und die Preise niedrig zu halten ^.
Unter den Exportländern standen die fruchtbaren Ebenen
im Norden des Pontos, das heutige Südrußland, obenan,
weiterhin Sicilien und Aegypten. Über die Menge des ein-
geführten Getreides haben wir allerdings erst aus der Mitte
des IV. Jahrhunderts Nachricht. Damals betrug die Einfuhr
nach dem Peiraeeus jährlich etwa 800 000 Medimnen (etwa
400 000 hl oder 300 000 metrische Zentner), wovon die Hälfte
aus dem Pontos kam-^; da aber Athen vor dem peloponne-
sischen Kriege nicht weniger Einwohner hatte als in der
demosthenischen Zeit, kann der Import im V. Jahrhundert
kaum geringer gewesen sein. Freilich hatte keine zweite
griechische Stadt einen so hohen Bedarf an fremdem Getreide;
aber der Gesamtimport nach den Häfen des Aegaeischen
Meeres muß sich doch auf mehrere Millionen Medimnen be-
laufen haben *.
Die heimische Landwirtschaft hatte dieser Konkurrenz
gegenüber einen um so schwereren Stand, als sie noch mit
recht primitiven Methoden betrieben wurde. Der Pflug war
noch im wesentlichen der alte homerische, nur daß er jetzt
durchweg mit metallener Pflugschar versehen war. Ebenso
heß man nach wie vor die Körner auf der Tenne durch das
1 I-Ierod. VII 147, Theopomp. fr. 219 bei Athen. VI 232 b. Schon Solon
soll die Getreideausfuhr aus Attika verboten haben (Plut. Solon 22. 24).
'^ Boeckh, Slaatshaush. ^ S. 115 ff. Gernet, L' approvisionnement d' Athenes
en ble au V^ et IV^ siecles {Bibliolhique de laFaculie de Leiires, XXV, Milanges
d'hist. anc, Paris 1909), unkritisch.
^ Demosth. g. Leptin. 32.
* So gewährte Athen im Jahre 426 der verhältnismäßig kleinen Stadt
Methone in Pierien, die zu einem Tribut von 3 Talenten veranlagt war, das
Privileg, mehr als 4000 Medimnen Weizen (die Zahl ist unvollständig überliefert,
es können bis zu 7 000 gewesen sein) aus dem Pontos einzuführen (CIA. I 40).
88 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkrieg-en.
Vieh austreten. Auch die alte Brachwirtschaft, wobei die
Felder nur ein Jahr um das andere mit Getreide bestellt
wurden, war noch am Anfang des IV. Jahrhunderts selbst in
Attika allgemein üblich. Die Leute schüttelten mit dem Kopfe,
wenn ein intelligenter Landwirt den Versuch machte, einen
rationelleren Betrieb einzuführen ^. Immerhin wirkten die
hohen Transportkosten wie eine Art Schutzzoll, so daß der
Getreidebau trotz alledem lohnend blieb. Zu Alexanders
Zeit betrug die jährliche Produktion Attikas 400 000 Me-
dimnen (etwa 200 000 hl), fast ausschließlich Gerste, während
die fruchtbare Insel Lemnos jährlich 300 000 Medimnen
erzeugte -.
Besseren Ertrag brachten die edleren Kulturen, der
Wein- und Ölbau. Die Landschaften am Aegaeischen Meere
hatten hier noch keine Konkurrenz zu fürchten; vielmehr
bildeten das Öl Attikas, der Wein loniens und von der thraki-
schen Südküste einen bedeutenden Ausfuhrartikel. Ein
Import von lebendem Vieh über See auf weite Entfernungen
war bei dem Zustande der Schiffahrt in dieser Zeit so gut
wie ausgeschlossen, wohl aber wurden gesalzenes Fleisch,
Käse, Talg und andere animaHsche Produkte in großer Menge
aus den Kolonien eingeführt und bildeten im Mutterlande
einen wichtigen Bestandteil der Volksnahrung \
^ Lysias g. Polemos bei Suidas im. KaXd|Liri öpoOv, vgl. Xen. Oekon. 16, 10.
Noch in einem Pachtkontrakt aus Amorgos, aus dem III. Jahrhundert, wird
Brache ein um das andere Jahr vorgeschrieben (Dittenb. Sylt. * 639).
2 CIA. IV 2, 834 b. vgl, Foucart, Bull. Corr. Hell. VIII, 1884, S. 211.
In demselben Jahre, auf das sich die obigen Angaben beziehen (329/8), erzeugte
Salamis 24 525 Med., Skyros 38 400, Imbros 70 200. Wir wissen allerdings
nicht, ob es sich dabei um ein Jahr mit guter oder schlechter Ernte handelt,
doch ist es aus anderen Gründen wahrscheinlich, daß die mittlere Getreide-
produktion Attikas im V. und IV. Jahrhundert sich nicht allzuweit von dem
oben angegebenen Betrage entfernt hat (vgl. meine Bevölkerung S. 90 — 97).
Jetzt soll das Ackerland auf Lemnos 250 000 Stremmata (= 25 000 ha), also
etwa die Hälfte der Insel betragen (Conze, Reise auf den Inseln des thrakischen
Meeres, Hannover 1860, S. 106); viel ausgedehnter kann es auch im Altertum
nicht gewesen sein. ' So lange also das Brachsystem herrschte, konnte der Ertrag
in Jahren mittlerer Ernte nicht wesentlich höher sein, als oben angegeben.
^ Wiskemann, Die antike Landwirtschaft und das von Thünensche Gesetz
{Preisschriften der Jablonowskischen Gesellschaft VII), Leipzig 1859.
Landwirtschaft. — Aufhören der Naturalwirtschaft. 89
Die alte Naturalwirtschaft verschwand jetzt oder er-
hielt sich doch nur in den abgelegeneren Teilen der griechi-
schen Welt ^. In Athen sind die Sätze der solonischen Schätzung
schon früh in Geld umgerechnet worden; als Pentakosio-
medimne galt jetzt nicht mehr, wer jährlich 500 Scheffel
Gerste erntete, sondern wer ein Talent (5482 Mark) im Ver-
mögen hatte 2. Sehr charakteristisch für den Umschwung
in den wirtschaftlichen Verhältnissen ist es, daß dabei nicht
mehr ausschließlich der Grundbesitz, sondern ebenso auch
das bewegliche Vermögen berücksichtigt wurde. Dem-
entsprechend wurde die Steuer, die noch unter den Peisistra-
tiden in Natur entrichtet worden war, jetzt in Geld bezahlt;
und auch die von Aristeides geordnete Steuerverfassung
des athenischen Seebundes beruhte durchaus auf der Geld-
wirtschaft und schloß alle Naturalleistungen aus ^.
Selbst das Perserreich vermochte sich dieser Strömung
nicht zu entziehen und ist vielleicht bereits unter Kyros,
jedenfalls unter Dareios, zur Münzprägung übergegangen*,
1 S. oben I 1 S. 295.
2 Näheres in meinem Aufsatz über Das Volksvermögen von Attika im Hermes
XX, 1885, S. 245 fE. Wann diese Reform durchgeführt worden ist, wissen wir
nicht; spätestens um die Zeit der Perserkriege.
3 Reste der Naturalwirtschaft haben sich übrigens auch in Attika bis in
späte Zeiten erhalten, namentlich bei der Verwaltung des Tempelgutes. So
bezahlte der Redner Hypereides die Pacht für das rarische Feld an den eleusini-
schen Tempel in Natur mit 619 Medimnen (CIA. IV 2, 834 b II 41), ebenso
wurde die Abgabe vom Ertrag der heiligen Ölbäume in Natur entrichtet (Aristot.
An. 60, 2).
* Der persische Goldstater hieß bei den Griechen bapeiKÖ^, es lag also
nahe, den Anfang der Prägung auf Dareios zurückzuführen; soHerod. IV 166.
Doch kommt das Wort dariku schon in babylonischen Inschriften aus der Zeit
Nebukadnezars und Nabonidos' vor (Babelon, Traite des monnaies II 2 Sp. 37 f.,
mit Verweisung auf Muss-Arnoldt, A concise dictionary of the Assyrian lan-
guage, Berlin 1905, vox Dariku; bestätigt und ergänzt durch freundliche Mittei-
lungen von Prof. Lehmann-Haupt), natürlich nicht als Bezeichnung einer Münze,
sondern wohl eines Hohlmaßes. Besser ist die Ableitung aus dem Zend, die
O. Blau gegeben hat (Zeitschr. Deutsch. Morg. Ges. VI 482): Avest. zairi „gelb,
goldfarbig" würde altpersisch *dari heißen, *dari-ka also ,, golden, Goldstück"
(Weißbach ebend, LXV, 1911, 643). Demnach steht nichts im Wege, die
Prägung schon unter Kyros beginnen zu lassen. Daraus fogt aber noch nicht,
90 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Die lydische Währung diente dabei, wie natürlich, als Vor-
bild, nur wurde das bimetallistische System noch reiner
durchgeführt und überhaupt kein Goldstück im Gewicht
des Silberstücks mehr geschlagen. Auch das Gewichtsver-
hältnis des Gold- zu dem Silberstater wie 3 : 4 wurde bei-
behalten, der Münzfuß aber etwas erhöht und dem im Reiche
verbreitetsten Gewichtssystem, dem babylonischen, angepaßt,
so daß der Goldstater (Dareikos) im Gewicht eines leichten
babylonischen Schekels (8,4 g) ausgebracht wurde. Der
entsprechende Silberstater hätte also IV3 Schekel oder V45 Mine
wiegen sollen, doch wurde statt des Ganzstücks in der Regel
die Hälfte, im Gewicht von 2/3 des babylonischen Schekels
oder V90 Mine (5,6 g) geprägt und dieses Stück dann als
Silberschekel (aiYXog) bezeichnet. Von diesen Stücken
wurden 20 auf den Dareikos gerechnet, so daß sich eine Wert-
relation zwischen beiden Metallen wie 1 : ISVs ergab, die
den Verhältnissen Irmerasiens besser entsprach, als die Relation,
die der lydischen Währung zugrunde gelegen hatte. Das
Goldstück zeigt auf der Vorderseite den persischen König
mit Bogen und Speer, die Rückseite ist glatt, mit einer unregel-
mäßigen Vertiefung in der Mitte; eine Aufschrift fehlt. Die
neuen Münzen wurden in großen Mengen geschlagen und
zirkulierten bald auf allen griechischen Märkten, wo sie andert-
halb Jahrhunderte lang das herrschende Goldkurant gebildet
haben, bis Philipp von Makedonien dem Dareikos seinen
Philippeios entgegenstellte. Die Einführung der Doppel-
währung in einem so weiten Wirtschaftsgebiete wie das
persische Reich hat dann zur Folge gehabt, daß das ihr zu-
grunde Hegende Wertverhältnis auch in Griechenland Eingang
gefunden hat und trotz mancher Kursschwankungen im
daß das wirklich geschehen ist; die Sache kann auch mit Dareios' Finanzreform
zusammenhängen, und Kyros und Kambyses können in Sardes mit Kroesos'
Typen weiter geprägt haben. Wenn Percy Gardner sagt (Proceedings Brit. Acad.
III 1908, The Gold coinage of Asia S. 10): when ihe Kingdom of Croesus feil, the
royal coinage at Sardes of coiirse ceased, so kann ich das nicht zugeben ; der Perser-
könig war ja in Sardes nichts weiter, als der Rechtsnachfolger der lydischen
Könige.
Persische Reichswährung. — Elektronprägung in Kleinasien. 91
einzelnen in Geltung geblieben ist, solange diese Doppel-
währung bestanden hat ^.
Der Perserkönig nahm in seinem Reiche das Monopol
der Goldprägung in Anspruch, und infolgedessen hörte die
Elektronprägung der kleinasiatischen Griechenstädte zunächst
auf, da ja auch das Elektron als eine Art Gold betrachtet
wurde^. Während des ionischen Aufstandes wurde sie vorüber-
gehend wieder aufgenommen, dauernd nach der Befreiung
der kleinasischen Städte von der Perserherrschaft, inMytilene,
Chios, Phokaea, Lampsakos. In Kyzikos ist die Prägung
überhaupt nie unterbrochen gewesen ; die hier in großerMenge ge-
schlagenen Elektronstatere phokaeischen Fußes (,,Kyzikener")
bildeten neben den Dareiken bis auf Philipp die Hauptmasse
des Goldkurants, das am Aegaeischen Meer umlief. In reinem
Golde hat man dagegen in der griechischen Welt erst gegen
Ende des V. Jahrhunderts zu prägen begonnen, zunächst in
den beiden größten Städten Athen und Syrakus.
1 So ist das Gold für die chryselephantine Statue der Athena im Parthenon
(vollendet 434/3, Pareti, Rötn. Mut. XXIV, 1910, S. 271 ff.) zum Kurs von
etwa 1 : 14 angekauft worden {CIA. IV 1, 298 S. 146, vgl. I 301 S. 160). Seit
alle Kulturstaaten zur Goldwährung übergegangen sind, oder doch die freie
Ausprägung des Silbers sistiert haben, darf der "Wert der antiken Silbermünzen
weder nach der fiktiv gewordenen Relation von 1 : löVzi noch nach dem heutigen
Silberpreise bestimmt werden, so wenig wie etwa der Wert des italischen aes grave
nach dem heutigen Marktpreise des Kupfers. "Wir müssen vielmehr von der
antiken Goldmünze ausgehen und danach, unter Zugrundelegung des im Altertum
gültigen Wertverhältnisses zwischen beiden Metallen, den Wert der Silber-
münze bestimmen. Demgemäß sind in dem vorliegenden Bande alle
in griechischer Silberwährung ausgedrückten Summen nach dem Verhältnisse
wie 1 : 1373 in Markwährung umgerechnet worden (aus 1 kg Gold werden für
2790 Mark Goldmünzen geprägt). Danach beträgt der Wert des Silbertalents
von 26,2 kg 5482,35 Mark, der Wert der entsprechenden Silbermine (436,6 g)
91,37 Mark, der attischenDrachme 91Pfennig, des aeginaeischen Staters 2,61-Mark.
Der Goldwert des Dareikos ist 23,44 Mark. — Weißbach a. a. 0. S. 641 be-
stimmt auf Grund von zwei Gewichten des Dareios die babylonische Mine
zu 500,17 g, was für den Dareikos 8,34 g ergeben würde (a. a. 0. S. 680). Der
kleine Unterschied kommt hier für uns nicht in Betracht.
^ So Percy Gardner, The Gold coinage of Asia (oben S. 90 Anm.);
wieweit das richtig ist, muß wohl noch näher untersucht werden; jedenfalls hat
Kyzikos auch unter der persischen Herrschaft in Elektron geprägt, s. Fritze,
Die Elektronprägung von Kyzikos (Nomisma VII), Berlin 1912,
92 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Um SO reichlicher war die Silberprägung. Auch die Land-
schaften, die bisher keine Münzen geschlagen hatten, wie
Thessalien, Ehs, Kreta, nahmen jetzt daran teil. Das konser-
vative Sparta freilich hielt an seinem Eisengeide fest; und
auffallenderweise haben auch die Industriestadt Megara
und ihre Kolonien Byzantion und Kalchedon sich der Prägung
in edlem Metall ferngehalten. Die lebhafteste Tätigkeit ent-
faltete die Münze von Athen, wo die Silberbergwerke von
Laureion das Metall in reicher Fülle Heferten, und seit der
Überführung des Bundesschatzes von Delos jahraus jahrein
gegen 500 Talente Tributgelder einliefen, die dann in attisches
Geld umgeprägt wurden. Das poHtische und wirtschaftHche
Übergewicht Athens, noch mehr aber das reine Korn und die
vollwichtige Ausprägung der attischen Münzen machte diese
zum herrschenden Kurant im ganzen Umkreis des Aegaeischen
Meeres und weit darüber hinaus. Die Folge war, daß die
Kykladen ihre Prägung einstellten oder doch nur noch sehr
wenig geprägt haben. Aegina hat bei dem Verlust seiner
Selbständigkeit 457 sein Münzrecht verloren, ebenso die
Städte auf Euboea nach dem mißglückten Aufstande des
Jahres 446 (unten Abschnitt V). Endlich, um die Zeit des
Nikias-Friedens, hat man in Athen den Schritt getan, den
verbündeten Städten das Münzrecht zu nehmen, und im
ganzen Reich attische Münze und attisches Maß und Gewicht
einzuführen; doch ließ der Fall der athenischen Herrschaft
es nicht zur Durchführung dieser Maßregel kommen '.
Das für diese Ausmünzungen nötige Metall lieferten
außer den Silbergruben von Laureion an der Südspitze Attikas ^
namentlich die Minen in der Landschaft am unteren Strymon
an der Grenze zwischen Thrakien und Makedonien ^. Ein
^ Übersicht über die Münzverhältnisse im attischen Reiche bei Cavaignac,
Hist. financ. d'Athenes (ßibl. des 'kcoles jrang- 100) S. 179 ff. Der Volksbeschluß
über die Einführung der attischen Münze Inscr. Ins. V 1, 480, Anspielung darauf
bei Aristoph. Vögel 1040 f.; dazu Weil, Zeitschr. f. Numismatik XXV, 1906, S. 62.
2 Aesch. Perser 238, Herod. VII 144, Aristot. ATT. 22, 7, Ardaillon, Les
Mines du Laurion dans l'Antiquite (Bibl. des kcoles frang. 11) Paris 1897.
^ Alexander I von Makedonien soll aus seinen Silbergruben am Strymon
einen Ertrag von täglich einem Talent gezogen haben (Herod. V 17).
Silberprägung- in Griechenland. — Thesaurierung. 93
großer Teil des vorhandenen Metallvorrats wurde allerdings
dem Verkehr durch Thesaurierung entzogen. Hatte doch fast
jeder Tempel seinen Schatz; und wenn es sich dabei auch
meist nur um Silbergerät im Gewicht von wenigen Minen
handelte, so ergab sich doch bei der Menge der Heiligtümer
eine sehr bedeutende Gesamtsumme. So befanden sich in den
Tempeln Attikas beim Ausbruch des peloponnesischen Krieges
Weihgeschenke im Werte von 500 Talenten (2 750 000 Mk.) \
abgesehen von der Statue der Athena im Parthenon, die
allein einen Goldwert von 616 Silbertalenten hatte ^. Daneben
waren noch sehr ansehnliche Barbestände vorhanden, aus
denen der Staat in den zehn ersten Jahren des Krieges gegen
800 Talente (4 400 000 Mark) entliehen hat, und zwar ab-
gesehen von den Beträgen, die dem Schatze der Stadtgöttin
(Ä9r|vd TToXidq) entnommen wurden, der bei weitem der
reichste dieser Tempelschätze war ^. Auch in Delos und
Olympia lagen bedeutende Schätze. Der delphische Tempel
soll um 360 10 000 Talente (55 Millionen Mark) besessen
haben, eine Angabe, die allerdings übertrieben ist; da indes
die Phoker später aus diesen Geldern die Kosten eines zehn-
jährigen Krieges bestritten haben, der mit großen Söldner-
heeren geführt wurde, und die Weihgeschenke des Kroesos
allein, nach der damaligen Wertrelation zwischen Gold und
Silber wie 1 : 12, einen Wert von etwa 1900 Silbertalenten /
hatten, mag der Gesamtbetrag sich immerhin auf gegen
8000 Talente belaufen haben; und von diesen Weihgeschenken
muß der bei weitem größte Teil schon im V. Jahrhundert
vorhanden gewesen sein ^. Dazu kam dann weiter der Schatz
^ Thuk. II 13, 4. Die Angabe beruht nur auf Schätzung und mag sehr
übertrieben sein.
2 Thuk. II 13, 4, Philochoros fr. 97, s. unten 2. Abt. § 143.
3 Kirchhoff, Abhandl. der Berl. Akad. 1876 S. 31, CIA. I 273.
* Diod. XVI 66, 6, wo die von Kroesos geweihten Weißgoldziegeln als
von reinem Gold in Rechnung gestellt sind, so daß ein Wert von über 3000 tal.
herauskommt; vgl. dazu oben IIS. 297 Anm. 2. Die übrigen goldenen Weih-
geschenke hätten sich auf 30 tal., also entsprechend einem Wert von etwa
400 Silbertalenten, belaufen, die silbernen Weihgeschenke auf 6000 tal. Da
Zahl und Gewicht der Ziegeln, abgesehen von der Abrundung der Zahl, richtig
94 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliclie Aufschwung nach den Perserkriegen.
der Athena Polias, der kurz vor dem Ausbruch des pelo-
ponnesischen Krieges einen Bestand von gegen 6000 Talenten
(33 Millionen Mark) hatte i.
Immerhin war die Menge des in den Verkehr strömenden
edlen Metalls groß genug, um ein beträchtliches Steigen der
Preise hervorzurufen. Der Scheffel Gerste, der in Solons
Zeit in Athen eine Drachme gekostet hatte, galt um die Wende
vom V. zum IV. Jahrhundert das Doppelte, der Scheffel
Weizen 3 Drachmen ^. Sehr viel bedeutender war die Steigerung
der Viehpreise, da hier die überseeische Konkurrenz nicht in
Betracht kam, und in Griechenland selbst bei dem Anwachsen
der Bevölkerung die Viehzucht immer mehr hinter den Acker-
bau zurücktrat. Während um 600 ein Schaf in Athen für eine
Drachme zu kaufen gewesen war, betrug der Preis zwei Jahr-
hunderte später 10 — 20 Drachmen; ein Ochse kostete in
dieser Zeit etwa 50 — 100 Drachmen ^. Dagegen galt im vieh-
reichen Sicilien ein ,, schönes Kalb" noch in der Zeit nach den
Perserkriegen nur 10 Litren, oder 2 attische Drachmen *.
Die Vermehrung des umlaufenden Edelmetalls mußte
angegeben wird, ebenso das Gewicht der übrigen goldenen Weihgeschenke
(der Löwe und der Mischkrug des Kroesos wogen nach Herod. I 50 zusammen
15 tal. 12 m., dazu nach unserer Stelle 360 goldene Schalen im Gewicht von
je 2 m., zusammen also 12 tal. und eine Frauenstatue), so haben wir keinen
Grund, an der Richtigkeit der Angabe über das Gewicht der silbernen Weih-
geschenke zu zweifeln, wenn sie auch nach oben abgerundet sein mag.
1 Thuk. II 13, 3, CIA. I 273, vgl. unten 2. Abt. § 141.
* Ein Weizenpreis aus dem V. Jahrhundert ist nicht überliefert. Am
Anfang des folgenden Jahrhunderts rechnet Aristophanes den Scheffel Weizen
zu 3 dr. (Ekkl. 547); in einem aus etwa derselben Zeit stammenden Opfertarif
{CIA. 631) wird V12 Medimnos zu 3 Obolen gerechnet, aber einschließlich einer
Fleischportion. Nach einer Anekdote, die auf den Namen des Sokrates (Plut.
V. d. Seelenruhe 10 S. 470, Stobaeos Floril. III 211 Mein.) und des Kynikers
Diogenes (Diog. Laert. VI 35) erzählt wird, hätte die Choenix Gerstenmehl
(äXqpixa) V4 ob., der Medimnos also 2 dr. gekostet; eine Angabe, die natürlich
nur einen sehr bedingten Wert hat. Näheres in dem Aufsatze von Corsetti
über die Getreidepreise im Altertum, in meinen Studi di Storia antica, Heft II,
Rom 1893.
^ Boeckh, Staatshaush. I ^ S. 105, und über das Steigen der Viehpreise
seit Solon Demetrios von Phaleron bei Plut. Solon 23.
* Epicharmos bei Polydeukes IX 80.
Steigen der Preise. — Zinsfuß. 96
zur Folge haben, daß es im V. Jahrhundert viel leichter war,
ein Talent Silber geliehen zu erhalten, als es im VI. Jahr-
hundert gewesen war. Ein Scheffel Getreide war allerdings
ums Jahr 400, in Silber ausgedrückt, viel teurer als in Solons
Zeit, aber nur darum, weil der Vorrat an Silber noch rascher
gewachsen war als das Angebot von Zerealien. Dabei hatte
man jetzt die Möglichkeit, in Zeiten des Mißwachses fremdes
Korn in fast unbeschränkter Menge heranzuziehen; und so
fand ein Bauer, der für die Aussaat und zum Unterhalt seiner
Familie bis zur nächsten Ernte Getreide nötig hatte, jetzt
viel weniger Schwierigkeit, sich seinen Bedarf zu verschaffen,
als einst, wo er darauf angewiesen gewesen war, zu seinem
reichen Nachbar zu gehen. Infolgedessen mußten Darlehen,
sei es in Naturalien, sei es in deren Äquivalent in Geld jetzt
zu besseren Bedingungen als früher zu erhalten sein, mit
anderen Worten, der Zinsfuß mußte niedriger werden. Doch
wirkte dieser Tendenz der lebhafte Aufschwung in Industrie
und Handel entgegen, der eine große Nachfrage nach Kapi-
talien bedingte. So blieb der Zins auch jetzt noch verhältnis-
mäßig sehr hoch. Waren in Solons Zeit bei guter Sicherheit
im Mittel 18% gezahlt worden (oben IIS. 300), so lieh im
Jahre 434/3 der delische Tempel seine Gelder zu 10% aus,
wobei aber die Zinsen erst nach Ablauf von 5 Jahren zugleich
mit dem Kapital gezahlt werden sollten, und Zinseszins nicht
berechnet wurde ^. Doch wird der Zinsfuß am offenen Markt
höher gestanden haben. Der athenische Staat verzinste
während des peloponnesischen Krieges die bei den Tempel -
schätzen aufgenommenen Anleihen zuerst, wie es scheint,
mit 6%, später mit nur 1,2%, Sätze, die wohl als die Hälfte
bzw. das Zehntel eines Zinses von 12% anzusehen sind, so daß
dies schon damals der landesübliche Zinsfuß gewesen sein
müßte, wie später im IV. Jahrhundert ^. Bei Anlagen, die
mit Risiko verbunden waren, und in Zeiten knappen Geld-
standes wurden natürlich viel höhere Zinsen genommen.
1 CIA. I 283.
2 Boeckh, Staaish. I ^ 581, Ungar, Jahrb. f. Philol.CXlN II, 1893, S. 225 ff.
96 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen,
Irgendwelche gesetzliche Bestimmung über ein Zinsmaximum
hat es wenigstens in Athen nicht gegeben^; wenn auch die
öffentliche Meinung hier wie überall die Ausbeutung der Not
der Mitmenschen durch Wucher verurteilte und damit immer-
hin einen moralischen Druck ausübte ^.
Ein solcher Zinsfuß hat eine große Produktivität der
Industrie zur Voraussetzung, also hohe Preise und niedrige
Arbeitslöhne. In der Tat sind die Preise von Industrieerzeug-
nissen, die aus dem V. und IV. Jahrhundert überliefert werden,
z. B. von Kleidern und Waffen, gegenüber den Getreidepreisen
sehr ansehnlich ^. Vor allem aber gab das Bestehen der
Sklaverei dem Kapitale die Möglichkeit, die Arbeitskraft
rücksichtslos auszubeuten. Ein kräftiger Sklave, wie er in den
Bergwerken gebraucht wurde, war für 100 — 150 Drachmen
zu kaufen, und brachte einen täglichen Reinertrag von einem
Obol, also, das Jahr nur zu 300 Arbeitstagen gerechnet, eine
Verzinsung des Kaufpreises von SSVa — 50%, worin allerdings
auch die Amortisationsquote für die Abnutzung des Kapitals
einbegriffen ist *. Geschulte Fabrikarbeiter (xeipoxexvai)
gaben natürlich viel höhere Erträge, täglich zwei Obolen
und mehr^; doch war hier, dementsprechend, auch der
Ankaufspreis höher, bis zu 5 und 6 Minen ^ Die 32 — 33 Eisen-
arbeiter, die der Vater des Redners Demosthenes in seiner
Fabrik hatte, brachten einen jährlichen Reinertrag von 30
^ Ein angeblich oder wirklich solonisches Gesetz, das noch am Anfang
des IV. Jahrhunderts in Geltung stand, bestimmte ausdrücklich tö äpYiJpiov
aTclai|Liov eivai ^q)' öttööuj öv ßoOXriTai 6 baveiZuiv (Lys. 10, g Theomn. I,
18 vgl. 15).
^ Vgl. im allgemeinen Billeter, Geschichte des Zinsfußes im griech.-röm.
Altertum, Leipzig 1898, und meinen Artikel in Conrads Handwörterbuch der
Staatswissenschaften ^ VIII S. 1117 ff.
ä Boeckh, Staatsh. I " S. 148 ff.
* Xen. V. d. Einkünften IV 14—23.
^ Aeschin. g. Tim. 118.
« Über die Sklavenpreise Boeckh, Staatsh. I " S. 95 ff. und die offiziellen
Angaben über den Erlös aus den Gütern, die infolge des Hermen- und Mysterien-
prozesses im Jahre 415 eingezogen worden waren {CIA. I 274. 275. 277, IV 1,
274 S. 35).
Seehandel. 97
Minen, also gegen 100 Drachmen auf den Kopf; die 20 Möbel-
arbeiter, die derselbe Unternehmer beschäftigte, allerdings
nur 12 Minen, je 60 Drachmen, was wenig mehr als einen
Obolos auf den Tag beträgt, aber immerhin noch eine Ver-
zinsung von 30% ergibt, da sie je 2 Minen gekostet hatten ^.
Auch im Seehandel konnten Kapitalien sehr hohe Ver-
zinsung finden; dem entsprach dann aber auch die Größe
des Risiko. Stand doch die Schiffahrt noch immer in ihrer
Kindheit, so bedeutende Fortschritte sie auch seit den homeri-
schen Zeiten gemacht haben mochte. Die ansehnlichsten
Kriegsfahrzeuge des V. Jahrhunderts, die Trieren, waren
doch nur große Kähne, mit geringem Tiefgang, die bei nur
einigermaßen bewegter See ihre Manöverierfähigkeit ein-
büßten und bei der Ankunft im Hafen auf den Strand gezogen
wurden. Ein Handelsschiff von etwa 10 000 Talenten (260
Tonnen) Tragfähigkeit galt bereits als sehr stattlich ^. Wenn
man auch jetzt mehr als früher Fahrten durch das offene
Meer wagte ^, so hielt man sich doch für gewöhnlich noch
immer so viel als möghch in der Nähe der Küsten, so daß
beispielsweise ein Schiff, das von Griechenland nach Sicilien
bestimmt war, erst nach Kerkyra und Tarent hinauffuhr,
um dann längs der Küste des heutigen Calabriens wieder nach
Süden zu steuern. Und noch jetzt wagte man längere See-
reisen fast nur in der guten Jahreszeit ^. Dazu kam weiter
das Fehlen aller der Hilfsmittel, ohne die wir uns heut einen
Verkehr zur See kaum vorstellen können, wie Seekarten,
Kompaß, Leuchttürme, Bezeichnung des Fahrwassers und
ähnliches; und ganz besonders die Gefährdung durch die
^ Demosth. g. Aphob. I 9 S. 816. Die Angaben des Redners sind überall,
wo er in eigener Sache spricht, sehr unzuverlässig, doch mußte er sich gerade
in diesem Punkte in den Grenzen des Wahrscheinlichen halten, wenn er auch
natürlich die höchsten Erträge angesetzt haben wird.
^ Thuk. VII 25, 6 (vaOv luupioqpöpov). Ich verstehe Talente von 26 kg,
und zwar darum, weil auch die Römer den Gehalt ihrer Schiffe nach solchen
Talenten bestimmt haben, nämlich nach amphcrae zu 26, 2 1. (Liv. 21, 63).
^ Thuk. VI 88, 9, VII 31, 1; es ist zu berücksichtigen, daß die Küsten-
fahrt in beiden Fällen gesperrt war.
* Vgl. z. B. Thuk. VI 21, 2.
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 7
98 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Piraterie, welche die attische Seeherrschaft selbst auf dem-
Aegaeischen Meere nicht völlig auszurotten vermocht hat.
So mußten denn die Chancen des Gewinns hoch sein, wenn
der Seehandel bestehen sollte. Bei Fahrten in ferne Meere,
wie den Pontos oder den verrufenen Adrias, stieg dieser Gewinn
oft bis auf 100% und darüber^; aber auch bei Fahrten im
Aegaeischen Meere konnten 20 — 30% verdient werden. Dem
entsprechend verzinsten sich denn auch die Kapitalien, die
auf sogenannten ,, Seezins " (vauxiKÖg toko?) ausgeliehen
wurden, wobei der Darleiher gemeinschaftlich mit dem Schiffs -
reeder das Risiko trug ^.
Geringeren Ertrag gewährte der Grundbesitz; bildete
er doch in dieser Zeit neben guten Hypotheken so ziemlich
die einzige ganz sichere Kapitalanlage, auch abgesehen von
den damit verbundenen sozialen Vorteilen. Immerhin stand
die Grundrente, dem Zinsfuß entsprechend, nach unseren
Begriffen sehr hoch. Bestimmte Angaben darüber haben wir
allerdings erst aus dem nächsten Jahrhundert; damals betrug
die Pacht von Landgütern in Attika 8 — 12% ^, und ungefähr
ebenso hoch scheint der Mietsertrag von Häusern gewesen
zu sein ^.
Wenn die Grund- und Kapitalrente einen so bedeutenden
Teil des Ertrages der nationalen Arbeit in Anspruch nahm,
so mußte der Anteil der Arbeiter an diesem Ertrage ent-
sprechend niedriger sein. Der Sklave erhielt nur, was er zu
seiner Existenz unbedingt nötig hatte, und die Konkurrenz
^ Lysias g. Diogeiton 25.
2 Boeckh, Staatsh. I « S. 184 ff., Billeter, Zinsfuß S. 30 ff. Nach Xen.
V. d. Einkünften betrug der gewöhnliche Seezins in Athen um die Mitte des
IV. Jahrhunderts 20 — 8873%, womit die Angaben der übrigen Quellen über-
einstimmen.
' Isaeos 11 (v. Hagn. Erbsch.) 42, aus der Zeit um 380 (Schaefer, Demosth.
III B 234, jetzt bestätigt durch Kratippos II 1): 8%, CIA. II 600, aus 300/299:
12%. Daß ein Haus auf dem verpachteten Grundstücke stand, tut nichts zur
Sache, da es nur einen Wert von einigen hundert Drachmen gehabt haben kann,
der in den Preis von 5000 dr. einbegriffen ist.
* Isaeos a. a. 0. : Zwei Häuser im Wert von zusammen 3500 dr. bringen
3 m. Miete, also etwas über 8Y2%-
Seehandel. — Grundrente. — Arbeitslohn. 99
der Sklavenmassen drückte wieder auf den Lohn der freien
Arbeiter. Es gibt vielleicht keine schwerere und weniger
angenehme Arbeit als den Ruderdienst an Bord einer Galeere,
von der Gefahr im Falle einer Seeschlacht oder durch Schiff-
bruch ganz abgesehen; und doch fanden sich zur Zeit des
peloponnesischen Krieges Zehntausende, die bereit waren,
für einen Sold von täglich 3 Obolen diese Arbeit zu übernehmen ^.
Für einen monatlichen Sold von einem Dareikos (231/2 Mark)
konnten persische Satrapen griechische Söldner bekommen
so viel sie nur wollten; und zwar Leute, die imstande waren,
auf eigene Kosten sich auszurüsten 2. Gegen eine Vergütung
von 2 — 3 Obolen die Sitzung drängten die Handwerker und
Arbeiter Athens sich zu der Funktion des Geschworenen.
Es entsprach das etwa dem Tagelohn für ungeschulte Arbeit *,
während gelernte Handwerker natürlich höher bezahlt wurden.
So erhielten z. B. die Steinsäger und Maurer beim Bau des
Erechtheion in Athen in den letzten Jahren des peloponne-
sischen Krieges täglich eine Drachme *. Freilich lebte der
griechische Arbeiter sehr frugal, und er mußte es, wenn er
mit seinem Triobolon auskommen wollte. Unter diesen Um-
ständen war es nicht so ungerechtfertigt, wenn der Arbeiter-
stand, so oft er die Gewalt in die Hände bekam, darauf be-
dacht war, seine Lage mit Hilfe des Staates zu verbessern.
Nur wurden diese Versuche durchweg am unrechten Ende
angefangen. Statt an die Wurzel der sozialen Übel, die Skla-
verei, die Hand zu legen, suchte man Zuschüsse aus Staats-
mitteln zu erlangen, sei es in Form von Besoldungen für die
Ausübung der Souveränitätsrechte, sei es von Geld- und
Getreidespenden, oder unentgeltlich dargebotenen Ver-
1 Thuk. VIII 45, Xen. Hell. I 5, 7, vgl. Thuk. VIII 29. Bei Expeditionen
in ferne Meere mußten natürlich höhere Löhne gezahlt werden; so gaben die
Athener 415 jedem Ruderer der nach Sicilien bestimmten Flotte täglich eine
Drachme (Thuk. VI 31, vgl. VI 8). Die Angaben in dem interpolierten Kapitel
Thuk. III 17 sind wertlos.
2 Xen. Anab. I 3, 21 vgl. VII 2, 36; 6, 1.
3 Aristoph. Ekkl 310.
* CIA. I 324.
100 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
gnügungen; was dann nur den Erfolg hatte, die arbeitende
Klasse mehr und mehr zu demoralisieren. Noch verderblicher
wirkte der gewaltsame Umsturz der Eigentumsordnung, zu
dem wohl nach Revolutionen gegriffen wurde, allgemeiner
Schuldenerlaß und Neuverteilung des Grundbesitzes; doch
ist es zu solch extremen Maßregeln im V. Jahrhundert nur
selten gekommen.
Geistige Arbeit, die jeder auch nur etwas gebildete zu
leisten imstande war, wurde nicht höher bezahlt als die ge-
schulte handwerksmäßige Arbeit. So erhielt der Werkführer
(dpxiTeKTUuv) beim Bau des Erechtheion den Tag nur eine
Drachme, soviel wie ein Steinsäger ^; und auch die Epidaurier
zahlten dem Architekten ihres Asklepiostempels nur eine
aeginaeische Drachme (= etwa V-j^ attische Drachmen) ^.
Der Sold eines Subalternoffiziers betrug in der Regel nur das
Doppelte der Löhnung eines gemeinen Soldaten ^, und auch
die Gehälter der niederen Staatsbeamten waren gering, wie
denn in Athen die Mitglieder des Rates täghch je eine Drachme
empfingen. Höhere Stellen wurden durchweg im Ehrenamt
versehen, und nur die etwa entstehenden Kosten vom Staate
vergütet. Dagegen wurden hervorragende Leistungen auf
geistigem Gebiet sehr glänzend honoriert. So soll nach Herodot
der Arzt Damokedes aus Kroton in der, zweiten Hälfte des
VL Jahrhunderts auf Aegina einen jährHchen Gehalt von
einem Talent bezogen haben, darauf in Athen 100 Minen,
und später von Polykrates, dem Tyrannen von Samos, zwei
Talente *. Mögen diese Angaben auch übertrieben sein, sie
beweisen doch, daß Ärzte von Ruf in Herodots Zeit sehr
bedeutende Gehälter empfingen, wofür sie dann freilich ihre
Klinik (iaipeiov) im Stande zu halten, ihre Gehilfen zu be-
solden und die Medikamente zu hefern hatten. Berühmte
Dichter, wie Simonides und Pindar, Heßen sich für ihre Lieder
1 CIA. 1 324.
^ Iriscr. Argol. 1484, 9. 104.
* Xen. Anah. VII 2, 36; 6, 1.
* Her od. III 131.
Geistige Arbeit. — Volks vermögen. 101
ansehnliche Honorare bezahlen ^, und auch die Dichter, deren
Stücke auf dem Theater zur Aufführung kamen, wurden vom
Staate honoriert ^. Ebenso hatten Musikvirtuosen und hervor-
ragende Schauspieler sehr hohe Einnahmen .^ Als dann um
die Mitte des V. Jahrhunderts das allgemeine Interesse an
Philosophie und Rhetorik zu erwachen begann, wurden auch
an die Lehrer dieser Wissenschaften verhältnismäßig hohe
Honorare gezahlt. Doch ist es starke Übertreibung, wenn
berichtet wird, Protagoras und Gorgias hätten 100 Minen
für die Ausbildung eines Schülers genommen; vielmehr hinter-
ließ Gorgias bei seinem Tode nur ein mäßiges Vermögen,
und auch Isokrates, der berühmteste Rhetor seiner Zeit,
wurde zwar ein recht wohlhabender, aber keineswegs ein
sehr reicher Mann ^. Drei bis vier, in Ausnahmefällen zehn
Minen betrug im IV. Jahrhundert das Honorar für den voll-
ständigen rhetorischen Kursus, der aber mehrere Jahre
dauerte ^.
Über die Höhe des Volksvermögens besitzen wir nur
für Athen bestimmte Angaben, und auch hier erst aus dem
Anfang des IV. Jahrhunderts. Im Jahr 378/7 wurde ein
Kataster des ganzen beweglichen und unbeweglichen Eigen-
tums in Attika veranstaltet, und der Gesamtbetrag zu 5750
Talenten abgeschätzt (3IV2 Millionen Mark) ^ Dabei ist
das Eigentum des Staates nicht einbegriffen und ebenso-
wenig das Vermögen der ärmsten Bürgerklasse, das von der
Zahlung direkter Steuern befreit war. Beides konnte nicht
wesentlich in Betracht kommen; um so mehr der Umstand,
daß jede Steuereinschätzung weit hinter dem Betrage des
1 Find. Isthm. II 1 ff., Schol. Aristoph. Fried. 697.
- Schol. Aristoph. Frösche 367, Ekkl. 102, Boeckh, Staatsh. I * S. '339.
3 Boeckh a. a. O. S. 169 f., Isokr. Antid. 157.
* Isokr. a. a. 0. 155 ff., Blass, Att. Beredsamkeit II => 69 f.
° Isokr. g. die Sophisten 3, Demosth. g. Lakritos 16. 42.
« Polyb. II 62, 6, Demosth. v. d. Symm. 18, Philoch. fr. 151. Dazu Boeckh,
Staatsh. I ^ S. 636 ff., und gegen dessen Auffassung meine Bemerkungen im
Hermes XX, 1885, S. 237 ff., XXII, 1887, S. 371 ff. Was Stahl, Rh. Mus.
LXVII, 1912, S. 391 ff. dagegen einwendet, zeigt nur, daß ihm diese Dinge
recht fern liegen.
102 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
wirklichen Vermögens zurückbleibt. Ein halbes Jahrhundert
früher, vor Beginn des peloponnesischen Krieges, hatte sich
Athen in viel blühenderen wirtschaftlichen Zuständen be-
funden; auch besaßen im Jahre 431 zahlreiche athenische
Bürger außerhalb Attikas Grundbesitz, der infolge des Krieges
verloren ging. Das Volksvermögen ist also damals ohne Zweifel
beträchtlich höher gewesen. Da indes Athen seit der Mitte
des V. Jahrhunderts die bei weitem reichste Stadt des euro-
päischen Griechenlands war und es auch trotz der Krise
des peloponnesischen Krieges im folgenden Jahrhunderte
geblieben ist, so können wir mit voller Sicherheit aussprechen,
daß das Volksvermögen in keiner zweiten griechischen Land-
schaft von gleicher Ausdehnung auch nur annähernd dieselbe
Höhe erreicht hat, die Kolonien in Kleinasien, wie namentlich
Chios ^, etwa ausgenommen.
In der Verteilung des Besitzes bestanden zwischen den
einzelnen Teilen der griechischen Welt große Verschieden-
heiten. In Lakonien und Thessalien, mit ihrer leibeigenen
Landbevölkerung, herrschte der Großgrundbesitz vor. Das
Eurotastal und fast ganz Messenien, ein Gebiet von gegen
5000 qkm, war mit Ausnahme der Staatsdomänen im Besitze
von nur 1500 Eigentümern, der sogenannten spartanischen
,, Gleichen" (6|lioToi); aber auch unter diesen stand neben
den wenigen Latifundienbesitzern die große Mehrzahl derer,
die nur die alte ,, lykurgische" Hufe ihr Eigen nannten ^.
Der Reichtum der thessalischen Adelsfamilien war sprich-
wörtlich ^; es gab dort manchen Grundherrn, der es ver-
mochte, aus eigenen Mitteln ein ganzes Truppenkorps aus-
zurüsten ^. In dem etwa 9000 qkm großen Lande soll es
6000 Männer gegeben haben, die imstande waren, auf eigene
Kosten zu Pferde zu dienen, mehr als in ganz Griechenland
^ Thuk. VIII45, 4: dieChier TrXouaiibTaxoi TU)V 'EXXr|VUJv; der Superlativ
braucht nicht gepreßt zu werden.
* Plat. Alkibiades S. 122 d, und über die Zahl der Bürger Spartas meine
Bevölkerung S. 138.
' Kritias fr, 5.
* Demosth. g. Arisiokr. 199.
Volksvermögen. — Verteilung des Besitzes. 103
südlich der Thermopylen zusammen. Infolgedessen fehlte
es an einem Mittelstande, und Thessalien konnte im Verhältnis
zu seiner Größe nur wenige Hopliten aufbringen ^. Auch in
Boeotien muß der größere Grundbesitz stark vertreten ge-
wesen sein, wie denn die Landschaft 1000 Reiter aufstellen
konnte; da aber hier die Bauern ihre Freiheit bewahrt hatten,
so gab es daneben auch eine zahlreiche Klasse mittlerer Grund-
besitzer, die imstande waren, mit eigener Rüstung in den
Krieg zu ziehen ^. Ähnliche Verhältnisse herrschten in Make-
donien und Sicilien; Syrakus zum Beispiel hatte im pelo-
ponnesischen Kriege dieselbe Reiterzahl wie Boeotien ^, und
Philipp und Alexander verdankten ihre Siege nicht so sehr
der Phalanx, als der makedonischen Ritterschaft ^. In Attika
dagegen war das Grundeigentum sehr zersplittert. Schon
nach der solonischen Verfassung stimmte jeder Bürger in
der ersten Klasse, der 500 Scheffel Getreide erntete, und die
Gesetzgebung trug Sorge dafür, die Anhäufung großen Grund-
besitzes in einer Hand zu verhindern ^. So galt denn in der
Zeit des peloponnesischen Krieges ein Grundstück im Werte
von einem Talent schon für beträchtlich, und selbst alt-
angesehene Adelsfamilien besaßen oft nicht mehr als etwa
300 Plethren (30 ha) ^, während kleinere Parzellen bis zum
Wert von wenigen hundert Drachmen herunter häufig erwähnt
werden '. Am Ende des V. Jahrhunderts soll es nur 5000
Bürger gegeben haben, die ohne Grundbesitz waren ^, unter
1 Xen. Hell. VI 1, 8, vgl. 1, 19; Isokrates v. Frieden 118, meine Bevölkerung
S. 199. Es handelt sich hier nur um Thessalien im engeren Sinne, also mit Aus-
schluß der Nebenländer.
- Thuk. IV 93, näheres in meiner Bevölkerung S. 162 ff.
* Thuk. VI 67, über die akragantinischen Latifundienbesitzer Timaeos
bei Diod. XIII 83 f.
* Über die Latifundien der makedonischen Ritterschaft Theopomp,
fr. 249 M. = 217 G. u. H.
» Aristot. Polit. II 1266 b.
* Plat. Alk. S. 123 c, der den Gegensatz zwischen Athen und Sparta in
dieser Beziehung hervorhebt.
' Boeckh, Staatsh. I * S. 89 ff., Guiraud, Propriete fonciere S. 392 ff.
* Dionys. Hai. in der Einleitung zu Lysias' Rede von der Verfassung.
104 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
einer Gesamtzahl von damals etwa 25 000. Als man nach
den Perserkriegen daran ging, ein größeres Reiterkorps auf-
zustellen, war das nur möglich dadurch, daß der Staat den
einzelnen Pflichtigen starke Zuschüsse zahlte; dafür aber
war die Hälfte der Bürger imstande, mit eigener Rüstung
ins Feld zu ziehen ^. Und wie in Attika, haben auch in den
meisten übrigen Landschaften der griechischen Halbinsel
die durch ihr Vermögen zum Dienst mit schwerer Rüstung
qualifizierten Bürger, also in der Hauptsache der Mittelstand,
einen sehr bedeutenden Teil der Bevölkerung gebildet ^.
Angaben über den Betrag des Vermögens einzelner
Bürger haben wir aus dieser Zeit fast nur für Athen. Ein
Besitz von 8—10 Talenten (etwa 50 000 Mark) galt hier
zur Zeit des peloponnesischen Krieges als sehr ansehnlich;
mehr besaßen nur wenige ^. Konon, der in seiner langen
Feldherrnlaufbahn vielfach Gelegenheit zur Bereicherung
gefunden hatte, auch aus einer altangesehenen Familie stammte,
hinterließ bei seinem Tode (392/1) etwa 40 Talente; sein
Sohn Timotheos, der davon 17 Talente (93 000 Mark) erbte,
galt mit diesem Vermögen als einer der reichsten Männer
von Athen *. Nikias' Sohn Nikeratos, ,, beinahe der erste
Athener an Ansehen und Reichtum", hinterließ bei seiner
Hinrichtung durch die Dreißig nicht mehr als 14 Talente.
Die Familie mochte während des Krieges sehr starke Verluste
erlitten haben; wenn man sich aber in Athen erzählte, Nikias
habe 100 Talente besessen, so ist das nur ein neuer Beweis
dafür, daß die Menge zu allen Zeiten geneigt ist, große Ver-
mögen zu überschätzen. Ähnlich verhält es sich mit der An-
gabe, Kallias, der Sohn des Hipponikos, habe 200 Talente
(1 Million Mark) im Vermögen gehabt. Allerdings war er der
1 Meine Bevölkerung S. 72 ff., vgl. Klio VI 371.
* Das ergibt sich aus den uns überlieferten Angaben über die militärischen
Leistungen der griechischen Staaten im Verhältnis zu ihrer bürgerlichen Be-
völkerung, auch wenn letztere sehr hoch angesetzt wird, vgl. meine Bevölkerung
S. 24 f., und [Herodes] irepi iroXiTeia? 31.
^ Xen. Oekon. 2, Isaeos v. Dikaeog. Erbschaft 35 ff., Boeckh, Staatsh. P
S. 624 ff.
* Lysias v. Aristoph. Vermögen 39 f., Demosth. g Aphob. I 7 ff.
Höhe der Privatvermögen. — Lebenshaltung. 105
reichste Mann in Athen zu Perikles' Zeit; aber das würde
er auch schon bei einem Vermögen von 50 Talenten gewesen
sein. Sein gleichnamiger Enkel, freilich ein notorischer Ver-
schwender, besaß zuletzt nicht mehr als zwei Talente Ver-
mögen 1.
So gering diese Vermögen nach unseren Begriffen auch
sind, selbst im Verhältnis zu den Getreidepreisen des V. Jahr-
hunderts, so ist doch andererseits nicht zu vergessen, daß die
Kapitalien etwa den dreifachen Ertrag brachten als heute,
und daß der Grieche, der Athener nicht ausgeschlossen, sehr
viel geringere Ansprüche an den Komfort des Lebens stellte,
als wir. Die Privathäuser waren noch sehr unansehnlich,
in der Regel aus Holz, Fachwerk und Lehm erbaut, mit höch-
stens einem oberen Stockwerk. Wenn trotzdem auf den
550 Hektaren, die von den Befestigungen Athens und des
Peiraeeus umschlossen waren, an 100 000 Einwohner Raum
fanden 2, also etwa 180 auf einem Hektar, oder annähernd
dieselbe Dichtigkeit, wie heut in Berlin mit seinen hoch-
aufragenden Häusern, so zeigt das, wie eng die Bevölkerung
der griechischen Städte dieser Zeit aneinandergedrängt lebte.
Das Wohnen im eigenen Hause bildete allerdings noch die
Regel, namentlich bei wohlhabenden Familien; daneben aber
finden wir in den größeren Städten dieser Zeit, wie Athen und
Kerkyra, schon zahlreiche Mietskasernen (auvoiKiai). Der
bekannte Bankier Pasion besaß ein solches Haus im Werte
von 100 Minen (etwa 9000 Mark) ^, der höchste Häuser-
preis, der aus dem IV. Jahrhundert erwähnt wird. Selbst
ein so reicher Mann, wie Demosthenes, der Vater des Redners,
begnügte sich mit einem Hause im Werte von 30 Minen (2700
Mark), und dieses Gebäude enthielt neben der Wohnung
noch ausgedehnte Fabrikräume. Die Familien des Mittel-
standes behalfen sich also ohne Zweifel mit noch viel einfacheren
^ Lysias a. a. O. 47.
^ Athen hatte Vorstädte außerhalb der Mauern, dafür aber war ein sehr
bedeutender Teil des von Mauern eingeschlossenen Raumes, namentlich im
Peiraeeus unbebaut.
3 Demosth. g. Steph. I 28 S. 1110. Über Kerkyra Thuk. III 74, 2.
106 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Wohnungen, wie denn Häuser bis zum Werte von 5 und sogar
von 3 Minen herab (450 — 270 Mark) aus Athen erwähnt
werden ^. In anderen griechischen Städten mochte der Wert
des städtischen Grundeigentums noch geringer sein. Dagegen
waren die Landhäuser der reichen Athener vor dem pelo-
ponnesischen Kriege besser gebaut und luxuriöser ausgestattet,
als die Wohnungen in der Stadt 2. Doch war der Hausrat
meist dürftig; es mußte ein sehr reicher Mann sein, der Mobiliar
im Werte von mehr als 1000 Drachmen besaß ^. Dafür war
das Dienstpersonal verhältnismäßig zahlreich. Es gehörte
zum guten Ton, sich von seinem Bedienten begleiten zu lassen,
und Damen aus gutem Hause gingen überhaupt nie ohne eine
solche Begleitung aus. Auch die heranwachsenden Söhne
solcher Häuser standen stets unter Aufsicht eines Sklaven,
des ,, Pädagogen". Bei den niedrigen Sklavenpreisen konnte
dieser Luxus ohne allzu großen Aufwand bestritten werden.
Der geläuterte Kunstgeschmack einerseits, die demo-
kratische Strömung andererseits brachten in dieser Zeit in
der griechischen Tracht eine Revolution hervor, wie sie aus
ähnlichen Ursachen um die Wende vom XVIH. zum XIX,
Jahrhundert erfolgt ist ^. Es bildete sich die Tracht, die wir
als die griechische schlechtweg anzusehen gewohnt sind;
man begann sich einfacher zu kleiden, und zugleich nivellierten
sich unter dem Einflüsse des gesteigerten Verkehrs die Unter-
schiede, die bisher in dieser Beziehung zwischen den ver-
schiedenen Teilen der griechischen Welt bestanden hatten.
Und entsprechend dem Zurücktreten loniens gegenüber dem
Mutterlande war es der kurze Wollenchiton der Peloponnesier,
der den langen ionischen Linnenchiton verdrängte; nur in der
weiblichen Kleidung behauptete die Leinwand auch jetzt
1 Boeckh, Staatsh. I ^ S. 94 f.
2 Thuk. II 65, 2.
* Lysias v. Aristoph. Verm. 30 f. Wilhelm, Alkihiades' häusliche Ein-
richtung, Österr. Jahresh. VI, 1903, S. 236 ff.
■* Iwan Müller, Griechische Privataltertümer {Handbuch der Altertums-
wissenschaft IV, 1) S. 420 ff., Pernice in Gercke und Norden, Einleitung II 42 f.
Thuk. I 6, 3 f. Hauptquelle für uns sind die Vasenbilder.
Lebenshaltung. — Kleidung. — Ernährung. 107
neben der Wolle ihren Platz. Die reichgemusterten Stoffe
der vorhergehenden Periode verschwinden ; das Purpurgewand
wird nur noch selten und bei besonderen Gelegenheiten ge-
tragen; es diente den spartanischen Hopliten als Kriegs -
kleid und den athenischen Strategen als Abzeichen. Sonst
erschienen die Männer aus den höheren Gesellschaftsklassen
in dieser Zeit in einfach weißem Gewände, während die ärmere
Bevölkerung aus Sparsamkeitsrücksichten sich mit dunklen
Stoffen begnügen mußte. Auch die Frauen trugen noch immer
farbige Kleider, aber in der Regel ohne auffallende Muster,
nur mit einem schmalen andersfarbigen Saum. Die künst-
lichen Haarfrisuren der griechischen ,, Zopf zeit" verschwanden,
man ließ Haar und Bart frei wachsen und hielt sie unter der
Schere, nicht viel anders als wir es heute tun. Nur die Spar-
taner ließen ihr Haar lang herabwallen, und es fehlte im
übrigen Griechenland nicht an Stutzern, die sich darin ge-
fielen, sie nachzuäffen. Ebenso kam die steife Fältelung der
Gewänder jetzt aus der Mode, die für die Zeit vor den Perser-
kriegen so charakteristisch ist; das Himation wurde fortan
in freien Falten über die Schulter gelegt und konnte sich
der Gestalt organisch anschmiegen. Ein solches Obergewand
kostete in der Zeit des peloponnesischen Krieges etwa 16 bis
20 Drachmen; eine Bluse (lHu)|Lii(g), wie sie die Arbeitertrugen,
etwa 10 Drachmen ^. Die weibliche Kleidung wird kost-
spieliger gewesen sein, und namentlich der Schmuck der
Frauen war oft von bedeutendem Werte, in vornehmen Häusern
wohl bis zu 5000 Drachmen ^. Großer Luxus wurde mit wohl-
riechenden Salben getrieben, die aus dem Orient eingeführt,
aber auch in Griechenland selbst fabriziert wurden und ver-
hältnismäßig sehr hoch im Preise standen ^.
Wie alle Südländer, lebten auch die Griechen sehr mäßig.
Das Hauptnahrungsmittel bildete Getreide, das meist im
Hause gemahlen und in der Form von Brei oder von flachen
Kuchen (ludZia) genossen wurde; weiterhin Hülsenfrüchte
Boeckh, Staatsh. I ^ S. 148.
Plat. Alkib. S. 123 c.
Boeckh, Staatsh. I * S. 149.
108 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
oind Gemüse aller Art. Dazu kamen als Zukost (öipov) Oliven,
Käse, Feigen und namentlich eingesalzene Fische (Tdpixo(;),
die aus dem Pontos in großen Mengen importiert wurden,
in den Küstengegenden natürlich auch frische Fische. Auf
einen erwachsenen Mann rechnete man täglich eine Choenix
(etwa 1 Liter) Gerstenmehl ^, deren Preis in Athen ungefähr
Y4 Obolos betragen haben soll ^. Eine Arbeiterfamilie konnte
also bei einem Tagelohn von 3 Obolen allenfalls auskommen;
bei steigenden Getreidepreisen mußte freilich die Not groß
werden. Doch war es immerhin nur ein Bruchteil der bürger-
lichen Bevölkerung Athens, der in dieser Weise zu leben hatte,
da die meisten Familien, wie wir gesehen haben, ein Grund-
stück besaßen und geschulte Arbeit höher bezahlt wurde.
Viel größeren Aufwand machten natürlich die oberen
Gesellschaftsklassen. Die solide, aber recht einfache Küche
der homerischen Zeit mit ihren riesigen Rinder- und Schweine-
braten hatte längst einer verfeinerten Kost Platz gemacht;
ja die Bereitung der Speisen war zu einer wirklichen Kunst
(juaYeipiKri) geworden, die von berufsmäßigen Köchen
geübt wurde und schon im V. Jahrhundert in eigenen Lehr-
büchern behandelt worden ist ^, Aber auch in reichen Familien
kam mit Ausnahme von Wild nur selten Fleisch auf den Tisch;
den ersten Platz nahmen Seefische ein, die Leidenschaft der
attischen Feinschmecker, in denen bei Gastmählern ein großer
Luxus entwickelt wurde. Ein solches Diner kostete dann wohl
an 100 Drachmen; die feinen Weine, die dabei getrunken
wurden, ebenso viel*. Doch das waren Ausnahmen; im all-
gemeinen verwendete auch der vornehme Athener nicht
mehr als 3 — 4 Obolen für seinen Tisch ^. Noch einfacher
lebte man in Sparta, wo die Küche einer vergangenen Zeit
in den Syssitien künstlich konserviert wurde, was natürlich
1 Boeckh, a. a. 0. S. 128.
2 S. oben S. 94 A. 2.
^ Piaton Gorgias S. 518 erwähnt das berühmte Kochbuch des Sikelioten
Mithaekos.
* Eupolis fr. 149 Kock.
^ Boeckh, Staatsh. I * S. 143.
Ernährung. — Staatshaushalt. — Soldzahlungen. 109
zur Folge hatte, daß die Spartaner, wenn sie einmal aus den
Grenzen ihres Staates herauskamen, sich den Reizen des
fremden Luxus um so wilhger hingaben. Dagegen waren
die Häuser des thessaHschen Adels ebenso wie der reichen
Bürger in den Kolonien des Westens durch ihre exquisite
Küche berühmt, oder wenn man will, berüchtigt; allerdings
war das Leben dort auch sehr viel wohlfeiler als in Athen.
Nichts ist lehrreicher für die Erkenntnis der wirtschaft-
lichen Zustände eines Landes, als ein Blick auf sein Finanz-
wesen. In den einfachen Verhältnissen der Vorzeit hatte
der Aufwand für öffentliche Zwecke sich beschränkt auf den
Unterhalt des Königs und die Opfer an die unsterblichen
Götter; die Kosten dafür waren aus den Erträgen des Kron-
guts bestritten worden. Zu Kriegen und öffentlichen Bauten
wurde das ganze Volk aufgeboten, ohne daß der einzelne
dafür ein besonderes Entgelt erhalten hätte. Das mußte
sich ändern, als seit dem VIL Jahrhundert die Funktionen
des Staates sich erweiterten, als die Geldwirtschaft immer
mehr an Stelle der alten Naturalwirtschaft trat, und es bei den
komplizierteren sozialen Verhältnissen nicht mehr möglich
war, die Bürger zu Frondiensten heranzuziehen. So hatte
sich der Staatsbedarf schon während der Periode der Tyrannis
im VL Jahrhundert bedeutend gesteigert, und es war nötig
geworden, zur Erhebung regelmäßiger Steuern zu schreiten,
auf deren Ertrag der Staatshaushalt bald hauptsächlich
basiert wurde (oben IIS. 356).
Die Demokratie ging auf diesem Wege weiter. Aller-
dings der Aufwand für die Hofhaltung des Herrschers kam
jetzt im Wegfall. Um aber den Klassen, die für ihr tägliches
Brot zu arbeiten hatten, die aktive Teilnahme an der Ver-
waltung des Staats zu ermöglichen, wurde es notwendig,
das alte Prinzip zu durchbrechen, daß jeder Bürger dem
Staate unentgeltlich als Beamter zu dienen habe. So be-
stimmte schon Kleisthenes, daß der permanente Ausschuß
des Rates, die ,,Prytanen", im Rathause auf öffentliche Kosten
unterhalten würde; später, wohl erst nach den Perserkriegen,
wurde jedem der 500 Ratsherren ein täglicher Sold von einer
110 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Drachme ausgesetzt, was das Budget mit jährlich gegen
30 Talenten belastete. Noch größere Summen verschlang
der Richtersold, seit Ephialtes die Kompetenz der Volks-
gerichte erweitert, und Perikles die Bundesgenossen gezwungen
hatte, ihr Recht vor den athenischen Gerichten zu nehmen.
Jeder Geschworene erhielt für die Sitzung zwei Obolen, bis
Kleon im peloponnesischen Kriege den Sold auf eine halbe
Drachme erhöhte; und da bei der Masse der zu bewältigenden
Prozesse und der zahlreichen Besetzung der Gerichtshöfe
täglich mehrere tausend Geschworene in Tätigkeit waren,
so kann das Erfordernis dafür jährlich kaum unter 60, und
seit der Erhöhung des Soldes kaum unter 90 Talente betragen
haben; eine Summe, die allerdings zum großen Teil durch die
Gerichtskosten gedeckt wurde ^. In den übrigen Demokratien
mußte der Aufwand für den Rat und namentHch für die
Gerichte natürlich im Verhältnis viel niedriger sein. Aber
selbst oligarchische Staaten sahen sich wohl genötigt, den
Ratsherren, die längere Zeit in der Hauptstadt ihren Aufent-
halt nehmen mußten, Diäten zu zahlen ^.
Auch die Ausgaben für den Kultus, und was damit zu-
sammenhing, waren in beständigem Anwachsen, nicht weil
man frömmer geworden wäre, sondern weil das Volk immer
reichere Opferschmäuse und glänzendere Schaustellungen
verlangte. Ohnehin stiegen die Kosten der Opfer mit den
steigenden Viehpreisen. Ein Teil dieses Aufwandes wurde
nun freilich von den Tempelschätzen aus eigenen Mitteln
bestritten; wie denn z. B. der Tempel von Delos in den drei
Jahren 376 — 374 zusammen etwa 6 Talente auf die Feier des
Apollonfestes verwendet hat ^. Aber auch die Staaten leisteten
^ Aristoph. Wespen 663 rechnet nach der Solderhöhung 150 Talente, was
das Maximum ist, das diese Ausgabe überhaupt betragen konnte. Oben ist
angenommen, daß in jeder der 10 Sektionen der Heiiaea täglich im Mittel 300
Richter gesessen haben, oder 400, wenn wir nur 300 Gerichtstage annehmen.
Auf 10 — 20 Talente mehr oder weniger kommt es bei solchen ungefähren Über-
schlägen nicht an. Näheres Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 239 ff.
* So z. B. der nach der Schlacht bei Koroneia 447/6 neubegründete
boeotische Bund (Kratippos XI 4).
ä CIA. II 813.
Soldzahlungen. — Kultus. — Tempelbauten. 111
bedeutende Zuschüsse; Athen schon seit Solons Zeit ^. Selbst
in der finanziellen Bedrängnis des dekeleiischen Krieges, im
Jahr 410, wurden 6 Talente für die großen Panathenaeen
bewilligt 2, allerdings das Hauptfest Athens, das nur alle
vier Jahre gefeiert wurde. Dazu kam dann der Aufwand
der einzelnen Bürger, die bei der Festfeier Ehrenämter be-
kleideten, und namentlich für die Einübung der Chöre zu
sorgen hatten, die bei den dramatischen und musikalischen
Aufführungen mitwirken sollten ^. Sogar kleine Dörfer gaben
für ihre Feste große Summen aus; Plotheia in Attika z. B.,
das kaum mehr als 100 Bürger gezählt haben kann, gegen
Ende des V. Jahrhunderts jährlich 2 — 3000 Drachmen *.
So große Kosten aber der Kultus verursachte, sie traten
zurück gegenüber dem Aufwand für Tempelbauten. Aller-
dings hatte auf diesem Gebiet, wie wir gesehen haben, bereits
das VI. Jahrhundert die wesentlichste Arbeit getan, aber
auch im V. Jahrhundert ist doch eine statthche Reihe von
Tempeln errichtet worden. Ganz besonders lebhaft war diese
Bautätigkeit in Athen, wo es galt, die von den Persern zer-
störten Heiligtümer wieder aufzurichten, während zugleich
reichere finanzielle Mittel zur Verfügung standen, als irgendwo
sonst. Die perikleischen Bauten auf der Akropolis haben
2012 Talente gekostet ^, allerdings einschließlich der Kolossal -
Statue der Athena, deren Goldwert allein 616 Talente betrug.
1 Lysias 30 (g Nikom.) 20 f.
- CIA. I 188. Fünf Jahre früher (415/4) waren für die kleinen Pana-
thenaeen 9 tal. aus dem Schatze gezahlt worden {CIA. I 183).
^ Über die Kosten dieser Leistungen Lysias 19 (vAristophVerm.) 42,
und besonders 21 (AitoXoYia bujpoboKiaq) 1 — 5; der Sprecher der letzteren
Rede will darauf in 9 Jahren (411/0—403/2) 20 600 dr. verwendet haben; er
leistete allerdings mehr, als wozu er gesetzlich verpflichtet war.
* Nämlich die Zinsen von einem Kapital von 22 200 dr. und den Ertrag
einiger Grundstücke, CIA. II 570. Die Inschrift gehört ohne Zweifel in die
Zeit kurz vor der Besetzung von Dekeleia.
' Heliodor bei Harpokr. und Suidas TTpoiruXaia. Daß hier nicht, wie
allerdings unsere Quellen wollen, die Kosten der Propylaeen allein gemeint
sein können, hat R. Schoene (Im neuen Reich 1871) gesehen; kostete doch
selbst in Alexanders Zeit der Bau eines großen Tempels nicht mehr als 1500 tal.
(Diod. XVIII 4, vgl. Plut. Per. 12). Herod. II 180. V 62 beweist für das VI. Jahr-
112 in. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Um so weniger wurde für sonstige öffentliche Arbeiten
aufgewendet, mit Ausnahme der Bauten für MiHtär- und
Marinezwecke. Es ist den Athenern oder überhaupt irgend-
einer griechischen Gemeinde dieser Zeit nie in den Sinn ge-
kommen, etwa ein monumentales Rathaus zu errichten. Für
den öffentlichen Unterricht tat der Staat meist noch gar
nichts, wenn wir von den Turnplätzen (Palaestren, Gymnasien)
absehen, die auf öffentliche Kosten angelegt und unterhalten
wurden, oder von den Staatsprämien, die für die Sieger in den
gymnastischen Wettkämpfen ausgesetzt waren ^. Die Kosten
des auswärtigen Dienstes beschränkten sich auf die sehr
mäßigen Diäten (etwa 2 — 3 Drachmen den Tag), welche den
Gesandten gezahlt wurden, die man bei außergewöhnhchen
Anlässen ins Ausland schickte ^. Der Staatskredit war noch
sehr wenig entwickelt, und so bildeten die Ausgaben für die
öffentliche Schuld noch keinen Posten in den ordentlichen
Budgets der griechischen Staaten dieser Zeit. Die Erhebung
der indirekten Auflagen endhch wurde durchweg an Privat-
unternehmer vergeben, während die direkten Abgaben, wie
die Grund- und Vermögenssteuer, von den Organen der Selbst-
verwaltung erhoben wurden, so daß das Budget des Staates
nur Nettosummen umfaßte.
Das Kriegswesen hatte ursprünglich nur sehr geringen
Aufwand erfordert, da jeder Wehrmann verpflichtet war,
sich aus eigenen Mitteln auszurüsten und zu erhalten. Selbst
das stehende Heer Spartas kostete dem Staate als solchen
gar nichts; der Unterhalt wurde durchaus aus den Beiträgen
der einzelnen Bürger bestritten. Doch kam seit dem VIIL
oder VII. Jahrhundert die Sitte auf, in Kriegszeiten Söldner
(liTiKOupoi) in Dienst zu nehmen ^, die dann natürlich aus
hundert nichts, wohl aber, daß um die Mitte des V. Jahrhunderts der Bau eines
großen Tempels etwa 300 tal. erforderte. Also kann der Aufwand für die Pro-
pylaeen nicht wohl höher gewesen sein. Der Parthenon allerdings mag gegen
1000 tal. gekostet haben (vgl. Plut. Per. 12). Näheres unten 2. Abt. § 143.
^ Es wird als etwas ganz Außergewöhnhches hervorgehoben, daß inThurioi
vom Staate besoldete Elementarlehrer angestellt waren (Diod. XII 12, 4).
* Aristoph. Acharn. 65 und 602.
" Archilochos fr. 14. 24.
Kriegswesen. 113
der Staatskasse bezahlt werden mußten; schon in der Ilias
wird hin und wieder das Verhältnis der Troer zu ihren Bundes-
genossen in dieser Weise aufgefaßt ^. Die Tyrannen haben
dann zum Teil auch in Friedenszeiten Soldtruppen unterhalten,
wenn auch in geringer Zahl, wie denn z. B. das stehende
Heer des Polykrates aus nicht mehr als 1000 Bogenschützen
bestanden haben soll ^. Diese Einrichtung blieb, in größeren
Staaten wenigstens, auch nach dem Sturz der Tyrannis be-
stehen. So hatte Athen im V. Jahrhundert ein Polizeikorps
von 1000 skythischen Bogenschützen, die auf den Sklaven-
märkten am Pontos für Rechnung des Staates gekauft waren ^.
Um dieselbe Zeit ging Athen dazu über, ein Reiterkorps
aufzustellen, das allmähhch auf 1200 Pferde gebracht wurde *;
der Aufwand dafür betrug in der ersten Hälfte des IV. Jahr-
hunderts 40 Talente und kann im V. Jahrhundert nicht
geringer gewesen sein ^. Weiterhin sah Athen sich genötigt,
für die Erfordernisse des Flotten- und Besatzungsdienstes
eine größere Zahl von Bürgern aus der Thetenklasse auf
Staatskosten mit schwerer Rüstung zu versehen *'. Andere
Staaten, wie Argos, Elis, Syrakus unterhielten ausgewählte
Hoplitenkorps (eiTiXeKTOi), die besonders sorgfältig bewaffnet
und eingeübt, und stets marschbereit waren '. Seit endlich
1 P 225 f., vgl. Z 288 ff.
* Herod. III 39. Periandros soll 300 Leibwächter (bopuqpöpoi) unter-
halten haben (Nikol. v. Damask. fr. 59).
=> Boeckh, Staatsh. I ^ 290.
* Boeckh, a. a. 0. S. 351. Es waren 1000 Lanzenreiter und 200 be-
rittene Bogenschützen (Thuk. II 13,8).
* Xen. Hipp. 1, 19. Im Jahre 410/9 wurden in 4 Prytanien zusammen
über 16 Talente für den Unterhalt der Reiterei aus dem Staatsschatz angewiesen
(CIA. 1 188); doch sind unter der 3. Prytanie 2 Zahlungen verzeichnet, von
denen also die eine wohl nachträglich für die 2. Prytanie geleistet ist. Bei
den übrigen Prytanien wird die Bestimmung der gezahlten Gelder nicht an-
gegeben. Der Aufwand für die Reiterei hat also auch damals über 30 Tal.
betragen, doch war das Reiterkorps wahrscheinlich nicht mehr vollzählig.
« Thuk. VI 43 (ÖTrXiTtti örjTeq), Antiphon gPkilin. bei Harpokr. GfjTe?,
vgl. meine Bevölkerung S. 62 f.
' Thuk. V 67. 2 'ApTeiuiv oi xi^ioi \o-fdhec;, oic, x] -nöXiq iK ttoXXoO
äöKriöiv Tüjv ^v ToT^ öttXoi^ bri.uoaicji rrapeixe. Über die 300 XoTdbeq von
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 8
114 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
die Kriege längere Dauer bekommen hatten und zum Teil
in weitentlegenen Gebieten geführt wurden, war es unum-
gänglich, die Verpflegung der aufgebotenen Mannschaften
auf die Staatskasse zu übernehmen. Man zahlte dem Mann
um das Ende des V. Jahrhunderts etwa 3 aeginaeische ( = etwa
4 attischen) Obolen für den Tag, dem Reiter das Doppelte,
oder auch wohl das Vierfache ^. Großen Aufwand erforderten
auch die Befestigungen, besonders bei so bedeutenden Werken
wie der themistokleischen Mauer um den Peiraeeus, oder
den ,, langen Mauern", durch die Perikles Athen mit seinen
Häfen verband; doch ließ man im Frieden die Befestigungen
oft mehr verfallen als gut war.
Höhere Kosten als auf das Landheer mußten auf die
Marine verwendet werden; weshalb im Laufe des V. Jahr-
hunderts, seit die Kriegsflotten durchweg aus Trieren be-
standen, die meisten griechischen Staaten überhaupt auf
die Unterhaltung einer eigenen Seemacht verzichteten. Der
Bau einer Triere scheint im V. Jahrhundert etwa ein attisches
Talent erfordert zu haben ^; die Bemannung bestand aus
gegen 200 Matrosen und Soldaten, die jeder eine tägliche
Löhnung von 3 Obolen erhielten (oben S. 99), so daß der
Aufwand für ein in Dienst gestelltes Kriegsschiff sich auf etwa
ein halbes Talent im Monat belief ^). Doch ließ in Friedens-
zeiten nur Athen mobile Geschwader in See stechen "*. Der
Bau der Arsenale (veujpia) am Peiraeeus soll nach einer aller-
dings wohl übertriebenen Angabe 1000 Talente gekostet
haben ^. An Zahl der Schiffe stand Athen seit den Perser-
Elis Thuk. II 25, 3, über die 600 auserlesenen Hopliten von Syrakus Diod.
XI 76, Thuk. VII 43, 4.
1 Xen. Hell. V 2, 21, Thuk. V 47. Vor Poteidaea sollen die Athener jedem
Hopliten 2 dr. gezahlt haben; eine für ihn selbst und eine für seinen Diener;
doch steht diese Angabe in dem interpolierten Kapitel Thuk. III 17. Daß der
„Sold" bei Bürgertruppen nur ,, Verpflegungsgeld" (aiTO?) ist, sollte einer
Hervorhebung nicht bedürfen.
2 Aristot. An. 22, 7.
' Xen. Hell. I 5, 5.
* Plut. Per. 11, Aristot. AH. 24, 3, unten 2. Abt. § 140.
^ Isokr. Areopag. 66.
Kriegswesen. — Marine. — Kriegskosten. 116
kriegen allen anderen griechischen Staaten voran; bei Aus-
bruch des peloponnesischen Krieges verfügte es über 300
seetüchtige Trieren ^, abgesehen von den Flotten der ver-
bündeten Inseln Lesbos und Chios, von denen die letztere
allein 60 Trieren besaß ^. Die syrakusische Marine, die unter
Gelon aus 200 Trieren bestanden haben soll ^, geriet nach dem
Sturze der Tyrannen in Verfall, zählte aber zur Zeit der großen
athenischen Expedition (415) noch immer 80 Schlachtschiffe.
Die Flotte Aeginas, mehr als 70 Trieren, wurde nach der
Eroberung der Insel (457) von den Athenern weggeführt;
ebenso 439 die etwa gleichstarke Flotte von Samos. So nahm
zu Anfang des peloponnesischen Krieges Kerkyra mit seinen
120 Trieren unter den griechischen Seemächten die zweite
Stelle ein; dann folgte Korinth, das damals allerdings nur
etwa 30 seetüchtige Trieren besaß, aber außerdem über die
Marinen seiner Kolonien Leukas und Ambrakia verfügen
konnte. Auch Megara hatte in seinem Arsenal 40 Trieren;
die Flotten aller übrigen griechischen Staaten waren nur
unbedeutend ■*.
Unter diesen Umständen mußten die Kriege, nament-
lich Seekriege, einen verhältnismäßig sehr hohen Aufwand
verursachen. Allerdings die Landheere waren bei der Kost-
spieligkeit der Hoplitenrüstung nur wenig zahlreich; selbst
die erste griechische Landmacht, der peloponnesische Bund,
vermochte für Feldzüge außer Landes nicht über 20 000
Schwerbewaffnete aufzustellen ^ und dieses Heer nicht länger
als einige Wochen zusammenzuhalten. Boeotien verfügte
1 Thuk. II 13, 8.
2 Thuk. VIII 6, 4.
" Herod. VII 158 vgl. Thuk. I 14, 1.
* Über Syrakus Thuk. VII 22. 38, ,Aegina Thuk. I 105, 2; 108, 7, Samos
Thuk. I 116, Kerkyra Thuk. 129, 4, Korinth Thuk. I 36, 3; 27, 2, weiteres unten
2. Abt. § 92 ff.; Megara Thuk. II 93, 2.
^ Kilo VI, 1906, S. 51 ff., über Boeotien ebenda S. 34 ff., dazu jetzt
Kratippos XI 4, wonach etwa 11 000 Hopliten und 1100 Reiter in den Listen
geführt wurden, von denen die Reiter ziemlich vollzählig, die Hopliten aber
natürlich nur zum Teil im Felde verwendet werden konnten; über Argos Klio
a. a. 0. S. 56 f.
8*
116 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
Über etwa 7000 Hopliten und 1000 Reiter; Argos, das im
V. Jahrhundert noch keine Reiterei unterhielt, über 5 — 6000
Hopliten. Athen hatte zu Anfang des peloponnesischen
Krieges 13 000 Bürgerhopliten, außerdem 1200 Reiter und
1600 Bogenschützen zu Fuß; doch konnte diese Macht bei
der weiten Ausdehnung des attischen Reiches niemals auf
einen Punkt konzentriert und noch weniger längere
Zeit unter Waffen gehalten werden ^. Zu den Hopliten trat
allerdings in dieser Zeit ein mindestens gleichstarkes Auf-
gebot von Leichtbewaffneten, Wohl aber erforderten die
Flotten eine sehr starke Bemannung, 100 Trieren z. B. nahe
an 20 000 Mann. So kostete die etwa zweijährige Belagerung
von Poteidaea durch die Athener (432 bis 430) 2400 Talente 2,
die von Samos, die wenig über 9 Monate dauerte (440/39)
über 1200 Talente ^; die Verteidigung von Syrakus in den
Jahren 415 — 413 weit mehr als 2000 Talente ^. Die ersten
zehn Jahre des peloponnesischen Krieges (431 — 421) haben
dem athenischen Staatsschatze nach einer ungefähren Be-
rechnung gegen 12 000 Talente gekostet (65 Millionen Mark) ^
Die Deckung dieser Ausgaben mußte fast ausschließlich
durch Steuern erfolgen, da von. den alten Staatsdomänen im
V. Jahrhundert im allgemeinen wenig mehr übrig war. Das
Krongut war bei der Abschaffung der Monarchie in der Regel
der königlichen Familie geblieben, oder es war zersplittert
worden; und in den größeren, durch Synoekismos gebildeten
Staaten, wie Attika und Elis '^, hatte jede der früher selb-
ständigen Gemeinden ihren Grundbesitz behalten. Auch
später hat man in Athen die Grundstücke, die dem Staate
durch Konfiskation oder auf anderem Wege zufielen, unter
1 Thuk. II 13, und dazu KUo V, 1905, S. 356 ff.
2 Isokr. Antid. 113, Thuk. II 70 sagt in runder Zahl 2000 tal.
* CIA. I 177, Nep. Timoth. 1, wonach Diod. XII 28 zu emendieren ist,
vgl. Isokr. Antid. 111. Näheres Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 58 und unten 2. Abt.
§ 144.
" Thuk. VII 48, 5.
* Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 244, wo aber die Einnahmen aus der eiöqpopd
und wohl auch die Bundessteuern zu hoch veranschlagt sind.
« Vgl. IGA. 113.
Kriegskosten. — Ertrag des Staatsvermögens. — Direkte Steuern. 117
den Hammer gebracht und den Erlös für die laufenden Be-
dürfnisse verwendet. Dagegen besaßen die kretischen Städte
ausgedehnte Ländereien, aus deren Ertrag die Kosten der
gemeinsamen Mahlzeiten der Bürger bestritten wurden^;
und sehr bedeutend war der Domänenbesitz noch im IV. Jahr-
hundert in Makedonien ^. Mehr ins Gewicht fielen die Berg-
werke. Die Silbergruben von Laureion an der Südspitze
Attikas nennt Aeschylos die „Schatzkammer des Landes" ^,
wie sie denn in der Tat Themistokles die Mittel zu seinem
Flottenbau geliefert haben; doch ist die Ausbeute noch im
Laufe des V. Jahrhunderts sehr zurückgegangen *. Auch
die Finanzen von Thasos und der makedonischen Könige
ruhten zum großen Teil auf dem Ertrage der Bergwerke ^.
Das waren aber auch so ziemlich die einzigen griechischen
Staaten, denen solche natürliche Hilfsquellen zu Gebote
standen ^
Direkte Steuern sind in Form von Naturalleistungen
bei außergewöhnlichen Anlässen schon in homerischer Zeit
von den Bürgern erhoben worden'; und auch die solonische
Klasseneinteilung diente ebensosehr diesem Zwecke, als der
Abstufung der politischen Rechte. Unter der Tyrannen-
herrschaft wurden diese Steuern zur regelmäßigen Abgabe,
wie denn z. B. Peisistratos und seine Söhne Jahr für Jahr 5%
von dem Ertrage des Grundeigentums in Attika erhoben
haben ^ Die Demokratie kehrte dann wieder zu dem alten
Systeme zurück und erhob solche Steuern nur bei außer-
ordentlichem Bedarf, besonders in Kriegszeiten; denn im
1 Aristot. Polit. II 1272 a.
- Plut. Alex. 15.-
» Aesch. Pers. 238.
* Xen. Denkwürdigkeiten III 6, 12.
* Thasos: Herod. VI 46, Makedonien: Herod. V 17.
« Die Bergwerke von Siphnos (oben IIS. 296) waren in dieser Zeit er-
schöpft (Paus. X 11, 2), daher die Insel den Athenern nur 3 tal. Tribut zahlte.
' P 225. V 14. T 197; auch die Freier wollen Odysseus in dieser Weise
für das ihm geraubte Gut entschädigen (x 55, vgl. ß 78).
8 Thuk. VI 54; nach Aristot. An. 16, 5 10%, vgl. Diog. Laert. I 53, und
oben 1 1 S. 390.
118 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
bezeichnenden Gegensatz zu unserer modernen Demokratie,
die in diesem Punkte die Anschauungen der Physiokraten
noch nicht überwunden hat, sahen die Griechen in jeder
direkten Besteuerung eine Beschränkung der persönhchen
Freiheit. Die Matrikularbeiträge, welche Athen von seinen
Bundesstädten erhob, waren keineswegs eine direkte Steuer
im eigenthchen Sinne des Wortes, da es den einzelnen Staaten
freistand, die dafür erforderlichen Summen durch indirekte
Auflagen oder aus den Erträgen ihres Domänenbesitzes zu
beschaffen.
Es waren demnach die indirekten Steuern, welche das
eigentliche Rückgrat für den Haushalt der griechischen
Staaten in dieser Zeit bildeten. Sie trugen zum großen Teil
noch den Charakter von Gebühren, die freilich mitunter
bereits auf eine Höhe gesteigert waren, die zu der Gegen-
leistung des Staates außer Verhältnis stand. Den ersten Platz
darunter nahmen die Zölle ein, d. h. die Gebühren für die
Benutzung der Häfen (eXXi)iieviov). Sie haben sich aus den
Geschenken entwickelt, die fremde Kaufleute für die Er-
laubnis Handel zu treiben den Königen darbrachten ^. Schon
um 600 sollen die Bewohner von Krisa, dem Seehafen von
Delphi, die Pilger, die nach diesem Heiligtum zogen, durch
Zölle bedrückt haben ^; und auch von Periandros wird erzählt,
daß er die Staatsausgaben, ohne direkte Steuern, ledighch
aus dem Ertrage der Zölle und Marktgefälle bestritten hätte ^.
Der Wert dieser Angaben mag dahingestellt bleiben; jeden-
falls aber war der griechische Handel in dieser Periode bereits
weit genvig entwickelt, um die Erhebung von Zöllen lohnend
zu machen. Auch ist kaum abzusehen, worauf der ordent-
liche Staatshaushalt Athens in Solons Zeit beruht haben
sollte, wenn nicht auf solchen Gefällen. Im V. Jahrhundert
müssen sie allgemein bestanden haben; der Betrag war aller-
dings sehr mäßig, 2 — 5% vom Werte, und zwar ohne Unter-
schied für alle Waren, und ebenso für die Einfuhr wie Ausfuhr.
1 V 745.
'^ Strab. IX 418.
^ [Herakleides] Polit. 5 (FHG. II 213).
Direkte Steuern. — Indirekte Steuern. 119
Ja, im Peiraeeus betrug der Zoll bis auf die Besetzung von
Dekeleia durch die Lakedaemonier sogar nur 1%-^. Unter
diesen Umständen lag zum Schmuggel wenig Anreiz vor, und
die griechischen Staaten hatten nicht nötig, sich mit ge-
schlossenen Zollinien zu umgeben. An Landgrenzen sind,
soviel wir sehen, überhaupt keine Zölle erhoben worden.
Ein reiner Finanzzoll war dagegen der Zehnt (öeKdir)), den
die Athener im peloponnesischen Kriege im thrakischen
Bosporos von der Durchfuhr nach dem Pontos und der Einfuhr
aus diesem Meere erhoben ^. Die Zolleinnahmen waren trotz
der niedrigen Sätze verhältnismäßig ansehnhch. So ergab
der Zoll von 2% im Peiraeeus in den ersten Jahren nach
dem peloponnesischen Kriege, als Athen wirtschaftlich tief
gesunken war, doch einen Reinertrag von einigen dreißig
Talenten; und als die Athener nach der Besetzung von Dekeleia
die Tribute durch einen Zoll von 5% auf die Ein- und Aus-
fuhr in den Häfen der Bundesstaaten ersetzten, versprachen
sie sich davon eine Erhöhung ihrer Einkünfte, obgleich die
Tribute bereits wenige Jahre vorher auf über 1000 Talente
gesteigert worden waren ^.
Auch von dem Marktverkehr wurden Gebühren er-
hoben (d"fopd(; TeXoq); in Athen war man zur Zeit des pelo-
ponnesischen Krieges bereits dahin gelangt, die Erhebung
an die Tore zu verlegen (öiaTruXiov), und so dieser Abgabe
den Charakter einer Verbrauchssteuer zu geben *. Steuer-
pflichtig waren ferner Verkäufe, die vor öffentlichen Behörden
abgeschlossen wurden, namentlich also Verkäufe von Immo-
bilien. Gewerbesteuern wurden im allgemeinen nicht bezahlt,
da ja direkte Abgaben von Bürgern überhaupt nicht erhoben
1 [Xen.] Staat der Athen. I 17, vgl. Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 47 f.
* Xen. Hell. I 1, 22 (Diod. XII 64), im korinthischen Kriege von Thrasy-
bulos erneuert (Xen. Hell. IV 8, 27. 31). Mit diesem Zoll scheint die CIA. I 32
erwähnte beKCXTri identisch zu sein {Rh. Mus. XXXIX S. 38). Dieser Volks-
beschluß gehört in die Zeit kurz nach dem Nikiasfrieden, der Zoll wird also
während des archidamischen Krieges eingerichtet worden sein (Näheres unten
2. Abt. § 147, vgl. inzwischen Rh. Mus. XLIII, 1888, S. 113 ff.).
^ S. oben S. 78 A. 3.
* Boeckh, Siaatsh. I ^ S. 438.
120 III. Abschnitt. — Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Perserkriegen.
wurden; doch zog man einige Gewerbetreibende, die eine
besondere Polizeiaufsicht nötig machten, wie Gaukler, Wahr-
sager und öffentliche Dirnen zur Steuer heran. Hierher gehört
auch das Schutzgeld, das eingesessene Fremde zu zahlen
hatten. Von den prozeßführenden Parteien wurden ziemlich
hohe Gerichtskosten erhoben. EndHch bildeten die einge-
zogenen Güter von zahlungsunfähigen Staatsschuldnern oder
von politischen Verbrechern einen ziemlich regelmäßigen
Posten in den Einnahmebudgets der griechischen Staaten;
der bedenklichste Punkt in dem ganzen Finanzwesen, der
zahllosen Mißbräuchen Tür und Tor öffnete.
Bei dem geringen Umfange der meisten griechischen
Staaten in dieser Zeit konnte der Gesamtbetrag aller dieser
Einnahmen nicht hoch sein. Herodot erzählt, daß Thasos
im V. Jahrhundert 300 Talente (1 600 000 Mark) jährlicher
Einkünfte hatte, und hält das offenbar für eine große Summe ^;
wie denn die Angabe auch wahrscheinlich übertrieben ist.
Betrug doch die Gesamtsumme aller Einnahmen, die Athen
aus seinem weiten Reiche zog, beim Beginn des peloponne-
sischen Krieges nicht mehr als 5 — 600 Talente (rund 3 Millionen
Mark) ^', und es gab keinen zweiten griechischen Staat, der
auch nur entfernt über ähnliche finanzielle Mittel verfügt
hätte. Der peloponnesische Bund z. B. besaß als solcher gar
keine Einnahmen, und auch mit der Finanzkraft seiner ein-
zelnen Staaten war es sehr übel bestellt, Korinth und Sikyon
etwa ausgenommen ^. Syrakus muß allerdings unter den
Deinomeniden, als es an der Spitze eines großen Teils von
Sicilien stand, verhältnismäßig bedeutende Einkünfte gehabt
haben; nach dem Sturz der Tyrannis war es, neben den in-
direkten Auflagen im wesentlichen auf den Getreidezehnten
angewiesen, dessen reicher Ertrag zwar sprichwörtlich wurde,
der aber in dieser Zeit schwerlich mehr als 200 000 Medimnen
1 Herod. VI 46.
2 S. unten 2. Abt. § 142. Den Betrag der Einnahmen aus Attika selbst
kennen wir nicht; die Schätzung Boeckhs beruht auf einer unzulässigen Kom-
bination heterogener Angaben.
• 3 Thuk. I 80, 4; 141, 3.
Indirekte Steuern. — Höhe der Staatseinnahmen. — Ehrenämter. 121
(etwa 100 000 hl) ergeben haben kann, also nach attischen
Marktpreisen etwa 100 Talente, nach sicilischen natürlich
viel weniger ^. Auch der thessalische Bund hatte einst von
den untertänigen Landschaften Tribut erhoben ^', aber seit
den Perserkriegen war die Zentralgewalt in Verfall geraten
und die Abhängigkeit der Nebenländer nur noch nominell.
Wir dürfen aber dabei nicht vergessen, daß die griechischen
Staaten auch jetzt noch ihre Bürger in ausgedehntestem
Maße zu unbesoldeten Ehrenämtern heranzogen. Selbst in
den Demokratien empfing kein höherer Beamter Gehalt,
und viele dieser Ehrenämter waren mit bedeutenden Kosten
verbunden. So die Choregie oder die Verpflichtung, einen
Chor für die Aufführungen im Theater mit allem Nötigen
auszustatten, ihn einüben zu lassen und ihn während der
dazu erforderlichen Zeit zu besolden und zu verpflegen; oder die
Gymnasiarchie, die eine ähnliche Verpflichtung gegenüber
den Mitwirkenden bei den gymnastischen Wettspielen auf-
erlegte. Der Aufwand schwankte zwischen mehreren hundert
und mehreren tausend Drachmen, je nach der Art der Spiele,
um die es sich handelte, und dem guten Willen des Pflichtigen.
Weit kostspieliger war die Trierarchie, d. h. die Verpflichtung,
ein vom Staate geliefertes Kriegsschiff auszurüsten und
während der Indienststellung in seetüchtigem Stande zu
erhalten; wofür dem zu der Leistung Verpflichteten die Ehre
zufiel, das Schiff zu befehligen. Die Kosten betrugen in der
Zeit des peloponnesischen Krieges etwa 50 Minen ^, genug,
um die Vermögensverhältnisse auch eines reichen Mannes zu
zerrütten und bei öfterer Wiederholung der Leistung zu-
grunde zu richten. Man hat denn auch schon früh zu der
^ Strab. VI S. 269, das Sprichwort mißverstanden von Demon, FHG,
I 381, 14. Bei der Berechnung ist vorausgesetzt, daß Syrakus mit seinem Gebiet
etwa V4 Million Einwohner zählte (meine Bevölkerung S. 281), zu deren Unter-
halt, einschließlich der Aussaat, etwa 1 750 000 Medimnen nötig waren, so daß
250 000 Medimnen für die Ausfuhr verfügbar blieben.
2 Xen. Hell. VI 1, 19.
' Der Sprecher in Lysias 21. Rede (ÄiroXoYia bujpoboKia^) war im deke-
leischen Kriege sieben Jahre lang Trierarch (411 — 405) mit einem Aufwände
von zusammen 6 Talenten. Vgl. die Rede gDiogeiton 26 f.
122 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Auskunft gegriffen, gleichzeitig je zwei Bürger den Aufwand
für ein Schiff leisten zu lassen, außer wenn es sich um sehr
reiche Leute handelte; aber auch so blieb die Last höchst
ungleich verteilt. Es ist zum großen Teil eben die Trierarchie
gewesen, die im peloponnesischen Kriege den Ruin so mancher
vornehmen Familie Athens herbeigeführt hat.
So ließ denn allerdings das Steuersystem viel zu wünschen
übrig, und auch sonst gab es im Wirtschaftsleben der dunkelen
Punkte genug. Aber das V. Jahrhundert bildet doch in national-
ökonomischer Beziehung, wie in so mancher anderen, einen
Höhepunkt in der Geschichte des griechischen Volkes. Zum
guten Teil beruht das darauf, daß die fünfzig Jahre nach
Plataeae und Mykale für die griechische Welt im großen und
ganzen eine Periode des Friedens waren, wie sie seitdem bis
auf die Zeiten der römischen Hegemonie nicht wiedergekehrt ist.
IV. Abschnitt.
Die Demokratie.
Die Generation, die unter den Eindrücken der Perser-
kriege groß geworden ist, hat das Ideal der Freiheit ihr Leben
lang im Herzen getragen. Wie sie auf geistigem Gebiete die
freie Forschung an die Stelle des Autoritätsglaubens setzte,
wie sie überall das Vernunftrecht an die Stelle des sogenannten
historischen Rechtes zu setzen bemüht war, so strebte sie
auch auf politischem Gebiet nach Niederreißung der über-
lieferten Schranken. Die Wortführer der Nation in Wissen-
schaft und Literatur während des größten Teils des V. Jahr-
hunderts sind fast ausnahmslos demokratisch gesinnt.
Empedokles stand in erster Reihe unter den Begründern
der Volksfreiheit in seiner Vaterstadt Akragas ^; Gorgias
ist um seiner demokratischen Überzeugungen willen in die
1 Aristot. und Timaeos (fr. 88. 88 a) bei Diog. Laert. VIII 63, Plut. Kolot.
32 S. 1126.
Die demokratische Strömung. 123
Verbannung gegangen; Euripides ist ein entschiedener Gegner
der Monarchie wie der Ohgarchie^; der alte Herodot ist be-
geistert für Freiheit und Gleichheit (i(Jovo|uiri und iariYopiri)
noch in einer Zeit, wo die gebildete Jugend in ihrer großen
Mehrheit ganz anderen Tendenzen huldigte. Protagoras
hat die erste theoretische Rechtfertigung der Demokratie
versucht. Damit überhaupt eine menschliche Gesellschaft
bestehen könne, so führt er aus, ist es notwendig, daß jeder
von uns die Rechte des anderen achte; wer es nicht tut, muß
als krankes Glied aus dem Staate ausgestoßen werden. Wer
aber die sozialen Tugenden der Gerechtigkeit (öiKri) und der
Gewissenhaftigkeit (aibiu(g) besitzt, der ist eben damit auch
vollkommen befähigt, seine Stimme bei der Beratung über
das gemeine Wohl geltend zu machen. Folghch ist eine andere
als diese moralische Qualifikation für die Ausübung der poli-
tischen Rechte nicht erforderlich, und es ist ganz verkehrt,
eine besondere technische Ausbildung dafür zu verlangen ^.
Das VI. Jahrhundert hatte der praktischen Verwirk-
lichung dieser Forderungen mächtig vorgearbeitet. In dem
größten Teil der griechischen Welt waren die Vorrechte der
Geburt beseitigt worden und die Vorrechte des Besitzes
an ihre Stelle getreten. Jetzt waren, gegenüber der Strömung
der öffentlichen Meinung, auch diese Privilegien nicht mehr
zu halten, oder sie waren es doch nur in beschränktem Um-
fange. In der Regel erfolgte die Reform auf verfassungs-
mäßigem Wege, mit Hilfe des allgemeinen Stimmrechts,
das sich aus der Königszeit her erhalten und nach dem
Sturze der Adelsherrschaft wieder einen realen Inhalt ge-
wonnen hatte. Eben deswegen blieb die Bewegung fast überall
auf das politische Gebiet beschränkt, und es erfolgte keine
Umwälzung in den Besitzverhältnissen. Wo freilich die
bestehende Ordnung auf dem Wege gewaltsamer Revolution
gestürzt wurde, wie in Sicilien nach dem Tode Hierons, waren
einschneidende Veränderungen auch in der Verteilung des
1 Vgl. z. B. Auge fr. 277, Pleisthenes fr. 628 Nauck.
^ Plat. Protag. 322 c ff. Es ist kein Zweifel, daß Piaton hier Gedanken
des Protagoras wiedergibt, denn er selbst dachte ganz anders.
124 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Eigentums nicht zu vermeiden ^. Als dann die besitzlose
Masse zum maßgebenden Faktor im Staate geworden war,
hat sie natürlich es nicht verschmäht, materielle Vorteile
aus dieser Stellung zu ziehen; und die daraus entspringenden
Bedrückungen der besitzenden Klassen haben das ihrige dazu
beigetragen, den Fall der Demokratie herbeizuführen. Doch
sollten diese Mißbräuche erst gegen den Ausgang des Jahr-
hunderts stärker hervortreten.
Auch auf politischem Gebiete erstrebte die griechische
Demokratie in dieser Zeit noch keineswegs die absolute Gleich-
heit der Rechte aller Staatsbürger. Selbst in Athen haben
die Bürger der dritten Vermögensklasse, die Zeugiten, erst
in 457 Zutritt zu dem formell noch immer höchsten Staatsamt,
dem Archontate, erlangt, und die Bürger der untersten Klasse,
die Theten, blieben auch jetzt davon ausgeschlossen ^. Nur
Grundbesitzer konnten zu Strategen gewählt werden, und
an der Bestimmung, daß zu den höheren Finanzämtern nur
Pentakosiomedimnen gelangen sollten, ist nicht gerüttelt
worden. Man war verständig genug, zu erkennen, daß nur
vermögende Männer für die gewissenhafte Verwaltung so
verantwortungsreicher Ämter die nötigen Garantien ge-
währten. Ohnehin hätte ja das passive Wahlrecht zu solchen
Stellen für die nichtbesitzenden Klassen keine praktische
Bedeutung gehabt ^. Die Bestrebungen der Demokraten
richteten sich vielmehr darauf, die Machtvollkommenheit
der Beamten nach Möglichkeit zu beschränken. Alle irgend
wichtigen Verwaltungssachen sollten der Volksversammlung
oder wenigstens ihrem permanenten Ausschuß, dem Rat, zur
Entscheidung vorgelegt werden; in der Rechtspflege sollte
den Behörden nur die Instruktion der Prozesse bleiben, das
Urteil aber von aus dem Volke erlosten Geschworenen ge-
sprochen werden, falls nicht etwa, in Staatsprozessen, die
Volksversammlung selbst als Gerichtshof sich konstituierte.
Gegen etwaige Übergriffe der Behörden sicherte die Rechen-
1 Diod. XI 76.
^ Aristot. An. 26, 2.
ä [Xen.] Staat d. Athen. I 3.
Die Ziele der Bewegung. — Die Demokratie im athenischen Reiche. 125
schaftspfiicht nach Ablauf des Amtsjahres; auch hatte die
Volksversammlung jederzeit das Recht, einen mißliebigen
Beamten seiner Stellung zu entheben.
Um die Zeit der Perserkriege war die demokratische
Staatsform in Griechenland im wesentlichen auf Attika und
einige der umliegenden Landschaften beschränkt gewesen;
in Kleinasien und Sicilien herrschte die Tyrannis, in dem
bei weitem größten Teile der griechischen Halbinsel die Oli-
garchie oder Aristokratie. Da war es nun von folgenschwerster
Bedeutung, daß das demokratische Athen an die Spitze des
Bundes trat, den die vom persischen Joche befreiten See-
staaten zu ihrer gemeinsamen Verteidigung schlössen. Es
konnte nicht fehlen, daß das Beispiel der führenden Macht
auf die Bündner den weitgreifendsten Einfluß ausübte. Als
bei der Vertreibung der Perser in den asiatischen Städten die
Tyrannen gestürzt wurden, hat man die Verfassungen vielfach
nach dem Muster der athenischen umgestaltet; wie denn z. B.
Milet und Priene so weit gegangen sind, sogar die Namen der
kleisthenischen Phylen herüberzunehmen ^. Oft wurden
solche Reformen auch von Athen aus oktroyiert ^, nament-
lich bei der Wiederunterwerfung abgefallener Bundesstaaten;
war es doch klar, daß die gemeinsame demokratische Staats-
ordnung den festesten Kitt zwischen den Gliedern des Bundes
bilden mußte. Immerhin verstand es Athen in der demo-
kratischen Propaganda Maß zu halten. So ist in der wichtigsten
Bundesstadt, in Samos, die Oligarchie der Grundbesitzer
(Geomoren) bis auf den Aufstand des Jahres 440 bestehen
geblieben ^, und auch in Mytilene herrschte noch 428 eine
gemäßigt-oligarchische Staatsform *. Aber allerdings mußte
die athenische Hegemonie im Laufe der Zeit mit Notwendigkeit
dahin führen, die Demokratie auf den Inseln und an den
Küsten des Aegaeischen Meeres zur Herrschaft zu bringen.
^ Le Bas, Aste Mineure 238. 242, vgl, Haussoullier, Rev. de Philol.
XX, 1896, S. 38 ff., Inschr. v. Priene, Index.
* Vgl. den attischen Volksbeschluß über die Neuordnung der Verfassung
von Erythrae CIA. I 9.
3 Thuk. I 115.
* Thuk. III 27. 47.
126 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Im Westen der hellenischen Welt hinderten zunächst
die beiden Militärmonarchien von Syrakus und Akragas
die Ausbreitung der demokratischen Bewegung. Um seiner
Macht Dauer zu geben, hatte schon Gelon das syrakusische
Bürgerrecht an Tausende von ausgedienten Mietsoldaten
verliehen^; sein Nachfolger Hieron schritt auf dieser Bahn
weiter. Um 475 wurden die Bewohner von Katane nach
Leontinoi verpflanzt und die verlassene Stadt unter dem
Namen Aetna in eine Militärkolonie umgewandelt ^. Außer-
dem stand ein starkes Söldnerkorps beständig unter Waffen,
und im Arsenal lag eine zahlreiche Kriegsflotte. So glich
Syrakus einer großen Kaserne ^. Man hatte das willig er-
tragen, so lange die nationale Unabhängigkeit durch die
Karthager bedroht war; der Sieger von Himera besaß eine
fast unbegrenzte Popularität, und noch lange nach seinem
Tode hat das Volk ihn in dankbarem Gedächtnis behalten *.
Aber schon unter Hieron begann das Verhältnis zwischen
Herrscher und Volk sich zu trüben; es ist bezeichnend dafür,
daß der Tyrann zur Einrichtung einer Geheimpolizei schreiten
mußte und selbst die Dienste von Agents provocateurs nicht
verschmähte ^. Für sich allein freilich hätte diese beginnende
Unzufriedenheit noch nicht allzuviel zu bedeuten gehabt,
gegenüber den Machtmitteln, die der Regierung zu Gebote
standen, und ihren Erfolgen in der äußeren Politik. Bedenk-
1 Diod. XI 72.
2 Diod. XI 49 (Ol. 76, 1 476/5), Find. Pyth. I 59. 118 ff., III 123. Bei
seinem pythischen Sieg im Spätsommer 470 ließ Hieron sich als Aetnaeer aus-
rufen; dagegen findet sich Ol. I (476) noch keine Anspielung auf Aetna (Schol.
V. 33 TÖxe ydp ö 'Idpujv r\v lupaKoüöio«; Kai ovbi r\v AiTvaTo«;, &<; (pr\aiv
ATToUöbujpo«;. Vgl. Wilamowitz, BerlSB. 1901, S. 1299.
^ Find. Pyth. II 1 ZupcxKOcrai, ßaeuiroX^iuou Te|uevo<; "Apeoi;, ävbpüjv
linTÜJv re aibapoxapuäv baijuöviai xpoqpai.
* Als Timoleon in der Finanznot des Karthagerkrieges die ehernen Statuen
in Syrakus einschmelzen ließ, machte er mit der Statue Gelons eine Ausnahme
(Plut. Timol. 24). Noch Hieron II nannte wegen dieser Popularität seinen
Sohn Gelon, eine seiner Töchter Damareta. Vgl. auch Diod. XIII 22,4, XIV
66, 1, Plut. Dion. 5.
s Aristot. Polit. V 1313 b.
Die sicilischen Militärmonarchien. — Revolution aur Sicilien. 127
lieber war es, daß die Einigkeit im Herrscherhause selbst
zu schwinden begann. Schon bald nach Gelons Tode kam
es zum Konflikt zwischen Hieron und seinen Bruder Polyzalos,
der nach Gelons letztem Willen sich mit dessen Witwe Damareta
vermählt hatte und, wie es scheint, Hieron in der Herrschaft
über Gela gefolgt war; Polyzalos wurde vertrieben und
suchte Schutz bei seinem Schwiegervater Theron von Akragas.
Wenig fehlte, und es wäre darüber zwischen den beiden großen
sicilischen Militärmächten zum Kriege gekommen; aber
Hieron trug Bedenken, die Sache bis zum Äußersten zu treiben,
und bequemte sich endlich dazu, den Bruder zurückzurufen ^.
Als aber Theron wenige Jahre später gestorben und sein
Sohn Thrasydaios ihm in der Herrschaft gefolgt war, kam
der Krieg doch zum Ausbruch. Thrasydaios verfügte über
eine sehr bedeutende Macht, angeblich 20 000 Mann, aber
in der entscheidenden Schlacht blieb Hieron nach großem
Blutvergießen der Sieg. Und nun erhob sich das Volk in
Akragas und Himera gegen den verhaßten Tyrannen; Thrasy-
daios mußte in die Verbannung gehen, und die republikanische
Verfassung wurde in beiden Städten wieder hergestellt. Sie
traten zu Hieron in das Verhältnis abhängiger Bundesgenossen
(471) 2.
Der Sturz der Monarchie in Akragas konnte auf Syrakus
nicht ohne Rückwirkung bleiben. Freilich so lange Hieron
lebte, hielt alles sich ruhig; kaum aber hatte der alte Tyrann
die Augen geschlossen (466), als die Revolution losbrach.
Der Zwist im Herrscherhause bahnte ihr den Weg. Denn
da Polyzalos bereits gestorben war, ging die Oberleitung
des Staates jetzt auf Thrasybulos über, den letzten der vier
Söhne des Deinomenes; es gab aber eine starke Partei am
Hofe, die statt seiner den jungen Sohn Gelons auf den Thron
1 Diod. XI 48, Timaeos fr. 90, unten 2. Abt. § 62.
- Diod. XI 53, vgl. , XI 68. 1, 76. 4. Auf die Befreiung von Himera,
geht Find. Ol. XII 1 Aiaao|uai ttoT Zrjvöi; 'E\eu6epiou, 'l|u^pav eüpuaB^ve'
äluqpiTiöXei, ZÜJxeipa Tüx«- Über die Verfassung von Akragas Diog. Laert.
VIII 66.
128 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
bringen wollte ^. Darüber erhob sich das Volk von Syrakus,
aus den anderen Städten des Reiches kam Zuzug, und bald
sah der Tyrann mit seinen Mietstruppen sich auf den Besitz
der inneren Stadt Syrakus, die Quartiere Ortygia und Achra-
dina beschränkt, während die Aufständischen in den Vor-
städten lagerten. Zu Wasser und zu Lande geschlagen, blieb
Thrasybulos schließlich nichts übrig, als auf freien Abzug
zu kapitulieren, im elften Monate seiner Herrschaft (465);
er ging in die Verbannung nach Lokroi, wo er im Andenken
an den Schutz, den einst Hieron der Stadt gewährt hatte,
gut aufgenommen wurde und bis an sein Ende als Privatmann
gelebt hat 2.
So war Sicilien frei. Überall wurden nun demokratische
Verfassungen eingeführt, und die bisher von Syrakus ab-
hängigen Städte gewannen ihre Selbständigkeit zurück. Aber
die Insel sollte noch nicht so bald zur Ruhe kommen. Die
Altbürger bhckten mit nur zu berechtigtem Mißtrauen auf die
zahlreichen Söldner, welche die Tyrannen in Syrakus und
den übrigen Gemeinden angesiedelt und in die Bürgerschaft
aufgenommen hatten; diese sahen sich infolgedessen unter
der neuen Ordnung in jeder Weise zurückgesetzt. So griffen
sie endlich zu den Waffen, im Vertrauen auf ihre überlegene
Kriegstüchtigkeit. Es gelang ihnen, die Stadt Syrakus in ihre
Gewalt zu bringen; aber die Altbürger behaupteten sich in den
Vorstädten, schlössen die Stadt durch eine Umwallungslinie
ein, besiegten die Söldner in einer Seeschlacht und zwangen
sie endlich durch Hunger zur Übergabe ^. Die Sieger wandten
sich nun gegen Aetna, die Militärkolonie Hierons (oben S. 126),
wo dieser seinen Sohn Deinomenes zum Herrscher eingesetzt
^ Arist. Polit. V 1312 b, vgl. limaeos fr. 84. Über die Chronologie unten
2. Abt. § 60 f.
2 Diod. XI 67—68.
» Diod. XI 72—73. 76, Aristot. Polit. V 1303 a b. Diodor hat vergessen
das Ende des Aufstandes zu berichten; da er aber von dem Mangel an Lebens-
mitteln in der belagerten Stadt erzählt (XI 73, 3) und zugleich die Erfolg-
losigkeit der Stürme der Belagerer hervorhebt (76, 1), so ergibt sich das oben
im Text Gesagte. Ohnehin war in dieser Zeit die Einnahme einer starken, gut
Die Revolution auf Sicilien. 129
hatte ^; nach längeren Kämpfen mußten die Söldner auch
hier weichen, und die alten Bürger kehrten in ihre Heimats-
stadt zurück, die nun wieder ihren früheren Namen Katane
annahm, der ihr seitdem bis heute gebHeben ist (um 461).
Das Grab Hierbns, der als Gründer von Aetna hier bestattet
war, wurde niedergerissen. Doch behaupteten sich die Söldner
in dem nahen Inessa [Paterno], einer Ortschaft des kata-
naeischen Gebietes, wo sie ein neues Aetna gründeten ^.
Inzwischen waren auch in Gela, Himera und Akragas
die dort angesiedelten Söldner vertrieben worden; sie
zogen sich nach festen Orten der Nachbarschaft zurück,
die aus Gela nach Omphake und Kakyron, die aus Akra-
verteidigten Festung anders als durch Hunger kaum möglich, es sei denn, daß
der Verrat ein Tor öffnete. Der große Sieg der Syrakusier ^irl Tr\c, x^po-C, C^ß, 2)
•wird über ein Entsatzheer erfochten sein, da ja die syrakusischen Söldner in
der Stadt eingeschlossen waren (73, 2), und es doch an sich klar ist, daß die
Söldner in Aetna etwas für ihre Genossen in Syrakus getan haben müssen.
1 Vgl. Paus. VIII 42, 9; VI 12, 1. Find. Pyth. I 116 nennt ihn bei Leb-
zeiten des Vaters AiTvaq ßaai\eü<;; wahrscheinlich ist er unter dem riYOUinevoi;
von Aetna zu verstehen, den Duketios einige Jahre später ermorden ließ (Diod.
XI 91, 1).
- Diod. XI 76, 3, vgl. 91, 1. Strab. VI 268. Die Neueren (vgl. Casagrandi,
Su diie cittä antiche sicule Vessa ed Inessa {Aetna), Aeireale 1894) setzen Aetna
durchweg nach S. Maria di Licodia. Aber nach dem hin. Anton. (S. 93 Wess.)
lag Aetna 12 Milien von Katane und ebensoweit von Kentoripa, letztere Distanz
gibt auch die Tab. Peut., wo die Entfernung nach Katane ausgefallen ist; nach
Strab. VI 268 betrug sie 80 Stadien oder 10 Mihen. S. Maria di Licodia aber
ist von Catania 28 km oder fast 19 Milien entfernt. Wohl aber Hegt 12 Milien
von Catania und etwa ebensoweit von Centuripe Paternö, das den Neueren
für Hyble gilt, weil hier eine Statuenbasis mit der Inschrift Veneri Victrici
Hyblensi gefunden ist (CIL. X 7013). Aber die Aphrodite von Hyble konnte
doch auch in den Nachbargemeinden verehrt werden; der Zusatz Hyblensi
macht es sogar wahrscheinHch, daß unsere Inschrift nicht aus Hyble selbst
stammt. Entscheidend ist, daß das Gebiet von Aetna, neben dem von Leontinoi,
der ergiebigste Getreidebezirk Siciliens war (Cic. Verr. III 44, 304; 45, 106),
sich also in die Ebene am unteren Symaethos hinein ausdehnte; las paßt auf
Paternö, aber in keiner W-^ise auf S. Maria di Licodia. Der (antike ?) Be-
festigungsring bei La Civita, 2 Milien südlich von letzterem Orte, an der Straße
nach Paternö (Casagrandi S. 21), umfaßt nur Y« ha und ist also für eine Stadt
wie Aetna viel zu klein.
Beloch, Griech. Geschichte, 11 i 2. Aufl. J
130 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
gas nach Herakleia Minoa, und setzten von dort aus den
Kampf fort^.
Der Fall der Herrschaft der Deinomeniden zog auch den
Sturz der Tyrannis in Rhegion nach sich. Dort war Anaxilaos
im Jahre 476/5 gestorben mit Hinterlassung noch unmündiger
Söhne, für die ein naher Verwandter, Mikythos, die Regierung
übernahm ^. Unter seiner Verwaltung wurde Pyxus mit
rheginischen Kolonisten besetzt (471/0) ^; ein Krieg aber,
den er, im Bunde mit Tarent, gegen die lapyger unternahm,
führte zu einer vernichtenden Niederlage, wie es heißt, der
schwersten, die bis dahin ein griechisches Heer erHtten hatte *.
Mikythos' Stellung mußte dadurch aufs stärkste erschüttert
werden; und da Anaxilaos' Söhne inzwischen herangewachsen
waren, sah er sich gezwungen, die Herrschaft niederzulegen,
1 Wir kennen diese Ereignisse, abgesehen von einer knappen Angabe
bei Diod. XI 76, 4, nur aus einem Bruchstück des Inhaltsverzeichnisses eines
Werkes über sicilische Geschichte, vielleicht Philistos, das auf zwei in Oxy-
rhynchos gefundenen Papyrusfetzen erhalten ist (Oxyrh. Pap. IV S. 80 ff.,
vgl. außer den Bemerkungen der Herausgeber Grenfell und Hunt, De Sanctis,
Una 7iuova pagina di Storia Siciliana, Riv. Filol. XXXIII, 1905, S. 66 ff.,
Pais, Rendiconti Lincei XVII, 1908, S. 329 ff. De Sanctis ergänzt v. 1 richtig
'0|Ucpd[Kr)], ein Ort, der in der Gründungsgeschichte von Gela als irö\i0,ua
XiKUViKÖv erwähnt wird (Paus. VIII 46, 2 vgl. IX 40, 2) und also in der Nähe
dieser Stadt gelegen haben muß. Kakyron kommt sonst nur bei Ptol. Geogr.
III 4, 7 vor, wo die Ausgaben MciKupov haben. Über den inneren Zusammenhang
der Begebenheiten enthält unser Fragment begreiflicherweise nichts.
■' Diod. XI 48, 2, Herod. VII 170, lustin. IV 2, 5. S. unten 2. Abt. § 65.
Privatrechtlich war er der Vormund (^-rriTpoTTO!;) der Söhne des Anaxilaos
(daher die Rechenschaftsablage vor den iraTpiKoi qpiXoi, Diod. XI 66, 2), staats-
rechtlich aber der Herrscher von Rhegion, da ja die Tyrannis ihrem Wesen
nach eine Regentschaft nicht zuläßt (oben S.73 A. 1.). Herod. a. a. 0. wirft beides
zusammen (^TTixpoiroi; 'PriYiou KaTeX^XemTo); richtiger sagt Diod. XI 69, 4
6 Tr]v buvaaxeiav 'i\ni\/ 'Piiyiou Kai Z&^Kkr\c„ Strab. VI 253 6 Meacrrivrii;
äpxiuv Tf|(; dv IiKeXia.
^ Diod. XI 59, 4, unter 471/0, nach der chronologischen Quelle, Strab.
VI 253.
* Herod. I 170, Diod. XI 52, Aristot. Polit. V 1303 a. Pais, Rlcerche
storiche e geografiche suW Italia antica (Turin 1908) S. 29 ff. hat richtig gesehen,
daß das Bündnis zwischen Rhegion und Tarent mit der Besetzung von Pyxus
zusammenhängt, die Niederlage also erst einige Zeit nach 471/0 erfolgt ist;
das Datum bei Diodor (473/2) bezieht sich auf den Anfang des Krieges (^tt'
Sturz der Tyrannis in Rhegion. — Neuordnung Siciliens. 131
und nach Tegea in die Verbannung zu gehen (467/6) ^. Der
älteste der Brüder, Leophron, trat nun an die Spitze des
Staates. Er führte einen glückhchen Krieg gegen Lokroi,
vermochte sich aber der demokratischen Bewegung gegenüber
nur wenige Jahre im Besitz der Tyrannis zu behaupten, und
Rhegion und Messene gewannen die Freiheit zurück (461/0) ^.
Messene löste nun seine politische Verbindung mit der Nach-
barstadt jenseits der Meerenge, der alte Name Zankle kam
noch einmal zur Geltung. Bald aber brach Streit aus zwischen
den Altbürgern und den von Anaxilaos angesiedelten Kolo-
nisten; die schwächere Partei rief die soeben aus Himera ver-
triebenen Söldner zur Hilfe herbei, doch diese ergriffen die
günstige Gelegenheit, sich selbst der Stadt zu bemächtigen.
Da sie in ihrer Mehrzahl aus dem Feloponnes stammten,
wurde Messene, wie es jetzt wieder genannt wurde, zur dorischen
Stadt 3.
Indessen war es zwischen den befreiten Städten auf
Sicilien zum Kriege gekommen. Die Akragantiner erhoben
Anspruch auf Krastos, eine sikanische Ortschaft, die, wie
es scheint, zum Gebiet von Himera gehörte, und suchten
äpxovTOc; Mevuuvo«; iröXeiuoq ^v^axri TapavTivoic; -rrpöi; tou<; MctTTUYai;), der, wie
er ausdrücklich sagt, längere Zeit gedauert hat. Die entscheidende Schlacht
muß in der Nähe von Tarent geschlagen worden sein (Diod. XI 52, 5); daß die
Sieger den Feind bis nach Rhegion hin verfolgt hätten, wie Diodor sagt, beruht
natürlich auf einem Mißverständnis.
1 Diod. XI 66, vgl. Herod. I 170, Paus. V 24, 6; 26, 2—5, und die In-
schriften des von Mikythos in Olympia gestifteten Weihgeschenks IGA. 532.
533 = Inschr. v. Olymp. 267 — 269. Daß der Regierungswechsel sich nicht so
glatt vollzogen hat, wie Diodor erzählt, zeigen Herodots Worte ^KTreoübv ^K
'PriTiou.
•^ Diod. XI 76, 5, und über Leophron unten 2. Abt. § 65.
ä Es gibt Münzen attischer Währung mit der Aufschrift AavKXaiov,
die nach ihrem Stil in die Zeit um die Mitte des V. Jahrhunderts gehören, folglich
erst nach dem Sturz der Tyrannis geprägt sein können (A. J. Evans, Niim.
Chron. 1896 S. 109 fi., Hill, Coins of Sicüy, Westminster 1903, S. 70). Diodor
drückt sich also korrekt aus, wenn er (XI 76, 5) von der Erhebung der 'PiiYivoi
laerd ZoykXoiujv gegen die Söhne des Anaxilaos erzählt. — Über die inneren
Wirren in Zankle lustin. IV 3, 1 — 3, ein Bericht, dessen Verständnis uns erst
der Papyrus von Oxyrhynchos (oben S. ISO Anm. 1) erschlossen hat. Damit
9*
132 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
sich mit Waffengewalt in ihren Besitz zu setzen; Himera
und Gela verbündeten sich nun gegen die mächtige Nachbar-
stadt und Hef erten den Akragantinern vorKrastos eine Schlacht,
deren Ausgang uns nicht berichtet wird. Syrakus aber hielt
an dem Bündnis mit Akragas fest, und es gelang den Akragan-
tinern mit dessen Hilfe, die Söldner, die sich noch in Herakleia
Minoa hielten, von dort zu vertreiben ^. EndHch trat ein
allgemeiner Friedenskongreß zusammen; mit den Söldnern
wurde ein Abkommen geschlossen, das Messene in ihrem
Besitze beHeß, und denen, die noch in Waffen standen, freien
Abzug dorthin gewährte, unter Mitnahme ihrer beweglichen
Habe; in den übrigen Städten wurden die Verbannten zurück-
gerufen und die Verteilung des Grundeigentums neu geregelt.
Kamarina, das seit der Schlacht am Eloros zu Gela gehörte,
dessen Bewohner aber von Gelon nach Syrakus verpflanzt
worden waren (oben S. 70 und 71), wurde als geloische
Kolonie neu gegründet und erhielt seine Selbständigkeit
zurück ^
Wie es nicht anders sein konnte, dauerte es noch geraume
Zeit, bis die neuen Zustände sich befestigten. In Syrakus
versuchte ein einflußreicher Bürger, Tyndaridas, auf die
besitzlose Menge gestützt, sich zum Tyrannen auf zuwerfen;
als die Regierung ihn verhaften lassen wollte, kam es zum
Straßenkampf, bei dem der Prätendent mit vielen seiner
tritt nun auch die Angabe Diodors a. a. 0., daß das Gebiet von Messene den
Söldnern überlassen wurde, in das rechte Licht und gibt ihrerseits eine Be-
stätigung für den Bericht des lustinus. Demnach ist klar, daß unter den
Rheginern, von denen dort die Rede ist, die von Anaxilaos in Zankle ange-
siedelten Kolonisten zu verstehen sind. Die messenischen Münzen tragen seit-
dem stets die Aufschrift Meaaavioi; oder Meaaaviujv, ein Beweis für die völlige
Dorisierung der Stadt.
^ Oxyrhynchus Pap. IV S. 80 ff. Krastos wird sonst nur noch bei Steph.
Byz. s. v., mit Berufung auf das 13. Buch des Philistos (fr. 43) als ttöXk; ZiKeXia?
TU)v ZiKavujv erwähnt, hat also wahrscheinlich im Zentrum der Insel gelegen.
Daß es sich bei den Kämpfen um die Stadt um Grenzstreitigkeiten handelt,
scheint klar.
* Diod. XI 76, 5. 6. Über Kamarina auch Find. Ol. V 19 (vdoiKOV Iboav)
mit den Schollen.
Neuordnung Siciliens. — Italien. 133
Anhänger den Tod fand (um 454) ^. Um die Wiederkehr
solcher Vorgänge zu verhindern, führte die syrakusische
Demokratie ein dem attischen Ostrakismos ähnliches Ver-
fahren bei sich ein, den PetaHsmos, so genannt, weil die Ab-
stimmung mittelst Olivenblättern geschah ^. Wirklich scheint
es zu keinem Versuche mehr gekommen zu sein, die Tyrannis
herzustellen; wie hoch aber die Wogen des Parteikampfes
auch jetzt noch gingen, zeigen die wiederholten Feldherrn -
prozesse, die in den nächsten Jahren in Syrakus zur Ver-
handlung kamen ^.
Auf dem italischen Festlande hatte die demokratische
Bewegung inzwischen weiter um sich gegriffen. In Tarent
gab die große Niederlage gegen die lapyger (oben S. 130)
den Anlaß, die alte monarchisch-aristokratische Verfassung
durch die Demokratie zu ersetzen *. In den Achaeerstädten
des heutigen Calabrien, wo es dem Geheimbund der Pytha-
goreer gelungen war, die Leitung des Staates an sich zu reißen,
ward diesem halb aristokratischen, halb theokratischen
Regiment jetzt ein blutiges Ende bereitet; die Mitglieder der
Sekte wurden getötet oder vertrieben ^. In Kyme war, wie
wir wissen, die Tyrannis des Aristodemos schon einige Jahre
früher gestürzt worden (oben IIS. 381). So war auch in den
italischen Kolonien die Demokratie fast überall zur Herr-
1 Diod. XI 86.
2 Diod. XI 87.
» Diod. XI 88. 91.
* Arist. Polit. V 1303 a.
° Hauptstellen Aristoxenos FHG. 11 274, 11 und Polyb. II 39; vgl. Dikae-
archos FHG. II 245, 31, lustin. XX, 4, Diog. Laert. VIII 39, Apollonios bei
lambl. Leben des Pythag. 254 ff. Die Katastrophe setzen Dikaearchos und andere
noch in Pythagoras' Zeit, während nach Aristoxenos Epameinondas' Lehrer
Lysis dabei gegenwärtig gewesen wäre; da nun Epameinondas nicht wohl vor
420 geboren sein kann, so kann Lysis' Geburt kaum vor 470 gesetzt werden,
und die Katastrophe fiele frühestens um die Mitte des V. Jahrhunderts. Die
inneren Wirren mögen aber schon vorher begonnen haben. Es liegt nahe, den
Versuch der Sybariten, ihre Stadt wieder aufzubauen (453), mit diesen Unruhen
in Kroton in Zusammenhang zu bringen. — Vgl. Zeller, Philos. d. Griechen
I 5 331 ff., Rohde, Kl. Sehr. II 102 ff., bes. 114 A, Corssen, Philol. LXXI (N. F.
XXV), 1912, S. 332 ff.
134 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Schaft gelangt; nur in Lokroi erhielt sich die alte aristo-
kratische Staatsform ^.
Gleichzeitig mit dieser Bewegung, und wenn auch nicht
durch sie hervorgerufen, so doch in ihren Erfolgen mächtig
gefördert, trat eine nationale Reaktion gegen den Hellenismus
bei den Eingeborenen Italiens ein. Und zwar ebenso bei den
Stämmen des Kontinents, wie Siciliens. Sie wird eingeleitet
mit jener blutigen Niederlage der Tarantiner durch die
lapyger. Bald werden die Lucaner, in der heutigen Basilicata,
ein Volk, dessen Namen jetzt zum ersten Male genannt wird,
den Städten am Golf von Tarent lästige Nachbarn ^. Um
dieselbe Zeit steigen die Samniten in die seitdem sogenannte
campanische Ebene hinab, erobern das etruskische Capua
und kommen dadurch in unmittelbare Berührung mit Kyme,
das ihren Waffen wenig später erliegen sollte ^.
Nicht so erfolgreich war die nationale Reaktion auf
Sicilien, wo die Eingeborenen auf allen Seiten von helle-
nischen Kolonien umgeben und durch das Meer von den
Stammesgenossen auf dem Festland getrennt waren. Die
Bewegung fand hier ihren Führer in Duketios, dem König
von Menae (Mineo bei Caltagirone) *. Als Verbündeter der
syrakusischen Demokratie hatte er an dem Feldzuge gegen
1 Aristot. Polit. V 1307 a.
^ Polyaen. II 10, 2. 4 (bald nach der Gründung von Thurioi). Naiverweise
hat man daraus geschlossen, die Lucaner seien erst in dieser Zeit aus Samnium
eingewandert. Die Sache ist vielmehr analog dem Aufkommen der Namen
der großen germanischen Stämme im III. Jahrhundert nach oder des Hellenen-
namens im VII. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Offenbar haben die
kleinen oskischen Stämme in den Bergen zwischen dem Principato und der
Basilicata sich damals zu einer politischen Einheit zusammengeschlossen.
3 Nach Diodor ist Capua 438/7 (XII 31), Kyme 421/0 (XII 76) genommen
worden; sind die Angaben aus römischer Quelle geflossen, so würde 445 und 428
dafür zu setzen sein. Livius berichtet die Einnahme von Capua unter 423 (IV 37),
die von Cumae unter 421 (IV 44).
* Diod. XI 88, 6. M^va«; ist Konjektur von Clüver für das von den meisten
Handschriften überlieferte )n4v N^a<;; der Patmius hat luivda?. Eine Bestätigung
gibt Apollodor Chron. II fr. 60 Jac. Mevai -nokxc, ItKcXia«; ^TT^? TTaXiKÜJv,
denn Apollodor kann die Stadt nur bei Gelegenheit der Geschichte des Duketios
Italien. — Nationale Reaktion. — Duketios. 135
Hierons Sohn Deinomenes von Aetna teilgenommen und
zu dem glücklichen Ausgange wesentlich beigetragen ^. Bald
darauf gelang ihm die Eroberung des wichtigen Morgantine;
und dieser Erfolg gab den Anlaß, daß fast die ganze sikelische
Nation sich unter Duketios' Führung zu einem Staate
zusammenschloß. Am heiligen See der Paliken, unweit von
Menae, da, wo das heraeische Bergland zur fruchtbaren Ebene
von Catania sich herabsenkt, wurde die Hauptstadt des neuen
Reiches gegründet, die jenen Nationalgöttern zu Ehren den
Namen Palike erhielt (459/8) 2.
Duketios kehrte jetzt seine Waffen gegen Hierons alte
Söldner in Aetna (Inessa); der feste Platz wurde genommen,
und damit der letzte Rest der Deinomenidenherrschaft zer-
stört, Hierons Sohn Deinomenes fand dabei seinen Tod ^.
Jetzt hielt sich der sikelische König für stark genug, den
Befreiungskrieg gegen die Griechen zu beginnen. Es gelang
ihm auch, die Akragantiner und die ihnen verbündeten Syra-
kusier in offener Feldschlacht zu schlagen und die akragan-
tinische Grenzfestung Motyon einzunehmen; auf die Dauer
aber zeigten sich die Hilfsquellen der griechischen Städte
weit überlegen. Im folgenden Frühjahr erlitt Duketios durch
die Syrakusier bei Noae eine schwere Niederlage, Motyon
wurde von den Akragantinern wieder erobert, und der König,
von seinen Anhängern verlassen, war endlich gezwungen,
sich den Syrakusiern auf Gnade und Ungnade zu ergeben
(etwa 450). Sein Reich zerfiel; der südHche Teil, das frucht-
bare Piano di Catania, mit Morgantine, Menae und Inessa
kam an Syrakus; die nördlichen Gegenden, das obere Symae-
thostal und die nebrodischen Berge behielten ihre Unab-
hängigkeit, so daß jede Stadt wieder wie früher einen selb-
erwähnt haben. Nach Diod. XI 78, 5 (aus der chronographischen Quelle) wäre
M^vaivov (Nebenform von Mevai) von Duketios gegründet worden; das ist
nichts weiter als ein Parallelbericht zu dem |ueTOiKiaiiö<; von Menae nach dem
Palikensee, der XI 88, 6; 90, 1 nach der historiographischen Quelle erzählt wird.
1 Diod. XI 76, 3.
2 Diod. XI 78, 5; 88, 6; 90, 1.
3 Diod. XI 91, 1.
136
IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Ständigen Kleinstaat bildete. Duketios selbst wurde nach
Korinth relegiert ^.
Jetzt aber kam es zum Bruch zwischen den Siegern.
Syrakus hatte im Kriege gegen die Sikeler das Beste getan
und dementsprechend den Löwenanteil der Beute für sich
genommen; Akragas war nicht gesonnen, das zu dulden, und
griff zu den Waffen. Die übrigen Städte der Insel nahmen für
und wider Partei, doch am Flusse Himeras erlitten die Akra-
gantiner eine entscheidende Niederlage, die sie zwang, um
Frieden zu bitten (446/5) ^. Diese Wirren benutzte Duketios,
um nach Sicilien zurückzukehren; von Archonidas, dem
Könige von Erbita, unterstützt, gründete er an der Nord-
küste der Insel die Stadt Kaiakte, in der Hoffnung, von hier
aus noch einmal eine nationale Erhebung zustande zu bringen.
Doch bald setzte der Tod diesen Plänen ein Ziel ^. Die Syra-
kusier wandten sich jetzt gegen Pahke, die Stadt, die Duketios
einst beim Beginn seiner Laufbahn gegründet hatte; sie fiel
nach tapferem Widerstände und wurde von den Siegern
zerstört (um 440) ^. Das Schicksal der sikelischen Nation
^ Diod. XI 91 — 92. Die entscheidende Schlacht wäre nach Diod. XI 91, 2
uepl xdi; No|ndi; geschlagen worden; da aber bei ApoUodor Ckron. II fr. 61
(bei Steph. Byz.) eine sicilische Stadt Nöai erwähnt wird, die nur bei dieser
Gelegenheit genannt sein konnte, so ist klar, daß bei Diodor Nöaq herzustellen
ist. Die Lage ist unbekannt. — Auf die Einnahme von Motyon, nicht aber auf
einen Sieg über das phoenikische Motye bezieht sich das von Paus. V 25, 2
erwähnte Weihgeschenk, das die Akragantiner in Olympia aufstellten, vgl.
Hermes XXVIII, 1893, S. 633. — Morgantine (Thuk. IV 65, 1) und überhaupt
die sikelischen Städte in der Ebene von Catania (oi npöq rä irebia |aä\\ov
Tiijv ZiKeXujv, Thuk. VI 88, 4) waren zur Zeit des peloponnesischen Krieges den
Syrakusiern untertänig; in Inessa (Aetna) lag damals eine syrakusische Be-
satzung (Thuk. III 103, 1, vgl. VI 94, 3). Diese Gebiete müssen im Kriege gegen
Duketios gewonnen worden sein, vgl. Diod. XII 30, 1 (unter dem Jahr 439/8).
- Diod. XII 8.
=» Diod. XII 8, 2; 29, 1.
" Diod. XII 29, 2 — 4. In den Handschriften heißt die Stadt TpivaKir],
was sicher korrupt ist; im Inhaltsverzeichnis zum XII. Buch steht TTiKrivoix;
oder TTiKivoue;. Nun sagt Diod. XI 90, 1 von Palike, die Stadt sei bald blühend
geworden, aber schon nach kurzer Zeit zerstört worden und dann wüst ge-
blieben; TTepi tl)v TOt Kard |n^poq dvaTpcx^JOiuev ^v xoic; oiKeioiq xpövoi«;. In
unserem Diodortext ist aber nicht wieder von Pahke die Rede. Wenn also Diodor
Duketios. — Sturz der Monarchie in Kyrene. 137
war besiegelt; sie hat seitdem nie mehr den Versuch gemacht,
aus eigener Kraft die Fremdherrschaft abzuschütteln.
Nicht lange nach dem Fall der Monarchie in Sicilien
wurde in Kyrene das Haus der Battiaden gestürzt, das die
Stadt seit ihrer Gründung beherrscht hatte. Schon um die
Mjtte des VI. Jahrhunderts, unter Battos III., ,,dem Lahmen"
war es hier infolge von Zwistigkeiten im Schoß der könig-
lichen Familie zu einer Reform im demokratischen Sinne
gekommen; der Mantineer Damonax, den man auf Anweisung
des delphischen Orakels als Gesetzgeber berufen hatte, gab
dem Staat eine neue Organisation, die den Königen nichts
als einige leere Ehrenrechte übrig ließ. Als dann Battos'
Sohn Arkesilaos den Versuch machte, die alten Zustände
herzustellen, wurde er seiner Würde entsetzt und mußte
nach Samos in die Verbannung gehen; von dort kehrte er
mit zahlreichen Anhängern zurück, die er durch das Ver-
sprechen einer neuen Landverteilung geworben hatte, und
gewann mit ihrer Hilfe den Thron wieder. Endlich wurde
er in Barke von kyrenaeischen Verbannten ermordet (um 510) ;
doch die Königinmutter Pheretime übernahm mit fester Hand
die Regentschaft für ihren unmündigen Enkelsohn Battos
,,den Schönen" und rettete ihrem Hause den Thron. Mit
persischer Hilfe gelang es ihr, Barke einzunehmen, das nun,
ebenso wie Euesperides, politisch mit Kyrene vereinigt wurde.
Dieses wurde so zu einem der mächtigsten griechischen Staaten,
an unsererStelle die Zerstörung einer reichen und mächtigen Sikelerstadt berichtet,
und zwar im unmittelbaren Anschluß an das Ende des Duketios, so ist die Ver-
mutung kaum abzuweisen, daß er das XI 90, 1 gegebene Versprechen hier ein-
löst; der Ausfall zweier Buchstaben genügte, um aus TT(a\)iKivou<; * TTiKivout;
werden zu lassen. In der ersten Auflage hatte ich an die Emendation TTiaKivout;
gedacht, die ja paläographisch noch leichter ist; ebenso Pais, Ricerche storiche
e geografiche S. 163 ff. Aber Piakos hat, nach dem Zeugnis seiner Münzen, noch
am Ende des V. Jahrhunderts bestanden, kann also nicht um 440 zerstört worden
sein. In unserer literarischen Überlieferung kommt die Stadt nur bei Stephanos
vor; Diodor konnte also nicht wohl von Piakos sagen dei tö TtpujTeTov ^axH^uia
TUJV IiKeXiKÜJv TTÖXeoiv. Das paßt vielmehr allein auf Palike, das die Hauptstadt
von Duketios' sikelischem Reiche gewesen war und an der Stätte des vornehmsten
Nationalheiligtums lag.
138 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
der den Vergleich mit dem Deinomenidenreiche auf Sicilien
kaum zu scheuen brauchte. Dank diesen Erfolgen und noch
mehr vielleicht Dank dem Rückhalt, den ihm die Perser ge-
währten, konnte Battos sich bis an seinen Tod in der Herr-
schaft behaupten und sie seinem Sohn Arkesilaos hinterlassen
(um 465). Der aegyptische Aufstand, der bald darauf aus-
brach, löste das Band, das Kyrene an das Perserreich ge-
knüpft hatte; zugleich aber brachen innere Unruhen aus,
in deren Verlauf Arkesilaos ermordet und die Demokratie
eingeführt wurde. Wie in Sicilien nach dem Sturze derDeino-
meniden, löste sich jetzt das Reich auf; Barke, Euesperides
Teucheira gewannen ihre Unabhängigkeit zurück und Kyrene
blieb wieder auf sein altes Gebiet beschränkt ^.
Größer waren die Hindernisse, die sich der demokratischen
Bewegung auf der griechischen Halbinsel selbst entgegen-
stellten. Die wirtschaftliche und intellektuelle Entwicklung
war hier noch nicht so weit vorgeschritten wie im ionischen
Osten oder wie auf Sicilien; und was noch schwerer ins Gewicht
fiel, die konservativen Interessen fanden hier einen festen
Rückhalt an Sparta, das mit dem ganzen Gewicht seiner
militärischen Macht und seines morahschen Ansehens für die
Erhaltung des Bestehenden eintrat. Immerhin hatten die
demokratischen Ideen auch hier bedeutende Erfolge zu ver-
zeichnen. Die Ereignisse des Jahres 479 fegten in Theben
das aristokratische Regiment hinweg, das es mit den Persern
gehalten hatte ^. An die Stelle der gestürzten Regierung
trat die Demokratie; und teils dies Beispiel, teils der Einfluß
1 Herod. IV 160—167, 200—205, Menekles von Barke FHG. IV 479,
Herakleides PoliL 4 (FHG. II 212), Find. Pyth. IV und V mit den Scholien.
Näheres oben I 2 S. 210 ff. und bei Thrige, Res Cyrenensium, Kopenhagen 1828.
Die Reste des athenischen Heeres in Aegypten retteten sich durch Libyen nach
Kyrene (Thuk. I 110, 1), das also damals (456) nicht mehr von Persien ab-
hängig war. Daß die kleineren Städte selbständig wurden, ergibt sich aus ihrer
Münzprägung.
2 Thuk. III 62, 5. Nach Aristot. Polit. V 1302 b bestand die Demokratie
in Theben zur Zeit der Schlacht bei Oenophyta (vgl. Kirchhoff, Abh. Berl. Akad.
1878 S. 6); für ihre Einsetzung ist kein anderer Zeitpunkt denkbar, als gleich
nach der Schlacht bei Plataeae. Die Annahme, daß die Demokratie in Theben
Die Demokratie in Boeotien. — Umwälzung im Peloponnes. 139
des nahen Athen brachte auch in den übrigen boeotischen
Städten die Demokratie zur Herrschaft.
In Argos war die Königsmacht schon um 600 nach dem
Sturze der Temeniden beschränkt worden (oben IIS. 333);
die Aufnahme der Perioeken in die Bürgerschaft nach der
Niederlage bei Tiryns gegen Kleomenes (oben S. 14) mußte
eine weitere Ausdehnung der Volksrechte zur Folge haben;
Argos war jetzt eine Demokratie mit monarchischer Spitze ^,
so daß dem König nur noch der Oberbefehl im Kriege blieb,
der ihm dann im Laufe der nächsten Jahrzehnte ebenfalls
entzogen und auf ein Kollegium von fünf Strategen über-
tragen wurde. Von hier breitete die demokratische Bewegung
sich über das benachbarte Arkadien aus; die ganze Landschaft
fiel von Sparta ab und suchte bei Argos Anlehnung ^. Mit
Hilfe der neuen Bundesgenossen unterwarfen jetzt die Argeier
erst nach der Schlacht bei Oenophyta eingeführt worden wäre, steht nicht nur
in Widerspruch mit den Worten unserer Quelle, sondern ist auch an sich unzu-
lässig, da sich Theben in diesem Falle an Athen angeschlossen haben würde.
^ Als solche erscheint Argos in Aeschylos' Hiketiden, neben den Persern
dem ältesten erhaltenen Stücke des Dichters. Daraus folgt freilich nicht, daß
die Monarchie damals noch in Argos bestanden hat, wohl aber bezeugt das
Herod. VII 149 für das Jahr 480, und zwar hatte der König noch den Befehl
im Kriege. Noch in einem Volksbeschluß aus der Mitte des V. Jahrhunderts
wird der König erwähnt (VollgrafT, Bull. Corr. Hell. XXXIV, 1910, S. 332 ff.
eiri MeXdvTa ßaai\^0(;), ob es sich aber um den alten Erbkönig oder um einen
Jahrkönig handelt, wissen wir nicht. Jedenfalls wurde zur Zeit des peloponne-
sischen Krieges (418) das argeiische Heer nicht mehr vom Könige, sondern
von fünf Strategen befehligt (Thuk. V 59, 5), und die Verfassung wird als demo-
kratisch bezeichnet (Thuk. V 31, 6; 44, 1). Volksgerichte, wie in Athen: Aeschyl.
Hiket., also schon bald nach den Perserkriegen, Thuk. V 60, 6, Eurip. Orest.
872 ff., weiteres bei Ed. Meyer, Forschungen I 101 ff., vgl. auch Wilamowitz,
Kydathen S. 92 ff., jetzt zum Teil nicht mehr haltbar. Ostrakismos: Aristot.
Polit. V 1302 b, Schol. Aristoph. Ritter 855, doch wohl aus Athen entlehnt,
da Argos, unseres Wissens, bis auf die makedonischen Zeiten nie unter
Tyrannen gestanden hat.
* Über den Abfall Arkadiens Herod. IX 35, s. unten S. 143 Anm. 1.
Die Verfassung von Mantineia war im Jahr 421 demokratisch (Thuk. V 29, 1),
wenn Aristot. Polit. VI 1318 b, wie wahrscheinlich, auf diese Zeit geht, eine
gemäßigte Demokratie. Fünf Phylen: Le Bas-Foucart 352 p. Von der Ver-
fassung der übrigen Städte im V. Jahrhundert wissen wir nichts.
140 IV, Abschnitt. — Die Demokratie.
ihre kleinen Nachbarstädte Mykenae und Tiryns, die sagen -
berühmten Sitze der ältesten griechischen Kultur; sie wurden
zerstört und ihre Bewohner vertrieben ^. Auch Elis, neben
Korinth der wichtigste Staat des peloponnesischen Bundes,
ging um diese Zeit zur Demokratie über. Die alte Geschlechter-
ordnung wurde gestürzt und eine Neuorganisation des Staates
in 10 Phylen vorgenommen, offenbar nach dem Muster der
kleisthenischen Verfassung Athens ^. Die Reform war mit
einem Synoekismos verbunden; die neue Hauptstadt wurde
am Ufer des Peneios angelegt, am Fuße der alten Königs -
bürg des Oxylos, allerdings ohne zunächst befestigt zu werden
(471) ^. Bald trugen die Eleier ihre Waffen nach Süden,
und unterwarfen die Städte Triphyliens bis herab an die
messenische Grenze ^.
Sparta mußte zunächst das alles geschehen lassen, denn
es hatte genug zu tun, um die revolutionäre Bewegung seinen
eigenen Grenzen fernzuhalten. Lag doch nirgends so viel
Zündstoff aufgehäuft wie hier, wo die große Mehrzahl der
Bevölkerung in Leibeigenschaft gehalten wurde, ohne Gewähr
auch nur für die persönliche Sicherheit; wo ein anderer großer
Teil der Bevölkerung — die Bewohner der Landstädte —
zwar die persönliche Freiheit und eine gewisse kommunale
Autonomie besaß, politisch aber in jeder Hinsicht von Sparta
abhing; wo endHch unter den Bürgern der herrschenden
Stadt selbst die größte Ungleichheit des Vermögens bestand,
1 Herod. VI 83, Diod. XI 65, Strab. VIII 373. 377. Die Tirynthier fanden
eine neue Heimat in Halieis bei Hermione (Herod. VII 137, Ephoros bei Steph.
Byz. 'AXieTi; vgl. Tipuvc, Svoronos, Journ. Intern, de Numism. X, 1907,
S. 5 ff.). Über die Chronologie unten 2. Abt. § 71.
2 Aristot. Polit. V 1306 a, Paus. V 9, 5.
3 Diod. XI 54, Strab. VIII 337.
* Herod. IV 148. Lepreon, 479 noch unabhängig (CIA. 70), war zu An-
fang des peloponnesischen Krieges eine eleiische Perioekenstadt (Thuk. V 31).
Aus der Kriegsbeute errichteten die Eleier den Tempel des Zeus in Olympia
mit der berühmten chryselephantinen Statue, vgl. Paus. V 10, 2. Da der Tempel
467 bereits im wesenthchen vollendet war (Paus. V 10, 4) und der Bau doch
längere Jahre in Anspruch genommen hat, muß die Eroberung Triphyliens
um 470 oder wenig später gesetzt werden.
Umwälzung im Peloponnes. — Pausanias' Sturz. 141
und nur die Wohlhabenden sich im Genuß des vollen Bürger-
rechtes befanden. Und auch diese kleine Minderheit war
wieder durch mannigfache Parteiinteressen zerspalten. Die
Königsmacht war zwar im Laufe der Zeit immer mehr be-
schränkt worden, aber der Nimbus, der nun einmal trotz allem
den könighchen Namen umgab, der große Reichtum der
königlichen Häuser, ihre Verschwägerung mit den ersten
Familien der Stadt, vor allem das Recht des Oberbefehls
im Kriege, das keine Verfassungsreform den Königen zu
entreißen vermocht hatte, das alles gab ihnen eine Stellung,
die in der Hand eines fähigen Mannes der Freiheit des Staates
verhängnisvoll werden konnte. So herrschte denn zwischen
den höchsten Gewalten in Sparta, zwischen Königtum und
Ephorat, beständig ein Zustand latenten Krieges, und es
bedurfte nur eines unbedeutenden Anlasses, diesen Konflikt
zum offenen Ausbruch zu bringen. Wir haben oben gesehen
(S. 35f.), wie Sparta eine solche Krisis unmittelbar vor dem
Perserkriege zu bestehen gehabt hatte; kurz hintereinander
hatte man den König aus dem einen Hause seiner Würde
entsetzt, den des anderen Hauses ins Gefängnis geworfen
und dort ermorden lassen. Mußte das königliche Ansehen
durch diese Vorgänge einen schweren Stoß erleiden, so trugen
andererseits die Erfolge des Jahres 479 dazu bei, es aufs neue
zu befestigen. Ein siegreicher Krieg wird dem glücklichen
Feldherrn stets zu Einfluß und politischer Bedeutung verhelfen,
und so konnte es nicht fehlen, daß die Sieger von Plataeae
und Mykale, Pausanias und Leotychidas, ein Ansehen er-
langten, wie es die Könige seit Kleomenes' Sturz nicht mehr
besessen hatten. War es zu verwundern, daß sie suchten,
die Gunst des Augenblicks zu benutzen.'' Der Oberbefehl
über die hellenische Bundesflotte, der Pausanias im Jahre 478
übertragen wurde, gab ihm die Mittel in die Hand, deren er
zur Verwirklichung seiner Pläne bedurfte. Da stürzte ihn
der Abfall loniens (oben S. 61) von seiner Höhe herab. Er
wurde nach Sparta zurückgerufen, und seine Feinde ergriffen
die Gelegenheit, ihm wegen seines Verhaltens auf dem Feld-
zuge vor Gericht zu ziehen. Doch Pausanias ging aus dem
142 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Prozeß als Sieger hervor, und wenn auch die Regierung
nicht die Absicht hatte, sich weiter an dem Seekriege zu
beteiligen, so wagte sie doch auch nicht, dem Regenten Hinder-
nisse in den Weg zu legen, als er auf eigene Hand noch einmal
nach dem Hellespont abging. Aber seine alte Stellung wieder-
zugewinnen, gelang ihm nicht; von den Athenern mit Waffen-
gewalt aus Byzantion vertrieben (oben S. 66), mußte er sich
nach Kolonae in der Troas zurückziehen. Hier soll er mit den
Persern in Verbindung getreten sein; wir begreifen freilich
nicht, welche Hilfe er sich von einer Macht versprechen konnte,
die nicht einmal ihr eigenes Gebiet gegen die Athener zu
schützen imstande war. Bald rief ihn der Befehl der Ephoren
nach Sparta zurück. Er dachte jetzt auf revolutionärem Wege
sein Ziel zu erreichen und wiegelte die Heiloten mit dem
Versprechen von Freiheit und Bürgerrecht zur Empörung auf.
Nun endlich schritten die Ephoren offen gegen den Regenten
ein; die angeblichen Beziehungen zu Persien mußten den
Vorwand abgeben. Pausanias wußte, was ihm diesmal bevor-
stand und entzog sich der Gefangenschaft durch die Flucht
in den Tempel der Athena Chalkioekos; doch die Ephoren
ließen den Eingang vermauern, und der Sieger von Plataeae
fand sein Ende durch Hunger ^. — Etwa gleichzeitig erfolgte
auch der Sturz seines Amtsgenossen Leotychidas (469). Da
man ihm sonst nichts anhaben konnte, griff man auf seinen
thessalischen Feldzug zurück; er habe sich damals von den
Aleuaden bestechen lassen. Dafür wurde der König jetzt
vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen und seiner Würde
entsetzt; er ist in Tegea in der Verbannung gestorben ^.
So war das Ephorat in dem Kampfe gegen das König-
tum Sieger gebheben; die Helden des Perserkrieges waren
aus dem Wege geräumt. Den Thron nahmen zwei Jünglinge
ein, Leotychidas' Enkel Archidamos und Leonidas' Sohn
Pleistarchos; von dieser Seite war keine Gefahr für die be-
1 Thuk. I 128—134, vgl. unten 2. Abt. § 57 f. (Der Verrat des Pausanias)
und über die Chronologie § 70.
2 Herod. VI 72 (daraus Paus. III 7, 8), Plut. v. Herod. Schlechtigkeit 21
S. 859. Weiteres unten 2. Abt. § 72.
Pausanias' Sturz. — Unterwerfung Arkadiens. — Der Heilotenaufstand. 143
stehende Verfassung zu fürchten. Es hat zwei Jahrhunderte
gedauert, ehe wieder ein König es wagte, sich gegen die Ephoren-
macht aufzulehnen.
Jetzt endhch konnte Sparta daran denken, seine wan-
kende Hegemonie im Peloponnes aufs neue zu befestigen.
Das lakedaemonische Heer rückte in Arkadien ein, und bei
Tegea wurden die verbündeten Argeier und Tegeaten aufs
Haupt geschlagen; nach einem zweiten Siege der Spartaner
bei Dipaea am Westabhang des Maenalon kehrte die ganze
Landschaft zum Gehorsam zurück (466). Spartas Ober-
herrschaft über den Peloponnes war jetzt in demselben Um-
fange wieder hergestellt, wie sie zur Zeit der Perserkriege
bestanden hatte; und für mehr als ein Menschenalter, bis
zum großen Kriege gegen Athen, haben die peloponnesischen
Bundesgenossen keinen Versuch mehr gemacht, sich dieser
Abhängigkeit zu entziehen ^.
Unter den Heiloten aber gärte es weiter, trotz der
energischen Maßregeln der Regierung, die den schuldigen
oder verdächtigen gegenüber selbst das Asylrecht der Tempel
nicht achtete. Da geschah es, daß Sparta von einem furcht-
baren Erdbeben getroffen wurde, das fast alle öffentlichen
und Privatgebäude niederwarf und einen großen Teil der
Bevölkerung unter den Trümmern begrub (464) ^. Diese
Katastrophe brachte die längst vorbereitete Empörung zum
Ausbruch. Im eigentlichen Lakonien freiHch konnte der
Aufstand keine rechte Verbreitung gewinnen, da die Perioeken-
städte Sparta treu blieben; dagegen stand das Land jenseits
des Taygetos, das alte Messenien, bald fast ganz gegen seine
spartanischen Herren in Waffen, denn es gab hier nur wenige
Perioekengemeinden, und von diesen nahm eine der wichtigsten,
Thuria, an der Erhebung teil ^. Aber mochten auch die
^ Herod. IX 35, Isokr. Archid. 99, Polyaen. II 10, 3; über Mantineia
Xen. Hell. V 2, 3. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 71.
- Thuk. I 128. Diod. XI 63 f. Plut. Kim. 16, unten 2. Abt. § 74.
3 Thuk. I 101, 2. Die übrigen messenischen Perioeken blieben Sparta
treu, bis auf die Ai6aifi(;, die sonst nicht genannt werden. Wenn der Name
nicht verschrieben ist, mag die Stadt bei diesem Aufstande zugrunde gegangen sein
144 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Heiloten in der ersten Verwirrung einige Erfolge erringen,
auf die Dauer konnten sie der militärischen Disziplin der
Spartiaten unmöglich gewachsen sein. Nach einer Niederlage
beim sogenannten ,,Isthmos" mußten sie das offene Land
aufgeben und sich auf den Berg Ithome zurückziehen, der
wie eine Akropolis in der Mitte Messeniens aufragt, und schon
einmal vor einem viertel Jahrtausend ihren Vorfahren im
Kriege gegen Sparta Zuflucht gewährt hatte. Hier, wo sie alle
Vorteile des Geländes für sich hatten, leisteten sie den Spar-
tanern erfolgreichen Widerstand. Der Krieg begann sich
in die Länge zu ziehen; und bei dem Ungeschick, das die
Lakedaemonier von jeher im Belagerungskriege gezeigt
hatten, war nicht abzusehen, wie lange Zeit die Niederwerfung
des Aufstandes in Anspruch nehmen würde. Und doch war
Gefahr im Verzuge; denn so lange die Messenier unbezwungen
auf Ithome standen, war Spartas Aktionsfähigkeit nach
außen hin lahm gelegt. So entschloß man sich in Sparta,
nicht nur die peloponnesischen Bundesgenossen gegen die
Messenier aufzubieten, sondern auch Athens Bundeshilfe
in Anspruch zu nehmen ^.
Dort war in den ersten Jahren nach Salamis Themistokles
der einflußreichste Staatsmann geblieben. Er war es, der
nach dem Abzug der Perser den Wiederaufbau der Stadt
leitete ^ und die Befestigung des Peiraeeus zu Ende führte,
die er einst als Archon begonnen hatte ^; wir können nicht
zweifeln, daß auch die Organisation des Seebundes zum großen
Teile sein Werk war *. Aber eben diese Stellung an der Spitze
des Staates machte es ihm unmöglich, Athen auf längere Zeit
^ Thuk. I 101 f. Verniclitung einer spartanischen Abteilung bei Steny-
klaros Herod. IX 64, Sieg der Spartaner -rrpöi; 'l09|uuj Herod. IX 35, was schon
Paus. III 11, 8 so gelesen hat, vgl. Wilamowitz, Aristot. II 296, 10. Wo freilich
dieser Isthmos gelegen hat, wissen wir nicht, er muß aber im SO. von Ithome
gesucht werden. Klar ist jedenfalls, daß es sich bei Herodot um eine Feldschlacht
handelt.
2 Thuk. I 89—93.
*" Thuk. I 93.
* Vgl. Timokreon fr. 1 mit meinen Bemerkungen Rh. Mus. XLIII, 1888,
S. 108 f., und unten 2. Abt. § 53.
Der Heilotenaufstand. — Themistokles' Sturz. 145
ZU verlassen, und persönlich die Führung des Perserkrieges
zu übernehmen, seit Asien und Thrakien zum Kriegsschau -
platze geworden waren. So verblaßte der Ruhm des Siegers
von Salamis allmählich vor den frischen Lorbeeren Kimons.
Dazu kam, daß das gute Einvernehmen mit Sparta, das zur
Zeit des persischen Einfalles geherrscht hatte, naturgemäß
sich zu trüben begann, seit Athen durch die Stiftung des
Seebundes Sparta als ebenbürtige Macht zur Seite getreten
war. Es ist begreiflich, daß man in Sparta die Ursache dieser
Veränderung nicht in der Verschiebung der Machtverhältnisse
suchte, sondern in der Politik des leitenden athenischen Staats-
mannes; und allerdings mußte ein so scharf bhckender Politiker
wie Themistokles früher als jeder andere die Unmöglichkeit
erkennen, daß Athen und Sparta auf die Dauer friedlich
nebeneinander bestehen könnten. Infolgedessen arbeitete
nun auch der spartanische Einfluß in Athen gegen Themistokles;
und dieser Einfluß war noch immer sehr mächtig. Kimon,
der junge ruhmgekrönte Feldherr, der unter den Eindrücken
der Perserkriege zum Manne gereift war und das Heil für
Hellas nur in der engen Verbindung Athens mit Sparta er-
blickte, wurde dadurch in Gegensatz zu Themistokles ge-
drängt; ohnehin glaubte er durch seine Taten Anspruch auf
die erste Stelle im Staate zu haben. Vor allem arbeitete
natürlich die von den Alkmeoniden geleitete Volkspartei
an dem Sturz ihres alten Gegners, und auch Aristeides ließ
die günstige Gelegenheit nicht vorübergehen, für seinen
Ostrakismos an dessen Urheber Vergeltung zu üben ^. So
^ Kimon und Aristeides Gegner des Themistokles nach Plut. Kim. 10,
■während Arist. 25 Alkmeon und Kimon als solche genannt werden, und Aristeides
sich zurückgehalten hätte. Alkmeon ist hier mit seinem Sohne AeujßÜJTr)^
A\k|H^ujvO(; ÄYpuXf|6ev verwechselt, der später die Eisangelie gegen Themi-
stokles einbrachte (Krateros fr. 5, FHG. II 619, Plut. Them. 23). Kimon hat
später Epikrates aus Acharnae zum Tode verurteilen lassen, weil er Themistokles
dessen Frau und Kinder nachgesandt hatte (Stesimbrotos bei Plut. Kim. 24).
Wenn Plut. Kim. 10 angegeben wird, Kimon und Aristeides seien Themistokles
entgegengetreten irdpav toO biovxoc, diraipovTi t^v brmoKpaTiav, so liegt
dem die Vorstellung zugrunde, Themistokles' Flottengesetz sei eine demo-
kratische Maßregel gewesen, was völlig verkehrt ist (2. Abt. § t2). Auf
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 10
146 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
vielen Feinden war Themistokles nicht gewachsen. Es kam
zum Scherbengericht — wie es scheint 470 — , und diesmal
entschied das Volk gegen Themistokles. Der Mann, der Athens
Größe begründet hatte, ging in die Verbannung nach Argos ^.
Aber auch hier sollte seines Bleibens nicht sein. Die
Lakedaemonier erhoben in Athen Anklage gegen ihn, er
habe sich am Verrat des Pausanias beteiligt; und es ist in
der Tat wahrscheinlich, daß er den Plänen, die auf einen
Umsturz der Dinge im Peloponnes hinzielten, nicht fern-
gestanden hatte. Die in Athen herrschende Partei aber ergriff
begierig den Vorwand, ihren Feind für immer zu vernichten,
Themistokles wurde vor der Volksversammlung des Hoch-
verrats angeklagt ^, in Argos Auslieferung verlangt, der
Verbannte durch ganz Hellas gehetzt, bis er schließlich zu
dem wurde, wozu seine Feinde ihn machen wollten, und die
einzige Zuflucht aufsuchte, die ihm auf der Welt noch offen
stand, den Schutz des Großkönigs (464). Solch einflußreiche
Politiker waren am persischen Hofe stets willkommen, da
sie eventuell wichtige Dienste leisten konnten; König Arta-
xerxes, der soeben seinem Vater Xerxes auf dem Thron
der Achaemeniden gefolgt war, nahm also Themistokles
freundlich auf und verlieh ihm das Fürstentum von Magnesia
am Maeandros, hart an der Grenze des athenischen Bundes-
gebietes. Dort hat er bis zu seinem Tode geherrscht, so viel
wir sehen, unbelästigt von den Athenern, was mit dem kurz
derselben Vorstellung beruht die Anekdote bei Aristot. ATT. 25, 3, daß Themi-
stokles beim Sturz des Areopags durch Ephialtes mitgewirkt habe (vgl. unten
2. Abt. § 54). Ephialtes muß vielmehr der Alkmeonidenpartei angehört haben
tmd also Themistokles' Gegner gewesen sein.
1 Thuk. I 135, 3, Plat. Gorg. 516 d, Diod. XI 55, Plut. Them. 22. Über
die Chronologie unten 2. Abt. § 73.
^ Thuk. I 135 sagt von Themistokles Ixuxn Y^P liöxpaKiaiLi^voi;, xal
?Xiwv biaixav |ndv ^v "ApTei, ^iTicpoiTUJv b^ Kai dq ty\v aKkr\v TTeXoTTOvvricfov;
Vergnügungsreisen werden das nicht gewesen sein. Über die Anklage und den
Prozeß außerdem Diod. XI 55, Plut. Them. 23, Krateros fr. 5, aus dem sich
ergibt, daß es sich um ein Eisangelieverfahren handelte, also die Volksver-
sammlung das Urteil gefällt hat. Der Prozeß vor dem Ostrakismos bei Diod.
XI 54 ist ein Duplikat, für das Ephoros nicht verantwortlich zu sein braucht.
Themistokles' Sturz. — Kimon. — Der thasische Aufstand. 147
darauf erfolgten Bruch zwischen Athen und Sparta zusammen-
hängen wird ^.
Nach dem Ostrakismos des Themistokles war Kimon
unbestritten der erste Mann in Athen, um so mehr, als Aristeides
und Xanthippos um diese Zeit starben, oder doch vom poli-
tischen Schauplatze abtraten ^. Ein echter Junker vom Kopf
bis zur Zehe, ritterlich, aber etwas beschränkten Geistes,
und den Freuden des Bechers und der Liebe mehr ergeben
als gut sein mochte, dankte er seine Popularität ebenso sehr
wie seinen Kriegstaten der Leutseligkeit, mit der er auch dem
geringsten Bürger begegnete, und der fast unbegrenzten
Freigebigkeit, zu der ihn sein fürstliches Vermögen in den
Stand setzte ^. Und eben jetzt mußte der große Sieg am
Eurymedon (oben S. 68) ihn noch mehr in seinem Ansehen
befestigen. Für das Reich aber hatte dieser Sieg die Folge,
daß das gute Einvernehmen zwischen Athen und seinen
Bundesstädten sich zu lockern begann; schien doch die Perser-
gefahr auf absehbare Zeit beseitigt, und damit die Unter-
ordnung unter Athen weniger notwendig, während man
andererseits in Athen die Zügel straffer anzuziehen begann.
^ Thuk. I 135 — 138, anekdotenhaft ausgeschmückt; daraus, mit einigen
meist wertlosen Zusätzen, Diod. XI 55—58, Plut. Them. 22—31. Als Fürst
von Magnesia hat Themistokles Didrachmen attischen Fußes im eigenen
Namen geprägt (Weil, Themistokles als Herr von Magnesia, Corolla Numism.
für B. Head, Oxford 1906, S. 301 ff.); über ein von ihm dort gestiftetes Fest
Possis aus Magnesia bei Athen. XIII 533 e. Myus und Lampsakos, die ihm
ebenfalls vom Könige geschenkt sein sollen, müssen damals zum delischen
Bunde gehört haben, und es ist also nicht wohl denkbar, daß Themistokles dort
Hoheitsrechte ausgeübt hat. Immerhin haben seine Nachkommen in Lampsakos
Ehrenrechte gehabt (Athen. Mitt. VI, 1881, S. 103), er muß sich also um die
Stadt irgendwie verdient gemacht haben.
^ Die Anekdote bei Plut. Kim. 25 (aus Theophrast) beweist keineswegs,
daß Aristeides zur Zeit der Überführung des Bundesschatzes aus Delos nach
Athen noch am Leben war. Nach Nepos (Arist. 3) wäre er im 4. Jahre nach
dem Ostrakismos des Themistokles, also etwa ^68/1, gestorben, aber wir wissen
nicht, worauf dieser Ansatz sich gründet.
^ Plutarch Kim. 4. 5 (nach Melanthios, Archelaos, Stesimbrotos), 9 (nach
Ion), 10 (nach Kratinos und Kritias), 15 (nach Eupolis); Theopomp bei Athen.
XIII 533 (FHG. I 293).
10*
148 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
So erhob sich jetzt Thasos, die mächtigste Bundesstadt im
Norden des Aegaeischen Meeres; den äußeren Anlaß gaben
Streitigkeiten um die Goldbergwerke an der gegenüber-
liegenden thrakischen Küste. Kimon war gerade damit be-
schäftigt, die letzten persischen Besatzungen aus dem Chersones
zu vertreiben ^; als das getan war, wandte er sich gegen Thasos,
schlug die feindliche Flotte und schloß dann die Stadt selbst ein.
Nun schritten die Athener dazu, das goldreiche Gebiet
am Pangaeon zu besetzen, das den Siegespreis bilden sollte.
Schon vor einem Jahrzehnt, nach der Einnahme von Eion,
hatten sie den Versuch gemacht, hier eine Kolonie zu gründen,
auf der Stelle, wo später Amphipolis erbaut wurde; das Unter-
nehmen war damals an dem Widerstände der kriegerischen
Thraker gescheitert. Jetzt sollte es mit stärkeren Kräften
zur Ausführung gebracht werden. Zunächst ging auch alles
nach Wunsch; als aber das Expeditionskorps dann tiefer
ins Innere eindrang, wurde es bei Drabeskos von den Edonern
angegriffen und bis zur Vernichtung geschlagen (465). Es
war die schwerste Katastrophe, die bis dahin ein athenisches
Heer betroffen hatte ^. König Alexandros von Makedonien
scheint dabei die Hände im Spiel gehabt zu haben; er hatte,
nach dem Abzug der Perser, sein Reich bis an den Strymon
ausgedehnt, zog reiche Einkünfte aus den Bergwerken dieser
Gegend und konnte also den Versuch der Athener, sich hier
festzusetzen, nur sehr ungern sehen. Kimon mußte die Sache
hingehen lassen; er war bei weitem nicht stark genug, einen
Zug ins makedonische Binnenland zu unternehmen, und mit
1 Plut. Kim. 14, und die Verlustliste CIA. I 432. IV S. 107, mit Köhlers
Bemerkungen, Hermes XXIV, 1889, S. 85.
2 Thuk. 1 100, 2. 3 (daraus Diod. XI 70,5. XII 68, 2), Schol. Aesch. vdGes.
31, Herod. IX 75, Isokr. vFr. 86. Die Zahl von 10 000 Kolonisten, die Thuky-
dides und Isokrates geben, ist natürlich sehr übertrieben; aber eben diese Über-
treibung beweist die Schwere der Niederlage. Drabeskos (Daravescos) lag nach
der Peutingerschen Tafel an der Straße von Philippoi nach Herakleia Sintike,
12 Milien von ersterer Stadt und 8 vom Strymon; die eine dieser Zahlen muß
verderbt sein, und zwar die erstere, oder es ist zwischen Phüippis und Daravescos
eine Station ausgefallen ; denn Drabeskos lag nach Appian Bürgerkr. IV 105
nicht weit von Myrkinos und dem Strymon. Vgl. Perdrizet, Klio X, 1910, S. 14 f.
Drabeskos. — Unterwerfung von Thasos. — Ephialtes. 149
der Flotte allein war dem Könige gegenüber nicht viel aus-
zurichten ^.
Die Thasier faßten nun neuen Mut und wandten sich
um Hilfe nach Sparta. Auch dort tat die Katastrophe von
Drabeskos ihre Wirkung; die Ephoren sollen versprochen
haben, im nächsten Sommer ein Heer in Attika einrücken
zu lassen und so der belagerten Stadt Luft zu machen; doch
das Erdbeben und der Heilotenaufstand heßen es nicht dazu
kommen. So blieb den Thasiern nichts übrig, als sich in das
Unvermeidliche zu schicken und mit Athen ihren Frieden zu
machen (464). Die Bedingungen waren sehr schwer; Thasos
mußte seine festländischen Besitzungen abtreten, seine Be-
festigungen niederreißen, seine Flotte ausliefern, die Kriegs-
kosten erstatten und sich zur Tributzahlung verpflichten.
Den übrigen Bundesgenossen war ein warnendes Beispiel
gegeben 2.
Während Kimons langer Abwesenheit hatte die radikale
Demokratie in Athen von neuem das Haupt erhoben. Das
unnatürliche Bündnis, das der hochgeborene Feldherr mit
der Volkspartei zu Themistokles' Sturze geschlossen hatte,
mußte in dem Augenblick auseinanderfallen, als der Zweck
erreicht war und der gemeinsame Gegner durch seine Flucht
zu den Persern sich selbst das politische Todesurteil gesprochen
hatte. Die Alkmeoniden allerdings traten jetzt in den Hinter-
grund; sie hatten keinen fähigen Mann unter sich, und die
Zeiten waren nicht mehr, wo das bloße Ansehen eines Ge-
^ Plut. Kim. 14. Zur Zeit des Dareios war das Land rechts vom Strymon
noch nicht makedonisch; die Grenze bildete das Gebirge Dysoron (Herod. V
16. 17); erst König Alexandres hat dieses Gebiet erobert (Herod. V 17, Thuk.
II 99, vgl. lustin. VII 4, 1), er soll auch die Stätte des späteren Amphipolis
besetzt haben (Philipps Brief [Demosth. XII] 21).
2 Thuk. I 100. 101, Plut. Kim. 14, Diod. XI 70. Über die Chronologie
unten 2. Abt. § 74. Da das spartanische Hilfsversprechen, wie Thuk. I 101, 2
ausdrücklich sagt, nur im geheimen (Kpuq)a Tiiv ABrjvaiwv) gegeben wurde
und nicht zur Ausführung kam, so kann es sich höchstens um eine private Zusage
der Ephoren gehandelt haben, die noch der Ratifizierung durch das Volk be-
dürft hätte, und es ist unter diesen Umständen sehr zweifelhaft, ob überhaupt
an der ganzen Sache etwas Wahres ist.
150 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
schlechtes genügt hatte, dessen Oberhaupte eine leitende
Stellung im Staate zu sichern. So trat jetzt an die Spitze
der Partei Ephialtes, ein Mann, der seinen Einfluß ebensosehr
seiner über allem Zweifel erhabenen Integrität verdankte,
wie der unnachsichtHchen Strenge, mit der er alle Mißbräuche
der Verwaltung vor Gericht verfolgte. Infolgedessen war
er zum Strategen erwählt worden und als solcher, nach der
Schlacht am Eurymedon, wohl während Kimons thasischem
Feldzuge, gegen die Perser in See gegangen, ohne übrigens
Gelegenheit zu finden, etwas Bedeutendes auszurichten ^.
Sein politisches Ziel war der Sturz des Areopags, der einzigen
Körperschaft im Staate, deren Mitglieder auf Lebenszeit
saßen und damit tatsächlich von jeder Verantwortung frei
waren. Daß eine so zusammengesetzte Behörde so ausgedehnte
Machtbefugnisse besaß, widersprach nicht nur dem demo-
kratischen Geist der Verfassung, sondern es war auch ein
Widersinn geworden, seit das Archontenamt durch das Los
besetzt wurde, also jedem beliebigen Bürger der beiden oberen
Vermögensklassen offen stand und damit den letzten Rest
seiner alten Bedeutung verloren hatte. Denn der Areopag
ergänzte sich, wie wir wissen, aus den Archonten, die ihr Amt
tadellos verwaltet hatten; es war ein Oberhaus im besten
Sinne des Wortes, eine Versammlung der ersten politischen
Kapazitäten des Landes gewesen, solange die Archonten durch
Volkswahl bestellt wurden, jetzt aber füllte es sich mehr
und mehr mit dunkeln Ehrenmännern, und die Zeit war nicht
fern, wo fast nur noch solche darin sitzen würden. Natürlich
mußte das Ansehn des Areopags sich dementsprechend ver-
mindern; eine Beschränkung seiner Befugnisse war also die
logische Konsequenz der Einführung des Loses bei der
Archontenwahl.
Zur Durchführung dieser Reform aber war es unum-
gänglich, Kimon aus seiner leitenden Stellung zu verdrängen;
denn er und seine Partei sahen im Areopag, auch wie er jetzt
geworden war, den letzten Hort der konservativen Interessen.
1 Aristot. ATT 25, 1; 28, 2; Plut. Kim. 10, Per. 10; über seine Fahrt
^iT^KCiva XeXiboviujv» also in die kyprischen Gewässer, Plut. Kim. 13.
Ephialtes. — Kimons Prozeß. — Der aegyptische Aufstand. 151
Man zog also Kimon bei seiner Rechenschaftsablage über
den thasischen Feldzug vor Gericht. Die Katastrophe von
Drabeskos muß in Athen einen niederschmetternden Eindruck
gemacht haben, und wenn Kimon auch keine direkte Schuld
daran traf, so war sie doch erfolgt, während er den Ober-
befehl in Thrakien führte. Daraufhin wurde Kimon beschuldigt,
er habe sich von König Alexandros bestechen lassen. An-
kläger war der junge Perikles, dessen Vater Xanthippos einst
Kimons Vater Miltiades vor Gericht gezogen und seine Ver-
urteilung durchgesetzt hatte (oben S. 24); er sollte sich
hier seine ersten politischen Sporen verdienen. Doch Kimons
Ansehen stand fester, als die Radikalen geglaubt hatten, und der
Prozeß endete mit seiner Freisprechung '•. Der Agitation
gegen den Areopag war damit zunächst ein Ende gemacht.
Kimon dachte nun den Perserkrieg wieder aufzunehmen;
denn eben jetzt bot sich eine unvergleichlich günstige Gelegen-
heit, einen entscheidenden Schlag zu führen. Während des
thasischen Krieges war König Xerxes gestorben, und erst
nach längeren Wirren war es seinem Sohne Artaxerxes ge-
lungen, festen Besitz von der Regierung zu nehmen (464) ^.
Darüber brach in Aegypten ein Aufstand aus, wie einst nach
dem Tode des Dareios. An die Spitze der Bewegung trat
Inaros, der Fürst der Libyer von Mareia in der Nähe des
späteren Alexandrien (463). Der Satrap Achaemenes, ein
Oheim des Königs, erlitt bei Papremis im westlichen Teile
des Delta eine schwere Niederlage und blieb selbst auf dem
Schlachtfeld. So lange der Aufstand dauerte, war das Perser-
reich in seiner Aktionsfähigkeit gehemmt, und so schien es
^ Plut. Kim. 14, Per. 10, Aristot. ATT. 27, 1. Das juristische Fundament
der Anklage bildete die angebliche Bestechung durch Alexandros; das politische
Fundament aber muß die Niederlage von Drabeskos gebildet haben, denn
niemand ist so töricht, einen siegreichen Feldherrn vor Gericht zu ziehen. Daß
der Plan, am Strymon eine Kolonie zu gründen, von Kimon ausgegangen war,
ergibt sich daraus, daß die beiden Versuche, die dazu gemacht wurden, mit
Kimons Anwesenheit in dieser Gegend zusammenfallen; auch sagt es Nepos
(Cim. 2, 2) ausdrücklich, nur daß er den ersten Versuch mit dem zweiten und
mit der Gründung von Amphipolis durch Hagnon zusammenwirft.
2 Ktesias 29—31, lustin. III 1, Diod. XI 69, Aristot. Polit. V 1311b.
Zur Chronologie Ed. Meyer, Forschungen II 482 ff.
152 IV. Abschnitt, — Die Demokratie.
nicht schwer, dem Könige Kypros zu entreißen, das einzige
Gebiet griechischer Zunge, das noch unter seiner Herrschaft
stand. Es wurde also beschlossen, im nächsten Sommer eine
Flotte von 200 Schiffen dorthin in See gehen zu lassen ^.
Da kam das Hilfsgesuch Spartas (oben S. 144). Das gute
Einvernehmen zwischen den beiden hellenischen Vormächten
zu erhalten, dem die Nation es zu danken hatte, daß sie vom
Perserjoch frei geblieben oder wieder frei geworden war, war
stets der Angelpunkt der Pohtik Kimons gewesen; war doch
eine Fortführung des Perserkrieges, wie er sie plante, nur
unter dieser Voraussetzung möglich. In den letzten Jahren
waren die Beziehungen zu Sparta kühler geworden; es gab
dort eine mächtige Partei, die mit Sorge auf die beständigen
Fortschritte der Athener bhckte und bereit war, ihnen bei erster
Gelegenheit mit den Waffen in der Hand entgegenzutreten.
Ohne das Erdbeben wäre es vielleicht schon während des
thasischen Aufstandes dazu gekommen (oben S. 149). Eine
Verweigerung der Bundeshilfe seitens Athens mußte dieser
Partei das Übergewicht geben; auch war es klar, daß Sparta
über kurz oder lang auch allein mit den Messeniern fertig
werden würde. So trat denn Kimon mit dem ganzen Gewicht
seines Ansehens für die Gewährung des Hilfsgesuchs ein.
Vergebens erhob Ephialtes seine Stimme gegen das geplante
Unternehmen; die Erinnerung an die alte Waffenbrüderschaft
war noch zu frisch, als daß er hätte durchdringen können.
Es wurde also beschlossen, 4000 Hopliten, ein gutes Drittel
des athenischen Gesamtaufgebots, den Spartanern zu Hilfe
zu senden; Kimon selbst übernahm den Befehl (Frühjahr
462) 2. Etwa gleichzeitig ging die große Flotte nach Kypros ab.
1 Thuk. I 104, Herod. III 12. VII 7. 97, Ktesias 32, Diod. XI 71. 74. Da
Herodot von einer Teilnahme der Athener an der Schlacht bei Papremis nichts
weiß, und Inaros nach Thuk. 1 104, 1 die Athener erst zu Hilfe rief, als er bereits
den größten Teil des Landes zum Abfall gebracht hatte, so scheint die Schlacht
vor der Ankunft der Athener geliefert zu sein, obgleich Diodor das Gegenteil
angibt.
2 Thuk. 1 102, 1, Plut. Kim. 16 am Ende. Die Zahl nach Aristoph. Lysistr.
1143; Thukydides sagt nur 7T\r|0ei OUK öMyuj. Über die Chronologie unten
2. Abt. § 76.
Kimon vor Ithome. — Bruch mit Sparta. — Sturz des Areopags. 153
Indes die Resultate entsprachen sehr wenig den Er-
wartungen, die man in Sparta gehegt hatte. Gegenüber
den Felsen von Ithome war auch die vielgerühmte Belagerungs-
kunst der Athener zunächst ohnmächtig. Dazu kam weiter,
daß in dem athenischen Heer so manche Elemente sich fanden,
die mit Ephialtes der Ansicht waren, es könne für Athen
gar nichts Vorteilhafteres geben, als einen Sieg der Messenier.
Genug, in Sparta faßte man Verdacht gegen die athenischen
Bundesgenossen; und da zu einer bloßen Einschließung der
feindlichen Stellung auch die peloponnesischen Kontingente
ausreichend waren, so wurde Kimon eröffnet, daß man seiner
Dienste nicht weiter bedürfe ^.
Die Rücksendung des attischen Heeres bewirkte in
Athen einen völligen Umschwung der politischen Lage. Die
öffentliche Meinung war erbittert über die erlittene De-
mütigung; und diese Erbitterung wandte sich naturgemäß
gegen den Mann, der die Verantwortung für den Zug nach
Ithome trug, und die Partei, deren Führer er war. Kimon
wurde von der leitenden Stellung herabgestürzt, die er seit
dem Ostrakismos des Themistokles eingenommen hatte;
er mußte es geschehen lassen, daß das Bündnis mit Sparta
aufgesagt wurde und Athen dafür mit Spartas Todfeinden,
den Argeiern, in Bund trat. Es ist ein charakteristisches
Zeichen der herrschenden Stimmung, daß selbst ein vornehmer
Mann wie Alkibiades, in dessen Hause die Vertretung der
spartanischen Interessen in Athen (die sogenannte Proxenie)
erblich war, dieses Ehrenamt jetzt niederlegte 2.
Nun war für Ephialtes die Bahn frei, sein Reformprogramm
durchzuführen. Er beantragte also, die Kompetenz des Areo-
pags auf die Blutgerichtsbarkeit zu beschränken, die man ihm
aus sakralen Rücksichten nicht wohl entziehen konnte; alle
politische Kompetenz aber, die der Areopag bisher ausgeübt
hatte, sollte dem Rate, der Volksversammlung und besonders
dem Geschworenengericht der Heiiaea übertragen werden,
1 Thuk. 1 102, Plut. Kim. 16 f. Diod. XI 64.
^ Thuk. 1 102, 4. Über Alkibiades (den Großvater des berühmten Feldherrn)
Thuk. V 43, 2; die Sache kann nur in diese Zeit gehören.
154 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
das, wie wir wissen, aus allen athenischen Bürgern von über
30 Jahren erlost wurde (oben IIS. 365). Die große Zahl der
Richter — bei wichtigen Sachen bis 1500 — ebenso wie die
Neubesetzung in jedem einzelnen Falle sollte Gewähr dafür
geben, daß das Urteil der öffentlichen Meinung entsprechen
würde ^.
Natürlich machten Kimon und seine Anhänger diesen
Reformen die heftigste Opposition, und ihr Einfluß war noch
immer so groß, daß es nötig wurde, die Entscheidung dem
Scherbengericht anheimzustellen ^. Doch Kimon unterlag;
der Sieger am Eurymedon mußte in die Verbannung gehen,
und Ephialtes' Anträge wurden zum Gesetze erhoben (461) ^.
Vergebens griffen die Konservativen zum letzten Mittel, dem
Meuchelmord. Zwar Ephialtes fiel ^, ein Märtyrer der Idee,
der er sein Leben geweiht hatte; aber sein Werk überlebte
ihn, und die Volksgerichte sind seitdem das Palladium der
athenischen Freiheit geblieben.
Die Leitung der Partei und damit im wesentlichen
auch die Leitung des Staates ging jetzt auf Perikles über,
den Sohn des Xanthippos aus Cholargos, des Siegers von
Mykale. Er war ein verhältnismäßig noch junger Mann, etwa
am Anfang oder in der Mitte der dreißiger '", und er hatte
noch nie Gelegenheit gehabt, im Kriege sich auszuzeichnen,
wie er denn überhaupt eine hervorragende militärische Be-
1 Aristot. ATT. 25, Polit. II 1274 a, Philochoros fr. 141 b, Plut. Kim. 15,
Diod. XI 77. Die Anekdote bei Aristot. a. a. 0., wonach Themistokles neben
Ephialtes beim Sturz des Areopags die Hauptrolle gespielt hätte, ist historisch
wertlos, wie schon die chronologische Unmöglichkeit der Sache zeigt, s. unten
2. Abt. § 54.
■^ Plut. Kimon 17, Perikles 9, vgl. Kimon 15. Es ist klar, daß der Ostra-
kismos der Verfassungsreform vorausgehen mußte.
^ Das Jahr (Archon Konon, 462/1) gibt Aristot. ATT. 25, 2. Da der Ostra-
kismos im Frühjahr stattfand, wird die Durchführung der Reform gegen Ende
des attischen Amtsjahres erfolgt sein.
* Aristot. a. a. O, 25, 4 (daraus Plut. Per. 10), Diod. XI 77, Antiphon
V. Herodes Ermord. 67. Aus Arist. a. a. 0. 26, 5 ergibt sich, daß Ephialtes noch
im Jahre der Reform selbst ermordet wurde.
* Aristot. ATT. 27, 1. Seine Geburt muß in das erste Jahrzehnt des Jahr-
hunderts fallen, s. unten 2. Abt. § 110.
Sturz des Areopags. — Perikles. — Richtersold. 155
gabung nicht besessen hat ^. Wir können selbst zweifeln,
ob er ein großer Staatsmann gewesen ist; wenigstens hat
er es nicht vermocht, das attische Reich auf der Höhe zu
erhalten, auf die es Themistokles und Kimon geführt hatten,
und er hat bei seinem Abtritt vom politischen Schauplatz
Athen jenen Krieg als Erbschaft hinterlassen, an dem es
schließlich zugrunde gegangen ist. Aber er war, wie wir heute
sagen würden, ein großer Parlamentarier. Wie kein zweiter
seiner Zeitgenossen besaß er die Gabe, die Massen durch die
Macht seiner Rede zu lenken und mit sich fortzureißen ^;
und er hatte ein sehr feines Gefühl für das, was die öffentliche
Meinung verlangte. Der Weg zur Macht war ihm durch seine
Familienverbindungen geebnet; und sie waren es auch, die
seine Stellung im Kampf der Parteien bestimmten. War
doch seine Mutter Agariste eine Nichte des großen Kleisthenes,
des Begründers der attischen Volksfreiheit; und so wuchs
Perikles in den Traditionen der Alkmeonidenpartei auf und
in der Gegnerschaft gegen Kimon, was ihn dann zum Anschluß
an die Reformpartei führen mußte, auch wenn er nicht erkannt
hätte, daß ihr die Zukunft gehörte.
Perikles schritt also auf der von Ephialtes eröffneten
Bahn weiter. Wenn die Demokratisierung der Gerichts-
höfe nicht ein toter Buchstabe bleiben sollte, war es nötig,
den ärmeren Klassen der Bürgerschaft die materielle Mög-
lichkeit zu gewähren, an den Sitzungen der Heiiaea Anteil
zu nehmen. So wurden auf Perikles' Antrag den Geschworenen
Diäten bewilligt in dem Betrage von zwei Obolen für die
Sitzung, entsprechend etwa dem Minimum des Tagelohnes,
wie er um die Mitte des V. Jahrhunderts in Attika stand *.
^ Vgl. Pflugk-Harttung, Perikles als Feldherr, Stuttgart 1884.
- Thuk. I 139. 4, Aristoph. Acharn. 530, Eupolis Deinen fr. 9 Kock, Plut.
Per. 5 und 8. Vgl. Blass, Att. Beredsamkeit I ^ S. 34 ff. Aber große Redner sind
selten große Staatsmänner: oi fdp iv aocpoii; qpaOXoi irap' öxXuj inouaiKiij-
repoi XeTeiv (Eur. Hipp. 988).
3 Aristot. ATT. 27, 3, Polit. II 1274 a, Plat. Gorg. 515 e, Plut. Per. 9.
Erst durch Kleon ist der Sold von 2 auf 3 ob. erhöht worden (Schol. Aristoph.
Wesp. 88).
156 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Diese Maßregel war um so notwendiger, als es sonst nicht
möglich gewesen sein würde, die erforderliche Zahl von Richtern
zusammenzubringen, seit man angefangen hatte, auch die
wichtigeren Prozesse aus den Bundesstaaten vor die attischen
Gerichte zu ziehen. Das hatte dann bald zur Folge, daß ein
großer Teil der athenischen Bürgerschaft sich der produktiven
Arbeit entwöhnte und begann, in dem Richtersolde seine
hauptsächHchste Subsistenzquelle zu sehen.
Von hier bis zu der Forderung, daß der Staat überhaupt
für den Unterhalt seiner Bürger zu sorgen habe, war es nicht
mehr weit. Die großen öffentlichen Bauten, die unter der
perikleischen Regierung in Attika ausgeführt wurden (siehe
unten VII. Abschnitt), hatten zum Teil den Zweck, der ärmeren
Klasse Verdienst zu verschaffen ^. Auch Getreide wurde
öfter unter die Menge verteilt ^. Vor allem aber gewährte
die Machtstellung Athens die Möglichkeit, Tausenden von
athenischen Bürgern außerhalb Attikas Grundbesitz anzu-
weisen. Wenn es sich bei einem Teile dieser sogenannten
Kleruchien auch hauptsächlich darum handelte, militärisch
wichtige Punkte durch zuverlässige Besatzungen zu sichern,
so stand bei anderen doch der sozialpolitische Zweck in erster
Linie; so z. B. bei den Landanweisungen in den Gebieten
von Chalkis und Eretria nach der Wiederunterwerfung Euboeas
im Jahr 446, oder auf Lesbos im Jahr 427; denn die Empfänger
dieser Lose blieben ruhig in Athen wohnen und ließen ihren
Grundbesitz durch einheimische Pächter bewirtschaften ^.
1 Plut. Per. 12.
- Z. B. in 445/4 30 000 Medimnen, die der libysche Fürst Psammetichos
(ein Sohn des Inaros ?) dem Volk zum Geschenk geschickt hatte (Philoch. fr. 90
Plut. Per. 37). Für die Zeit des peloponnesischen Krieges vgl. Aristoph.
Wespen 717.
^ Thuk. III 50 von der Kleruchie auf Lesbos, Aelian Verm. Gesch. VI 1
(geht auf die Kleruchie von 446, vgl. Swoboda, Serta Harteliana S. 30) von
Chalkis. Es ist klar, daß der Abfall von Lesbos 412, von Chalkis und Eretria
411 nicht möglich gewesen wäre, wenn dort Tausende von athenischen Kleruchen
gewohnt hätten, ebenso daß die Kleruchen in diesem Falle ihre Grundstücke
selbst bewirtschaftet haben würden. Denn von den armseligen 2 m. Pacht-
ertrag (etwa 3 ob. den Tag) hätten sie unmöglich leben können. Vgl. meine
Bevölkerung S. 87.
Richtersold. — Sozialpolitische Maßregeln. 157
Arbeitsunfähigen Bürgern wurde ferner aus der Staatskasse
Pension bezahlt, wenn auch nur in dem mäßigen Betrage
von einem Obol für den Tag, der gerade zur Bestreitung des
notdürftigsten Unterhalts ausreichte i. Auch die Kinder
der im Kriege gefallenen Bürger wurden bis zu ihrer Mündig-
keit auf Staatskosten unterhalten ^.
Man ging aber noch weiter. Wenn schon die Tyrannen
es für ihre Aufgabe angesehen hatten, dem Volke möglichst
prächtige Schaustellungen zu bieten, so bheb die Demokratie
hinter diesem Beispiele nicht zurück. Die Feste in Athen
unter der perikleischen Verwaltung ließen an Zahl wie an
Pracht der Ausstattung alles hinter sich, was die griechische
Welt bis dahin gesehen hatte ^. Und nicht genug damit,
wurden bei solchen Gelegenheiten auch Geldspenden an die
Bürger gezahlt ^.
Wieweit andere Demokratien in dieser Zeit dem von
Athen gegebenen Beispiele gefolgt sind, wissen wir nicht,
und ebensowenig, ob nicht die perikleischen Maßregeln bereits
in anderen Städten ihr Vorbild gefunden haben. Jedenfalls
mußten außerhalb Athens die beschränkteren finanziellen
Hilfsquellen dem Eintreten des Staates zugunsten der ,, ent-
erbten" Klasse engere Grenzen ziehen. Und es ist nicht zu
vergessen, daß auch in Athen selbst es doch nur die Bürger
waren, denen die Fürsorge des Staates sich zuwandte, d. h.
höchstens die Hälfte der Bewohner Attikas, ganz abgesehen
davon, daß die Mittel zu alledem zum großen Teile von den
Bundesgenossen aufgebracht wurden. Auch diese radikale
Demokratie also kam tatsächlich doch heraus auf eine Aus-
beutung der Mehrheit durch eine Minderheit.
1 Lysias 24 (uepi xoO döuvciTOu) 13, Aristot. ATT. 49, 4. Später ist der
Betrag der Unterstützung erhöht worden, offenbar weil bei den steigenden
Preisen im IV. Jahrhundert niemand mehr mit 1 ob. leben konnte, vgl. Aristot.
a. a. 0., Philochoros fr. 68.
2 Thuk. II 46.
^ [Xenoph.] Staat d. Athen. 3, 1. 8, Plut. Per. 11.
* Plut. Per. 9, Philochoros fr. 85 (aus dem III. Buch), Ulpian zu Demosth.
Olynth. I 1.
158 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Aber allerdings war die Macht der demokratischen Idee
stark genug, um auch auf die Stellung des minderberechtigten
oder auch des gesetzlich rechtlosen Teiles der Bevölkerung
ihre Rückwirkung zu üben./ Wir haben bereits gesehen, wie
die Fremden in Athen im wesentlichen denselben Rechts-
schutz genossen, sich ebenso frei bewegen durften, wie die
Bürger, und wie ihnen selbst die Erwerbung des Bürger-
rechtes verhältnismäßig leicht gemacht war, bis um die Mitte
des Jahrhunderts die großen materiellen Vorteile, die mit
dem Besitze des attischen Bürgerrechtes verbunden waren,
die Abschließung der bevorrechteten Klasse herbeiführten
(unten Abschn.VI) . Selbst den Sklaven war inAthen eine Freiheit
gewährt, um die sie die ärmeren Bürger manches oligarchischen
Staates hätten beneiden mögen. Niemand durfte sich heraus-
nehmen, einen fremden Sklaven zu mißhandeln i; kein Sklave
dachte daran, einem Bürger auf der Straße auszuweichen,
und in der Kleidung war zwischen der arbeitenden Klasse
der freien Bevölkerung und den Sklaven kein Unterschied ^.
Von ihren Herren schlecht behandelte Sklaven fanden im
Theseion und anderen Tempeln ein Asyl und konnten ver-
langen, an einen anderen Herrn verkauft zu werden ^. Was
sich die Sklaven im Hause herausnehmen durften, zeigt die
Komödie. Es war ferner allgemein üblich, daß man Sklaven,
die ein Handwerk gelernt hatten, selbständig ihrem Erwerb
nachgehen ließ, gegen eine mäßige Abgabe (dTroqpopd ) an den
Herrn; solche Sklaven waren im tatsächlichen Genuß der
Freiheit und konnten bei einiger Sparsamkeit bald dahin
gelangen, sich ganz freizukaufen. Daß trotz alledem die
Stellung der Sklaven auch in Athen traurig genug war, liegt
in der Natur des Verhältnisses; ihr Schicksal hing eben doch
von ihren Herren ab, und vor Gericht konnte ihre Aussage
durch die Folter erzwungen werden.
Dagegen ist die demokratische Bewegung auf die Lage
des weiblichen Geschlechts, zunächst wenigstens, ohne Einfluß
^ Demosth. gMeid. 46, Aeschin. gTim. 17.
* [Xenophon] Staat d. Athen. I 10.
3 Plut. Thes. 36, Polydeukes VII 13.
Metoeken und Sklaven. — Die Frauen. — Hetaeren. 159
geblieben; ja die strenge ionische Sitte, welche die Frau auf
die Sphäre des Hauses beschränkte (oben IIS. 406), hat
gerade in dieser Zeit weitere Verbreitung gewonnen. Es ist,
als ob die Frauen gegen das ungemessene Streben der Männer
nach Freiheit ein Gegengewicht hätten schaffen wollen. Noch
Kimons Schwester Elpinike hat in der athenischen Gesellschaft
eine hervorragende Rolle gespielt und dadurch selbst poli-
tischen Einfluß zu üben vermocht; schon in der nächsten
Generation wäre das unmöglich gewesen ^. Das Mädchen
wuchs in fast klösterlicher Abgeschiedenheit auf; nach der
Verheiratung sah die Frau außerhalb des engsten Familien-
kreises sich ausschließlich auf weiblichen Umgang beschränkt,
vom Besuch des Theaters war sie ausgeschlossen. So fehlte
ihr jede Gelegenheit, ihren Geist auszubilden, wenn sie in den
Schranken bleiben wollte, welche die Sitte gezogen hatte,
und über die ein Weib sich ungestraft nicht hinwegsetzen
kann. Die Folge war, daß das V. Jahrhundert keine einzige
Dichterin mehr hervorgebracht hat.
Aber es gab doch einzelne Frauen, die von dem Hauche
der neuen Zeit ergriffen wurden, die nach Freiheit und Bildung
verlangten und den Mut hatten, allen Vorurteilen zu trotzen,
die sich diesem Drange entgegenstellten; der öffentlichen
Meinung galten sie natürlich als Hetaeren, und sie
waren es meist wohl auch wirklich. Die Männerwelt war
bezaubert von dem, was ihr hier geboten war; hier fand sie,
was sie zu Hause vergeblich suchte: einen geistig anregenden
weiblichen Umgang. So wurden diese ,, Hetaeren" der be-
lebende Mittelpunkt der griechischen, vor allem auch der
athenischen Gesellschaft; nicht nur die ,, goldene Jugend",
1 Plut. Kim. 14, Per. 10, und Stesimbrotos (FHG. II 55), Antisthenes
bei Athen. XIII 689 e. Ob die hier erzählten Tatsachen richtig sind, ist gleich-
gültig; das Wesentliche ist, daß man Elpinike eine solche politische Rolle zu-
traute. Auch für Kunst hat sie Interesse gehabt (Plut. Kim. 4). Den Zeit-
genossen des peloponnesischen Krieges erschien das alles unweiblich, und sie
haben es infolgedessen in gemeinster Weise mißdeutet (Plut. Kim. 4). Daraus
können wir abnehmen, was von dem Schmutze zu halten ist, mit denen ihr
Verhältnis zu Kimon beworfen wurde (Eupolis bei Plut. Kim. 15, Schol. Aristot.
S. 515, Dind., Antisthenes a. a. 0. und Plut. Kim. 4).
160 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
auch die Größen der Wissenschaft, der Kunst und der Pohtik
drängten sich in ihren Empfangssälen; hat es doch selbst
ein Sokrates nicht verschmäht, ihnen zu huldigen. Mit dem
Maßstabe konventioneller Moral dürfen wir diese Frauen
freilich nicht messen; sie waren eben in jeder Hinsicht eman-
zipiert; aber wir sollen darüber nicht vergessen, welch mäch-
tigen Einfluß sie auf die griechische Kulturentwicklung aus-
geübt haben. Sie sind es, die den Griechen zuerst wieder das
Ideal des gebildeten Weibes gezeigt haben; und ihr Verdienst
vor allem war es, wenn die griechische Frau in der Zeit nach
Alexander wieder die ebenbürtige Genossin des Mannes ge-
worden ist. Als das erreicht war, war die dominierende Rolle
der Hetaeren in der Gesellschaft ausgespielt.
Den günstigsten Boden fanden diese Emanzipations-
bestrebungen naturgemäß in lonien, der Landschaft, wo die
Bildung am höchsten stand, während zugleich die Frauen
in der freien Bewegung am meisten beschränkt waren. Von
hier, aus Milet, stammte Thargelia, die in Dareios' Zeit nach
Thessalien kam, wo sie durch ihre Schönheit und ihren Geist
eine hervorragende gesellschaftliche Stellung gewann; zu
dem König Antiochos trat sie in ein enges Verhältnis und
hat dadurch auch politischen Einfluß geübt ^. Nicht minder
gefeiert wurde ein halbes Jahrhundert später ihre Lands-
männin, die schöne und hochbegabte Milesierin Aspasia ^.
^ Hippias bei Athen. XIII 609 a und Hesych. GapYiT^ia, fr. 4 (Diels
Vorsokr. II 1 c. 79), Aeschines der Sokratiker bei Philostratos Briefe S. 364
und im Tract. de mulierib. 11 bei Westermann, Paradoxo^r. S. 217 (= Suidas-
OapYn^^ia), Plut. Per. 24. Vgl. Ed. Meyer, Theopomps Hellenika (Halle 1909)
S. 243, 3 und oben I 2 S. 204.
^ Gegen Aspasia hat Wilamowitz, Aristot. II 99 A. 35 einen Angriff ge-
richtet, der nur beweist, daß das „tote Frauenzimmer" denn doch sehr viöL
mehr gewesen ist, als eine Hetaere gewöhnlichen Schlages. Daß sie eine hoch-
gebildete Frau war, wie vielleicht keine zweite ihrer Zeit, zeigen Aeschines^
Antisthenes und Piaton (oder wer der Verfasser des Menexenos sein mag), die
sie zur Protagonistin sokratischer Dialoge genommen haben. (Dagegen die An-
klage wegen äö^ßeia beweist nichts, denn auch Phryne hat einen solchen Prozeß
zu bestehen gehabt.) Nicht minder beredtes Zeugnis geben die Angriffe der
Komödie; Kratinos nannte sie die Hera des Olympiers Perikles (fr. 241 Kock
bei Plut. Per. 24, vgl. Schol. V\dA.Menex. 235 e), EupoUs dessen Omphale (fr. 274)„
Thargelia. — Aspasia. — • Die demokratische Freiheit. 161
Um 450 kam sie nach Athen ^ und wußte hier den leitenden
Staatsmann Perikles so zu fesseln, daß er um ihretwegen seine
hochadelige Gemahlin verstieß. Natürlich gab es einen großen
Skandal, und die Komödie ist nie müde geworden, das dank-
bare Thema auszubeuten; aber Perikles erreichte es doch,
daß Aspasia in weiten Kreisen der athenischen Gesellschaft
für voll angesehen wurde und daß selbst Frauen aus den
besten Familien keine Bedenken trugen, ihre Gesellschaften
zu besuchen. Freilich setzten sie damit bei den herrschenden
Vorurteilen ihren guten Ruf aufs Spiel; die Anklage, mit der
später Aspasia von Hermippos vor Gericht gezogen wurde,
gründete sich zum Teil eben darauf, daß sie freie Athenerinnen
zu unsittlichem Lebenswandel verleite ^. Und allerdings
konnte Perikles seine Geliebte nicht zu seiner rechtmäßigen
Gemahlin erheben, da zwischen Athen und Milet keine Ehe-
gemeinschaft bestand; aber der Sohn, der dieser Verbindung
entsproß, ist später legitimiert worden und trotz aller An-
feindungen endlich zum höchsten Staatsamt, der Strategie,
gelangt.
Es ist charakteristisch, mit welcher Leichtigkeit Perikles
sich über die Schranken der konventionellen Moral hinweg-
setzte. Er handelte dabei ganz im Geiste seiner Zeit; gegenüber
dem Naturrecht der Liebe mußten die auf menschliche Satzung
begründeten Rechte der Ehe zurücktreten. Befreiung von
jedem Zwange, er .sei welcher er sei, ist überhaupt das Streben
dieses Jahrhunderts; und vielleicht niemals wieder ist dieses
Aristophanes in den Acharnern macht sie für den Ausbruch des peloponnesischen
Krieges verantwortUch, spätere (Theophrast und Duris bei Harpokr. A0Traaia,
Plut. Per. 24) lassen sie auch den samischen Krieg anstiften. Vgl. Ed. Meyer,
Forschungen II 55.
1 Ihr Sohn, der jüngere Perikles, ist um 445 geboren, s. unten 2. Abt. § 15.
* Plut. Per. 24, Aeschines der Sokratiker bei Cic. de inv. I 31. 51, Athen.
V 220 b. Daß nach Aeschines Xenophon mit seiner Frau bei Aspasia verkehrt
haben soll, ist einer jener Anachronismen, wie sie sich auch in Piatons Dialogen
so oft finden; er hat aber zur Voraussetzung, daß Aspasias Salon auch von
Damen der besten Gesellschaft besucht wurde. Dasselbe ergibt sich aus der
Anklage des Hermippos gegen Aspasia üj<; TTepiK\ei TUvaiKO? d\eu9^pa? eic,
TÖ auTÖ cpoiTibaa? üirob^XOiTO (Plut. Per. 32).
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 11
162 IV. Abschnitt. — Die Demokratie.
Ideal so verwirklicht worden, wie in dem damaligen Athen.
Vor allem herrschte unbedingte Freiheit des Wortes (Trappricria
und icrriTOpi«)) ^it Recht waren die Athener stolz darauf
und ließen selbst Metoeken und Sklaven daran Anteil nehmen ^.
Sogar auf der Bühne durfte lange Zeit jeder Bürger angegriflfen
und verspottet werden, er mochte sein wer er wollte; ein
440/39 gegebenes Gesetz, das diese Freiheit beschränkte,
wurde schon nach drei Jahren wieder aufgehoben ^. Doch
wurde später (um 426) wenigstens das Verbot erlassen, fun-
gierende Beamte nicht mehr in Person auf die Bühne zu
bringen ^, während im übrigen der Komödie ihr Recht der
Kritik der bestehenden Zustände ungeschmälert blieb. Auch
sonst mischte sich das Gesetz so wenig wie möglich in das
Privatleben der Bürger. Die Ungebundenheit, welche die Folge
davon war, hatte ja auch ihre Schattenseiten *; aber sie war
jedenfalls sehr viel besser, als die kleinlichen Polizeireglements,
mit denen oligarchische Staaten ihre Bürger in der freien
Bewegung beschränkten, oder gar als die militärische Staats-
ordnung Spartas ^.
Trotz alledem behielt selbst in Athen der Adel noch
lange die Leitung des Staates in der Hand. Zur Strategie
sind bis zum Anfang des peloponnesischen Krieges fast nur
Adelige erwählt worden ^, obgleich der Zugang dazu jedem
Bürger offen stand, der aus einer rechtmäßigen Ehe Kinder
hatte und liegendes Eigentum besaß. In den übrigen griechi-
schen Demokratien, in Syrakus z. B. ', stand es in diesem
Punkte ganz ebenso. Wie hätte es auch anders sein können,
solange die großen Vermögen noch hauptsächlich in Grund -
1 Demostt. gPhilipp III 3.
* Schal. Aristoph. Acharn. 67.
' Schal. Aristoph. Acharn. 1150, vgl. Schal. Vögel 1297, [Xenoph.] Staat
der Athen. II 18, Keck Quaest. Aristoph. hist., Halle 1876.
* Vgl. die übrigens sehr harmlose Karikatur des ävrip iaovo|LiiKÖ? bei
Piaton Staat VIII S. 561.
« Vgl. Thuk. II 37. 2.
« [Xenoph. ] Staat der Athen. I 3, Eupolis fr. 117 Kock, Aristot. ATT. 26, 1.
' Diod. XIII 91. 5.
Der Adel. — Demokratisierung der Gesellschaft. 163
besitz bestanden und in den Händen der Adelsfamilien konzen-
triert waren.?
Die Opposition gegen diesen Zustand blieb natürlich
nicht aus. Herodot spottet über Hekataeos, der an einer Stelle
seines Werkes seine 15 Ahnen aufgezählt hatte, bis hinauf
zu dem göttlichen Stammvater seines Geschlechts ^. Euripides
läßt kaum eine Gelegenheit vorübergehen, die Prätensionen
des Adels in ihrer ganzen Nichtigkeit hinzustellen ^, und der
Sophist Lykophron meint, die Schönheit des Adels sei sehr
fragwürdig und sein Ansehen beruhe nur auf Einbildung ^.
Der Erfolg dieser Agitation wurde mächtig gefördert
durch die wirtschaftliche Entwicklung, infolge deren die
in Handel und Industrie gewonnenen Vermögen dem ererbten
Grundbesitz ebenbürtig zur Seite traten. Auch führten die
politischen Krisen in den letzten Jahrzehnten des V. Jahr-
hunderts dazu, daß ein großer Teil des Adels verarmte; wobei
dann jeder sich durch den Augenschein überzeugen konnte,
was ,,edele" Geburt ohne Reichtum noch wert ist. So geschah
es, daß im Jahre 425 der Gerbereibesitzer Kleon in Athen zu
der Stellung gelangte, die einst Kimon und Perikles innegehabt
hatten. Der attischen Aristokratie und ihrem servilen Gefolge
schien das der Anfang vom Ende; nicht etwa weil Kleon ein
unfähiger Staatsmann gewesen wäre, denn das war er keines-
wegs, jedenfalls in viel geringerem Maße als sein hochadeliger
Gegner Nikias, sondern weil er ein selbstgemachter Mann
oder vielmehr der Sohn eines selbstgemachten Mannes * war.
Aber es half nichts, daß die Komödie nicht müde wurde, ihr
Gift gegen Kleon zu spritzen, nicht einmal, daß Kleons PoHtik
endlich bei Amphipolis Schiffbruch litt. Andere Männer aus
dem Volke nahmen die leergewordene Stelle ein; und seit
dem oligarchischen Reaktionsversuch im Jahre 404/3 wird
^ Herod. II 143.
2 Z. B. Elekira 386. 351, fr. 22. 53. 54. 345. 514.
* Bei Aristot. fr. 91 Rose.
* Schon Kleons Vater Kleaenetos besaß das dpYaarripiov boüXiuv ßupöobe-
x\ni)V (Schol. Aristoph. Ritter 44), das später sein Sohn übernommen hat, und
hat Leiturgien geleistet (CIA. II 971 a); er war also ein wohlhabender Mann,
11*
164 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
der Adel fast vollständig von der Leitung des Staates zurück-
gedrängt. Es gibt fortan in Athen nur noch den Gegensatz
zwischen der besitzenden und der nichtbesitzenden Klasse,
und dasselbe gilt überhaupt für die griechische Welt, soweit
sie demokratisch oder durch die Schule der Demokratie
gegangen war. Jeder gebildete und wohlhabende Mann hat
nach dem Sprachgebrauch dieser Zeit, auf den Namen eines
„Gentleman" (KaXö^ Kaxaeö^) oder eines Vornehmen (Yvujpi^og)
Anspruch ^. Die Demokratisierung der griechischen Gesell-
schaft war damit vollendet.
V. Abschnitt.
Der Konflikt der Großmächte.
In der Zeit des Dareios und Xerxes war Sparta die einzige
hellenische Großmacht gewesen; niemand hatte versucht,
ihm die Führung im Freiheitskampfe streitig zu machen,
und selbst zur See hatten sich die Athener willig untergeordnet
trotz der großen Überlegenheit ihrer Flotte. Das änderte
sich seit der Stiftung des attischen Seebundes. Man begann
denn auch in Sparta sehr bald einzusehen, welch schweren
Fehler man durch den Verzicht auf die weitere Beteiligung
am Perserkriege und damit auf die Seeherrschaft begangen
hatte; und wenigstens eine Partei drängte darauf hin, das Ver-
säumte gutzumachen, ehe es zu spät wäre. Eine günstige
Gelegenheit dazu schien sich zu bieten, als das mächtige
Thasos gegen Athen sich erhob und bei Sparta Anlehnung
suchte. In der Tat sollen die Spartaner auf dem Punkte
gestanden haben, ein Heer in Attika einrücken zu lassen,
als der Heilotenauf stand sie zwang, alle Kräfte an die Ver-
teidigung der eigenen Heimat zu setzen (oben S. 149).
So blieb das gute Einvernehmen zwischen den beiden
griechischen Vormächten für jetzt noch ungestört, ja Athen
1 Meine Ait. Polit. S. 2—6.
Athen und Sparta. — Fall von Ithome. — Anschluß von Megara an Athen. 165
Stellte, wie schon erzählt worden ist, sogar ein Truppen-
kontingent gegen die Messenier auf Ithome, und erst die
schimpfliche Rücksendung dieses Hilfskorps durch die Spar-
taner drängte die attische Politik in eine neue Richtung.
Die demokratische Reformpartei, in deren Hände die Leitung
des Staates jetzt kam, erklärte das in der Zeit der Perser -
kriege mit Sparta geschlossene Bündnis für aufgelöst, und
Athen trat statt dessen mit den Argeiern in Bund (oben
S. 153). Thessalien, wo der Feldzug des Leotychidas noch
in frischem Andenken stand, schloß sich als drittes Glied
dieser Verbindung an (462) ^.
Nicht lange darauf mußte sich Ithome den Spartanern
ergeben (461); die Verteidiger erhielten freien Abzug und
wurden von den Athenern in Naupaktos angesiedelt, das sie
soeben den ozolischen Lokrern entrissen hatten ^. Die Spar-
taner wandten sich nun gegen Argos, unter ihrem jungen
König Pleistarchos, dem Sohn des Leonidas, wurden aber
an der Westgrenze des argeiischen Gebietes, bei Oenoe, von
den Argeiern und deren athenischen Verbündeten zurück-
gewiesen, ein Sieg, der in Argos großen Jubel hervorrief und
durch ein prächtiges Denkmal in Delphi verherrlicht wurde
(um 460) ^. Schon etwas früher war Megara vom peloponne-
sischen Bund abgefallen; es war mit seiner mächtigen Nach-
barstadt Korinth wegen Grenzstreitigkeiten in Krieg geraten,
und da Sparta keine Hilfe gewähren wollte oder konnte,
1 Thuk. I 102.
* Thuk. I 103, Diod. XI 84, 7, über die Chronologie unten 2. Abt. § 75.
Bei welcher Gelegenheit Naupaktos von den Athenern genommen worden ist,
sagt Thukydides nicht; daß das bei der Expedition des Tolmides 456 geschehen
wäre, wie Diodor angibt, ist bloße Kombination, die sich bei der von Diodors
Quelle befolgten Chronologie ganz von selbst ergab. Die Messenier wurden
neben den alten Einwohnern angesiedelt und bildeten mit diesen eine Doppel-
gemeinde, Meaödvioi Kai NauTrdKTloi, wie sie sich auf der Basis der Nike des
Paeonios nennen {IGA. 348 = Inschr. v. Olymp. 259).
3 Paus. I 15, 1 und X 10, 4; Herzog, Philol. N. F. XXV, 1912, S. 1 ff.
bezieht auf diesen Sieg sehr ansprechend die von VoUgraff, Bull. Corr. Hell.
XXXII, 1908, S. 236 — 258 veröffentlichte argeiische Inschrift, in der von einem
Siege über Pleistarchos die Rede ist. Näheres unten 2. Abt. § 84.
166 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
schloß es sich an Athen an, eine Verbindung, auf die es ebenso-
sehr durch seine demokratische Verfassung wie durch seine
wirtschaftlichen Interessen hingewiesen war (461). Attische
Garnisonen besetzten jetzt die Hauptstadt des Ländchens
und den Hafen Pagae am Korinthischen Busen; erstere, die
etwa 1% km vom Meere entfernt liegt, wurde durch zwei
Befestigungslinien mit ihrem Hafen Nisaea verbunden und
damit gegen die Gefahr einer Umschließung durch einen
zu Lande überlegenen Feind gesichert ^.
Die Fortführung des Perserkrieges gab man wegen dieser
Verwicklungen in Athen nicht auf; denn eben jetzt schien
es möglich, einen Schlag zu führen, der Athen die Herrschaft
im ganzen Umkreis des östlichen Mittelmeeres sichern mußte.
König Inaros von Aegypten war wohl in der Feldschlacht
gegen Achaemenes Sieger geblieben (oben S. 161); aber die
Perser ganz aus dem Lande zu vertreiben, war er bei weitem
nicht stark genug, schon weil er keine Flotte zur Verfügung
hatte. So wandte er sich um Hilfe nach Athen; und hier
zögerte man nicht, in die gebotene Hand einzuschlagen. Die
bei Kypros operierende Flotte erhielt also Befehl, nach
Aegypten hinüberzugehen; sie lief in den Nil ein, säuberte
den Strom von den persischen Schiffen und brachte die Haupt-
stadt Memphis in ihre Gewalt. Nur in der stark befestigten
Zitadelle, dem „weißen Schloß" (AeuKÖv TeTxogj hielten
sich die Überreste der feindlichen Truppen (461) ^.
Artaxerxes versuchte jetzt, sich den Lakedaemoniern
zu nähern und sie zu einem Einfall in Attika zu veranlassen;
aber obgleich sein Abgesandter Megabazos das Geld nicht
sparte, ließ man sich doch in Sparta nicht bereit finden, mit
dem Landesfeinde gemeinsame Sache zu machen ^, Dagegen
begann Korinth wegen Megara Krieg mit Athen, unterstützt
durch die Städte der argolischen Akte, während auf athenischer
1 Thuk. I 104, vgl. unten 2. Abt. § 83.
^ Thuk. I 104, Ktes. 32, Diod. XI 74. Über die Chronologie unten 2. Abt.
§ 79. 82.
3 Thuk. I 109, 2, Diod. XI 74, 5.
Expedition nach Aegypten. — Krieg mit Korinth und Äegina. — Tanagra. 167
Seite Argos sich an dem Kriege beteiligte *. Um einen Stütz-
punkt für die Fahrt nach der verbündeten Stadt zu gewinnen,
griffen die Athener Halieis an der äußersten Südspitze der
Argolis an, wurden aber von den Korinthiern und Epidauriern
zurückgeschlagen; dafür blieb ihnen in einem Seetreffen bei
der kleinen Insel Kekryphaleia zwischen Epidauros und
Aegina der Sieg ^. Infolgedessen sah Aegina, die alte Rivalin
Athens, sich veranlaßt, in den Kampf einzugreifen. Aber trotz
der bewährten Seetüchtigkeit der Aegineten und obgleich
200 Trieren Athens und seiner Bundesgenossen lern in
Aegypten gegen die Perser kämpften, wurde die peloponne-
sische Flotte vor Aegina bis zur Vernichtung geschlagen
und 70 Trieren fielen in die Hand des Siegers; seit diesem
Tage war die alte Bedeutung Aeginas als Seemacht dahin.
Die Athener setzten nun ein Heer nach der Insel hinüber
und begannen die Belagerung der .Hauptstadt. Eine Diversion,
welche die Korinthier durch einen Einfall in die Megaris
machten, wurde blutig zurückgewiesen (458) ^
Diesen Fortschritten Athens gegenüber konnte Sparta
nicht länger untätiger Zuschauer bleiben. Es wurde also
etwa die Hälfte des peloponnesischen Bundesheeres, 11 500
HopHten, zu einem Zuge nach Mittelgriechenland auf-
geboten (457); den Befehl hatte Pausanias' Bruder Niko-
^ Die Teilnahme der Argeier ergibt sich aus den Aufschriften zweier in
Olympia geweihten Waffenstücke, die nach dem Schriftcharakter in diese Zeit
gehören {IGA. 32. 33 =: Inschr. v. Olymp. 250. 261 TctpYeioi ävlQev tuj AiFi
Tüjv Kopiv9öGev).
* Auf unseren Karten wird Angistri als Kekryphaleia bezeichnet. Plin.
IV 67, der einzige, bei dem sich eine Angabe über die Lage der Insel findet,
sagt aber: contra Epidaurum Cecryphalos, Püyonesos VI a continente, ab hac
Aegina liberae condicionis XV. Also lag Pityonnesos zwischen Kekryphaleia
und Aegina, und entspricht folglich Angistri. Das zeigt auch der Name; noch
jetzt ist Angistri von einem Pinienwalde gekrönt, während Kyra, das unseren
Karten als Pityonnesos gilt, so klein ist, daß eine nennenswerte Waldung dort
nie gewesen sein kann. Die Entfernungen sind von Epidauros gerechnet; in
Wahrheit sind es von dort bis Kyra 7, bis Angistri 9, bis Aegina 18 Milien; da
es sich aber um Distanzen zur See handelt, die ja nicht wirklich gemessen werden
konnten, hat das nichts zu bedeuten.
3 Thuk. 1 105—106; daraus indirekt Diod. XI 78. 79. S. unten 2. Abt. § 78,
168 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
medes, Regent für seinen Neffen, den jungen König Piei-
stoanax, Pausanias' Sohn, der eben seinem Vetter Pleistarchos
auf dem Thron der Agiaden gefolgt war. Offenen Krieg mit
Athen wollte man freilich vermeiden, und so mußte eine
Fehde der Dorier im Kephisostale mit den Phokern den Vor-
wand für die Intervention in Mittelgriechenland abgeben.
Der Zweck, das dorische Mutterland zu schützen, wurde denn
auch ohne Schwertstreich erreicht, da die Phoker viel zu
schwach waren, einem solchen Heere zu widerstehen. Und
jetzt begannen die wahren Ziele der lakedaemonischen Politik
sich zu enthüllen. Nikomedes überschritt die boeotische
Grenze und bezog ein Lager bei Theben, wo er mit offenen
Armen aufgenommen wurde. Er hatte Verbindungen mit
der oligarchischen Partei in Athen und wartete auf die Gelegen-
heit, einen Handstreich zu wagen.
In Athen erkannte man die Gefahr und beschloß, ihr
zuvorzukommen. Das ganze Bürgeraufgebot wurde zu den
Waffen gerufen, aus Argos, Thessalien und den Städten des
Seebundes Hilfstruppen herangezogen. Obgleich ein be-
trächtlicher Teil der attischen Macht in Aegypten und auf
Aegina stand, kamen doch 14 000 Hopliten zusammen, ein
Heer, das den vereinigten Peloponnesiern und Thebanern
numerisch wenigstens annähernd gewachsen war. So ergriffen
die Athener die Offensive. Zwischen Tanagra und Theben
traf man auf den Feind; es war das erstemal, daß Athener
und Lakedaemonier in offener Feldschlacht sich maßen.
Nach sehr blutigem Kampfe blieb den Peloponnesiern der
Sieg; wie die Athener sagten, infolge des Verrates der thessa-
lischen Reiter, die während der Schlacht zum Feinde über-
gingen. Aber es gelang dem geschlagenen Heere, seinen Rück-
zug aus Boeotien im wesenthchen intakt zu bewerkstelligen;
und auch die Peloponnesier hatten so schwer gelitten, daß
Nikomedes eine Invasion Attikas nicht ratsam schien. Die
athenischen Oligarchen warteten vergeblich auf die ver-
sprochene Hilfe ^. Die Sieger begnügten sich, die boeotischen
Thuk. 1 107. 108, Diod. XI 79—80, Paus. I 29, 6. 9, Plut. Per. 10, Kim.
Tanagra. — Oenophyta. 169
Landstädte zu veranlassen, ihren Bund mit Theben zu er-
neuern, der vor 20 Jahren nach der Schlacht bei Plataeae
aufgelöst worden war. Es sollte ein Gegengewicht gegen
Athen geschaffen werden, wodurch dieses gehindert würde,
noch weiter aggressiv gegen den Peloponnes vorzugehen ^.
Darauf zog Nikomedes durch die Megaris und die Pässe der
Geraneia nach dem Peloponnes zurück ^. Strategisch hatten
die Athener gesiegt, trotz ihrer taktischen Niederlage ^.
Mittelgriechenland war also aufs neue sich selbst über-
lassen, und in Athen säumte man nicht, die Gunst des Moments
zu benutzen. Sobald das bei Tanagra geschlagene Heer wieder
kampffähig war, überschritten die Athener noch einmal die
boeotische Grenze, geführt von Myronides, einem Veteranen
aus den Freiheitskriegen, der bei Plataeae unter den Strategen
gewesen war und noch soeben, durch die siegreiche Abwehr
des korinthischen Angriffs auf die Megaris, sich als tüchtiger
Feldherr bewährt hatte *. Der neubegründete boeotische
Bund aber war noch zu wenig gefestigt, als daß er imstande
gewesen wäre, aus eigener Kraft dem Stoße zu widerstehen,
dem soeben die Peloponnesier nur mit Mühe standgehalten
hatten. In den ,, Weinbergen" (Oenophyta) erlag das boeotische
Bundesheer dem athenischen Angriff, am 62. Tage nach der
Schlacht bei Tanagra. Der Bund löste infolge dieses Schlages
17. Die Inschrift des Weihgeschenks, das die Peloponnesier zum Gedächtnis
des Sieges in Olynapia stifteten, bei Paus. V 10, 4, IGA. 26 a. Grabschrift der
gefallenen Kleonaeer CIA. I 441 und IV 1 S. 107. Über die Chronologie unten
2. Abt. § 77.
1 Diod. XI 81, lustin. III 6, 10. Nach Diod. 81, 3 hätten die Spartaner
damals die Ringmauer Thebens erweitert; bei der kurzen Dauer ihres Aufent-
halts in Boeotien kann dazu nicht wohl Zeit gewesen sein. Kratippos XII 3
setzt die Übersiedlung der Bewohner der umliegenden Kleinstädte nach Theben
vielmehr an den Anfang des peloponnesischen Krieges; ohne Zweifel mit Recht.
- Thuk. I 108, 2.
* Die Athener haben darum später die Schlacht bei Tanagra nicht als
Niederlage anerkennen wollen: Plat. Menex. 242 b, Diod. XI 81, 6.
* Myronides Strateg bei Plataeae: Plut. Ar ist. 20, in der Megaris 458:
Thuk. I 105, 4, Lys. 2 (Epitaphios) 52. Als hervorragender Vertreter der guten
alten Zeit erscheint er bei Aristoph. Lysistr. 801, Ekhles. 304, Eupolis Demen
fr. 98.
170 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
sich auf. Theben blieb wieder auf sein eigenes Gebiet be-
schränkt; die Landstädte traten in enge Verbindung mit
Athen, Phokis folgte freiwillig, das opuntische Lokris ge-
zwungen diesem Beispiel. Das ganze Gebiet vom Isthmos
bis zu den Thermopylen, mit alleiniger Ausnahme Thebens,
war damit der Oberhoheit Athens unterworfen ^.
Eine weitere Folge der Schlacht bei Oenophyta war
die Kapitulation von Aegina, dessen Belagerung trotz der
Bedrohung der attischen Grenzen nicht unterbrochen worden
war. Die besiegte Stadt mußte sich harten Bedmgungen
unterwerfen : die Kriegsflotte wurde den Athenern ausgeliefert,
die Mauern geschleift, Aegina trat in den Seebund und ver-
pflichtete sich zur Zahlung eines Tributs von 30 Talenten,
mehr als in dieser Zeit irgendeine andere Bundesstadt zahlte ^.
Auch das nahe Troezen trat jetzt auf die athenische Seite ^.
1 Thuk. I 108, Diod. XI 81—83, der die Schlacht aus Nachlässigkeit
zweimal erzählt, Front. Strat. II 4, 11; IV 7, 21. Der Erfolg wurde nicht so sehr
den athenischen Waffen verdankt, als den inneren Wirren, von denen Boeotien
zerrissen war (Thuk. III 62, 5, IV 92, 6, vgl. Perikles' Ausspruch bei Aristot.
Rhet. III 4 S. 1407 a), und zwar handelte es sich dabei nicht sowohl um den
Gegensatz zwischen Oligarchen und Demokraten als zwischen Theben und
der autonomistischen Partei in den Landstädten (Plat. Menex. 242 b). Ein
Bild der Stimmung in Theben nach der Schlacht gibt Pindar Isthm. VII (VI).
Daß die dbiKUU? qpeüf ovre?, welche die Athener nach dem Siege bei Oenophyta
blKaiuuc; zurückführten (Plat. a. a. 0.), solche Autonomisten und nicht etwa
Oligarchen gewesen sind, ergibt sich daraus, daß die verbannten Oligarchen
erst zur Zeit der Schlacht bei Koroneia zurückkehrten; denn wären die qpuYÖbc^
BoiDUTOiv, die in dieser Schlacht siegten, Demokraten gewesen, so würde die
Verfassung Boeotiens nach dem Siege den^okratisch, nicht oligarchisch ge-
worden sein. [Xen.] vStaaid Athen. III 10 ist korrupt; hat der Verfasser
gemeint, was man aus der Stelle herausliest, so würde daraus nur folgen, daß
Athen beim Sturze der Demokratie in Theben nach der Schlacht bei Oenophyta
(unten S. 179) die Hand im Spiele hatte, in der Hoffnung, die neue Regierung
würde sich an Athen anschließen. Denn Theben hat, allein in Boeotien, sich
nach der Schlacht bei Oenophyta Athen nicht unterworfen, was ja nach dem
Gesagten eines Beweises nicht weiter bedarf, übrigens von Diodor XI 83, 1
ausdrücklich bezeugt wird; eint Bestätigung gibt Thuk. III 62, 5 AGrivaiuiv
Ti^v fiiueT^pav x'ipav 7reipuj|u^vujv uqp' ai)ToT? TroieTo9ai Kai Kaxci aTÖoiv fibri
^XÖVTUJV aÖTfj? xd TTOWct.
2 Thuk. I 108, Diod. XI 78.
^ Die Stadt blieb bis zum Frieden von 446 im Besitz der Athener (Thuk.
Fall von Aegina. — Die langen Mauern. — Offensive gegen den Peloponnes. 171
Um dieselbe Zeit wurde ein Werk vollendet, das bestimmt
war, dem Verteidigungssysteme Athens seinen Abschluß
zu geben: die Verbindung der Stadt mit ihren Häfen durch
eine doppelte Befestigungslinie. Es war ein Riesenbau, wie
er bisher in Griechenland noch nicht zustande gekommen
war; betrug doch die Entfernung von Athen nach dem Pei-
raeeus 40, nach Phaleron 35 Stadien, 7 bzw. 6 km. Jetzt
war Athen unter allen Umständen die freie Verbindung mit
dem Meere gesichert, auch wenn ein überlegener Feind in
Attika einfiel; man brauchte in solchen Fällen nicht mehr,
wie noch Themistokles beabsichtigt hatte, zu dem verzweifelten
Mittel zu greifen, die Stadt aufzugeben und im Peiraeeus
Zuflucht zu suchen ^.
Athen stand auf der Höhe seiner Macht. Seit den Siegen
über Korinth und Aegina beherrschte es das Meer unbedingt,
und auch zu Lande war es durch das Bündnis mit Argos und
die Herrschaft über Mittelgriechenland dem peloponnesischen
Bunde annähernd gewachsen. Es glaubte jetzt zu einem
Angriff auf Sparta selbst schreiten zu können. Eine Flotte
unter Tolmides wurde nach der lakonischen Küste geschickt
(456), und es gelang auch, das spartanische Arsenal in Gytheion
zu zerstören und Methone an der messenischen Küste ein-
zunehmen; freilich mußte der Platz gleich wieder aufgegeben
werden, sobald die Spartaner heranrückten. Tolmides wandte
sich nun nach Aetolien, wo er die korinthische Kolonie Chalkis
eroberte; auch Achaia hat sich um diese Zeit an Athen
angeschlossen ^.
I 115, IV 21, Andok. vFr., 3); wann sie sich an Athen angeschlossen hat, wird
nicht überliefert. Auch Halieis muß sich um diese Zeit an Athen angeschlossen
haben, denn es stand 458 noch auf spartanischer Seite (oben S. 167) und wurde
dann von dem Spartaner Aneristos durch einen kühnen Handstreich zurück-
gewonnen (Herod. VII 137).
' Thuk. I 108, 3, vgl. 107, 4, Kratinos fr. 300 Kock, bei Plut. Per. 13.
2 Thuk. I 108, Diod. XI 84, Schol. Aesch. vdGes. 78, Paus. I 27, 5. Über
die Chronologie unten 2. Abt. § 77. Wann die Achaeer sich an Athen ange-
schlossen haben, wird nicht überliefert; sie erscheinen bei Perikles' Feldzug in
diesen Gegenden (455) bereits als athenische Bundesgenossen (Thuk. I 111, 3,
Plut. Per. 19). Auch die Chalkis benachbarte korinthische Kolonie Molykreion
172 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
Doch diese Erfolge waren nur durch die äußerste An-
spannung aller Kräfte des Staates zu erreichen gewesen.
Als die Korinthier im Sommer 458 gegen Megara zogen, hatte
man die letzte Reserve, die ältesten und jüngsten Jahrgänge
zu den Waffen rufen müssen, um nicht gezwungen zu sein,
die Belagerung von Aegina aufzuheben ^. Die zufällig erhaltene
Verlustliste eines der zehn Stämme, in welche die attische
Bürgerschaft zerfiel, aus diesem selben Jahre führt 177 Namen
auf; haben die übrigen Stämme in gleichem Maße gelitten,
so hat dieses eine Jahr gegen 1800 Bürger gekostet, aus einer
Gesamtzahl von höchstens 30 000 waffenfähigen Männern ^.
Unter diesen Umständen war Athen nicht imstande ge-
wesen, Verstärkungen nach Aegypten zu senden. Das schien
auch lange Zeit nicht nötig; die Flotte, die dort stand, war
ausreichend, die am Nil und in Kypros gewonnene Stellung
zu behaupten und auch die phoenikische Küste zu beun-
ruhigen ^. Mehr freilich wurde nicht erreicht; ja es gelang
nicht einmal, die Burg von Memphis zur Übergabe zu bringen.
Inzwischen hatte der König ein großes Heer und eine starke
Flotte gerüstet unter seinem Schwager Megabyzos, der nach
Dareios' Tode das abgefallene Babylon zum Gehorsam zurück-
gebracht hatte. Diesen überlegenen Streitkräften vermochten
die Aegypter und ihre griechischen Bundesgenossen nicht
standzuhalten; sie wurden in offener Feldschlacht geschlagen,
Memphis mußte infolgedessen geräumt werden, und die
Athener wurden auf die Nilinsel Prosopitis gedrängt (Herbst
muß um diese Zeit unter athenische Herrschaft gekommen sein '(vgl. Thuk.
III 102, 2).
1 Thuk. I 105, 4, und dazu Klio V, 1905, S. 363 f.
=* CIA. I 433, vgl. Isokr. 8 (vFrieden) 88.
' CIA. I 433. Eine Tributliste in Krateros' H'riqpiff.uctTUJV auvaYUJYn (bei
Steph. Byz. Aujpo?, a. E.) führte Doros unter den Städten des KapiKÖ(;
qpöpoi; auf; da wir keine Stadt dieses Namens in Karlen kennen, scheint das
phoenikische Doros, oder wie es später gewöhnlich genannt wurde, Dora gemeint
(Köhler, Abh. Berl. Akad. 1869 S. 121. 207), das dann also eine Zeitlang, natür-
lich vor dem Kalliasfrieden, zum athenischen Reiche gehört haben müßte.
In der Krateros vorliegenden Urkunde, die schon die Steuerbezirke hatte, kann
sie allerdings nur in partibus infidelium aufgeführt gewesen sein.
Die Katastrophe in Aegypten. — Verlegung d. Bundesschatzes nach Athen. 173
458). Hier hielten sie sich 18 Monate, bis es den Persern
endlich gelang, durch Ableitung eines Kanals die athenischen
Schiffe aufs Trockene zu setzen und die Insel mit dem Land-
heere zu erstürmen. Nur schwache Trümmer der Bemannung
der griechischen Flotte retten sich durch Libyen über Kyrene
in die Heimat. Jetzt endlich, wo es zu spät war, erschien
eine athenische Entsatzflotte von 50 Schiffen und lief, ohne
eine Ahnung von der erfolgten Katastrophe zu haben, in den
mendesischen Nilarm ein; hier wurde sie von den Phoenikern
angegriffen und zum größten Teile vernichtet (456). Auch
König Inarös, das Haupt der Empörung, wurde gefangen
und hingerichtet. Aegypten kehrte zum Gehorsam zurück ^.
Doch behaupteten sich die Aufständischen unter Psammetichos,
dem Sohne des Inaros, im Hbyschen Grenzgebiet, und unter
Amyrtaeos in den Sümpfen im Norden des Delta ^.
Die aegyptische Katastrophe war, nach einer ununter-
brochenen Reihe von Siegen, der erste Mißerfolg, den der
Perserkrieg gebracht hatte; man hatte jetzt wieder ernstlich
mit dem Erscheinen einer phoenikischen Flotte im Aegaeischen
Meere zu rechnen. Demgegenüber schien der Bundesschatz
in dem offenen Delos zu exponiert, und die Bundesversammlung
beschloß demgemäß, auf Antrag der Samier, ihn nach der
Akropolis von Athen in Sicherheit zu bringen (Frühjahr 455) ^.
Im übrigen beschränkte sich Athen darauf, seine Stellung
^ Thuk. I 109. 110, Ktes. 33 ff. (im einzelnen nicht immer zuverlässig).
Der Bericht bei Diod. XI 74. 76. 77 (Ephoros?) beruht auf Thukydides mit
Benutzung des Ktesias. Über Prosopitis auch Herod. II 41, über Megabyzos
III 160. Die Vernichtung der 200 Schiffe auTOi? TOii; irXripibuaaiv erwähnt
auch Isokrates (8., vFriedeti, 86). Aber ein Teil der Flotte war auf Kypros
geblieben (CIA. I 433), und ein anderer Teil mag, nach den großen Erfolgen
am Anfang des Feldzuges, nach Hause zurückgekehrt sein. Immerhin war
es eine furchtbare Katastrophe: öXiYOi äirö ttoWujv iaibQr\aav, ot bi irXeiaTOi
diTiJuXovTO (Thuk. I 110, 1). Über die Chronologie unten 2. Abt. § 82
^ Herod. III 15, Philochoros fr. 90 (unter dem Jahr 445/4), über Amyrtaeos
Thuk. I 112, Herod. II 410 vgl. III 160. Thannyras, ein Sohn des Inarös, den
die Perser später als König anerkannten, ist entweder mit Psammetichos identisch
oder diesem seinem Bruder nach 445/4 in der Herrschaft gefolgt.
3 Plut. Per. 12, Arisi. 25, Diod. XII 38, lustin. III 6. Über die Chrono-
logie unten 2. Abt. § 81 f.
174 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
in Mittelgriechenland zu befestigen. Vor allem galt es, den
athenischen Einfluß in Thessalien wieder zur Geltung zu
bringen, das um die Zeit der Schlacht bei Tanagra von Athen
abgefallen war (oben S. 168). Damals war Orestes, der Sohn
des athenerfreundlichen Tagos Echekratidas, aus Pharsalos
verbannt worden; jetzt sollte ihn ein athenisches Heer unter
Myronides, durch boeotische und phokische Kontingente
verstärkt, auf den väterlichen Thron zurückführen. Aber
durch die überlegene thessalische Reiterei sahen die Athener
in dem ebenen Lande sich in allen Bewegungen gehemmt;
man gelangte zwar vor Pharsalos, vermochte aber die Stadt
nicht zu nehmen, und es blieb endlich nichts übrig als unver-
richteter Sache zurückzugehen (Sommer 455) ^. Noch in
demselben Sommer unternahm Perikles von Pagae in der
Megaris aus eine Expedition auf dem Korinthischen Golfe,
die gleichfalls erfolglos blieb; denn das feste Oeniadae in den
Sümpfen an der Acheloosmündung leistete so kräftigen
Widerstand, daß die Belagerung abgebrochen werden mußte,
worauf die Flotte nach Hause zurückfuhr ^.
^ Thuk. 1 111, 1, Diod. XI 83. Daß Myronides befehligte, sagt nur Diodor,
es wird aber richtig sein, da Diodors Quelle offenbar nur darum den Bericht
über diesen Zug unmittelbar an die Schlacht bei Oenophyta angeschlossen hat.
Über Orestes oben I 2 S. 204, über die Chronologie unten 2. Abt. § 80.
Damals werden die Pheraeer den Sieg über die attische Reiterei erfochten
haben, zu dessen Gedächtnis sie das von Paus. X 15, 4 erwähnte Denkmal
in Delphi errichteten.
2 Thuk. I 111, 2. 3, Plut. Per. 19, Diod. XI 85 = XI 88, wo das unbe-
deutende Scharmützel an der sikyonischen Küste, das ich oben im Texte nicht
habe erwähnen mögen, ad maiorem Periclis gloriam zu einem großen Siege auf-
gebauscht wird. Unrichtig ist auch Diodors Angabe (XI 85, 2), Perikles habe,
außer Oeniadae, alle akarnanischen Städte genommen; denn nach Thuk. II 68, 8
ist ein Bündnis mit Akarnanien zuerst von Phormion geschlossen worden, einige
Zeit vor Ausbruch des peloponnesischen Krieges. Die Eroberung von Oeniadae
durch die Messenier von Naupaktos, denen es dann nach einem Jahre durch
die Akarnanen wieder entrissen wurde (Paus. IV 25, vgl. V 26, 1), muß, falls
sie überhaupt historisch ist, in eine etwas spätere Zeit gehören,. Die ganze
Energielosigkeit der perikleischen Kriegführung zeigt sich schon in diesem
seinem ersten Feldzuge, über den wir etwas näher unterrichtet sind. Über die
Chronologie unten 2. Abt. § 80.
Mißerfolge der Athener in Griechenland. — Waflfenstillstand mit Sparta. 175
Während der nächsten Jahre schlief der Krieg in Griechen-
land ein; Athen bedurfte nach der aegyptischen Katastrophe
der Sammlung, Sparta war nicht imstande, gegen Athen
vorzugehen, solange dieses die Isthmospässe und den korinthi-
schen Golf beherrschte. Auch mag es sein, daß die Rücksicht
auf die von Persien her drohende Gefahr für die Haltung
Spartas mitbestimmend war. Der persische Angriff erfolgte
nun allerdings nicht, da Flotte und Heer des Großkönigs
noch in Aegypten und Kypros beschäftigt waren; aber eben
darum galt es, zu verhüten, daß diese äußersten Bollwerke
des Hellenentums ganz in die Hände der Perser fielen. Dazu
aber mußte Athen in Griechenland den Rücken frei haben;
denn daß es nicht imstande war, den Krieg mit zwei Fronten
zu führen, hatten die Ereignisse der letzten Jahre nur zu
deutlich bewiesen. Es war also notwendig, mit Sparta zu
einer Verständigung zu kommen. Der einzige athenische
Staatsmann, der dort Einfluß genug besaß, eine solche zu-
stande zu bringen, war Kimon; und eben jetzt kehrte dieser
nach Ablauf der zehnjährigen Frist aus der Verbannung
zurück, die das Scherbengericht über ihn verhängt hatte
(Frühjahr 451). Er nahm nun sogleich das Werk der Ver-
söhnung in seine Hand, und es gelang ihm denn auch, zwar
keinen dauernden Frieden, aber doch wenigstens einen Waffen-
stillstand auf 5 Jahre zwischen den beiden griechischen Vor-
mächten zum Abschluß zu bringen (Sommer 451) ^. Athen
1 Thuk. 1 112, Andok. vFr. 4, Plut. Kim. 18, Diod. XI 86, 1, vgl. Theopomp.
fr. 92, Nepos Cim. 3. Näheres, auch über die Chronologie, unten 2. Abt. § 85 f.
In diese Zeit muß die Sendung des Arthmios von Zeleia fallen, der von den
Athenern geächtet wurde, ÖTi xöv xpucJÖVTÖv ^k Mrjbujv eic, TTe\oTrövvTi0ov r\jayev
(das Ächtungsdekret bei Demosth. Phil. III 42, die Redner spielen oft darauf
an; vgl. Swoboda, Epigr. arch. Mitt. aus Österreich, XVI S. 49flf.). Da Kimon
das Dekret beantragt hat (Krateros im Schol. zu Aristeid. bei Wilamowitz,
Sommerprogramm Göttingen 1884, bei Plut. Them. 6 wird irrtümlich Themistokles
genannt), ist das Jahrzehnt seiner Verbannung ausgeschlossen, die Zeit vorher
kann nicht in Betracht kommen, da damals noch gute Beziehungen zwischen
Athen und Sparta herrschten, und 450 ist Kimon gestorben. Arthmios hat
also offenbar den Auftrag gehabt, die Annäherung Spartas an Athen zu ver-
hindern, die zum Abschluß des fünfjährigen Friedens geführt hat.
176 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
zahlte dafür allerdings einen teuren Preis; es löste sein Bündnis
mit Argos, und dieses war dadurch gezwungen, nun auch
seinerseits ein Abkommen mit Sparta zu schließen, und zwar
auf Grund des gegenwärtigen Besitzstandes, also unter Aner-
kennung der spartanischen Herrschaft über die Kynuria
(Winter 451/0). Dies Abkommen sollte auf 30 Jahre Geltung
haben, so daß also Sparta, wenn sein Waffenstillstand mit
Athen ablief, von Argos nichts zu besorgen hatte ^
Jetzt konnte Kimon den Perseikrieg wieder aufnehmen.
Mit 200 Schiffen ging er nach Kypros in See (Frühjahr 450),
das zum größten Teil wieder in die Gewalt des Königs ge-
kommen war; dort angelangt, sandte er 60 Schiffe nach
Aegypten zu König Amyrtaeos, um das Land von neuem
zum Aufstand zu bringen; er selbst nahm Marion ein und
begann dann die Belagerung von Kition, das als phoenikische
Kolonie den festesten Stützpunkt der Perser auf der Insel
bildete. Hier, im Lager vor der Stadt, ist Kimon einer
Epidemie erlegen, die im athenischen Heere ausgebrochen
war. Inzwischen war eine persische Flotte an der Ostküste
der Insel erschienen und hatte ein starkes Truppenkorps
ans Land gesetzt. Die Athener brachen infolgedessen die
Belagerung von Kition ab und segelten dem Feinde entgegen.
Bei dem kyprischen Salamis wurde die letzte Schlacht des
Perserkrieges geschlagen, und noch einmal blieb der Sieg,
zu Wasser und zu Land, den Hellenen. Es war ein Erfolg
fast wie der am Eurymedon; 100 feindliche Schiffe wurden
genommen, nach der Niederlage in Aegypten war die Ehre
der griechischen Waffen wieder hergestellt; es war glänzend
bewiesen, daß Athen noch immer die erste Seemacht der
Welt war ^.
1 Thuk. V 14, 4. Beim Ausbruch des peloponnesischen Krieges war Argos
mit Athen nicht verbündet, woraus sich ergibt, daß das 462 geschlossene Bündnis
451 gelöst worden ist.
* Einziger brauchbarer Bericht über den Krieg Thuk. I 112, dazu die
Grabschrift auf die bei Salamis Gefallenen Diod. XI 62, Anthol. Palat. VII 296,
Aristeid. II 209 d, vgl. unten 2. Abt. § 86. Die Echtheit von Br. Keil, Hermes
XX, 1885, S. 343 ff. sehr mit Unrecht bestritten. Diod. XII 3. 4, Plut. Kim.
Expedition nach Kypros. — Frieden mit Persien. 177
Aber der Kampf gegen die Barbaren wurde nicht weiter-
geführt. Mit Kimons Tode ging die Leitung des athenischen
Staates wieder an Perikles über; und dieser war der Ansicht,
daß Athen vor allem Ruhe bedürfe zur Sammlung seiner
Kräfte für den unvermeidlichen Kampf mit den Peloponnesiern.
Er rief also die Flotte von Kypros und aus Aegypten zurück
und begann Unterhandlungen mit dem Großkönig ^.
Eine athenische Gesandtschaft ging nach Susa hinauf,
geführt von Kallias, dem Oberpriester der eleusinischen
Göttinnen und reichsten Manne Athens. Da auch der König
sich von einer Weiterführung des Krieges nach der Niederlage
bei Salamis keine Erfolge versprechen durfte, kam man bald
zur Verständigung. Athen verzichtete auf Aegypten und
Kypros, der König andererseits versprach, keine Kriegs-
schiffe in das Aegaeische Meer einlaufen zu lassen und die
athenischen Bundesstädte an den kleinasiatischen Küsten
auch zu Lande nicht anzugreifen (449). Das Ganze war, wie
wir sagen würden, mehr ein modus vivendi als ein wirklicher
Friedensvertrag; der König gab seine Rechte auf die asiatischen
Griechenstädte nicht förmL'ch auf, aber er ließ diese Rechte
für jetzt ruhen; die Städte blieben tributfrei, wie sie es bisher
gewesen waren ^. So war denn der 30 jährige Perserkrieg
18. 19 geben ein verzerrtes Bild des Feldzuges, weil sie den Sieg von Kimon
selbst erfochten werden lassen. Einzelheiten, wie die Einnahme von Marion
durch Kimon (Diod. XII 3, 3) mögen richtig sein. Die große Doppelschlacht
ist nach Thukydides öit^p Za\a|uTvo^ geschlagen worden, nach Diod. c. 4, 1 ff.
lag in Salamis eine persische Besatzung und die Stadt wurde nach dem See-
siege von den Athenern vergeblich belagert, bis die Friedensverhandlungen
den Feindseligkeiten ein Ende machten. Auch das wird richtig sein. — Bei
Thuk. I 112, 4 ist \oi|uoO Y£VO|ndvou zu lesen, wenn auch die Handschriften
und ihnen folgend unsere Ausgaben XiuoO haben; denn eine Hungersnot kann
wohl in einer belagerten Stadt ausbrechen, nicht aber bei einem Belagerungs-
heere, da müßte öirobeia gesagt sein.
1 Thuk. I 112, 4.
^ Die Gesandtschaft des Kallias erwähnt, ohne Angabe des Zwecks, Herod.
VII 151. Den Abschluß des Friedens bezeugen Isokr. Paneg. 118 ff., Areop. 80,
Panath. 59, Demosth. vdGes. 273, Lyk. gLeokr. 73, Diod. XII 4, Plut. Kim. 13,
Didym. zu Demosth. 7, 73, Suidas Ki|uu)V usw. Thukydides schweigt, bezeugt
aber VIII 56, 4 die Bestimmung des Vertrages, die den Persern das Aegaeische
Bei och, Griech. Geschichte II, i. z. Aufl. 12
178 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
beendet, und es herrschte fortan freier Verkehr zwischen dem
athenischen und dem persischen Reiche.
Auch in Griechenland suchte Perikles zur Herstellung
eines dauernden Friedenszustandes zu gelangen. Er ließ es
geschehen, daß die Spartaner ein Heer über den krisaeischen
Golf nach Delphi sandten, das die mit Athen verbündeten
Phoker aus der Stadt vertrieb, und den Delphern die Ver-
waltung ihres Tempels zurückgab (449), welche die Phoker
usurpiert hatten ^. Im folgenden Jahre lud er alle hellenischen
Meer verschloß. Ebenso ergibt sich aus Thuk. VIII 5. 6, daß 'die athenischen
Bundesstädte in Asien keinen Tribut an den König zahlten; der freie Verkehr
folgt aus [Xen.] Staat d. Ath. II 7, Thuk. II 69, 1, VIII 35, 2, auch aus Herodots
Reisen im Perserreich. Die Urkunde des Vertrages gab Krateros in seiner
Yriq)ia|LidTU)v auvaYiWTH (Plut. Kim. 13); Theopomp (fr. 167. 168) erklärte
sie für eine Fälschung, weil sie im ionischen Alphabet geschrieben war. Aber
der Volksbeschluß für Phaseiis CIA. II 11 = Dittenb. Syll. ^ 12 (vgl. S. 640)
ist ebenfalls im ionischen Alphabet geschrieben, obgleich er aus der Mitte des
V. Jahrhunderts stammt (Wilhelm, Gott. GJ. Anz. 1898, S. 204). Die lange
Diskussion unter den Neueren über die Realität dieses sehr mit Unrecht sog.
„kimonischen Friedens" ist heute wohl erledigt; vgl. Ed. Meyer, Forschungen
II 71, der in allem Wesentlichen richtig gesehen hat. Über die Chronologie
unten 2. Abt. § 86. Die Angabe, daß der Unterhändler Kallias zu einer Buße
von 50 tal. verurteilt worden wäre (Demosth. a. a. O.), ist sehr unwahrschein-
lich und beruht offenbar auf einer Verwechslung mit der Buße von ebenfalls
50 tal., die sein Oheim Kaüias nach Miltiades' Tode für seinen Schwager Kimon
bezahlt haben soll (oben S. 25, Anm. 1, vgl. unten 2. Abt. § 18). Auch würde
Kallias, wenn er irapairpeößeiac; verurteilt worden wäre, nicht fast unmittelbar
darauf als Gesandter zum Abschluß des dreißigjährigen Friedens nach Sparta
geschickt worden sein (Diod. XII 7).
1 Thuk. I 112, 5, Philochoros fr. 88 bei Schol. Aristoph. Vög. 556, Plut.
Per. 21, Strab. IX 423. Es ist dabei, an der Ostgrenze des delphischen Gebiets,
bei Anemoreia (Arachowa) zu einem großen Kampfe zwischen den Spartanern
und Phokern gekommen; das Massengrab der dabei gefallenen Spartaner
(["froXuJdvbpeiov AaKiOvoiv), das in dieser Gegend gelegen hat (Wescher, Monu-
ment bilingue de Delphes, Paris 1868, S. 55), kann auf keinen anderen Krieg be-
zogen werden, denn die Niederlage des Arcus, an die man auch denken könnte,
ist auf der anderen Seite von Delphi, in der krisaeischen Ebene, erfolgt (lustin.
XXIV 1). Über die Chronologie unten 2. Abt. § 86. Da der erste heilige Krieg
gegen Krisa, nicht gegen Phokis geführt worden ist, so hat Krisa, auf dessen
Gebiet Delphi lag, damals nicht zum phokischen Bunde gehört. Der Krieg
war um die Unabhängigkeit Delphis geführt worden; also können die Amphi-
ktionen nach dem Siege die Stadt den Phokern nicht gegeben haben. Daß sie
Frieden mit Persien. — Der heilige Krieg. — Erhebung Boeotiens. 179
Staaten diesseits des ionischen Meeres zu einem Kongreß
in Athen ein, zxir Beratung über den Wiederaufbau der von
den Persern zerstörten Tempel, über die im Perserkriege
gelobten Opfer, über die Freiheit der Schiffahrt und die Er-
haltung des Friedens. Das Projekt scheiterte an dem Wider-
stände Spartas ^, das schon an dem Ort des Kongresses Anstoß
nehmen mußte und außerdem keineswegs gewillt war, den
jetzt in Hellas herrschenden politischen Zustand als end-
gültigen anzuerkennen. Perikles' Antwort war ein Zug nach
Delphi, wo er die Verwaltung des Heiligtums den Phokern
zurückgab. Unter diesen Umständen war eine Verlängerung
des 5 jährigen Waffenstillstands bei seinem nahe bevorstehenden
Ablauf kaum zu erwarten; aller Voraussicht nach mußte
der Sommer 446 den Krieg bringen.
• Jetzt hielten die Gegner Athens in Mittelgriechenland
den Augenblick für gekommen, einen entscheidenden Schlag
zu führen. Schon früher, nach der Schlacht bei Oenophyta
und zum Teil eben infolge dieser Niederlage, war die Demo-
kratie in Theben zusammengebrochen und hatte einer
gemäßigten Oligarchie Platz gemacht ^; die oligarchischen
Verbannten aus den boeotischen Kleinstädten gewannen
dadurch mitten in Boeotien selbst einen festen Stützpunkt.
Jetzt griffen sie zu den Waffen und besetzten Orchomenos
und das von diesem abhängige Chaeroneia im äußersten
es nicht getan haben, folgt aus der Bestimmung des Nikias-Friedens : Ae\q)oO^
auTOvö|uou<; etvai Kard xd irdTpia (Thuk. V 18, 2). Demnach können die Phoker
Delphi nicht sehr lange vor 449 in Besitz genommen haben. Auch gibt es
archaische Münzen mit der Aufschrift AaXqpiKOV, die offenbar älter sind als 449,
während die Phoker seit dem VI. Jahrhundert Bundesmünzen geprägt haben.
Und da bei der spartanischen Intervention in Phokis vor der Schlacht bei Tanagra
(457) von Delphi nicht die Rede ist (Thuk. I 117, 2), so haben die Phoker wahr-
scheinlich erst nach der Schlacht bei Oenophyta mit athenischer Hilfe sich zu
Herren von Delphi gemacht.
^ Plut. Per. 17, ohne Zweifel nach dem Volksbeschluß in der Sammlung
des Krateros. Die Sache kann nur in eine Zeit gehören, in der Athen mit Sparta
in Frieden war, und kann auch nicht später gesetzt werden, als der Beginn
des Baues des Parthenon (447). Andererseits war offenbar Kimon schon tot und der
Perserkrieg beendet. Vgl. Busolt, Gr. Gesch. III 1 S. 445 ff.
« Aristot. PolÜ. V 1302 b, vgl. oben S. 170 A. 1.
12*
1 80 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
Westen des Landes (Winter 447/6). In Athen unterschätzte
man die Bedeutung des Aufstandes; mit nur 1000 Bürger-
hopliten und einer Anzahl Bundeskontingenten zog Tolmides
nach Boeotien, und es gelang ihm auch, Chaeroneia zu nehmen,
zu einer Belagerung von Orchomenos aber war er nicht stark
genug, und so blieb nichts übrig als der Rückzug. Doch beim
Tempel der itonischen Athena im Gebiet von Koroneia fand
er die Straße vom Feinde besetzt, der aus Theben, dem
opuntischen Lokris und durch euboeische Verbannte Zuzug
erhalten hatte. Tolmides war nicht imstande, diese Stellung
zu durchbrechen; er selbst fiel mit einem Teil seiner Leute,
der Rest seines Korps wurde zur Ergebung gezwungen. Um
die zahlreichen Gefangenen auszulösen, mußten die Athener
sich zur Räumung von ganz Boeotien verstehen; nur Plataeae
hielt auch jetzt fest an der Verbindung mit Athen ^. Überall
sonst wurden nun oHgarchische Verfassungen eingeführt,
und der alte Bund mit Theben erneuert, und zwar auf dem
Fuße völHger Gleichberechtigung, nur daß die Bundesbehörden
auf der Kadmeia ihren Sitz hatten, und Theben, seiner größeren
Bevölkerung entsprechend, darin stärker vertreten war, als
die übrigen Bundesstädte. An der Spitze des Bundes stand
ein Kollegium von 11 Boeotarchen, etwa mit der Kompetenz
der athenischen Strategen, von denen Theben und die ihm
zugewandten Orte 4, Orchomenos und Thespiae, ebenfalls
1 Thuk. I 113, Hellanikos (?) fr. 49 bei Steph. Byz. Xaipibveia, Plut.
Per. 18, Diod. XII 6 (gibt nur ein Exzerpt aus Thukydides). Aus Thuk. III
62. 67, IV 92 ergibt sich die Teilnahme der Thebaner an der Schlacht, die der
Natur der Sache xiach keine Verbannten gewesen sein können, so daß also der
Staat Theben den Verbannten Zuzug gesandt hat. Offenbar standen die Boeoter
mit der Front gegen Westen, wie 63 Jahre später auf demselben Schlachtfelde
gegen Agesilaos (Plut. Ages. 19), so daß Tolmides nur durch ein siegreiches
Gefecht sich den Weg nach Athen hätte öffnen können; dadurch erklärt es sich,
daß sein ganzes Korps vernichtet wurde. Das hat aber wieder zur Voraussetzung,
daß der Feind in Theben seine Basis hatte; auch der Führer der Boeoter, Sparton
(Plut. a. a. 0.), war, wie der Name zeigt, ein Thebaner. Xen. Denkw. III 5, 4
verlegt die Schlacht nach Lebadeia, Paus. I 27, 5 läßt die Athener auf dem
Marsche nach Haliartos angegriffen werden. Unter den Gefallenen war Kleinias,
der Vater des Alkibiades: Plat. Alk. I 112 c, Isokr. 16, irepi toO Z:eÜYOU<;, 28,
Plut. Alk. 1.
Erhebung Boeotiens. — Der boeotische Bund. 181
mit den zugewandten Orten, je 2, Tanagra 1, Lebadeia, Koro-
neia und Haliartos, und ebenso Akraephion und Kopae je 1
im Turnus, stellten. Ferner bestand eine Ratsversammlung,
in der die einzelnen Städte nach ihrer Größe vertreten waren,
wie die Phylen und Demen im Rate Athens, und zwar im
Verhältnis von 60 Abgeordneten für jeden Boeotarchen, so daß
die ganze Versammlung 660 Mitglieder zählte; sie war in vier
Sektionen geteilt, von denen eine im Turnus den Vorsitz
führte, die laufenden Angelegenheiten vorberiet und sie dann
an das Plenum zur Entscheidung brachte. Wählbar war
nur, wer ein gewisses Vermögen besaß. Volksversammlungen
brauchte der Bund nicht, da die Wahlen in den Einzelstädten
gehalten wurden und der Rat in letzter Instanz über alles
entschied ; wohl aber gab es ein Bundestribunal, dessen Richter
von den einzelnen Städten nach dem Verhältnis der Zahl
der Boeotarchen gestellt wurden. Nach demselben Verhältnis
wurden die Matrikularbeiträge zur Bestreitung der Ausgaben
des Bundes aufgebracht; und ebenso zerfiel, den 11 Boeotarchen
entsprechend, das Bundesheer in 11 Hoplitenregimenter
zu etwa 1000 Mann und 11 Schwadronen zu 100 Pferden,
wenn auch natürlich, besonders bei den Hopliten, die Effektiv-
stärke beträchtlich hinter der Sollstärke zurückblieb ^. Dank
dieser Verfassung, die alle Kräfte des Landes der Zentral -
regierung zur Verfügung stellte, war Boeotien fortan einer der
mächtigsten griechischen Staaten ^.
Durch den Abfall Boeotiens gingen auch Phokis und das
^ Wir haben ein klares Bild dieser Verfassung erst aus den neuentdeckten
Fragmenten des Kratippos erhalten (c. 11, fr. D col. XI). Daß auch der Bundes-
rat, ebenso wie die Ratsversammlungen der Einzelstädte, in vier Sektionen
geteilt war, sagt Kratippos nicht ausdrücklich, um sich nicht wiederholen zu
müssen, es folgt aber aus Thuk. V 38, 2, wo die Tiaaapeq ßouXai tüjv Boiujtuiv,
aiirep änav tö Kupo? ^xo'JtJi, ^^^ *ls Sektionen des Bundesrates gefaßt werden
können (vgl. Glotz, Bull. Corr. Hell. XXXII, 1908, S. 271 £E.). Die auf den
ersten Blick auffallende Zahl von 11 Boeotarchen erklärt sich wohl aus dem
Wunsche, eine eventuelle Stimmengleichheit zu vermeiden; auch der im IV. Jahr-
hundert reorganisierte Bund hat eine ungerade Zahl Boeotarchen gehabt.
* Thuk. III 62, 5. iTTTTOu? xe irap^xovxai Koi TtapaffKeur)v öoriv ouk
äXXoi TiiJv EujLijudxujv (als Bundesgenossen Spartas im peloponnesischen Kriege).
182 V. Abschnitt. — Der Konflikt der Großmächte.
opuntische Lokris für Athen verloren^; Delphi hat damals
oder wenig später seine Autonomie wieder erlangt ^. Und
kurz darauf erhob sich auch Euboea gegen die athenische
Herrschaft (Sommer 446). Sogleich ging nun Perikles mit
einem Heere nach der Insel hinüber; kaum aber war er dort
angekommen, als ein Aufstand in Megara ausbrach; die
athenische Besatzung der Stadt wurde zusammengehauen,
und nur die beiden Hafenstädte Nisaea am Saronischen, Pagae
am Korinthischen Golfe von den Athenern behauptet. Korinth,
Epidauros und Sikyon hatten die Erhebung mit Truppen
unterstützt, während zugleich ein peloponnesisches Bundes -
heer auf dem Isthmos sich sammelte, unter dem jungen König
Pleistoanax, dem ein erprobter Offizier, Kleandridas, als
militärischer Ratgeber zur Seite gestellt war^; denn eben
war der fünfjährige Waffenstillstand mit Athen abgelaufen,
und Sparta hatte so die Hände frei. Auf die Nachricht von
diesen Vorgängen führte Perikles sein Heer aus Euboea zurück
und rückte in die Megaris ein, wich dann aber vor den weit
überlegenen Kräften der Peloponnesier ohne Kampf zurück
und räumte sogar die Ebene von Eleusis, die nun vom Feinde
besetzt wurde *. Jetzt, wo die Peloponnesier nur wenige
^ Beide Landschaften sind am Anfang des peloponnesischen Krieges mit
Sparta verbündet (Thuk. II 9), trotz der Sympathie der Phoker für Athen
(Thuk. III 95, 1); dagegen hatten die Lokrer von Opus schon bei Koroneia
gegen aie Athener mitgefochten (Thuk. I 113, 2).
^ Überhefert ist das nicht. Da aber im Nikiasfrieden die Autonomie
Delphis Kaxd xd iräxpia garantiert wird (Thuk. V 18, 2), und die Phoker im
archidamischen Kriege mit Sparta verbündet waren, können die Spartaner
ihnen damals den Besitz der Stadt nicht entzogen haben; sie muß also schon
vor dem Kriege autonom gewesen sein. Es liegt ja auch in der Natur der Sache,
daß die Spartaner die Unabhängigkeit Delphin wieder herstellten, sobald Mittel-
griechenland unter ihren Einfluß gekommen war.
^ Kleandridas hatte sich bereits in den Kämpfen gegen Arkadien um 466
ausgezeichnet (Polyaen. II 10, 3), später, nach seiner Verbannung, ist er in
Thurioi an die Spitze des Heeres getreten (Polyaen. II 10).
* Thuk. 1 114, Diod. XII 7, Plut. Per. 22. Auf die Ereignisse in der Megaris
bezieht Köhler (Hermes XXIV, 1839, S. 92 und dazu meine Bemerkungen
ebenda S. 479) die Grabschrift des Megarers Python {CIA. II 1675), die von
diesem rühmt, er habe drei athenische Phylen gerettet ^k TTaYäv dTOTiI'v ^id
Der dreißigjährige Frieden. — Unterwerfung Euboeas. 183
Stunden von Athen standen, begann Perikles Unterhandlungen;
und da er bereit war, den Frieden mit sehr schweren Opfern
zu erkaufen, kam man bald zur Verständigung. Athen erkannte
die Unabhängigkeit von Megara an, räumte Nisaea und Pagae
und verzichtete auf Troezen und Achaia; dafür erlangte
es die Anerkennung seiner Seehegemonie seitens der Pelo-
ponnesier; auch Aegina sollte unter athenischer Oberhoheit
bleiben, in seinen inneren Angelegenheiten aber unabhängig
sein. Zwischen dem peloponnesischen und dem attischen
Bunde sollte freier Verkehr herrschen; etwaige Streitigkeiten
durch Schiedsspruch geschhchtet werden. Kleandridas und
der junge König waren überzeugt, daß auch bei einer Fort-
setzung des Krieges nicht mehr zu erreichen gewesen wäre;
mit vollem Recht, wie die späteren Ereignisse bewiesen haben.
Sie schlössen also auf diese Bedingungen hin einen Prähminar-
frieden und führten ihr Heer nach dem Peloponnes zurück.
Im Laufe des Winters erfolgte dann die Ratifizierung des
Vertrages durch die Volksversammlungen in Sparta und Athen
und die peloponnesischen Bundesgenossen. Das Abkommen
sollte auf 30 Jahre in Geltung bleiben ^.
Der Abschluß des Prähminarfriedens gab Perikles freie
Hand gegen Euboea, das er nun an die Spitze von 5000 Hopliten
BonJUTiiuv Iq Äeriva(;. Kaum richtig. — Natürlich müssen dem Ablaufe des fünf-
jährigen Friedens Verhandlungen über eine Verlängerung des Vertrages voraus-
gegangen sein, die aber zu keinem Ergebnis führten, weil Sparta mehr forderte,
als Athen damels bewilligen wollte.
^ Thuk. I 115, Paus. V 23, 3, die Abtretungen auch IV 21, 3, Autonomie
Aeginas I 67, 2, freier Verkehr I 67, 4, Schiedsgericht I 144, 2; 140, 2; 144, 2; 145;
VII 18. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 87. Da die Ratifizierung des
Friedens erst im Winter erfolgt ist, müssen noch nach Abschluß des Präliminar-
friedens längere Verhandlungen geführt worden sein; offenbar hat die Kriegs-
partei in Sparta schon damals dem Abkommen scharfe Opposition gemacht.
Daß aber Athen in diesem Stadium noch weitere Konzessionen gemacht haben
sollte, ist unwahrscheinlich, denn weniger als schließlich erlangt wurde, haben
Kleandridas und Pleistoanax nicht wohl fordern können. Während der Ver-
handlungen ist Pindars 8. pythische Ode, für Aristomenes aus Aegina, ge-
schrieben; der W^unsch, den der Dichter am Schluß ausspricht, Ai'Yiva, qpi\a
Härep, IXeueripuj öxöXiu ttöXiv Tdvbe KÖ]uiIe AI xai KpeovTi aOv AiaKuJ
sollte freilich nicht in Erfüllung gehen.
184 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
mit leichter Mühe zum Gehorsam zurückbrachte. Die Insel
hatte schwer für ihren Abfall zu büßen, die Bewohner von
Histiaea wurden ausgetrieben und ihr Gebiet an athenische
Kleruchen verteilt; die übrigen Gemeinden blieben zwar
bestehen, hatten aber bedeutende Gebietsabtretungen zu
machen und wurden in völlige Abhängigkeit von Athen
gebracht ^.
So war denn, allerdings um teuren Preis, das Schlimmste
noch abgewendet. Wenn auch Athens Einfluß auf dem
griechischen Festlande verloren war, so stand doch die See-
herrschaft unerschüttert, und sie war jetzt von den Pelo-
ponnesiern ausdrücklich anerkannt. Vor allem aber, auf ein
Menschenalter schien Hellas der innere Friede gesichert.
VI. Abschnitt.
Die Friedensjahre.
Der Frieden war durch ein Kompromiß zustande ge-
kommen; wenn Athen schwere Opfer gebracht hatte, so hatte
doch auch Sparta nicht alles erreicht, wofür es zum Schwerte
gegriffen hatte. Man hatte Euboea preisgegeben, das sich im
Vertrauen auf die peloponnesische Hilfe erhoben hatte, und
das stammverwandte Aegina nicht von der athenischen Herr-
schaft befreit. Das schien vielen in Sparta ein schimpflicher
Frieden. Bei den Ephorenwahlen, die im nächsten Sommer
(445) gehalten wurden, kam diese Stimmung zum Ausdruck.
Freilich, der einmal beschworene Vertrag war nicht mehr
rückgängig zu machen; aber seine Urheber, der König Plei-
stoanax und dessen Ratgeber Kleandridas, wurden unter der
Anklage, von Perikles bestochen zu sein, vor Gericht gestellt.
Der König wurde seiner Würde entsetzt und gezwungen,
1 Thuk. I 114, Plut. Per. 23, Diod. XII 22, CIA. IV 1, 27 a, Aristoph.
Wölk. 213 mit den Scholien (Philoch. fr. 89). Über die Kleruchie in Histiaea
(fortan Oreos genannt) außerdem Theopomp. fr. 164 M. Nach Andokides
vFr. 9 wäre mehr als Ys der Insel in athenischen Besitz gekommen.
Pleistoanax abgesetzt. — Thukydides und Perikles. 185
im Tempel des lykaeischen Zeus in Arkadien eine Zuflucht
zu suchen, und auch Kleandridas mußte in die Verbannung
gehen. Den erledigten Thron nahm Pleistoanax' unmündiger
Sohn Pausanias ein ^.
Wenn Sparta seinen siegreichen König zur Rechenschaft
zog, was hatte der leitende Staatsmann Athens verdient,
der so völlig mit Blindheit geschlagen gewesen war, sich
von der revolutionären Bewegung in Boeotien, Euboea, der
Megaris ahnungslos überraschen zu lassen, und der infolge-
dessen nichts getan hatte, der Katastrophe vorzubeugen,
die über Athen hereingebrochen war ? Die Gegenpartei säumte
denn auch nicht, ihren Vorteil aus dieser Lage zu ziehen. An
ihrer Spitze stand jetzt, nach Kimons Tode, Thukydides
von Alopeke, der Sohn des Melesias, ein Mann aus vornehmem
Hause, mit Kimon verschwägert, ausgezeichnet als Redner,
und, was bei einem griechischen Staatsmanne besonderer
Hervorhebung bedurfte, von anerkannter persönlicher Inte-
grität; nach Piatons und Aristoteles' Urteil einer der besten
Bürger, die Athen je gehabt hat. Kimon freilich vermochte
er seiner Partei nicht zu ersetzen, da ihm der Nimbus des
militärischen Erfolges mangelte; immerhin war, wie die Dinge
lagen, auch Thukydides für Perikles ein sehr gefährlicher
Gegner ^.
Indes die Mehrheit der attischen Bürgerschaft war für
eine Reaktion nicht zu haben. Im Frühjahr 445 entschied
das Scherbengericht gegen Thukydides, und Perikles stand
nun ohne Nebenbuhler an der Spitze des Staates ^. Jahr
1 Thuk. II 21, 1; V 16, Ephor. fr. 118, Diod. XIII lOG, 10, Plut. Per. 23.
Über die Chronologie oben I 1 S. 176f.
2 Plut. Per. 8. 11, Piaton Laches S. 179 f., Me7ion 94 d, Aristot. AH.
28, 2. 5, Androtion fr. 43, Philochoros fr. 95 bei Schol. Aristoph. Wesp. 947.
Aristot. a. ?. O. nennt ihn Kr]beaTri? Kijuujvoi;, nach Schol. Aristeid. III S. 446 Df.
wäre er dessen Schwiegersohn gewesen. In den Biographien des Historikers
Thukydides wird dieser mit dem Sohn des Melesias und anderen gleichnamigen
Männern vielfach zusammen geworfen. — Ohne Zweifel hat Thukydides schon
während Kimons Verbannung dessen Partei geführt, daher sagt Plut. Per. 8
TrXeTaTGv dvTeTroXvxeuaaxo riu TTepiKXei xpövov.
^ Plut. Per. 14. Die Zeit ergibt sich aus c. 16 luerä xriv 0ouKub{&ou Ktt-
186 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
für Jahr wurde er zum Strategen erwählt; in Rat und Volks-
versammlung herrschte sein Wort unbedingt. Kein attischer
Bürger seit Hippias hatte eine solche Machtfülle besessen,
und die Opposition verfehlte natürlich nicht, diese Parallele
zu ziehen ^. Es war, wie der Historiker Thukydides sagt,
,,dem Namen nach eine Demokratie, in Wahrheit gebot
Perikles als Alleinherrscher" ^. Aber es war eine Macht, die
ausschließlich auf freiwilliger Unterordnung der Bürger
beruhte. Zum Tyrannen fehlte Perikles der Rückhalt eines
ihm persönlich ergebenen Heeres; und so hat, als er das Ver-
trauen des Volkes verlor, eine einzige Abstimmung genügt,
ihn von seiner Höhe herabzustürzen.
Bei dem tiefen Frieden, der jetzt, zum erstenmal seit
dem Zuge des Xerxes, nach allen Seiten hin herrschte, konnte
Perikles ungestört der Konsolidierung des Seebundes seine
Tätigkeit zuwenden. War der Bund ursprünglich eine auf
freiwilliger Übereinkunft beruhende Vereinigung völlig selb-
ständiger Staaten zur gemeinsamen Verteidigung gegen die
Perser, so hatte das Schwergewicht der Verhältnisse bald
ToXuffiv Kai TÖv öarpaKiöinöv oük ^XcIttuu tuiv -rrevTeKaibeKa ixatv bir\veKr\ Kai
laiav oöaav ^v xaTi; dviauoiai? axparriYiai^ ctpxnv Kai bwaoreiav KxriadiLievoc;.
Da Perikles zu Anfang 430/29 abgesetzt wurde, läuft diese 15 jährige ununter-
brochene Strategie von 445/4 — 431/0. Wer die 15 Jahre bis zu Perikles' Tode
(429/8) rechnen will, obgleich es dann eben keine biriveKri^ Kai |nia dpxH mehr
■wäre, erhält 443 als Datum des Ostrakismos. Doch hat es auch aus inneren
Gründen große Wahrscheinlichkeit, daß der Angriff gegen Perikles bald nach
dem Abschluß des dreißigjährigen Friedens erfolgt ist, wie in Sparta der Angriff
gegen Pleistoanax. 11 Tonscherben mit Thukydides' Namen sind vor kurzem
beim Dipylon zutage gekommen (Jahrb. d. Inst. XXVI, 1911, Anz. Sp. 121, doch
scheinen sie von einem späteren Ostrakismos zu stammen (s. unten Abschn. X).
In der zweiten Vita des Thukydides bei Westermann heißt es (S. 202 Z. 70)
upüJTOv \xiv Ycip Otto toO EevoKpiTou, dj;; Zußapiv dTrobr||iir|aa^, Ob«; dTTavf|\eev
eiq ÄSrivaq axi^xhaemc, biKaaxripiou qpeuyujv 4d\ai, tiarepov b' ^HoarpaKiZieTai
fxr] i. Das muß auf den Sohn des Melesias gehen. Die Unwahrscheinlichkeit der
letzteren Angabe liegt auf der Hand; wohl aber könnte er während seiner Ver-
bannung nach Thurioi gegangen sein.
^ Plut. Per. 16, vgl. 0. 7.
* Thuk. II 65 ^Y^veTO bd Xö^iu |U6V brnuoKpaTia, ^pyuJ ^^ uirö foö
irpiÜTOU ävbpö? öpxn; Plut. Per. 15 f., und die dort angeführten Verse des
Telekleides (fr. 42 Kock).
Perikics Alleinherrscher. — Zentralisierung des Seebundes. — Kleruchien. 187
dahin geführt, die Macht des Vororts zu steigern. Es lag in der
Natur der Sache, daß aufständischen Bundesstaaten nach
ihrer Unterwerfung die Mittel genommen wurden, den Auf-
stand zu wiederholen, Sie mußten ihre Kriegsschiffe aus-
liefern, ihre Mauern schleifen, und statt des bisher gestellten
Flottenkontingents an die Bundeskasse Tribut zahlen. War
die Verfassung einer solchen Stadt oligarchisch gewesen
so wurde sie jetzt im demokratischen Sinne reformiert *.
In der Regel mußte auch ein Teil des Gebiets abgetreten
werden, der dann sehr oft unter attische Bürger verteilt
wurde. So geschah es um 450 in Naxos und Andros ^, 446
in Chalkis und Eretria ^. In besonders schweren Fällen wurde
wohl die ganze Bevölkerung der aufständischen Stadt aus-
getrieben, wie das zuerst durch Perikles mit den Bürgern
von Histiaea geschehen ist *, und im peloponnesischen Kriege
sich noch öfter wiederholen sollte. An die Stelle der ver-
triebenen Bewohner traten dann attische Bürger, die für
die Verwaltung ihrer Lokalangelegenheiten eine eigene Ge-
meinde bildeten, im übrigen aber fortfuhren dem athenischen
Staate anzugehören. Auch bei Eroberung von Gebieten, die
bisher außerhalb des Bundes gestanden hatten, wurde mit-
unter in derselben Weise verfahren, wie zum Beispiel nach
der Erwerbung von Skyros durch Kimon. Diese ,, Kleruchien"
1 So in Erythrae um 460 (CIA. I 9), in Milet 4öÜ.(C/--i. IV, 1, 22 a S. 7).
* Diod. XI 88, 3 (unter 453/2), Plut. Per. 11 (die Liste ist nicht, wie man
gemeint hat, chronologisch geordnet), Paus. I 27, 5, über Naxos auch Andok.
vFr. 9 und Plat. Euthyphron 4 c. Da Tolmides die Kleruchien nach Naxos und
Andros geführt haben soll (Diod. und Paus. a. a. 0.), so können sie nicht nach
447 gesetzt werden; die Gebietsabtretung auf Naxos muß nach dem Aufstande
um 472 erfolgt sein; Andros mag sich entweder an diesem Aufstande oder an
dem Kriege des benachbarten Karystos gegen Athen beteiligt haben. — Daß
um 450 neue Kleruchen nach Lemnos gegangen wären, ist nicht bezeugt, und
lediglich aus der Herabsetzung des Tributs erschlossen; es wird sich dabei aber
um eine Erleichterung handeln, die den alten Kleruchen bewilligt wurde.
* Plut Per. 23, Aelian Verm. Gesch. VI 1 (s. oben S. 184), CIA. I 339
Tfiq dTroi[Kia(;] Tr\<; eic; 'Ep[eTpiav].
* Als Grund wird angegeben, daß die Bürger der Stadt die Bemannung
eines von ihnen genommenen athenischen Schiffes niedergemacht hätten (Plut.
Per. 23).
188 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
bildeten natürlich die festesten Stützpunkte für die attische
Herrschaft ^.
Aber auch wo kein Aufstand erfolgte, konnte es doch
an Anlaß für die Einmischung des Vororts in die inneren
Verhältnisse der Bundesstädte nicht fehlen. Die Tribute
blieben sehr oft im Rückstande und mußten durch Exekution
beigetrieben werden 2; Athen unterhielt zu diesem Zweck
stehende Geschwader (dpYupoXÖYOi vri^q) auf dem Aegaeischen
Meere ^. Bei Streitigkeiten einzelner Bundesstaaten unter-
einander, wie bei Parteikämpfen innerhalb eines Bundes-
staates war der Vorort der natürliche Schiedsrichter, dessen
Intervention denn auch in der Regel von der schwächeren
Partei angerufen wurde *. Zur Aufrechterhaltung der inneren
Ordnung sah sich dann Athen wohl genötigt, Besatzung in die
Bundesstädte zu legen, deren Befehlshaber (cppoupapxoq)
damit natürlich in einer solchen Stadt leitenden Einfluß
erhielt; in den meisten Fällen genügte die Absendung atheni-
scher Zivilkommissare (eTriffKOTTOi) ^
Ganz besonders dringend aber war die Ordnung der
Rechtspflege. Wenn wir erwägen, wie es selbst in Athen
damit aussah, so werden wir uns ein lebhaftes Bild davon
machen können, wie es in den Mittel- und Kleinstädten in
diesem Punkte bestellt sein mußte. Und es gab im Bunde
nur sehr wenige Gemeinden, welche die Zahl von 10 000
^ Über die beiden Klassen von Kleruchien meine Bevölkerung S. 87. In
unseren epigraphischen und literarischen Quellen werden die Ausdrücke dtroiKia
und KXripouxia für beide unterschiedslos gebraucht, diroiKla z. B. für die Neu-
gründung Brea, CIA. I 31 und für die Landanweisungen im Gebiet von Eretria,
CIA. I 339. Vgl oben S. 146 Anm. 3.
2 Thuk. I 99.
» Aristot. An 24, 3. Plut. Per. 11, und öfter bei Thukydides.
* Vgl. z. B. Thuk. I 115, 2.
* S. besonders den athenischen Volksbeschluß über die Neuordnung
der Verfassung von Erythrae CIA. I 9, ferner das Privileg für Leonidas aus
Halikarnassos CIA. IV 1, 27 c S. 164 = Dittenb. Syll. ^ 23 und CIA. I 51 (IV 1
S. 16) = Dittenb. 49, ein äpxujv ^v iKioieuj CIA. IV162 b S. 166 = Dittenb. 54;
Antiphon und Theophrast bei Harpokr. (= Suidas) ^TTiöKOiroi. Nach Aristot.
ATT. 24, 3 hätte es dpxai (jirepöpioi de, 4TrTaKoaiou(; gegeben; die Zahl
ist korrupt und weit übertrieben.
Kleruchien. — Rechtspflege. — Finanzverwaltung. 189
Bürgern erreichten. Es war ganz unvermeidlich, daß die
Rechtsprechung statt nach sachHchen, oft nach persönlichen
und politischen Rücksichten gehandhabt wurde; und so
waren überall da, wo die Athen feindliche Partei die Re-
gierungsgewalt hatte, die Freunde Athens schutzlos der Willkür
ihrer Gegner preisgegeben ^. Um diesen Zuständen ein Ende
zu machen, gab es, wie die Dinge lagen, nur das Mittel, den
Bundesstaaten die höhere Kriminalgerichtsbarkeit zu ent-
ziehen und alle Prozesse dieser Art vor die athenischen Ge-
schworenen zu verweisen. Diese Maßregel ist zuerst gegenüber
abgefallenen Bundesstädten zur Anwendung gebracht worden,
wie z. B. gegen Chalkis nach der Wiederunterwerfung von
Euboea im Jahre 446 ^\ allmählich aber wurde der Gerichts-
zwang auch auf die meisten übrigen Bundesstaaten aus-
gedehnt. Und da die athenischen Geschworenen natürlich
nach attischem Rechte ihren Spruch fällten, so war damit
in dem größten Teile des Bundes die Einheit des Kriminal -
rechtes hergestellt; aber auch abgesehen von diesem Fort-
schritte bot der Spruch fremder Richter, überall da, wo das
politische Interesse Athens nicht ins Spiel kam, ohne Frage
eine weit größere Gewähr für die Gerechtigkeit des Urteils
als der Spruch der eigenen Landsleute, Allerdings wurde
die Kriminalrechtspfiege für die Bundesgenossen dadurch
sehr kostspielig; die Parteien hatten die weite Reise nach
Athen zu machen und dort bei der Überhäufung der Gerichts-
höfe mit Prozessen oft monatelang auf die Entscheidung
zu warten ^. Und wenn wir bedenken, mit welchen Augen
die Gebildeten in Athen selbst auf die Volksgerichte blickten,
so werden wir uns leicht vorstellen können, was die Bundes-
genossen empfinden mußten, wenn sie gezwungen waren,
von solchen Richtern ihr Recht zu empfangen.
Je mehr Staaten in dieser Weise in Abhängigkeit von
Athen kamen, desto mehr mußte die Bundesversammlung
ihre Bedeutung verlieren; seit der Überführung des Schatzes
^ [Xenoph.] Staat d. Athen. 1, 16.
2 CIA. IV 1, 27 a S. 10.
3 [Xen.] Staat d. Athen. 3, 1 ff.
190 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
auf die Akropolis von Athen schlief sie allmählich ganz ein ^.
Athen leitete jetzt die Bundesangelegenheiten völlig nach
eigenem Ermessen; über Krieg und Frieden entschied allein
die athenische Volksversammlung, und ihre Beschlüsse waren
für alle Bundesstaaten verbindlich. Die Höhe der Tribute
wurde durch attische Schätzungskommissionen (xaKTai) ein-
seitig festgestellt; wenn eine Stadt sich für zu hoch belastet
hielt, mußte sie ihre Sache vor das attische Volksgericht
bringen, dessen Spruch in letzter Instanz entschied. Immerhin
blieben, solange Perikles an der Spitze des Staates stand,
die alten aristeidischen Tributsätze im wesentlichen in Geltung;
erst in der finanziellen Bedrängnis des peloponnesischen
Krieges ist man dazu geschritten, die Tribute zu verdoppeln
und zu verdreifachen, bis man schließlich das alte Steuer-
system des Bundes ganz über den Haufen warf und die Tribute
durch Hafenzölle ersetzte. Zum Zwecke der Steuererhebung
erhielt das Bundesgebiet im Jahr 442 eine Einteilung in fünf
Bezirke: lonien, die hellespontischen Landschaften, Thrakien,
Karlen und die ,, Inseln", d. h. die Kykladen, Aegina, Euboea,
Lemnos und Imbros ^.
Auch über die Verwendung der Bundesgelder entschied
die athenische Volksversammlung nach freiem Ermessen,
Perikles scheute sich nicht, offen zu erklären, daß Athen den
Bündnern darüber keine Rechenschaft schuldig sei, solange
es nur seinen vertragsmäßigen Verpflichtungen nachkomme,
die Bundesgenossen gegen Persien zu verteidigen und die
Ordnung auf dem Meere aufrecht zu erhalten ^. Die Mittel
des Bundes wurden denn auch in immer steigendem Maße
für rein athenische Interessen verwendet. Der Richtersold,
soweit er nicht aus den eigenen Einnahmen der Rechtspflege
bestritten wurde, die Kosten für die Unterhaltung der Reiterei
wurden auf die Bundeskasse abgewälzt; die großen Bauten,
^ Das letzte Mal, daß ein Beschluß der Bundesversammlung erwähnt
wird, ist eben bei der Verlegung des Schatzes: Theophrast bei Plut. Arist. 25.
2 Rh. Mus. XLIII, 1888, S. 104 ff.
3 Plut. Per. 12.
Finanz Verwaltung. — Abschließung der athen. Bürgerschaft. 191
mit denen Perikles Athen schmückte, hauptsächlich aus den
Tributen und dem Bundesschatze bestritten.
Während so die Rechte der Bundesstaaten in jeder
Weise beschränkt wurden, der Bund sich in ein athenisches
Reich (dpxn) verwandelte ^, geschah nichts, um die Bundes-
genossen innerlich mit dem leitenden Staate zu verknüpfen.
Vielmehr begann Athen gerade jetzt schroffer als bisher von
seinen Untertanen sich abzuschließen. Athen war bisher
mit seinem Bürgerrechte ^ sehr freigebig gewesen. Wie
Kleisthenes bei seiner Verfassungsreform zahlreichen in Athen
ansässigen Fremden, ja selbst freigelassenen Sklaven das
Bürgerrecht gegeben hatte ^, so geschah es auch später; nur
dadurch war es überhaupt möglich gewesen, die großen Ver-
luste während der langen Kriegszeit zü überstehen *. Nament-
lich Söhne athenischer Väter von fremden Müttern wurden
ohne weiteres in die Bürgerliste eingeschrieben, entsprechend
den Anschauungen, wie sie in der Zeit der Adelsherrschaft
gegolten hatten, als Megakles seine Gemahlin aus Sikyon,
Peisistratos aus Argos, Miltiades aus Thrakien geholt hatte.
Jetzt dachte die Demokratie exklusiver, und sie hatte dazu
guten Grund; war doch das athenische Bürgerrecht zum
wertvollen Privileg geworden, das große materielle Vorteile
bot, und diese Vorteile wollte man natürlich mit möglichst
wenig Anwärtern teilen. So war es denn eine sehr populäre
Maßregel, als Perikles im Jahre der Rückkehr Kimons, 451/0,
ein Gesetz zur Annahme brachte, nach dem fortan nur die-
jenigen als athenische Bürger zu gelten hätten, die von Vater-
und Mutterseite bürgerlicher Abstammung wären ^. Nur
für Euboea wurde später, wohl erst nach 446, eine Ausnahme
^ In dem Volksbeschluß über Erythrae {CIA. I 9, ca. 460) wird der Bund
noch als 5u|U|Liaxia bezeichnet, in der Zeit des peloponnesischen Krieges als
dpx»l, auch in offiziellen Urkunden, wie bei Thuk. V 18, 7; V 47.
* Otto Müller, Unters, zur Gesch. d. att. Bürger- und Eherechts, Fleckeis.
Jahrb. XXV. Suppl. Bd. 1899.
' Aristot. Polit. 1275 b, vgl. ATT. 21, 2, und oben I 1 S. 396.
* Isokr. 8, vFrieden, 88.
" Aristot. An. 26, 4, Plut. Per. 37.
192 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
gemacht und den Bewohnern die Ehegemeinschaft ver-
liehen ^, was bei den engen Beziehungen der Insel zu Athen
und den zahlreichen dort angesiedelten athenischen Bürgern
eine Notwendigkeit war. Zugleich wurden auch die übrigen
Aufnahmebedingungen in die athenische Bürgerschaft ver-
schärft; und als einige Jahre später, 445/4, eine Getreide -
spende zur Verteilung gebracht werden sollte, benutzte man
die Gelegenheit, eine strenge Prüfung der Qualifikation aller
Empfänger vorzunehmen, bei der eine sehr große Zahl von
Bürgern als zu unrecht eingeschrieben ausgestoßen worden
sein sollen ^. Erst als das Reich in seinen Grundfesten zu
wanken begann, nach der sicilischen Katastrophe, ist der
Gedanke aufgetaucht, den Bewohnern der Inseln das athenische
Bürgerrecht zu verleihen ^, und nach dem Schlage von Aegos-
potamos ist es den Samiern wirklich verliehen worden *;
da war es denn freilich zu spät. Es ist diese engherzige Bürger -
rechtspolitik, die vor allem den Fall Athens verschuldet hat.
Das alles mußte zu einer immer wachsenden Entfremdung
zwischen Athen und seinen Bundesgenossen führen. Die
Perserfurcht, die den Bund ins Leben gerufen hatte, trat
immer mehr in den Hintergrund; und die demokratischen
Verfassungen, die man soweit als möglich in den Bundesstädten
eingeführt hatte, sicherten Athen allerdings die Sympathien
der besitzlosen Menge ^, entfremdeten ihm aber die gebildeten
und besitzenden Klassen in demselben Maße, als die Miß-
bräuche der Demokratie wuchsen, und die öffentliche Meinung
in Griechenland immer lauter eine Beschränkung der zügel-
losen Volksherrschaft zu fordern begann. Mit bitteren Ge-
fühlen verglich man die eigene Lage mit der freien Stellung
der peloponnesischen Bundesgenossen Spartas; und man
wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, die verhaßte
1 Lysias 34 (vdVerf.) 3.
^ Philochor. fr. 90, Plut. Per. 37, meine Bevölkerung S. 75 ff., Ed. Meyer,
Forschungen II 178.
^ Vgl. Aristoph. Lysistr. 582 ff.
* CIA. IV 2, 1 b.
5 Thuk. III 47, 2, [Xen.] v. Staat d. Athen. III 10.
Stimmung in den Bundesstaaten. — Der samische Aufstand. 193
athenische Herrschaft abzuschütteln. Selbst wer demokratisch
gesinnt war, konnte doch nicht mit rechter Freudigkeit für
Athen wirken, das seiner Stadt die Knechtschaft gebracht
hatte; und so ist der Abfall der Bundesstädte nur sehr selten
durch die Opposition des Demos verhindert worden.
In Athen gab man sich denn auch keiner Täuschung
darüber hin, daß es nur die brutale Gewalt war, welche die
Bundesgenossen im Zaume hielt. Perikles' energielose Krieg-
führung am Anfange des peloponnesischen Krieges war haupt-
sächHch durch die Überzeugung bedingt, daß eine verlorene
Schlacht den sofortigen Abfall der Bundesstaaten nach sich
-ziehen würde ^; und Kleon spricht es bei Thukydides offen
aus, daß Athen zu seinen Bundesstaaten im selben Verhältnis
stehe wie ein Tyrann zu seinen Untertanen ^. So arbeitete
Athen systematisch darauf hin, seine Bundesgenossen zu
entwaffnen; und es wurde ihm leicht gemacht, da die un^
kriegerischen Bewohner der Inseln und der asiatischen Küste
es in der Regel gleich von vornherein vorgezogen hatten,
Tribut zu zahlen, statt ein Kontingent zur Flotte zu stellen.
Soweit es anging, wurden die Bundesstädte ihrer Mauern
beraubt ^. Um 450 hatten im ganzen Bundesgebiet nur noch
die drei mächtigen Inseln Samos, Chios und Lesbos ihre volle
Unabhängigkeit bewahrt, waren von Tributzahlung frei,
und stellten statt dessen ihre eigenen Kontingente zur attischen
Flotte. Von hier ging denn auch die erste Erhebung aus, die
den Bestand des Reiches ernstlich in Frage stellte.
Unter den Bundesstaaten Athens hatte Samos von
Anfang an den ersten Platz eingenommen. Hier kam im
Jahre 479 die Erhebung loniens gegen die Perserherrschaft
zum Ausbruch, und auch die Gründung des Seebundes war
1 Thuk. I 143, 5.
^ Thuk. III 37, 2 ÖTi Tupavviba ^x^'^^ xriv äpxiiv Kai upö? ^Trißou-
XeöovTa? ai)TOU(; Kai OKOvra^ äpxojn^voui;.
^ So waren die Städte loniens zu Anfang des peloponnesischen Krieges
unbefestigt (Thuk. III 33, 2), doch wohl nur nach der Seeseite hin, vgl. die 432
an Poteidaea gestellte Forderung tö ^q TTaWrivrjv reixoq KOÖeXeiv (Thuk.
I 66, 2), nicht auch die Nordmauer gegen das Festland hin.
Bei och, Griech. Geschichte II, r. 2. Aufl. 13
194 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
zum größten Teil das Werk der Samier. Keine zweite Bundes -
Stadt verfügte über eine so bedeutende Macht; außer ihrer
eigenen Insel gehörte den Samiern Amorgos und ein ziemlich
ausgedehntes Gebiet auf dem ionischen Festlande ^. Wegen
dieser festländischen Besitzungen lag Samos seit alten Zeiten
mit dem benachbarten Priene in Grenzstreit; und als jetzt
(442) die Milesier Priene ihrem Staat einverleibten, kam es
darüber mit Samos zum Kriege ^. Milet war dem Gegner in
keiner Weise gewachsen und sah sich bald gezwungen, die
Vermittlung Athens anzurufen. Und allerdings hatte Athen,
wenn nicht das formelle Recht, so doch die moralische Ver-
pflichtung, einen Krieg zwischen Gliedern seines Bundes zu
hindern. Aber Perikles glaubte noch weiter gehen zu müssen.
An der Spitze von 40 Trieren erschien er unvermutet vor
Samos, bemächtigte sich mit Hilfe der demokratischen Partei
der Stadt und führte eine Demokratie ein an Stelle der oli-
garchischen Verfassung, die bisher auf der Insel bestanden
hatte (441). Es war vielleicht der flagranteste Eingriff in
die Autonomie eine Bundesstaates, den Athen sich bisher
hatte zuschulden kommen lassen, und er sollte nicht un-
^ Oben I 1 S. 211; über die (festländischen Besitzungen der Samier vgl.
auch Wiegand, Priene (Berlin 1904) S. 28 ff., und Karte I. Anaea samisch:
Thuk. III 19. 32, IV 75, Strab. XIV 639 eix' "Avaia iröX?, fi upörepov jn^v
fiv 'Eqpeaiujv, vuv hk Zaiuiuiv bia\\a2a|u^vu)v irpöi; xö Mapa0riaiov (so Wila-
mowitz, Berl. S.-B. 1906 S. 45 A, statt eira Nedito\ig, wie in den Ausgaben
steht).
* Priene hat noch im Frühjahr 442 Tribut gezahlt, fehlt aber seitdem in
den Listen für den 'IujvikÖ(; qpöpoc;, der vollständigen von 440/39 und der
annähernd vollständigen von 442/1. Man könnte annehmen, daß Priene wegen
des Krieges mit dem Tribute in Rückstand geblieben wäre, aber Milet hat in
beiden Jahren gezahlt. Es bleibt also wohl kaum eine andere Erklärung, als
die oben im Text gegebene, um so mehr, als nach Thuk. 1 115, 2 der Krieg irepl
TTpirivrii; geführt wurde (Ed. Meyer. Gesch. d. Alt. III S. 63). Um dieselbe Zeit
etwa hat Milet auch Teichiussa und Leros sich einverleibt. Das alles konnte
natürlich nicht ohne die Konnivenz Athens geschehen; und Perikles' Gegner
hatten wahrscheinlich nicht so unrecht, wenn sie darin die Hand der Aspasia
sahen (Theophr. bei Harpokr. Affiraöla, Duris ebenda und bei Plut. Per. 24).
Bei der Schätzung von 425/4 erscheinen dann Priene und Teichiussa wieder
als selbständige Bundesglieder {CIA. I 37); damals war Perikles tot.
Der samische Aufstand. 195
gestraft bleiben. Schon im nächsten Frühjahr brach auf
Samos ein Aufstand aus, die neubegründete Demokratie
stürzte zusammen, die Besatzung, die Perikles in die Stadt
gelegt hatte, wurde gefangen genommen. Byzantion und
eine Anzahl Städte in Karien schlössen sich der Erhebung an.
Der Satrap von Sardes, Pissuthnes, hatte bei dem allem die
Hände im Spiele gehabt.
So sah Athen sich aufs neue vor einem gefährlichen
Kriege, und niemand vermochte zu sagen, welche Dimen-
sionen er annehmen würde. Nur rasches und energisches
Handeln konnte unabsehbares Unheil verhüten, und Perikles
ging denn auch sogleich auf die Nachricht von der Erhebung
auf Samos mit 60 Trieren in See. Die Samier hatten sich
inzwischen mit 70 Schiffen gegen Milet gewendet, segelten
aber bei der Annäherung der athenischen Flotte nach Samos
zurück. Vergebens versuchte Perikles ihnen den Rückzug
abzuschneiden und so den Krieg mit einem Schlag zu beenden;
bei der kleinen Insel Tragia zwischen Milet und Samos durch-
brachen die Samier die feindhche Linie und gelangten glück-
Hch in Sicherheit ^. Ansehnliche Verstärkungen aus Athen,
aus Chios und Lesbos setzten Perikles bald in Stand, die Stadt
Samos zu Lande und zur See einzuschließen.
Es war kein Zweifel, daß der samische Aufstand dasselbe
Schicksal haben würde, wie alle früheren Erhebungen von
Bundesgenossen gegen die athenische Herrschaft, im Fall
er isoliert blieb. Die Hoffnung auf eine allgemeine Erhebung
der Bündner war fehlgeschlagen; Chios und Lesbos, die als
Seemächte allein in Betracht kamen, hielten fest an ihrer
Bundespflicht; die Furcht vor den Persern überwog hier noch
die Besorgnis vor der wachsenden Macht Athens. So blieb
nur die Hoffnung auf das Ausland, Sparta und Persien. Und
allerdings war in Sparta bald nach dem Abschluß des dreißig-
jährigen Friedens die Kriegspartei ans Ruder gelangt (oben
S. 184); der samische Aufstand schien nun die erwünschte
1 Pflugk-Harttung, Perikles als Feldherr (Stuttgart 1884) S. 133 ff., der
diese Ereignisse zuerst militärisch richtig gewürdigt, auch die Lage von Tragia
(Gaidaronisi, das früher für Hyetussa galt) bestimmt hat.
13*
196 VI. Absclinitt, — Die Friedens jähre.
Gelegenheit zu bieten, das vor 6 Jahren Versäumte nach-
zuholen. Aber auf der peloponnesischen Bundesversammlung,
die zur Beschlußfassung über Krieg und Frieden berufen
wurde, machten die Korinthier so energische Opposition
gegen den Bruch mit Athen, daß Sparta gezwungen war,
alle Kriegspläne fallen zu lassen ^, um so mehr, als auch in
Sparta selbst gewiß sehr viele Bedenken trugen, den eben
beschworenen Frieden ohne Provozierung von der anderen
Seite zu brechen.
So blieb den Samiern nur die Hoffnung auf Persien,
und auch sie sollte trügen. Allerdings hatte der Satrap von
Sardes die Erhebung gegen Athen unterstützt; aber wirksame
Hilfe konnte nur eine phoenikische Flotte gewähren. Freund
und Feind erwarteten, daß der König die Gelegenheit benutzen
würde, einen Schlag gegen den attischen Seebund zu führen.
Dieser Gefahr gegenüber entschloß sich Perikles seine Flotte
zu teilen und mit 60 Schiffen den Phoenikern entgegenzufahren,
während 65 Trieren vor Samos zurückblieben. Die Samier
benutzten die Gunst des Moments; unter ihrem Feldherrn
Melissos, demselben, der sich auch als Philosoph einen Namen
gemacht hat, warfen sie sich auf das Blockadegeschwader,
das dem unerwarteten Angriff nicht gewachsen war. Die
Blockade wurde gesprengt, und Samos gewann die Mög-
lichkeit, sich aufs neue zu verproviantieren. Aber es war
nur der Erfolg eines Augenblicks. Die erwartete phoenikische
Flotte erschien nicht; Perikles konnte auf die Nachricht von
der Niederlage der Belagerungsflotte sogleich nach Samos
zurückkehren, von Athen, Lesbos, Chios kamen Verstärkungen.
Gegenüber den 200 Schiffen, die Perikles jetzt unter seinem
Befehl hatte, war jeder Widerstand auf offener See aussichtslos;
es blieb den Samiern nichts anderes übrig, als sich in ihren
Mauern einzuschließen. Die Stadt hielt aus bis zum äußersten;
endlich, da kein Entsatz kommen wollte, ergab sie sich im
9. Monat der Belagerung (439). Samos verlor seine Selb-
ständigkeit und die Herrschaft über Amorgos; die Urheber
1 Thuk. I 40. 5, 41. 2,
Der samische Aufstand. 197
des Aufstandes wurden verbannt, die Kriegsschiffe aus-
geliefert, die Mauern niedergerissen. Die Kriegskosten —
1200 Talente — sollten in Raten abgezahlt werden. Die
Demokratie aber, die sich so unzuverlässig erwiesen hatte,
wurde nicht wieder hergestellt, und die Grundbesitzer (Geo-
moren) blieben im Besitz der Regierungsgewalt i.
Athen hatte gesiegt; aber es verdankte den Sieg haupt-
sächlich der Loyahtät der Peloponnesier und der Schlaffheit
der persischen Politik. Auch war das Reich nicht ohne schwere
Einbuße aus der Krisis hervorgegangen. Zwar Byzantion
unterwarf sich sogleich nach dem Falle von Samos ^; aber
eine Reihe von Bundesstädten auf dem asiatischen Festlande
behaupteten mit persischer Hilfe ihre Unabhängigkeit, vor
allem Anaea in lonien, wo die samischen Verbannten sich
festsetzten, und eine Reihe von Plätzen in Karien ^. Auch
1 Hauptquelle Thuk. I 115—117, von dem Diod. XII 27. 28 durch Ver-
mittlung des Ephoros und Plut. Per. 25 — 28 abhängen. Letzterer, d. h. die
alexandrinische Biographie, die er ausschreibt, hat außer Ephoros namentlich
Duris herangezogen, der als Samier natürlich gegen Athen Partei nahm, auch
einiges aus Stesimbrotos, Ion und Aristoteles entlehnt. Vgl. Ion fr. 1 (Strategie
des Sophokles), Duris fr. 58—60. Über Melissos Plut. Per. 26. Them. 2, gKolot.
32, 6 S. 1126, Ael. Verm. Gesch. VII 14. Höhe der Kriegskosten: 1200 tal.
(so auch bei Diod. XII 28, 3 herzustellen) Nep. Timoth. 1; Isokrates 15, Antid.
111 gibt in runder Zahl 1000 tal., die unvollständig erhaltene Schatzrechnung
CIA. I 177: 1276 tal. Ein Teil dieser Summe scheint durch Landabtretungen
gedeckt worden zu sein {IGA. 8, Bxill. Corr. Hell. VIII 160). Amorgos, das bis
437/6 in unseren Tributlisten nicht vorkommt, erscheint seitdem als tribut-
pflichtiger Bundesstaat. Samos dagegen hat keinen Tribut gezahlt, und muß
also, da es keine Schiffe mehr stellen konnte, in anderer Weise besteuert worden
sein, vgl. Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 36 ff. Die Angabe Diodors (XII 28, 4),
daß die Demokratie auf Samos eingerichtet worden wäre, wird wiederlegt durch
Thuk. VIII 21; 63, 3, wonach 412 die Oligarchie der Geomoren in Samos be-
standen hat; es wäre doch völlig widersinnig, anzunehmen, daß die Demokratie
in der Zwischenzeit gestürzt worden wäre. Offenbar hat Perikles eingesehen,
daß er mit dem Sturze der Oligarchie 441 einen schweren Fehler begangen
hatte. — Über die Chronologie unten 2. Abt. § 88.
* Thuk. I 117, 3. Byzantion scheint damals die kleine Insel Bysbikos
verloren zu haben, vielleicht auch Kallipolis, die 437/6 zum erstenmal in den
Tributlisten erscheinen (Busolt, Philol. XLI S. 694); auch der Tribut von
Byzantion scheint etwas erhöht worden zu sein.
' Anaea Thuk. III 19, 2; 32, 2; IV 75, 1. Eine Reihe karischer Städte,
198 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
Lykien hat seitdem keinen Tribut mehr gezahlt ^ ; die Reste
des karischen Steuerbezirks wurden jetzt mit dem ionischen
Bezirk vereinigt (439). Immerhin war die Macht Athens
im wesentHchen intakt aus dem Kampfe hervorgegangen,
und Perikles hatte allen Grund, mit Befriedigung auf den
Erfolg zu blicken, der ebensosehr seine eigene Stellung in
Athen, wie die Autorität Athens bei den Bundesstaaten
befestigte.
Nach außen hin sicherte das gute Einvernehmen mit
den Peloponnesiern, das soeben eine schwere Probe glücklich
bestanden hatte, dem Reiche den Frieden; und wenn die
Beziehungen zum Großkönig während des samischen Krieges
für einen Augenblick sich zu trüben gedroht hatten, so hatte
doch schließlich auch Persien es nicht gewagt, etwas Ernst-
liches gegen Athen zu unternehmen. So hatte Perikles freie
Hand, dem Reiche für die in Griechenland und Kleinasien
in den letzten Jahren erlittenen Verluste im Norden Ersatz
zu schaffen. Schon 447 war der thrakische Chersones mit
attischen Kleruchen besiedelt worden 2; jetzt gelang auch die
Besitznahme des Landes am unteren Strymon, die unter
Kimon vergeblich versucht worden war. Hier wurde mit
attischen und chalkidischen Ansiedlern die Kolonie Amphipolis
gegründet, fortan die Hauptstadt des athenischen Thrakien
(437/6) ^. Die neue Festung beherrschte die einzige Straße,
meist des Binnenlandes, die noch 441/0 bzw. 440/39 Tribut gezahlt hatten,
verschwinden seitdem aus den Listen.
^ Lykien erscheint in den Tributlisten zum letztenmal 446/5; daß es am
Anfang des peloponnesischen Krieges nicht mehr athenisch war, zeigt auch
Thuk. II 69, III 19.
2 Diod. XI 88, 3 (unter Lysikrates, 453/2), Plut. Per. 11. 19. Die chersone-
si tischen Städte haben bis 448/7 in Syntelie 18 tal. Tribut gezahlt; vom folgenden
Jahre an zahlen die einzelnen Städte gesondert, und der Tribut wird sehr be-
deutend ermäßigt, zusammen auf etwa 2^ tal. Danach scheint es, daß die
Kleruchie erst jetzt nach dem Chersones geführt worden ist, und Diodor die
Sache im Anschluß an andere Unternehmungen des Perikles vorgreifend erzählt
hat (Kirchhoff, Abh. Berl. Akad. 1873 S. 25, Busolt, Gr. Gesch. III 1, S. 412).
3 Thuk. IV 102. Schol. Aesch. vdGes. II 34. Diod. XII 32, 3. Plut. Per. 11
erwähnt die Gründung von Amphipolis nicht, wohl aber die Aussendung einer
Kleruchie von 1000 Bürgern ins Land der Bisalten. Ferner ist inschriftlich
Erwerbungen Athens in Thrakien und am Pontos. — Thurioi. 199
die aus Makedonien nach den hellespontischen Landschaften
führte; die Goldbergwerke des nahen Pangaeon wurden für
Athen eine wichtige Einnahmequelle. Kurz darauf (435/4)
wurde Astakos an der Propontis mit athenischen Kolonisten
besetzt ^. Um dieselbe Zeit unternahm Perikles selbst eine
Expedition in den Pontos; athenische Kolonisten wurden
nach Sinope und Amisos an der paphlagonischen Küste ge-
führt, die wichtigsten griechischen Kolonien am Nordufer
des Schwarzen Meeres in das Reich aufgenommen und zur
Tributzahlung verpflichtet ^.
Schon etwas früher hatte Athen begonnen, seine Macht
auch nach dem Westen hin auszubreiten. Als Kroton durch
die inneren Wirren erschüttert wurde, die zur Austreibung
der Pythagoreer führten (oben S. 133), hatten die Nach-
kommen der flüchtigen Sybariten den Versuch gemacht,
ihre Stadt wieder aufzubauen (453), waren aber schon nach
5 Jahren (448) von den Krotoniaten vertrieben worden ^
Sie wandten sich nun um Beistand nach dem Mutterlande,
und forderten jeden, der wollte, zur Ansiedlung in ihrem
alten Gebiete auf. Der Ruf der Fruchtbarkeit der Ebene
am Krathis lockte bald zahlreiche Kolonisten aus allen Teilen
von Hellas herbei; Athen stellte sich an die Spitze des Unter-
eine Kleruchie Brea bezeugt (CIA. I 31), die ebenfalls in dieser Gegend gelegen
hat (Theopomp. fr. 157 bei Steph. Byz.), sonst aber niemals genannt wird,
nicht einmal von Thukydides da, wo er sie unbedingt hätte erwähnen müssen,
bei der Beschreibung von Brasidas' Feldzug. Es bleibt kaum eine andere An-
nahme, als daß Brea mit AmphipoHs identisch ist; daß letzterer Name erst
nach oder während der Erbauung der Stadt aufkam, ist ja eigentlich selbst-
verständlich.
^ Diod. XII 34, 5, nach der chronographischen Quelle. Das dort über-
heferte A6TAN0N haben Niese, Gott. Gel. Am. 1886 S. 755, und ohne diese
Rezension zu kennen, De Sanctis, Hermes XXIX, 1894, S. 479 als Verschreibung
aus ACTAKON erkannt. Vgl. auch Toepfler, Hermes XXXI, 1896, S. 124 ff.
* Plut. Per. 10. Nymphaeon am kimmerischen Bosporos war zur Zahlung
eines Talentes veranlagt (Krateros fr. 12, vgl. Aesch. gKtes. 171); auch bei der
Neuregulierung der Tribute 425/4 scheinen pontische Städte eingeschätzt worden
zu sein (CIA. I 37). Eine wirkHche Zahlung ist allerdings in unseren Tribut-
listen nicht aufgeführt. Über die Zeit der Expedition unten 2. Abt. § 89.
=> Diod. XI 90. 3, XII 10.
200 VI, Abschnitt. — Die Friedensjahre.
nehmens, und so entstand auf den Höhen in der Nähe der
zerstörten Stadt ein neues Sybaris (444/3) i. Die Sybariten
selbst freilich sahen sich bald bitter enttäuscht in den Hoff-
nungen, die sie an diese Gründung geknüpft hatten; denn die
neuen Ansiedler waren keineswegs geneigt, die Ansprüche
anzuerkennen, welche die alten Herren des Landes auf den
Besitz der besten Grundstücke und überhaupt auf eine be-
vorrechtete Stellung in dem neuen Gemeinwesen erhoben.
Es kam zum Bürgerkriege und die Sybariten wurden noch
einmal aus der Heimat vertrieben ^. Sie siedelten sich jetzt
am Flusse Traeis [Trionto) an, im Süden ihres alten Gebiets
an der krotoniatischen Grenze; doch hat dies jüngste Sybaris
bei seiner verhältnismäßig ungünstigen Lage es nie zu größerer
Bedeutung zu bringen vermocht ^ Infolge dieser Ereignisse
nahm die panhellenische Kolonie am Krathis jetzt den Namen
Thurioi an, nach der Quelle Thuria, die der Stadt ihr Trink-
wasser gab *.
1 Diod. XII 10 ff. (einziger ausführlicher Bericht), Strab. VI 263 f., Plut.
Per. 11, Aristoph. Wölk. 332 mit den Schol. und Photios 0oupiO|udvTei<;.
Ob die vielen Berühmtheiten, die an der Kolonisation teilgenommen haben
sollen, wirklich alle nach Thurioi gezogen sind, mag dahingestellt bleiben;
jedenfalls sind manche, z. B. Lysias, erst viel später gekommen.
2 Diod. XII 11, Strab. VI 263 f., Aristot. Polit. V 1303 a.
3 Diod. XII 22, Strab. VI 264; es ist wohl auch bei Polyb. II 89, 6 gemeint.
Die Zerstörung durch die Brettier (Diod. a. a. 0.) gehört natürlich erst in das
IV. Jahrhundert.
* Daß man zuerst den alten Namen beibehielt, liegt in der Natur der
Sache, da die Neugründung von den Sybariten selbst ausging; es wird bezeugt
im Leben der X Redner, Lysias S. 835 d, und bestätigt durch die Münzen, die auf
der Vorderseite den Kopf der Athena, mit athenischem Helm, im Stil der sog.
Athena Lemnia mit der Aufschrift Zußapi, auf der Rückseite den sybaritischen
Stiel* zeigen, denn Sybaris am Traeis können diese Münzen wegen des Athena-
kopfs nicht wohl zugeteilt werden. Daß njan nur Kleinsilber prägte, Ysi Vs ^"^^
Vi2 Statere, geht offenbar auf athenischen Einfluß zurück; das attische Tetra-
drachmon sollte das Ganzstück bilden. Diese Prägung muß eine Reihe von
Jahren gedauert haben, wie sich auch daraus ergibt, daß die Münzen mit
Goupivujv einen entwickelteren Stil zeigen (Furtwängler, Meisterwerke S. 144 ff.).
Auch Herod. V 45 spricht von Zußapixai, womit die Thuriner gemeint sind.
Es scheint also, daß die Vertreibung der Sybariten nicht so unmittelbar auf die
Gründung gefolgt ist, wie Diodor XII 22 angibt, jedenfalls gehört die Namens-
Thurioi. 201
Kroton konnte natürlich die Festsetzung der Athener
am Krathis nur ungern sehen, aber es war noch zu schwach,
um die Sache hindern zu können; es machte also gute Miene
zum bösen Spiele und trat zu der neuen Stadt in freundliche
Beziehungen ^. Dagegen hatte Thurioi mit seinen Nachbarn
im Norden, den eingeborenen Lucanern (oben S. 134), lange
Kämpfe zu bestehen. Der Versuch, wie einst Sybaris sein
Gebiet bis ans Tyrrhenische Meer auszudehnen, führte zum
Krieg mit Terina, einer krotoniatischen Pflanzstadt, die sich
längst selbständig gemacht hatte und jetzt die mächtigste
Stadt an dieser Küste war. Auch mit Tarent kam es zum
Kriege um den Besitz des Landes am Siris, auf das beide
Städte Anspruch erhoben; der Sieg blieb endlich denTarantinern,
die hier ihre Kolonie Herakleia gründeten (433) ^. Im ganzen
aber gelang es Thurioi, sich gegen seine Nachbarn zu behaupten,
und es wuchs bald zur blühenden Stadt empor ^, wenn es auch
die Bedeutung seiner Vorgängerin Sybaris niemals erreicht hat.
Die Erwartungen freilich, die Athen an die Gründung
von Thurioi geknüpft hatte, sollten nicht in Erfüllung gehen.
änderung erst in eine etwas spätere Zeit. Dann muß aber die Stadt gleich von
vornherein auf der Stelle von Thurioi gegründet worden sein, wie ja Diod. XII
10, 5 ff. ausdrücklich angibt. Man wollte der bösen Luft unten im Tale aus
dem Wege gehen. Wenn Diodor selbst an anderer Stelle (XII 10, 3) und Strab.
VI 263 die Umnennung zugleich mit dem Wechsel des Platzes erfolgen lassen,
so haben sie sich im Streben nach Kürze ungenau ausgedrückt. Über die Lage
von Thurioi (le MuragHe, 6 km östlich von Terranova di Sibari) Nissen, Ital.
Landesk. II 921.
1 Diod. XII 11, 3.
2 Über diese Kriege Polyaen. II 10, Antiochos fr. 12 bei Strab. VI 264,
Diod. XII 23. 36. IGA. 548 = Inschr. v. Olympia 254—256: Drei Lanzen-
spitzen mit der Aufschrift OKuXa dito Goupiujv TapavTivoi dMiQY\\av Ali
'OXu|Liir{uj beKdxav. Das Bündnis der Athener mit dem Messapierfürsten Artas
(Thuk. VII 33, 4) kann aber damit nichts zu tun haben, da Athen an diesen
Kämpfen nicht beteiligt war; sonst wäre der Ausgang ein anderer gewesen. —
Von der Geschichte Terinas wissen wir sonst fast gar nichts; von der Bedeutung
der Stadt in dieser Zeit zeugt die reichliche Münzprägung, mit der die Prägung
keiner anderen Stadt zwischen Rhegion und Elea auch nur annähernd sich
vergleichen kann (Regling im Berl. W inckelmannsprogramm 1906).
* Diod. XII 11, 3. In den 0oupioiT^paai des Metagenes war Thurioi als
Schlaraffenland geschildert (Kock Com. fr. I S. 706).
202 VI. Abschnitt. — Die Friedensjahre.
Bei der buntgemischten Bevölkerung der neuen Stadt konnten
innere Zwistigkeiten nicht ausbleiben, und da die Kolonisten
athenischen Ursprungs nur einen kleinen Bruchteil dieser
Bevölkerung bildeten, während etwa die Hälfte aus Pelo-
ponnesiern und Boeotern bestand, so gewannen diese natür-
lich die Oberhand ^. Der einflußreichste Mann war in der ersten
Zeit der Spartaner Kleandrida;, der nach seiner Verbannung
(oben S. 185) sich hierher gewandt hatte, wo er sogleich an
die Spitze des Heeres gestellt wurde ^; er war zwar kein Gegner
Athens, aber eben doch ein Spartaner. So nahm Thurioi
Athen gegenüber eine völlig selbständige Stellung in Anspruch;
ja selbst als Mutterstadt wollte man Athen nicht mehr aner-
kennen, und endlich schlichtete das delphische Orakel, das
als Schiedsrichter angerufen wurde, die Sache dahin, daß
Apollon selbst als Gründer der Stadt zu gelten habe (434) ^.
Bessere Erfolge hatte die attische Politik in Sicilien
und bei den chalkidischen Städten Italiens. Zu den Elymern
von Segesta und Halykiae trat Athen schon um 450 in freund-
schaftliche Beziehungen *; mit Leontinoi und Rhegion wurden
433/2 Bündnisverträge geschlossen ^. Auch Neapolis in Cam-
^ Von den 10 Phylen, die nach athenischem Vorbild in Thurioi eingerichtet
wurden, bestanden 4 aus Peloponnesiern oder vom Peloponnes ausgegangenen
Kolonisten ('ApKoii;, Axat?, 'H\e(a, Auupi«;; daß die letztere mit der Doris
am Oeta nichts zu tun hat, liegt auf der Hand), 2 aus Ansiedlern aus Mittel-
griechenland (BoiuJTia, 'A|nqpiKTiov{?), die übrigen 4 aus Griechen ionischen
Stammes C\d<;, Aenvaic;, Eußoi?, NriaimTi?).
2 Thuk. VI 104, Diod. XIII 106, 10, Polyaen. II 10.
ä Diod. XII 35.
* CIA. IV 1, 22 k S. 58, AeXTiov äpxaioX. 1891 S. 105, vgl. Köhler,
Atheit. Mut. IV, 1879, S. 30 ff., und meine Bemerkungen Hermes XXVIII,
1893, S. 630 ff., wo ich, im Anschluß an Köhlers Emendation AXiKuaioi?
für das überlieferte Ai\ußaioi<; vorgeschlagen habe, bei Diod. XI 86, 2 (Archon
Ariston 454/3) 'ETearaioK; Kai AXiKuaioic; ^v^axri iröXepoi; (irpöi; ZeXivouvTiou?)
zu lesen; auf diesen Krieg könnte dann die bekannte Siegesinschrift aus Selinus
IGA. 515 bezogen werden.
« CIA. I 33. IV 1, 33 a S. 13. Vgl. Thuk. III 86, 3, wonach die chalki-
dischen Städte im Jahre 427 ihre iraXaid 2u|Li)Liaxia mit Athen geltend machten.
Es mögen also auch mit Katane und Naxos 433 ähnliche Verträge geschlossen
worden sein.
Thurioi. — Athen und Sicilien. — Tempelbau. 203
panien schloß sich an Athen an und wurde durch attische
Kolonisten verstärkt ^. In ihrer weiteren Entwicklung mußte
diese Politik Athen notwendig in Konflikt mit Syrakus bringen,
und auch die Peloponnesier, die schon im Osten von dem
attischen Reiche umfaßt waren, konnten das Streben Athens
nach Expansion auch nach Westen hin keineswegs gleich-
gültig ansehen. So lag die Gefahr eines feindlichen Zusammen-
stoßes sehr nahe, und es sollte nur zu bald dazu kommen.
VIL Abschnitt.
Kunst und Dichtung.
Auf die Stürme der Freiheitskriege war ein halbes Jahr-
hundert der Ruhe gefolgt. Wohl hat es auch in dieser Zeit
an äußeren und inneren Kämpfen nicht gefehlt; aber sie
blieben auf kleinere Gebiete beschränkt und waren meist
nur von kurzer Dauer, oder sie wurden, wie der Krieg gegen
Persien, an der Peripherie der griechischen Welt ausgefochten.
Seitdem Athen mit dem Großkönige (448) und den Pelo-
ponnesiern (446) Frieden geschlossen hatte, war die Grund-
lage für jenen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben, den wir
oben verfolgt haben.
Die reichen Mittel, die infolgedessen zur Verfügung
standen, wurden, dem religiösen Sinne der Zeit gemäß, zum
großen Teile dazu verwendet, der Dankbarkeit gegen die
unsterblichen Götter Ausdruck zu geben, die Hellas so sicht-
bar beschützt hatten. Nur die loner sollen einen Schwur
geleistet haben, die von den Persern zerstörten Heihgtümer
nicht wieder aufzubauen, den kommenden Geschlechtern
1 Timaeos fr. 99, vgl. Strab. V 246, Diod. XIII 44, wo unter XaX.KibeTq
kaum etwas anderes als die Neopoliten verstanden werden kann; auch die Münz-
typen weisen auf die Verbindung mit Athen und Thurioi hin. Vgl. mein Cam-
panien S. 30. Der Strateg Diotimos, der bei Timaeos a. a. O. erwähnt wird,
war einer der Befehlshaber des athenischen Geschwaders bei Sybota (Thuk.
I 45, 2); er mag also nach dieser Schlacht weiter nach Westen gefahren sein
und die Bündnisse mit Rhegion und Leontinoi vermittelt haben.
204 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
zur Mahnung ^; und wirklich ist Milet erst zum Neubau seines
Apollontempels geschritten, als das Land durch Alexander
befreit war. Im Peloponnes aber, der vom Feinde nicht be-
treten worden war, wurde gleich nach dem Siege, an der
heiligen Stätte von Olympia, der Bau eines Zeustempels
begonnen, der durch seine Größe (64 x 27 m) das alte Heraeon
weit in den Schatten stellte und die ganze Altis beherrschte;
um 460 war das Werk im wesentlichen vollendet ^. Eine sehr
lebhafte Bautätigkeit setzte nach dem Siege über die Kar-
thager in Sicilien ein ^. Bei Syrakus begann Gelon den Bau
eines Tempels der Göttinnen, deren Priestertum in seinem
Hause erblich war, Demeter und Köre, der natürlich erst
unter Hieron oder unter der Demokratie vollendet worden
sein kann; aus etwas späterer Zeit stammt der Athenatempel
auf Ortygia, der dann im Mittelalter zur Kathedrale um-
gebaut worden ist. Auf der Burg von Akragas errichtete
Theron nach dem Siege bei Himera einen Tempel des Zeus
Atabyrios, des rhodischen Gottes, dessen Dienst die Ansiedler
nach der neuen Heimat mitgebracht hatten. Um dieselbe
Zeit wurde in der Unterstadt der Tempel des olympischen
Zeus begonnen, neben dem Apollonion in Selinus der größte
Siciliens. Die riesigen Dimensionen (113 x 56 m) zwangen
dazu, denSäulenumgang durch eine mit Halbsäulen geschmückte
Mauer zu ersetzen; im Innern dienten mächtige Giganten-
figuren als Träger des Gebälks der Cella. Im Laufe der nächsten
Jahrzehnte wurden dann in der Nähe zwei weitere Tempel
errichtet, und so entstand hier, längs des Südrandes des Stadt-
plateaus, jene herrliche Tempelreihe, die uns noch heute die
Wahrheit von Pindars Wort empfinden läßt, daß Akragas
die schönste der Städte der Sterblichen sei. Um die Mitte
1 Isokr. Paneg. 156, und dazu Kopp, Jahrb. des Instit. V, 1890, S. 272 ff.
^ Ausgrabungen in Olympia II S. 4 ff. (Berlin 1892), Paus. V 10; da die
Peloponnesier den goldenen Schild, den sie als Weihgeschenk aus der Beute
von Tanagra stifteten, am Giebel des Tempels aufgehängt haben, muß der Bau
damals im wesentlichen vollendet gewesen sein.
3 Koldewey und Puchstein, Griechische Tempel in Unteritalien und Sicilien,
Berlin 1899.
Tempelbau. — Bauten in Athen. 205
des Jahrhunderts ist auch der schönste Tempel errichtet
worden, der uns im Westen des ionischen Meeres erhalten ist,
der große Tempel von Poseidonia. Der dorische Tempelstil
hatte jetzt seine höchste Vollendung erreicht; im Grundriß
wird die Länge im Verhältnis zur Breite verkürzt, von der
Cella hinten ein Raum abgetrennt, der von der Rückseite
aus einen eigenen, ebenfalls säulengeschmückten Eingang
erhält, alle Proportionen sind leichter und gefälliger als bisher.
Athen ^ hat zunächst an dieser Bautätigkeit keinen
Anteil genommen. Es gab hier dringendere Aufgaben : den
Wiederaufbau der zerstörten Stadt, den Ausbau und die
Befestigung des Kriegshafens. Unter Kimon wurde dann der
Markt mit Säulenhallen geschmückt und mit Platanen be-
pflanzt, aber der alte Athenatempel auf der Burg mit seinen
vom persischen Brande her rauchgeschwärzten Mauern blieb,
zum warnenden Exempel, noch stehen 2. Erst als der Frieden
mit Persien geschlossen war, ging man daran, der ,, Jungfrau
Athena" einen neuen Tempel zu errichten, an derselben Stätte,
auf der schon die Demokratie nach dem Sturze der Peisistra-
tiden den Bau eines solchen Tempels begonnen hatte, auf den
alten Fundamenten, aber nach einem neuen Plane des Archi-
tekten Iktinos (447 — 432). Der Bau wurde ganz aus pente-
lischem Marmor aufgeführt, in mächtigen Dimensionen
(69 X 31m); in der Harmonie der Linien und der künstle-
rischen Durchbildung ließ er alle bis dahin erbauten Tempel
weit hinter sich und ist nie mehr erreicht worden. In der
christlichen Zeit ist er einer anderen Jungfrau, der Gottes-
mutter, geweiht und dadurch vor Zerstörung bewahrt worden,
bis vor jetzt zwei Jahrhunderten (26. September 1687) die
Bombe eines deutschen Abenteurers in venezianischen Diensten
die Mitte des Baues in die Luft sprengte; möchte die Zeit nicht
fern sein, die aus den noch fast vollständig am Boden liegenden
Trümmern den Tempel in alter Herrlichkeit wieder erstehen
läßt.
^ Quellen und Literatur am besten bei Judeich, Topographie von Athen
(Iwan Müllers Handbuch II 2, 2), München 1905.
^ So hat Herodot den Tempel gesehen (V 77).
206 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Den Eingang zur Burg hatte schon Peisistratos mit
einem Säulentore geschmückt, das wie alles übrige von den
Persern zerstört worden war; als der Parthenon im wesent-
lichen vollendet stand, ließ Perikles dieses Tor, die ,,Propylaeen
der Akropolis", durch den Architekten Mnesikles größer
und schöner wieder aufrichten (437 — 432). Der Bau ist infolge
des Ausbruchs des peloponnesischen Krieges nicht ganz nach
dem ursprünglichen Plane zur Vollendung gelangt. Etwas
später, nach dem Nikiasfrieden, wurde auf der Bastion vor
den Propylaeen, die den Aufgang zur Burg von rechts her
beherrscht, ein kleiner Tempel der ,, siegbringenden Athena"
('Aerivct NiKri) errichtet. Um dieselbe Zeit wurde der alte
Tempel der Athena niedergerissen und durch einen Neubau
im vollendetsten ionischen Stile ersetzt, das sog. Erechtheion,
richtiger Tempel der Athena Polias; im Jahr 405 durch Brand
beschädigt, ist er erst am Anfang des IV. Jahrhunderts zur
Vollendung gelangt ^. Am Fuße der Burg, auf der Höhe,
die den Stadtmarkt beherrschte, wurde etwa gleichzeitig
mit dem Parthenon jener Tempel errichtet, den wir uns ge-
wöhnt haben, als Theseion zu bezeichnen und der vielleicht
dem Hephaestos geweiht war; der einzige aller griechischen
Tempel, der im wesentlichen unversehrt bis heute erhalten
ist. So wurde hier ein Komplex von Gebäuden geschaffen,
wie er auf der Welt seinesgleichen nicht hatte und auch nicht
wieder gehabt hat. Mit berechtigtem Stolze konnte ein Zeit-
genosse des Perikles sagen 2;
Du bleibst ein Klotz, bis du Athen gesehn;
Ein Esel, sahst du's, und es ließ dich kalt;
Und wenn du gerne scheidest, ein Kamel.
Ist doch noch heute, wo nur nackte Trümmer noch übrig sind,
kaum ein Schatten der alten HerrHchkeit, die Akropolis
^ Die Frage nach den Schicksalen des alten Athenatempels ist viel um-
stritten. Mir scheint unzweifelhaft, daß der Tempel abgebrochen war, als die
Korenhalle am Erechtheion errichtet wurde, da diese sonst verdeckt geblieben
wäre. Literatur bis 1905 bei Judeich a. a. O. S. 240. Weiter Petersen, Der Burg-
tempel der Athenaia, Berlin 1907, Hekatompedon, Klio IX, 1909, S. 229 ff.
8 Lysippos fr. 7 Kock (I 702).
Bauten in Athen. 207
bei weitem das Schönste, was man auf Erden sehen kann.
Freilich sind es nicht die Wunder der Architektur allein, die
diesen Zauber bewirken. Es ist vor allem die Landschaft,
in die diese Trümmer gestellt sind. Von der luftigen Höhe
schweift der Blick über den Saronischen Golf, nach den Küsten
des Peloponnes. Dort drüben liegt Aegina, der ,, leuchtende
Stern des Zeus Hellanios", die alten Rivalin Athens; weiter
im Westen Salamis, wo die Geschicke der Welt entschieden
worden sind, und noch weiter am Horizont die Burg von
Korinth, überragt von der schneebedeckten Kyllene, auf der
Hermes geboren war. Und unten zu Füßen das Häusermeer
der Stadt, mit dem Ölwald am Kephisos, eingerahmt von dem
Berghang, der die attische Ebene umschließt, den Kuppen
des Farnes, der Pyramide des Pentelikon, dem langgestreckten
Kamm des Hymettos. Das alles beleuchtet von dem Glanz
der Sonne des Südens, in der klaren Luft Attikas. Es gibt
wohl nur zwei Stätten, die mit der Akropolis von Athen sich
vergleichen lassen, die Burg von Mykenae und das Trümmer-
feld von Poseidonia; aber in Poseidonia fehlt der historische
Hintergrund, und die Bauten in Mykenae wirken haupt-
sächlich durch ihre wuchtige Masse.
Auch die übrigen Teile von Attika wurden nicht ver-
nachlässigt. In Eleusis wurde der von den Persern zerstörte
Mysterientempel von Iktinos, dem Meister des Parthenon,
wieder aufgebaut, nach dem alten Plane, aber in sehr viel
größeren Dimensionen. Auf der Südspitze der attischen Halb-
insel, dem Kap Sunion, wurde ein Tempel des Poseidon er-
richtet, dessen Säulen noch heute weithin das Meer über-
schauen. In Rhamnus erstand ein neuer, größerer Tempel
der Nemesis, neben dem alten, den die Perser zerstört hatten ^
Der Ruhm dieser Bauten erfüllte bald ganz Hellas und
1 Eleusis: Philios, TTpaKTiKd 1884 S. 64 ff., 1887 S. 50 ff., Fouilles d' Eleusis,
Athen 1889, Eleusis, ses mysteres, ses ruines et son musee, Athen 1896. Ruben-
sohn, Mysterienheiligtümer, Berlin 1892. Eine wissenschaftlich genügende
Publikation fehlt noch. Iktinos: Strab. IX 395, Vitruv. VII Pracf. 16. — Sunion:
Dörpfeld und Fabricius, Athen. Mitt. IX, 1884, S. 324 ff., Stais, 'EcptijU. äpx-
1900, S. 113 ff.
208 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
trug den attischen Meistern auch nach auswärts Aufträge
ein. So erbaute Iktinos, der Schöpfer des Parthenon, dem
Apollon einen Tempel bei Phigaleia in Arkadien ^, auf ein-
samer Berghöhe, der eben wegen dieser Lage den Stürmen
der Zeit bis heute getrotzt hat. Der Bau ist dorisch, doch
sind zur inneren Ausschmückung ionische Säulen verwendet,
daneben, zum ersten Male in der Geschichte der griechischen
Architektur, eine Säule mit korinthischem Kapital. Nicht
lange darauf zerstörte eine Feuersbrunst den altehrwürdigen
Tempel der Hera bei Mykenae (423), der nun durch den
argeiischen Architekten Eupolemos größer und prächtiger
wieder aufgebaut wurde 2. Und das sind nur die wichtigsten
unter den vielen Tempeln, die in dieser Zeit errichtet worden
sind; erinnern wir uns dabei, daß die Kosten eines großen
Tempels mehrere hundert Talente betrugen und allein die
perikleischen Bauten in Attika an 2000 Talente erfordert
haben ^.
Neue Aufgaben erwuchsen der Architektur aus der
Entwicklung der Musik und des Dramas. Nach dem Vorbilde,
das fast ein Jahrhundert früher Theodoros in der Skias gegeben
hatte (oben IIS. 422), ließ Perikles, um 450, am Fuß der
Akropolis in Athen das Odeion errichten, einen halbkreis-
förmigen Bau, dessen zeltartiges Dach von zahlreichen Säulen
getragen war *. Es war, wie der Name sagt, für Konzerte
bestimmt. Die dramatischen Aufführungen waren in Athen
ursprünglich auf dem Markte veranstaltet worden, wobei
die Menge von hölzernen Tribünen aus zusah; als diese einmal
unter der Last der Zuschauer zusammengebrochen waren,
verlegte man die Aufführungen in den heiligen Bezirk des
Dionysos von Eleutherae am Südfuße der Burg. Hier wurde
für den Chor ein kreisrunder Tanzplatz (Orchestra) gebaut.
1 Paus. VIII 41, 7—9, Stackeiberg, Apollotempel zu Bassae, Frankfurt
1826, npaKTiKd 1902 S. 23, Kuruniotis, '£^>r\y^. dpx- 1910 S. 271.
2 Thuk. IV 123, Paus. II 17, 3, Waldstein, The Argive Heraeon I, 1902.
^ Vgl. unten 2. Abt.- § 143. Die Kosten der chryselephantinen Kolossal-
statue der Athena sind in dieser Surnme einbegriffen.
* Thiersch, Zeitschr. f. Gesch. der Architektur II, 1909, S. 77.
Tempel von Phigaleia. — Heraeon. — Theater. — Profanbauten. 209
und für die Zuschauer an dem darüber ansteigenden Berg-
hang ein halbrunder Zuschauerraum hergerichtet und mit
steinernen Sitzen versehen. Auch der Peiraeeus hat noch
im Laufe des V. Jahrhunderts ein solches Theater erhalten,
ebenso der Demos Thorikos, der Mittelpunkt des laurischen
Minendistrikts. Außerhalb Athens hat Korinth schon am
Anfang des IV. Jahrhunderts ein Theater gehabt, das also
wohl noch vor dem peloponnesischen Kriege erbaut sein wird;
ebenso schon im V. Jahrhundert Syrakus. Sonst aber hat es
in der griechischen Welt in dieser Zeit Theater noch kaum
gegeben, für die ja auch kein Bedürfnis vorhanden war, da die
dramatischen Aufführungen auf Athen, die Isthmosstädte
und Syrakus beschränkt waren ^,
So großartige Aufwendungen aber die griechischen
Staaten in dieser Zeit für Bauten zum Zwecke des Kultus
machten — und auch die Theater gehörten nach damaliger
Auffassung dazu — so wenig verwendeten sie auf die Aus-
schmückung öffentlicher Profangebäude (oben S. 112). Und
in dieser demokratischen Zeit waren auch die Privathäuser
klein und unansehnhch, mit höchstens einem Stockwerk
über dem Erdgeschoß ^. So war der Architektur hier keine
Aufgabe gestellt, die sie zu künstlerischem Schaffen hätte
anregen können. Auch neue Städte sind im V. Jahrhundert
nur wenige angelegt worden. Man befolgte dabei die regel-
mäßige Disposition sich im rechten Winkel schneidender
Straßen, wie sie unter dem Einfluß des Orients bereits seit
dem VII. Jahrhundert sich ausgebildet hatte; nach diesem
Plane erbaute der milesische Architekt Hippodamos den
Peiraeeus und die 444 in Italien gegründete Kolonie Thurioi *.
Stadtbefestigungen wie die von Athen und seinen Häfen durch
^ Dörpfeld und Reisch, Griechisches Theater, Athen 1896, Puchstein,
Die griechische Bühne, Berlin 1901. Theater im Peiraeeus: Thuk. VIII 93, in
Korinth: Xen. Hell. IV 4, 3, Thorikos: Papers Amer. School Athens IV 1885/6
S. 1 ff., Syrakus: Sophron bei Eustath. zu y 68.
- Vgl. Demosth. Olynth. III 25, gAristokr. 207.
^ Peiraeeus: Aristot. Po/zV. II 1267 b, Harpokrat. MiTiTobd|ueia, Hesych.
'lifirobct|nou v4.^Y\0\(;, Andok. vdMyst. 45, Xen. Hell. II 4, 11; Thurioi: Hesych.
a. a. O., und über die Stadtanlage Diod. XII 10, 7.
Bei och, Griech. Geschichte II, x. 2. Aufl. 14
210 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Themistokles und Perikles haben mit der Architektur als
bildender Kunst nichts zu tun.
Während die Architektur sich nur in den Bahnen weiter
bewegte, die bereits das VI. Jahrhundert gewiesen hatte,
begann für die Malerei mit den Perserkriegen eine neue Epoche.
Sie hatte bisher hauptsächlich in lonien Pflege gefunden
und war schon um den Ausgang des VI. Jahrhunderts zu
großen, figurenreichen Kompositionen aufgestiegen; so weihte
Mandrokles aus Samos, der Erbauer der Brücke über den
Bosporos bei Dareios' Skythenzuge, in dem Heratempel seiner
Vaterstadt ein Tafelbild, auf dem der Übergang des persischen
Heeres nach Europa dargestellt war i. Aber erst unter den
gewaltigen Eindrücken der Perserkriege reifte die Malerei
zur Monumentalkunst. Sie fand jetzt ihren ersten großen
Meister in Polygnotos aus Thasos, der in Kimons Zeit nach
Athen kam, wo ihm, ebenso wie dem Architekten Hippodamos
aus Milet, in Anerkennung seiner künstlerischen Leistungen
das Bürgerrecht verliehen wurde 2, Er hat eine Reihe großer
Wandgemälde geschaffen. Zusammen mit Mikon und Panaenos,
dem Bruder des Pheidias, schmückte er, bald nach 460, die
von dem Alkmeoniden Peisianax am Markte erbaute Säulen-
halle, die eben danach später gewöhnlich die ,, bunte Halle"
(TTOiKiXri (JTod) genannt wurde, mit einem Zyklus von Fresken
aus der Geschichte Athens, oder was dieser Zeit dafür galt;
dargestellt waren die Amazonenschlacht, die Zerstörung Troias,
1 Herod. IV 88.
' über Polygnots Verhältnis zu Kimons Schwester Elpinike Plut. Kim. 4,
oben S. 169 A. Das Theseion (nicht der Tempel, den wir heute so nennen) ist
infolge der Überführung der Gebeine des Heros aus Skyros (475) erbaut worden,
doch mag der Bau sich durch eine Reihe von Jahren hingezogen haben. Mikon,
der auch Bildhauer war, hat die Statue des Atheners KaUias, Sohn des Didymias,
gearbeitet, der 472 in Olympia im Pankration gesiegt hatte (Paus. V 9, 3, VI 6, 1,
Inschr. v. Olymp. 146 = Loewy 41, vgl. CIA. I 418. 419). Da die Inschrift der
Statue im ionischen Alphabet geschrieben ist, Mikon sich aber darauf als Athener
bezeichnet, so war er wohl ein loner, der wie Polygnot das athenische Bürger-
recht erhalten hat, also damals schon ein Künstler von Ruf. Loewy setzt darauf
hin seine Geburt und die seines Genossen Polygnot um 510 (mündliche Mit-
teilung).
Malerei: Polygnotos. 211
die Schlacht bei Marathon und der Sieg bei Oenophyta (unten
2. Abt. §84). Etwas früher fallen wohl die Fresken im Theseion
und Anakeion, die er ebenfalls in Gemeinschaft mit Mikon
geschaffen hat. Im Tempel der Athena Areia in Plataeae,
der zum Gedächtnis des Sieges von dem Erlös aus der Beute
gebaut war, malte er eine Darstellung des Freiermordes,
mit Anspielung auf die Vernichtung des Perserheeres. Poly-
gnotos' berühmtestes Werk aber waren die beiden großen
Kompositionen an den Wänden der Halle (Xedxi) ^^^ Knidier
in Delphi: die Einnahme von Troia und Odysseus' Hades-
fahrt. Sie nahmen in der Entwicklung der griechischen Malerei
etwa die Stelle ein wie die Fresken Giottos und Orcagnas
in der Geschichte der italienischen Malerei.
Diese Fresken waren in wenigen Grundfarben ausgeführt,
Schwarz, Weiß, Rot, Gelb, die aber bereits abgetönt wurden,
auch Blau und Grün wurden hin und wieder verwendet.
Auch Schatten wurden bereits angegeben. Die Figuren waren
in Gruppen angeordnet, wobei eine Art Perspektive zur An-
wendung kam und mitunter schon kühne Verkürzungen
gewagt wurden. Erklärende Beischriften erleichterten das
Verständnis. Aber trotz dieser einfachen Mittel wußte der
Meister seinen Gestalten lebendigen Ausdruck zu geben; seine
Gemälde atmeten eine erhabene Hoheit, wie sie die spätere
Kunst, trotz aller technischen Fortschritte, nicht mehr zu
erreichen vermocht hat. Was Polygnot gab, war rehgiöse
Kunst, wie die Dichtungen seiner Zeitgenossen Aeschylos
und Pindar. Noch Aristoteles hat den Anblick dieser Bilder
für die heranwachsende Jugend gewünscht ^
^ Über Polygnot vor allem Hauser in Furtwängler-Reichhold, Griech.
Vasenbilder II, München 1909, S. 305 ff. Roberts Rekonstruktionen der poly-
gnotischen Gemälde (Hallische Winckelmannsprogramme XVI — XVIII, 1892
bis 1894), die ja für ihre Zeit sehr verdienstlich waren, wirken heute wie Kari-
katuren. Bei dem völligen Verluste der Schöpfungen der großen griechischen
Malerei können wir von ihrer Technik nur aus den Vasenbildern und Reliefs
eine Anschauung gewinnen. Dazu treten, für die Komposition, die Beschreibungen
der Gemälde in der Poekile und der Lesche der Knidier bei Pausanias (I 15
und X 25—31).
14*
212 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Hinter den Fortschritten der Malerei blieb die Plastik
zunächst noch etwas zurück; sie folgte den Bahnen, die ihr
die großen Meister der vorhergehenden Periode gewiesen
hatten ^. Um die Zeit der Perserkriege wirkten in Athen
Kritios und Nesiotes, die Schöpfer der Gruppe der Tyrannen -
mörder, die dort zum Ersatz des von Xerxes hinweggeführten
Werkes des Antenor bald nach der Schlacht bei Plataeae
auf dem Markte errichtet wurde. Das aus Erz gebildete
Original ist längst zugrunde gegangen; dafür bewahrt das
Museum von Neapel eine treffliche Marmorreplik, die auch
uns die Anschauung des Werkes vermittelt. Es ist die älteste
wahrhaft plastisch komponierte Gruppe, die uns erhalten ist..
Sonst steht sie im Kunstcharakter, wie es nicht anders sein
kann, den Aegineten sehr nahe; eine gewisse Milderung der
Härte mag ionischem Einfluß verdankt werden, soweit sie
nicht auf Rechnung des Kopisten kommt. Größere Anmut
soll Kaiamis seinen Werken gegeben haben, der noch mit
Onatas zusammen gearbeitet hat, aber bis wenigstens zur
Mitte des V. Jahrhunderts tätig gewesen ist. Hochberühmt
waren namentlich ein Frauenbild von seiner Hand, die sog.
Sosandra, in Athen, und eine Kolossalstatue des Apollon
in Apollonia am Pontos. Für uns ist er ein bloßer Name ^.
Sein Zeitgenosse, der Samier Pythagoras (tätig von 476 — 452) ^,
der nach Rhegion übersiedelte und darum meist Rheginer
genannt wird, soll nach dem Urteil eines antiken Kunst -
forschers zuerst Rhythmus und Symmetrie erstrebt haben.
Von seinem Philoktet in Syrakus rühmte man, daß der Be-
schauer den Schmerz der Wunde mitempfinde. Er bildete
meist Athletenstatuen ; doch auch von seinem Kunstcharakter
fehlt uns noch die konkrete Anschauung.
^ Literaturnachweise im Anhang zu Springer-Michaelis, Handbuch der
Kunstgeschichte I », Leipzig 1911. Die antiken Zeugnisse bei Overbeck, Schrift-
quellen, Leipzig 1868, und Loewy, Inschr. griech. Bildhauer, Wien 1885. Zur
Chronologie Robert, Hermes XXXV, 1900, S. 141 ff.
- Über Kaiamis Studniczka, Abh. Sachs. Ges. phil.-hist. Kl. 25, 4, 1905,
S. Iff., Reisch, Österr. Jahreshefte IX, 1906, S. 199 ff., Furtwängler, S.-B.
Bayer. Akad. 1907, S. 160 fE.
3 Robert, Hermes XXXV, 1900, S. 184.
Plastik. — Pheidias. 213
Sie alle aber wurden weit in den Schatten gestellt durch
den Athener Pheidias (etwa 500 — 432), der die archaische
Plastik zur Vollendung führte, wie Polygnot die archaische
Malerei. Er war von Hause aus Erzbildner; als solcher schuf
er eine Kolossalstatue der Athena Promachos für die Akropolis
und eine figurenreiche Gruppe, welche die Athener, in Kimons
Zeit, zum Gedächtnis des Sieges von Marathon nach Delphi
weihten ^, Miltiades zwischen Athena und Apollon, umgeben
von den attischen Stammesheroen. Durch diese Werke ge-
langte er zu panhellenischem Ruhme : und so wurden ihm die
beiden größten Aufträge zuteil, die diese Zeit zu vergeben
hatte: das Kolossalbild des Zeus für den Tempel in Olympia
und das Kolossalbild der Athena für den Parthenon. Sie
waren bestimmt, dem Beschauer die Gottheit in ihrer ganzen
überirdischen Majestät vor Augen zu führen, und bestanden
demgemäß aus dem kostbarsten Material; das Antlitz und
die anderen entblößten Körperteile aus Elfenbein, die Ge-
wänder und das übrige Beiwerk aus Gold. Es war eine Technik,
die sich aus der alten Holzschnitzerei entwickelt hatte; ein
1 Paus. X 10, 1—2, Pomtow, Klio VIII, 1908, S. 84 ff., wo die weitere
Literatur. Da Miltiades im Jahre nach der Schlacht verurteilt worden ist,
auch die Hervorhebung eines der Strategen unmittelbar nach der Schlacht
undenkbar wäre, so kann die Gruppe erst einige Jahrzehnte später aufgestellt
worden sein, und dann natürlich nicht aus der marathonischen Beute. Auf
Weihinschriften wird der Ort des Sieges nur ausnahmsweise angegeben, in der
Regel nur der Name des Feindes, oder es heißt einfach dmö Tiliv iroXeiLiiuJV.
Es liegt also kein Grund vor, die Gruppe Pheidias abzusprechen. Sein ältestes
Werk, von dem wir Kenntnis haben, ist das Höavov ^TTixpuöov im Tempel
der Athena Areia in Plataeae (Paus. IX 4, 1). Der Tempel ist nicht aus der
Beute von Marathon gebaut (Paus. a. a. O.), da ja Plataeae 480 zerstört worden
ist, sondern aus der Beute von Plataeae, wie Plut. Arist. 20 richtig angibt;
er wird also kaum vor 470 fertig geworden sein. Die Zeusstatue in Olympia
muß älter sein als die Parthenos, schon darum, weil der Zeustempel eher fertig
geworden ist, als der Parthenon; auch wurde Pheidias gleich nach der Vollendung
der Parthenos wegen Unterschleifs angeklagt (unten Abschn. X.), und selbst wenn
wir die Angabe verwerfen, nach der er im Gefängnis gestorben wäre (Plut,
Per. 31), bleibt es undenkbar, daß die Eleier ihm dann noch die Anfertigung
des Zeusbildes übertragen hätten. Auch bezieht das Datum für Pheidias' äKjuri
bei Plin. XXXIV 49 (Ol. 83 = 448) sich doch ohne Zweifel auf die Einweihung
dieser Statue.
214 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
hölzerner Kern war mit Goldblech und Platten aus Elfenbein
überkleidet. Von dem Eindruck, den solche Werke im Halb-
dunkel der Tempelcellen auf den Beschauer hervorbringen
mußten, mögen uns die Mosaiken auf Goldgrund in altchrist-
lichen und byzantinischen Kirchen eine schwache Vorstellung
geben. Wer in den Tempel zu Olympia trat, glaubte den
Göttervater zu sehen, wie ihn Homer geschildert hatte, ruhig
und mild, in erhabener Größe; er fühlte sich in eine höhere
Region entrückt, und mochte über dem Anblick aller Sorgen
und Nöte des Lebens vergessen ^. Nicht ganz so hoch stand
die Statue der Parthenos ; der Künstler hatte hier der Tradition
des Kultbildes mehr Konzessionen machen müssen, als gut
war, was die künstlerische Wirkung abschwächte.
Inzwischen hatten die Fortschritte der Malerei die Plastik
zu beeinflussen begonnen. Der Bahnbrecher der neuen Zeit
ist hier Myron aus dem Städtchen Eleutherae an der attisch -
boeotischen Grenze. Er zuerst hat es vermocht, die bewegte
Einzelgestalt in lebensvoller Weise wiederzugeben. Keines
seiner zahlreichen Werke zeigt diese Meisterschaft in so hohem
Maße, wie der Diskoswerfer, dessen beste Replik in Rom
im Palazzo Massimo steht. Von seinen zahlreichen Athleten -
Statuen war die berühmteste die des Wettläufers Ladas, von
der keine Nachbildung auf uns gelangt ist. Hochgefeiert
waren auch seine Tierbilder, namentlich das Erzbild einer
Kuh, das in unzähligen Epigrammen besungen worden ist ^.
Die stärkste Einwirkung übte die Malerei natürlich auf
das Relief. Wir sehen das recht deutlich an dem plastischen
Schmucke des Parthenon. Während dieMetopen noch archai-
schen Charakter tragen, zeigt der Fries bereits eine voll-
ständige Beherrschung der Technik, in der Komposition
ebenso, wie in der Schönheit der Formen. Dargestellt ist
die Prozession an den Panathenaeen, dem größten Feste
^ Vgl. die Beschreibung bei Dion Chrysost. XII 51 f. Arnim.
^ Da sein Sohn Lykios um 446 als Bildhauer tätig war (C/A IV 1, 418 h,
S. 184 = Dittenb. Syll. ^ 15), muß Myron etwa um 500 geboren sein oder doch
nicht viel später; Athletenstatuen von seiner Hand sind aus den Jahren 456
und 448 bezeugt.
Pheidias. — Myron. — Die Parthenon- Skulpturen. — Polykleitos. 215
Athens; den Glanzpunkt bildet der Aufzug der Reiterei, der
in unübertrefflicher Lebendigkeit und Naturwahrheit ge-
schildert ist; die steigenden und ausschlagenden Rosse, die
Reiter mit den fliegenden Mänteln lassen den Einfluß Myrons
erkennen. Noch größere Vollendung zeigen die als Rund-
bilder gearbeiteten Figuren der Giebelgruppen, denen die
Plastik aller Zeiten nur wenig technisch Gleichwertiges an die
Seite stellen kann. Und doch sind es Werke namenloser Künstler,
namenlos schon im Altertum, das diese Skulpturen überhaupt
keines Wortes der Erwähnung gewürdigt hat; da der Fries
allein eine Länge von 160 m hat, mußte die Ausführung
natürlich in der Hand einfacher Steinmetzen liegen. Nichts
anderes vielleicht kann uns einen so hohen Begriff von der
Stufe des Könnens geben, welche die Plastik damals m Athen
erreicht hatte.
Der Peloponnes blieb hinter Athen nicht zurück. Auch
hier wurde der Archaismus jetzt überwunden. Die aeginetische
Schule freilich verfiel, seit die Insel unter athenische Herrschaft
gekommen war. Um so kräftiger blühte die Schule, die Hage-
laidas in Argos begründet hatte. Hier wirkte, einer Künstler-
familie entsprossen, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
Polykleitos, ein Meister von streng methodischer Schulung,
der auf das vollendete Ebenmaß der Proportionen das höchste
Gewicht legte und dafür in seinem Lanzenträger (Doryphoros)
ein vielbewundertes Muster gegeben hat. Nach diesem Vorbilde
hat er zahlreiche Siegerstatuen geschaffen, sein Höchstes aber
im Götterbilde geleistet. Nach dem Brande des alten Hera-
tempels bei Mykenae (423) fiel ihm, als dem anerkannt ersten
Meister seiner Vaterstadt und damals ganz Griechenlands,
die Aufgabe zu, für den neuen Tempel das Kultbild zu schaffen.
Es war eine Kolossalstatue aus Gold und Elfenbein, zwar
von kleineren Dimensionen als der Zeus des Pheidias, aber
dessen würdiges Gegenstück; in der feinen Durchführung
des einzelnen und vor allem durch den freien Stil diesem noch
überlegen ^.
^ Der Neubau des Tempels muß eine Reihe von Jahren erfordert haben,
um so mehr, als Argos von 420 bis wenigstens 412 mit Sparta im Kriege stand
216 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Um dieselbe Zeit blühte in Athen Alkamenes, angeblich
ein Schüler des Pheidias; wie dieser hat er hauptsächlich
Götterbilder geschaffen, in Marmor, Erz und chryselephantiner
Technik, von so erhabener Schönheit, daß ihm spätere
Kunstforscher den ersten Platz nach seinem großen Meister
zuerkannt haben ^. Für uns ist er ein bloßer Name, da keine
der erhaltenen Statuen mit Sicherheit auf ihn zurückgeführt
werden kann. Wohl aber besitzen wir noch ein Werk seines
Zeitgenossen Paeonios aus Mende in der thrakischen Chalkidike,
ein Weihgeschenk, das die Messenier von Naupaktos in Olympia
aufgestellt haben: Nike, die nach der Erde herabschwebt;
die Virtuosität, mit der das wehende Gewand im Marmor
gebildet ist, zeigt deutlich den Einfluß der Malerei. In ähn-
lichem Stil, aber von noch feinerer Durchbildung im einzelnen,
sind die Siegesgöttinnen auf den Reliefs von der Balustrade
des Niketempels am Eingang zur Akropolis in Athen, deren
Meister uns nicht genannt wird, und also vielleicht nur ein
und also schwerlich für andere Zwecke viel Geld zur Verfügung hatte. Und
der Tempelbau wie die chryselephantine Statue müssen doch sehr bedeutende
Summen erfordert haben, jedenfalls mehrere hundert Talente. Unter diesen
Umständen ist es kaum denkbar, daß die Statue vor Ende des Jahrhunderts
fertig geworden sein sollte; einen terminus ante quem gibt der Ausbruch des
korinthischen Krieges. Wir hören dpnn auch, daß Polykleitos für Amyklae
ein Denkmal des Sieges bei Aigospotamoi geschaffen hat (Paus. III 18, 8).
Der jüngere Künstler dieses Namens kann hier nicht gemeint sein, da er ein
halbes Jahrhundert später die Tholos in Epidauros erbaut hat (Paus. II 27, 5).
Es ist also ein Anachronismus, wenn Piaton (Prot. 311 c) die Söhne Polyklets
den Söhnen des Perikles (geboren um 460) gleichaltrig sein läßt. Die Sieger-
statuen des Kyniskos (um Ol. 80), des Aristion und Pythokles (Ol. 82) können
dann allerdings nicht wohl von dem großen Polykleitos geschaffen sein, wenn
wir nicht annehmen wollen, daß sie erst lange nach den Siegen, die sie ver-
herrlichen sollen, gefertigt sind. Sonst müßte sie von einem älteren Künstler
gleichen Namens herrühren, der ja derselben Familie angehört haben mag.
Das Material bei Robert, Hermes XXXV, 1900, S. 185 ff., der nur seine frühere
richtige Ansicht über Polyklets Lebenszeit (Arch. Märch. S. 98 ff.) nicht hätte
zurücknehmen sollen.
^ Alkamenes ist noch zur Zeit der Wiederherstellung der Demokratie
in Athen, 403/2, tätig gewesen (Paus. IX 11, 6), seine Wirksamkeit fällt folghch
in die Zeit des peloponnesisrchen Krieges, und er könnte also nur in Pheidias'
letzten Jahren und als ganz junger Mensch dessen Schüler gewesen sein.
Alkamenes. Paeonios. — Fortschritte der Malerei. 217
Steinmetz gewesen ist; auch hier haben malerische Motive
zum Vorbild gedient.
Denn eben damals waren in der Malerei epochemachende
Fortschritte gelungen, die sie weit über die Stufe hinausheben,
welche sie durch Polygnotos erreicht hatte, und sie in kurzer Zeit
auf die Höhe ihrer Entwicklung führen sollten. Den Ausgangs-
punkt dafür bildete, wie es scheint, die Dekorationsmalerei
für die Bühne. Der Künstler mußte danach streben, bei den
Zuschauern die Illusion der Wirklichkeit hervorzurufen, was
nur durch die Anwendung einer Art Perspektive zu erreichen
war. Das soll zuerst durch Agatharchos aus Samos geschehen
sein, der angeblich schon für Aeschylos tätig gewesen ist, aber
noch die Zeiten des peloponnesischen Krieges erlebt hat.
Durch ihn wurde Apollodoros aus Athen angeregt, der
,, Schattenmaler", der das neue Prinzip auf die Tafelmalerei
übertrug und es zugleich vervollkommnete und folgerecht
durchführte. So wurde er der Entdecker der dritten Dimension
auf der Bildfiäche; erst jetzt war es möglich, statt bloßer
Umrißzeichnungen, wie sie die Vasenbilder zeigen, plastisch
wirkende Bilder zu geben ^. Das führte zu einer völligen
Umwälzung der malerischen Technik. Die neue Malweise
fand sofort ihren ersten großen Meister in Zeuxis aus Herakleia,
in der Zeit des peloponnesischen Krieges ^. Sein berühmtestes
Bild war wohl seine Helena; es war das erste Mal, daß ein
Künstler den vollen Glanz weiblicher Schönheit mit dem
Streben nach der Illusion der Wirklichkeit zur Darstellung
brachte, und das Bild wirkte denn auch auf die Beschauer
wie eine Offenbarung aus einer neuen Welt. Der Andrang
soll so groß gewesen sein, daß der Künstler Eintrittsgeld
erheben mußte, wobei er sehr gute Geschäfte gemacht haben
soll. Daß seine Bilder hohe Preise erzielten, ist unter diesen
Umständen sehr begreiflich; so soll ihm König Archelaos
von Makedonien für die Ausführung der Wandgemälde in
seinem Palaste ein Honorar von 400 m. gezahlt haben. Neben
1 Pfuhl, Apollodoros ö aKiaYqpctqpoi;, Jahrb. Arch. Inst. XXV, 1910, S. 12 ff.
- Sein Eros im Aphroditetempel zu Athen erwähnt bei Aristoph. Acharn.
991 (mit dem Scholion), also 425, damals wohl noch nicht lange gemalt.
218 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung,
Zeuxis Steht sein Altersgenosse Parrhasios aus Ephesos. Auch
er wirkte in Athen, für das er ein hochberühmtes Bild des
Stadtheros Theseus malte. Überhaupt hat er seine Stoffe
fast ausschließlich dem Kreise der Götter und Heroen ent-
nommen. Der Beifall der Zeitgenossen und der Nachwelt
ist auch ihm in reichem Maße zuteil geworden; man stritt
darüber, ob er oder Zeuxis der größere Künstler wäre. Uns
ist hier, bei dem völligen Untergang der Schöpfungen der
griechischen Malerei, jedes eigene Urteil versagt.
Die Fortschritte der großen Malerei mußten auch auf
die Vasenmalerei zurückwirken. Seit Polygnot und Mikon
kommt sie ganz in Abhängigkeit von der großen Kunst, der
sie ihre Gestalten, oft auch die ganze Komposition entnimmt.
Demgemäß werden jetzt wieder mit Vorliebe Darstellungen
aus dem Mythos gegeben. Die Zeichnungen sind von hoher
Vollendung und Anmut, aber die Maler selbst fühlten, daß
sie nichts Selbständiges mehr zu schaffen vermochten und
setzen darum nur noch ausnahmsweise ihre Namen auf die
Gefäße. Dem neuen Stile, der durch Apollodoros aufkam,
vermochte dann die Technik der rotfigurigen Vasen überhaupt
nicht mehr zu folgen, und sie geriet darum seit dem pelo-
ponnesischem Kriege in raschem Verfall. Dafür beginnt jetzt
die Fabrikation der sogenannten Lekythen, schlanker Gefäße
mit dünnem Halse, von weißem Ton mit polychromen Dar-
stellungen, technisch bei weitem das Vollendetste, was die
griechische Vasenmalerei geschaffen hat. Sie waren meist
bestimmt, den Toten ins Grab mitgegeben zu werden. Doch
blieb ihre Verwendung auf Attika und die Nachbargebiete,
wie Euboea, beschränkt, und ein größerer Export der Gefäße
dieses Stils hat nicht stattgefunden; denn Unteritalien, das
bisher das hauptsächlichste Absatzgebiet für die attischen
Vasen gebildet hatte, begann sich nun auf eigene Füße zu
stellen.
Wie die bildenden Künste, standen auch Musik und
Dichtung noch hauptsächlich im Dienste des Kultus; an den
Festen, die mit immer steigendem Glänze zu Ehren der Götter
gefeiert wurden, fanden sie ein reiches Feld der Betätigung.
Fortschritte der Malerei. — Vasenmalerei. — Dichtkunst. 219
Auch auf diesem Gebiete nahm Athen jetzt die Führung.
Hier war um die Zeit der Perserkriege die Tragödie durch
Phrynichos und vor allem durch Aeschylos zu hoher Aus-
bildung gelangt (oben IIS. 419) ; mit der reichen Fülle dessen,
das in diesen Dramen geboten wurde, vermochten die älteren
Gattungen der Poesie nicht zu wetteifern. Das alte Volksepos
war längst tot, wenn auch die Gesänge Homers bei Festen
noch immer durch Rhapsoden zum Vortrag kamen; und die
Versuche, ein Kunstepos zu schaffen, blieben ohne durch-
greifenden Erfolg, so oft sie auch unternommen wurden.
Gegen den alten Homer konnte eben niemand aufkommen.
So besang Panyassis aus Halikarnassos, ein Oheim des Ge-
schichtschreibers Herodot, bald nach den Perserkriegen die
Taten des Herakles und die Gründung der ionischen Kolonien;
Xenophanes aus Kolophon verfaßte ein Epos über die Gründung
von Elea in Italien. Erfreulicher waren die Leistungen in der
Elegie, die in dieser Zeit sehr lebhaft gepflegt wurde, auch
von bedeutenden Dichtern, wie Sophokles, Ion aus Chios,
Euripides; doch wurde auf diesem Gebiete gegenüber der
vorhergehenden Periode kein Fortschritt erreicht, bis gegen
Ende des Jahrhunderts Antimachos von Kolophon in seiner
Lyde der Elegie neue Bahnen öffnete. Die Elegien des Theognis,
die Trinklieder des Alkaeos und Anakreon blieben nach wie
vor populär; wer anderes suchte, fand sangbare Lieder genug
in den lyrischen Partien der Dramen ^.
In Athen sind die musikalischen und dramatischen Auf-
führungen 2 schon sehr bald nach der Zerstörung der Stadt
durch die Perser wieder aufgenommen worden, spätestens
im Frühjahr 475. Bald darauf wurde die Technik der Tragödie
durch Einführung eines dritten Schauspielers verbessert
(um 465 — 460), eine epochemachende Neuerung, durch die
erst eine Handlung im vollen Sinne des Wortes ermöglicht
1 Aristoph. Aana\r\<; fr. 223 K., Riiier 629.
'^ Wilhelm, Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen. Sonder-
schriften des österreichischen archäologischen Instituts VI, Wien 1906. Im übrigen
verweise ich auf die Handbücher der griechischen Literaturgeschichte und die
Artikel über die einzelnen Dichter in Pauly-Wissowa-Kroll.
220 VII. Abschnitt, — Kunst und Dichtung.
wurde. Die Tragödie hatte damals ihren anerkannt größten
Meister in Aeschylos (oben IIS. 419), der 484 seinen ersten
Sieg gewonnen, 472 seine Perser auf die Bühne gebracht
hatte, und noch im hohen Alter, 458, sein reifstes und groß-
artigstes Werk aufführen ließ, die Orestie. Hier pulsiert,
bei aller Dürftigkeit der Handlung und trotz der noch immer
endlosen Chorgesänge, wirklich dramatisches Leben; wir
sehen im ersten Teile die Heimkehr Agamemnons und seine
Ermordung, im zweiten den Muttermord, im dritten wagt
es der Dichter, den Chor der Erinyen auf die Bühne zu bringen,
und wir hören ihr markdurchschauerndes Lied. Aber an der
Aufgabe, die Sühne des Unsühnbaren darzustellen, mußte
des Dichters Kunst scheitern; das Stück endet mit einem
Prozeß, in dem Apollon den Advokaten spielt und Athena
die parteiische Vorsitzende.
Doch schon war Aeschylos ein gefährlicher Nebenbuhler
erstanden. Sophokles (etwa 495 — 406) ^ war ein Sohn der
neuen Zeit, herangewachsen unter den Eindrücken der Perser-
kriege; er hat, in der Technik und im Inhalt seiner Stücke,
wie kein zweiter, den Idealen dieser neuen Zeit Ausdruck
gegeben. Er wußte die Handlung reicher zu gestalten und
ließ die lyrischen Partien dagegen zurücktreten; an Stelle
der schwülstigen, aeschyleischen Chorlieder treten einfache,
leicht verständliche Kompositionen, oft von hoher poetischer
Schönheit, wahre Perlen der Lyrik. Niemand hat ihn in der
Kunst übertroffen, den dramatischen Knoten zu schürzen
und ohne Anwendung gewaltsamer Mittel zu lösen. So konnte
es nicht fehlen, daß er an den großen Dionysien im Frühjahr
468 gegen Aeschylos den Sieg gewann. Freilich die Erhaben-
heit der aeschyleischen Gedankenwelt suchen wir bei ihm
vergebens; es sind Menschen, nicht mehr Heroen, die er auf
die Bühne bringt, aber künstlerisch stilisierte Menschen,
^ Das Todesjahr steht fest durch die Frösche des Aristophanes ; dem
entsprechend geben die Chronographen den Archon Kallias (406/5). Erster
Sieg unter Apsephion 468/7 (Marm. Par. ep. 56, Plut. Kim. 8). Über das Geburts-
jahr hatte naan keine sicheren Angaben; die Ansätze schwanken zwischen 500
und 495 (Jacoby zum Marm. Par. a. a. 0.).
Aeschylos. — Sophokles. — Euripides. 221
Typen ohne rechte Individualität, ähnlich denen, welche
die zeitgenössische Plastik bildete. Die Konflikte in diesen
Dramen vermögen uns darum, trotz aller dichterischen
Vollendung des Ganzen, doch nicht recht zu erwärmen. Und
hier und da zeigt sich eine wahrhaft erschreckende Gefühls-
roheit, wie in der Elektra, in der Sophokles in oberflächlicher
Glätte denselben Stoff behandelt, den Aeschylos zu seinem
tiefsinnigsten Werke gestaltet hatte. Das ethische Problem,
mit dem Aeschylos in seiner Orestie gerungen hatte, existiert
für Sophokles einfach nicht; Apollon hat den Muttermord
befohlen, und damit ist die Sache abgetan. An die Stelle
wahrer Frömmigkeit tritt scheinheilige Jesuitenmoral. Aber
Sophokles gab, was die Zeitgenossen verlangten; seine Tra-
gödien sind die dichterische Verklärung des perikleischen
Athen, wie die Werke eines Iktinos und Pheidias dessen
künstlerische Verklärung sind. Solange er lebte, hat auf dem
attischen Theater niemand gegen ihn aufkommen können.
Und doch brachte die Zeit eine reiche Fülle dramatischer
Talente hervor. Auch waren es nicht mehr Athener allein,
die für die Bühne ihrer Stadt tätig waren; das Theater Athens
gewann nationale Bedeutung, und Dichter aus anderen Städten
begannen dort in die Schranken zu treten, wie Ion aus Chios,
Achaeos aus Eretria, Neophron aus Sikyon, die sehr Tüchtiges
geleistet haben, so wenig sie sich auch mit Sophokles messen
konnten. Aber der bedeutendste unter Sophokles' Nach-
folgern, der einzige, der schon bei Sophokles' Lebzeiten ihm
als ebenbürtiger Meister zur Seite gestellt wurde, war doch
ein Athener, Euripides (etwa 480 — 406)^. Mit ihm zog der
^ Euripides war soeben gestorben, als Aristophanes seine an den Lenaeen
405 aufgeführten Frösche schrieb. Demgemäß setzte Apollodor seinen Tod
unter den Archon Kallias 406/5 (Diod- XIII 103, 5), nach Vorgang von Erato-
sthenes und Timaeos (Jacoby, Apollodors Chronik S. 257). Das Marmor Par.
ep. 63 gibt den Archon Antigenes (401/6). Erste Aufführung unter Kallias
456/5 (Vita bei Westermann S. 134, 29). Das Geburtsdatum beruht auf Konjektur ;
es wird entweder mit der Schlacht bei Salamis 480/79, oder mit Aeschylos'
erstem Siege unter Philokrates 485/4 (Marm. Par. ep. 50) gleichgesetzt. Die
kürzlich gefundenen Fragmente von Satyros' Lebensbeschreibung des Dichters
222 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Realismus auf der attischen Bühne ein. Seine Personen
tragen zwar noch die heroische Maske, doch nur, weil diese
einmal durch das Herkommen vorgeschrieben war; es sind
Menschen aus des Dichters eigener Zeit, nicht mehr Typen,
sondern Individuen, mit allen ihren Schwächen und Leiden-
schaften. Und die Konflikte, die sie durchkämpfen und in
denen sie, je nachdem das Los fällt, siegen oder zugrunde gehen,
sind die Konflikte des wirklichen Lebens. Dabei wird auch
den Frauen ihr Recht; Euripides hat das Weib für die Poesie
entdeckt, oder wenn man will, nach Homer zuerst wieder-
entdeckt, und demgemäß nimmt die Liebe unter seinen drama-
tischen Motiven eine hervorragende Stellung ein. Er ist dabei
gewagten Situationen nicht aus dem Wege gegangen und hat
dadurch bei den Zeitgenossen schweren Anstoß erregt. Nicht
minderen Anstoß gab es, daß er die Gedanken der neuen Welt-
anschauung, die eben damals hervorzutreten begannen, von
der Bühne herab in die Massen warf. So ist es ihm versagt
geblieben, wirkliche Popularität zu erringen; er hat nur wenige
Siege gewonnen und sein Leben lang mit den erbittertsten
Anfeindungen zu kämpfen gehabt. Aber den Besten seiner
Zeit hat er genug getan; seine Schöpfungen wurden bald allen
Gebildeten vertraut, und wenn die Komödie nicht müde
wurde, ihn mit beißendem Spotte zu überschütten, so zeugt
sie eben damit für seine alles überragende Bedeutung, wie
sie denn selbst durchaus unter euripideischem Einfluß steht.
Ihm gehörte die Zukunft; die Tragödie ist, während des ganzen
nächsten Jahrhunderts, den Bahnen gefolgt, die er gewiesen
hatte, und seine eigenen Stücke haben sich auf der Bühne
behauptet, solange es ein antikes Theater gegeben hat. Außer
Homer hat kein anderer griechischer Dichter eine so tief-
greifende Wirkung geübt.
In der Komposition der lyrischen Partien schloß Euri-
pides sich den Neuerungen an, die zu seiner Zeit eine Um-
wälzung in der Musik herbeiführten. Schon die großen Klassiker
um die Wende vom VI. zum V. Jahrhundert hatten begonnen,
(Oxyrh. Pap. IX S. 153) enthalten über die Chronologie nichts und lehren uns
auch sonst über Euripides' Leben kaum etwas Neues.
Euripides. — Die neue Musik. 223
mehr Gewicht auf die Musik zu legen, als auf den ihr unter-
legten Text; bei Simonides' Neffen Bakchylides hat dieser
Text kaum mehr poetischen Wert als ein gutes Libretto.
Der Chorlyrik als solcher war damit das Todesurteil gesprochen.
Die Entwicklung ist dann auf diesem Wege weiter gegangen.
Um die Mitte des V. Jahrhunderts trat dem Klassizismus
gegenüber eine neue Richtung auf, die danach strebte, eine
reichere Klangwirkung zu erzielen und der Musik dramatisches
Leben zu geben; sie fand ihre ersten großen Vertreter in dem
Kitharoeden Phrynis aus Mytilene (um 450) ^ und dem Dithy-
rambiker Melanippides aus Melos (in der Zeit des peloponne-
sischen Krieges) ^. Auf Phrynis' Schultern stand Timotheos
aus Milet (etwa 450 — 360), der den neuen Stil in der Kitharoedik
zur Vollendung führte, aber auch im Dithyrambos sehr Be-
deutendes geleistet hat^; neben ihm fand Melanippides in
Telestes aus Sehnus (um 400), Philoxenos aus Kythera (435
bis 380) und Polyidos ebenbürtige Nachfolger *. Die Anhänger
des Alten schrien natürlich ach und wehe über diesen , .Ver-
fall" der Musik; aber die Bewegung schritt siegreich weiter,
und bald kam die Zeit, wo die großen Meister dieser griechischen
„Zukunftsmusik" selbst als Klassiker galten, deren Kom-
positionen die Theater beherrschten und deren Lieder in den
Schulen gelernt wurden. Sehr bezeichnend ist es dabei, daß
man jetzt den ethischen Wert dieser Musik nicht genug zu
rühmen wußte, die vielen Zeitgenossen geradezu unsittlich
erschienen war ^.
^ Er siegte in Athen an den Panathenaeen 446 (Schol. Aristoph. Wolken
971, Wilamowitz, Timoth. Pers. S. 66, 1).
* Suidas s. v., Xenoph. Denkw. I 4, 3. Daß er unter Perdikkas von Make-
donien gestorben ist, folgt aus Suidas a. a. O. nicht; da er aber bei Diod. XIV
46, 6 nicht genannt wird, scheint er 398 nicht mehr am Leben gewesen zu sein.
* Marm. Par. ep. 76, Diod. a. a. O. Das Textbuch zu seinen Persern ist
uns auf einem Papyrus aus dem IV. Jahrh. v. Chr. erhalten; herausgegeben
von Wilamowitz, Leipzig 1903; der poetische Wert ist gleich Null, die Musik
leider verloren.
* Diod. a. a. 0., über Philoxenos auch Marm. Par. ep. 69.
* Polyb. IV 20, 9, und die Dekrete von Knosos und Priansos für Menekles
aus Teos, Le Bas-Waddington III 81, 82 = Michel 65. 66.
224 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Neben Athen fand die dramatische Kunst ihre zweite
Heimat in Syrakus, der Großstadt des griechischen Westens.
Aeschylos hat, unter Hieron, seine Perser hier zum zweitenmal
aufgeführt und ein eigenes Stück, die ,,Aetnaeerinnen" für die
syrakusische Bühne geschrieben. Seit dem Sturz der Tyrannis
hören wir freilich von der Aufführung von Tragödien in Syrakus
nichts mehr; daß aber die Tradition nicht abgerissen ist,
zeigt das Beispiel des älteren Dionysios, der sich nur in seiner
Vaterstadt zum Tragiker ausgebildet haben kann, und doch
offenbar in seiner Jugend, ehe er an die Spitze des Staates trat.
Wenn die Tragödie in Syrakus immer eine exotische
Pflanze geblieben ist, so entwickelte sich dafür dort ein anderer
Zweig der dramatischen Kunst, die Komödie. Die ersten
Anregungen mögen aus den Isthmosstädten gekommen sein,
namentlich aus Megara, wo am Demeterfest seit alter Zeit
derbe Schwanke improvisiert wurden, bei denen es recht
ungeniert zuging; ihre kunstmäßige Ausbildung aber konnte
die Komödie erst in der Großstadt erhalten. Sie fand ihren
ersten Meister in Epicharmos, der, im sikelischen Megara
geboren, infolge der Zerstörung seiner Vaterstadt durch Gelon
noch in jungen Jahren nach Syrakus übergesiedelt war und
hier unter Hieron als Dichter aufzutreten begann; da er ein
Alter von 90 Jahren erreicht haben soll, mag er noch die Zeiten
des peloponnesischen Krieges erlebt haben. Er entnahm
seine Stoffe dem Leben des Tages, wobei oft eine Parodie
des Göttermythos als Einkleidung diente; politische Fragen
konnte er unter Hieron nicht wohl auf die Bühne bringen
und scheint es auch später nicht getan zu haben. Wohl aber
hat er an den geistigen Strömungen der Zeit regen Anteil
genommen und vielfach, im Ernst wie im Scherz, philosophische
Fragen behandelt; im Alter hat er ein populär-philosophisches
Lehrgedicht und eine Spruchsammlung verfaßt, als praktischen
Ratgeber in allen Lebenslagen. Die dürftigen Reste gestatten
nicht, uns von der Komposition seiner Dramen ein Bild zu
machen; es scheint, daß er einen Chor nicht verwendete,
dafür aber drei und vielleicht noch mehr Schauspieler auf-
treten ließ. Die hohe Anerkennung, die er bei Mit- und Nach-
Die Tragödie in Syrakus. — Epicharmos. — Die attische Komödie. 225
weit gefunden hat, läßt keinen Zweifel, daß er zu den alier-
bedeutendsten Erscheinungen der griechischen Literatur ge-
hört; hat doch Piaton kein Bedenken getragen, ihn neben
Homer zu stellen ^.
Natürlich stand Epicharmos nicht allein; wir hören,
daß Phormis und Deinolochos zu seiner Zeit in Syrakus Dramen
derselben Art aufgeführt haben, und zahlreiche andere Namen
werden verschollen sein. Die Komödie hat in Syrakus noch
Jahrhunderte weiter geblüht, freilich ist sie bald von ihrer
Höhe herabgesunken und zum Rüpelspiel entartet (OXuaKeg,
unten HI 1 S. 515). Auch der Mimos ist aus der Komödie
hervorgegangen, Darstellungen aus dem Volksleben, in unge-
bundener Rede, in Gesprächsform, eine Gattung, in der um
die Zeit des peloponnesischen Krieges Sophron Vortreffliches
geleistet hat ^.
Um dieselbe Zeit etwa, wie in Syrakus, fand die Komödie
auch in der Großstadt des griechischen Ostens, in Athen, eine
Stätte, und zwar in ganz spontaner Entwicklung, ohne jede
Beeinflussung durch den großen sicilischen Dichter. Die
Komödie hat hier, ebenso wie die Tragödie, ihre Wurzel in
den Dionsysosfesten, dem athenischen Karneval, bei dem
junge Leute in phantastischem Kostüme umherzogen, dessen
wesentlichsten Bestandteil ein riesiger Phallos bildete; dabei
wurden zu Ehren des Gottes und zur Freude des Publikums
Lieder gesungen und Tänze aufgeführt, die mit diesem Kostüme
in Einklang standen, und endlich dem Volke, in langer Schelt-
rede, sein Sündenregister vorgehalten. An Stelle der Im-
provisation trat dann die vorbereitete Rede, das Ganze erhielt
künstlerischen Zuschnitt, und endlich nahm der Staat die
Sache in die Hand und sorgte für die Aufführung von Komödien,
1 Plat. TheaeU 162 e. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 152. Lorenz,
Leben und Schriften des Koers Epicharmos, Berlin 1864. Die Fragmente bei
Kaibel, Com. Graec. fragni. I, Hibeh Papyri I S. 14.
* Reich, Mimus I, Berlin 1903, die Fragmente bei Kaibel, Com. Graec.
fragm. I 152—182, Wilamowitz, Hermes XXXIV, 1899, S. 208. Sophrons
Zeit (verwirrt Suidas s. v. Kord H^pHriv Kai Eupitribriv) ergibt sich daraus,
daß sein Sohn Xenarchos, der gleichfalls Mimen gedichtet hat (Aristot. Poel.
I 1447 b) unter Dionysios dem Älteren tätig gewesen ist (Suidas 'PriYivou?).
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 15
226 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
wie er für die Aufführung von Tragödien sorgte. Das ist
in der Zeit der Perserkriege geschehen; die ältesten Dichter,
die uns genannt werden, sind Chionides und Magnes \ in
Perikles' Zeit tritt dann Kratinos hervor, der erste klassische
Meister des attischen Lustspiels. Er war ein strammer Zecher,
der mit trockener Kehle nicht dichten konnte und über dem
Becher nur zu oft das Dichten vergaß; er selbst hat diesen
Konflikt in einem seiner besten Stücke, der ,, Flasche" (TTuTivri)
auf der Bühne behandelt (423). Es war der glänzende Ab-
schluß einer langen Laufbahn; schon im nächsten Jahre ist
der Dichter hochbetagt gestorben. Neben ihm wirkten Krates
(seit 449) und Pherekrates (seit 437), die sich mehr an Epi-
charmos anschlössen, ihren Stücken eine festere Handlung
gaben, in den Invektiven Maß hielten und so die Richtung
anbahnten, die nach einigen Jahrzehnten in der attischen
Komödie zur Herrschaft kommen sollte. Um den Anfang
des peloponnesischen Krieges traten dann eine Reihe jüngerer
Dichter hervor, Phrynichos (seit 429), Piaton (seit etwa 428)
und vor allem Eupolis (seit 429) und Aristophanes (seit 427),
die auf Kratinos' Bahn weiter schreitend diese sogenannte
„alte" Komödie zur Vollendung führten. Auch in ihren
Stücken zeigt sich der Ursprung aus dem alten Phallosliede,
in dem grotesken Kostüm der Darsteller, der phantastischen
Handlung, dem Mangel an jeder Rücksicht auf gute Sitte
und Anstand; auch die Scheltrede (,,Parabase") blieb und
damit die politische Färbung, Bei der freien Verfassung
Athens führte das zu den schärfsten Angriffen auf die be-
stehenden Zustände wie auf die leitenden Männer, überhaupt
auf jeden, der irgendwie im öffentlichen Leben hervortrat.
^ Suidas Xiiuvibri?, öv Kai Xifovax upiwTaYUJviöxriv yeviaQai Tf\(; dpxaiai;
KUJ|uiijbia?, bibdcTKeiv b' ^xeaiv r\' Ttpö tüliv flepcriKiuv, also 488/7 oder 487/6;
wahrscheinlich sind in diesem Jahre zuerst Komödien von Staats wegen auf-
geführt worden (Ed. Meyer IV S. 93). Magnes hat an den Dionysien 472 einen
Sieg errungen (Kaibel bei Wilhelm, Urk. dram. Aufführungen S. 173). Über
die Entwicklung der älteren Komödie Aristoph. Ritter 520 ff. Für die Chrono-
logie grundlegend Wilhelm, Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen,
Wien 1906. Die Fragmente am besten bei Kock, Comicorum Atticorum fragm.y
Leipzig 1880.
Die attische Komödie. — Dramatische Aufführungen. 227
Aber über dem allem ausgegossen liegt der Hauch jener unver-
gleichlichen Anmut, der alle Schöpfungen der attischen Kunst
dieser Zeit verklärt.
Die Aufführung eines griechischen Dramas würde auf
uns Neuere freilich einen sehr fremdartigen Eindruck gemacht
haben. Da am hellen Tage unter freiem Himmel gespielt
wurde, vor Zehntausenden von Zuschauern, so trug der Schau-
spieler vor dem Gesicht eine Maske, die ihn weithin kenntlich
machte; ein Überrest der alten Vermummung bei den Dionysos -
festen, die sich ja noch bis heute in unserem Karneval erhalten
hat. Die Kunst des Schauspielers blieb damit auf den Vortrag
und das Gebärdenspiel beschränkt. Auch sonst war das
Theaterkostüm konventionell: Schuhe mit Leisten unter den
Sohlen und hohen Absätzen, langer, bis auf den Boden herab -
wallender Chiton, Polster zur Verstärkung der Körperformen;
ein Aufzug, in dem uns die Schauspieler wie lebende Marionetten
erschienen sein würden ^. Gespielt wurde ausschließlich an
den Festen des Dionysos. So wurden in Athen in älterer Zeit
nur einmal im Jahre Tragödien aufgeführt, an den ,, großen
Dionysien" im Frühling, dann aber gleich eine ganze Menge
hintereinander, da jedesmal drei Dichter mit je drei Tragödien
und einem Satyrspiel um den Sieg stritten. Später, etwa
seit 440, sind Tragödien auch an den Lenaeen, im Winter,
aufgeführt worden. Komödien wurden an beiden Festen
gegeben, und zwar jedesmal drei. Da fast nur neue Stücke
gegeben wurden, war der Bedarf an Dramen sehr bedeutend,
und dem entsprach denn auch die Produktion, um so mehr,
als der Staat sie durch materielle Belohnungen zu fördern
suchte, die er den Dichtern aussetzte. Allein für die großen
Dionysien müssen in der Zeit von Kleisthenes bis zum Ende
des peloponnesischen Krieges an 1200 Tragödien und Satyr-
spiele geschrieben worden sein, ferner mehrere hundert für
die Lenaeen und im ganzen gegen 500 Komödien. Die Dichter
dieser Periode entwickelten denn auch zum Teil eine staunens-
^ Schon auf Lukian (uepi öpxHOeujc; 27) haben sie diesen Eindruck ge-
f macht.
15*
228 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
werte Fruchtbarkeit; Aeschylos z. B. hat 90, Sophokles 130,
Euripides 92, Aristophanes 40 Dramen geschrieben i, so daß
der Bedarf des athenischen Theaters an Tragödien und Satyr-
spielen im V. Jahrhundert zu etwa einem Fünftel allein durch
die drei großen Tragiker gedeckt worden ist.
Außerhalb Athens sind in dieser Zeit, wenn wir von
Syrakus absehen, Dramen noch kaum gegeben worden;
man begnügte sich mit den althergebrachten musikalischen
Aufführungen. Hauptsächlich aber blieb das Interesse des
Volkes auch jetzt noch den gymnastischen Wettkämpfen
zugewandt; das große Turnfest, das alle 4 Jahre in Olympia
gehalten wurde, blieb nach wie vor das vornehmste National-
fest, zu dem die Zuschauer aus allen Teilen der griechischen
Welt zusammenströmten, während die musischen Agone
in Delphi eine ähnliche Popularität nicht gewinnen konnten,
obgleich sie doch ebenfalls mit einem großen Turnfest ver-
bunden waren, und diese heiligste Stätte in Hellas schon
an sich eine mächtige Anziehungskraft üben mußte. Die
Wettkämpfe wurden freilich mehr und mehr zu Schaustellungen
eines professionellen Athletentums. Ganz besonderer Gunst
erfreuten sich die Pferderennen; reiche Familien setzen ihren
Stolz darein, einen Rennstall zu halten, nirgends mehr als
in Sparta 2, und ein Wagensieg in Olympia oder Delphi wurde
von der öffentlichen Meinung nicht weniger gefeiert als ein
Sieg beim Wettlauf oder beim Ringkampf im Stadion.
Wir dürfen uns nach dem allen von der Wirkung der
hohen Kunstblüte dieser Zeit auf die Masse des Volkes keine
übertriebenen Vorstellungen machen. Die weit überwiegende
Mehrzahl, alle, die nicht in größeren Städten lebten oder die
Mittel hatten, dorthin zu reisen, bekam davon überhaupt
^ Die Zahlen sind natürlich nur approximativ richtig; sie gehen auf die
alexandrinischen Kataloge zurück.
^ Vgl. das Verzeichnis der Wagensiege des Spartaners Dämonen Inscr.
Lacon. 213. Es wurden damals, in der Zeit kurz vor Ausbruch des peloponne-
sischen Krieges, im spartanischen Gebiet an sechs Festen solche Rennen
gehalten (^v TaiaFöxiu, AGdvma, 'EXeuÄuvia, IIoÄoibaia "EXei, noÄoibaia
©eupiqt, äv ApiovTia?).
Die Turnfeste. — Ethische Wirkung der Kunst. — Humanität. 229
kaum etwas zu sehen oder zu hören; den höchsten Kunst-
genuß, die Tragödie, bot fast allein Athen. Hier mag aller-
dings auch der gemeine Mann einen gewissen Firnis ästhetischer
Bildung gewonnen haben, aber eine ethische Wirkung konnten
Aufführungen kaum haben, die nur ein- oder zweimal im
Jahre stattfanden ^ und deren Eindruck zum Teil durch die
Nuditäten des Satyrspiels oder die Gemeinheiten der Komödie
neutralisiert wurde. Lauter als alles spricht die Roheit, mit
der sich das Publikum im Theater benahm; da wurde gebrüllt
und getobt und zum Zeichen des Mißfallens mit allem Mög-
lichen nach der Bühne geworfen 2, Der Pöbel blieb eben Pöbel,
trotz aller schönen Verse, die er zu hören bekam.
Allerdings war man humaner geworden. Unter dem
Einfluß der demokratischen Strömung wurde, in Kleisthenes'
Zeit, in Athen Bürgern gegenüber die Folter abgeschafft,
was in der modernen Welt erst im Laufe der zweiten Hälfte
des XVHL Jahrhunderts erreicht worden ist; gegen andere
Freie kam sie nur in besonders schweren Fällen zur An-
wendung, und nur Sklaven blieben ihr nach wie vor unter-
worfen ^. Verstümmelung und andere barbarische Strafen
(oben IIS. 352) waren längst abgekommen, ja selbst die
Todesstrafe wurde in der humansten Weise vollzogen, indem
man dem Verurteilten den Schierlingsbecher zu trinken gab *.
Athen mag hier dem Vorgang anderer Staaten gefolgt sein;
jedenfalls aber mußte das Beispiel Athens im ganzen attischen
Reiche maßgebend werden, seit die Kriminalverbrechen
von athenischen Gerichten abgeurteilt wurden. Freilich
waren nicht alle Teile der griechischen Welt so weit vor-
geschritten, in Makedonien bestand die Folter noch zu
^ Piaton hat jedenfalls an eine solche ethische Wirkung nicht geglaubt,
da er die Tragödie geradezu als unsittlich verurteilt hat {Polit. X 698 e).
* Piaton Gesetze III 701 a, Demosth. vdGes. 337, vKranz 262, Athen. IX
406 f.
^ Meier und Schoemann, Att. Prozeß *, S. 893 fF. Über die Zeit des ^iri
ZKanavbpiou ivriq)icf|aa (Andok. vdMyst. 43), durch das die Folterung aufgehoben
wurde, s. oben I 1 S. 167.
* Thalheim in Hermanns Antiquitäten ^ II 1 S. 120 ff.
230 VII. Abschnitt. — Kunst und Dichtung.
Alexanders Zeit ^, und Dionysios hat nach der Einnahme
von Motye griechische Überläufer ans Kreuz schlagen lassen ^.
Es war also nicht so unberechtigt, wenn die Athener
sich etwas auf ihre Menschenfreundlichkeit (qpiXavOpuuTTia)
zugute taten ^; stand doch auf ihrem Markte, und hier allein
von allen griechischen Städten, ein Altar des Mitleids [IXeoc;) *.
Daher die Fürsorge des Staates für die arbeitsunfähigen
Bürger und die humane Behandlung der Sklaven (oben S. 158).
Das kam auch den Tieren zugute; Athen ist wohl der erste
Staat gewesen, der die Tierquälerei unter Strafe gestellt
hat ^. Die orphischen Lehren von der Wesensgleichheit alles
dessen was lebt, mögen dazu mitgewirkt haben. ,,Es gibt
Erinyen auch für die Hunde," lautete ein griechisches Sprich-
wort ^, und Zeus oder Apollon strafen den Frevler, der Vögeln
ihre Nester zerstört '. So standen die Griechen, die Athener
wenigstens, in diesem Punkte sittlich höher als heute die
christlichen Völker am Mittelmeer.
Das hinderte nicht, daß in der Leidenschaft des Partei -
kampfes mitunter die ärgsten Greuel verübt wurden. Und
selbst die humanen Athener haben mit kaltem Blute ganze
Bürgerschaften hinschlachten lassen, die sich gegen ihre
Herrschaft empört hatten. Nicht besser trieben es die Lake-
daemonier; sie ließen in den ersten Jahren des peloponnesischen
Krieges die Mannschaft aller Kauffahrer aus Athen und dessen
Bundesstädten, ja sogar aus neutralen Staaten, über die
^ Sie soll z. B. im Prozeß gegen Philotas zur Anwendung gekommen sein
(Curt. VI 11, 13 ff.). Ebenso in Phokis zur Zeit des heiligen Krieges im
Prozeß gegen Philon (Diod. XVI 56, 4).
- Diod. XIV 53, 5. Der Akragantiner Polos zählt bei Plat. Gorg. 473 c
die barbarischen Strafen auf, die einen gestürzten Tyrannen bedrohen; worauf
Sokrates erwidert |aop|Lio\ÜTTev au, iL Y^^vaie TTiiJXe.
^ Leopold Schmidt, Ethik der alten Griechen II 276 ff.
* Paus. I 17, 1. Später sind solche Altäre auch sonst errichtet worden,
z. B. in Epidauros (Dittenb. Syll. ^ 782), vgl. Diod. XIII 22, 7.
■^ Plut. irepi aapKoq). I 996 ASrivaToi tuj ^uivra töv Kpiöv ^Kbeipavxi
biKriv ^Ti^GriKav.
* Paroemiogr. Gr. I 397, II 161. Eioi Kai Kuvutv 'Epivueq.
^ Aeschyl. Agam. 48 ff.
Humanität. — Mathematik und Astronomie. 231
Klinge springen, die in ihre Hände fielen ^. Es war den Athenern
nicht zu verdenken, wenn sie Repressalien nahmen und nun
ihrerseits die peloponnesischen Gesandten hinrichten ließen,
die zum Großkönig reisten -. Als die Syrakusier das athenische
Belagerungsheer zur Ergebung gezwungen hatten, wurden
die beiden Feldherren zum Tode geführt, die Truppen, denen
man in der Kapitulation das Leben zugesichert hatte, in die
Steinbrüche eingeschlossen, wo sie, allenUnbilden der Witterung
ausgesetzt, bei mangelhafter Verpflegung, zum großen Teil
langsam verkommen sind. Nach dem Siege bei Aegospotamoi
haben die Spartaner alle athenischen Gefangenen nieder-
gemacht, wofür ähnliche Grausamkeiten zur Rechtfertigung
dienen mußten, welche die Athener begangen haben sollten.
Später sind solche Barbareien nicht mehr vorgekommen
oder doch nur ganz vereinzelt. Es kann kein Zweifel sein,
daß das eine Folge des intellektuellen Fortschritts gewesen
ist, den die Nation seit den Perserkriegen gemacht hatte,
und der eben in der Zeit des peloponnesischen Krieges in
weitere Kreise zu dringen begann. Denn aller Kulturfortschritt
ist in letzter Linie Fortschritt im Wissen.
VIII. Abschnitt.
Die Aufklärung.
Die wissenschaftliche Bewegung, die in der zweiten
Hälfte des VI. Jahrhunderts begonnen hatte, war seitdem
in immer breiter werdendem Strome dahingeflutet ^. Mathe-
matik und Astronomie fanden, außer in Pythagoras' Schule,
auch in ihrer alten Heimat lonien Pflege. Allerdings die
astronomischen Entdeckungen der Pythagoreer blieben hier
im Osten noch unbekannt oder fanden doch Ablehnung; die
1 Thuk. II 67, 4, III 32.
^2 Thuk. II 67.
^ Die Zeugnisse und Fragmente am besten bei Diels, Vorsokraiiker. Sonst
vgl. namentlich Gomperz, Griechische Denker I.
232 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Erde galt dort nach wie vor als flache Scheibe, die von der
Luft getragen mitten im Räume schwebe. Aber es war immer-
hin ein sehr bedeutender Fortschritt, wenn Anaxagoras aus
Klazomenae in Perikles' Zeit ^ lehrte, die Sonne sei eine
glühende Steinmasse, ,, größer als der Peloponnes", der Mond
erhalte sein Licht von der Sonne, habe Berge und Täler wie
die Erde und sei von lebenden Wesen bewohnt. Auch mit
mathematischen Problemen, wie der Quadratur des Kreises,
hat Anaxagoras sich beschäftigt. Neben ihm steht, als einer
der Begründer der mathematischen Wissenschaft, sein etwas
jüngerer Zeitgenosse Oenopides aus Chios. Hippokrates,
ebenfalls aus Chios und also wohl Oenopides' Schüler, schrieb
um die Zeit des peloponnesischen Krieges das erste mathe-
matische Lehrbuch. Auch durch selbständige Forschung
hat er die Mathematik gefördert. Er hat den Satz bewiesen,
daß Kreisflächen den Quadraten ihrer Durchmesser pro-
portional sind; und wenn er auch das Problem der Ver-
doppelung des Würfels noch nicht zu lösen vermochte, so
hat er doch wenigstens den W^eg zu dessen Lösung gezeigt.
Die Fortschritte der Mathematik und Astronomie fanden
jetzt zur Regelung der Zeitrechnung praktische Anwendung.
Die Sonnenuhr, eine Erfindung der Babylonier ^^ gelangte
schon im VL Jahrhundert nach Griechenland und damit
die Einteilung des Tages in 12 Stunden; der Milesier Anaxi-
menes (oben I 1, S. 438) soll die erste solche Uhr in Sparta
aufgestellt haben ^. Auch die Aufgabe, das im bürgerlichen
Leben geltende Mondjahr mit dem Sonnenjahr in Einklang
zu bringen, wurde jetzt von der Wissenschaft in Angriff ge-
nommen. Oenopides bestimmte das Sonnenjahr auf 365 Tage
8 Stunden 57 Minuten, und berechnete danach eine Periode
von 59 Sonnenjahren gleich 730 Mondmonaten, die er auf
^ Seine Lebenszeit ist bestimmt durch seine Beziehungen zu Perikles
und die Anklage wegen Asebie kurz vor Anfang des peloponnesischen Krieges;
danach setzte man seine Geburt in Ol. 70, 500 — 496 v. Chr. (Diog. Laert.
II 7). Jedenfalls kann er nicht älter gewesen sein.
- Herod. II 90.
" Plin. Nat. Bist. II 187.
Mathematik und Astronomie. — Erdkunde. 233
eine Kupfertafel eingegraben in Olympia aufstellte ^, Noch
vollkommener war der neunzehnjährige Zyklus, den der
Athener Meton im Jahre 432 entwarf; das von ihm berechnete
Sonnenjahr überstieg den wahren Wert nur um eine halbe
Stunde (genauer 30' 9"). Doch gelangte dieser verbesserte
Kalender zunächst noch nirgends zur offiziellen Einführung;
man behalf sich, so gut es gehen wollte, mit der alten unvoll-
kommenen Oktaeteris 2.
Von einer wissenschaftHchen Erdkunde konnte natürlich
keine Rede sein, solange die Kugelgestalt unseres Planeten
noch nicht zur Anerkennung gelangt war. Man baute auf
dem Grunde weiter, den Hekataeos gelegt hatte; in dessen
Weise verfaßten Dionysios aus Milet, dann, um die Mitte
des Jahrhunderts, Phileas und der Astronom Euktemon aus
Athen, um die Zeit des peloponnesischen Krieges Damastes aus
Sigeion Erdbeschreibungen, letzterer soll auch eine Erdkarte
entworfen haben ^.
Die Beobachtung, daß die nördlichen Länder ein kälteres,
die südHchen ein wärmeres Klima haben, mußte sich seit
der Erschließung Aegyptens und der Besiedelung der Nord-
küste des Pontos den Griechen von selbst aufdrängen. Ebenso,
daß der Charakter von Flora und Fauna durch das KHma
bedingt ist; und man ist selbst dazu übergegangen, auch die
Verschiedenheit zwischen den einzelnen Völkern in Körperbau
und geistiger Anlage von den klimatischen Bedingungen
ihres Wohnorts abzuleiten ^ Wodurch freilich die Verschieden-
heiten des Klimas bedingt werden, das zu erklären, war die
Geographie außerstande, so lange sie sich der Lehre von der
Kugelgestalt der Erde verschloß; es war nur ein dürftiger
Notbehelf, wenn Anaxagoras und nach ihm Herodot meinten,
1 Adolf Schmidt, Griech. Chronol. S. 424.
2 A. Schmidt a. a. 0. S. 434 ff.
^ Von Phileas kennen wir kaum mehr als den Namen; Euktemon liegt
vielleicht bei Avienus für die westlichen Küstenländer des Mittelmmeeres als
Quelle zugrunde (vgl. Rehm, Euktemon in Pauly-Wissowa VI 1060). Über
Damastes FHG. II 64 und Schwartz in Pauly-Wissowa IV 2050.
* So namentlich Hippokrates (oder wer sonst der Verfasser sein mag)
in der Schrift TTepi ä^puuv ubctxujv Kai töttujv.
234 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
die Sonne würde von den Winterstürmen nach Süden ge-
drängt. Die richtige Erklärung hatte bereits, von pytha-
goreischen Voraussetzungen ausgehend, Parmenides in seiner
Zonenlehre gegeben; nur daß er soweit ging, die Tropenzone
und die beiden arktischen Zonen als ganz unbewohnbar hinzu-
stellen.
Von den biologischen Wissenschaften ist es die Medizin,
die ihres praktischen Nutzens wiegen zuerst Anbau zu finden
pflegt, selbst bei Völkern, denen sonst der Begriff einer Wissen-
schaft noch nicht aufgegangen ist. Im Altertum galt Aegypten
als das klassische Land der Heilkunde, und schon die Odyssee
feiert den Ruhm der aegyptischen Ärzte ^. Die Überreste
der aegyptischen medizinischen Literatur, die auf uns gelangt
sind, haben indes diesen Ruf keineswegs gerechtfertigt; sie
zeigen vielmehr, daß die aegyptische Heilkunde nichts anderes
gewesen ist, als ein Gemisch von wüstem Aberglauben und
roher Empirie. So ist die griechische Medizin in noch höherem
Grade die selbständige Schöpfung des griechischen Geistes,
als es bei der Astronomie oder der Mathematik der Fall ist.
Der Naturmensch sieht die Krankheit als Wirkung
übernatürlicher Kräfte an und sucht demgemäß auch durch
übernatürliche Mittel sich dagegen zu schützen, durch Opfer,
Gebete und Beschwörungen. So zeigt uns der Eingang der
Ilias die Pest im griechischen Lager; aber niemand denkt
daran, etwa die Ärzte zu Rate zu ziehen, sondern man fragt
den Wahrsager, und sucht auf dessen Geheiß Apollons Zorn
zu versöhnen. Namentlich waren es die Tempel des Heil-
gotts Asklepios, bei denen die Leidenden Hilfe suchten; die
Kranken legten sich im Heihgtum zum Schlummer nieder,
und aus den Träumen, die ihnen der Gott dabei offenbarte,
deuteten die Priester die Natur des Übels und bestimmten
das Heilmittel. Die glückHch genesenen pflegten dann Tafeln
mit der Geschichte ihrer Heilung im Tempel aufzuhängen.
So krasser Aberglaube nun auch hier mit unterHef 2,
^ b 229 ff.
* Geschichten solcher wunderbarer Heilungen, aus dem Asklepieion bei
Epidauros, Inscr. Argol. 951 ff.
Erdkunde. — Medizin. 235
SO hat doch die Entwicklung der Medizin in Griechenland
eben an die Asklepieien angeknüpft, namentlich an die be-
rühmten Tempel von Kos und Knidos, wo die Menge der
beständig zuströmenden Kranken reiche Gelegenheit zur
Beobachtung bot. Und zwar wurde die ärztHche Kunst, wie
alle Kunst in der griechischen Vorzeit, in bestimmten Famihen
erblich, die dann ihre Abstammung auf den Heilgott Asklepios
selbst zurückzuführen pflegten. Als solche Asklepiaden er-
scheinen schon in der Dias Machaon und Podaleirios, die
Arzte des griechischen Heeres vor Troia. Bereits in dieser
Zeit zeigt sich ein achtbarer Anfang anatomischer Kennt-
nisse; und vor allem wird die Besprechung mit Zauberformeln,
die im Volke noch lange in Übung bheb, von den Ärzten nicht
mehr angewendet ^. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte
ist dann ein reicher Schatz medizinischen Wissens aufgehäuft
worden, der durch mündHche Tradition vom Lehrer auf den
Schüler sich fortpflanzte. Der Lehrling mußte sich dabei
durch feierUchen Eidschwur verpflichten, seinen Meister
gleich den eigenen Eltern zu ehren, den Kranken nach Wissen
und Vermögen beizustehen und sich jeden Mißbrauchs seiner
Stellung zu enthalten ^. Die Heilkunde erreichte auf diesem
Wege eine verhältnismäßig hohe Ausbildung. Schon König
Dareios hatte einen griechischen Arzt in seinen Diensten,
Damokades aus Kroton, dessen Kunst die der berühmten
aegyptischen Ärzte in den Schatten stellte. Auch Hippo-
krates spricht mit großer Hochachtung von den Leistungen
seiner Vorgänger. Seit den Perserkriegen begann sich dann
auch eine medizinische Literatur zu entwickeln, die bald
einen beträchtlichen Umfang erreichte ^.
^ Weder Machaon bei der Behandlung der Wunde des Menelaos (A 213 ff.),
noch Patroklos bei der Behandlung der Wunde des Eurypylos (A 844 ff., 0 393 f.)
wenden solche Zauberformeln an. Dagegen besprechen t 457 die Söhne des
Autolykos die Wunde ihres Neffen Odysseus.
* Dieser „Eidschwur" ist eines der ältesten Stücke der unter Hippokrates'
Namen überheferten Sammlung medizinischer Schriften (IV 628 ff. Littre).
3 Xen. Denkwürdigkeiten IV 2. 10. Uns ist davon nur das Corpus der
Hippokrateer erhalten, in das allerdings auch manche fremde Bestandteile
eingedrungen sind.
236 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Unter den medizinischen Schulen, die sich in dieser
Zeit bildeten, nahm eine der hervorragendsten Stellen die
von Kroton ein, der außer dem schon erwähnten Damokades
der Pythagoreer Alkmaeon in der zweiten Hälfte des V. Jahr-
hunderts angehörte. Ferner die Schule von Knidos, deren
berühmtester Vertreter Euryphon war, einer der ältesten
medizinischen Schriftsteller; auch Ktesias ist aus ihr hervor-
gegangen, der um die Wende vom V. zum IV. Jahrhundert
Leibarzt des persischen Königs Artaxerxes war. Alle anderen
Schulen aber stellte die von Kos in den Schatten mit ihrem
großen Meister Hippokrates (geb. 460). Es sind die Schriften
dieser Schule, denen wir fast ausschließlich unsere Kenntnis
der griechischen Medizin des V. Jahrhunderts verdanken,
und die grundlegend für die ganze spätere Entwicklung der
medizinischen Wissenschaft geworden sind.
Der Glaube an übernatürliche Ursachen der Krank-
heiten war jetzt bei den Ärzten vollständig überwunden.
Nirgends in der Sammlung der hippokratischen Schriften
ist von Beschwörungen und Zaubermitteln die Rede, nirgends
wird der Besuch der Asklepieien auch nur erwähnt. Wie
dieser Aberglaube auch bei den Gebildeten allen Kredit ver-
loren hatte, zeigt Aristophanes, der in seinem Plutos die
Incubation dem Gelächter der Zuschauer preisgibt. Mit großer
Feinheit spricht sich ein Hippokrateer über diese Fragen
aus bei der Beschreibung einer unter den Skythen herrschenden
Krankheit (öriXeia vovaoq) , die von diesen göttlicher Ein-
wirkung zugeschrieben wurde. ,,Auch mir scheint dieses
Leiden göttlichen Ursprungs zu sein, und ebenso alle übrigen
Krankheiten, keine göttlicher als die andere, noch auch mensch-
licher, sondern alle göttHch. Jede Krankheit aber hat ihre
natürliche Ursache, und ohne natürliche Ursache geschieht
überhaupt nichts." Selbst Geisteskrankheiten werden in
dieser Weise beurteilt.
Grundlage aller Medizin ist die Kenntnis des mensch-
lichen Körpers. Allerdings waren die reHgiösen Vorurteile
noch zu stark, um eine Zergliederung menschlicher Leichen
anders als in Ausnahmefällen zu gestatten; immerhin aber
Anatomie und Physiologie. — Pathologie und Therapie. — Alkmaeon. 237
hatten die Hippokrateer in der Anatomie und Physiologie
ein recht ausgebreitetes Wissen, das wir freilich mit unserem
Maßstab nicht messen dürfen. So fehlte ihnen völlig die
Kenntnis, daß Empfindung und Bewegung durch die Nerven
vermittelt werden; das Gehirn galt ihnen, und noch Aristo-
teles, als kalte Masse, bestimmt, den im Körper erzeugten
überflüssigen Schleim an sich zu ziehen. Sehr unvollkommen
waren natürlich auch die Vorstellungen von dem Gefäßsystem,
wie ja das Altertum überhaupt zur Erkenntnis des Kreis-
laufs nicht gekommen ist.
Unter diesen Umständen, und bei dem Mangel aller
optischen und chemischen Hilfsmittel konnte von einer wissen-
schaftlichen Erforschung der pathologischen Vorgänge noch
kaum die Rede sein. In der knidischen Schule herrschte
eine wüste Kasuistik, die unzählige Krankheiten annahm
und für jede ein Spezifikum hatte. Hippokrates dagegen
meinte, die Gesundheit beruhe auf der richtigen Mischung
der im Körper enthaltenen vier Säfte, Blut, Schleim, schwarze
und gelbe Galle; die Krankheit auf der Störung dieses Ver-
hältnisses. Übrigens war er sich der Grenzen des ärztlichen
Könnens wohl bewußt; der beste Arzt wäre die Natur selbst
(vou(Tujv cpuffie? iTiTpoi). Die Bemühungen der Hippokrateer
waren darum in erster Linie darauf gerichtet, den natür-
lichen Heilungsprozeß zu unterstützen; aber wo es darauf
ankam, schreckten sie auch vor energischen Eingriffen nicht
zurück. ,,Was Arzeneien nicht heilen, heilt das Eisen, was
das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer, was aber auch das Feuer
nicht heilt, das ist überhaupt nicht zu heilen", lautet ein
bekannter Lehrsatz der Schule. In der Tat hatte die Chirurgie
bereits eine verhältnismäßig hohe Vollendung erreicht; nur
Amputationen wagte man noch nicht, da man die Unterbindung
der Adern, das wichtigste blutstillende Mittel nicht kannte.
Weiter vorgeschritten war man zum Teil in Kroton.
Hier hat der Pythagoreer Alkmaeon zuerst erkannt, daß das
Gehirn das Organ des Denkens ist, eine Entdeckung, die
freilich erst ein Jahrhundert später zur allgemeinen Aner-
kennung gelangen sollte; die Gesundheit sei bedingt durch das
238 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Gleichgewicht der im Körper wirksamen Kräfte, des Feuchten
und Trockenen, des Kalten und Warmen, des Bittren und
Süßen usw., die Krankheit entstehe aus der Störung dieses
Gleichgewichtes; bei der Therapie handele es sich also darum,
das Gleichgewicht wieder herzustellen. Gegenüber der Humoral -
pathologie des Hippokrates bezeichnet diese Theorie ohne
Zweifel einen bedeutenden Fortschritt.
In dieser krotoniatischen Schule, oder doch unter ihrem
Einfluß, hat Empedokles seine Bildung erhalten. Er stammte
aus einer der angesehensten Familien von Akragas; sein
Großvater, dessen Namen er trug, hat mit einem Rennpferde
in Olympia einen Sieg errungen (496), sein Vater Meton stand
in erster Reihe bei der Befreiung der Vaterstadt von der
Tyrannis (473), er selbst hat später die Verfassung in demo-
kratischem Sinne reformiert ^. Schon sein Großvater soll
Anhänger der orphischen Lehre gewesen sein und als solcher
bei dem Festmahl zur Feier seines in Olympia errungenen
Sieges den Gästen statt des üblichen Opferstieres einen mit
kostbaren Spezereien gewürzten Riesenkuchen in Form eines
Stieres vorgesetzt haben ^; Empedokles selbst ist dem Glauben,
in dem er erzogen war, zeitlebens treu gebHeben und hat als
Weihpriester und Wahrsager mit Wort und Schrift eifrige
Propaganda dafür gemacht. Dabei war er ein berühmter
Arzt; wohin er kam, strömte die Menge zusammen, den großen
Mann zu sehen und Hilfe in Krankheit oder Rat für ihr
Seelenheil zu erbitten.
Aber Empedokles war doch zu sehr Gelehrter und Sohn
seiner Zeit, als daß er nicht das Bedürfnis gefühlt hätte, für
seinen Glauben die wissenschaftlichen Beweise zu finden.
1 Diog. Laert. VIII 51 ff.
^ Athen. I 3 e, Diog. VIII 53. Man mag über diese Erzählung denken
wie man will, jedenfalls ist bei einem Gelehrten wie Empedokles, der an der
Schwelle der sophistischen Bewegung stand und einer ihrer hauptsächlichsten
Vorläufer gewesen ist, der orphische Glaube nur zu erklären, wenn er darin
erzogen war. Fr. 139 Diels kann sich auf ein früheres Leben beziehen; wenigstens
sehe ich nicht, wie Empedokles zu dem Grade der Heiligkeit hätte gelangen
können, den er sich fr. 146 vindiziert, wenn er in diesem Leben die Todsünde
begangen hätte, Fleisch zu essen.
Älkmaeon. — Empedokles. 239
Er schloß sich dabei an Parmenides an und dessen Lehre von
der Unzerstörbarkeit des Seienden, wie er Parmenides auch
darin gefolgt ist, daß er seinen Werken poetische Form gab
und sie damit einem weiten Hörer- und Leserkreise zugänglich
machte. Ist nun das Sein überhaupt unzerstörbar, dann ist
es auch unser eigenes Sein, unsere Seele; denn ,,kein weiser
Mann wird sich dergleichen in seinen Sinnen träumen lassen,
solange wir leben, was man so Leben heißt, nur solange seien
wir vorhanden, und widerfahre uns schlimmes und gutes,
dagegen bevor wir Sterbliche geworden und nachdem wir
uns wieder aufgelöst haben, seien wir nichts'.'. Die Seele
muß also nach dem Tode in andere Körper eingehen, und
zwar keineswegs nur in menschliche Körper, sind doch die
Seelen der Tiere, und selbst das, was die Pflanze belebt, unserer
eigenen Seele wesensgleich. Ebenso haben wir vor unserer
Geburt schon in allerhand Tierkörpern und auch als Pflanzen
gelebt. So hatte Empedokles die orphische Lehre von der
Seelenwanderung philosophisch begründet; es war natürlich,
daß er hier nicht stehen blieb, und mit den Orphikern weiter
annahm, was sich freilich nicht mehr beweisen ließ, daß unsere
Seele göttlichen Ursprungs, und zur Strafe für eine Sünde,
die sie begangen, verurteilt ist, ihren Weg durch unzählige
sterbliche Leiber zu nehmen, bis sie dereinst, geläutert, wieder
zu ihrem Ursprung zurückkehrt. Die Körperwelt aber ist nach
Empedokles aus vier qualitativ verschiedenen Elementen
zusammengesetzt, Erde, Wasser, Luft, Feuer, die von zwei
Kräften, der Attraktion und Repulsion bewegt werden,
oder wie der Philosoph selbst mit orphischer Terminologie
es ausdrückt, von Liebe und Haß. So wurde Empedokles
der Begründer einer Lehre, welche die Naturwissenschaft zwei
Jahrtausende hindurch beherrscht hat und die in zeitgemäßer
Umbildung noch unserer heutigen Chemie zugrunde liegt.
Er hatte damit die Möglichkeit, die Erscheinungen zu erklären,
ohne sie wie Parmenides als Sinnentrug betrachten zu müssen.
In seinem philosophischen Lehrgedicht schildert er uns, wie
zu Anfang alle Grundstoffe gleichmäßig durcheinander gemischt
waren und dieses Gemenge die Gestalt einer gewaltigen Kugel
240 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
((TqpaTpoq) hatte und unbewegt war; ganz so, wie Parmenides
sein reines Sein sich gedacht hatte. Dann aber kam durch
den Kampf der Liebe und des Hasses Bewegung in die Masse;
Luft und Feuer nahmen die äußeren Teile des Sphaeros ein,
während sich in dessen Mitte aus den beiden anderen Elementen
die Erde bildete. Diese Welt wird dereinst durch die Macht
des Hasses zerstört werden und die Elemente in den Sphaeros
zurückkehren, aus dem dann wieder eine neue Welt entstehen
wird; und so wird das fortgehen in ewigem Kreislauf. Be-
sonders bemerkenswert ist dabei seine Lehre von der Ent-
stehung der organischen Wesen. Zuerst bildeten sich die
Pflanzen, darauf wuchsen einzelne Teile von Tieren aus dem
Boden, die sich dann, wie es der Zufall fügte, miteinander
vereinigten. Von den so entstandenen Organismen gingen
die unzweckmäßig gebildeten unter und nur die zweckmäßig
gebildeten erhielten sich. Wie man sieht, spricht Empedokles
hier einen Gedanken aus, der in unserer Zeit der Naturforschung
neue Wege gewiesen und auch die Geisteswissenschaften
mächtig beeinflußt hat^).
Es ist etwas Großes, was Empedokles geleistet hat;
sein System ist der erste rationelle Versuch einer mechanischen
Naturerklärung. Aber freihch, auch er vermochte nicht zu
sagen, woher denn der erste Anstoß zur Bewegung des Sphaeros
gekommen sei, und eben so wenig war er im stände zu be-
weisen, daß die unendliche Mannigfaltigkeit der Substanzen,
die uns in der Sinnenwelt entgegentreten, wirkhch aus seinen
vier Elementen hervorgegangen sei. Dieser letzteren Schwierig-
keit suchte sein Zeitgenosse, der Mathematiker Anaxagoras
aus Klazomenae (oben S. 232) zu begegnen durch die An-
nahme einer unendlichen Vielheit qualitativ verschiedener
^ Von Empedokles ist uns mehr erhalten, als von irgend einem anderen
griechischen Philosophen vor Piaton, Demokrat allein ausgenommen. Trotzdem
ist er von den Neueren durchweg mißverstanden worden. Zwischen den KaGapjnoi
und TTepl qpuöeuii; besteht gar kein Gegensatz, weder ein psychologischer noch
ein logischer, außer soweit zwischen Wissen und Glauben überhaupt ein solcher
Gegensatz besteht; vielmehr ergänzen beide Gedichte einander. Nur der wird
ihn einen Scharlatan nennen, der in jedem Priester einen Scharlatan sieht.
Da hat Epikur ihn viel richtiger beurteilt (Lucret. I 729 ff.).
Empedokles. — Anaxagoras. — Diogenes. Arcbelaos. — Zenon. Melissos. 241
Urstoffe, von „Samen der Dinge", aus deren Mischung und
Trennung alles hervorgehe. Und in der Tat, wenn wir einmal
die qualitative Einheit der Materie aufgeben, warum nicht
ebensogut 10 000 Elemente annehmen, als vier mit Empe-
dokles.? Der feinste und reinste aller Stoffe aber ist der Geist
(voo?) , in dem Anaxagoras die bewegende und gestaltende
Kraft des Universums erkennt: ,,wie die Dinge sein sollten,
und wie sie geworden sind und jetzt sind und sein werden,
das alles hat der Geist angeordnet". Damit war der Begriff
der Teleologie in die Wissenschaft eingeführt, ein Gespenst,
das noch heute umgeht. Die Weltbildung selbst aber, nachdem
der ,, Geist" einmal den Plan vorgezeichnet und den Anstoß
gegeben hatte, läßt auch Anaxagoras in durchaus mechanischer
Weise vor sich gehen; und so hat sein System allerdings der
duahstischen Naturauffassung den Weg gebahnt, steht aber
selbst in der Hauptsache noch auf monistischem Boden.
Doch die Elementenlehre ist nur eine Hilfskonstruktion,
die unser Denken auf die Dauer nicht befriedigen kann, am
wenigsten in der Gestalt, die ihr Anaxagoras gegeben! hatte.
So griff denn um den Anfang des peloponnesischen Krieges
Diogenes aus Apollonia wieder auf die altionische Vorstellung
von dem einen Urstoff zurück, und zwar sah er diesen,
die Lehre des Anaximenes wieder aufnehmend, in der Luft.
Aber er war, mit Anaxagoras, überzeugt, daß die zweck-
mäßige Ordnung der Welt ein denkendes Wesen als Urheber
fordert, und dies Wesen könne kein anderes als die Luft sein:
,,denn gerade sie, dünkt mich, ist Gott, ist allgegenwärtig und
alles verwaltend und in allem vorhanden. Und es gibt auch
nicht das geringste, das nicht an ihrem Wesen teil hätte".
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte um dieselbe Zeit Anaxa-
goras' bedeutendster Schüler Archelaos. So war denn der
Monismus gerettet, aber um teuren Preis, und der Spott war
nur zu berechtigt, den die Komödie über das neue System
ausschüttete. Die Naturphilosophie hatte ihren eigenen
Bankrott erklärt.
Parmenides' Lehre von der Einheit des Seins und der
Unmöglichkeit der Bewegung fand Verteidiger an seinen
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 16
242 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Schülern Zenon aus Elea und Melissos aus Samos, demselben,
der als Stratege die Verteidigung seiner Vaterstadt gegen
Perikles geleitet hat (oben S. 196) ; durch sie wurde dies System
auch im Osten der griechischen Welt, in Athen und lonien,
bekannt. Dabei wurden, wie es zu geschehen pflegt, die Ein-
seitigkeiten des Meisters noch überboten; Melissos ging so weit,
die Körperlichkeit des Seins überhaupt zu leugnen, weil es
ja sonst Teile haben müsse und keine Einheit mehr wäre;
Zenon suchte durch dialektische Spitzfindigkeiten zu erweisen,
daß die Bewegung, ebenso wie die Vielheit der Dinge durch
das Denken nicht zu begreifen sei, und wir es also nur mit
Sinnestäuschungen zu tun hätten. Die Zeitgenossen waren
außerstande, seine blendenden Trugschlüsse zu widerlegen;
aber es war eine zweischneidige Waffe, die Zenon schwang,
und auch sein eigenes System ist dadurch zertrümmert worden,
denn solche Lehren führten geraden Weges zur Skepsis.
Erkenntnistheoretische Zweifel waren auch sonst auf-
getaucht. Bereits Heraklit hatte gesagt, daß Augen und
Ohren schlechte Zeugen sind, und seine Schule ist darin noch
weiter gegangen. So gelangte Kratylos schließHch dahin,
überhaupt gar kein Urteil mehr auszusprechen, weil ja jeder
Satz die Aussage über ein Sein enthalte, dieses aber in seinem
Wesen nicht erfaßt werden könne. Und wie Heraklit, wenn
auch von ganz anderen Voraussetzungen aus, warnt Empe-
dokles seine Leser, dem Sinnenscheine zu trauen. Doch hat
er sich mit dem Erkenntnisproblem nicht näher beschäftigt.
Auch hier sind die Schüler über den Meister hinausgegangen;
so suchte Gorgias den Beweis zu führen, daß es überhaupt
kein Seiendes gäbe, gäbe es aber auch ein Seiendes, so sei es
doch für uns in seinem Wesen nicht erkennbar, und wäre es
erkennbar, so würde diese Erkenntnis doch nicht mitteilbar
sein. Freihch war es ihm dabei wohl hauptsächlich darum zu
tun, ein blendendes Paradoxon aufzustellen ^.
Dieser Selbstzersetzung der Wissenschaft trat Protagoras
aus Abdera (etwa 480 — 410) entgegen, in seiner Schrift ,,Von
^ Isokr. im Prooemion der Helena, H. Goruperz, Sophistik und Rhetorik,
Leipzig 1912, S. 24 ff.
Erkenntnistheoretische Zweifel. — Protagoras. — Geschichtschreibung. 243
der Wahrheit", durch die er der Begründer der Erkenntnis-
theorie geworden ist. An die Spitze stellte er den berühmten
Satz: „Das Maß aller Dinge ist der Mensch, der seienden,
daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind". Das heißt,
alle Erkenntnis ist relativ, bedingt durch das erkennende
Subjekt. Es sind also sehr viele Auffassungen der Dinge
möglich, die alle subjektiv gleichberechtigt sein können.
Daraus folgt aber natürlich keineswegs, daß Protagoras nun
die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis geleugnet hätte;
seine ganze Tätigkeit als Forscher und Lehrer zeugt laut für
das Gegenteil.
Die erkenntnistheoretischen Zweifel haben es bewirkt,
daß die Forschung sich mehr und mehr von der Naturwissen-
schaft abwandte. Sie fand dafür reichen Ersatz in der Be-
schäftigung mit dem Geistesleben, wo noch so gut wie alles
zu tun war. Die Saat, die einst Hekataeos ausgestreut hatte,
begann jetzt aufzugehen; Akusilaos aus Argos und Pherekydes
aus Leros verfaßten in Hekataeos' Art Werke über die grie-
chische Urgeschichte, und die weltbewegenden Ereignisse der
Perserkirege hatten zur Folge, daß die Geschichtschreibung
sich auch der jüngsten Vergangenheit zuzuwenden begann.
Dionysios aus Milet gab eine Geschichte dieser Zeit \ Charon
aus Lampsakos behandelte die Weltgeschichte im Rahmen
einer Chronik seiner Vaterstadt (ujpoi Aa|uijiaKnvd)v) etwa in
der Art, wie in byzantinischer Zeit Malalas von Antiochien
seine Weltchronik schrieb oder im Mittelalter Giovanni Villani
seine Chronik von Florenz 2.
Doch alle diese Versuche wurden tief in den Schatten
gestellt durch die Geschichte der Perserkriege, die Herodotos
^ Lehn;ann-Haupt, Klio II 337. III 330; zitiert werden rd ,ueTd AapeTov
iv ßißXioK; e' und TTepaiKd, natürlich handelt es sich um dasselbe Werk, das
also, wenn der erste Titel korrekt überliefert und nicht etwa Kord Aapeiov
zu lesen ist, erst die Zeit des Xerxes ausführlicher behandelt haben könnte.
Das einzige, Schol. Herodot. III 61 erhaltene Fragment (fehlt FHG.) bezieht
sich allerdings auf den sog. falschen Smerdis. Über Vermutungen ist hier nicht
hinauszukommen.
2 Vgl. Wiedemann, Philol. XLIV, 1875, S. 171, Schwartz, Art, Charon
in Pauly-Wissowa III 2179. Charon erzählte noch die Flucht des Themistokles
16*
244 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
aus Halikarnassos in Perikles' Zeit verfaßt hat, die erste
groß angelegte historische Darstellung, die überhaupt ge-
schrieben worden ist. Der Kampf zwischen Griechen und
Persern wird aufgefaßt als eine Episode in dem großen Kampfe
zwischen Europa und Asien, der mit dem Raube der lo durch
phoenikische Schiffer seinen Anfang genommen habe; doch
läßt Herodot die mythischen Zeiten beiseite und beginnt
mit der Unterwerfung der ionischen Städte durch die Könige
von Lydien. Darauf schildert er uns die Entstehung und das
Wachstum des Perserreiches und geht dann zu seiner eigent-
lichen Aufgabe über, der Erzählung der Kämpfe der Griechen
gegen Dareios und Xerxes. Den Schluß bildet die Befreiung
loniens durch die Schlacht bei Mykale. Die Darstellung
wird durch Einstreuung reichen geographischen und ethno-
graphischen Materials belebt, das der Verfasser zum großen
Teil selbst auf weiten Reisen gesammelt hat. In der An-
ordnung des Stoffes nahm er sich das Epos zum Vorbild,
wie auch seine Weltanschauung im Grunde noch die alte
homerische ist. Auch Herodot erkennt überall die Hand der
Gottheit, die alles nach ihrem Willen lenkt; aber natürlich
teilt er nicht mehr den naiven Glauben Homers, sondern
steht als rechter Sohn seiner Zeit auf dem rationalistischen
Standpunkt des Hekataeos, für den es keine Wunder mehr
gibt. Von einer wirklichen Einsicht in die Ursachen der
Begebenheiten kann also bei ihm keine Rede sein, um so
weniger, als es ihm an politischen und militärischen Kennt-
nissen ganz fehlte; er beschränkt sich im wesentlichen auf die
Wiedergabe der Berichte seiner Gewährsmänner; nur seine
Sympathien für Athen und seine Begeisterung für die Demo-
kratie treten überall hervor. Aber er hat diese Berichte zu
einem lebensvollen Bilde verwebt, das schon die Zeitgenossen
zur Bewunderung hinriß und uns noch heute mit unwider-
stehHcher Macht in seinen Bann zieht; er hat die Geschicht-
schreibung als Kunstform begründet und ist in dieser Be-
zu Artaxerxes (Plut. Them. 27), hat also jedenfalls nach 465 geschrieben; wie
lange nachher, wissen wir nicht. Die TTepmKCi, die er verfaßt haben soll, werden
mit dem zweiten Teil der '"Qpoi identisch sein.
Herodot. — Wissen und Glaube. 245
Ziehung für alle Folgezeit ein selten erreichtes Vorbild ge-
blieben ^.
Aber schon hatte die Forschung begonnen, die Grundlage
zu erschüttern, auf der Herodots Weltanschauung beruht.
Eine so revolutionäre Zeit, die alles Bestehende vor den
Richterstuhl ihrer Kritik zog, mußte mit Notwendigkeit
dahin kommen, auch die Voraussetzungen des religiösen
Glaubens auf ihre Haltbarkeit hin zu prüfen. Mit den anthro-
pomorphistischen Vorstellungen hatte die Philosophie bereits
aufgeräumt, seit Xenophanes zuerst begonnen hatte, sie zu
bekämpfen. Bei Anaxagoras hatte sich der Gottesbegriff
zur Weltseele verflüchtigt, die zwar den Weltplan ent-
worfen hat, aber in den Verlauf der Dinge nicht eingreift.
Protagoras ist dann noch einen Schritt weiter gegangen.
,,Über die Götter weiß ich nichts zu sagen, weder daß sie sind,
noch daß sie nicht sind, noch welcherlei Art; denn vieles
hindert unsere Erkenntnis, die Dunkelheit des Gegenstandes,
und die Kürze des menschlichen Lebens." Also es gibt keinen
zureichenden Beweis für das Dasein Gottes, freilich auch
keinen entscheidenden Gegenbeweis. Wer so dachte, hatte
mit der Religion abgeschlossen; denn wie kann man Wesen
anbeten, die vielleicht überhaupt nicht vorhanden sind }
Die vollen Konsequenzen daraus hat dann um den Anfang
des peloponnesischen Krieges Diagoras aus Melos gezogen;
er war der erste, der den Mut hatte, die Existenz der Götter
offen zu leugnen. Seitdem blieb diese Frage ein Gegenstand
lebhafter Diskussion unter den Gebildeten, wie sie denn von
Euripides mehrfach auf der Bühne behandelt worden ist.
Der Forschung erwuchs jetzt das Problem, die Entstehung
der Rehgion zu erklären. Während Prodikos von Keos den
Götterglauben aus dem Naturkultus ableitete, was bei der
Durchsichtigkeit der griechischen Mythologie ja sehr nahe lag,
erklärte der Athener Kritias, Piatons Oheim, die Religion
als eine Erfindung kluger Männer, zu dem Zweck, die Massen
durch die Furcht vor den Göttern zu sittlichem Handeln
zu zwingen.
1 Oben I 1 S. 26, unten 2. Abt. § 1, Ed. Meyer, Forschungen II 196 ff.
246 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Der alte Glaube, der das Sittengesetz auf göttliches
Gebot zurückführte, war damit in sein Gegenteil verkehrt.
Der Weg war jetzt frei zu einer Kritik der geltenden Sittlich-
keitsbegriffe. Daß Gesetz und Herkommen keinen Maßstab
für den sittlichen Wert unserer Handlungen abgeben können,
zeigte schon ein Blick auf die so weit voneinander abweichenden
Sitten der verschiedenen Völker. So kam man dahin, der
menschlichen Satzung (vö|uo(;) ein Naturrecht (cpudei ökaiov)
gegenüberzustellen, das allein absolute Geltung beanspruchen
könne. Die Frage war nur, was man denn unter Naturrecht
zu verstehen habe. Daß in der Natur nur das Recht des
Stärkeren gilt, ist klar, und es hat denn auch schon damals
nicht an solchen gefehlt, die das Naturrecht in diesem Sinne
verstehen wollten und die Lehre vom Übermenschen predigten,
dem alles erlaubt sei. Doch das waren natürlich nur ver-
einzelte Stimmen. Demgegenüber betonte Protagoras, daß
wir eben nicht im Naturzustande leben, wie die Tiere, son-
dern innerhalb der menschlichen Gesellschaft, deren Bestand
ohne Achtung vor den Rechten anderer nicht möghch ist;
dieses Gefühl ist denn auch der großen Mehrzahl der Menschen
von Natur eingepflanzt, wer es aber nicht hat, der muß aus
der Gesellschaft gestoßen werden, wie ein Pestkranker ^.
Alle Menschen sind von Natur Brüder, sagt ein anderer Ver-
treter der Aufklärung, der Eleier Hippias, und nur das Gesetz
hat Schranken zwischen ihnen errichtet ^. Es sind die Ge-
danken, die im Staatsleben zur Demokratie geführt hatten,
auf die hier die Sittenlehre gegründet wird.
Und noch in anderer, ebenso folgenreicher Weise wirkte
die Demokratie auf das Geistesleben zurück. Mehr als je vorher
war die Herrschaft über das Wort jetzt unerläßhches Er-
fordernis für jeden, der zu Einfluß und Macht gelangen oder
auch^ nur die eigene Sache mit Erfolg vor Gericht führen
wollte. Da galt es, vor einer Versammlung von mehreren
hundert Geschworenen zu reden, die zum größten Teil den
1 Plat. Proiag. 322 c, s. oben S. 123 A. 2.
^ Wenigstens legt ihm Piaton im Protagoras (337 c) diese Worte in den
Mund. Vgl. Dümmler, Akademika S. 252.
Naturrecht. — Redekunst, — Gorgias. — Die Gerichtsrede. 247
unteren Klassen der Bürgerschaft angehörten und nicht die
Bildung besaßen, um einer etwas verwickeiteren juristischen
Beweisführung folgen zu können; alles hing also von der
Geschicklichkeit ab, mit der die Parteien ihre Sache vorzutragen
wußten. So kam man dazu, darüber nachzudenken, worauf
denn die Wirkung der Rede beruhe, und ob es nicht möglich
sei, dem Mangel natürHcher Begabung durch Kunst nach-
zuhelfen oder die vorhandene Anlage weiter auszubilden.
Der große Empedokles ist einer der ersten, die sich mit diesen
Problemen beschäftigt haben; auf dem von ihm gelegten
Grunde baute sein Schüler Gorgias weiter (geb. etwa 460) ^,
der dann infolge der Zerstörung seiner Vaterstadt Leontinoi
durch die Syrakusier nach dem griechischen Mutterlande
übersiedelte, wo er in Thessalien seinen dauernden Wohnsitz
nahm und lange Jahre, bis an seinen Tod, als Lehrer der Bered-
samkeit tätig gewesen ist. Seinen Ruhm suchte er vor allem
in der Festrede (Xoto? eTTibeiKTiKÖ(;). Er gefiel sich dabei
in einer feierhchen, halb dichterischen Sprache voll kühner
Metaphern und gesuchter Antithesen, mit strenger Responsion
der Satzglieder, wobei die Rede in endlosen Perioden dahinfloß.
Uns erscheint das alles ja unerträghch, die Zeitgenossen aber
waren hingerissen von dem, was ihnen hier, zum ersten Male,
geboten wurde, und gaben sich dem Genuß, solche Reden
zu hören, mit nicht geringerer, vielleicht noch größerer Be-
geisterung hin, wie etwa der Aufführung einer Tragödie oder
eines Dithyrambos. So lange er lebte, ist Gorgias der ge-
feiertste Meister der Redekunst gebheben.
Etwa um dieselbe Zeit hatten in Syrakus Korax und sein
Schüler Teisias die Theorie der Gerichtsrede ausgebildet,
wozu die nach dem Sturze der Tyrannis (465) eingeführten
Volksgerichte die äußere Veranlassung gaben; sie sind auch
die ersten, die Lehrbücher der Rhetorik veröffentlicht haben.
Um die Ausbildung der Kunst des Beweises, der Dialektik,
dieses wesentlichsten Bestandteils der griechischen Rhetorik,
erwarb sich Parmenides' Schüler Zenon große Verdienste,
^ Diels, Gorgias und Empedokles, S.-B. Berl. Akad. 1884. Über Gorgias'
Lebenszeit unten 2. Abt. § 154.
248 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
SO daß er von Aristoteles geradezu ihr Begründer genannt
wird. In derselben Richtung, und mit noch größerem Erfolg,
war um dieselbe Zeit auch Protagoras tätig. Er zuerst hat
den Satz aufgestellt, man könne über jeden Gegenstand zwei
einander widerstreitende Behauptungen aufstellen, und mit der
gleichen subjektiven Berechtigung verteidigen. Thrasymachos
aus Kalchedon, einer der ersten Advokaten dieser Zeit, trat
dann dem gorgianischen Schwulste mit der Forderung ent-
gegen, der Stil der Rede solle nichts anderes sein, als die
idealisierte Sprache des täglichen Lebens, scharf und klar,
mehr durch Gründe wirkend, als durch farbenprächtige Bilder.
Es ist die Sprache, wie sie für die Gerichtsrede paßt.
Die neue Kunst fand bald überall in Griechenland eifrige
Pflege, nirgends mehr als in Athen, seit das dortige Volks-
gericht zum Obertribunal des ganzen Reiches geworden war.
Sie hat hier, kaum begründet, in Antiphon aus Rhamnus,
Kritias, Andokides, dem Geschichtschreiber Thukydides be-
deutende Meister gefunden, bis Athen dann, in der nächsten
Generation, zum hauptsächlichsten Sitz der Beredsamkeit
werden sollte.
Dichter, Künstler und Ärzte waren von jeher in der
griechischen Welt umhergezogen, um Ruhm und Verdienst
zu suchen; es ist selbstverständlich, daß Männer wie Gorgias
und Protagoras sich nicht mit derti engen Wirkungskreise
begnügen konnten, den ihre leontinische oder abderitische
Heimat ihnen bot. Ja die Zerstörung von Leontinoi durch
die Syrakusier im Jahre 423 würde Gorgias auch ohne das
in die Fremde getrieben haben. Die beste Gelegenheit, um
die neue Lehre in die weitesten Kreise zu tragen, boten die
großen Nationalspiele; so hat Gorgias vor den versammelten
Hellenen in Olympia und Delphi zwei seiner berühmtesten
Reden gehalten, und seitdem gehörten dort rhetorische Vor-
träge zu dem stehenden Festprogramm. Ohne etwas Reklame
ging es dabei freilich nicht ab; das Publikum war einmal daran
gewöhnt und wollte es nicht anders. Wie die Rhapsoden
in prächtigem Gewände, den Kranz auf dem Haupte, den
Stab in der Hand, ihre Vorträge hielten, so suchten auch die
Die Gerichtsrede. — Die Sophisten. — Honorare. — Höherer Unterricht. 249
„Lehrer der Weisheit" („Sophisten"), wie sie genannt wurden \
durch gewählte Tracht Aufsehen zu erregen; um ihre Meister-
schaft zu beweisen, waren sie bereit, aus den Stegreif über
jedes Thema zu sprechen, jedem, der es wollte, auf behebige
Fragen Rede und Antwort zu stehen. Männer wie Protagoras
hatten das freilich bald nicht mehr nötig; wohin sie kamen,
öffneten sich ihnen alle Pforten und die vornehme Jugend
strömte ihren Vorträgen zu.
Geistige Arbeit war in Griechenland stets honoriert
worden. Pindar und Simonides haben sich ihre Lieder gut
bezahlen lassen, die dramatischen^Dichter, die bei den Auf-
führungen im athenischen Theater den Sieg errangen, er-
hielten ansehnliche Geldpreise, und vor allem die Ärzte haben
schon damals mit ihrer Kunst sehr viel Geld verdient. Natür-
lich haben auch die Sophisten ihren Unterricht nicht umsonst
gegeben; die Honorare waren anfangs recht hoch, so lange
die neue Kunst noch von wenigen gelehrt wurde, sind dann
aber allmählich heruntergegangen, und selbst die berühmtesten
Sophisten, wie Gorgias, sind durch ihre Lehrtätigkeit doch nur
zu mäßigem Wohlstand gelangt (oben S. 101).
So wurde der griechischen Jugend zum ersten Male ein
höherer Unterricht geboten. Bisher hatte dem Jüngling der
besseren Stände als Ideal vorgeschwebt, Siege in den National-
spielen zu erringen; demgemäß brachte er fast den ganzen
^ In diesem Sinne braucht Pindar {Isthm. V 36) das Wort in bezug auf
die Dichter, Herod. IV 95 in bezug auf Pythagoras. Die Auffassung der Neueren
ist lange durch Piatons Polemik gegen die Sophisten bedingt gewesen; eine
objektivere Auffassung ist dann durch Grote (Hist. of Greece VIII) angebahnt
und namentlich von Th. Gomperz {Gr. Denker I) näher begründet worden.
Einen Rückfall in alte Anschauung bezeichnet H. Gomperz' Sophistik und
Rhetorik (Leipzig 1912); er begeht die petitio principii, erst die Sophisten nach
Piaton zu schildern und sich dann auf Piaton zum Beweise der Richtigkeit
des so gezeichneten Bildes zu berufen. Er sieht in den großen Sophisten des
V. Jahrhunderts, Protagoras allein bis zu einem gewissen Punkte ausgenommen,
nur Redekünstler ohne jedes andere ernste Interesse. Die Frage, wodurch denn
dann die Umwälzung in der griechischen Weltanschauung hervorgebracht
worden ist, die eben in dieser Zeit eintrat, scheint er sich nicht vorgelegt zu
haben.
250 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Tag auf dem Turnplatze zu, während die geistige Ausbildung
sich auf Lesen und Schreiben, etwas Musik und die Kenntnis
der hauptsächlichsten Dichter beschränkte. Die Lehren
der Philosophen und Mathematiker waren nicht über die engsten
Kreise hinausgedrungen, und selbst sozial hochstehende
Männer waren in diesen Dingen meist von krassester Un-
wissenheit. Es war eine seltene Ausnahme, daß Perikles sich
durch Anaxagoras in die Naturwissenschaft einführen ließ
und mit Protagoras über ethische Fragen diskutierte; und
es ist ihm von vielen Seiten verargt worden. Aber schon in der
nächsten Generation wurde einige Bekanntschaft mit der
Redekunst ein notwendiges Erfordernis für jeden, der auf Bil-
dung Anspruch machte; und nicht mit der Redekunst allein,
denn die großen Männer, von denen diese Umwälzung im
griechischen Geistesleben ausging, wußten sehr wohl, daß die
bloße rhetorische Dressur den Redner nicht macht. So war
Protagoras bemüht, seinen Schülern eine tüchtige ethische
Ausbildung zu geben, um sie dadurch zu charaktervollen
Männern zu erziehen, die imstande wären, sowohl ihr eigenes
Hauswesen wie den Staat in richtiger Weise zu leiten. Hippias
aus Elis ging noch weiter und zog auch Mathematik, Astronomie
und Musik in den Bereich seines Unterrichts, während Gorgias
und Thrasymachos sich mehr auf die Rhetorik im engeren Sinne
des Wortes beschränkten. Natürlich wurde das Turnen dadurch
keineswegs aus der Erziehung verdrängt, aber es wurde doch
ein gewisses Gleichgewicht zwischen geistiger und körperlicher
Ausbildung hergestellt.
Das Auftreten der Sophisten brachte im griechischen
Geistesleben eine Umwälzung hervor, so tiefgreifend und
zugleich so plötzlich eintretend, wie vielleicht keine zweite
im ganzen Verlauf der Weltgeschichte. Die alten ionischen
Denker hatten meist jedes Heraustreten in die Öffentlichkeit
verschmäht und ihre Lehre nur einem kleinen Schülerkreise
mitgeteilt; die Versuche, die Xenophanes und nach seinem
Vorbild Parmenides und Empedokles mit einer Popularisierung
der Ergebnisse ihrer Forschung gemacht hatten, waren im
ganzen erfolglos geblieben oder hatten doch nur im Westen
Höherer Unterricht. — Die neue Weltanschauung. — Thukydides. 251
der griechischen Welt eine Wirkung geübt. Erst der Unter-
richt der Sophisten hat der neuen Weltanschauung zum Siege
verhelfen. Die ältere Generation, die um die Mitte des Jahr-
hunderts bereits das fertige Mannesalter erreicht hatte, stand
mit wenigen Ausnahmen der neuen Bildung ablehnend oder
doch teilnahmslos gegenüber, während die damals heran-
wachsende Jugend in ihrer großen Mehrheit sich ihr bedingungs-
los hingab. So ging denn in dieser Zeit ein tiefer Riß durch
die griechische Welt; zwei Weltanschauungen standen fast
unvermittelt einander gegenüber. Sophokles und Euripides
haben nebeneinander für die attische Bühne geschrieben;
der Altersunterschied zwischen beiden betrug noch nicht
20 Jahre und doch trennt sie ein Abgrund; der ältere wurzelt
mit seinem ganzen Denken in der Vergangenheit, während
der jüngere den Ideen Ausdruck gegeben hat, denen die Zu-
kunft gehörte. Euripides' Dramen sind die poetische Ver-
klärung der neuen Bildung; er hat alle die Probleme auf der
Bühne behandelt, die in den Kreisen der Sophisten verhandelt
wurden, ohne Rücksicht auf die Vorurteile der großen Menge,
die meist gar nicht imstande war, seinem Gedankenfluge zu
folgen; und auch die neue Kunst der Rhetorik hat er in den
Dienst seiner Muse gestellt. So hat er zur Verbreitung der
neuen Gedanken vielleicht noch mehr beigetragen, als die
berühmtesten Sophisten seiner Zeit; aber er hat es erkauft
mit dem Verzicht auf jene Popularität, die seinem Rivalen
Sophokles in so reichem Maße zu teil wurde.
Ähnlich wie zwischen den beiden großen Tragikern ist
das Verhältnis zwischen den beiden großen Historikern dieser
Zeit; Thukydides (um 460 geboren) ist kaum 20 Jahre jünger
als Herodot, aber er ist durch die Schule der sophistischen
Bildung gegangen. Bei ihm spielt die Gottheit keine Rolle
mehr; die Geschichte ist ihm einfach ein Produkt ethischer
und politischer Faktoren. An der Stelle der liebenswürdig-
naiven Darstellung Herodots tritt der scharfpointierte, wenn
man will, etwas manirierte Stil, wie er von den Sophisten
gelehrt wurde. Dabei hat Thukydides vor Herodot das Ver-
ständnis poHtischer und mihtärischer Dinge voraus. Einer
252 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
vornehmen Familie Athens angehörig, ist er zum höchsten
Staatsamt, der Strategie, gelangt; ein militärischer Mißerfolg
brachte ihm die Verbannung, die ihn der Vaterstadt 20 Jahre
lang fernhielt (424 — 404). Die unfreiwillige Muße benutzte er
zur Abfassung eines Geschichtswerkes über den großen Krieg
zwischen Athen und den Peloponnesiern, der für ihn selbst
so verhängnisvoll geworden war. Seine Verbindungen stellten
ihm das beste Material zur Verfügung, und er hat es mit
Kritik und im ganzen auch mit Unparteilichkeit verarbeitet;
daß seine persönlichen Sympathien und Antipathien in der
Darstellung gleichwohl überall hervortreten, wird ihm, der
Zeitgeschichte schrieb, niemand zum Vorwurfe machen.
Auch mit der älteren Geschichte hat er sich eingehend be-
schäftigt, und wir verdanken diesen Studien jenen meister-
haften Abriß der Kulturentwicklung des griechischen Volkes,
den er seinem Werk als Einleitung vorangestellt hat. Dabei
werden Forschungsmethoden verwendet und kritische Grund-
sätze, zwar nicht immer befolgt, aber doch aufgestellt, die
unsere Wissenschaft noch heute, besser gesagt, heut wieder
beherrschen. So bleibt Thukydides der Ruhm, die wissen-
schaftliche Geschichtschreibung begründet zu haben; in der
ganzen historiographischen Literatur, die uns aus dem Alter-
tum erhalten ist, nimmt sein Werk den ersten Platz ein. Zu-
gleich ist es auch das einzige große Werk der sophistischen
Periode, das auf uns gelangt ist. So kommen wir leicht dahin,
dem Verfasser als eigenes Verdienst anzurechnen, was er der
Zeitströmung dankte, von der er getragen wurde und in deren
Mitte er stand.
Wenn Thukydides im wesentlichen Zeitgeschichte gegeben
hat, unternahm es sein Altersgenosse Hellanikos aus Mytilene ^,
die gesamte Geschichte des griechischen Volkes seit den
mythischen Zeiten zur Darstellung zu bringen. Besonderes
Gewicht legte er dabei auf die Chronologie, und er hat den
Ruhm, diesen Zweig der historischen Wissenschaft begründet
zu haben. Kritik gegenüber seinen Quellen lag ihm freilich
1 Jacoby, Art. Hellanikos in Pauly- Kroll VIII 104 ff.
Thukydides. — Hellanikos. — Andere Historiker, 253
noch ebenso fern wie Herodot; der Mythos galt auch ihm als
Geschichte. So nahm er zur Grundlage seines chronologischen
Systems das Verzeichnis der Priesterinnen des Heratempels
bei Mykenae, das in seinen echten Teilen immerhin in ziem-
lich frühe Zeiten hinaufreichen mochte, weiterhin aber will-
kürlich bis in die graueste Vorzeit verlängert worden war ^.
Darauf gestützt wußte Hellanikos denn zum Beispiel anzu-
geben, daß die Sikeler in der dritten Generation vor dem
troischen Kriege, als Alkyone im 26. Jahr Priesterin war,
in die nach ihnen benannte Insel hinübergewandert wären ^.
Um die einzelnen Ereignisse, namentHch der mythischen Zeit
in diesen chronologischen Rahmen einzuordnen, bediente
er sich der Rechnung nach Generationen, die ihm von seinen
genealogischen Studien her sehr nahe lag. Auf diesem Wege
bestimmte er die Rückkehr der Herakliden auf das Jahr 1149,
die Zerstörung Troias auf 1209, den Regierungsantritt des
Kekrops auf 1606; Ansätze, die im großen und ganzen für die
griechische Chronologie der späteren Zeit maßgebend ge-
blieben sind. Neben diesem Hauptwerke verfaßte Hellanikos
noch eine Reihe kleinerer Schriften, von denen seine Chronik
Athens Erwähnung verdient als der erste Versuch, die Geschichte
dieser geistigen Hauptstadt Griechenlands darzustellen.
In ähnlichen Bahnen bewegte sich die Forschung des
Damastes aus Sigeion (um 400) ^, der Hellanikos' Schüler
gewesen sein soll, und des Sophisten Hippias aus Elis; letzterer
hat unter anderem ein Verzeichnis der Sieger in den olym-
pischen Spielen zusammengestellt (oben I 2 S. 150). Der
Lyder Xanthos schrieb die Geschichte seines Volkes, in griechi-
scher Sprache; Hippys aus Rhegion behandelte die Geschichte
der Gründung der Kolonien in Italien und Sicilien, und Anti-
ochos aus Syrakus verfaßte ein ausführhches Werk über die
Geschichte der Westhellenen von den ältesten Zeiten bis auf
den peloponnesischen Krieg *. Nicht eigenthch historischen
1 S. oben IIS. 23.
- Hellan. fr. 58 bei Dionys. Archaeol. I 22.
^ Suidas AaitidcTTri?, FHG. II 64.
* S. unten 2. Abt. § 12.
254 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Inhalts scheinen dagegen die ,, Reiseerinnerungen" ('Embr||uiai)
des Ion aus Chios gewesen zu sein; vielmehr diente das Histo-
rische hier, wie später in Piatons Dialogen, nur zur Ein-
kleidung, wobei es mit der Wahrheit nicht so genau genommen
wurde, und namentlich Anekdoten einen breiten Raum ein-
nahmen ^.
Wie die Geschichte als Wissenschaft, so ist auch die
Sprachwissenschaft von der Sophistik geschaffen worden.
Die Beschäftigung mit der Rhetorik mußte von selbst zum
Nachdenken über Bau und Entstehung der Sprache anregen,
und so hat schon Protagoras diese Untersuchungen in Angriff
genommen. Er zuerst hat die Redeteile unterschieden, die
Geschlechter der Nomina, die Tempora und Modi der Verben
bestimmt, und die seitdem gültige Terminologie der Grammatik
geschaffen ^. Auch mit der Frage, ob die Sprache dem Menschen
von Natur (cpucrei) eigen, oder erst durch die Kulturentwick-
lung (vö|Liuj) geschaffen sei, hat er sich beschäftigt und sich
für die letztere Alternative entschieden. Er leitete daraus
für den Sprachforscher das Recht ab, die Anomalien des
Sprachgebrauchs zu verbessern; was ihn denn freihch im
Eifer der Entdeckung zu manchen unhaltbaren Behauptungen
verleitet hat. Auf dem von Protagoras gelegten Grunde baute
dann Prodikos aus Keos weiter, der sich namenthch um die
Synonymik Verdienste erwarb. Gegen Ende des Jahrhunderts
beschäftigten sich Hippias aus Ehs und Demokritos aus
Abdera mit Lautphysiologie.
Schon früher hatte die Kritik und Interpretation der
Dichter begonnen, vor allem Homers, dessen altertümhche
Sprache dem Verständnis so viele Schwierigkeiten bot. In
erster Linie waren es die Rhapsoden, die durch ihren Beruf
auf solche Untersuchungen geführt wurden. Als ältester
wird Theagenes aus Rhegion genannt ^, der bald zahlreiche
^ Vgl. besonders das bei Athen. XIII 603 e erhaltene längere Fragment
über Sophokles, und unten 2. Abt. § 70.
« ZeUer I« 1141.
^ Diels, Vorsokratiker c. 72. Angeblich aus Kambyses' Zeit, was kaum
richtig sein kann.
Sprachwissenschaft. — Homerkritik. — Technische Literatur. 255
Nachfolger fand, wie Stesimbrotos aus Thasos^, in Perikles'
Zeit, und Glaukon aus Teos-. Auch Historiker und Sophisten
haben sich gelcgenthch mit diesen Fragen beschäftigt. Um
die Anstöße zu beseitigen, welche der Inhalt des Epos dem
religiösen und ethischem Empfinden dieser Zeit bot (oben I 1
S. 442), griff man zu allegorischer Erklärung, in der namenthch
Metrodoros aus Lampsakos, ein Schüler des Anaxagoras,
sich auszeichnete: Agamemnon sei der Äther, Achilleus die
Sonne, Hektor der Mond, Helena die Erde, Alexandros die
Luft, und in dieser Art weiter ^. Glaukos aus Rhegion und
Damastes aus Sigeion machten dann, gegen Ende des Jahr-
hunderts, den ersten Versuch einer literargeschichtlichen
Darstellung *.
Überhaupt begann um diese Zeit eine recht ansehnliche
technische Literatur sich zu bilden. Jene große Sammlung
medizinischer Schriften, die uns unter dem Namen des Hippo-
krates überliefert ist, ist im Laufe des V. Jahrhunderts ent-
standen, in der Hauptsache in dessen zweiter Hälfte, zum
Teil unter dem direkten Einflüsse der Sophistik. Polykleitos
und Parrhasios schrieben über die Theorie ihrer Kunst, Iktinos
über den von ihm erbauten Parthenon. Der Handbücher der
Mathematik und Rhetorik ist oben gedacht worden. Auch
Reden, die besonderen Erfolg gehabt hatten, wurden jetzt
durch Abschriften vervielfältigt. Selbst Kochbücher hat es
in dieser Zeit schon gegeben ^. Wer auf höhere Bildung An-
spruch erhob, mußte jetzt seine BibHothek haben, wenn diese
auch noch von recht bescheidenem Umfange war, und dem-
gemäß begann der Buchhandel sich zu entwickeln, dessen
Mittelpunkt natürlich Athen wurde ^.
1 FHG. II 52.
2 Plat. Ion 630 c d, Aristot. Rhet. III 1403 b, doch wohl identisch nait
dem Homeriker Glaukon bei Plat. Ion 530 c d und Aristot. Poet. 25 S. 1461 a.
* Diels, Vorsokratiker c. 48.
* Hiller, Die Fragmente des Glaukos von Rhegion, Rh. Mus. XLI, 1886,
S. 398 ff., Jacoby, Art. Glaukos in Pauly-Wissowa VII 1418. Über Damastes
Suidas u. d. N.
" Plat. Gorg. 518 b, Athen. XII 516 c, Polyd. VI 70 f.
« Birt, Das antike Buchwesen, Berlin 1882, S. 430 ff.
256 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
All dies mannigfaltige Wissen hat Demokritos aus Abdera
zu beherrschen und in seinem Geiste zusammenzufassen ver-
mocht (geb. um 460) ^. Er war ein Universalgenie wie im
folgenden Jahrhundert Aristoteles; wie dieser war er zugleich
Naturforscher und Philosoph oder, wie man damals sagte,
Sophist; und er hat auf beiden Gebieten Großes geleistet, das
Höchste darin, daß er die Ergebnisse der Naturforschung
und des Denkens zu einer einheitlichen Weltanschauung ver-
schmolzen hat, was Aristoteles nie vollständig gelungen ist.
Seine zahlreichen Schriften umfaßten so ziemlich alle Zweige
der damaligen Wissenschaft: Mathematik, Astronomie, Geo-
graphie, Medizin, Biologie, Physik, Erkenntnistheorie, Ethik,
Philologie, Kunstlehre. In seinem Denken steht er unter dem
Einflüsse seines großen Landsmanns Protagoras (oben S. 245 ff. ) .
Namentlich in seiner Ethik hat er sich eng an diesen an-
geschlossen. An und für sich ist nichts gut und schlecht,
sondern nur in Beziehung auf die Empfindungen, welche die
Dinge in uns erregen. Das Recht des Stärkeren ist allerdings
in der Natur begründet, aber es wird gebändigt durch die
Staatsordnung, von deren Bestehen unser ganzes Wohl und
Wehe abhängig ist. Darum besteht die erste Tugend in der
Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft und den einzelnen
MitgHedern; wer diese Pflicht verletzt, wer raubt und mordet,
^ So Apollodor, s. Jacoby, Apollodors Chronik S. 290 fE. Der Ansatz
gründet sich auf Demokrits Angabe im MiKpöc; bioiKoa|LiO(;, er sei v^oi; Kaxd
irpeaßOxriv ÄvaHayöpav gewesen (Diog. Laert. IX 41), und muß also, was das
Geburtsjahr angeht, ungefähr richtig sein; ob er freilich, wie angegeben wird,
ein Alter von 90 (Diod. XIV 11, 5) oder gar von 109 Jahren (Diog. Laert. IX
39. 43) erreicht hat, ist mehr als zweifelhaft. Daß bei Diod. a. a. 0. angegebene
Todesdatum 404/3 kann also sehr wohl richtig sein. Demokrit selbst gab an^
daß er den MiKpöi; bidKoa|Lio? 730 Jahre nach der Eroberung von Troia ge-
schrieben habe (bei Diog. IX 41); nur wissen wir nicht, welcher troischen Ära
er folgte. Jedenfalls gehört seine schriftstellerische Tätigkeit in die Zeit des
peloponnesischen Krieges. Die sehr umfangreiche Sammlung der unter Demo-
krits Namen überlieferten Schriften ist durch Thrasyllos in 15 Tetralogien
geordnet worden; es mögen manche Werke seiner Schüler darunter gewesen
sein. Daß aber die ethischen Hauptschriften, die man, um Sokrates den Ruhm
lassen zu können, der Begründer der wissenschaftlichen Ethik gewesen zu sein,
Demokrit so lange abgesprochen hat, echt sind, ist heut allgemein anerkannt.
Demokrit, — Atomistik. 257
den soll man totschlagen wie eine wilde Bestie. Und zwar
gilt das auch für unseren Verkehr mit den Tieren; nur solche,
die „unrecht tun oder tun wollen", ist es zu töten erlaubt.
Das Rechte aber sollen wir tun nicht aus Furcht vor den
Schrecken der Unterwelt, die nur in der Einbildung be-
stehen, noch vor menschlicher Strafe, sondern weil es das
Rechte ist, aus Achtung vor uns selbst. Das Bewußtsein,
unsere Pflicht getan zu haben, gibt uns jene heitere Ge-
mütsruhe (euGuiLiin), die das höchste Gut ist, das wir erreichen
können. Denn Glück und Unglück hängen nicht von
äußeren Dingen ab, sondern in unserer Seele wohnt unser
guter oder böser Dämon, und nur zur Entschuldigung ihres
eigenen Unverstandes haben die Menschen das Wahnbild
der Tyche erschaffen. Dauernde Befriedigung geben allein
geistige Genüsse, die Betrachtung schöner Kunstwerke, und
vor allem die wissenschaftliche Forschung; denn ,,die
Bildung ist im Glück ein Schmuck, im Unglück eine Zu-
fluchtstätte".
Auch für Demokrits naturwissenschaftliches Denken
bildet Protagoras' Relativitätstheorie den Ausgangspunkt.
Der Sinnenschein trügt, aber hinter der Welt der Erscheinungen
liegt die reale Welt, die wir durch unser Denken zu erkennen
vermögen. Es gibt in Wahrheit nichts als die Materie und
den leeren Raum; und zwar besteht die Materie aus kleinsten
Körperchen, die ewig und unveränderlich sind, und die Demo-
krit deswecren als „Atome" bezeichnet. Sie sind einander an
O ff
Ouahtät gleich, aber verschieden an Gestalt, Größe und darum
auch an Schwere; kraft dieser Schtvere fallen sie im leeren
Räume nach unten, aber mit verschiedener Geschwindigkeit,
und ballen sich infolge dessen zu Körpern zusammen. Die
Schwere und Härte der Körper hängen von der Menge der
Atome ab, aus denen sie bestehen, und davon, wie dicht die
Atome aneinander gedrängt sind; Geschmack und Farbe
von dem Eindruck, den die Atome nach Größe und Gestalt
auf unsere Sinne hervorbringen. Und da es überhaupt
nichts gibt, als Atome und leeren Raum, so muß auch
unsere Seele aus Atomen bestehen, freilich Atomen feinster
17
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. -* '
258 VIII. Abschnitt. — Die Aufklärung.
Art, durch deren Bewegung das Denken hervorgebracht
wird ^.
So war denn ein System der Naturerklärung von groß-
artiger Einfachheit und Folgerichtigkeit geschaffen. Um den
Kosmos zu bilden, genügt Demokrit neben der qualitativ
einheitlichen Materie eine einzige, empirisch nachweisbare
Naturkraft, die Gravitation. Aber erst die moderne Natur-
wissenschaft hat ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen; seine
eigene Zeit war für diese Lehre noch nicht reif. Denn eben,
als das System hervortrat, war die Welt mit Naturphilosophie
übersättigt, und andere Probleme standen im Vordergrund
des Interesses. Auch war ja Demokrits System nichts anderes
als eine Hypothese, die wohl die Forderungen unseres Denken
befriedigt, für die aber ein Beweis nicht zu führen war. So
^ Wie Piaton die atomistische Lehre totschweigen wollte, so hat man
später, als das nicht mehr möglich war, in der platonischen Schule, um Demokrit
etwas am Zeuge flicken zu können, die Behauptung aufgestellt, nicht Demokrit
sei der Urheber dieser Lehre, sondern ein gewisser Leukippos, von dem man
freilich sonst nichts zu sagen wußte, nicht einmal woher er gewesen wäre. Als
angeblichen Lehrer Demokrits machte man ihn zum Abderiten, als Gottes-
leugner zum Melier (was schon im Altertume in MiXriöioq korrumpiert worden
ist), wegen des Einflusses der eleatischen Lehre auf den Atomismus zum Eleaten
und Schüler des Parmenides oder Zenon. Theophrastos meinte, Leukippos habe
den |Li^Ya<; bidKoa|uoi; geschrieben, der sonst überall als Werk Demokrits galt.
Aristoteles nennt da, wo er auf die atomistischen Lehren zu sprechen kommt,
fast immer Demokrit neben Leukippos; er hat also offenbar an die Existenz
des Leukippos nicht recht geglaubt. Epikur, der als Demokriteer doch wissen
mußte, wie die Sachen standen, hat denn auch die Legende von Leukippos aufs
schärfste zurückgewiesen: oijbk AeÜKmiröv Tiva -fefevf\aQai q)iXöaoqpov (Diog.
Laert. X 13). Das beweist jedenfalls, daß Demokrit in seinen Werken Leukippos
niemals genannt hatte, was er doch unbedingt getan haben würde, wenn er
diesem das Wesentlichste seines Systemes verdankte. Das allein würde zur
Entscheidung der Sache genügen. Auch ist es ja an und für sich klar, daß ein
System wie die Atomistik nur von einem großen Naturforscher herrühren kann;
ein solcher war Demokrit, daß es auch Leukippos gewesen wäre, ist durch nichts
zu erweisen. Wenn Diels den Beweis führen will, der Atomismus sei schon vor
Demokrit nachweisbar, so ist das vollständig mißlungen, denn die Sachen können
auch umgekehrt liegen, als er annimmt, und wir wissen ja außerdem nicht,
wann Demokrit zu schreiben begonnen hat. Die ganze Frage sollte durch die
Bemerkungen Rohdes, Kl. Schriften I 205 ff^. erledigt sein, die Diels nicht zu
widerlegen vermocht hat.
Atomistik. — Athen geistiger Mittelpunkt. — Sparta. 259
hat die Atomenlehre bei den Zeitgenossen kaum Beachtung
gefunden, die Schüler aber, die Demokrit hinterließ, sind
immer mehr in erkenntnistheoretischen Zweifeln versunken
und haben darüber das naturphilosophische System des
Meisters vernachlässigt, bis es ein Jahrhundert später Epikur
aus der Vergessenheit zog und zur Grundlage der eigenen
Lehre machte.
Dazu kam noch ein Zweites. Demokrit lebte in dem
abgelegenen Abdera an der thrakischen Küste, und er hat
zwar zu Studienzwecken weite Reisen gemacht, aber es ver-
schmäht, in der Art wie sein Landsmann Protagoras als
Wanderlehrer aufzutreten. So blieb er außerhalb seiner
engeren Heimat unbekannt, namentlich auch in Athen ^.
Und Athen wurde eben damals, wie es schon lange der Mittel-
punkt des Kunstlebens war, auch zum wissenschaftlichen
Zentrum der Nation. Hier wirkte in Perikles' Zeit Anaxagoras,
hier haben, wenn auch meist nur vorübergehend, alle be-
deutenden Sophisten gelehrt. Nur wer in Athen sich An-
erkennung zu erringen vermochte, konnte zum geistigen Führer
der Nation werden.
Wie anders Sparta. Auch dies hatte einst in der Pflege
geistigen Lebens in erster Reihe gestanden; aber diese Zeit
war lange vorüber. Seit den Perserkriegen hatte man hier nur
noch den einen Gedanken, den bösen Geist der Revolution
nicht ins Land zu lassen und schloß sich infolgedessen mit
einer Art chinesischer Mauer gegen alle Neuerungen ab.
Wie man in einer Zeit hochentwickelter Geldwirtschaft kein
Gold und Silber im Verkehr duldete und an dem alten Eisen-
geld festhielt, so wollte man hier von der modernen Musik
und der modernen Bildung nichts wissen, konnten doch die
meisten Spartaner kaum lesen und schreiben 2). So bildete
^ Demokr. fr. 116 Diels bei Diog. Laert. IX 36 r|\0ov yäp €i? ÄGrjvai;
Kai ouTi^ |ue ^YvuJKev. Noch Piaton hat ihn totschweigen können, wenn
er auch vielleicht an einigen Stellen auf ihn anspielt.
^ Isokr. Panath. 209 oiibk. ^pä\x\ji(XTa |LiavGdvou0i, 251 f|v Xäßaiai töv
ävaYVUJGÖ|Lievov. Ganz so schlimm ist es freilich nicht gewesen; Ypd|U|uaTa
?veKa Tf|<; XP^i«? i\x.6.vQavov sagt Plut. Inst. Lac. 4 S. 237. Vgl. Aristot.
Poltt. V 1339 b.
17*
260 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
sich eine tiefe Kluft zwischen Sparta und dem übrigen Hellas ^.
Die Stadt, die der Nation einen Tyrtaeos und Alkman gegeben
hatte, hat im V. und IV. Jahrhundert keinen einzigen Mann
mehr hervorgebracht, der sich auf geistigem Gebiete aus-
gezeichnet hätte.
IX. Abschnitt.
Die Reaktion.
Neue Gedanken werden zunächst immer angefeindet.
Wieviel mehr mußte das bei Lehren der Fall sein, die alles
Bestehende vor den Richterstuhl ihrer Kritik zogen, bereit,
es rücksichtslos zu verwerfen, wenn es die Prüfung nicht
bestand, einer geistigen Bewegung, die vor nichts Halt machte,
nicht einmal vor dem altgeheiligten Götterglauben. Die
ganze ältere Generation, die nicht mehr umlernen konnte
oder doch wollte, die große Masse des Volkes, der für höhere
Bildung jedes Verständnis abging, war also fest überzeugt,
daß jeder ,, Sophist", d. h. nach dem damahgen Sprach-
gebrauch jeder Lehrer der Philosophie und Rhetorik, ein
sittlich verworfener Mensch sei; etwa so, wie heute gläubige
Katholiken sich einen Freimaurer vorstellen, oder viele von
denen, die sich Gebildete nennen, einen Materialisten. Daß
der Unterricht solcher Männer nur zum Verderben der Jugend
führen könne, ergab sich aus solchen Prämissen von selbst.
So unbegründet nun dieser Vorwurf in den meisten Fällen
auch war — man denke nur an die Verurteilung des Sokrates
auf eben diese Anklage hin — so fehlte es dafür doch nicht
an einem gewissen Schein der Berechtigung. Denn was die
Hörsäle der Sophisten füllte, war viel weniger der Wunsch
nach abstrakter philosophischer Bildung, als das Bedürfnis
^ I 77, 6 äjaiKTa yop fä xe koö' i)(iä<; av-covc, vömina xoTi; äXXoiq ^x^^^'
Kai irpoa^Ti ei<; ^Kaaxoq iZubv ouxe xoüxok; xP^toi, ouö' die, f] ä\\r\ 'EXXäq
vofiiZei.
Sparta. — Die Aufklärung und die öffentliche Meinung. 261
nach Aneignung der praktisch verwertbaren Redekunst;
ähnHch wie heute unsere Universitäten sich leeren würden,
wenn sie aufhören wollten, zu einem Brotstudium anzu-
leiten. Die Rhetorik aber ist an und für sich sitthch indifferent.
Sie ist eine Waffe, die dem, der sie besitzt, eine Überlegenheit
über alle anderen gibt, oder damals doch gab; für den Ge-
brauch dieser Waffe ist der Lehrer so wenig verantwortlich,
wie der Verkäufer eines Revolvers verantwortlich ist für den
Mord, den etwa der Käufer damit begeht. Der Redner hat
als Redner nur die eine Aufgabe, die Zuhörer von der Gerechtig-
keit der Sache zu überzeugen, die er vertritt; ob diese Sache
in Wahrheit gerecht ist oder nicht, ist dabei zunächst völlig
gleichgültig. Und je schlechter eine Sache steht, um so größere
Geschicklichkeit von selten des Verteidigers wird erfordert,
wenn sie trotzdem siegreich durchgefochten werden soll.
Insofern hatten die Gegner der Sophistik nicht so unrecht,
wenn sie meinten, die neue Kunst liefe darauf hinaus, die
schwächere Sache zur stärkeren zu machen (töv iittou Xötov
KpeiTTuu TTOieTv). Aber ungerechtfertigt war es, wenn sie der
Rhetorik zum Vorwurf machten, daß sie in ein System brachte,
was empirisch geübt worden war, so lange eine menschliche
Gesellschaft bestand. Und noch ungerechtfertigter, wenn
man die einzelnen Lehrer der Beredsamkeit dafür verant-
wortlich machte. Um so mehr, als die Sophisten, gerade
weil sie die Gefahren einer einseitigen Ausbildung in der
formalen Rhetorik sehr wohl erkannten, gleichzeitig bemüht
waren, ihre Schüler zu sittlich tüchtigen Männern auszubilden.
Daß manche unlautere Elemente in den Kreis der Sophisten
sich eindrängten, daß manche von denen, die aus ihren Schulen
hervorgegangen waren, von den erworbenen Kenntnissen
einen gewissenlosen Gebrauch machten, ist natürlich; aber
die neue Bildung deswegen anzuklagen, war ungefähr ebenso
berechtigt, als wenn jemand heute die Eisenbahnen abschaffen
wollte, weil hin und wieder einmal ein Unfall passiert.
Nicht geringeren Anstoß gaben die naturwissenschaft-
lichen Lehren der Vertreter der Wissenschaft. Daß Anaxagoras
die Gestirne für glühende Steinmassen erklärte, erschien der
262 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
öffentlichen Meinung als Gotteslästerung, und es ist ihm
daraufhin der Prozeß gemacht worden, der ihn zwang, Athen
zu verlassen, obgleich er einen Perikles zum Beschützer hatte
(siehe unten Abschnitt X). Freilich fand er in Lampsakos
ehrenvolle Aufnahme ^; man war eben im asiatischen Griechen-
land, wo die Wiege der Wissenschaft gestanden hatte, auf-
geklärter als in Athen, das nicht ohne Grund den Anspruch
erhob, die gottesfürchtigste Stadt in Hellas zu sein. Auch
Prqtagoras, so vorsichtig er sich über die Götter ausgedrückt
hatte, konnte doch schheßhch einer Anklage wegen Religions-
frevels nicht entgehen, und hielt es für klug, sich dem Richter-
spruch durch die Flucht zu entziehen (etwa 415) ^). Selbst
Euripides soll einmal einen solchen Prozeß zu bestehen gehabt
haben, der aber, falls es wirklich dazu gekommen ist, mit seiner
Freisprechung geendet hat^).
Solche Polizeimaßregeln konnten der Wissenschaft natür-
lich keine Gefahr bringen. Vielmehr war es die Wissenschaft
selbst, die ihren Gegnern den Weg bahnte. Die Spekulation
hatte sich mit kühnem Mute herangewagt an die höchsten
Probleme; aber noch fehlte die empirische Grundlage, auf
der es möglich gewesen wäre, diese Fragen, wenn auch nicht
zu lösen, so doch der Lösung näher zu führen. Was die Philo-
sophie bot, waren im wesentlichen nichts anderes als Hypo-
thesen, die auf dem Wege der Deduktion aus allgemeinen
Prinzipien abgeleitet waren. So wurde denn eines dieser
Systeme nach dem anderen mit leichter Mühe von der Kritik
vernichtet^ bis schließhch die Wissenschaft dahin gelangte,
überhaupt die Möglichkeit aller wahren Naturerkenntnis
zu leugnen (oben S. 242). Schon der alte Xenophanes hatte
das ausgesprochen:
1 Diog. Laert. II 14 f.
^ S. unten 2. Abt. § 154. Daß die Anklage auf Asebie lautete, sagt Timon
fr. 48 W \
^ Satyros Leben des Eurip. X fr. 39 {Oxyrh. Pap. IX). Der Ankläger soll
Kleon gewesen sein, so daß die Sache vor 422 fallen würde. Vgl. Aristot Rhet.
III 1416 a. .
Euripides' Palinodie. — Die religiöse Bewegung. 263
Selbst wer die volle Wahrheit uns enthüllte,
Nie würd' er wissen, ob es Wahrheit ist,
Denn alles was wir sagen bleibt Vermutung.
Die Relativitätstheorie des Protagoras, die Skepsis des Gorgias
sind nur eine weitere Ausführung dieses Gedankens. Diese
Resignation war ja bei dem damahgen Stande des Wissens
nicht ganz unberechtigt; der Fehlschluß lag nur darin, daß
man an Stelle eines mutigen ignoramus ein feiges ignorabimus
setzte.
Es ist diese Stimmung, der der greise Euripides Ausdruck
gibt, in einem der letzten Dramen, die er geschrieben hat,
den Bakchen. Hier, an der Schwelle des Grabes, wendet der
Dichter von der ganzen Weltanschauung sich ab, deren wirk-
samster Vorkämpfer er bis dahin gewesen war. Das ganze
Stück ist eine Verherrhchung jenes enthusiastischen Dionysos-
dienstes, welcher der orphischen ReHgion und auch den
thrakisch-phrygischen Geheimkulten zugrunde liegt. Es
predigt die Lehre, daß menschliche Weisheit nichts ist gegen-
über der von der Zeit geheiligten Überlieferung. Das Leben
ist kurz; es ist Torheit zu grübeln über Dinge, die keines
Sterblichen Geist erfassen kann. Was das schlichte Volk
glaubt, dem soll man sich anschließen. Es kostet ja so wenig,
die Macht der Gottheit anzuerkennen, die durch Naturgesetz
gegeben und deren Verehrnug durch die alte menschliche
Satzung geboten ist ^. So entsagt der Dichter hier allem,
was sein langes Leben hindurch den besten Teil seines Strebens
gebildet hatte. Es ist nicht das Alter allein, das ihm den Sinn
trübt; es ist ebenso die Zeitströmung, die in seinen Worten
zum Ausdruck kommt. Das Wissen, wie es in den Schulen
der Sophisten gelehrt wurde, konnte das Bedürfnis weiter
Kreise nicht befriedigen; sie verlangten nach Glauben.
Freilich, eine Rückkehr zu dem frommen Glauben der
Väter war genau so unmöglich, wie die Rückkehr zu der Ver-
fassung der Ritterzeit, welche die politische Reaktion an- .
strebte. Die Sophistik hatte zu gründliche Arbeit getan.
Aber das religiöse Bedürfnis blieb, und je weniger es in der
1 Bakch. 200 ff. 395 ff. 430 f. 890 ff.
264 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
Staatsreligion Befriedigung fand, desto mehr kamen andere
Kulte in Aufnahme, Jene rehgiösen Reformbestrebungen,
die im VI. Jahrhundert auf enge Kreise der höheren Gesell-
schaftsklassen beschränkt geblieben waren, begannen mehr
und mehr in den Massen Boden zu finden. Die griechische
Welt füllte sich mit orphischen Bettelpriestern und Wahr-
sagern. Sie drohten mit der ewigen Verdammnis allen, die
an ihre Predigt nicht glaubten; dem aber, der sich in ihre
Sekte aufnehmen ließ, versprachen sie, was er nur wünschen
mochte: Vergebung der eigenen Sünden und der Sünden der
Vorfahren, ein seliges Leben im Jenseits, Zaubermittel, um
sich hier unten an seinen Feinden zu rächen. Das alles stand
ja schwarz auf weiß in den Schriften des Orpheus und des
Musaeos ^. Es fanden sich denn auch Gläubige in Menge;
recht fromme Leute liefen jeden Monat mit Weib und Kind
zu den orphischen Weihen ^. Den in diesem Glauben Ver-
storbenen legte man wohl Täfelchen ins Grab, mit Versen
aus den orphischen Schriften, bestimmt, der Seele über ihr
Verhalten bei der Ankunft im Hades Anweisung zu geben,
und sie über ihr Schicksal im Jenseits zu beruhigen ^.
Noch größeren Zulauf fanden die Mysterien, die ja mit
der orphischen Lehre so nahe verwandt waren. Eleusis sah
im V. Jahrhundert seine Glanzzeit, wozu allerdings die poli-
tische Stellung Athens das ihrige beigetragen hat. Aus allen
Teilen von Hellas strömten die Gläubigen zu der heihgen
Feier zusammen; der alte Tempel vermochte die Menge der
Besucher nicht mehr zu fassen und es wurde nötig, einen
Neubau zu errichten, den Iktinos, der Schöpfer des Parthenon,
leitete *. Auf Anregung des delphischen Orakels bestimmte
» Piaton V. Staat II S. 363 c ff., vgl. oben I 1 S. 433.
^ Theophr. Charakt. 16.
^ Goldplättchen mit solchen Versen (aus dem IV. Jahrhundert) sind
mehrfach in Gräbern Unteritaliens gefunden worden, dem alten Sitze der pytha-
goreischen Lehre (oben I 1 S. 432, Dieterich, De hymnis orphicis, Dissert. Mar-
burg 1891, Nekyia S. 81 ff., Leipzig 1894).
* Find. fr. 137 A, Sophokl. fr. 753 N \ Zweimonatiger Gottesfrieden
für die Besucher des Festes: CIA. I 1 und IV 1 S. 3 (bald nach den Perser-
kriegen). Über den Neubau des Tempels Plut. Per. 13 und oben S. 207.
Mysterien von Eleusis. — Mysterien von Samothrake. 265
ein athenischer Volksbeschluß um die Mitte des V. Jahr-
hunderts, daß von allem in Attika und den Bundesstaaten
geernteten Getreide eine Abgabe an den eleusinischen Tempel
entrichtet würde, zum Danke dafür, daß einst Demeter den
Menschen den Feldbau gelehrt hatte; und zwar sollte ^/^% des
Ertrages an Weizen, Vi2% des Ertrages an Gerste der Göttin
geweiht werden. Auch manche von Athen unabhängige
Staaten haben diese Abgabe geleistet, selbst als das athenische
Reich schon in Trümmern lag; Athen und seine Kleruchien
sind dem alten Brauch noch in Alexanders Zeit nachgekommen^.
Zu kaum geringerem Ansehen gelangten die Mysterien,
die auf der Insel Samothrake im Heiligtum der Kabiren
begangen wurden. Diese ,, großen Götter", wie man meist
schlechtweg sagte, galten als Retter in jeder Not und Gefahr
und namentlich die Seefahrer empfahlen sich ihrem Schutze 2.
Der Ursprung ihres Kultus geht in die vorhellenischen Zeiten
zurück; ist doch Samothrake so viel wir wissen überhaupt
niemals von Griechen besiedelt worden (oben IIS. 100),
und auch später, als die Insel längst hellenisiert war, haben
sich im Ritual Reste der alten Sprache erhalten. Ebenso
finden wir den Kult der Kabiren auf dem benachbarten Lemnos,
das erst am Ausgang des VI. Jahrhunderts griechisch ge-
worden ist, und in der Troas, deren griechische Kolonisation
kaum über das VII. Jahrhundert hinaufreicht. Wohl durch
1 CIA. IV 1 27 b S. 59 = Dittenb. Syll. ^ 20, aus der Zeit zwischen 444
und dem Anfang des peloponnesischen Krieges. Daß die Abgabe noch um 380
auch von unabhängigen Staaten entrichtet wurde, zeigt Isokr. Paneg. 31; in
Alexanders Zeit (329/8) steuerten nur noch Athen und seine Kleruchien, vgl.
die eleusinische Tempelrechnung CIA. IV 2, 834 b, Foucart, Bull, de Corr. Hei'.
VIII (1884) S. 211.
2 Robert bei Preller, Mythol. I * 847 ff. ; der Artikel MeTCxXoi Oeoi in
Roschers Lexikon ist ziemlich wertlos. Der Name wurde früher von phoen. kbr
(Vokalisierung unbekannt), hebr. kabir ,, gross" abgeleitet; doch steht diese
Annahme ganz in der Luft, so lange der Kult der Kabiren bei den Semiten
nicht nachgewiesen ist (Herod. III 37 beweist nichts). Est enim quoddam genus
argumeniorum velitare et ad omnem usum aptum illud ex nominibus ductum, quo
res maximal effici possunt (Lobeck, Aglaophamus S. 1282, die ganze Stelle ist
sehr lesenswert). Über das Wesen der Kabiren haben wir nur Vermutungen,
die ich hier nicht um eine neue vermehren will.
266 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
Vermittlung der aeolischen Ansiedler ist dieser Kultus dann-,
etwa im VI. Jahrhundert nach dem boeotischen Mutterlande
gelangt, wo die Kabiren in Anthedon und bei Theben Tempel
hatten, und ebenfalls Mysterien zu ihrer Ehre gefeiert wurden ^.
Auch auf den Inseln des Aegaeischen Meeres und an dessen
thrakischen und kleinasiatischen Küsten hat sich der Dienst
der Kabiren verbreitet; doch hat von allen diesen Stätten
nur Samothrake eine panhellenische Bedeutung gewonnen,
und auch dieses erst seit der Zeit des peloponnesischen
Krieges ^.
In die griechischen Kolonien an den Küsten der Bar-
barenländer sind fremde Kulte natürlich schon sehr früh
eingedrungen. So w^urde der aegyptische Ammon zum Haupt-
gott von Kyrene ^, während der Dienst der Kybele bei den
Griechen Kleinasiens Eingang fand •*. Im V. Jahrhundert
begannen dann auch die Handels- und Industriestädte des
griechischen Mutterlandes sich mit Orientalen zu füllen;
da gab es lydische, phrygische, syrische, aegyptische Kauf-
leute in Menge ^, und die Sklaveilmassen, die immer mehr
anschwollen, stammten in ihrer großen Mehrzahl aus den
Ländern des Ostens oder aus Thrakien. Alle diese Barbaren
hielten zäh fest an ihrem heimischen Kultus; die einzelnen
Landsmannschaften schlössen sich in Korporationen zu-
sammen, um im Hause eines der Mitglieder die heilige Hand-
1 Über das Kabirion bei Theben Athen.. Mitteil. XIII (1888) S. 81 ff.,
412 ff., Kern, Hermes XXV (1890) S. 1 ff. Die Ausgrabungen haben gezeigt,
daß orphische Elemente in den boeotischen Kabirenkultus eingedrungen sind.
Der Athener Methapos, der diesen Kult gestiftet haben soll (Paus. IV 1, 7),
ist rein mythisch.
* Archäologische Untersuchungen auf Samothrake, 2 Bde., Wien 1875. 1880,
Rubensohn a. a. O. Älteste Erwähnungen dieser Mysterien Herod. II 51, Aristoph.
Fried. 277.
' E. Meyer, Ammon in Roschers Lexikon.
* In der uns erhaltenen Literatur ward die Göttin (unter dem Namen
KüßrjXK;) zuerst erwähnt bei dem Ephesier Hipponax (fr. 121) in der II. Hälfte
des VI. Jahrhunderts.
5 Xen. V. d. Eink. II 3; zahlreiche Belege dafür auch in den attischen
Inschriften.
Mysterien von Samothrake. — Aufnahme fremder Kulte. 267
lung ZU begehen ^, Das Fremdartige dieser Zeremonien, das
Geheimnis, mit dem sie sich meist umgaben, konnte nicht
verfehlen, einen tiefen Eindruck auf die griechische Be-
völkerung zu machen; fromme Gemüter glaubten hier den
Weg zum Heil gefunden zu haben. So machten die fremden
Religionen zahlreiche Proselyten, und besonders waren es,
wie immer in solchen Fällen, die Frauen, die sich dazu herbei -
drängten ^.
In dieser Weise gelangte schon um die Zeit der Perser-
kriege der Dienst der phrygischen Göttermutter auch nach
dem europäischen Griechenland; in Athen wurde ihr ein
Heiligtum am Markte errichtet, für das Pheidias' Schüler
Agorakritos die Statue fertigte. Wenig später, etwa in der
ersten Hälfte des IV. Jahrhunderts, erhielt die ,, große Mutter"
auch in Olympia einen Tempel ^. Es folgte der ebenfalls
phrygische Sabazios, ein dem Dionysos verwandter Gott,
dessen Kult mit dem Kult der Göttermutter aufs engste
verbunden war; die phrygisch-thrakischen Korybanten, die
thrakischen Göttinnen Kotyto und Bendis; die letztere erhielt
um die Zeit des peloponnesischen Krieges einen Tempel im
^ Foucart, Des Associations religieuses chez les Grecs, Paris 1873.
* Aristoph. Lysistr. 387 ff., vgl. auch Euripides Bakchen.
' Find. fr. 79. 80; erste Erwähnung des Staatskultes der jarirrip in Athen
CIA. I4 (bald nach den Perserkriegen); wir wissen freihch nicht, ob hier die
Göttermutter gemeint ist oder Demeter, die in Agrae am Ilisos unter dem Namen
ILiriTrip verehrt wurde (CIA. I 273, vgl. 201). Die Statue des Agorakritos in dem
Metroon am Markte (Phn. XXXVI 17, dazu Michaehs, Athen. Mitteil. II S. 1.
A. 2) stellte die Göttin dar mit Löwen am Thron und einem Tympanon in der
Hand (Arrian. Peripl. Pont. Eux. 11 S. 9, vgl. das attische Relief bei Röscher
Lexikon II 1663); also galt sie ihm und seinen Auftraggebern für die phrygische
Göttermutter. Damit stimmen die Tempellegenden (bei Photios und Suid.
lariTpaYÜpTriq und Schol. Aristoph. Pluios 431). Vgl. den Ausspruch des An-
tisthenes: Kai y\ inrixrip TiiJv öeiüv Opuyia iOTiv (Diog. Laert. VI 1). Über
einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Metroon und dem un-
mittelbar daneben liegenden Buleuterion ist in neuerer Zeit viel gefabelt worden;
aber wenn im IV. Jahrhundert das Staatsarchiv sich im Metroon befand, so
erklärt sich das sehr einfach aus der Nähe des Rathauses. Wahrscheinlich ist
das Metroon eben in Agorakritos' Zeit, also unter Perikles, erbaut worden. —
Über das Metroon in Olympia Baudenkmäler von Olympia (Berlin 1892) S. 39 f.
268 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
Peiraeeus, bei dem ihr alljährlich ein glänzendes Fest mit
Fackelläufen gefeiert wurde ^. Aus Kypros kam der Kult des
Adonis und der Aphrodite von Paphos 2. Der Dienst des
Ammon gelangte aus Kyrene nach dem gegenüberliegenden
Lakonien, wo dem Gott in Sparta und dessen Hafenstadt
Gytheion Tempel errichtet wurden; schon Pindar dichtete
einen Hymnus auf ihn, und stiftete ihm auf der Burg von
Theben eine Statue. Seit dem Ausgang des V. Jahrhunderts
gewann das Orakel des Ammon, auf der libyschen Oase,
in Hellas ein Ansehen, kaum geringer als das der altnationalen
Orakelstätten von Dodona und Delphi ^.
Bereits um die Zeit des peloponnesischen Krieges waren
die meisten dieser orientalischen Kulte in Athen weit ver-
breitet. Alle Augenblicke zogen Prozessionen der Verehrer
des Sabazios und der ,, großen Mutter" unter wüstem Lärm
durch die Straßen; am Adonisfest hallte die Stadt wieder
von den Klageliedern der Weiber um den Gott, der in der
Blüte der Jugend dem Tode verfallen war *. Besonders drängte
sich das Volk zu den Weihen, die mit den phrygisch-thrakischen
Kulten verbunden waren. Die Gläubigen versammelten sich
des Nachts, bei rauschender Flötenmusik, unter Trommel-
wirbel und wildem Geheul; bald drehte sich alles in rasendem
Tanze, bis die Ekstase auf den höchsten Grad gesteigert war.
Dann setzten die neu aufzunehmenden Mitglieder sich nackt
auf den heiligen Schemel; dort wurden sie mit Erde und Kleie
abgerieben, und dann mit Wasser gereinigt; dabei wurden
Stellen aus den rituellen Schriften verlesen, voll phrygischer
^ Sabazios: Aristoph. Lysistr. 388, Vögel 875, Wesp. 9 f., Hören fr. 566
Kock; Kotyto schon Aeschyl. fr. 57 N ^ (aus den Edonen), und besonders Eupolis
Bapten, Rapp in Roschers Lexikon Art. Kotys; über die Korybanten Immisch
ebend. Art. Kurefen; über Bendis Piaton im Eingang der Bücher vom Staate,
ihr Kult als Staatskultus bezeugt CIA. I 210 fr. k S. 93 (Anfang des peloponne-
sischen Krieges), CIA. II 741 (aus 334/3).
* Adonis: Aristoph. Frieden 420, Lysistr. 389 ff., Plut. Nik. 13, Alk. 18.
Im Jahre 333 erhielten die in Athen ansässigen Metoeken aus Kition auf Kypros
die Erlaubnis zum Bau eines Aphroditetempels (CIA. II 168).
' Über Ammon vgl. den Artikel Eduard Meyers in Roschers Lexikon.
* Aristoph. und Plut. a. a. 0. (oben A. 2), Demosth. v. Kr. 259 f.
Die fremden Kulte u. d. öffentliche Meinung. — Einfluß a. d, griech. Kulte. 269
Brocken, die kein Mensch verstand; zum Schluß sprach der
Eingeweihte die heihge Formel: ,,ich bin der Sünde entflohen,
ich habe das Heil gefunden". Daran schlössen sich dann weiter
Darstellungen aus der heiligen Legende, wobei die scham-
losen Symbole des orientalischen Aberglaubens offen zur
Schau gestellt wurden. Da die Hefe des Volkes, beide Ge-
schlechter vermengt, an diesen nächtHchen Weihen Teil
nahm, und jede staatliche Aufsicht fehlte, war den ärgsten
Ausschweifungen hier Tür und Tor geöffnet.
Die große Mehrzahl der Gebildeten sah natürlich mit
Ekel auf solches Treiben. Die Komödie wurde nicht müde,
diesen wüsten Aberglauben von der Bühne herab dem Ge-
lächter der Zuschauer preis zu geben; Aristophanes schrieb
ein eigenes Stück, die Hören, dagegen, an dessen Schluß
,,der Phryger, der Flötenbläser, der Sabazios" mit Schimpf
und Schande zur Stadt hinausgejagt wurde. Auch das del-
phische Orakel, das die Konkurrenz der neuen Gottheiten
wie begreiflich sehr ungern sah, ermahnte wiederholt, die
Götter nach dem Brauch der Väter zu ehren ^. Aber die großen
Handelsstädte konnten den zahlreichen ansässigen Fremden
die freie Religionsübung nicht beschränken, und auch unter
der Bürgerschaft hatten die neuen Kulte bereits zu feste
Wurzeln geschlagen, als daß Polizeimaßregeln noch irgend
welchen Erfolg versprochen hätten. Man ließ also die Dinge
gehen und kam, wie wir gesehen haben, schheßhch dahin,
eine Reihe dieser Kulte in die Staatsreligion aufzunehmen.
Auch auf die griechischen Geheimkulte haben diese
orientalischen Rehgionen Einfluß geübt; der Kult der Götter-
mutter und der ihr verwandten Gottheiten drang in die orphi-
schen Mysterien ein und verband sich darin mit dem Dionysos -
dienste ^. So begann hier jene Theokrasie sich vorzubereiten,
die auf die spätere Entwicklung der Rehgion des Altertums
von so unermeßlichem Einfluß gewesen ist. Vor der Unsitt-
lichkeit des asiatischen Gottesdienstes aber bewahrte die
1 Xen. Denkw. IV 3, 16, Cic. Gesetze II 16, 40.
" Eurip. Kreter fr. 472 N -. Altorphisch kann das nicht wohl sein, da die
Göttermutter in der orphischen Theogonie keine Stelle hat.
270 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
Orphiker ihre asketische Lehre, die geschlechtliche Enthaltsam-
keit vorschrieb, oder wenigstens als etwas verdienstliches pries.
Daß freilich auch hier nur zu oft hinter der frommen Maske
ganz andere Wünsche sich bargen, liegt in der Natur der Sache
und kehrt auch sonst bei asketischen Rehgionen ganz ebenso
wieder ^.
Reinere Anschauungen bot der Pythagoreismus. Aus
dieser Quelle stammt wahrscheinlich die Vorstellung, daß die
Seele des Frommen und Gerechten nach dem Tode in den
Himmel eingeht, und nur der Leib auf Erden zurückbleibt.
Sie findet sich in der uns erhaltenen Literatur zuerst bei dem
Sikelioten Epicharmos, dessen Weltanschauung ja so vielfach
von der pythagoreischen Lehre beeinflußt ist ^, Um den
Anfang des peloponnesischen Krieges hat dieser Glaube dann
auch in Athen Verbreitung gefunden. In der Grabschrift,
welche der Staat den vor Poteidaea gefallenen Bürgern setzen
ließ, wird gesagt, daß die Seelen dieser Tapferen in den Äther
eingegangen seien; wohl das einzige Beispiel eines Hinweises
auf eine Fortdauer nach dem Tode in einem öffentlichen
Denkmale dieser Zeit ^. Ebenso hat Euripides dieser An-
schauung mehrfach Ausdruck gegeben ^. Zu anderen Zeiten
wieder hatte er orphische Anwandlungen^:
Wer weiß es, ob das Leben nicht der Tod,
Und erst der Tod dort drüben Leben heißt?
^ Eur. Hippol. 956 öripeuouai yöp cejavoic; Xöyoiöiv, aiaxpa |Lir|xaviu|aevoi.
* Epicharm. fr. 245. 265 Kaibel. Eine verwandte Vorstellung findet sich
in den Xpucrä "Eirri, am Schluß: f|v W ö.'no\d\^ac, a\h\xa ic, aiO^p' ^\eu6epov
IXer]?, Ifföeai äGdvaTOi; Geöi; ä|nßpoTO?, ouk^ti Gvrixöi;, vgl. über den pytha-
goreischen Seelenglauben Diog. Laert. VIII 32, und mehr bei Zeller 1 * 452.
Die Ableitung aus der ionischen Philosophie scheint mir weniger wahrscheinlich ;
ohnehin ist diese Lehre älter als Diogenes von Apollonia.
^ CIA. I 442 Ai6r)p jndju v|juxä? (jireb^EaTO, auu[uaTa hk x6ujv] roivbe.
* Hiket. 533 (vgl. 1140), Chrysippos fr. 839 N «, mit deutlichem Anklang
an Epicharmos. Sehr bemerkenswert Helena 1013 ö voOi; TUJv KaxöavövTUJV
Zf\ \i.^v Ol), YviI^HTiv b' ?xei äOctvoTov de, dGcivaTov [alQip' ^lairecnjuv. Vgl.
Dieterich, Nekyia S. 103 ff., Rohde, Psyche II ^ 258.
ß Polyid, fr. 638 N ^ vgl. Phrixos fr. 833 und Hippol. 189 ff. Im letzteren
Stücke sind Hippolytos selbst und wohl auch die alte Amme der Phaedra An-
hänger der orphischen Lehre.
Pythagoreismus. — Diagoras. — Sokrates. 271
Freilich, die grobsinnliche Eschatologie, wie sie in Eleusis
gelehrt und in der heiligen Handlung mimisch dargestellt
wurde, mußte gebildeten Männern wie ein Mummenschanz
erscheinen. Diagoras aus Melos hatte den Mut, das öffentlich
auszusprechen und dabei überhaupt die Existenz der Götter
zu leugnen; natürlich wurde er dafür in Athen geächtet und
ein Preis auf seinen Kopf gesetzt (kurz vor 431), doch fand
er im Peloponnes eine Zuflucht ^.
Solchen Angriffen gegenüber machte das Bedürfnis sich
geltend, für die Grundlagen der Religion die wissenschaftlichen
Beweise zu geben und so zu einer Weltanschauung zu gelangen,
die Wissen und Glauben versöhnt. Das hatte, von orphischen
Voraussetzungen ausgehend, bereits Empedokles getan (oben
S. 238); Anaxagoras hatte dann, mit seiner Lehre von der
Weltseele (Noos), wenigstens den intelligenten Urheber der
Weltordnung retten wollen (oben S. 241). Auf diesem Wege
ging dann der Athener Sokrates weiter 2. Geboren um 470
als Sohn eines Bildhauers, hatte er, der Sitte gemäß, das väter-
liche Handwerk erlernt, darin aber bald kein Genügen ge-
funden. Schon der Knabe glaubte göttliche Inspirationen zu
haben, eine innere Stimme zu vernehmen, die ihn warnte, zu
tun, was schädlich war; und dieses ,,Daemonion", wie er es
nannte, hat den Mann während seiner ganzen Laufbahn
begleitet. Es konnte auch wohl geschehen, daß er plötzlich
in tiefes Nachdenken versank, und regungslos stehen blieb,
unbekümmert um alles, was um ihn her vorging; einmal,
im Lager vor Poteidaea, soll er einen ganzen Tag und die
folgende Nacht so dagestanden haben. So gab denn Sokrates
1 S. unten 2. Abt. § 153.
- Da Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen hat, kennen wir seine
Lehre nur aus den Werken seiner Schüler, am besten aus Xenophon, denn der
platonische Sokrates ist nur eine Maske, hinter die sich Piaton selbst verbirgt,
und Aeschines' Dialoge sind bis auf wenige Fragmente verloren. Für die sehr
ausgedehnte moderne Literatur muß ich auf die Handbücher der Geschichte
der Philosophie verweisen; sie ist übrigens meist wertlos, da jeder sich seinen
Sokrates nach dem eigenen Bilde zurechtmacht. In der Regel pflegt er weit
überschätzt zu werden; weltgeschichtliche Wirkung hat erst der Sokrates der
platonischen Dialoge geübt.
272 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
sein Handwerk auf, und wandte sich ganz dem Berufe zu,
für den er von der Gottheit bestimmt zu sein glaubte, der
Aufgabe, seine Mitbürger durch Belehrung über ihre sittlichen
Pflichten zu bessern. Freilich nicht als Professor, oder wie
man damals sagte, Sophist; dazu hätte weder seine dürftige
Bildung ausgereicht, noch hätte es seiner Neigung entsprochen.
Vielmehr war er den lieben langen Tag auf dem Markte oder
auf der Gasse zu finden, wo er mit jedem, der wollte — und
müßige Leute gab es in der Großstadt genug — oder auch
nicht wollte, Gespräche anknüpfte über beliebige Themen,
wie sie gerade die Gelegenheit bot. Dank seiner glänzenden
dialektischen Begabung und der beständigen Übung war es
ihm ein leichtes, jeden, der sich in eine Diskussion mit ihm
einließ, in seinen Schlingen zu fangen, selbst Sophisten von
Ruf hatten einen schweren Stand gegen ihn. Dagegen fehlte
es ihm an schöpferischer Begabung, er ist nie dazu gelangt,
ein System zu entwickeln oder überhaupt ein wissenschaft-
liches Werk zu verfassen, und beschränkte sich durchaus
auf die mündliche Lehre. Und da er keinen methodischen
Kursus abhielt, konnte er Honorar nicht beanspruchen;
seine große Bedürfnislosigkeit setzte ihn in den Stand, von
den Zinsen seines kleinen Vermögens zu leben ^.
Für das Verständnis naturwissenschaftlicher Probleme
fehlten ihm die nötigen Kenntnisse; er war, wie alle Frommen
im Lande, der Meinung, daß es gottlos sei, sich mit solchen
Dingen zu beschäftigen. Auch sei es ganz überflüssig; denn eine
wahre Erkenntnis sei doch nicht zu gewinnen, und selbst wenn
sie zu gewinnen wäre, würde sie uns ja nichts nutzen. An
Natursinn fehlt es ihm »anz; die Bäume können mich nichts
^ Gegen die Legende von Sokrates' Armut hat schon Demetrios von
Phaleron Einspruch erhoben (bei Plut. Arist. 1), der allerdings wohl nach der
anderen Seite hin übertreibt. Jedenfalls hat Sokrates nicht zur Thetenklasse
gehört, da er als Hoplit gedient hat. Zwar gab es auch Theten, die auf Staats-
kosten als Hopliten ausgerüstet wurden; aber man wird dazu schwerlich ältere
Männer genommen haben, und Sokrates war bei Poteidaea etwa ein Vierziger,
bei Dehon über 45 Jahre alt. Armut ist eben ein relativer Begriff, und auch
ein Zeugite, der ohne eigene Arbeit leben wollte, mußte sich kümmerlich genug
durchschlagen.
Sokrates. 273
lehren, pflegte er zu sagen. Überhaupt huldigte er einem
platten Utilitarismus. Wir sollen das Gute tun, weil es das
für uns Nützliche ist. Niemand wird sich selbst mit Absicht
Schaden zufügen; es genügt also, die Menschen über ihr wahres
Interesse zu belehren, damit sie diesem Interesse gemäß, d. h.
tugendhaft handeln, denn die Tugend ist weiter nichts, als die
Erkenntnis des wahrhaft Nützlichen, also des Guten. Darum
ist sie lehrbar. Daß in der Menschenbrust neben dem kühlen
Verstände auch Leidenschaften wohnen, kümmerte Sokrates
nicht; wie er sich selbst vollständig in der Gewalt hatte,
forderte er es auch von den anderen.
Es galt nun aber zu bestimmen, was denn das für uns
Nützliche sei; und darin sah Sokrates seine wichtigste Aufgabe.
Er glaubte sie lösen zu können, indem er untersuchte, ,,was
jedes Ding eigentlich wäre", und zwar meinte er, daß es dafür
genüge, jeden Begriff, der in der Sprache gegeben war, durch
eine Definition zu bestimmen. Daß damit kein Wissen zu
gewinnen ist, sondern höchstens eine wissenschaftliche Termino-
logie, sah er nicht, und so lief die Sache auf ein Spiel mit
Worten hinaus. Das ist es, was uns heute die ganze Sokratik
so ungenießbar macht. Er fand denn auch, was er, bewußt
oder unbewußt, suchte, die Bestätigung der geltenden Volks-
moral; darüber hinaus ist er kaum fortgeschritten. Ja die
sokratische Sittenlehre würde geradezu unsittlich sein, wenn
Sokrates wirklich dabei stehengeblieben wäre. Aber Sokrates
war ja nicht bloß Philosoph, sondern vor allem ein Mann
voll tiefer Rehgiosität; und so stellte er die Forderung, daß
wir die Tugend üben sollen, nicht allein darum, weil die Tugend
uns nützt, sondern eben so sehr, weil ein tugendhaftes Leben
ein gottgefälliges ist. Gerade darin zeigt sich die Güte der
Gottheit, daß sie von uns nur das fordert, was zu unserem
eigenen Besten dient. Hier liegt der eigentliche Kern der
sokratischen Lehre. Natürlich mußte, wie alles andere, so auch
die Existenz der Gottheit bewiesen werden; Sokrates fand,
Anaxagoras folgend, den Beweis in der zweckmäßigen Ordnung
der Welt, die nur das Werk eines intelligenten Urhebers sein
könne. Ferner berief er sich auf den consensus gentium, den
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 18
274 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
allgemeinen Glauben aller Völker an das Bestehen einer
göttlichen Weltregierung. Und zwar meinte er, die zweck-
mäßige Einrichtung der Welt sei mit spezieller Rücksicht
auf uns Menschen geschaffen. Über die Frage, ob Monotheis-
mus, ob Polytheismus, scheint Sokrates dagegen keine näheren
Untersuchungen angestellt zu haben, wie er sich überhaupt
dem Volksglauben möglichst anschloß, das Ritual beobachtete,
und auf Orakelsprüche und die ganze Mantik großes Gewicht
legte. Daß er dabei die geläuterten Vorstellungen von dem
Wesen der Gottheit annahm, wie sie zu seiner Zeit im Bewußt-
sein der Gebildeten lebten, und von den großen Dichtern
seit Simonides ausgeprägt waren, ist selbstverständHch.
Den orphischen Lehren dagegen und den Geheimkulten
überhaupt stand er ganz fern, und er hat denn auch die Un-
sterblichkeitslehre nicht angenommen, oder doch nur als
Hypothese betrachtet, weil man von den Dingen nach dem
Tode nichts sicheres wissen könne.
Der großen Menge erschien Sokrates als Sonderhng, noch
mehr als die Sophisten von Beruf, die doch wenigstens mit
ihrer Kunst Geld machten. In intellektuellen Kreisen aber
wurde er ein gern gesehener Gesellschafter, dem alle Türen
sich öffneten, und so begann, etwa seit dem Anfang des pelo-
ponnesischen Krieges, eine größere Zahl Schüler sich um ihn
zu sammeln. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft; junge
Männer aus den ersten Familien Athens, wie Alkibiades,
wie Kritias und seine Vettern Piaton und Glaukon, wie Hermo-
genes, der Sohn des Hipponikos, des reichsten Mannes der
Stadt, und daneben Leute geringeren Standes wie der Hand-
werker Aeschines und Antisthenes, der Sohn einer thrakischen
Sklavin. Auch Fremde kamen, um Sokrates zu hören; so
Kebes und Simmias aus Theben, Eukleides aus Megara,
Aristippos aus Kyrene. Um die Zeit des Nikiasfriedens war
Sokrates bereits der berühmteste Philosoph in Athen, so daß
Aristophanes eben ihn zum Protagonisten des Stückes sich
ausersah, in dem er die Bestrebungen der ,, Sophisten" in
komischer Verzerrung dem Pubhkum von der Bühne aus
vorführte. Wirkung auf weitere Kreise aber hat Sokrates
Sokrates. — Politische Reaktion, — Volksbildung. 275
Lehre erst gehabt, als die Schüler, nach dem Tode des Meisters,
sich an die breite Öffentlichkeit wandten, und ihr in literari-
schem Gewände die sokratischen Gespräche zugänglich machten,
ein jeder so, wie er sie aufgefaßt hatte.
Mit der Reaktion auf geistigem Gebiete ging eine politische
Reaktion Hand in Hand. Waren doch Wissenschaft und
Demokratie derselben Wurzel entsprossen; aber wie die
Wissenschaft durch unfruchtbare Skepsis ihren theologischen
Gegnern den Weg gebahnt hatte, so war es zum großen Teil
die Schuld der Demokratie, wenn die öffentliche Meinung
jetzt begann, sich von ihr abzuwenden. Gleiches Recht für
alle war das Zauberwort gewesen, das um die Zeit der Perser-
kriege die bestehenden Staatsordnungen umgestürzt hatte,
um die Majoritätsherrschaft an deren Stelle zu setzen. Aber
als nun das Ziel erreicht war, begann man inne zu werden,
daß auch hier die Wirklichkeit ganz anders aussah, als die
Theorie. Denn die niederen Volksklassen waren noch keines-
wegs reif für die Ausübung der politischen Rechte, in dem
Maße, wie sie ihnen von den demokratischen Verfassungen
geboten ward.
Allerdings, die Kenntnis des Lesens und Schreibens war
in Athen ziemlich allgemein verbreitet, obgleich es auch hier
Ausnahmen gab ^. Doch was wollte das sagen in einer Zeit,
wo Bücher, schon wegen ihres hohen Preises, der großen
Menge so gut wie ganz unzugänglich waren. Die musische
und gymnastische Bildung aber war durchaus auf die höheren
Klassen beschränkt; der Mann aus dem Volke wußte meist
von den Dichtern nicht mehr, als unser Volk von Schiller
und Goethe ^. Auch der bildende Einfluß der Teilnahme
^ In der Zeit der Perserkriege war es in Athen möglich, beim Ostrakismos.
die schriftliche Abstimmung einzuführen; doch vgl. die Anekdote bei Plut
Aristeid. 7. Auch der Wursthändler bei Aristoph. Ritt. 188 kann zur Not lesen,
sonst ist er freilich ganz ungebildet. Der Hirt, der in Euripides Theseus (fr. 385)
eine Botschaft ausrichtet, kann nicht lesen; der Dichter mag sich ihn aber als
Sklaven gedacht haben.
= Aristot. Poet. 9, 8, Polit. VIII 1342, vgl. oben S. 228. Daher die Gering-
schätzung, mit der die küXoI KÖToGoi auf die ßdvauaoi herabsahen. Vgl.
18*
276 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
am politischen Leben, wie sie die Demokratie jedem Bürger
bot, darf nicht überschätzt werden; schon darum, weil es nur
ein Bruchteil der Bürgerschaft war, der die Volksversammlung
regelmäßig besuchte ^, oder an den Sitzungen der Heiiaea
Anteil nahm. Welches Verständnis für Fragen der äußeren
Politik oder für verwickelte Finanz- und Verwaltungsfragen
war also bei den Proletariern vorauszusetzen, welche die Volks-
versammlungen füllten, und deren Stimmen dort den Aus-
schlag gaben.'* Die Menge mußte notwendig zum willenlosen
Werkzeug werden in den Händen derer, die es verstanden
hatten, sich ihr Vertrauen zu erwerben. Der sicherste, jeden-
falls der einfachste Weg dazu war aber, der Masse des Volkes
auf Staatskosten materielle Vorteile zu verschaffen. Selbst
ein Perikles hat diesen Verhältnissen mehr Konzessionen
machen müssen als gut war; was war da von Staatsmännern
niedrigerer Gesinnung zu erwarten ? So wuchs in wenigen
Jahrzehnten ein Demagogentum heran, das den gemeinen
Instinkten der Massen schmeichelte, um auf die Massen ge-
stützt den Staat zum eigenen Nutzen auszubeuten.
Das war schlimm genug, aber es wäre zu ertragen ge-
wesen. Gegen die Macht der Volksversammlung bildeten
die Beamten ein Gegengewicht, die der Natur der Sache
nach in ihrer großen Mehrzahl aus den besitzenden und ge-
bildeten Klassen hervorgingen. Auch mußten Anträge, über
die in der Volksversammlung abgestimmt werden sollte,
erst durch den Rat gehen, und wenn dieser auch nichts weiter
war, als ein Ausschuß aus der Versammlung, meist, wie in
Athen, durch das Los bestimmt, so war es doch in einer solchen
Körperschaft leichter, verständigen Anträgen Gehör zu schaffen;
und der Ratsbeschluß wurde dann in der Regel vom Volke
ohne weiteres angenommen. Auch konnte jeder gesetzwidrige
Volksbeschluß vor Gericht angefochten werden, und blieb
dann bis zur Entscheidung der Sache suspendiert. Die gesetz-
[Xen.] Staat d. Athen. I 5 iv bi tlü br||LiLU ä|ua6ia re uXeiöxr) Kai draEia
Kai TTovripia' r\ re yäp irevia aijTovc, |uä\Xov äyei ^iri toi aiaxpd Kai f]
diTaibeuöia Kai x] ä|aaGia.
1 Thuk. VIII 72.
Die Gefahren der Massenherrschaft. — Verwaltung. — Rechtspflege. 277
gebende Macht endlich stand zwar natürlich dem souveränen
Volke zu ; die Ausübung dieses Rechtes aber war durch so viele
verfassungsmäßige Kautelen eingeschränkt, daß hier unüber-
legte Beschlüsse nicht leicht gefaßt werden konnten. Es blieb
ja trotzdem für Mißbrauche aller Art Tür und Tor offen;
aber die Gefahren der Massenherrschaft waren auf dem Gebiete
der Verwaltung doch zum großen Teil paralysiert, und wenn
die besitzenden Klassen in den griechischen Demokratien
sich hier über etwas zu beklagen hatten, so war es haupt-
sächlich über den hohen Steuerdruck. In Athen fiel auch
das fort, da die Staatsbedürfnisse im wesentlichen mit den
Einnahmen aus den auswärtigen Besitzungen und den Tributen
der Bündner bestritten wurden, bis der peloponnesische Krieg
auch hier dazu zwang, die Steuerkraft der Bürger in Anspruch
zu nehmen.
Was aber ganz unerträglich war, waren die Zustände
in der Rechtspflege. Die griechische Demokratie ging von
dem Grundsatze aus, daß jeder Bürger, der ein gewisses Alter
erreicht hatte (in Athen, und in der Regel wohl auch sonst,
30 Jahre) zum Geschworenen qualifiziert sei. Wenn aber
arme Leute auf der Richterbank saßen, lag die Gefahr der
Bestechung sehr nahe; nicht weil die Armen an sich bestech-
licher gewesen wären, als die Reichen, sondern weil sie natür-
lich für eine viel geringere Summe zu haben waren. Um dieser
Gefahr zu begegnen, gab es nur das Mittel, die Gerichtshöfe
aus Hunderten von Geschworenen zusammenzusetzen. Eine
so große Zahl von Richtern konnte aber auf die Dauer nur
dann zusammengebracht werden, wenn der Staat sich ent-
schloß, ihnen für das Opfer an Zeit und Mühe einen Ent-
gelt zu gewähren (oben S. 155). Das mußte dann weiter zur
Folge haben, daß die Bürger der ärmeren Klassen sich zum
Richteramt drängten, denn es war ja sehr viel bequemer,
den Sold für eine Sitzung in der Gerichtshalle zu empfangen,
als den Tagelohn im Schweiße des Angesichts zu erarbeiten.
In demselben Maße aber zogen die Wohlhabenden sich von
dem Amte zurück; die karge Entschädigung konnte für sie
nicht in Betracht kommen, und für den Ausfall des Urteils
278 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
blieben doch die Stimmen der Proletarier entscheidend, die
unter den Geschworenen die große Mehrzahl bildeten. Auch
war es wahrhaftig kein Vergnügen, halbe Tage lang unter
dem stinkenden Pöbel zu sitzen ^. So wurden die Volks -
gerichte, je länger je mehr, zu einer Domäne der unteren
Klassen der Bürgerschaft, und es bildete sich jenes Ge-
schworenenproletariat, das die Komödie uns mit so unüber-
trefflicher Lebendigkeit schildert.
Und nun vergegenwärtige man sich eine Versammlung
von zweihundert, fünfhundert, ja tausend solcher Geschwo-
renen, berufen, über die verwickeltsten Fälle in politischen,
Kriminal- und Zivilprozessen das Urteil zu sprechen. Von
der Bildung einer selbständigen, juristisch begründeten An-
sicht konnte bei Richtern dieser Art nur sehr selten die Rede
sein; in der Regel mußte es von der größeren oder geringeren
Geschicklichkeit des Anklägers oder Verteidigers abhängen,
ob der Wahrspruch so oder so ausfiel. Und doch war die
Unwissenheit der Richter noch immer das kleinere Übel.
Wo nur das Mein und Dein in Frage kam und die Geschworenen
von dem Ausgang des Prozesses nicht persönlich berührt
wurden, also in der Mehrzahl der Fälle, war immerhin zu
erwarten, daß sie ihren Spruch nach bestem Wissen und
Gewissen abgeben würden. Aber wie, wenn es sich um einen
Prozeß handelte, der das ganze öffentliche Leben des Staates
in seinen Grundfesten aufwühlte, die Anklage z. B. eines
hervorragenden Staatsmannes oder Feldherrn.'* Wohl werden
überall die Entscheidungen im politischen Prozeß von der
Strömung des Tages beeinflußt sein, so lange Menschen auf
der Richterbank sitzen. Aber um wie viel mehr mußte das
nicht der Fall sein bei einem solchen vielhundertköpfigen
Gerichtshofe, einer Volksversammlung im Kleinen, von den-
selben Leidenschaften wie diese bewegt, wo das Gefühl der
Verantwortlichkeit durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit
des einzelnen Stimmsteines abgestumpft wurde.? Die lange
Reihe ungerechter Wahrsprüche, die von Perikles bis Phokion
^ Aristoph. RiUer 898.
Rechtspflegfe — Konfiskationen. — Sykophanten. 279
durch die ganze Geschichte der athenischen Volksgerichte
wie ein roter Faden sich hinzieht, ztigt nur zu deutlich, was
von einem solchen Tribunal zu erwarten stand.
Aber auch das war noch immer das Schlimmste nicht.
Die chronische Finanznot der meisten griechischen Demo-
kratien, die zum großen Teil eben durch die Aufwendungen
zugunsten der „enterbten" Klasse verursacht war, führte
dahin, das Defizit im Staatshaushalt durch Konfiskationen
zu decken, für die politische Prozesse den Vorwand abgeben
mußten. Seit der Zeit des peloponnesischen Krieges wurde
es etwas ganz gewöhnliches, daß der Ankläger die Geschworenen
aufforderte, einen Angeklagten schuldig zu sprechen, damit
aus dem eingezogenen Vermögen der Richtersold bestritten
werden könne, für den sonst keine Mittel vorhanden seien ^.
,,Es ist eine bekannte Sache", sagt ein attischer Redner,
,,daß der Rat, wenn genug Geld in den Kassen ist, das Recht
nicht verletzt; wenn der Staat sich aber in Finanznot befindet,
dann kann der Rat nicht umhin, Denunziationen entgegen
zu nehmen, das Vermögen der Bürger zu konfiszieren und
den Anträgen der verworfensten Redner Folge zu geben" ^.
Solche Zustände zogen das Sykophantentum groß, das
bereits in den letzten Jahrzehnten des V. Jahrhunderts in
Athen einen erschreckenden Umfang gewonnen hatte. Es
war ungefähr dasselbe, was heute die Revolverpresse ist,
nur daß die Sache in sehr viel größerem Maßstabe betrieben
wurde und ohne daß der Staat sich ernstlich ins Mittel
gelegt hätte. Gewandte Advokaten machten ein Geschäft
daraus, von reichen Leuten unter der Bedrohung mit einer
Anklage Geld zu erpressen; und da bei der Zusammensetzung
der Geschworenengerichte der Ausgang eines Prozesses
schlechterdings nicht zu berechnen war, hatte das Manöver
in den meisten Fällen den gewünschten Erfolg ^. Wer sich
dagegen schützen wollte, dem bheb kaum ein anderes Mittel,
1 Aristoph. Riiier 1358 ff., Lysias (27) g. Epikr. 2.
* Lysias (30) g. Nikom. 22, vgl. [Xen.] Staat der Athen. I 13, Aristot. Polit.
VI 1320 a.
^ Vgl. Westermann Art. auKoqpctvxri? in Paulys Real-Emyklopädie.
280 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
als selber einen Sykophanten zu besolden, der dann seinen
Genossen das Handwerk legte ^.
Aber die demokratische Bewegung blieb hierbei nicht
stehen und konnte nicht stehen bleiben. Wenn die Gleichheit
der politischen Rechte aller Bürger einmal verfassungsmäßig
anerkannt war, war es dann nicht eine logische Konsequenz
dieses Grundsatzes, daß alle Bürger auch an Besitz gleich
sein sollten.? Die Macht dieses Gedankens war so stark, daß
selbst Männer, die alles andere waren als Demokraten, sich
ihr nicht entziehen konnten; in allen Idealverfassungen dieser
Zeit kehrt diese Forderung wieder, mochte man nun das
Eigentum selbst verteilen wollen, oder nur denErtrag, den
das Eigentum brachte. Wie allgemein diese Frage in Athen
diskutiert wurde, zeigt die ,, Weiberversammlung" des Aristo -
phanes, ein Stück, in dem der Dichter seinen Zuschauern die
Folgen der Verwirklichung solcher Ideen auf der Bühne vor
Augen stellt. Es hat denn auch nicht an Versuchen gefehlt,
die Theorie in die Praxis hinüberzuführen. So wurde in Leon-
tinoi im Jahre 423 der Beschluß gefaßt, das gesamte Grund-
eigentum an alle Bürger neu aufzuteilen, was dann zur Folge
hatte, daß die Besitzenden sich den Syrakusiern in die Arme
warfen und mit deren Hilfe den Pöbel und seine Führer aus
dem Lande jagten 2. Auf Samos wurden im Jahr 412 die
Grundbesitzer mit Hilfe der Athener erschlagen oder ver-
trieben, und ihre Häuser und Felder unter die Menge ver-
teilt ^. Überhaupt war fast jede tiefer gehende politische
Umwälzung mit mehr oder weniger einschneidenden Ände-
rungen in den Besitzverhältnissen verbunden; und wenn
es auch im allgemeinen nur selten zu so extremen Maßregeln
kam, wie in den Fällen, die eben erwähnt wurden, die Mög-
lichkeit einer Konfiskation ihres Eigentums hing doch be-
ständig wie ein Damoklesschwert über den Häuptern der
Besitzenden.
^ Xen. Denkw. II 9.
2 Thuk. V 4, unten S. 354.
» Thuk. VIII 21, unten S. 385.
Reform der Besitzverhältnisse. — Umschwung in der öftentlichen Meinuno-. 281
So war denn die Demokratie, die das gleiche Recht Aller
auf ihre Fahne geschrieben hatte, zur Klassenherrschaft
geworden, kaum besser als die, welche im VII. Jahrhundert
bestanden hatte, nur daß der Druck jetzt von unten kam,
statt wie damals von oben. Demgegenüber traten alle Gegen-
sätze innerhalb der besitzenden Klasse selbst in den Hinter-
grund ^. Das war um so leichter, als ein eigentlicher Interessen -
konflikt zwischen Grundbesitz und mobilem Kapital sich
noch kaum hatte bilden können; die griechischen Staaten
waren dazu viel zu klein, die Geldwirtschaft zu wenig ent-
wickelt, der Grundbesitz die einzige wirklich sichere Kapital-
anlage ^. ,,Es ist verzeihhch", schreibt ein Zeitgenosse des
peloponnesischen Krieges, ,,wenn ein Mann aus dem Volke
demokratisch gesinnt ist, denn jedem ist es zugute zu halten,
wenn er für seinen eigenen Vorteil sorgt; wer aber nicht zum
gemeinen Volke gehört und doch lieber in einer Demokratie
leben möchte als in einer OHgarchie, der denkt im Trüben
zu fischen und weiß, daß seine Schurkereien in einem demo-
kratischen Staate eher ungestraft durchgehen, als in einem
oligarchischen" ^. So wandte sich denn die öffentliche Meinung,
die ja von den besitzenden und gebildeten Klassen gemacht
wird, immer mehr von der Demokratie ab. In Athen wurde
die Komödie nicht müde, die Auswüchse des herrschenden
Systems mit beißendem Spotte zu geißeln, und die Führer
der demokratischen Partei anzugreifen, zuerst Perikles, dann
^ Aristot. Polit. V 1304 b ai |u^v ouv brj^oKpaTfai |Lid\iaTa jueToßdXXouai
öid xriv Tüjv briiuaYuuYiI'v haÖc^^mv xd |uev yöp fb{a GUKoqpavxoövTe«; toCk;
Tdq ouaiai; ^xovra^ auaTp^qpouoiv auToüq (öuvdYei yäp Kai toO<; dxöicTTOuc;
ö Koivö(; qpößoc;), xd bd Koivfj xö TTXf|0o<; dtrdYovxei;.
^ [Xen. ] Staat d. Athen. II 14 stellt die Y^w^PTOÖvxe^ Kai irXoucTioi
in Gegensatz zum Demos, ebenso Aristoph. Ekkl. 197 f. Nikias hatte haupt-
sächlich bewegliches Vermögen (Lys. vAristophVerm. 47), der reiche Bankier
Pasion hatte einen beträchtlichen Teil seines Vermögens in Grundbesitz an-
gelegt (unten Bd. III). Überhaupt ist der Literatur dieser Zeit der Interessen-
gegensatz zwischen Grundbesitz und mobilem Kapital noch ganz fremd. Wenn
Xenophon Oekon. VI 6 die xexvixai (Handwerker) den y^^PTOI (Bauern)
entgegenstellt, so ist das etwas wesentlich anderes.
3 [Xen.] Staat d. Athen. II 20.
282 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
in schärferer Tonart Kleon, Hyperbolos, Kleophon und wie
sie alle heißen. Thukydides hält die demokratische Staatsform
für einen ganz offenbaren Wahnsinn, worüber man unter
verständigen Leuten kein Wort zu verlieren brauche ^. So-
krates erklärte es für eine Torheit, daß man die Staatsämter
durch das Los besetze, während doch niemand daran dächte,
etwa einen Steuermann, oder einen Baumeister oder Flöten-
spieler durch das Los zu ernennen ^. Später hat Piaton sich
überhaupt vom Staatsleben ferngehalten, weil in der Demo-
kratie eine ersprießliche politische Wirksamkeit doch nicht
möglich sei.
Die so dachten, richteten naturgemäß ihre Augen auf
Sparta, den Staat, der fast allein in Griechenland seine alte
Verfassung durch die Stürme der Zeit nach den Perserkriegen
bewahrt hatte, und der jetzt der einzige sichere Hort der
konservativen Interessen schien. So wurde die Bewunderung
der spartanischen Verfassung und überhaupt des spartanischen
Wesens Mode bei der gebildeten Jugend; und da es leider
mit der Einführung spartanischer Institutionen noch gute
Wege hatte, so begnügte man sich einstweilen damit, die
Äußerlichkeiten des spartanischen Wesens nachzuäffen. Die
athenischen Stutzer gefielen sich darin, in langem Haar, mit
schmutzigen Händen, im kurzen spartanischen Mantel und
lakonischen Schuhen durch die Straßen zu laufen; als Sport
betrieben sie, wie die Spartaner, den Faustkampf, und waren
auf ihre zerhauenen und verquollenen Ohren nicht weniger
stolz, als unsere Korpsstudenten auf ihre Renomierschmisse ^.
Das war ja nun alles sehr kindisch und an sich auch sehr
harmlos; aber es war ein charakteristisches Symptom für die
Strömung der öffentlichen Meinung, und die Stimmung, die
^ Thuk. VI 89, 6 ^Ttel br||U0KpaTiav fe koI dYiTvÜJöKo.uev oi qppovoövTei;
Ti, Kai axixöq otbevöq äv xeipov, öölu koi * \oibuupri0ai|ui " äX\ä -rrepi ö,uo-
XoYouinevri? ävoiaq oub^v öv koivöv Xd^oiTO.
2 Xen. Denkw. I 2, 9.
* Plat. Protag. 342 b c, Demosth. gKonon 34 S. 1267. Der Komödie bot
diese Lakonomanie natürlich einen dankbaren Stoff, vgl. Aristoph. Wesp. 475 f.,
Vögel 1193 ff., Piaton fr. 124 Kock usw.
Lakonomanie. — Idealverfassungen. — Die Verfassung der guten alten Zeit. 283
sich darin ausspricht, fand auch in ernsteren Bestrebungen
ihren Ausdruck. ^
Denn eben die spartanischen Staatseinrichtungen sind
es gewesen, woran die ersten Versuche angeknüpft haben,
auf rationellem Wege eine Idealverfassung zu entwerfen.
So der Begründer der griechischen Staatswissenschaft, der
große Mathematiker Hippodamos aus Milet, in Perikles' Zeit.
Er verlangte, nach spartanischem Vorbild, eine ständische
Gliederung der Bevölkerung; und zwar sollte es drei Stände
geben: Krieger, Bauern und Handwerker. Allerdings sollten,
im Gegensatz zu Sparta, auch die Bauern und Handwerker
volles Bürgerrecht haben, so daß die Verfassung des Hippo-
damos sich darstellte als ein Kompromiß zwischen der spar-
tanischen Staatsordnung und der Demokratie; aber schon
Aristoteles hat mit Recht bemerkt, daß tatsächlich der Krieger-
stand zum ausschlaggebenden Faktor in einem so organi-
sierten Staate hätte werden müssen ^. Auch die Idealver-
fassung, die um dieselbe Zeit oder wenig später Protagoras
von Abdera entwarf, scheint auf dem ständischen Prinzip
beruht zu haben; doch wissen wir darüber nichts Näheres ■^.
Die große Menge der Gebildeten aber hatte ganz andere
Ideale. Wie schön war es zu der Väter und Großväter Tagen
gewesen, gegenüber der schlechten Gegenwart; war es da nicht
das Einfachste, zu den Zuständen jener Zeit zurückzukehren ?
Aristophanes und die attische Komödie überhaupt schildern
wieder und wieder die gute alte Zeit der Marathonkämpfer;
Eupolis ließ in einem seiner Stücke die großen Staatsmänner
der Vergangenheit aus dem Hades heraufsteigen, um der
lebenden Generation gründlich den Text zu lesen. Selbst
Perikles, der doch so viel getan hatte, um die radikale Demo-
kratie zu vollenden, der bei seinen Lebzeiten deswegen so
bitter bekämpft worden war, erschien gut konservativen
» Aristot. Polit. II 1267 b— 1268 b.
* Diog. Laert. IX 55, Favorinus abend. III 57, nach dessen Angabe die
Grundgedanken der platonischen Staatslehre schon von Protagoras ausgesprochen
sein sollen. Das ist ja ohne Zweifel sehr übertrieben, aber es kann doch wohl
nicht ganz und gar aus der Luft gegriffen sein.
284 IX. Abschnitt. — Die Reaktion.
Leuten schon wenige Jahre nach seinem Tode in verklärtem
Licht ^. Von dem, was die Ver^ssung der guten alten Zeit
(irdTpioq TToXireia) eigentlich gewesen war, wußte man frei-
lich sehr wenig; es stand also jedem frei, sich diese Ver-
fassung seinem Ideal gemäß auszumalen. Davon machte
man denn im Parteiinteresse auch reichlichen Gebrauch.
Ein charakteristisches Beispiel dafür ist das Bild, das Aristo-
teles, ohne Zweifel nach einer Schrift aus der Zeit des pelo-
ponnesischen Krieges, von der Verfassung Drakons entwirft ^;
es entspricht ungefähr der Verfassung, wie sie zur Zeit der
Perserkriege gewesen war. Ähnlich suchte man in Sparta
gegenüber den revolutionären Bestrebungen die bestehende
Verfassung zu stützen dadurch, daß man sie, so wie sie war,
als das Werk des Lykurgos hinstellte. Solon dagegen, den
man als den Begründer der athenischen Demokratie ansah,
wurde als gewissenloser Demagoge gezeichnet, der seine
Stellung dazu benutzt habe, sich selbst und seine Freunde
durch Landspekulationen zu bereichern ^ Die Demokraten
blieben natürhch die Antwort nicht schuldig, und so wogte
der publizistische Kampf herüber und hinüber. Das mußte
dann weiter zur Folge haben, daß man sich bemühte, die Sache
durch Urkundenforschung zur Entscheidung zu bringen.
Der Sophist Thrasymachos scheint der erste gewesen zu sein,
der auf die Notwendigkeit solcher Studien hingewiesen hat *;
und die Anregung blieb nicht ohne Erfolg. Bei der oligarchi-
schen Umwälzung im Jahre 411 in Athen wurde der Beschluß
gefaßt, die kleisthenischen Gesetze aus dem Archiv hervor-
zusuchen, damit sie für die Reform der Verfassung als Material
dienen könnten ^.
^ Er wird in Eupolis Demen neben Miltiades und Aristeides aus dem Hades
heraufzitiert, Thukydides urteilt sehr günstig über ihn (unten S. 294),
und auch Isokrates spricht von Perikles mit hoher Achtung. Piaton freilich
blieb unversöhnlich.
* Aristot. An. 4, vgl. oben I 2 S. 261.
3 Aristot. ATT. 6, 2 — 3, vgl. Wilamowitz Aristot. u. Athen I 62.
* Thrasym. fr. 1 bei Dionys. Hai. Demosth. 3 S. 959, vgl. Wilamowitz
a. a. O. I 173.
s Aristot. An. 29.
Verfassungsgeschichtliche Forschung. — Hetaerien. 285
So erwuchsen aus der politischen Polemik die Anfänge
der verfassungsgeschichtlichen Forschung, die denn auch
diesen ihren Ursprung nie ganz zu verleugnen vermocht hat.
Daran schloß sich dann weiter eine Kritik der bestehenden
Staatsformen an. Eine solche hatte Kritias für Athen und
Sparta gegeben i; und noch uns ist die Schrift eines athenischen
Oligarchen aus der Zeit des peloponnesischen Krieges er-
halten 2, worin der Nachweis geführt wird, daß die Verfassung
Athens zwar ganz nichtswürdig sei, aber vortrefflich auf den
Vorteil der besitzlosen Menge berechnet; Reformen seien
unmöglich und eine Revolution von innen heraus aussichtslos.
Hier schheßt der Verfasser; durch welche Mittel die Demokratie
doch gestürzt werden könne, durfte er in Athen freilich nicht
sagen.
Bei dieser Lage blieb den besitzenden Klassen zunächst
nichts übrig, als nach Möglichkeit gegen die Mißbräuche der
Volksherrschaft sich zu schützen. Die Besitzenden schlössen
sich also zu Verbänden (^raipiai) zusammen, ,,zur Beein-
flussung der Wahlen und zum Schutz gegen die Willkür der
Gerichte" ^. An und für sich hatten diese Vereine durchaus
keine verfassungswidrige Richtung, wie sie denn unangefochten
bestanden haben trotz des bis zum krankhaften gesteigerten
Argwohns des Volkes gegen alles, was oligarchischen Be-
strebungen auch nur entfernt ähnlich sah; aber allerdings
ließ diese Organisation sich eintretenden Falles zu revo-
lutionären Zwecken vortrefflich verwerten.
1 Wilamowitz, Aristot. u. Athen 1 174 ff., Dümmler, Hermes XXVII (1892)
S. 260 ff. (zum großen Teil unrichtige oder unerweisbare Hypothesen). Die
Fragmente FHG. II 68.
^ Die unter Xenophons Schriften erhaltene AGrivaiuJV iroXireia, vgl.
besonders Kirchhoff, Abh. d. Berl. Akad. 1874. 1878, Müller- Strübing, Philologus
Suppl. IV, 1880, Kaiinka, Die pseudoxenophontische AGrivaiuJV TToXlTeia,
Leipzig 1913.
* Thuk. VIII 54, 4 läc, re Suvuj,uoaia(;, aiitep ^tuyxövov itpÖTepov ^v
Tf) TTÖXei ouöai ^Tri biKOK; koi äpxaic;. H. Büttner, Geschichte der politischen
Hetaerien in Athen, Leipzig 1840, W. Vischer Kl. Schriften I 153 ff., vor allem
G. M. Calhoun, Athenian Clubs in Poliiics and Litigation, Bulletin of the
Universiiy of Texas Nr. 262, Austin, Texas 1913.
286 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Durch das alles war der Boden für eine Umwälzung vor-
bereitet; denn keine Verfassung kann von Dauer sein, in der
die besitzenden und gebildeten Klassen nicht die ihnen ge-
bührende Stellung einnehmen. Noch hatte die Demokratie
einen festen Halt an dem athenischen Reiche. Aber dieses
Reich war im Innern bereits tief unterwühlt, und nur die
unbedingte Überlegenheit der Athener zur See hielt die wider-
strebenden Teile vereinigt; es mußte zusammenbrechen,
sobald ein Unfall eintrat, der diese Überlegenheit in Frage
stellte. Und auf die Länge konnte eine solche Katastrophe
nicht ausbleiben.
X. Abschnitt.
Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des
Nikias.
Seit den Friedenschlüssen Athens mit Persien (448) und
den Peloponnesiern (446) herrschte in Griechenland tiefe
Ruhe, die nur einmal auf einen Augenbhck durch den samischen
Aufstand gestört worden war; aber eben in dieser Krisis
hatten beide Verträge glänzend die Probe bestanden, und so
schien der Nation noch auf ein halbes Menschenalter hinaus,
bis zum Ablauf der 30 Jahre, auf die die Waffenruhe mit den
Peloponnesiern abgeschlossen war, die Ruhe im Innern und
nach außen gesichert. Daß es nicht dazu kam, war die Schuld
der Politik des leitenden athenischen Staatsmannes.
Den äußeren Anlaß gaben die Verhältnisse im griechischen
Westen. Korinth war schon seit Jahrhunderten mit seiner
Kolonie Kerkyra verfeindet ^, die der Mutterstadt an Be-
deutung kaum nachstand und ihrem Handel nach dem Adriati-
schen Meer und Itahen scharfe Konkurrenz machte; der
Besitz der von beiden Städten an den Küsten von Epeiros
und Illyrien gegründeten Kolonien bildete infolgedessen eine
1 Thuk. I 25, 3 4, vgl. I 13, 4.
Krieg zwischen Koiintli und Kerkyra. 287
Quelle beständigen Zwistes. Einen Streitfall dieser Art hatte
Themistokles nach dem Perserkriege als Schiedsrichter zu-
gunsten Kerkyras beigelegt^; jetzt brach ein neuer Konflikt
aus. In der kerkyraeischen Kolonie Epidamnos {Durazzo)
hatte der Pöbel die Besitzenden vertrieben, diese aber riefen
die umwohnenden lUyrier zu Hilfe und brachten ihre Gegner
in der Stadt bald in so schwere Bedrängnis, daß sie gezwungen
waren, die Mutterstadt Kerkyra um Beistand anzurufen (435).
Doch dort wollte man mit dem Gesindel nichts zu tun haben,
und nun wandten die Demokraten in Epidamnos sich nach
Korinth. Hier nahm man es nicht so genau und ergriff gern
die Gelegenheit, einen Schlag gegen Kerkyra zu führen. Man
sandte also eine Besatzung nach Epidamnos; da Kerkyra
das Meer beherrschte, auf dem Landwege über ApoUonia.
Die Kerkyraeer antworteten mit der Absendung eines Ge-
schwaders, das den Verbannten die Hand reichte und mit
ihnen vereinigt die Belagerung der Stadt begann. Jetzt
rüstete Korinth eine große Entsatzflotte aus. Kerkyra brauchte
den Angriff nicht zu fürchten, denn es besaß die stärkste und
tüchtigste Kriegsmarine in Griechenland, die athenische
allein ausgenommen (oben S. 115); gleichwohl wünschte
es den Krieg zu vermeiden und war bereit, sich einem Schieds-
gericht zu unterwerfen. In Korinth aber wollte man von
einem Vergleiche nichts wissen und heß die Flotte in See
gehen. So kam es bei dem Vorgebirge Leukimme, nahe der
Südspitze Kerkyras, zur Schlacht, in der die Korinthier vöUig
geschlagen wurden. Am selben Tage ergab sich Epidamnos,
und die korinthische Besatzung wurde kriegsgefarigen ^.
Korinth durfte diese Niederlage nicht hinnehmen. Es
begann also mit Aufgebot aller Kräfte zu rüsten, und es gelang
denn auch, mit Hilfe der verbündeten Nachbarstädte und der
Kolonien Leukas und Ambrakia, im Lauf von zwei Jahren eine
Flotte zusammenzubringen, die der kerkyraeischen mehr als
gewachsen war. Jetzt blieb Kerkyra nichts übrig, als sich
an den einzigen Staat um Hilfe zu wenden, der wirksame
1 Plut. Them. 24, vgl. Thuk. I 136, 1.
- Thuk. I 24—29. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 90.
288 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Unterstützung gewähren konnte, Athen. Kerkyra tat diesen
Schritt sehr ungern, denn es verzichtete damit auf die poli-
tische Aktionsfreiheit, die es bisher sich durch alle Wechsel -
fälle des Geschicks zu bewahren gewußt hatte; aber es hatte
keine andere Wahl. Athen seinerseits aber hatte das höchste
Interesse daran, zu verhindern, daß Kerkyra unter korinthische
Herrschaft geriete, und damit die kerkyraeische Seemacht
den Zwecken Korinths dienstbar würde. Und nicht minder
wichtig war der Besitz Kerkyras für die Beziehungen Athens
zu Itahen und Sicilien. Dem gegenüber mußten alle anderen
Erwägungen in den Hintergrund treten. Die athenische
Volksversammlung nahm, allerdings nach lebhafter Opposition,
das von Kerkyra angebotene Bündnis an (Sommer 433),
doch wurde in Rücksicht auf die Peloponnesier nur eine
DefensivaUianz abgeschlossen. Ein Geschwader von 10 Trieren
wurde sogleich nach Kerkyra abgesandt; man erwartete
offenbar, daß die moralische Unterstützung Athens genügen
würde, die Korinthier von weiteren Feindseligkeiten ab-
zuhalten ^.
Ohne Zweifel war Athen formell vollkommen berechtigt,
das Bündnis abzuschließen, und die Peloponnesier selbst
haben das später anerkannt dadurch, daß sie aus der Haltung
Athens in dieser Frage keinen Kriegsgrund abgeleitet haben.
Da indes Kerkyra mit Korinth im Kriege stand, so war der
Abschluß des Bündnisses eine unfreundliche Handlung gegen
Korinth, und er wurde dort als solche empfunden. ' Doch
man war weit davon entfernt einzulenken, und noch im
August stach die große Flotte in See. Die Kerkyraeer er-
warteten den Feind an der Einfahrt in den Sund, der ihre
Insel vom Festlande trennt, bei den Sybota- Inseln; gegen
etwa 80 korinthische Schiffe standen 60 Schiffe von Kerkyra,
und die 10 athenischen Trieren. In dem nun sich entwickelnden
Kampfe blieben letztere, ihrer Instruktion gemäß, zunächst
untätige Zuschauer; als aber die Kerkyraeer durch die Über-
zahl des Feindes zum Weichen gebracht wurden, sahen sich
1 Thuk. I 30—45. CIA. I 179.
Kerkyra im Bund mit Athen. — Schlacht bei Sybota. 289
die Athener doch gezwungen, in die Schlacht einzugreifen,
um eine Landung der Sieger auf der verbündeten Insel zu
hindern. Das würde nun freilich bei der geringen Zahl der
attischen Schiffe wenig Erfolg gehabt haben, wenn nicht
gerade zu rechter Zeit eine Verstärkung von weiteren 20
Trieren aus Athen eingetroffen wäre, deren Erscheinen die
Korinthier bewog, den Kampf abzubrechen und nach dem
Festland zurückzurudern. So blieb die Schlacht ohne Ent-
scheidung; freilich hatte die kerkyraeische Flotte viel schwerere
Verluste gehabt, als die korinthische.
Am nächsten Morgen boten die vereinigten Athener
und Kerkyraeer den Peloponnesiern von neuem die Schlacht
an. Diese wagten den frischen Trieren aus Athen gegenüber
keinen Kampf; andererseits waren die athenischen Feld-
herren durch ihre Instruktionen gebunden, sich auf den Schutz
des kerkyraeischen Gebiets zu beschränken, sonst aber jede
Feindseligkeit mit den Korinthiern zu vermeiden. So konnte
die peloponnesische Flotte ungehindert ihren Rückzug an-
treten; sie tat es unter Protest gegen den angeblichen Friedens -
bruch der Athener. Kerkyra war gerettet ^.
Aber zugleich war es zwischen Athenern und Pelopon-
nesiern zum erstenmal seit dem Abschluß des dreißigjährigen
Friedens zum Kampfe gekommen; man mochte streiten,
wen die Verantwortung traf, die Tatsache blieb bestehen,
daß der Friede, wenn nicht formell, so doch faktisch gebrochen
war. Es war vorauszusehen, daß Korinth die Herausforderung
nicht unbeantwortet lassen würde; war es doch durch die
neue Machtstellung, die Athen in Kerkyra gewonnen hatte,
in seinen vitalsten Interessen bedroht. So beschloß Perikles,
dem Schlage zuvorzukommen.
An der thrakischen Küste, auf dem flachen Isthmos,
der die fruchtbare Halbinsel Pallene mit dem Rumpf der
Chalkidike verbindet, hatten die Korinthier in Periandros'
Zeit die Kolonie Poteidaea begründet (oben IIS. 254). Die
^ Thuk. I 45 — 55. Das zweite athenische Geschwader ist am Anfanp
der zweiten Prytanie 433/2 in See gegangen (CIA. 1 179, besser Dittenb. Syll. '^
26, unten 2. Abt. § 90), über die Stärke der Flotten unten 2. Abt. § 92 ff.
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 19
290 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Mauern liefen von Meer zu Meer, vom Thermaeischen zum
Toronaeischen Busen, und schlössen demnach Pallene voll-
ständig gegen den Kontinent ab. Infolge dieser günstigen
Lage blühte Poteidaea bald zur ersten Stadt in diesen Gegenden
empor. Allein in Thrakien hatte sie gleich nach Salamis es
gewagt, der nationalen Sache sich anzuschließen, ungeschreckt
durch die zahllosen Scharen der Perser, deren Belagerung
sie siegreich Trotz geboten hatte (oben S. 52). Dann war
Poteidaea in den attischen Seebund eingetreten; galt es doch,
die persischen Garnisonen aus den thrakischen Festungen
zu vertreiben. Aber das Band, das es an die Mutterstadt
knüpfte, hatte Poteidaea darum nicht gelöst; Jahr für Jahr
empfing es aus Korinth seinen Oberbeamten, den ,,Epida-
miurgos". Es war ein Verhältnis, das unhaltbar werden
mußte, sobald die Beziehungen zwischen Athen und Korinth
sich zu trüben begannen; und Perikles hielt es jetzt an der
Zeit, diesem Zustand ein Ende zu machen. Ein attischer
Volksbeschluß befahl den Poteidaeaten, den korinthischen
Beamten aus der Stadt zu weisen und ihre Befestigungen
auf der Seite nach Pallene hin niederzulegen.
Einen sichereren Weg, Poteidaea zum Aufstand zu
treiben, hätte man gar nicht einschlagen können. Die un-
kriegerischen und auf sich selbst gestellten Städte loniens
hatten sich ohne Widerstand der Entfestigung gefügt, die
Athen über sie verhängte; Poteidaeas Bürgerschaft war aus
anderem Stoffe und hatte außerdem einen Rückhalt an
Korinth und an König Perdikkas von Makedonien, der mit
Athen seit kurzem im Kriege stand. Als daher der Versuch,
die Rücknahme der attischen Forderungen zu erwirken, erfolg-
los blieb, erklärte Poteidaea seinen Austritt aus dem Seebunde.
Die benachbarten Bottiaeer und Chalkider folgten dem Bei-
spiel. Sie verließen ihre kleinen Städte am Meer, die gegen
die athenische Flotte doch nicht zu verteidigen waren, und
siedelten nach Olynthos über, zu dessen künftiger Größe
damit der Grund gelegt wurde (Frühjahr 432) ^.
1 Thuk. I 56—58.
Abfall von Poteidaea. 291
In Athen war man seiner Sache so sicher gewesen, daß
man durch die Nachricht vom Abfalle Poteidaeas vollständig
überrascht wurde. Man hatte allerdings ein Geschwader
von 30 Trieren mit 1000 Hopliten an Bord nach Makedonien
geschickt, aber diese Macht war ganz unzureichend, um gleich-
zeitig gegen Perdikkas und die empörten Städte der Chalkidike
vorzugehen. Ja sie reichte nicht einmal hin zu einer Blockade
Poteidaeas, so dringend nötig es auch war, der Stadt keine
Zeit zu lassen, sich auf eine Belagerung vorzubereiten. Man
beschränkte sich also auf Angriffe gegen die makedonischen
Küstenplätze: Therme wurde genommen, Pydna belagert.
Jetzt endlich, es war schon gegen Ende Sommer, kamen
Verstärkungen aus Athen, 2000 Hopliten und 40 Trieren unter
dem Strategen Kallias ^. Aber auch diese Streitkräfte waren
durchaus ungenügend für die Aufgabe, die hier zu lösen war.
Es blieb nichts übrig, als Perdikkas den Frieden zu bewilligen,
um endlich gegen Poteidaea vorgehen zu können. Dort waren
aber unterdessen 1600 peloponnesische Hopliten eingetroffen,
Söldner und korinthische Freiwillige, und damit waren die
Aufständischen den Athenern auch numerisch gewachsen,
um so mehr, als Perdikkas, sowie sein Gebiet von den Athenern
geräumt war, den eben geschlossenen Vertrag brach und den
Chalkidern ein Reiterkorps zu Hilfe schickte. Zwar blieb
den Athenern vor den Mauern Poteidaeas in offener Feld-
schlacht der Sieg ^^ aber die vorhandenen Kräfte reichten
nur aus, der Stadt die Verbindungen nach Norden hin ab-
zuschneiden; die gegen Pallene gewandte Südfront bheb
zunächst offen, und erst eine weitere Verstärkung von 1600
Hopliten im nächsten Frühjahr (431) ^ setzte die Athener
in den Stand, auch nach dieser Seite hin ihre Einschließungs-
linien zu vollenden. Jetzt waren nahe an 5000 attische Hopliten,
zahlreiche Bundesgenossen und 70 Trieren vor Poteidaea
vereinigt; ein Heer, wie es Athen nie zuvor zu einer über-
1 CIA IV 179 a b, S. 159 ff. ; besser bei Kolbe, Hermes XXXIV, 1899.
380 ff. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 59.
* Die Grabschrift auf die gefallenen Athener CIA. I 442.
=< Über die Zeit unten 2. Abt, § 91.
19*
292 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
seeischen Expedition aufgeboten hatte i. Gegenüber solchen
Streitkräften hielt es Perdikkas angezeigt, wieder Frieden
mit den Athenern zu machen; er erhielt Therme zurück und
stellte dafür ein Kontingent gegen die Chalkider (Sommer 431)2.
Inzwischen waren die Korinthier auch nach anderer
Seite hin gegen Athen tätig gewesen. Daß die Erhebung
Poteidaeas nur dann Erfolg haben könne, wenn die Stadt
aus dem Peloponnes wirksame Unterstützung erhielt, war
von vornherein klar; und Poteidaea war denn auch erst zum
Abfall geschritten, als seine Gesandten von den Ephoren
in Sparta das Versprechen einer solchen Unterstützung er-
halten hatten ^. Es handelte sich jetzt darum, dieses Ver-
sprechen durch die spartanische Volksversammlung rati-
fizieren zu lassen. Das war nicht ganz leicht; denn mit so
großer Besorgnis man auch in Sparta die Machtstellung Athens
betrachten mochte, so sehr man geneigt war, Korinth den
erbetenen Rückhalt zu gewähren, so bestand doch einmal der
dreißigjährige Frieden mit Athen, und man scheute sich, die
geschworenen Eide zu brechen. Und es war kein geringerer
als der alte König Archidamos, der durch seine Stellung wie
durch sein persönliches Ansehen einflußreichste Mann Spartas,
der für die Erhaltung des Friedens eintrat.
Unter diesen Umständen ist es sehr fraglich, ob die
Ephoren in der Volksversammlung die für ihre Kriegspolitik
erforderliche Mehrheit gefunden haben würden, hätte nicht
Athen selbst den gewünschten Vorwand geliefert. Dort hatte
man nämhch soeben auf Perikles' Antrag den Bürgern von
Megara den Aufenthalt auf attischem Boden und allen Verkehr
mit den Häfen im ganzen attischen Reiche untersagt und
damit den megarischen Handel so gut wie vollständig lahm-
gelegt. Die Maßregel war motiviert mit kleinen Übergriffen
der Megarer, wie sie zwischen feindseligen Nachbarn nie
fehlen; der wahre Grund war der Groll, der sich seit der Er-
hebung des Jahres 446 in Athen gegen Megara angesammelt
1 Thuk. I 59—66.
- Thuk. II 29, 6.
* Thuk. I 68.
Das megarische Psephisma. — Intervention Spartas. 293
hatte ^. So gerechtfertigt dieser Groll nun an und für sich
auch sein mochte, so ist es doch klar, daß Athen in diesem
Augenblicke nichts weniger Opportunes tun konnte, als die
Annahme des ,,megarischen Psephisma". Denn Megara
gehörte zur peloponnesischen Symmachie; und wenn auch
der Vertrag von 446/5 über den Verkehr zwischen beiden
kontrahierenden Teilen keine ausdrückliche Bestimmung
enthielt -, so galt es doch nichtsdestoweniger in Hellas für
selbstverständlich, daß das Recht freien Verkehrs durch den
Friedenszustand gewährleistet sei ^. Den besten Beweis
dafür hatten die Athener selbst geliefert dadurch, daß sie
den Megarern die Handelsfreiheit mit dem athenischen Reiche
bis jetzt nicht zu beschränken gewagt hatten. Damit war
die Entscheidung gegeben. Sparta konnte gar nicht anders,
als sich seiner Bundesstadt annehmen, wenn es nicht über-
haupt auf die Führung im Peloponnes verzichten wollte.
Die Rücksicht auf das mächtige Korinth tat das übrige. So
erklärte denn zuerst die spartanische Volksversammlung
und darauf auch der peloponnesische Bundestag, daß Athen
den Frieden gebrochen habe (Herbst 432) *. Eine Kriegs-
erklärung war das noch nicht; aber wenn Athen jetzt nicht
nachgab, war der Krieg allerdings unvermeidlich.
1 Thuk. I 67, 4; 139, 1. 2, Aristoph. Acharn. 531, Fried. 609; aus den
letzteren beiden Stellen ergibt sich, daß Perikles selbst den Antrag gestellt
hatte, und zwar, nach Philoch. Schol. Aristoph. Fried. 605, unter Pythodoros
(432/1), s. unten S. 296 Anm. ; im Herbst dieses Jahres führten die Megarer
deswegen in Sparta Beschwerde (Thuk. I 67, 4). Aus Aristoph. Acharn. 515 ff.
zu schließen, es hätte schon vor Perikles' Psephisma eine Handelssperre gegen
Megara bestanden, ist widersinnig, da ja erst dieses Psephisma die Handels-
sperre verfügt hat; Aristophanes ist doch kein Historiker, dessen Worte man
auf die Goldwage legen könnte. — Das Psephisma des Charinos über die äanovboq
Koi ÖKripuKTOi; ^XÖP» gegen Megara (Plut. Per. 30) gehört natürlich erst in die
Zeit nach Ausbruch des peloponnesischen Krieges (vgl. Thuk. H 31, 3; IV 66, 1);
die Ermordung des Herolds Anthemokritos (Brief PhiHpps bei Demosth. XII 4,
Paus. I 436, 3, Harpokr. Suid.) hat mit den' beiden Psephismen nichts zu tun.
- Thuk. I 144. 2. Auch die Urkunde des Nikiasfriedens enthält keine
solche Bestimmung.
ä Thuk. I 67, 4.
* Thuk. I 67—88, 119—125.
294 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
In Athen begann eben um diese Zeit das perikleische
Regiment bedenklich zu wanken. Seit Perikles ohne Neben-
buhler an der Spitze des Staates stand, hatte er aufgehört,
ausschließlich den Interessen der besitzlosen Menge zu dienen.
Denn die Demagogie war ihm nie etwas anderes gewesen als
ein Mittel zur Erringung der Macht; jetzt, wo das Ziel erreicht
war, lenkte er in gemäßigtere Bahnen ^, Er gewann sich damit
allerdings die Sympathien der breiten Schichten der besitzenden
und gebildeten Klassen; selbst ein so konservativer Mann
wie der Historiker Thukydides steht nicht an, der perikleischen
Staatsleitung das begeistertste Lob zu spenden. Aber Perikles
verlor darüber einen großen Teil seiner Popularität bei den
Massen. Man kam hier immer mehr zu der Überzeugung,
daß bei dem Kampfe um die Erweiterung der Volksrechte der
Kampfpreis selbst allmählich zugrunde gegangen sei. Lebte
man denn überhaupt noch in einer Demokratie, wenn derselbe
Mann jahraus jahrein die Militärmacht des Staates wie seine
finanziellen Hilfsquellen zur unbeschränkten Verfügung hatte,
und die Beziehungen Athens nach außen und zu den Bundes-
staaten nach seinem Gutdünken leitete?
An die Spitze dieser Opposition von unten trat der reiche
Gerbermeister Kleon aus dem städtischen Demos Kydathe-
naeon ", ein Mann ohne jede höhere Bildung und in seiner
Brutalität ein echter Emporkömmling^, aber auch von rück-
sichtsloser Energie, und ausgerüstet mit jener natürlichen
Beredsamkeit, die es vermag, die Massen zu begeistern und
mit sich fortzureißen. Für sich allein wäre diese Opposition
wenig zu fürchten gewesen, aber sie fand Bundesgenossen
bei einem großen Teil der Besitzenden, bei allen denen, die
1 Thuk. II 65 Koreixe bä tö TTXfjGo^ i\e\)Q4.pvj<;, Kai oOk fiTCTO luäWov
bif aÖToO fi auTÖi; Y]'^e, vgl. Plut. Per. 15.
* Herxnippos fr. 46 Kock, Sotion bei Diog. Laert II 12. Schon sein Vater
Kleaenetos hat Leiturgien geleistet (CIA II 971 a).
' Thuk. III 36 ßiaiÖTOTOC tujv ttoXitujv, vgl die Rede, die ihn Thuky-
dides in der mytilenaeischen Sache halten läßt (III 37 — 40) und Aristophanes
Ritter. Der Paphlagone in diesem Stück ist freilich eine Karikatur, aber eine
gute, und eine solche muß die charakteristischen Züge des Originals wieder-
geben.
Opposition gegen Perikles. 295
es Perikles niemals verziehen hatten, daß er es gewesen war,
der den Demos zum maßgebenden Faktor im Staate erhoben,
der ihn gewöhnt hatte, auf öffentliche Kosten zu leben und
sich zu vergnügen.
Es kam dazu, daß Perikles den religiösen und sozialen
Vorurteilen seiner Mitbürger weniger Rechnung trug, als für
einen Mann in seiner Stellung ratsam gewesen wäre. Er war
ein Anhänger der neuen Aufklärung und stand zu ihren
Koryphäen in den engsten Beziehungen^; die große Masse
des Volks aber, und keineswegs bloß der Pöbel, betrachtete
diese Männer mit tiefstem Mißtrauen und befürchtete, nicht
mit Unrecht, von ihnen die Vernichtung des alten Götter-
glaubens. Noch anstößiger war Perikles' Verhältnis zu Aspasia,
in der die öffenthche Meinung nun einmal nur die Hetaere
sah, und die ja außerdem ebenfalls den Kreisen der Aufklärer
angehörte. Hier setzten denn auch die Angriffe der Gegner
zunächst ein; denn Perikles selbst stand zu hoch, als daß
ein direktes Vorgehen gegen ihn irgendwelchen Erfolg ver-
sprochen hätte. So wurde Perikles' Freund Anaxagoras wegen
Gottlosigkeit der Prozeß gemacht und der greise Philosoph
gezwungen, Athen den Rücken zu kehren. Desselben Ver-
brechens und außerdem noch der Verführung freier Frauen
zu unsittlichem Lebenswandel wurde Aspasia angeklagt
und nur mit Aufgebot all seines Einflusses konnte Perikles
sie vor der Verurteilung retten. Dann kam die Reihe an
Pheidias. Unter der Beschuldigung, bei der Anfertigung
des großen Bildes der Stadtgöttin Gold und Elfenbein unter-
schlagen zu haben, wurde er ins Gefängnis geworfen, wo er
noch vor dem Spruch des Urteils gestorben ist, DemMetoeken
Menon, der die Denunziation gegen ihn eingebracht hatte,
wurde durch Volksbeschluß Steuerfreiheit bewiüigt und
damit indirekt Pheidias für schuldig erklärt 2. Das war zu-
* Plut. Per. 4—6. 36. Vgl. Protagoras fr. 9 Diels bei Plut. Trostschrift
an Apollonios 33 S. 118.
^ Diod. XII 39, Plut. Per. 31 f. Über den Prozeß gegen Anaxagoras auch
Plut. Nik. 23, Diog. Laert. II 12, andere Stellen bei Diels, Vorsokratiker. Über
den Prozeß gegen Aspasia Aeschines der Sokratiker bei Plut. Per. 32 = Athen.
296 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
gleich ein Schlag gegen Perikles, der als Kommissar die Auf-
stellung der Statue geleitet hatte, und also für die dazu be-
willigten Gelder verantwortlich war; doch ist es zu einer förm-
lichen Anklage gegen ihn nicht gekommen.
Perikles fühlte sich in seiner leitenden Stellung erschüttert,
und er war entschlossen, den drohenden Sturm nach außen
abzulenken. Der erste Schritt nach dieser Richtung war der
Abschluß des Bündnisses mit Kerkyra 433. Seitdem hatte
er systematisch auf den Bruch mit den Peloponnesiern hin-
gearbeitet; das Vorgehen gegen Poteidaea, das megarische
Psephisma waren offene Herausforderungen an Sparta und
seine Verbündeten. Und als nun eine spartanische Gesandt-
schaft in Athen erschien, um wegen dieser Übergriffe Be-
schwerde zu führen, da trat Perikles mit dem ganzen Schwer-
gewicht seines noch immer unermeßlichen Einflusses und
XIII 589 e (Dittmar, Aesch. v. Sphetios, Berlin 1912, S. 22 A. 85), vgl. Schol.
Aristoph. RiiterdQd. Prozeß gegen Pheidias: Aristoph.FriW^n605undPhiIochoros
in den Scholien zu der Stelle. Der auf einem Genfer Papyrus erhaltene Bericht
(J. Nicole, Le Proces de Phidias, Genf 1910, dazu L. Pareti, Rom. Miit. XXIV,
1910, S. 271 ff.) ist leider so schwer beschädigt, daß kaum etwas daraus zu
entnehmen ist; mit Apollodor, wie Nicole meint, hat der Bericht natürlich
nicht das geringste zu tun, vgl. Pareti a. a. O. Daß alle diese Prozesse in dieselbe
Zeit gehören, und zwar unmittelbar vor den Ausbruch des peloponnesischen
Krieges, ist an sich klar und auch in den Quellen ausdrücklich bezeugt. Phi-
lochoros a. a. 0. setzt den Prozeß des Pheidias unter Pythodoros (432/1); da
aber der Scholiast, der uns dies Zeugnis aufbewahrt hat, der Ansicht war, dieser
Pythodoros sei der siebente vor Skythodoros gewesen, unter den er das megarische
Psephisma setzt, so emendieren die Neueren seit Palmerius ^rri Oeobuipou,
obgleich die Handschriften beidemal ^trl TTu9obibpou geben. Der Einspruch
Karl Müllers {FHG. I S. 400) ist ungehört verhallt. Mir scheint klar, daß der
Scholiast oder schon seine Quelle eine korrupte Archontenliste vor sich hatte,
in der der Archon von 432/1 ZKuSöbujpoc;, der von 438/7 TTueöbuipoq hieß. Wie
hätte denn Aristophanes darauf verfallen, können, das megarische Psephisma
mit dem Prozeß des Pheidias zusammenzubringen, wenn 7 Jahre dazwischen
lagen ? Ferner ergibt sich aus den Baurechnungen des Parthenon, daß im
14. Jahre (434/3) Gold und Elfenbein verkauft wurde (vgl. die Bearbeitung
der Urkunde bei Cavaignac, Etüde sur l'hist. financiere d' Athene s, Paris 1908);
auch dadurch wird wahrscheinlich, daß die Statue erst damals vollendet worden
ist. Das Richtige hat längst Nissen gesehen {Hist. Zeitschr. N. F. XXVII, 1889,
S. 406 f.); näher begründet ist es von Pareti a. a. 0.
Perikles treibt zum Kriege. 297
seiner amtlichen Stellung dafür ein, jede noch so unbedeutende
Konzession zu verweigern ^. Wie die Parteien in Sparta zu-
einander standen, würde die Aufhebung des megarischen
Psephisma aller Voraussicht nach genügt haben, den drohenden
Sturm zu beschwören ^■, denn die sonstigen Forderungen
der Spartaner, Athen solle von Poteidaea ablassen und Aegina
die Freiheit geben, waren kaum ernsthaft gemeint, und wurden
sogleich fallen gelassen, wie sie denn auch formell ganz un-
gerechtfertigt waren. Voi* 14 Jahren hatte Athen mit viel
schwereren Opfern den Frieden erkauft und doch seine Groß-
machtstellung behauptet; es war eine Phrase, wenn Perikles
jetzt erklärte, die Ehre des Staates gebiete es, an dem einmal
gegen Megara gefaßten Beschluß festzuhalten. Aber diese
Sprache war trefflich auf die Leidenschaften der großen Menge
berechnet, und sie war in Athen fast immer ihres Erfolges
gewiß. Die lakedaemonischen Forderungen wurden also auf
Perikles' Antrag abgewiesen; dagegen erklärte Athen sich
bereit, wegen der streitigen Punkte ein Schiedsgericht anzu-
nehmen ^. In der Form stellte man sich damit allerdings
streng auf den Boden der Verträge^; aber nach allem was
vorgefallen war, mußte diese Antwort den Peloponnesiern
wie Hohn kHngen. Wo war denn ein Schiedsrichter zu finden,
wenn ganz Hellas für oder wider Partei nahm? So wurden
die Verhandlungen abgebrochen und im Peloponnes begannen
die Rüstungen.
Gewiß, der Krieg zwischen den beiden hellenischen
Vormächten, zwischen Demokratie und OHgarchie, wäre
früher oder später doch unvermeidlich gewesen. Nur daß
er gerade in diesem Augenbhck ausbrach, war Perikles' Werk.
Und man kann nicht sagen, daß der Zeitpunkt glücklich
gewählt war. War doch Athen eben jetzt vollständig isoliert
1 Thuk. I 127 ÜL)v fäp buvaTUJTaroq tujv koG' ^auTÖv Kai cxyujv t^v
TToXiTeiav rivavTiouTO irävTa Toi<; AaKebaiuovioiq Kai oOk eia üireiKeiv, ä\\
i.c, TÖv TTÖXeiLiov lÄpfia Touq 'A0r]va(ou<;.
■' Thuk. I 139, 1, Plut. Per. 29.
=> Thuk. I 139—145.
* Das haben die Spartaner selbst später anerkannt: Thuk. VII 18, 2.
298 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
und auf die eigene Kraft angewiesen; dem einzigen Staat,
auf dessen Unterstützung man hätte rechnen können, Argos,
waren durch seinen Vertrag mit Sparta noch auf ein Jahrzehnt
die Hände gebunden. Dazu kam der Krieg in Thrakien, der
ein volles Drittel des athenischen Landheeres in Anspruch
nahm. Und auch abgesehen von allem dem, war jedes Jahr,
das dem Frieden erhalten bheb, ein unschätzbarer Gewinn
für Athen und für Hellas. Perikles wußte das alles natürlich
so gut wie irgendein anderer ^; wenn er trotzdem zum Kriege
trieb, so waren es offenbar Rücksichten der inneren Politik,
die ihn dazu bewogen, und die öffenthche Meinung in Hellas
war darüber auch gar nicht im Zweifel ^. Skrupel in der Wahl
seiner Mittel hat Perikles niemals gekannt; und wie er einst
in Athen den Klassenkampf entzünden geholfen hatte, so
entzündete er jetzt den hellenischen Bürgerkrieg.
Perikles hatte sein nächstes Ziel erreicht; alles hing
nun davon ab, ob er imstande sein würde, den Krieg erfolg-
reich zu führen. Er selbst redete darüber in der Volksversamm-
lung mit großer Zuversicht, und ohne Zweifel sprach er damit
nur seine wirkliche Meinung aus; er würde den Krieg nicht
herbeigeführt haben, wenn er nicht von der Gewißheit des Sieges
überzeugt gewesen wäre. Und in der Tat gebot Athen noch immer
^ Theophrast bei Plut. Per. 23.
^ So schon Aristophanes {Acharn. 515 ff., Frieden 609, Andokides v. Fr. 8,
und später Ephoros (bei Diod. XII 39). Ich sehe nicht, wie Perikles' Politik
von anderen Voraussetzungen aus verständlich ist. Man hat gemeint, Perikles
hätte den Krieg provoziert, um Megara zu gewinnen, aber das erinnert doch
gar zu sehr an die Geschichte von jenem Bauern, der sein Haus anzündete,
um die Wanzen daraus zu vertreiben, mit dem Unterschiede, daß der Bauer
wenigstens seine Wanzen los wurde, Athen aber Megara durch den Krieg nicht
bekommen hat Vgl. auch Ed. Meyer, Forschungen II S. 304. — Der Perikles-
Kultus, der ja noch immer in schönster Blüte steht, sträubt sich natürlich,
die Tatsache anzuerkennen, daß der große athenische Staatsmann den pelo-
ponnesischen Krieg aus persönlichen Gründen zum Ausbruch gebracht hat.
Thukydides ist weniger zartfühlend gewesen; er hält es für eine selbstverständ-
liche Sache, daß ein Staatsmann von egoistischen Motiven geleitet wird, und
legt demgemäß solche Beweggründe auch den Männern unter, die er am höchsten
bewundert, einem Brasidas (V 16, 1), einem Nikias (a. a. 0.), einem Phrynichos
(VIII 50, vgl. VIII 27, 5).
Hilfsquellen Athens. 299
über eine gewaltige Macht ^. Sämtliche Inseln des Aegaeischen
Meeres von Kreta nordwärts waren ihm untertänig, mit der
einzigen Ausnahme von Melos und Thera; an der thrakischen
Küste gehorchten ihm auch jetzt noch, nach dem Abfall von
Poteidaea und Olynthos, der größte Teil der chalkidischen
Halbinsel und alle Griechenstädte vom Strymon zum Bosporos;
ebenso fast alle Griechenstädte Asiens von Kalchedon bis
Knidos. Im Westen standen Zakynthos ^, Kerkyra, die
Messenier von Naupaktos, die Akarnanen und Amphilocher,
Rhegion und Neapolis in Italien, Leontinoi und Segesta in
Sicilien mit Athen im Bunde. Die jährlichen Einnahmen
des Reiches betrugen gegen 600 Talente, eine Summe, wie
sie kein anderer Staat der damaligen Welt einnahm, mit
Ausnahme des persischen Reiches und etwa der Republik
Karthago. Aus den Überschüssen dieser Einnahmen war ein
Reservefonds von 6000 Talenten angesammelt worden. In
den Arsenalen des Peiraeeus lagen 300 Trieren; außerdem
verfügte Athen über die Flotten von Lesbos, Chios und Ker-
kyra; und mehr noch als die Zahl wog die erprobte Tüchtigkeit
der athenischen Marine, die auf der ganzen Welt keinen Rivalen
zu fürchten hatte. Schhmmer bestellt war es mit der Land-
macht Athens. Allerdings mochte das attische Reich den
peloponnesischen Bund an Volkszahl um mehr als das doppelte
übertreffen; und die 13 000 Hophten und 1000 Reiter, die
Athen selbst aufzustellen vermochte ^, brauchten den Ver-
gleich mit keiner anderen griechischen Bürgerwehr zu scheuen,
die von Sparta und Theben allein etwa ausgenommen. Da-
gegen war die Bevölkerung der Städte in Kleinasien und auf
den Inseln durchaus unkriegerisch, und was noch mehr ins
Gewicht fiel, politisch ganz unzuverlässig. Athen war also
^ Vgl. die Übersichten bei Thuk. II 9 und 13.
^ Die Insel war mit Kerkyra verbündet (Thuk, I 47) und dadurch auch
mit Athen. Akarnanien wurde' durch den Gegensatz zu den korinthischen
Kolonien Ambrakia und Leukas auf die athenische Seite gedrängt. Das Bündnis
ist durch Phormion abgeschlossen (Thuk. II 68, 8), wohl schon vor dem dreißig-
jährigen Frieden.
= Vgl. Klio V, 1905, S. 356 ff.
300 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias*
♦
im wesentlichen angewiesen auf das Aufgebot seiner eigenen
Bürger und seiner iCleruchen in Lemnos, Imbros, Skyros,
Oreos; es konnte nicht daran denken, ein Hophtenheer auf-
zustellen, das dem Aufgebot des peloponnesischen Bundes
an Zahl, oder gar an Qualität gewachsen gewesen wäre.
Perikles war von dieser Inferiorität Athens zu Lande
so vollständig überzeugt, daß er von vornherein entschlossen
war, auf jede Verteidigung Attikas zu verzichten. Die Be-
völkerung und ihre bewegliche Habe sollte hinter den Mauern
der Hauptstadt in Sicherheit gebracht, der Peloponnes durch
die Flotte blockiert und durch Landungen in Atem gehalten
werden. Bei der unbedingten Überlegenheit Athens zur See
und der Stärke seiner Befestigungen die jeden Versuch einer
Belagerung von vornherein aussichtslos machte, schien dieser
Kriegsplan zum sicheren Siege führen zu müssen. Die Frage
war nur, wer die Sache am längsten aushielt. Denn der Schaden,
den die Verheerung einiger Küstenstriche des Peloponnes
durch die attische Flotte verursachte, kam gar nicht in Betracht
gegen den Ruin der gesamten Landbevölkerung Attikas,
den die peloponnesische Invasion herbeiführen mußte; der
Kern der feindlichen Macht aber blieb für Athen unverwund-
bar. So ansehnlich ferner der Schatz war, den Perikles auf
der Burg gesammelt hatte, er mußte durch einige Kriegsjahre
erschöpft werden, und dann stand Athen vor der Notwendig-
keit, die Treue der Bundesgenossen durch Erhöhung der
Tribute auf eine schwere Probe zu stellen. War es gewiß, daß
sie diese Probe bestehen würde.? Und wie, wenn Athen gar
von unvorhergesehenen Unglücksfällen betroffen wurde .f*
Aber auch wenn Perikles' Berechnungen sämtlich in Erfüllung
gingen, wenn Athen sein Machtgebiet im vollen Umfang
behauptete, wenn die Peloponnesier im Laufe der Jahre des
Krieges müde wurden, so war das höchste, was sich bei dem
perikleischen Kriegsplan erreichen ließ, ein fauler Frieden
auf Grund des bisherigen Besitzstandes. War das ein Ziel,
das so unermeßlicher Opfer wert gewesen wäre.'* ^
^ Vgl. Pflugk-Harttung, Perikles als Feldherr, Stuttgart 1884. Ein ähn-
liches Urteil über den perikleischen Kriegsplan habe ich gleichzeitig in meiner
Perikles' Kriegsplan. — Stimmung in Hellas. 301
Im Peloponnes hatte man indes mit Eifer gerüstet. Mit
Boeotien wurde ein Bündnis geschlossen und damit nicht
nur eine sehr ansehnhche Verstärkung der verfügbaren Streit-
kräfte gewonnen, sondern vor allem eine gesicherte Operations -
basis für den Einfall in Attika, der im nächsten Sommer
erfolgen sollte. Ebenso schlössen die im Jahr 446 gleichzeitig
mit Boeotien von der athenischen Herrschaft befreiten Land-
schaften Lokris und Phokis sich den Peloponnesiern an ^.
Von den peloponnesischen Kolonien im Westen, die ja ebenso
wie ihr Mutterland von den Expansionsbestrebungen Athens
bedroht waren, erwartete man Unterstützung an Schiffen ^.
Gegen Argos war man durch den 451 abgeschlossenen dreißig-
jährigen Frieden noch auf weitere 10 Jahre gesichert. Über-
haupt standen die Sympathien der großen Mehrheit der
Nation durchaus auf der Seite Spartas, dessen Sieg den ge-
knechteten Bundesstaaten Athens die Freiheit, dem Reste
von Hellas die Befreiung von der Gefahr bringen mußte,
ebenfalls der Knechtschaft Athens zu verfallen ^. Die Athener
haben denn auch im Laufe des Krieges durch politische Propa-
ganda so gut wie garnichts erreicht, während die Peloponnesier
Attischen Politik (Leipzig 1884) S. 22 ff. ausgesprochen. Da Thukydides für
den perikleischen Kriegsplan voll Bewunderung ist, hat dies Urteil natürlich
bei den modernen Thukydides-Theologen die lebhafteste Entrüstung erregt.
Aber welches Gewicht kann denn die Ansicht eines Mannes haben, der seine
militärische Unfähigkeit Brasidas gegenüber so glänzend bewiesen hat ? Daß
Perikles wohl daran tat, zur Verteidigung Attikas keine Feldschlacht zu wagen,
wird allerdings niemand bestreiten, der imstande ist, sich ein Bild von der
damaligen militärischen Lage zu machen (Delbrück, Strategie des Perikles,
Berlin 1890), aber ebensowenig, daß im ersten Kriegsjahr sehr viel mehr hätte
geschehen können, als die unfruchtbare Flottendemonstration um den Pelo-
ponnes und die militärisch zwecklose Verheerung der Megaris. Kythera z. B.
hätte schon damals besetzt werden können. Wer freilich auf Grund von Thuk.
II 13 glaubt, Athen habe 29 000 Hopliten aufstellen können, wird Perikles'
Kriegsplan verurteilen müssen; denn mit einer solchen Macht, die sich ja noch
durch Bundeskontingente hätte verstärken lassen, wäre Athen sehr wohl im-
stande gewesen, eine Feldschlacht zu liefern, mindestens doch eine Defensiv-
schlacht in starker Stellung.
1 Thuk. II 9.
« Thuk. II 7.
* Thuk. II 8. 4—5.
302 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
derselben ihre hauptsächlichsten Erfolge zu verdanken hatten.
Auch das delphische Orakel gab dieser Stimmung Ausdruck
und verhieß den Peloponnesiern den Sieg, wenn sie den Krieg
mit Nachdruck führen würden; der göttliche Beistand sei
ihnen in jedem Falle gewiß ^.
So ging man denn im Peloponnes voll Enthusiasmus
und Siegeszuversicht in den Krieg. Man war überzeugt, die
Macht Athens in wenigen Feldzügen durch die Verheerung
Attikas brechen zu können ^; und nach den mühelosen Er-
folgen des Jahres 446 war es ja sehr begreiflich, daß man die
Zukunft im rosigen Lichte sah. Erfahrene Kriegsmänner
freilich, wie der alte König Archidamos, schüttelten zu solchen
Erwartungen das Haupt ^; sie sahen voraus, daß der Krieg,
in den man sich zu stürzen im Begriffe stand, sehr langwierig
werden würde, und erkannten, daß eine Niederwerfung Athens
nur dann möglich sei, wenn es gelang, den Feind auf seinem
eigenen Elemente, der See, zu überwinden. Dazu gehörten
aber, von allem übrigen abgesehen, sehr große Geldmittel,
die der Peloponnes aus eigener Kraft aufzubringen ganz außer-
stande war. Allerdings lagen die Tempelschätze von Delphi
und Olympia im peloponnesischen Machtbereich; aber die
Lakedaemonier waren viel zu fromme Leute, als daß sie
gewagt hätten, daran zu rühren *. Und ob der peloponnesische
Bund innerlich hinreichend gefestigt war, die Wechselfälle
eines langen Krieges zu überstehen? Noch jetzt war er kaum
etwas anderes, als was er vor einem Jahrhundert bei seiner
Gründung gewesen war, ein loses Aggregat souveräner
Staaten, die nichts zusammenhielt, als ihr guter Wille und
die Furcht vor der mihtärischen Überlegenheit Spartas.
Schon einmal, nach den Perserkriegen, war der Bund in
Stücke gegangen, und es hatte lange Kämpfe geko'stet, ihn
1 Thuk. I 118. 3.
2 Thuk. V 14. 3.
=" Thuk. I 81. 6.
* In Korinth und Athen, wo man aufgeklärter war, scheint man das
allerdings befürwortet, beziehungsweise gefürchtet zu haben: Thuk. I 121,
3; 143. 1.
Machtmittel der Peloponnesier. — Überfall von Plataeae, 303
wieder aufzurichten. Der Kriegseifer, der den Peloponnes jetzt
erfüllte, mußte in wenigen Jahren verraucht sein; und wenn
dann ein ernstlicher Unfall eintrat, wer vermochte für die
Treue der Bundesgenossen zu bürgen? Immerhin lagen die
Aussichten auf Erfolg für die Peloponnesier viel besser als
für Athen; denn eine Flotte konnte der Peloponnes im Laufe
der Zeit sich schaffen, Athen aber niemals ein dem pelo-
ponnesischen ebenbürtiges Landheer. Wenn es trotzdem
27 Jahre gedauert hat, bis das attische Reich niedergeworfen
war, so lag die Schuld zumeist an der Unfähigkeit der leitenden
Männer in Sparta, oder vielmehr an der verrotteten spar-
tanischen Verfassung, die alle Nachteile der Monarchie und
Oligarchie in sich vereinigte und wie eigens darauf berechnet
schien, aufstrebenden Talenten den Weg zu verlegen. Und
darin liegt auch der Grund, daß Sparta, als es endlich am
Ziele stand, die Früchte seines Sieges nicht festzuhalten
vermocht hat.
Der Krieg war also beschlossen; die peloponnesischen
Rüstungen näherten sich ihrer Vollendung, im Sommer 431
sollte das Bundesheer in Attika einfallen. Auf der Nation
lag jene Gewitterschwüle, wie sie großen Katastrophen voraus-
geht. Überall drängte sich die abergläubische Menge um die
Wahrsager; daß Delos, die heilige Insel Apollons, zum ersten
Male seit Menschengedenken von einem Erdbeben erschüttert
wurde, galt als bedeutsames Vorzeichen, und selbst der auf-
geklärte Geschichtschreiber dieser Zeit hat es nicht verschmäht,
die Tatsache der Nachwelt zu überliefern ^.
Dei Feindseligkeiten begannen in Boeotien. Hier hatte
sich, wie wir wissen (oben IIS. 391), die Stadt Plataeae
schon vor den Perserkriegen von den übrigen Städten der
Landschaft getrennt und war mit Athen in enge Verbindung
getreten, an der sie seitdem durch alle Wechselfälle des Schick-
sals hindurch festgehalten hatte. Diese attische Festung
^ Thuk. II 8. — über die Zustände in Athen während des Krieges vgl
außer den oben I 1 S. 28 angeführten Schriften von Müller- Strübing, G. Gilbert
Beiträge zur inneren Geschichte Athens im Zeilalter des peloponnesischen Krieges,
Leipzig 1877, und meine Attische Politik seit Perikles, Leipzig 1884.
304 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
mitten in Boeotien, kaum drei Wegstunden von Theben
entfernt, war für dieses eine beständige Drohung; doppelt
gefährlich jetzt, wo man am Vorabend des Krieges stand.
So faßte man den Plan, sich noch vorher der Stadt zu be-
mächtigen. Die ohgarchische Partei in Plataeae selbst bot
zu dem Unternehmen die Hand; mit ihrer Hilfe drang in einer
regnerischen Nacht, etwa Anfang März 431, ein Korps von
300 thebanischcn Hophten in die Stadt ein. Indes die große
Mehrzahl der Bürgerschaft wollte von einem Anschluß an den
boeotischen Bund nichts wissen. Die Ankunft der Verstärkung
aus Theben verspätete sich, und als der Morgen graute, waren
die Thebaner überwältigt und gezwungen, die Waffen zu
strecken. Die Gefangenen, 180 an Zahl, darunter Männer
aus den besten Familien Thebens, wurden sofort hingerichtet;
die Abmahnung aus Athen kam zu spät. Die blutige Tat
sollte furchtbar auf die Häupter ihrer Urheber zurückfallen ^.
Athen antwortete auf den Friedensbruch mit der Fest-
nahme aller in Attika befindlichen Boeoter; das attische
Heer überschritt den Kithaeron, setzte Plataeae in ver-
teidigungsfähigen Zustand und brachte den nicht kriegs-
tüchtigen Teil der Bevölkerung nach Athen in Sicherheit ^.
Aber man vermied jedes aggressive Vorgehen gegen Boeotien;
je mehr Perikles sich bewußt war, den Krieg provoziert zu
haben, um so sorgfältiger war er bestrebt, die formelle Ver-
antwortlichkeit für den Beginn der Feindseligkeiten den
Gegnern zuzuschieben.
Zwei Monate nach dem Überfall von Plataeae, im Mai,
sammelte König Archidamos auf dem Isthmos die pelo-
ponnesischen Bundeskontingente, zwei Drittel der feld-
tüchtigen Mannschaft, etwa 20 000 Hopliten. Ehe er vor-
rückte, machte er noch einen letzten Versuch, den Ausbruch
des Krieges zu hindern; vielleicht, daß in Athen angesichts
des feindlichen Heeres noch in der zwölften Stunde die Friedens -
partei die Oberhand gewann. Perikles scheint etwas Ähnliches
gefürchtet zu haben; er ließ den lakedaemonischen Herold
1 Thuk. II 2—6. Über die Chronologie unten 2. Abt. § 98.
" Thuk. II 6.
Archidamos in Attika. 305
gar nicht in die Stadt und sandte ihn sofort unter mihtärischem
Geleit an die Grenze ^.
Archidamos setzte nun sein Heer in Marsch und rückte,
durch etwa 5000 boeotische Hophten verstärkt, in Attika
ein. Treu dem gefaßten Entschlüsse, sich streng in der Defen-
sive zu halten, hatte Perikles noch wenige Wochen vor dem
Einmarsch der Peloponnesier ein Korps von 1600 Hopliten
nach Poteidaea abgehen lassen (oben S. 291). Er verzichtete
denn auch darauf, durch einen Vorstoß nach der Megaris
die Pässe der Geraneia in seine Hand zu bringen und damit
den Peloponnesiern den Weg nach Attika zu verlegen; eine
Operation, die übrigens, mit den Boeotern im Rücken, mili-
tärisch recht bedenklich gewesen wäre. Aber auch in Attika
selbst setzte er dem Feinde nicht den geringsten Widerstand
entgegen, eine so treffliche Verteidigungslinie die Höhen
geboten hätten, welche die Ebene von Athen und die Ebene
von Eleusis trennen. Er wußte, wie viel die Disziplin seiner
Bürgermilizen zu wünschen ließ, und fürchtete, gegen seinen
Willen zur Feldschlacht fortgerissen zu werden, die bei der
großen Übermacht des Gegners zu einer sicheren Niederlage
geführt haben würde.
Archidamos konnte also ungehindert vorrücken und
die Felder verwüsten, auf denen das Getreide eben in Reife
stand. Während dessen strömte die Landbevölkerung in die
Tore der Hauptstadt; Wagen mit Hausrat, Herden von Rindern
und Schafen drängten sich in den Straßen ^. Wenige fanden
bei Verwandten und Freunden Unterkunft; die große Masse
lagerte in den Tempeln, oder in Baracken, die auf allen freien
Plätzen der Stadt errichtet wurden ^ Es gehört wenig Phan-
tasie dazu, sich die Stimmung auszumalen, die unter den
Flüchtlingen herrschte. Und als nun die Peloponnesier bis
nach Acharnae vordrangen, etwa 10 km von der Stadt,
und unter den Augen der Bürgerschalt die Felder verheerten
^ Thuk. II 10 — 12. Über die Stärke des peloponnesischen Heeres Klio
VI, 1906, S. 77.
" Andok. fr. 4 bei Suid. OKcivblS-
3 Thuk. II 17.
B e 1 o c h , Griech. Geschichte, II i. 2. Aufl. 20
306 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
und die Dörfer niederbrannten, da fehlte wenig, daß es in
Athen zum offenen Aufruhr gekommen wäre. Die kriegs-
tüchtige Mannschaft verlangte stürmisch gegen den Feind
geführt zu werden. Aber Perikles hielt die Leitung des Staates
in fester Hand. Seit der Feind im Lande stand, hatte er
diktatorische Machtvollkommenheit; Volksversammlung und
Gericht waren suspendiert, und es war dem Volke damit die
Möglichkeit entzogen, irgendeinen unüberlegten Beschluß zu
fassen. Als Archidamos sah, daß der Gegner ihm den Gefallen
nicht tat, eine Schlacht anzunehmen, verließ er seine Stellung
bei Acharnae und marschierte über den Farnes und bei Oropos
vorbei durch Boeotien nach dem Isthmos, wo die Kontingente
entlassen wurden. Der ganze Feldzug hatte kaum einen Monat
gedauert ^.
Perikles hatte indessen eine Flotte von 100 Trieren,
mit 1000 HopHten an Bord, gegen den Peloponnes in See
gehen lassen. So geringe Kräfte konnten selbstverständlich
nichts Ernstliches ausrichten. Einige Küstendistrikte wurden
verheert, aber vor den aus dem Innern heranrückenden Ver-
stärkungen mußten die Athener sich jedesmal eilig auf ihre
Schiffe zurückziehen. Doch wurde die wichtige Insel Kephallenia
zum Anschluß an Athen bewogen und in Akarnanien die kleine
korinthische Pfianzstadt Sollion erstürmt 2.
Hatte die Kriegführung demnach nur sehr dürftige
Resultate ergeben, so sollte dem Selbstgefühl des Volkes
nach anderer Seite hin Genugtuung gegeben werden. Die
wehrlosen Bewohner von Aegina wurden von Haus und Hof
getrieben auf die Beschuldigung, mit Sparta in hochver-
räterische Verbindung getreten zu sein; attische Kleruchen
teilten sich den Boden der Insel. Den Vertriebenen gewährten
die Lakedaemonier eine Zuflucht in Thyrea an der argeiischen
Grenze. Im Herbst unternahm dann Perikles mit dem Gesamt-
1 Thuk. II 18—23.
2 Thuk. II 23—25. 30. Nach CIA. I 179 a. IV S. 161 ist die Abfahrt der
Flotte noch vor Ablauf des attischen Jahres 432/1, wahrscheinlich am Ende
der 9. Prytanie (Juni) erfolgt (Kolbe, Hermes XXXIV, 1899, S. 393; Busolt,
ebenda XXXV S. 582).
Flottendemonstration der Athener. — Zweiter Einfall der Peloponnesier. 307
aufgebot Athens einen Rachezug nach der Megaris; das offene
Land wurde gründlich verwüstet, die befestigte Stadt zu
nehmen machte man nicht einmal den Versuch ^.
Alles in allem genommen, hatte Perikles doch Ursache,
mit den Ergebnissen dieses ersten Feldzuges nicht unzu-
frieden zu sein. Waren auch keine großen mihtärischen Erfolge
erzielt, so war wenigstens jeder ernste Unfall vermieden worden.
Die feindliche Invasion war auf die nördlichen Distrikte von
Attika beschränkt geblieben; bis unter die Mauern der Haupt-
stadt vorzurücken hatte der Feind nicht gewagt, ebensowenig
Athen in der Flanke zu lassen und in die Paralia vorzudringen.
Und was die Hauptsache war, der äußeren Gefahr gegenüber
verstummte aller Hader im Innern; fester als je scharte sich
die Bürgerschaft um den Mann, der nun einmal an der Spitze
des Staates stand. Aber Perikles sollte bald inne werden,
wie gefährlich das Spiel war, das er spielte.
Im folgenden Frühjahr (430) überschritt König Archi-
damos an der Spitze des peloponnesischen Bundesheeres
von neuem die attische Grenze, Hatte er im vorigen Jahr
den Feind geschont, um den Bruch nicht von vornherein
unheilbar zu machen, so war er jetzt entschlossen, gründhche
Arbeit zu tun. Volle 40 Tage blieb das Heer im Lande, das
bis zu seiner äußersten Südspitze hin verwüstet wurde. Perikles
aber hielt auch jetzt an seinem Plane fest, eine Schlacht nicht
zu wagen, und gab den Süden Attikas ebenso preis wie im
vorigen Jahre den Norden 2.
Doch so schwer Athen durch diese Verheerung getroffen
wurde, es trat alles zurück gegenüber dem Unheil, das die
Pest über die Stadt brachte. Seit längerer Zeit hatte eine
ansteckende Krankheit Aegypten und die Länder Vorder-
asiens verheert, war dann in Lemnos eingeschleppt worden
und trat zu der Zeit, wo die Peloponnesier in Attika einfielen,
in Peiraeeus auf, um bald nach der oberen Stadt vorzudringen.
Unter normalen Umständen hätte das nicht so viel zu bedeuten
1 Thuk. II 27—31, Plut. Per. 30.
2 Thuk. II 47. 55. 57.
20'
308 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
gehabt ^, jetzt aber war die gesamte Landbevölkerung Attikas
innerhalb der Belestigungen Athens in engen und ungesunden
Wohnungen zusammengedrängt, mit der Bevölkerung der
Stadt selbst eine Masse von etwa 200 000 Menschen. Unter
diesen Umständen mußte die Pest die furchtbarsten Ver-
heerungen anrichten; während der 3 Jahre (430. 429. 426),
in denen sie Athen heimsuchte, ist etwa ein Viertel aller Be-
wohner Attikas ihr zum Opfer gefallen ^, Unter dem er-
schütternden Eindrucke dieses Unglücksschlages war die
bürgerliche Ordnung zeitweise nahe daran, sich aufzulösen.
Unbegrabene Leichen lagen auf den Straßen und selbst in den
Heiligtümern; dumpfe Verzweiflung bemächtigte sich der
Massen; das Vertrauen auf die Götter, die doch keine Rettung
brachten, begann zu schwinden. Wie immer in solchen Fällen,
zeigte sich neben hochherziger Aufopferung und Nächstenliebe
auf der anderen Seite die rückhaltloseste Selbstsucht ^.
Auf die Nachricht von der Pest in Athen zog der Feind
ab *; und wirklich blieb der Peloponnes von der Krankheit
verschont ^. Der bestehende Kriegszustand zeigte sich als
wirksamste Quarantäne; denn die Peloponnesier töteten
ohne Erbarmen jeden Athener oder athenischen Bundes-
genossen, der in ihre Hände fiel. Perikles hatte indessen,
um der Erregung des Volkes eine Ableitung zu geben, eine
große Expedition gegen den Peloponnes ins Werk gesetzt,
zu der 150 Kriegsschiffe und 4000 Hopliten aufgeboten wurden.
Aber der Angriff auf das feste Epidauros blieb ohne Erfolg,
und schHeßlich beging man den kaum glaublichen Fehler,
die schon verseuchten Truppen nach Poteidaea zu führen,
wodurch natürlich auch das "Belagerungskorps angesteckt
wurde. Militärisch war das Unternehmen ganz zwecklos,
^ Es ist auffallend, wie selten in unserer doch verhältnismäßig reichen
Überlieferung über die Geschichte des V. und IV. Jahrhunderts von verheerenden
Epidemien die Rede ist.
2 Von den 14 000 Hopliten und Reitern starben nach Thuk. III 87 4700
Mann, wobei aber die Verluste im Felde eingerechnet sind, vgl. Klio V 372 f.
3 Thuk. II 47—54.
* Thuk. II 57.
5 Thuk. II 54-55.
Die Pest in Athen. — Perikles' Sture. 309
da die starke Festung durch Sturm nicht zu nehmen war
und zu einer bloßen Einschließung auch die bereits dort
stehenden Truppen reichlich genügten. Es wurde denn auch
nicht das geringste erreicht, und bald zwang die Pest dazu,
das Heer nach Athen zurückzuführen, nachdem man mehr
als 1000 Hopliten, ein Viertel der ganzen Stärke, nutzlos
geopfert hatte ^.
Jetzt trat in Athen eine tiefe Entmutigung ein. Man
begann Unterhandlungen mit Sparta; dort aber stellte man
unannehmbare Forderungen, und so blieb nichts übrig, als
trotz der Pest den Krieg weiter zu führen ^. Und nun brach
der Sturm gegen den Mann los, dessen Politik so unsägliches
Unheil über den Staat gebracht hatte. Perikles sah sich von
seinen eigenen Anhängern verlassen und wurde durch Volks -
beschluß seines Strategenamtes entsetzt, das er seit so langen
Jahren bekleidet hatte. Eine Anklage wegen Unterschlagung
öffentlicher Gelder sollte den Sieg der Opposition vervoll-
ständigen und Perikles für immer politisch unmöglich machen.
Bei der herrschenden Stimmung konnte der Ausgang nicht
zweifelhaft sein; die Geschworenen sprachen Perikles schuldig
und verurteilten ihn zu einer schweren Geldbuße. Wenig
hätte gefehlt, und das Todesurteil wäre gegen den Mann
gefällt worden, der soeben noch mit fast monarchischer Macht-
fülle über die Hälfte von Griechenland gewaltet hatte ^
Juristisch war der Spruch wahrscheinlich ungerecht,
1 Thuk. II 56. 58.
2 Thuk. II 59, 2. 65, 2.
^ Thuk. II 59 — 65 berichtet nur die Veranlassung und den Ausgang (II
65, 3) des Prozesses. Näheres bei Flut. Per. 32. 35, vgl. meine M. Politik S. 330
bis 335, wo gezeigt ist, daß die Angaben bei Plut c. 32 sich auf diesen Prozeß
beziehen. Weiteres bei Swoboda, Hermes XXVIII, 1893, S. 536 ff. und Wila-
mowitz, Aristoteles II 245 £E. Da die Strategenwahlen für 430/29 ohne Zweifel
schon vor dem Einfall der Peloponnesier stattgefunden haben, der Prozeß aber
erst im Herbst oder Winter zur Verhandlung gekommen ist (unten 2. Abt § 98),
so handelt es sich um eine Apocheirotonie, wie auch bei Plut c. 35 (dqpe\^CF0ai
xrfv OTpaTiTfiav) und Diod. XII 45, 4 (dTcoaTiiaavTe«; Tf|<; axpa-rtiTia?) aus-
drücklich gesagt ist Die feierlichen Formen, in denen verhandelt wurd», be-
weisen ferner, daß es sich um mehr handelte, als um eine gewöhnliche eöBuva.
310 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
denn Perikles scheint einer der nicht sehr zahlreichen griechi-
schen Staatsmänner gewesen zu sein, die ganz reine Hände
hatten ^. Aber der Spruch sollte auch nicht den Verwaltungs-
beamten treffen, sondern den Politiker, der aus persönlichen
Motiven den hellenischen Bruderkrieg entzündet und sich
damit des größten Verbrechens schuldig gemacht hatte, das
die ganze griechische Geschichte kennt.
Die Opposition hatte also ihr nächstes Ziel erreicht;
aber es zeigte sich bald, daß die eigenthchen Schwierigkeiten
erst jetzt begannen. Poteidaea freilich ergab sich im Laufe
des Winters (430/29), nachdem die Stadt 2 Jahre lang sich
heldenmütig verteidigt hatte und durch den Hunger aufs
äußerste gebracht war; die Feldherren des Belagerungsheeres
bewilHgten der Bürgerschaft freien Abzug. Das Gebiet wurde
an attische Kleruchen verteilt, und Poteidaea bildete seit-
dem einen der hauptsächlichsten Stützpunkte Athens an
der thrakischen Küste ^. Aber die Freude über den Erfolg
wurde getrübt durch die schwere Niederlage, die das nun
freigewordene Belagerungsheer im nächsten Frühjahr (429)
gegen die Chalkider vor Spartolos erlitt. Die Schlacht ist
kriegsgeschichtlich interessant dadurch, daß die attischen
Hopliten, nachdem sie die feindHchen Hophten besiegt, den
chalkidischen Reitern und Peltasten erlagen; eines der ersten
Anzeichen dafür, daß die alte Hoplitentaktik sich überlebt
hatte, der man die Siege bei Marathon und Plataeae ver-
dankte ^.
Da erschien den Athenern eine unerwartete Hilfe. Seit
Thrakien von der Perserherrschaft frei geworden war, hatten
die Odryser im fruchtbaren Hebrostale ihre Macht über die
Nachbarvölker auszudehnen begonnen; unter König Sitalkes,
um den Anfang des peloponnesischen Krieges, erstreckte
^ Wenigstens nach Thukydides' Urteil, das er eben bei dieser Gelegenheit
ausspricht (II 60, 5 xpri|LidTU)v Kpeiaacuv, 65, 8 xpriMÖTiuv xe biaqpavu»^ äbuupö-
TOTO? Yevö|aevoO- Piaton allerdings scheint anderer Ansicht gewesen zu sein
{Gorg. 515 c).
2 Thuk. II 70, Diod. XII 46, 7, CIA I 340 = Ditt. Syll"^ 28.
8 Thuk. II 79.
Einnahme von Poteidaea. — Zug des Sitalkes. 311
sich ihr Reich von Abdera und dem oberen Strymon bis zum
Istros und dem Schwarzen Meer, über ein Gebiet von etwa
130 000 qkm. Auch die hellenischen Städte an der Küste
des Pontos hatten die Oberhoheit der Odryser anerkennen
und sich zur Tributzahlung verstehen müssen; die jährlichen
Einkünfte des Königs sollen sich unter Sitalkes' Nachfolger
Seuthes auf 800 Talente Silber belaufen haben, wozu noch
bedeutende Naturalleistungen hinzukamen ^. Im Jahre 431
war Sitalkes mit den Athenern in Bund getreten, und es war
zum Teil sein Einfluß gewesen, der damals Perdikkas von
Makedonien bestimmt hatte, von der peloponnesischen auf
die athenische Seite hinüberzutreten ^. Seitdem hatte der
thrakische König nichts mehr für die Athener getan; jetzt
endlich rüttelte der Fall von Poteidaea ihn aus seiner Un-
tätigkeit auf. Aber der Herbst kam heran, ehe er seine Massen
in Bewegung setzte (429). Es war ein gewaltiges Heer, und
das Gerücht vergrößerte die Zahl bis ins maßlose; erzählte
man sich doch in Griechenland, daß Sitalkes 100 000 Mann
zu Fuß und 50 000 Reiter heranführe. Über das Gebirge
am oberen Strymon rückte er von Norden her in Makedonien
ein, dessen König Perdikkas allerdings mit Athen in Frieden
stand, aber mit Sitalkes sich überworfen hatte. Idomene
am Axios wurde erstürmt, das flache Land bis nach Pella
hin verwüstet; schon begann man in Thessalien den Einbruch
der Thraker zu fürchten und rüstete sich zu ihrem Empfang.
Indes zu einer Belagerung fester Plätze waren die Barbaren
ganz außerstande, und so wandte sich Sitalkes nach der
Chalkidike, wohin die Athener versprochen hatten, eine Flotte
zu seiner Unterstützung zu senden. Aber es scheint, daß man
auch in Athen anfing, vor dem barbarischen Bundesgenossen
* Thuk. II 97. Das Reich umfaßte etwa das bisherige Bulgarien und das
frühere Vilajet Adrianopel. Den Ertrag der Tribute schlägt Thukydides
auf 400 Talente an; ebenso hoch hätten sich die Geschenke belaufen, die der
König erhielt. Namentlich die letztere Angabe ist offenbar weit übertrieben.
Über die Geschichte des Odryserreiches vgl. Hock, Hermes, XXVI, 1891, S. 76
bis 117.
2 Thuk. I 29; vgl. Aristoph. Acharn. 134 ff.
312 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Besorgnis zu haben; jedenfalls blieb die Flotte aus, und so
zwang der Mangel an Lebensmitteln und das Hereinbrechen
des Winters Sitalkes zum Rückzug, 30 Tage nach seinem
Einmarsch in Makedonien ^. Das ganze Unternehmen war
vergeblich gewesen, und die athenische Herrschaft auf der
Chalkidike blieb beschränkt auf die Halbinseln Pallene, Sithonia
und Akte, und die Städte Aeneia, Akanthos, Stagiros 2.
Glänzender hätte sich Perikles' Unentbehrlichkeit gar
nicht beweisen lassen, als es in der kurzen Zeit seit seinem
Sturze durch seine Feinde geschehen war. Mochte das peri-
kleische System so schlecht sein wie es nur wollte, von den
Übeln, zwischen denen man zu wählen hatte, war es noch
immer das kleinere. So erfolgte im Frühjahr 429 ein Um-
schwung der öffentlichen Meinung. Die unnatürliche Koalition
löste sich auf, die im vorigen Jahre Perikles gestürzt hatte.
Der Demos scharte sich aufs neue um seinen alten Führer,
und Perikles wurde für 429/8 wieder zum Strategen gewählt ^.
Aber seine Kraft war durch die Schläge der letzten Jahre
gebrochen. Häusliches Unglück trat hinzu; seine beiden
legitimen Söhne, Xanthippos und Paralos, wurden kurz
nacheinander von der Pest hingerafft. Kaum hatte er um Mit-
sommer 429 sein Strategenamt angetreten, so wurde auch
er von der Krankheit ergriffen und erlag ihr im August oder
September des Jahres *.
Jetzt begann der Kampf der Parteien aufs neue. Unter
Perikles' Freunden war der bedeutendste Dämon, der Sohn
des Damonides aus Oea, ein tüchtiger Musiker, der auch der
1 Thuk II 95—101. Der Zug hatte toö xei|UUJV0? äpxo^^vou (Thuk. II 95, 1)
begonnen.
* Der Umfang der athenischen Herrschaft auf der Chalkidike in dieser
Zeit ergibt sich aus den TributHsten CIA I 256 (aus 432/1), 259 (aus 427/6)
und 257 (aus 426/5). Die Liste 259 ist vollständig erhalten; der Gesamtbetrag
der Tribute beträgt 87 tal. 3835 dr., während der thrakische Bezirk vor dem
Kriege gegen 139 tal. gezahlt hat.
* Thuk. II 65, 4. Es ist an sich klar und wird durch Thukydides bestätigt,
daß Perikles' Wiederwahl erst bei den Archaeresien für 429/8 erfolgt sein kann.
* Thuk. II 65, 5, Plut. Per. 36 f., Protagoras fr. 9 Diels bei Plut Trosi-
schrift an Apollonios 33 S. 181.
Perikles' Wiederwahl. Sein Tod. Seine Nachfolger. 313
neuen Bildung nicht fernstand und über die Theorie seiner
Kunst geschrieben hat; er war schon seit langen Jahren an
Perikles' Seite politisch tätig gewesen und also bereits ein Mann
in höherem Alter, gleichwohl erschien er den Gegnern so
gefährlich, daß sie ihn durch das Scherbengericht aus Athen
verbannten ^ (wohl Frühjahr 428). Sonst hatte das persön-
liche Regiment, wie überall, so auch in Athen nur Mittel-
mäßigkeiten aufkommen lassen; Perikles' Werkzeuge waren
geistige Nullen, denen jede Fähigkeit zu selbständiger Initiative
abging. So der Mann, der Perikles in den letzten Jahren
vielleicht am nächsten gestanden und dem er bei seinem
* Freund des Sokrates und Prodikos: Fiat. Lackes 197 d, des Perikles
noch in dessen letzten Jahren Alk. I 118 c, bei Piaton als Autorität in musi-
kalischen Dingen genannt (Lackes 180 d, 200 ab; Staat III 400 b, IV 424 c).
Als Chiron, der Perikles aufgezogen habe, wird er bei dem Komiker Piaton
angeredet (fr. 191 K bei Plut. Per. 4); auch nach Isokrates XV (Antid.) 235
war Perikles ein Schüler Dämons tou kqt' dKcTvov töv xpövov qppovijiiuJTäTOU
böEavToq eivai toiv ttoXituiv. Ähnlich Plut. Aristeid. 1, Per. 4. Als Perikles'
politischer Ratgeber erscheint Dämon bei Aristot. ATT. 27, 4. Daß er älter als
dieser gewesen wäre, folgt daraus keineswegs; auch Anaxagoras war ja mit
Perikles etwa gleichaltrig, und Dämon kann recht gut sogar etwas jünger gewesen
sein. Da ihn Piaton in einer Komödie auftreten ließ, muß er zur Zeit des pelo-
ponnesischen Krieges gelebt haben, falls die Szene nicht etwa in den Hades
gelegt war. Agariste i^ yuvt) 'AXKjLiaiovibou, Tevo|u^vri ht Kai Adjuujvo? macht
im Mysterienprozeß 415 eine Aussage (Andok. I 16); es kann sein, daß sie die
Witwe unseres Dämon gewesen ist. Der Ostrakismos wird bezeugt bei Aristot.
ATT. 27, 4, Plut. Per. 4, Aristeid. 1, Nik. 6; die von Carcopino geäußerten Zweifel
{Rev. At. gr. XVIII, 1905, S. 415 ff., Bibl. de la Facuüe des Lettres de Paris,
XXV, 1909, S. 174 ff.) scheinen mir ohne Begründung. Es ist klar, daß der
Ostrakismos nur nach dem Tod des Perikles gesetzt werden kann, und das wird
durch Plut. Nik. 6 bestätigt. Daß^Thukydides nichts davon erzählt, ist kein
Gegengrund; erwähnt er doch auch den Ostrakismos des Hyperbolos bloß bei-
läufig und bei einer späteren Gelegenheit. Ein Fund von Stimmscherben, wahr-
scheinlich aus dieser Zeit, ist vor kurzem beimDipylon gemacht worden : 11 nennen
Thukydides, den Sohn des Melesias, 26 Kleippides, der 428 die gegen Lesbos
gesandte Flotte befehligt hat, je eine Teisandros, den Schwiegervater von Perikles
Sohn Xanthippos, und einen sonst unbekannten Eucharides (Jahrb. d. Inst.
XXVI, 1911, Anz. Sp. 121 f. ). Da Dämons Name fehlt, wird es sich um einen
anderen Ostrakismos aus dieser Zeit handeln. Vgl. über Dämon Wilamowitz,
Hermes XIV, 1879, S. 318 und Aristot. I 134, und über seine musikalisch- poli-
tische Schrift Bücheier, Rk. Mus. XL, 1885, S. 309.
314 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Tode die Sorge für seine Aspasia anvertraut hatte, Lysikles,
,,der Viehhändler", wie ihn die Komödie nennt \ Übrigens
fiel er schon im Herbst 428/7 auf einem Zuge nach Karlen ^.
Die Führung des Demos ging jetzt auf Kleon über, der, wie wir
wissen, der perikleischen PoHtik einst heftige Opposition
gemacht hatte und einer der hauptsächlichsten Urheber von
Perikles' Sturze gewesen war, jetzt aber die Ansicht vertrat,
daß man den einmal angefangenen Krieg mit Aufgebot aller
Kräfte zu Ende führen müsse. Doch die soziale Stellung
des Gerbermeisters war nicht derart, daß er auf eine Wahl
zum Strategen hätte rechnen dürfen, ein Ehrgeiz, der ihm
selbst übrigens zunächst noch sehr fern lag; und so konnte
er auf die Regierung und namentlich auf den Gang der Krieg-
führung nur indirekt Einfluß üben.
Der Führer der Gegenpartei, Thukydides, der Sohn des
Melesias, war nach Ablauf seiner zehnjährigen Verbannung
(435) in die Heimat zurückgekehrt, wo er sogleich an der
Agitation Anteil nahm, die zu Perikles' Sturz führte ^. Aber
er war schon zu alt, als daß er noch jetzt die Partei hätte leiten
können *. So ging die Führung auf Nikias über, den Sohn des
Nikerat OS, aus dem Bezirk Kydantidae. Ein durchaus achtungs-
werter Charakter und wie die meisten Mitglieder der vor-
nehmen Häuser Athens der bestehenden Verfassung aufrichtig
zugetan, auch ein ganz tüchtiger Subalternoffizier, fehlte
es ihm doch an jeder höheren militärischen und staatsmänni-
schen Begabung; sein Ansehen beruhte vor allem auf seinem
großen Reichtum, worin ihm wenige in Athen gleichkamen^-
^ Aristoph. Ritter 132. 765 mit den Scholl., Aeschin. der Sokrat. bei SchoL
Plat. Menex. 235 e, Plut Per. 24, Harpokr. unter 'Aairaoia. Vgl. Müller-
Strübing, Aristophanes S. 620 ff.
^ Thuk. III 19.
* Satyros bei Diog. Laert. II 12.
* Aristoph. Acharn. 708 ff., Wesp. 947, falls diese Verse auf den Sohn
des Melesias gehen, vgl. Kirchner, Prosopogr. I 472 und was dort angeführt
ist. Ein Altersgenosse des Perikles muß Thukydides jedenfalls gewesen sein,
da sein Sohn Melesias spätestens 461, wahrscheinlich 10 — 20 Jahr früher, geboren
ist, s. unten 2. Abt. § 17.
« Plut. Nik. 2 ff., Thuk. VII 86, 5, über seinen Reichtum Lys.l9 {v Aristoph.
Verm.) 47, Xen. vdEink. 4, 14.
Nikias. — Belagerung von Plataeae. 315
Nichts kennzeichnet vielleicht besser den Mangel an Talenten,
der jetzt in Athen herrschte, als daß ein solcher Mann die
leitende Stellung im Staate einnehmen und mit geringen
Unterbrechungen bis zu seinem Tode behaupten konnte. Daß
unter diesen Umständen an eine kräftige und zielbewußte
Politik und Kriegführung von seiten Athens nicht zu denken
war, bedarf keiner Ausführung ^.
Die Peloponnesier hatten im Jahre 429 ihren Einfall
nach Attika nicht wiederholt; zu verheeren gab es dort nichts
mehr, und die noch immer nicht erloschene Pest mahnte
zur Vorsicht. So rückte König Archidamos statt dessen in
das Gebiet von Plataeae, und da die Versuche fehlschlugen,
die Stadt zum gutwilligen Anschluß an die spartanische Sache
zu bestimmen, begann die Belagerung. Wenn die Plataeer
auch alle Stürme abwiesen, so mußte doch früher oder später
der Hunger die Stadt in die Gewalt der Boeoter und Pelo-
ponnesier liefern -. Das waren nun gerade keine glänzenden
Ergebnisse des Feldzuges. Mehr versprach man sich von einer
anderen Unternehmung, die in der zweiten Hälfte des Sommers
ins Werk gesetzt wurde. Die Athener hatten nach Perikles'
Sturz (Herbst 430) endlich getan, was sie schon am Anfang
1 Vgl. Thuk. II 65, 10.
« Thuk. II 71—78. Müller- Strübing, Jahrb. /. Phil. CXXXI, 1885, S. 289fT.,
hat gezeigt, daß diese Erzählung wenigstens zum Teil ein Phantasiestück ist.
Für die Topographie grundlegend Washington, American. Journ. Archaeol.
VI, 1890, S. 445 ff. mit Plan. Die erhaltenen Mauerreste in Polygonalbau lassen
keinen Zweifel, daß die Stadt zur Zeit des peloponnesischen Krieges noch etwas
größer war als seit dem IV. Jahrhundert, was ja auch schon von vornherein
klar sein sollte; der Umfang betrug rund S^^ km. Beim Wiederaufbau nach
der Zerstörung durch die Thebaner ist die äußerste Südspitze des Mauerringes
abgeschnitten worden. W^enn Grundy, Topogr. of ihe baltle of Piaiaea, London
1894, S. 53 ff., um Thukydides' Autorität zu retten, die Stadt im Jahr 429 auf
die Nordwestecke des Stadtplateaus beschränken will, mit einem Umfang von
1430 Yards oder etwa 1300 m und einem Flächenraum von etwa 10 ha, so steht
das in schroffem Widerspruch zu dem archäologischenBefund, denn die Zwischen-
mauer, welche diese Nordwestecke von der übrigen Stadt trennt, ist erst in
später Zeit aus von älteren Mauern genommenen Steinen erbaut. Und ebenso
verkehrt ist es, in der Südecke das Plataeae des V. Jahrhunderts zu sehen.
316 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
des Krieges hätten tun sollen, nämlich ein Geschwader nach
Naupaktos geschickt, das die Einfahrt in den Krisaeischen
Golf blockiert hielt und damit den gesamten Seehandel
Korinths lahm legte ^. So wurde denn eine starke pelo-
ponnesische Flotte gerüstet, um diese Blockade zu sprengen,
und zugleich ein Korps von 1000 Hopliten nach Ambrakia
gesandt, das, vereint mit den Kontingenten der Bundes-
genossen aus der dortigen Gegend, Akarnanien zum Abfall
von Athen bringen sollte. Aber das peloponnesisch-epeirotische
Bundesheer wurde bei Stratos von den Akarnanen zum Rück-
zug gezwungen, während gleichzeitig der attische Stratege
Phormion bei Naupaktos die an Zahl weit überlegene pelo-
ponnesische Flotte in zwei Schlachten aufs Haupt schlug ^.
Ein Anschlag auf den Peiraeeus, den die Peloponnesier dann
noch im Herbst von Megara aus unternahmen, blieb ohne
Erfolg 2.
Drei Jahre hatte der Krieg jetzt gedauert, ohne irgend-
eine Entscheidung zu bringen. Aber Athen hatte sein Macht-
gebiet nur durch die schwersten Opfer zu behaupten vermocht,
während die Hilfsquellen der Gegner so gut wie intakt ge-
blieben waren. Der Kriegsschatz, auf dem hauptsächlich
Athens maritime Überlegenheit beruhte, war bereits zum
größten Teile erschöpft. Die Pest hatte in die wehrfähige
Mannschaft furchtbarere Lücken gerissen, als die verlust-
vollsten Niederlagen hätten tun können. Und noch viel bedenk-
licher war die moralische Einbuße, die das Ansehen Athens
infolge alles dessen bei den Bundesstaaten erlitten hatte.
Wenn also die Peloponnesier auch keinen einzigen wirklich
durchschlagenden militärischen Erfolg aufzuweisen, ja wenn
sie nicht einmal den Verlust Poteidaeas abzuwenden ver-
mocht hatten, wenn ihre Versuche, es zur See mit Athen
aufzunehmen, kläglich gescheitert waren, so hatte sich trotz
alledem das Machtverhältnis zwischen beiden kriegführenden
1 Thuk II 69, 1.
- Thuk. II 80—92.
=* Thuk. II 93 f.
Kämpfe im Westen. — Abfall von Lesbos. 317
Teilen sehr wesentlich zu ihren Gunsten verschoben. Das
attische Reich wankte in seinen Grundfesten; die Krisis nahte
heran.
Im Frühjahr 428 fielen die Peloponnesier aufs neue in
Attika ein. Gleich nach ihrem Abzüge erhob sich Lesbos gegen
Athen (etwa Ende Juni), die einzige Insel des Aegaeischen
Meeres neben Chios, die sich ihre Autonomie und ihre selb-
ständige Marine bewahrt hatte. Die Gefahr war furchtbar,
denn nicht nur verfügte Lesbos über eine bedeutende See-
macht und reiche finanzielle Mittel, sondern vor allem, wer
vermochte zu sagen, welche Ausdehnung der Aufstand an-
nehmen würde. An den Olympien, die in diesem Sommer
gefeiert wurden, erfolgte die Aufnahme der Lesbier in den
peloponnesischen Bund, und es wurde ein neuer Einfall in
Attika beschlossen, der noch im selben Herbste ins Werk
gesetzt werden sollte. Doch Athen zeigte sich der Lage ge-
wachsen. Auf die erste Nachricht von dem Aufstande wurde
eine Flotte von 40 Trieren unter Kleippides nach Lesbos
gesandt, die zwar, da sie kein Landheer an Bord hatte,
nicht imstande war, etwas Ernstliches auszurichten, aber
wenigstens ein weiteres Umsichgreifen des Aufstandes ver-
hinderte. Dann wurde mit 100 von der Bürgerschaft selbst
bemannten Trieren eine Demonstration gegen den Isthmos
unternommen, wo eben die peloponnesischen Kontingente sich
zu sammeln begannen, während andere 30 Schiffe die lake-
daemonische Küste verheerten. Man hatte Athen nach den
Verlusten durch die Pest solcher Leistungen nicht mehr für
fähig gehalten; um so tiefer war der Eindruck, den die große
Rüstung hervorbrachte, und die Folge war, daß die Spartaner
nach Hause zurückkehrten. Jetzt ging ein athenisches Heer
von 1000 Hopliten unter dem Strategen Faches nach Lesbos;
dazu kamen die Kontingente der Kleruchen auf Lemnos und
Imbros und Zuzüge aus den Bundesstädten. So gelang es,
die Hauptstadt der Insel, Mytilene, zu Lande und zur See
einzuschließen ^. Bei der drohenden Erschöpfung des Staats-
schatzes wurde, zum erstenmal in diesem Kriege, eine direkte
1 Thuk. III 2—18, Dittenb. SylL ^ 27.
318 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Vermögenssteuer von 200 Talenten in Attika selbst aus-
geschrieben, die freilich eben nur ausreichte, die dringendsten
Bedürfnisse zu befriedigen ^.
Dem gegenüber gingen die Lakedaemonier mit ihrer
gewohnten Langsamkeit vor. Während des ganzen Winters
blieb Mytilene sich selbst überlassen; endhch im Frühjahr 427
ging eine Hilfsfiotte von 42 Trieren dahin ab, während gleich-
zeitig das Landheer den gewohnten Einfall nach Attika unter-
nahm. Aber es war schon zu spät. Wie in Mytilene die Vor-
räte zur Neige gingen, brachen innere Unruhen aus, welche
die Übergabe der Stadt an die Athener, und zwar auf Gnade
und Ungnade, herbeiführten. Die kleineren Städte auf Lesbos
und die mytilenaeischen Besitzungen in der Troas ^ unter-
warfen sich darauf ohne Widerstand. Die peloponnesische
Flotte war bereits nach lonien gelangt, wo sie allgemeinen
Schrecken verbreitet hatte; vielleicht hätte ein Handstreich
auf Mytilene die Stadt den Athenern entrissen. Aber der
spartanische Nauarch Alkidas wollte von einem so gefähr-
lichen Wagnis nichts wissen und führte seine Schiffe so rasch
wie möglich nach Hause zurück ^.
So war die Krisis des lesbischen Aufstandes glücklich
vorübergegangen, freilich nicht bloß durch eigenes Verdienst
der Athener, sondern noch mehr durch die Lässigkeit und
Ungeschicklichkeit ihrer Gegner. Das Ansehen Athens bei
seinen Bündnern war aufs neue befestigt, und man konnte
der Zukunft jetzt ruhiger entgegensehen. Um die Bundes-
staaten von jedem ähnlichen Versuche abzuschrecken, be-
antragte Kleon eine exemplarische Bestrafung des unter-
worfenen Mytilene. Alle erwachsenen Männer sollten hin-
gerichtet, die Weiber und Kinder in die Sklaverei verkauft,
das Gebiet an attische Kleruchen verteilt werden. Und so groß
war in Athen die Erbitterung gegen die bundbrüchige Stadt,
daß Kleon die Annahme seines Antrages durchsetzte. Aber
^ Thuk. III 19.
* Thuk. IV 52. Seitdem erscheinen diese sog. 'AKxaTai iröXeii; in den
athenischen Tributlisten {CIA. I 37. 543. IV S. 141).
8 Thuk. III 26—35.
Unterwerfung von Mytilene. 319
kaum war der entsprechende Befehl an den in Mytilene kom-
mandierenden General abgegangen, da begann es den Athenern
selbst vor dem gefaßten Beschlüsse zu grauen. Sehr vielen
von denen, die sich in der Volksversammlung durch Kleons
Beredsamkeit hatten fortreißen lassen, kam es jetzt zum
Bewußtsein, daß man im Begriff stand, eine Barbarei zu
begehen, die in der ganzen Geschichte Griechenlands ihres-
gleichen nicht hatte; daß der Massenmord der Bürger einer
der größten und berühmtesten Städte in Hellas in der ge-
samten Nation einen Schrei der Entrüstung hervorrufen
und Athen die letzten Sympathien rauben mußte, die es noch
besaß. Und hatten denn die Lesbier ein so furchtbares Schick-
sal verdient ? 50 Jahre lang hatten sie Seite an Seite mit den
Athenern gegen Barbaren und Hellenen gefochten, und wenn
sie jetzt abgefallen waren, so traf die Schuld die leitenden
Klassen, nicht aber die Masse des Volkes, die nie aufgehört
hatte, Athen wohlgesinnt zu sein, und schließlich die Vor-
nehmen zur Übergabe der Stadt gezwungen hatte. Die Re-
gierung ^ benutzte diesen Umschlag der Stimmung, um am
nächsten Tage die mytilenaeische Sache noch einmal vor die
Volksversammlung zu bringen; aber auch jetzt gelang es nur
mit knapper Not, die Aufhebung des gefaßten Beschlusses
durchzusetzen. Auch so war das Los, das Lesbos traf, schwer
genug: die Autonomie blieb verloren, die Mauern der Städte
wurden niedergerissen, die Flotte nach Athen fortgeführt,
das Grundeigentum eingezogen und unter 2700 athenische
Bürger verteilt; alle, die bei dem Aufstande in irgendeiner
Weise kompromittiert waren und sich nicht durch die Flucht
gerettet hatten, über tausend an Zahl, wurden hingerichtet.
Nur Methymna, das allein von allen Städten der Insel Athen
die Treue bewahrt hatte, behielt seine alte Unabhängigkeit ^.
Es ist sehr begreiflich, daß während des lesbischen Auf-
standes, der die Anspannung aller Kräfte erforderte, Athen
sich in Griechenland auf die strengste Defensive beschränkte.
^ Thuk. 11 1 35, 5 (er braucht den Ausdruck: Touq ^v T^Xei).
- Thuk. III 36 — 50, Antiphon 5 {vHerodes' Ermordung) 77 ff., Dittenb.
Syll. 2 29.
320 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Selbst zum Entsatz von Plataeae, das seit dem Sommer 429
von den Peloponnesiern und Boeotern belagert wurde (oben
S. 315), machte man nicht den geringsten Versuch, obgleich
die Not dort aufs höchste gestiegen war. So ergab sich die
Stadt im Sommer 427 kurz nach dem Fall von Mytilene.
Von der Besatzung hatte sich die Hälfte schon während des
Winters durch die feindlichen Linien durchgeschlagen; den
Rest, 200 Plataeer und 25 Athener, ließen die Sieger hin-
richten, zur nicht unverdienten Vergeltung für den Mord der
thebanischen Gefangenen, den die Plataeer zu Anfang des
Krieges verübt hatten. Die Stadt wurde zerstört, das Gebiet
kam an Theben ^.
Wenig fehlte und den Athenern wäre gleichzeitig ihr
wichtigster Verbündeter im Westen, Kerkyra, verloren ge-
gangen. Nur mit innerem Widerstreben und unter dem Drucke
einer Zwangslage hatte sich die Insel im Jahre 433 an Athen
angeschlossen; jetzt, wo die Gefahr vorüber und zugleich
die Macht Athens durch den Krieg gegen Lesbos gelähmt war,
hielten die besitzenden Klassen den Augenblick gekommen,
die damals geschlossene Verbindung zu lösen und wieder
in die Neutralität gegenüber allen hellenischen Händeln zurück-
zutreten, welche die traditionelle Politik Kerkyras war. Es
brach über diese Frage zwischen den Besitzenden und dem
Demos der Bürgerkrieg aus. Durch mehrere Tage wütete ein
erbitterter Straßenkampf, bei dem ein Teil der Stadt in Flammen
aufging; der Sieg neigte sich bereits auf die Seite der Menge,
als die Ankunft eines attischen Geschwaders von 12 Trieren
von Naupaktos her die Entscheidung brachte. 400 OHgarchen
wurden gefangen gesetzt, die bisherige Defensivallianz mit
Athen in ein Schutz- und Trutzbündnis verwandelt. Aber alle
Erfolge wurden in Frage gestellt durch das Erscheinen der
peloponnesischen Flotte, die eben von der Fahrt nach Lesbos
zurückgekehrt und durch Verstärkungen auf 55 Trieren
gebracht war. Im Angesicht der Stadt kam es zur Seeschlacht,
in der den Peloponnesiern über die völlig desorganisierte
1 Thuk. III 20—24. 52—68.
Übergabe von Plataeae. — Bürgerkrieg auf Kerkyra. 321
kerkyraeische Flotte mit leichter Mühe der Sieg blieb; das
attische Geschwader war viel zu schwach, das Geschick des
Tages zu wenden. Es lag in der Hand des lakedaemonischen
Admirals, seine Truppen ans Land zu setzen und Kerkyra
zu nehmen; aber der unfähige Alkidas fand auch jetzt zu dem
entscheidenden Entschlüsse nicht die Kraft. Inzwischen
erschien eine attische Flotte von 60 Trieren auf der Höhe von
Leukas, und nun blieb den Peloponnesiern nichts übrig als
schleuniger Rückzug. Kerkyra war für Athen gerettet. Unter
dem Schutze der attischen Schiffe hielt der kerkyraeische
Pöbel ein furchtbares Strafgericht über seine Gegner; die
gefangenen Oligarchen wurden sämtlich hingerichtet oder
endeten durch eigene Hand; 500 Bürger der besiegten Partei
flüchteten auf das nahe Festland und setzten von hier aus
den Kampf gegen die Demokratie in der Stadt fort ^. Sie sind
dann später wieder nach der Insel hinübergegangen, wo sie
sich zwei Jahre lang in den Bergen behaupteten, bis es endlich
der kerkyraeischen Regierung mit athenischer Hilfe gelang,
sie zur Ergebung zu zwingen. Die athenische Volksversamm-
lung sollte über ihr Schicksal entscheiden; die Kapitulation
wurde aber unter einem Vorwand gebrochen und die Gefangenen
sämtlich niedergemacht (Spätsommer 425) ^. Im ganzen
sollen etwa 1500 Angehörige der besitzenden Klassen dem
Pöbel zum Opfer gefallen sein ^. Die oligarchische Partei
war vernichtet, und Kerkyra segelte fortan im athenischen
Fahrwasser,
Die Sicherung des Besitzes von Kerkyra war für Athen
von um so größerer Wichtigkeit, als eben jetzt Ereignisse
eintraten, welche die attische Intervention in Sicilien zur
Notwendigkeit machten. Denn kaum hatte die demokratische
Staatsform in Syrakus feste Wurzeln geschlagen, als man
dort anfing, in die Bahnen der deinomenidischen Politik ein-
zulenken und den Wiedergewinn der Hegemonie über die
Insel anzustreben. Gleich nach dem Sturze des Duketios war
1 Thuk. III 69—86.
2 Thuk. IV 46—48.
3 Diod. XIII 48, 2.
B e 1 o c h, Griech. Geschichte. II, i. 2. Aufl. 21
322 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
es darüber zum Kriege mit Akragas gekommen (um 446),
wobei die ganze Insel für und wider Partei nahm; am Flusse
Himeras wurden die Akragantiner unter schweren Verlusten
geschlagen und gezwungen, um Frieden zu bitten ^. Syrakus
war nun wieder die erste Macht im hellenischen Westen; und
so blieb den chalkidischeri Städten, wenn sie ihre Selbständig-
keit behaupten wollten, nichts übrig, als sich den Athenern
in die Arme zu werfen (oben S. 202). Jetzt kam die Zeit,
wo Athen die übernommenen Verpflichtungen einlösen sollte.
Ein allgemeiner Krieg brach auf Sicilien aus. Auf der einen
Seite standen die chalkidischen Städte Naxos, Katane, Leon-
tinoi, Rhegion, das dorische Kamarina, und ein großer Teil
der eingeborenen Sikeler; auf der anderen Seite Syrakus,
Gela, Selinus, Messene, Himera, Lipara, und das epizephyrische
Lokroi; Akragas hielt sich, so weit wir sehen, neutral. Die
Syrakusier waren ihren Gegnern weit überlegen; und so sah
Athen sich genötigt, im Herbst 427 ein Geschwader von 20
Trieren unter dem Strategen Laches von Aexone seinen
Bundesgenossen im Westen zu Hilfe zu schicken. Trotz dieser
geringen Macht wurden bedeutende Erfolge erreicht und
namentlich Messene zum Anschluß an die athenische Sache
gebracht (426). Wenn die Peloponnesier im Anfang des Krieges
auf Unterstützung seitens ihrer Kolonien im Westen gerechnet
hatten, so war die Verwirklichung dieser Hoffnung jetzt in
weite Ferne gerückt ^.
Die Mißerfolge der peloponnesischen Waffen konnten
auf die inneren Verhältnisse Spartas nicht ohne Rückwirkung
bleiben. Die Erwartung, Athen durch die Verheerung seines
Landgebietes zum Frieden zu zwingen, war fehlgeschlagen.
Man hatte auf die Erhebung der athenischen Bundesgenossen
gerechnet; aber Poteidaea war gefallen, der lesbische Aufstand
isoliert geblieben und schnell unterdrückt worden. Alle Ver-
suche, den Athenern auf ihrem eigenen Elemente, dem Meer,
zu begegnen, hatten nur zu schmählichen Niederlagen geführt.
1 Diod. XII 8, vgl. 26.
2 Thuk. III 86. 88. 90, Diod. XII 53 f.; über Thukydides' Quelle: Stein,
Rh. Mus. LV, 1900, S. 531 ff.
Krieg in Sicilien. — Friedensverhandlungen. 323
Auch die Rechnung auf einen inneren Umschwung in Athen
hatte getrogen. Perikles war gestürzt worden, und seine
Gegner hatten seine PoHtik weitergeführt; selbst sein Tod
hatte keine Änderung in der Lage gebracht. Unter diesen
Umständen begann man auch in Sparta auf die Beilegung des
Krieges zu denken. Ihren äußeren Ausdruck fand diese
Stimmung in der Rückberufung des Königs Pleistoanax (Winter
427/6), der vor 19 Jahren seiner Würde entsetzt und in die
Verbannung geschickt worden war, weil er sein Heer von
der Grenze Attikas zurückgeführt und durch diese Schonung
ihres Gebietes die Athener bewogen hatte, den Frieden mit
Sparta um die schwerwiegendsten Konzessionen zu erkaufen ^.
Die Ereignisse der letzten Jahre hatten die damals befolgte
Politik glänzend gerechtfertigt. Pleistoanax war jetzt bestrebt,
die alten Beziehungen zu Athen wieder anzuknüpfen. Im
Frühjahr 426 unterblieb der gewohnte Einfall in Attika ^,
und die Unterhandlungen wurden wieder aufgenommen. Die
hauptsächlichste Forderung Spartas war die Rückführung der
Aegineten auf ihre Insel ^.
Nikias und seine Freunde waren bereit genug, auf die
Unterhandlungen einzugehen; aber leider glitt ihnen selbst
immer mehr das Heft aus der Hand. So unleugbare Verdienste
sie sich um die Erhaltung der Machtstellung Athens in der
mytilenaeischen Krise erworben hatten, so völlig unfähig
hatten sie sich erwiesen, irgendwelche entscheidende Erfolge
über die Peloponnesier zu erringen. Und gerade dieselben
Umstände, welche die Kriegspartei in Sparta entmutigten,
mußten zur Stärkung der Kriegspartei in Athen beitragen.
Das Gefühl, daß eine energische Leitung des Staates not-
wendig sei, machte sich in immer weiteren Kreisen der Bürger-
schaft geltend; und damit mußte der Einfluß der Opposition
sich vergrößern. Schon in der Beratung über das Schicksal
von Mytilene hatte die Regierung nur mit knapper Not die
^ Thuk. V 16, 3, vgl. oben S. 184. Über die Zeit der Rückberufung oben
I 2 § 67.
^ Thuk. III 89. 1. Ein Erdbeben gab den Vorwand,
^ Aristoph. Acharn. 653 f.
21*
324 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Anträge Kleons zu Fall bringen können. Dieser hatte damals
im Rate gesessen und in dieser Stellung eine unermüdliche
Tätigkeit zur Herbeischaffung der für den Krieg nötigen
Geldmittel entwickelt, unbekümmert um die Erbitterung,
welche seine unnachsichtige Strenge bei der Eintreibung von
Steuerrückständen bei den besitzenden Klassen hervorrief ^.
Für das folgende Jahr (427/6) wurde er zum Hellenotamias
gewählt und erhielt damit maßgebenden Einfluß auf die
Leitung der Bundesfinanzen ^. Auch im Gerichtssaal trat die
Opposition der Regierung siegreich entgegen. Selbst ein Mann
wie Faches, der Eroberer von Mytilene, wurde zur Verant-
wortung gezogen und entging nur durch Selbstmord der
Verurteilung ^. Ebenso ist die Absendung der Hilfsflotte nach
Sicilien ohne Zweifel auf Kleons Initiative zurückzuführen;
ist doch auch später die Eroberung des Westens stets ein
Lieblingsplan der athenischen Radikalen geblieben. Bei
den Wahlen für 426/5 kam der Umschwung der öffentlichen
Meinung in voller Stärke zum Ausdruck. Kaum einer der
im Amt befindlichen Strategen wurde wiedergewählt; an
ihre Stelle traten Männer der Kriegspartei, darunter Perikles'
Brudersohn Hippokrates von Cholargos ^.
Die neue Regierung trat um Mittsommer 426 ins Amt,
zu spät, um in diesem Jahre noch etwas Ernstliches zu be-
ginnen. So erfolgten Operationen von einiger Bedeutung
nur im Nordwesten von Griechenland. Der athenische Strateg
Demosthenes von Aphidna erlitt hier, bei dem Versuche von
Naupaktos aus AetoHen zu unterwerfen, eine vollständige
Niederlage; und nicht besser erging es den Peloponnesiern,
1 Aristoph. Ritter 774 ff.
" Nach der ansprechenden Vermutung von Busolt (Hermes XXV, 189Ü,
S. 640) auf Grund eines neugefundenen Bruchstücks der Urkunde CIA. IV
179 b S. 161. In dieser Stellung machte Kleon den Versuch, den Aufwand für
die Reiterei zu vermindern (Aristoph. Acharn. 6, Theopomp. fr. 100, Gilbert
Beiträge S. 133 ff,), womit er freilich nicht durchdrang. Er muß also im Jahre
vorher Ratsherr gewesen sein.
» Plut. Nik. 6, Arist. 26, meine Att. Polit. S. 33 A. 1.
* Aristoph. Acharn. 1078, meine Att. Polit. S. 34 f. 302 (unten 2. Abt.
§ 112).
Kämpfe in Aetolien und Akarnanien. — Sphakteria. 325
als sie im Herbste des Jahres, auf Ambrakia gestützt, den
Versuch machten, Akarnanien von dem Bunde mit Athen
abzuziehen. Demosthenes machte hier die in Aetolien erlittene
Schlappe glänzend wett; Ambrakia erlitt so schwere Verluste,
daß es nur durch schleunigen Friedensschluß mit Akarnanien
sich vom Untergang retten konnte ^. Im folgenden Jahre (425)
wurde auch die korinthische Kolonie Anaktorion von den
Akarnanen und Athenern genommen; die alten Bewohner
mußten die Stadt verlassen und wurden durch akarnanische
Ansiedler ersetzt ^. Doch gelang es den Spartanern, durch
die Gründung von Herakleia Trachis am nördlichen Ausgang
der Thermopylen einen Stützpunkt in Mittelgriechenland zu
gewinnen (Sommer 426) ^; freilich ein sehr dürftiges Resultat
eines Kriegsjahres.
Inzwischen hatten in Sicilien die Syrakusier allmählich
wieder die Oberhand gewonnen; es zeigte sich, daß das dort
operierende athenische Geschwader für seine Aufgabe viel zu
schwach war. Man beschloß also, im Frühjahr 425 eine Ver-
stärkung von weiteren 40 Trieren unter Sophokles und Eury-
medon nach dem Westen zu schicken *. Gleichzeitig wurde im
geheimen ein Schlag gegen den Peloponnes vorbereitet. De-
mosthenes, der eben im frischen Glänze seiner akarnanischen
Siege nach Athen heimgekehrt war, wurde der Expedition
beigeordnet mit der Vollmacht, die Flotte während ihrer
Fahrt an den peloponnesischen Küsten nach eigenem Er-
messen zu verwenden. Mit richtigem Blicke erkannte er die
verwundbarste Stelle der feindlichen Macht. Am Gestade
Messeniens öffnet sich nach Westen die Bucht von Pylos
(Navarino), durch die langgestreckte Insel Sphakteria vor
den Stürmen des Ionischen Meeres geschützt, der beste natür-
1 Thuk. III 94—98. 100—102. 105—114; Behr, Hermes XXX, 1895,
S. 447 ff.
2 Thuk. IV 49.
* Thuk. III 92 f. Die Angabe, daß 10 000 Kolonisten hier angesiedelt
worden wären (Diod- XII 59, 5, Skymn. 598), ist maßlos übertrieben, s. meine
Bevölkerung S. 512.
* Thuk. III 115, IV 2.
326 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias,
liehe Hafen der ganzen Halbinsel. Die spartanischen Herren
des Landes hatten sich um diese abgelegene Gegend wenig
bekümmert; ausgedehnte Waldungen bedeckten das Ufer,
weit und breit keine menschliche Ansiedlung. So konnte
Demosthenes ungestört ans Werk gehen. An der nördlichen
Einfahrt in den Hafen wurde ein Kastell errichtet und fünf
Trieren unter Demosthenes' Befehl zu seinem Schutze zurück-
gelassen; dazu kam weiter ein messenisches Piratenschiff
aus Naupaktos mit 40 Hopliten an Bord. Man hoffte von
dieser Stellung aus die Heiloten im alten Messenien zum Auf-
stand zu bringen. Der Rest der Flotte fuhr nach Sicilien
weiter.
Das peloponnesische Bundesheer war eben wieder in
Attika eingefallen, befehligt von Agis, dem Sohne des Archi-
damos, der vor zwei Jahren (427) seinem Vater auf den Thron
der Eurypontiden gefolgt war^; auf die Nachricht von den
Vorgängen in Pylos kehrten die Truppen eiligst in die Heimat
zurück. Gleichzeitig wurde auch die Flotte von 60 Trieren,
die zur Unterstützung der dortigen OHgarchen (oben S. 320)
nach Kerkyra in See gegangen war, zurückgerufen und nach
Pylos geführt. Die Athener wurden jetzt zu Wasser und zu
Lande eingeschlossen; um jeden Entsatz vom Meere her un-
möglich zu machen, besetzte eine Abteilung von 400 lake-
daemonischen Hopliten die Insel Sphakteria. Demosthenes
fand sich so in sehr bedenklicher Lage, da die in aller Eile
aufgeführte Befestigung kaum den notdürftigsten Anforde-
rungen genügte. Trotzdem gelang es der attischen und messe-
nischen Besatzung den Platz zu halten, bis die nach Sicilien
bestimmte Flotte, die mittlerweile auf 56 Trieren verstärkt
worden war, zur Hilfe herankam. Die Athener drangen in den
Hafen, dessen Eingang der Feind zu sperren versäumt hatte;
die peloponnesische Flotte wurde trotz ihrer Überzahl ge-
schlagen, die Insel Sphakteria mit ihrer Besatzung vom Fest-
lande abgeschnitten.
So unbedeutend dieser Erfolg, rein militärisch betrachtet,
1 Oben I 2 § 69.
Sphakteria. 327
auch war, er reichte hin, die ganze Lage von Grund aus zu
verändern. Denn die 400 Mann auf Sphakteria bildeten etwa
den zehnten Teil der gesamten Hoplitenmacht Spartas; und
man war dort gewillt, zu ihrer Befreiung jedes irgend
mit der Würde des Staates verträgliche Opfer zu bringen.
Waren bisher alle Versuche zur Herstellung des Friedens
von Athen ausgegangen, so eröjffneten jetzt die'Lakedaemonier
die Unterhandlungen. Auf ihren Betrieb wurde zunächst
ein Waffenstillstand geschlossen und für die Dauer desselben
die gesamte vor Pylos versammelte peloponnesische Flotte
den Athenern ausgeliefert; als Gegenleistung gestatteten
die Athener die Verproviantierung der Besatzung von Sphak-
teria.
Athen hatte es in seiner Macht, einen vorteilhaften Frieden
zu schUeßen; selbst auf der Basis der Wiederherstellung des
Besitzstandes vor dem dreißigjährigen Vertrage waren die
Lakedaemonier zu unterhandeln bereit. Aber Kleon wollte
nichts von einem Frieden wissen, ehe nicht die Besatzung
von Sphakteria gefangen in der Hand der Athener wäre;
und trotz allen Widerstrebens der besitzenden Klassen fanden
seine Anträge die Majorität der Volksversammlung. Die
Verhandlungen wurden demgemäß abgebrochen ^.
Die Athener dachten natürlich nicht daran, die einmal
in ihren Händen befindliche peloponnesische Flotte heraus-
zugeben; ein Vorwand war bald gefunden, um den Vertrags-
bruch zu beschönigen. Aber die Hoffnung, die Besatzung
von Sphakteria durch Hunger zur Kapitulation zu bringen,
schlug gründlich fehl; der Feind fand Wege, durch die Blockade-
flotte hindurch Proviant nach der Insel zu schaffen. Das Ende
der guten Jahreszeit rückte immer näher, und war einmal
der Winter da, so wurde die Aufrechterhaltung der Blockade
eine Unmöglichkeit, und der Besatzung stand der Rückzug
auf den Kontinent offen. Es war klar, daß bei dem bisher
befolgten Plan nichts zu erreichen war und die einzige Hoff-
nung auf einen Erfolg in einer Landung auf der Insel bestand.
1 Vgl Philoch. fr. 105. 106.
328 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Demosthenes war sich denn darüber auch keinen AugenbHck
zweifelhaft; er war bereit, das Wagnis zu unternehmen, sobald
er aus Athen die nötigen Verstärkungen erhielte. Aber die
oberste Heeresleitung wollte von einem so kühnen Entschlüsse
nichts wissen. Denn die Wahlen im Frühjahre 425 waren
unter dem Eindrucke der bisherigen Erfolglosigkeit aller
Unternehmungen der Kriegspartei für diese ungünstig aus-
gefallen; zwar Demosthenes war gewählt worden, Hippokrates
aber und die meisten seiner politischen Freunde waren unter-
legen, und Nikias nahm wieder seinen alten Platz als leitendes
Mitglied des Strategeion ein. Kurze Zeit nach dem Scheitern
der Friedensverhandlungen hatte Nikias seine neue Würde
angetreten; und er war zu fest von der Unüberwindlichkeit
der Spartaner überzeugt, als daß er es gewagt hätte, seinen
Ruf als Feldherr durch eine Landung auf Sphakteria aufs
Spiel zu setzen. Demgegenüber drängte Kleon mit aller
Energie auf entscheidende Maßregeln; wenn die Strategen
Männer wären, könnte Sphakteria in 20 Tagen genommen
sein. Da ließ sich Nikias dazu hinreißen, seinen Gegner auf-
zufordern, doch selbst das Kommando in Pylos zu über-
nehmen, in der sicheren Voraussicht, daß der Angriff miß-
glücken und Kleons politischer Einfluß dadurch für immer
zerstört sein würde. Kleon hatte nie in seinem Leben eine
Truppe geführt, und es war ihm nicht wohl bei der Sache;
aber ihm bheb keine Wahl, Traf ihn doch die Verantwortung
dafür, daß man in Athen die lakedaemonischen Friedens-
vorschläge zurückgewiesen hatte. So ging er, ohne weiter
zu zögern, an der Spitze der von Demosthenes verlangten
Verstärkungen nach Pylos ab und schritt, dort angekommen,
sogleich zum Angriff, dessen militärische Leitung er ver-
ständigerweise Demosthenes überließ. Am zweiten Tage
nach Kleons Ankunft, in der Morgenfrühe — es war etwa
Mitte August — landeten die Athener auf der Insel. Es mochten
gegen 10 000 Mann sein, die Demosthenes und Kleon unter
ihrem Befehl hatten; und wenn auch der größte Teil dieser
Zahl aus den militärisch ziemlich wertlosen Rudermann-
schaften der Flotte bestand, so bildeten doch die etwa 1000
Sphakteria. — Kleon leitender Staatsmann. 329
Hopliten und die 1000 Peltasten und Bogenschützen schon
für sich allein eine erdrückende Übermacht gegen die 400
Lakedaemonier. Aber es kam überhaupt nicht zum Kampfe
mit der blanken Waffe. Demosthenes hielt seine Hopliten
zurück und beschränkte sich darauf, den Feind durch seine
Bogenschützen und Peltasten beschießen zu lassen. Dem-
gegenüber waren die Spartaner in ihrer schweren Rüstung
ganz ohnmächtig; nach starken Verlusten blieb ihnen nichts
übrig als der Rückzug in ihr befestigtes Lager, wo sie, von
allen Seiten umstellt, endhch die Waffen streckten; es waren
noch 292 Hopliten. Kleon hatte sein Versprechen glänzend
eingelöst; innerhalb 20 Tagen hatte er Sphakteria erobert
und die Besatzung gefangen nach Athen geführt ^.
Jetzt erntete er die Früchte seines Erfolges. Mochte
das Verdienst der militärischen Leitung des Angriffs auf
Sphakteria immerhin Demosthenes gebühren, es war doch
Kleon, der den Oberbefehl geführt und die Verantwortung
für den Ausgang getragen hatte; sein Verdienst war es, daß
die Verstärkungen abgesandt wurden, die den Sturm erst
möglich gemacht hatten, und nicht mit Unrecht feierte ihn
darum die öffentliche Meinung als Sieger. Die höchsten Ehren,
die der Staat überhaupt einem Bürger verleihen konnte,
wurden ihm zuerkannt: die lebenslängliche Speisung im
Rathause und ein Ehrensitz im Theater. In Rat und Volks-
versammlung gab sein Wort jetzt den Ausschlag ^, sein Gegner
Nikias hatte durch seine schwächliche Haltung in der pylischen
Sache sich selbst um allen Einfluß gebracht und es half ihm
sehr wenig, daß er sich jetzt plötzlich aus seiner alten Un-
tätigkeit aufraffte. Die Landung am Isthmos, die er unmittel-
bar nach der Eroberung Sphakterias unternahm, führte zu
nichts als zu einem unfruchtbaren Siege über die korinthische
1 Thuk IV 3—41. über "die Topographie'Orundy, Journ. Hell. Stud. XVI,
1896, S. 1 ff. (mit Plänen), XVIII, 1898, S. 232 ff., vgl. Burrows ebenda XVI 55,
XVIII 147. 345. Über das Taktische Delbrück, Strategie des Perikles, Berlin
1890, über die Chronologie unten 2. Abt. § 100.
' S. Aristophanes' im Winter 425/4 aufgeführte Ritter.
330 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Landwehr 1; und wenn Nikias im nächsten Frühjahr (424)
den Lakedaemoniern die Insel Kythera entriß, so war das
allerdings ein glänzender Erfolg, aber man konnte mit Recht
fragen, warum er diese Unternehmung nicht schon vor Jahren
ins Werk gesetzt hatte ^.
Kleon überließ dem Gegner die wohlfeilen Lorbeeren
und widmete seine ganze Kraft den Verwaltungsgeschäften.
Die hauptsächlichste Schwierigkeit, mit der Athen in den
letzten Jahren zu kämpfen gehabt hatte, war der Mangel
an Geldmitteln; seit der Schatz nahezu erschöpft war, genügte
der Betrag der regelmäßigen Reichseinnahmen nicht entfernt
für die Bedürfnisse einer energischen Kriegsführung. Unter
dem frischen Eindrucke des Sieges von Sphakteria, der Athens
Autorität im ganzen Umfang des Reiches aufs neue befestigte,
erhöhte jetzt Kleon die Tribute auf über 1000 Talente, mehr
als das Doppelte ihres bisherigen Betrages ^. Einen kleinen
Teil der so gewonnenen Geldmittel verwendete er zur Be-
^ Thuk. IV 42—44, vgl. Aristoph. Ritter 594 fi.
2 Thuk. IV 53—55, CIA. I 293 Z. 20 ff.
^ CIA I 37, aus 425/4. Die Gesamtsumme betrug, nach dem Fragment
CIA. I 544, das den untersten Teil dieser Stele bildete (Cavaignac, Hist. financ.
d'Athenes pl. I 2, Wilhelm, Wien. Akad. Anz. 1909 S. 52) entweder 960 oder
1460 tal., je nachdem wir das verlöschte erste Zahlzeichen mit 500 oder 1000
ergänzen. Die Sätze des Inseltributs, die auf unserer Stele verzeichnet sind,
ergeben, soweit eine Vergleichung mit den früheren Tributsätzen möglich ist,
eine Erhöhung von rund 55 auf 130 tal., also um nahe an 140%. Die Summe
des hellespon tischen Tributs betrug nach dem Fragment CIA 1 543, das viel-
leicht zu I 37 gehört (Wilhelm a. a. 0.), jedenfalls aber zu einer der nächsten
Einschätzungslisten, mehr als 250 tal., nach CIA. I 37 z", das aber nicht zu
dieser Stele gehörig ist, 296 tal., während dieser Bezirk vorher nur gegen 90 tal.
gezahlt hatte. Doch sind hier wahrscheinlich die pontischen Städte einbegriffen,
die in den Quotenlisten nie vorkommen. Ebenso ist 425/4 Melos eingeschätzt
worden, das niemals Tribut gezahlt hat, und so werden noch viele andere Städte
m partibus infidelium eingeschätzt worden sein. Es ist demnach allerdings
wahrscheinlich, daß der Sollbetrag der Tribute 425/4 auf 1460 tal. veranlagt
worden ist, eine Summe, die aber bei weitem nicht vollständig eingehen konnte.
Andok. vFr. 9 gibt den Betrag der Tribute nach der Erhöhung auf 1200 taL an,
Plut. Arist. 24 auf 1300 tal.; das mag dem wirklichen Ertrag näher kommen
und ist wahrscheinlich auch noch zu hoch. — Daß Kleon der Urheber der Maß-
regel war, bedarf keines Beweises und wird durch Aristoph. Ritter 313 bestätigt.
Erhöhung der Tribute. — Einnahme von Nisaea. 331
festigung seiner Popularität in Athen, indem er den Richter-
sold von täglich 2 Obolen auf 3 Obolen erhöhte, eine Maß-
regel, die durch die Steigerung aller Lebensmittelpreise, wie
sie infolge des Krieges in Athen eintreten mußte, immerhin
gerechtfertigt werden konnte ^.
Unter diesen Umständen konnte die Wahl Kleons zum
Strategen im Frühjahr 424 nicht zweifelhaft sein, trotz aller
Anstrengungen der Gegenpartei. Selbst daß die Sonne vor
der Wahl sich verfinsterte, blieb ohne Eindruck auf die Menge ^.
Natürlich war auch der andere Sieger von Pylos, Demosthenes,
unter den neuen Strategen, und ebenso wurde Hippokrates
von Cholargos, der im vorigen Jahre unterlegen war, jetzt
wiedergewählt. So durfte man den Operationen des nächsten
Sommers mit hochgespannten Erwartungen entgegensehen.
In der Tat entwickelte die Regierung eine sehr anerkennens-
werte Energie. Kaum ins Amt getreten, rückten Hippokrates
und Demosthenes mit dem Kern des attischen Heeres, 4600
Hopliten und 600 Reitern, gegen Megara, wo man Verbindungen
mit den Führern der demokratischen Partei angeknüpft
hatte, zu dem Zwecke, die Stadt den Athenern in die Hände
zu spielen. Ein Tor der langen Mauern, welche die Stadt mit
dem Meere verbanden, wurde den Athenern geöffnet, die
peloponnesische Besatzung auf den Hafen Nisaea zurück-
geworfen und hier eng eingeschlossen; am nächsten Tage
kapitulierte sie auf freien Abzug. In Megara selbst haderten
indes die Parteien, die Stadt war zu jedem ernsthchen Wider-
stand unfähig und schien den Athenern zur leichten Beute
werden zu müssen ^.
Indes auch die Peloponnesier hatten diesmal den rechten
Mann an der rechten Stelle. Der Verlust von Pylos und Kythera
hatte die Lakedaemonier endlich aus ihrer bisherigen Un-
tätigkeit aufgerüttelt. Daß bei den beständig wiederholten
Einfällen in Attika nichts herauskam, hatte eine siebenjährige
^ Müller- Strübing, Aristophanes S. 149 ff.
- Meine Mische Politik S. 269 f. 305 f. Aristoph. Wolken 581—6, die
hier erwähnte Sonnenfinsternis fällt auf den 21. März.
3 Thuk. IV 66—69.
332 X. Abschnitt. — • Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Erfahrung bewiesen; auch verbot die Rücksicht auf die Sicher-
heit der Gefangenen von Sphakteria einen neuen Zug gegen
Athen, denn dort hatte man den Beschluß gefaßt, diese Ge-
fangenen zum Tode zu führen, sobald ein peloponnesisches
Heer die attische Grenze überschritte ^. Athen war verwundbar
nur durch Schläge gegen seine Bundesgenossen; und es konnte
nicht zweifelhaft sein, wohin eine solche Unternehmung zu
richten war. Denn die Inseln und lonien waren bei der un-
bedingten Beherrschung des Meeres durch die Athener jedem
Angriff der Peloponnesier entrückt; nur eine Stelle gab es
im ganzen Umfang des athenischen Bundesgebietes, die für
ein peloponnesisches Landheer erreichbar war, die thrakische
Küste. So entschlossen sich die Peloponnesier endlich zu der
Maßregel, die sie hätten ergreifen sollen, solange Poteidaea
noch widerstand, einem Feldzug nach Thrakien. Aber auch
jetzt waren es nicht mehr als 700 freigelassene Heiloten und
1000 arkadische Söldner, die zu dem Unternehmen bestimmt
wurden. Doch die ungenügende Zahl wurde aufgewogen durch
die Person des Führers; denn an die Spitze des Korps trat
Brasidas, der Sohn des Tellis, der fähigste Offizier, den Sparta
besaß ^.
Eben jetzt stand Brasidas auf dem Isthmos, beschäftigt,
sein kleines Heer zusammenzuziehen und zu organisieren,
als die Nachricht von dem athenischen Angriff auf Megara
eintraf. Sofort bot er aus den benachbarten Städten Korinth,
Sikyon, Phleius 3700 HopHten auf und führte diese Truppen
und was er von seinen eigenen Leuten beisammen hatte, über
die Geraneia. Gleichzeitig stiegen von Norden her 2200 boeotische
Hopliten mit 600 Reitern über den Kithaeron und vereinigten
sich vor Megara mit Brasidas, der sorriit gegen 8000 Mann
unter seinem Befehle hatte und den Athenern numerisch
bedeutend überlegen war. Diese hielten es denn auch nicht
1 Thuk. IV 41, 1.
^ Wahrscheinlich ist er identisch mit dem eponymen Ephoren für 431/0
(Xen. Hell. II 3, 10). Kurz vor seinem Amtsantritt hatte er Methone gegen
die Athener verteidigt (Thuk. II 25, 2) und in den Jahren 429, 427, 425 auf
der Flotte gedient (Thuk. passim).
Brasidas bei Megara und in Thrakien. 333
für ratsam, die Schlacht anzunehmen, die Brasidas ihnen
anbot, und damit war Megara für die Peloponnesier gerettet.
Die Führer der Demokratie flohen nach Athen, während
die Verbannten zurückkehrten, und eine oHgarchische Ver-
fassung eingeführt wurde. Doch blieb Nisaea in der Hand
der Athener ^.
Brasidas vollendete nun seine Rüstung und brach im
Spätsommer nach Thrakien auf. In Eilmärschen durchzog
er Thessalien, dessen Bewohner in ihrer Mehrzahl den Athenern
geneigt waren, dem peloponnesischen Heere aber keine ernst-
lichen Hindernisse in den Weg legten. Sobald Brasidas die
makedonische Grenze überschritt, trat König Perdikkas auf
die peloponnesische Seite; die athenischen Bundesstädte
Akanthos und Stagiros folgten sogleich diesem Beispiel.
Nun, schon zu Anfang des Winters, wandte sich Brasidas
gegen Amphipolis, die Hauptstadt des athenischen Thrakiens.
Die Bürgerschaft, unter der die Athener nur eine kleine Minori-
tät bildeten, war zum Teil zum Abfall bereit, zum Teil wenig
geneigt, sich für die attischen Interessen zu schlagen. Einen
Angriff hatte man zu dieser Jahreszeit so wenig erwartet,
daß der athenische Stratege Thukydides von Halimus, der das
Kommando in diesen Gegenden führte, mit seinem Geschwader
von 7 Trieren nach Thasos gefahren war. Auf die Nachricht
von Brasidas' Erscheinen vor Amphipolis kehrte er allerdings
schleunigst zurück, aber er kam zu spät; Amphipolis hatte
sich bereits den Peloponnesiern ergeben. Nur Ei'on, die
Festung an der Mündung des Strymon, die einst Kimon den
Persern entrissen hatte, Hieb in der Hand der Athener 2,
1 Thuk. IV 70—74.
2 Thuk. IV 78—88. 102—108. Es ist schwer zu verstehen, was Thukydides
in Thasos zu tun hatte, das in keiner Weise bedroht war, so wenig wie die gegen-
überliegenden Küstenorte. Sein Platz wäre in Eion gewesen. So haben die
athenischen Geschworenen gedacht, die ihn verurteilten. Er selbst sagt kein
Wort zu seiner Entlastung, während er seine angeblichen Verdienste um die
Rettung von Eion hervorhebt (IV 106, 4). „Verzweifelt naiv" ist nur die Art,
wie man der Kritik den Mund stopfen möchte; das Bild des heiligen Thukydides
soll eben um jeden Preis rein bleiben.
334 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Während Brasidas diese Schläge gegen die athenische
Macht in Thrakien führte, hatten die athenischen Waffen
auch in Boeotien eine schwere Niederlage erlitten. In der
richtigen Erkenntnis, daß eine siegreiche Beendigung des
Krieges nur dann zu hoffen sei, wenn es gelänge, die Boeoter
von dem Bündnis mit den Peloponnesiern abzuziehen, hatte
Hippokrates mit der demokratischen Partei in Boeotien
Verbindungen angeknüpft. Von drei Seiten her sollte ein
kombinierter Angriff auf die Landschaft ins Werk gesetzt
werden; die boeotischen Verbannten sollten sich Chaeroneias
bemächtigen; Demosthenes, der nach der Einnahme von
Nisaea mit 40 Trieren nach Naupaktos gegangen war, sollte
mit akarnanischen Truppen bei Siphae im Gebiet von Thespiae
landen, und zugleich Hippokrates selbst an der Spitze des
attischen Gesamtaufgebots von Osten her in Boeotien ein-
fallen. Der Plan mochte seinen Urhebern ein strategisches
Meisterwerk scheinen, wie er sich denn auch in der Theorie
sehr gut ausnahm; leider war er zu kompliziert, als daß auch
nur mit einiger Wahrscheinlichkeit auf ein Gelingen zu rechnen
gewesen wäre. Vor allem war bei der Menge der Eingeweihten
das Geheimnis nicht zu bewahren gewesen; die boeotische
Regierung erfuhr, was im Werke war, und ließ die bedrohten
Punkte, Chaeroneia und Siphae, besetzen. Die geplante demo-
kratische Erhebung war damit vereitelt. Und auch die attischen
Feldherren operierten nicht mit der nötigen Präzision; Demo-
sthenes erschien zu früh vor Siphae und wurde infolgedessen
von den Boeotern mit leichter Mühe zurückgetrieben. So
war die ganze Macht des boeotischen Bundes gegen Hippo-
krates verfügbar, als dieser einige Tage später von Oropos
her die Grenze überschritt, 7000 Hopliten, 1000 Reiter und über
10 000 Mann leichter Truppen. Hippokrates hatte etwa die
gleiche Zahl Hopliten und Reiter; an leichten Truppen war
er sogar dem Feinde beträchtlich überlegen. Trotzdem wünschte
er eine Entscheidungsschlacht zu vermeiden; er begnügte sich
also, den Tempel des delischen Apollon am Ufer des euboeischen
Sundes im Gebiete von Tanagra mit einer Verschanzung
zu umgeben und dort eine Besatzung zurückzulassen, während
Schlacht beim Delion. — Ende des sicilischen Krieges. 335
er seine Hauptmacht nach der Grenze zurückführte. Dabei
wurde er noch am späten Nachmittag von den Boeotern
angegriffen und nach kurzem Kampfe völlig geschlagen. Die
Entscheidung hatte die thebanische Phalanx gegeben, die
in tiefer Kolonne von den Höhen herabstürmend den linken
athenischen Flügel durchbrach und dann, nach links um-
schwenkend, die ganze feindliche Schlachtlinie aufrollte,
so daß der bis dahin siegreiche rechte athenische Flügel in der
allgemeinen Flucht mitgerissen wurde. Hippokrates selbst
fiel und mit ihm an 1000 seiner Hopliten; nur die Nacht rettete
das Heer vor völliger Vernichtung. Nach wenigen Tagen
ergab sich auch die Verschanzung beim Delion. Es war die
furchtbarste Niederlage, die Athen bisher in diesem Kriege
erlitten hatte ^.
Auch die sicilische Unternehmung hatte nicht die Erfolge
gebracht, die man sich in Athen versprochen hatte. Laches
war im Herbste 426 vom Kommando abberufen und durch
1 Thuk. IV 76 f., 78—101, vgl. Plat Symp. 121a, Laches 181b. Das
Delion lag am Meer (Herod. VI 118, Thuk. IV 100, 5, Skylax 59, Paus. IX 20, 1,
Liv. XXXV 51, Strab. IX 403) nach Thuk. IV 90,4 10 Stadien (2 km) von
der oropischen Grenze, nach Liv. a. a. 0., d. h. Polybios (Nissen, Unters. S. 175,
vgl. Diod. XXIX 1) 5 Milien, also 40 Stadien (8 km) vonTanagra, minus quaituor
miliuvi, also 30 Stadien (6 km) von dem nächsten Punkt der euboeischen Küste,
nach Strab. a. a. 0. 30 Stadien von Aulis. Man setzt darauf hin, und wegen
des Namens, das Delion nach Dilesi (Ulrichs, Annali Inst. XVIII 26 ff. = Reisen
u. Forsch. II, Berlin 1863, S. 46 ff.). Strabons Angabe würde allerdings auf
Dramesi führen, das 6 km weiter NW. liegt; aber von dort sind es nur etwa
2 km nach Euboea, und es ist auch höchst unwahrscheinlich, daß die Oropia
sich so weit ausgedehnt haben sollte, ferner hätten die Athener dann gegen das
von Tanagra (Thuk. IV 91, 1) kommende boeotische Heer mit verkehrter Front
kämpfen müssen. Die Distanzangabe bei Strabon ist also falsch oder korrupt. —
Burrows hat 10 Minuten NO. der Station Schimatari, wo die Bahn nach Chalkis
sich von der Bahn nach Larisa abzweigt, in einer byzantinischen Kapelle des
H. Demetrios eingemauert eine Weihinschrift an Apollon gefunden und will
darauf hin das Delion hier ansetzen (Annual Br. School Athens XI, 1904/5,
S. 153 ff.); da es aber von hier 5 km bis zum Meere sind, so bedarf dieser Ansatz
dem klaren Wortlaut der Zeugnisse gegenüber keiner Widerlegung. Übrigens
haben die Ausgrabungen an dieser Stelle keine Spur eines Tempels ergeben; bei
Dilesi allerdings ebensowenig (Burrows a. a. 0. S. 172 Anm.).
336 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Pythodoros ersetzt worden; bei seiner Rückkehr nach Athen
machte Kleon dem abgesetzten Feldherrn den Prozeß, der
jedoch mit dessen Freisprechung endete ^. Sein Nachfolger
verlor gleich im Frühjahr 425 Messene an die Syrakusier,
die nun von hier aus den Athenern die Beherrschung der
Meerenge streitig machten. Die 40 Trieren unter Sophokles
und Eurymedon, die zur Verstärkung der in den sicilischen
Gewässern operierenden Flotte bestimmt waren, wurden
durch die Ereignisse von Pylos dort den größten Teil des
Sommers festgehalten und gelangten erst im Herbste nach
Rhegion. Jetzt war hier eine imponierende Flotte vereinigt.
Aber eben diese gewaltige Machtentfaltung erregte bei den
Sikelioten den sehr begründeten Argwohn, daß die Athener
es auf mehr abgesehen hätten, als den Schutz ihrer chalkidischen
Bundesgenossen 2. Gegenüber der Gefahr, mit der Athen
die Unabhängigkeit der ganzen Insel bedrohte, verstummte
der innere Hader; im Sommer 424 wurde in Gela zwischen
den kriegführenden Teilen der Friede geschlossen, im wesent-
lichen auf der Grundlage des gegenwärtigen Besitzstandes.
Den Athenern blieb nichts übrig als gute Miene zum bösen
Spiel zu machen und nach Hause zurückzukehren ^.
So waren alle Unternehmungen der Kriegspartei ge-
scheitert, und den einzigen Erfolg, dessen man sich rühmen
konnte, seit Nikias aus seiner leitenden Stellung verdrängt
war, bildete die Einnahme von Nisaea. Es half sehr wenig,
daß man die unglücklichen Strategen einen nach dem andern
vor Gericht stellte und zu schweren Strafen verurteilte, zuerst
die Befehlshaber der nach Sicilien gesandten Flotte, Eury-
medon, Sophokles und Pythodoros, dann Thukydides, durch
dessen Fahrlässigkeit Amphipohs verloren gegangen war.
Solche Prozesse konnten höchstens dazu dienen, das Vertrauen
'■ Aristoph. Wespen 891 ff., vgl. 240 ff.; meine Mische Politik S. 337—39.
^ Thuk. IV 65, 3, vgl. Aristoph. Ritter 174. 1303.
» Thuk. III 115. IV 1. 58—65, Tim. fr. 97 bei Polyb. XII 26 k 26. Nur
Morgantine mußte von Syrakus gegen eine Geldentschädigung an Kamarina
abgetreten werden (Thuk. IV 65, 1).
Waffenstillstand. — Fortgang des thrakischen Krieges. 337
der Truppen in ihre Führung zu erschüttern, und das sollte
sich bald genug rächen ^.
Unter dem Eindrucke des Schlages beim Delion und
der Verluste in Thrakien begann die öffentliche Meinung
sich jetzt von der Kriegspartei abzuwenden. In wie helles:
Licht trat diesen Leuten gegenüber Nikias, er, der nie eine
Schlacht verloren hatte, dem alles, was er unternahm, zu
glücken schien und der trotzdem seit Jahren nicht müde"
wurde, für den Frieden zu wirken. In immer breiteren Schichten,
brach die Überzeugung sich Bahn, daß bei dem ganzen Kriege
sehr wenig herauskam und daß Perikles recht gehabt hatte,
wenn er die Erhaltung des vorigen Besitzstandes gleich zu
Anfang als höchstes zu erstrebendes Ziel hingestellt hatte.
Denn daß der Kern der spartanischen Macht mit den Athen,
zu Gebote stehenden Mitteln unverwundbar war, hatte eine
achtjährige Erfahrung jedem, der sehen wollte, bewiesen.
Die Unterhandlungen zwischen den kriegführenden
Mächten wurden also wieder aufgenommen. Zwar konnte
man sich zunächst über die Friedensbedingungen noch nicht
einigen; aber Nikias' Freund Laches brachte im Frühjahr 423
wenigstens einen Waffenstillstand auf ein Jahr zustande,
und der Abschluß des definitiven Friedens schien nur noch eine
Frage der Zeit ^.
Daß es noch nicht dazu kam, war Brasidas' Werk. Die
Einnahme von Amphipolis hatte Athens Ansehen in Thrakien
einen tödlichen Stoß gegeben; überall drängten sich die Städte
zum Abfall ^. Zuerst traten das edonische Myrkinos und die
thasischen Kolonien Galepsos und Oesyme auf die pelo-
ponnesische Seite hinüber; Brasidas wurde damit Herr der.
Goldminen des Pangaeon. Bald folgten die kleinen Städte
am Athos bis auf Sane und Dion und das wichtige Torone
auf der Halbinsel Sithonia ^. Endlich griff der Aufstand
1 Thuk. IV 65. V 26, 5. Philochoros fr. 104. IMarkellinos Leben des Thuky-
dides 26.
^ Thuk. IV 117, die Urkunde 118 f.
ä Thuk. IV 108, 3.
•* Thuk. IV 107, 3—116.
Beloch, Griech. Geschichte, II i. 2. Aufl. 22
338 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
sogar nach Pallene hinüber, obgleich diese Halbinsel durch
die Festungswerke der attischen Kolonie Poteidaea völlig
von dem übrigen Kontinente abgesperrt war und nur zur See
erreicht werden konnte. In, denselben Tagen, wo der Waffen-
stillstand in Athen und Sparta beschworen wurde, fiel hier
Skione zu Brasidas ab ^.
Die Athener verlangten jetzt natürlich, daß diese Stadt
ihnen zurückgegeben würde, und ebenso natürlich war es,
daß Brasidas seine neuen Bundesgenossen nicht preisgeben
wollte. So war der Waffenstillstand, kaum abgeschlossen,
schon wieder in Frage gestellt, und Kleon tat alles, um den
Bruch zu erweitern. Auf seinen Antrag wiesen die Athener
das Schiedsgericht zurück, das die Lakedaemonier anboten.
Skione sollte mit Waffengewalt unterworfen und seine ganze
Bürgerschaft, zur Strafe für den Verrat, hingerichtet werden.
Ein Exekutionsgeschwader von 50 Trieren, mit 1000 Hopliten
und vielen leichten Truppen an Bord, wurde sogleich nach
Thrakien gesandt und Nikias der Befehl übertragen ^.
Der athenische Feldherr wandte sich zunächst gegen
Mende, die Nachbarstadt Skiones, die inzwischen ebenfalls
abgefallen war ^. Von den dortigen Demokraten unterstützt,
wurde er der Stadt mit leichter Mühe Herr; dann rückte er
vor Skione, das, von einer peloponnesischen Besatzung ver-
teidigt, kräftigen Widerstand leistete, so daß sich Nikias
zu einer regelmäßigen Belagerung entschließen mußte. Diese
Erfolge veranlaßten Perdikkas von Makedonien, der sich
eben mit Brasidas überworfen hatte, wieder auf die athenische
Seite hinüberzutreten; ein wertvoller Erwerb für Athen, da
der makedonische König den lakedaemonischen Verstärkungen
den Durchzug sperrte, die schon für Brasidas unterwegs waren.
Dieser blieb damit auf seine eigne kleine Streitmacht und die
Hilfsquellen seiner chalkidischen Bundesgenossen beschränkt^.
1 Thuk. IV 120—122.
2 Thuk. IV 122, 5 f. 129, 2.
3 Thuk. IV 123.
* Thuk. IV 129—132. Vertrag mit Perdikkas CIA. I 42. 43. IV 1 S. 14
(Scala, Staatsverträge I S. 62 ff.).
Schlacht bei Amphipolis. 339
Im eigentlichen Griechenland blieb übrigens trotz dieser
Kämpfe in Thrakien die Ruhe ungestört. Aber die Friedens-
verhandlungen machten begreiflicherweise unter diesen Um-
ständen keine Fortschritte, und auch der Waffenstillstand
wurde bei seinem Ablaufe im Frühjahr 422 nicht weiter ver-
längert ^. Wie die Stimmung in Athen war, zeigt die Wahl
Kleons zum Strategen für das nächste Amtsjahr, 422/1. Und
Kleon war entschlossen, Brasidas seine Eroberungen mit
Waffengewalt zu entreißen. Seit dem Siege von Sphakteria
hatte er kein Kommando mehr übernommen, obgleich er
ein Jahr im Strategeion gesessen hatte; er wußte, daß er kein
Feldherr war. Aber die Offiziere von Beruf hatten Amphipolis
verloren und die Katastrophe am Delion herbeigeführt.
Schlimmer hätten die Dinge nicht gehen können, auch wenn
ein militärischer Dilettant an der Spitze gestanden hätte.
Vor allem mußte verhindert werden, daß der Zauderer Nikias
den Befehl gegen Brasidas erhielt. So entschloß sich Kleon,
die Leitung der Operationen selbst in die Hand zu nehmen;
vielleicht daß das Glück ihm noch hold war wie einst ^. Noch
im Spätsommer, sobald die Zeit der Etesien vorüber war,
ging er an der Spitze von 1200 athenischen Hopliten, 300
Reitern und vielen Bundesgenossen nach Thrakien in See.
Der Anfang schien die kühnsten Hoffnungen zu rechtfertigen:
Torone und Galepsos wurden mit stürmender Hand wieder-
genommen, der Angriff auf Amphipolis vorbereitet. Aber
bei einer Rekognoszierung, die Kleon von Eion aus mit seiner
ganzen Macht gegen die Stadt unternahm, wurde er unver-
sehens von Brasidas angegriffen, das Heer auseinanderge-
sprengt und in regellose Flucht geschlagen; 600 Athener und
der Feldherr selbst deckten die Wahlstatt. Den Peloponnesiern
kostete der Sieg nur sieben Mann; aber unter diesen sieben
war Brasidas. Die dankbaren Amphipoliten errichteten ihm
1 Thuk. V 1.
^ Nach dem stehenden Brauch dieser Zeit wird Kleon Kollegen gehabt
haben; Thukydides nennt sie nicht, offenbar mit Absicht, um Kleon allein die
Verantwortung für die Niederlage zuschieben zu können.
22*
340 X. Abschnitt. — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
ein Denkmal auf dem Markte ihrer Stadt und erwiesen ihm
als Befreier heroischfe Ehren ^.
Die Schlacht bei Amphipolis war ein schwerer Schlag
für die Kriegspartei in Athen. Nicht nur daß sie ihren Führer
Kleon verloren hatte, den einzigen wahrhaft fähigen Mann,
den sie in ihren Reihen zählte; noch schwerer wog es, daß
auf Kleons Andenken die ganze Verantwortung für das ver-
unglückte thrakische Unternehmen lastete. So mußte die
Leitung des Staates von selbst Nikias zufallen, und dieser
konnte nun ungehindert dem Ziele zusteuern, dem er bereits
vor zwei Jahren so nahe gewesen war. Hatte doch der Gegner
selbst den Beweis geliefert, daß unter den jetzigen Umständen
mit Waffengewalt in Thrakien nichts zu erreichen war und
die Hoffnung auf Wiedererlangung von Amphipolis einzig
in der Verständigung mit Sparta beruhte.
Auch in Sparta hatte man allen Grund, den Frieden
zu wünschen. Unter den peloponnesischen Bundesgenossen
begannen sich bedenkliche Symptome zu zeigen. Mantineia
hatte seine Herrschaft über die südlichen Gaue Arkadiens
bis zur lakonischen Grenze ausgedehnt ^ und geriet dabei in
Krieg mit Tegea; eine blutige Schlacht, die im Winter 423/2
geschlagen wurde, blieb ohne Entscheidung ^. Es war dringend
geboten, hier Ordnung zu schaffen und Mantineia in seine
Schranken zurückzuweisen. Auch mit den Eleiern stand
Sparta in gespannten Beziehungen, da es in einem Streit
zwischen Elis und dessen Untertanenstadt Lepreon zugunsten
dieser letzteren interveniert und zu ihrem Schutze eine lake-
daemonische Besatzung hineingelegt hatte *. Das alles hätte
nun nicht viel zu bedeuten gehabt, wenn nicht der auf 30 Jahre
mit Argos abgeschlossene Waffenstillstand seinem Ablauf
so nahe gewesen wäre; und Argos forderte als Preis für die
Erneuerung des Vertrages die Rückgabe der Kynuria, die
1 Thuk. V 2 f. 6—11.
2 Thuk V 29. 33.
^ Thuk. IV 134.
■* Thuk. V 31.
Folgen der Schlacht. — Lage im Peloponnes. — Der Frieden. 341
ihm Sparta vor einem Jahrhundert entrissen hatte ^. Darauf
konnte Sparta natürlich nicht eingehen; es war also von der
höchsten Wichtigkeit, mit Athen zum Abschluß zu gelangen,
ehe der Krieg mit Argos ausbrach. Dazu kam weiter der
Wunsch nach Befreiung der Gefangenen von Sphakteria und
Rückgabe von Kythera und Pylos.
Freilich den Frieden durch weitgehende Konzessionen
zu erkaufen war man jetzt nach den Siegen von Delion und
Amphipolis in Sparta sehr wenig geneigt. Herstellung des
Besitzstandes vor dem Kriege war das äußerste, das man zu
bewilligen dachte, und da im Augenblicke die peloponnesischen
Waffen in entschiedenem Vorteil waren, so lag darin immerhin
ein wichtiges Zugeständnis. Bedeutete doch ein Frieden auf
solcher Grundlage für Sparta den Verzicht auf das stolze
Programm, mit dem es vor 10 Jahren in den Kampf getreten
Schaft. Ja noch mehr; Sparta verpflichtete sich damit, helle-
nische Städte an Athen auszuHefern, die im Vertrauen auf die
geschworenen Eide den Abfall gewagt und dem peloponnesi-
schen Bunde sich angeschlossen hatten.
So wurden die Feindsehgkeiten eingestellt, und die Unter-
handlungen begannen aufs neue. Aber trotz des guten Willens
der leitenden Männer auf beiden Seiten verging der Winter,
ohne daß ein Abschluß erreicht worden wäre. EndHch im
Frühjahr stellten die Lakedaemonier ein Ultimatum, dem
sie durch den Befehl an die Bundesgenossen, sich für einen
Feldzug nach Attika bereitzuhalten, den nötigen Nachdruck
gaben. Das wirkte. Nikias nahm die lakedaemonischen Be-
dingungen an, Rat und Volk erteilten die Ratifikation. Gleich
nach den großen Dionysien (im April) 421 wurde der Frieden
abgeschlossen, oder wie die Griechen sagten, ein Waffen-
stillstand (cTTTOVÖai) auf 50 Jahre zwischen Athenern und
Lakedaemoniern und ihren beiderseitigen Bundesgenossen ^.
1 Thuk V 14, 4, oben II S. 385.
- Thuk. V 17, ^K AiovuGiujv euGix; tUjv äoTiKäiv (V 20, 1), die vom
8. — 13. Elaphebolion gefeiert wurden, und zwar lief der Frieden vom 24. bzw.
25. Elaphebolion (c. 19, 1 'EXa(prißoXiOuvo(; ^ktti qpGivovTog). Die Schwierig-
keit, die Kirchhoff hier findet und die Ed. Meyer Forschungen II 288 zu lösen
342 X. Absclinitt, — Der peloponnesische Krieg bis zum Frieden des Nikias.
Die Grundlage des Friedens bildete der Besitzstand
vor dem Ausbruch des Krieges. Demgemäß sollten die Athener
Pylos und Kythera, die Lakedaemonier Amphipolis heraus-
geben. Skione, das sich noch immer hielt, wurde der Rache
Athens überlassen, und nur für die peloponnesische Besatzung
freier Abzug ausbedungen. Als Ersatz für Plataeae, das
herauszugeben die Boeoter sich weigerten, sollten die Athener
Nisaea behalten. Die chalkidischen Städte, die während
des poteidaeatischen Aufstandes oder später bei Brasidas'
Zug bis zum Abschluß des Waffenstillstandes von Athen ab-
gefallen und noch nicht wieder unterworfen waren: Olynth os,
Akanthos, Stagiros, Argilos, Stolos, Spartolos, Mekyberna,
Sane, Singos sollten unabhängig bleiben, aber an Athen den
Tribut zahlen, den einst Aristeides festgesetzt hatte. Endhch
sollten die Gefangenen beiderseits in Freiheit gesetzt werden ^.
Athen hatte erreicht, wofür es zum Schwerte gegriffen
hatte; es ging, scheinbar wenigstens, mit unverminderter
Macht aus dem Kampfe hervor. Das Programm, das Perikles
am Anfang des Krieges aufgestellt hatte, war siegreich durch-
geführt worden. Und während die athenische Seeherrschaft
unerschüttert dastand, hatte Spartas militärisches Ansehen,
auf dem seine Stellung in Hellas beruhte, durch die Kapi-
tulation von Sphakteria einen schweren Stoß erlitten. Von
diesem moralischen Erfolge abgesehen, aber hatte Athen nicht
den geringsten Machtzuwachs erlangt. Wohl aber war der
Schatz, auf den Athens Kriegsbereitschaft beruht hatte,
sucht, existiert nicht; cOöO? ist ein dehnbares Wort. Daß Aristophanes' Eirene
an den Dionysien aufgeführt worden ist, zeigt nur, daß der Prähminarfrieden
abgeschlossen, beweist aber nicht, daß der definitive Abschluß, d. h. die Eides-
leistung, bereits erfolgt war. So richtig Busolt III 2 S. 1191, 3.
^ Die Urkunde des Friedens bei Thuk. V 18 f. — Mekyberna, Sane, Singos
sind nachträglich in den Entwurf des Vertragsinstruments eingefügt In der
gekünstelten Erklärung, die Steup, Thuk. Stud. I, Kirchhoff Thuk. und sein
Urkundenmaterial S. 35, von der diese Städte betreffenden Bestimmung geben,
vermag ich beim besten Willen einen vernünftigen Sinn nicht zu finden. Wenn
Sane im Herbst 424 am Bündnis mit Athen festhielt (Thuk. IV 109, 5), so muß
es eben später zu Brasidas übergetreten sein; Mekyberna kann nach dem Frieden,
freiwiUig oder gezwungen, sich wieder an Athen angeschlossen haben (V 39, 1),
Ergebnis des Krieges. 343
aufgezehrt worden bis auf einen Rest von 1000 Talenten,
den man gleich zu Anfang für den äußersten Notfall zurück-
gelegt hatte, so daß Athen jetzt ausschließlich auf die Tribute
seiner Untertanen angewiesen war; die Bürgerschaft war
durch den Krieg und die Pest mehr als dezimiert worden,
das Land durch die Einfälle der Peloponnesier zur Wüste
geworden. Noch lange Jahre mußten hingehen, ehe diese
Verluste ausgeglichen werden konnten. Dagegen waren der
Peloponnes und Boeotien von den Verheerungen des Krieges
so gut wie unberührt geblieben, hatten auch keine schweren
Verluste im Felde gehabt und die Kriegskosten aus den laufen-
den Einnahmen bestritten. Das Machtverhältnis zwischen
beiden Teilen hatte sich also sehr wesentHch zuungunsten
Athens verschoben. Athen bedurfte einer längeren Reihe
von Jahren der Sammlung, um das alte Gleichgewicht wieder
herzustellen; aber die einzige Bürgschaft, daß ihm diese
Frist gewährt werden würde, bildete ein Blatt Papier, oder
was auf dasselbe herauskam, eine Inschrift auf einem Marmor-
blocke. Mochte also auch Nikias von seinem Friedenswerke
sehr befriedigt sein, die Opposition durfte fragen, welche
Notwendigkeit denn vorlag, Athen gerade in dem Augenbhck
durch einen Vertrag die Hände zu binden, in dem der Waffen-
stillstand zwischen Sparta und Argos unmittelbar vor seinem
Ablauf stand ^, und die Spannung in den beiden Demokratien
Mantineia und Elis gegen die peloponnesische Vormacht
einen Grad erreicht hatte, der eine Krisis innerhalb der spar-
tanischen Eidgenossenschaft mit Sicherheit voraussehen ließ.
Die Ereignisse der nächsten Jahre sollten auf diese Frage
eine nur zu beredte Antwort geben.
^ Kleon hatte schon seit Jahren auf ein Bündnis mit Argos hingearbeitet:
Aristoph. Ritter 465 f.
344 XI. Absclinitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
XL Abschnitt.
Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
Griechenland hatte den Frieden; auf ein halbes Jahr-
hundert, wie es in dem beschworenen Vertrage hieß. Aber
die Gegensätze, die vor 10 Jahren zum Kriege geführt hatten,
blieben in voller Schärfe bestehen. Und die Art, wie die Be-
stimmungen des Vertrages ausgeführt wurden, gab diesen
Gegensätzen sogleich neue Nahrung. Die spartanische Re-
gierung war allerdings bereit genug, ihren vertragsmäßigen
Verpflichtungen nachzukommen; hatte sie doch selbst das
höchste Interesse daran, Pylos, Kythera und die Gefangenen
von Sphakteria zurückzuerhalten. So setzte man denn in
Sparta sofort die athenischen Gefangenen in Freiheit und
sandte an Klearidas, der nach Brasidas' Tode in Thrakien
kommandierte, den Befehl, Amphipolis den Athenern zu
übergeben. Aber dieser Offizier war weit davon entfernt,
an den Bundesgenossen zum Verräter zu werden, zu deren
Befreiung vom athenischen Joch er selbst mitgeholfen hatte.
Er schützte also die Unmöglichkeit vor, mit seinen schwachen
Kräften etwas gegen den Willen der Chalkider auszurichten,
und begnügte sich damit, seine Truppen aus den thrakischen
Plätzen herauszuziehen und nach dem Peloponnes zurück-
zuführen ^. So blieb die für Athen bei weitem wichtigste
Bestimmung des Friedens ein toter Buchstabe; und infolge-
dessen weigerten sich nun die Athener, Pylos und Kythera
zu räumen oder auch nur die Gefangenen von Sphakteria in
Freiheit zu setzen.
Nicht geringere Verlegenheiten erwuchsen Sparta von
Seiten seiner eigenen Bundesgenossen. Kein Staat hatte
in diesem Kriege größere Opfer gebracht als Korinth, dessen
Seehandel so lange Jahre durch die athenische Blokade lahm-
gelegt worden war. Und nun gewährte der Frieden nichts von
alledem, wofür es zum Schwerte gegriffen: Poteidaea und
1 Thuk. V 21, 34, 1.
Ausführung der Friedensbedingungen. — Der argeiische Sonderbund. 345
Kerkyra blieben im Besitz Athens, ja, Korinth sollte nicht
einmal seine Kolonien Anaktorion und Sollion von den Akar-
nanen zurückerhalten ^. So weigerten denn die Korinthier
dem Frieden die Annahme, und sie fanden Unterstützung
bei den Chalkidern in Thrakien, die entschlossen waren, niemals
in die Abtretung von Amphipolis zu willigen oder wieder
Tribut an die Athener zu zahlen. Auch die Boeoter wollten
von Frieden nichts wissen und verstanden sich Athen gegen-
über nur zu einem Waffenstillstand mit zehntägiger Kün-
digungsfrist ^.
Gegenüber dieser Krisis in der eigenen Bundesgenossen-
schaft sah Sparta keinen anderen Ausweg, als sich Athen
noch weiter zu nähern. Dort fand man bei Nikias bereites
Entgegenkommen. Das Ideal Kimons schien sich zu verwirk-
lichen; zwischen den beiden griechischen Vormächten wurde
ein Defensivbündnis abgeschlossen. Athen konnte nun die
Herausgabe der Gefangenen von Sphakteria nicht länger
weigern, und so war wenigstens die dringendste Forderung
der Spartaner befriedigt ^.
Die Katastrophe im Peloponnes wurde durch diese
Wendung der lakedaemonischen Politik nur beschleunigt.
Die Eidgenossenschaft brach zusammen; Elis, Mantineia,
Korinth, die Chalkider in Thrake fielen von Sparta ab und
traten in Bündnis mit Argos ^. Der Versuch, auch Tegea
zum Anschluß an diesen Bund zu bewegen, blieb allerdings
ohne Erfolgt, ja, es gelang den Spartanern, Mantineia die
Herrschaft über die Parrhasia im Süden Arkadiens zu ent-
reißen®; aber im wesentlichen war Sparta doch jetzt im
Peloponnes isoliert. Und auch mit Athen war trotz des eben
beschworenen Bündnisses zu keinem aufrichtigen Einver-
nehmen zu kommen. Man weigerte sich dort, und mit vollem
1 Thuk. V 30, 2.
2 Thuk. V 26, 2.
3 Thuk. V 22—24.
* Thuk. V 27—31.
^ Thuk. V 32, 3—4.
6 Thuk. V 33.
346 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschatt.
Recht, Pylos und Kythera zu räumen so lange Amphipolis
nicht zurückgegeben war, und Korinth, Boeotien und die
Chalkider den Frieden nicht angenommen hatten; Sparta
aber konnte bei seiner jetzigen bedrohten Lage nicht daran
denken, diese Staaten mit Waffengewalt zur Annahme der
athenischen Forderungen zu zwingen. So mußten die Unter-
handlungen mit Athen resultatlos bleiben, oder vielmehr,
das einzige Ergebnis war eine wachsende Entfremdung zwischen
den beiden verbündeten Mächten ^.
Unter diesen Umständen brachten die nächsten Ephoren-
wahlen zum Teil Männer der Kriegspartei in Sparta ans
Ruder ^. Die Folge war, daß Sparta sein altes Bündnis mit
Boeotien erneuerte (Ende des Winters 421/0) ^ Und nun
erhob auch in Athen die Opposition wieder das Haupt. An
ihrer Spitze stand jetzt Hyperbolos von Perithoedae, wie
K^eon ein Mann aus den Kreisen der Gewerbtreibenden, der
schon seit einigen Jahren in der Volksversammlung wie im
Gerichtssaal eine hervorragende Stellung eingenommen hatte *.
Er konnte sich rühmen, nächst Kleon der in den besitzenden
und gebildeten Kreisen bestgehaßte Mann zu sein, und er ist
diesem Haß schließlich bei der oligarchischen Reaktion des
Jahres 411 zum Opfer gefallen. Ihm zur Seite trat ein Mann
ganz anderer Art, Alkibiades, der Sohn des Kleinias aus dem
Demos Skambonidae, ein naher Verwandter des Perikles,
in dessen Hause er nach dem frühen Tode seines Vaters erzogen
worden war. Seine vornehme Abkunft, sein Reichtum, seine
körperhchen Vorzüge und hohen Geistesgaben machten ihn
bald zum Löwen der Gesellschaft Athens, in der er den Ton
angab, und die stets bereit war, sich seinen Launen zu beugen.
Der Weg zu einer glänzenden politischen Laufbahn stand
ihm offen wie wenigen; aber so hervorragende militärische
und diplomatische Talente er auch besaß, zum Staatsmann
^ Thuk. V 35.
" Thuk. V 36.
3 Thuk. V 39.
* Aristoph. Frieden 679 ff., Frösche blO, überhaupt in den Komödien
aus dieser Zeit sehr häufig genannt, in Eupolis' MapiKÖi; (421), in Piatons
Hyperbolos hatte er die Titelrolle. Weiteres AU. Polii. S. 49 f.
Hyperbolos. — Alkibiades. — Bündnis zwischen Athen und Argos. 347
fehlte es ihm an Selbstbeherrschung, und so ist sein Wirken
ohne dauernden Erfolg geblieben und hat seiner Vaterstadt
nicht zum Segen gereicht. Eben jetzt hatte er das 30. Jahr
überschritten und stand so in dem Alter, in dem ihm die Be-
werbung um das höchste Staatsamt, die Strategie, möglich
war. Die Traditionen seiner Familie wiesen ihn auf die Seite
der entschiedenen Demokratie, und bei dem Mangel an mili-
tärischen Kapazitäten in deren Reihen konnte es nicht fehlen,
daß er hier mit offenen Armen aufgenommen wurde, so wenig
er auch vom Volksführer an sich hatte ^.
Die Friedenspartei unterlag denn auch bei den Feld-
herrenwahlen im Frühjahr 420. Nikias wurde nicht wieder-
gewählt, und statt seiner trat Alkibiades in das Strategeion ^.
Auf seinen Antrag wurde nun sogleich ein Defensivbündnis
mit Argos und seinen Verbündeten Mantineia und Elis ab-
geschlossen, was freilich zur Folge hatte, daß Korinth sich
jetzt wieder Sparta näherte ^. Um zwischen Argos und Athen
eine nahe Verbindung zu sichern, schritten beide Staaten
im folgenden Jahre zum Angriff auf Epidauros, das seiner-
seits von Sparta Unterstützung erhielt *. Die Feindseligkeiten
zwischen Athen und Sparta hatten also aufs neue begonnen,
wenn auch nur am dritten Ort, und nun erfolgte in Athen
auf Alkibiades' Antrag die Erklärung, daß die Lakedaemonier
den Frieden gebrochen hätten (Winter 419/8) ^.
^ Hauptquellen sind, neben der Komödie, die Dialoge Piatons und die
Lebensbeschreibung Plutarchs. Vgl. Att. Polit. S. 50 f. und über Alkibiades'
Familie unten 2. Abt. § 14. — Daß die Bewerber um das Strategenamt das
30. Jahr überschritten haben mußten, ist zwar nicht überliefert, wird aber
gerade durch den Fall des Alkibiades sehr wahrscheinlich, da ein Mann wie er
sonst ohne Zweifel eher zu der Würde gelangt wäre. Vgl. Hauvette-Besnault,
Les Strateges atheniens, Paris 1885, S. 44.
* Plut. Alk. 15, Nik. 10, vgl. Loeschcke De titulis aliquot atticis (Dissert.
Bonn 1876) S. 24 f.
3 Thuk. V 34—48, die Urkunde c. 47 und CIA. IV 46 b S. 14, Scala,
Staatsver träge I 76 ff., wo die weitere Literatur. Die Frage, wie die, übrigens
unwesentlichen, Abweichungen des inschriftlichen Textes von Thukydides zu
erklären sind, berührt nur die Thukydides-Kritik.
* Thuk. V 53—56.
« Meine Attische Politik S. 307 f.
348 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
Es war klar, daß dieser Beschluß einer Kriegserklärung
sehr nahe kam. Demgegenüber rafften die besitzenden Klassen
sich zu energischster Anstrengung auf, und wirklich gelang
es bei den nächsten Strategenwahlen (Frühjahr 418), die
Gewalt wieder in die Hände des Nikias und seiner Freunde
zu bringen. Alkibiades wurde nicht wiedergewählt; ein Zeichen,
daß die Mehrheit der Bürgerschaft auch jetzt von einer Politik
der Abenteuer nichts wissen wollte ^.
Sparta hielt es nun an der Zeit, aus der bisher beob-
achteten Reserve herauszutreten. Sobald um Mittsommer 418
die neue Regierung in Athen ins Amt getreten war, rückte
König Agis an der Spitze des ganzen lakedaemonischen Auf-
gebots nach Arkadien, zog die Kontingente der dortigen
Verbündeten an sich, umging durch ein geschicktes Manöver
die Stellung der Argeier und ihrer peloponnesischen Bundes-
genossen bei Methydrion und vereinigte sich in Phleius mit
den Boeotern und den Truppen der Bundesstädte am Isthmos.
Er mochte jetzt gegen 20 000 Hopliten unter seinem Befehl
haben und war dem Feinde an Zahl wie an Qualität der
Truppen weit überlegen. Aber die feste Stellung der Argeier
auf der Höhe des Passes, durch den die Straße von Nemea
nach Argos führt, war durch einen Frontangriff nicht zu
nehmen; Agis ließ also den Feind durch die Boeoter beobachten,
während er selbst mit den Lakedaemoniern und Arkadern
von Phleius aus auf unwegsamen Pfaden das Gebirge über-
schritt und durch das Tal des Inachos in die argeiische Ebene
hinabstieg. Er stand jetzt dem Feinde im Rücken und zwang
damit die Argeier, den Paß von Nemea zu räumen; da aber
die Boeoter dem Gegner nicht auf den Fersen blieben, kam
Agis zwischen den Mauern von Argos und dem argeiischen
Heere in eine so bedenkliche Lage, daß er es für geraten hielt,
mit dem argeiischen Strategen Thrasyllos einen Waffenstill-
stand auf vier Monate abzuschließen, und unter dessen Schutze
das Gebiet von Argos zu räumen. Beide Heere waren mit
dieser Lösung sehr unzufrieden, denn hüben und drüben
1 Thuk. V 66, 3.
Krieg zwischen Sparta und Argos. — S'chlacht bei Mantineia. 349
meinte man den sicheren Sieg in der Hand zu haben; die
Argeier hätten Thrasyllos beinahe gesteinigt und verurteilten
ihn zum Verlust seines Vermögens, in Sparta entging Agis
nur mit knapper Not einer harten Bestrafung ^.
Jetzt endlich, als alles vorüber war, landeten bei Argos
1000 athenische Hopliten und 300 Reiter unter den Strategen
Laches und Nikostratos. Um aber den üblen Eindruck, den
die Zögerung in der Hilfleistung in Argos hervorbringen mußte,
nach Möglichkeit abzuschwächen, war Alkibiades dem Heer
als Gesandter beigeordnet, der Mann, der bisher alle Ver-
handlungen mit Argos geführt hatte, und der wenn irgend-
ein anderer dort persona grata war. Es war eine gefährliche
Wahl; denn Alkibiades überschritt den ihm gewordenen
Auftrag und begann auf eigene Hand Politik zu treiben. Sein
Einfluß bewirkte, daß die Verbündeten, ohne sich an den
eben geschlossenen Waffenstillstand zu kehren, eine kräftige
Offensive gegen die lakedaemonischen Bundesgenossen in
Arkadien unternahmen, von der die athenischen Strategen
sich um so weniger ausschließen konnten, als ein Angriff auf
unmittelbar spartanisches Gebiet nicht im Plane lag. Es
gelang denn auch, Orchomenos nach kurzer Belagerung zum
Anschluß an Argos zu bringen. Nun verlangten die Eleier,
daß man gegen Lepreon ziehe; und als sie überstimmt wurden,
verließen ihre 3000 Hopliten das Bundesheer und kehrten
nach Hause zurück. Dieser Zwiespalt wurde für die Sache
der Verbündeten verhängnisvoll. Denn die Lakedaemonier
zogen auf die Nachricht der Einnahme von Orchomenos mit
ganzer Macht ins Feld, vereinigten sich mit den Kontingenten
von Tegea und den übrigen südarkadischen Gauen und rückten
vor Mantineia. In der Ebene unter den Mauern der Stadt
kam es zur Schlacht, der größten, die seit langer Zeit zwischen
Griechen geschlagen worden war. Beide Heere mochten sich
an Zahl annähernd gleich sein, etwa je 8000 — 10 000 Schwer-
bewaffnete; aber die Argeier und Athener hielten dem Stoße
der spartanischen Hopliten nicht stand, und nun wurden
1 Thuk. V 57—60. 63.
350 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
auch die anfangs siegreichen Mantineier auf dem rechten
Flügel von der allgemeinen Flucht fortgerissen. Die Ver-
bündeten verloren 1100 Mann, darunter die beiden athenischen
Strategen Laches und Nikostratos; der Verlust der Sieger
soll sich auf etwa 300 Mann belaufen haben. Der Flecken
von Sphakteria war ausgetilgt, das militärische Ansehen
Spartas in Griechenland aufs neue befestigt (August 418) ^.
Argos schloß nun Frieden und Bündnis mit Sparta
und löste seinen Bund mit Athen; bald darauf erfolgte eine
Verfassungsänderung in oligarchischcm Sinne (Anfang 417).
Mantineia mußte in einen 30 jährigen Frieden mit Sparta
willigen, in dem es allen Ansprüchen auf die Hegemonie in
Arkadien entsagte. Achaia, wo bisher nur Pellene mit Sparta
verbündet gewesen war, trat jetzt ganz in den peloponnesischen
Bund ein. Auch Elis schloß Frieden und gab seinen Anspruch
auf Lepreon auf, ohne indes sein altes Bundesverhältnis mit
Sparta zu erneuern. Nie zuvor hatte Sparta den Peloponnes
so vollständig beherrscht ^.
So war Athen jetzt mehr als je in Griechenland isoliert;
es war alles verloren, was Alkibiades' Politik in den letzten
Jahren erreicht hatte. Mochte immerhin Alkibiades selbst
ein großer Teil der Verantwortung dafür treffen, so war es doch
Nikias, der dem verbündeten Argos jede wirksame Unter-
stützung versagt hatte, und der damit die eigentliche Schuld
an allem Unheil trug. Seine Gegner beeilten sich, ihren Vorteil
aus dieser Lage zu ziehen. Auf Hyperbolos' Antrag beschloß
das Volk, im Frühjahr 417 ein Scherbengericht abzuhalten.
Der Führer des Demos rechnete darauf, daß die Entscheidung
gegen Nikias ausfallen und dieser auf 10 Jahre aus Athen
verbannt würde; aber auch wenn diese Erwartung trog, hatte
Hyperbolos selbst dem Anschein nach wenig zu fürchten.
War es doch klar, daß Nikias' Anhänger ihre Stimmen nicht
gegen Hyperbolos, sondern gegen Alkibiades abgeben würden,
der allein eine wirkliche Gefahr für den Frieden und, wie viele
1 Thuk. V 61—75. Über die Heeresstärken Klio VI, 1906, S. 68 ff.
^ Thuk. V 76—82, 1. Wegen Achaia vergl. auch Thuk. II 9, 2; Elis hat
sich am dekeleiischen Krieg nicht beteihgt.
Folgen der Schlacht. — Ostrakismos des Hyperbolos. 351
meinten, auch für die Freiheit Athens bildete. Und allerdings
lag bei dem Bedürfnis der besitzenden Klassen nach Ruhe,
bei Nikias' noch immer unermeßlichem Einfluß die Mög-
lichkeit eines ungünstigen Ausgangs für Alkibiades nahe
genug. Dieser war denn auch keineswegs gewillt, die Gefahr
zu bestehen. Er löste also sein Bündnis mit der extremen
Demokratie und ging in Nikias' Lager hinüber; beide ver-
einigten die Stimmen ihrer Anhänger gegen Hyperbolos.
So geschah das Unerwartete; das Volk fand Hyperbolos
schuldig, nach der Tyrannis über Athen zu streben, und
sandte ihn in die Verbannung. Er ging nach Samos und hat
die Heimat nicht wiedergesehen ^. An der Institution des
Ostrakismos aber, die ja längst antiquiert war, haftete fortan
der Fluch der Lächerlichkeit; und wenn sie auch nicht förm-
lich aufgehoben wurde, ist sie doch seitdem ein toter Buchstabe
geblieben.
Nikias und Alkibiades waren jetzt die Herren der Lage.
Beide wurden unmittelbar nach dem Ostrakismos zu Strategen
gewählt und auch für das nächste Jahr (416/5) im Amte
bestätigt 2. Aber Alkibiades war doch seit seinem Bruch
mit der extremen Demokratie Nikias gegenüber in der Stellung
eines abhängigen Verbündeten. So konnte Nikias die Unter-
werfung von Amphipolis ins Auge fassen, die er mit Recht
für Athens dringendste Aufgabe hielt ^. Denn die Eroberung
von Skione war der einzige Erfolg gewesen, dessen die Athener
seit Abschluß des Friedens sich in Thrakien rühmen konnten;
nach dem Abzug der peloponnesischen Besatzung hatte die
Stadt sich im Sommer 421 ergeben müssen, die Bürger waren
als Rebellen hingerichtet, das Gebiet an die nach Athen ge-
1 Thuk. VIII 73, Plut. Alk. 13, Arist. 7, Nik. 11. Das Jahr ist nicht über-
liefert; auf 417 führt Theopomp. fr. 103 und eine Erwägung der politischen
Lage, vgl. meine Attische Politik S. 339 f. Auf diesen Ostrakismos bezieht sich
die unter Andokides' Namen überUeferte Rede gegen Alkibiades, eine Fälschung
des IV. Jahrhunderts; der fingierte Sprecher ist, wie sich aus dem Schluß und
Theophrast bei Plut. Nik. 11, Alk. 13 ergibt, Phaeax. Über diesen Thuk. V 4,
Aristoph. Ritter 1375, Eupolis fr. 95 K (I 281).
* Meine Attische Politik S. 308.
8 Thuk. VI 10, 4.
352 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
flüchteten Plataeer verteilt worden ^. Wohl aber hatten die
Chalkider einige kleinere Orte eingenommen, die zu Athen
hielten 2. Jetzt, noch vor Mittsommer, ging Nikias an der
Spitze einer Flotte nach der thrakischen Küste in See; aber
König Perdikkas von Makedonien, der ihm dort die Hand
reichen sollte, war nicht zur Stelle; er hatte soeben wieder
einmal die Farbe gewechselt und sich mit Sparta und Argos
verbündet ^. Infolgedessen vermochte Nikias nichts aus-
zurichten und mußte sich endlich dazu verstehen, mit den
Chalkidern einen Waffenstillstand zu schließen *. Perdikkas
wurde der Krieg erklärt und über die Häfen seines Reiches
die Blockade verhängt ^.
Inzwischen aber war in Argos eine Erhebung gegen die
oligarchische Regierung erfolgt; und da die Lakedaemonier
mit der Hilfe zögerten, wurde die Demokratie hergestellt,
die nun sogleich das Bündnis mit Sparta aufsagte und sich
wieder an Athen anschloß. So war die Lage im Peloponnes
mit einem Schlage verändert; Sparta hatte die beste Frucht
des Sieges bei Mantineia verloren und sah sich aufs neue der
Koalition der beiden großen griechischen Demokratien gegen-
über. Der Versuch, Argos, nach dem Vorbilde Athens, durch
Schenkelmauern mit dem Meer zu verbinden, wurde allerdings
von den Lakedaemoniern in einem Winterfeldzuge verhindert,
auch die argeiische Landstadt Hysiae eingenommen, sonst
aber wurde nichts erreicht, und der kleine Krieg an der
argeiischen Grenze ging weiter ^.
Athen glaubte jetzt den Spartanern alles bieten zu dürfen.
Man beschloß also die Eroberung von Melos, das als Kolonie
Spartas galt und mit diesem in enger Freundschaft verbunden
war, wenn es auch formell der peloponnesischen Eidgenossen -
1 Thuk. V 32.
^ Thuk. V 35, 1 (Thyssos), 39, 1 (Mekyberna), 82, 1 (Dion).
3 Thuk. V 80, 2.
* Thuk. VI 7, 4.
* Thuk. V 83, 4, Dittenb. Syll. ^ 37. In diese Zeit etwa gehört der Ver-
trag mit den Bottiaeern, Dittenb. Syll. ^ 36.
* Thuk. V 82. 83. Angeblicher Exzeß eines der Führer der Oligarchie:
Paus. II 20, 2. Urkunde des Vertrages mit Argos CIA. I 50.
Krieg in der Chalkidike. — Argos. — Eroberung von Melos. 353
Schaft nicht angehörte ^ Schon vor 10 Jahren (426) hatte
Nikias an der Spitze einer Flotte von 60 Trieren mit 2000
Hopliten an Bord die Insel zu unterwerfen versucht, aber
nichts ausgerichtet ^; nur das benachbarte Thera, das sich
bis dahin gleichfalls vom Seebunde ferngehalten hatte, wurde
tributpflichtig gemacht ^ Jetzt, wo Athen die Hände frei
hatte, sollte das damals Versäumte nachgeholt werden.
Im Vertrauen auf die Hilfe Spartas ließen die Melier es auf
eine Belagerung ankommen (Sommer 416). Diese Hoffnung
sollte nun freilich trügen, zur See war Sparta gegen die atheni-
sche Flotte ohnmächtig, und daß bei einem Einfall in Attika
nichts herauskam, hatte die Erfahrung des letzten Krieges
bewiesen. Vor allem, man wollte in Sparta keinen Krieg gegen
Athen und Argos zugleich. Selbst als die Besatzung von Pylos
Raubzüge in das spartanische Gebiet unternahm, ließ man
sich aus seiner passiven Haltung nicht aufrütteln und be-
schränkte sich darauf, nun auch seinerseits die Kaperei gegen
Athen freizugeben *. So blieb Melos sich selbst überlassen.
Die Stadt hielt sich bis tief in den Winter, aber das Ende
war doch eine Kapitulation auf Gnade und Ungnade. Obgleich
Melos nie zum athenischen Bunde gehört hatte, wurden die
Bürger nach dem barbarischen Kriegsrecht behandelt, das
man seit einigen Jahren gegen abgefallene Bundesgenossen
zur Anwendung brachte; die erwachsenen Männer wurden
hingerichtet, der Rest der Bevölkerung in die Sklaverei ver-
kauft. Eine attische Kleruchie von 500 Mann trat an die Stelle
der alten Bewohner ^.
^ Das letztere ergibt sich aus dem Schweigen des Thukydides (II 9) be
der Aufzählung der beiderseitigen Bundesgenossen, ebenso aus dem Dialog
zwischen den Athenern und Meliem V 85 — 112.
2 Thuk. III 91.
2 Es wird zuerst in den Listen des 29. Jahres (426/5) aufgeführt, mit
einem Tribute von 3 tal. (CIA. I 257). Im Jahr 431 war es noch unabhängig
gewesen (Thuk. II 9, 4); wahrscheinlich hat es sich ohne Kampf unterworfen,
und das ist der Grund, warum Thukydides die Sache nicht erwähnt.
* Thuk. V 115, 2.
5 Thuk. V 84—116, Dittenb. Syll ^ 37 Z. 28 (- CIA. 1 181), Plut. Alk. 16,
[Andok.] 4, 22.
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 23
354 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
Noch Während def Belagerung von Melos wurden Athens
Blicke wieder nach dem griechischen Westen gelenkt. Seit
dem Frieden von Gela (424) hatte man sich, von dringenderen
Aufgaben in Anspruch genommen, um die dortigen Ver-
hältnisse nicht mehr ernstlich bekümmert, so sehr dazu Anlaß
gewesen wäre. Denn kaum war der Frieden geschlossen, als in
Leontinoi Unruhen ausbrachen; die Führer des Demos be-
antragten eine Neuverteilung des Grundeigentums, und die
besitzenden Klassen sahen sich dadurch gezwungen, bei der
•mächtigen Nachbarstadt Syrakus Beistand zu suchen. Mit
deren Hilfe wurde der Demos vertrieben; die Besitzenden
siedelten nach Syrakus über und erhielten dort Bürgerrecht.
Das leontinische Gebiet wurde dem syrakusischen Staat
einverleibt ^.
In Athen nahm man die Vernichtung der verbündeten
Gemeinde hin, ohne zu etwas anderem als zur Absendung
einer Gesandtschaft sich aufzuraffen, die natürlich erfolglos
blieb (422) -. So wuchs den Gegnern der Mut, und wenige
Jahre später überzog Seimus das benachbarte Segesta mit
Krieg (416), das gleichfalls mit Athen im Bunde stand ^.
Viel zu schwach, dem Angriff aus eigener Kraft zu widerstehen,
wandten sich die Segestaner nach Athen um Hilfe *.
Über die formelle Verpflichtung Athens, die erbetene
Unterstützung zu gewähren, konnte nicht der geringste Zweifel
sein. Und ebensowenig darüber, daß, wenn Athen auch
diesmal untätig blieb, es allen politischen Einfluß im Westen
verlieren mußte. Trotzdem fehlte es nicht an solchen, die
bereit waren, dieses Opfer zu bringen, in der Überzeugung,
daß die gefährdete Stellung Athens in Griechenland selbst die
Sammlung aller Kräfte erfordere. Erst solle man die Chalkidike
wiedergewinnen, ehe mau ein neues Unternehmen gegen
Sicilien plane. Und kein geringerer als Nikias war es, der
1 Thuk. V 4.
^ Thuk. a. a. 0.
3 Oben S. 202. Auch aus Thuk. VI 6, 2 (toO<; Xoittoü«; en Su|u,uc[xou(;)
ergibt sich, daß Segesta mit Athen verbündet war.
"■ Thuk. VI 6. Aus anderer Quelle (Timaeos) Diod. XII 82.
Athenische Expedition nach Sicilien. 355
diese Ansicht in der Volksversammlung vertrat. Aber er
wurde diesmal von seiner eigenen Partei im Stiche gelassen;
Athen hatte zu wichtige Handelsinteressen im Westen, als
daß die besitzenden Klassen ein Aufgeben der dortigen Macht-
stellung des Staates hätten ertragen können. Die extreme
Demokratie aber hatte schon unter Kleon die Unterwerfung
Siciliens angestrebt (oben S. 324); sie war weit davon entfernt,
jetzt ihrer Vergangenheit ins Gesicht zu schlagen. Alkibiades
endlich trat mit dem ganzen Gewichte seines Einflusses für das
Unternehmen ein, dessen Leitung ihm selbst zufallen mußte,
und das ihm endlich den ersehnten großen Wirkungskreis
für die Entfaltung seiner Talente zu gewähren schien. So
wurde denn mit überwältigender Majorität der Beschluß
gefaßt, Segesta Hilfe zu leisten und die Unabhängigkeit von
Leontinoi wieder herzustellen. Auch Nikias gab jetzt nach
und ließ es geschehen, daß er selbst zu einem der Führer der
Expedition gewählt wurde; neben ihn traten Alkibiades und
Lamachos, wohl der tüchtigste Offizier, den Athen damals
hatte, wenn er auch bisher noch zu keinem wichtigeren Kom-
mando gelangt war. War der sicilische Krieg einmal nicht
abzuwenden, so sollte wenigstens verhindert werden, daß
Alkibiades die unbeschränkte Leitung desselben in die Hand
bekäme ^.
In der Tat erschien das Unternehmen, militärisch be-
trachtet, ohne jedes Bedenken. Athen war während des
letzten Krieges imstande gewesen, eine sehr ansehnliche
Flotte nach Sicilien zu entsenden, ohne daß seine maritime
Überlegenheit über die Peloponnesier dadurch im geringsten
geschwächt worden wäre; um wieviel mehr jetzt, wo man in
Griechenland Frieden hatte. Und gesetzt, daß die Expedition
erfolglos blieb, oder daß inzwischen in Griechenland neue
Verwicklungen ausbrachen, welche die Zurückrufung der
Flotte notwendig machten, so schien die athenische Meeres-
1 Thuk. VI 8—26. Plut. Nikias 12, Alk. 17. Über Lamachos unten 2. Abt.
§ 89. Aristophanes, der ihn in den Acharnern und im Frieden (473. 1290) als
einen Führer der Kriegspartei scharf angreift, läßt ihm später volle Gerechtigkeit
widerfahren: Frösche 1039, vgl. Thesm. 841.
23*
356 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
herrschaft in jedem Falle die Sicherheit des Rückzuges zu
verbürgen ^.
Auch an den nötigen finanziellen Mitteln fehlte es nicht.
Um den erschöpften Schatz wieder zu füllen, hatte man nach
dem Frieden die Tribute in dem bisherigen gegenüber den
aristeidischen Sätzen um mehr als das Doppelte gesteigerten
Betrag weiter erhoben, wie er während des Krieges fest-
gesetzt worden war; den Vorwand dazu bot die Verpflichtung
des Staates, den Göttern die für den Krieg entliehenen Summen
zurückzuerstatten. Dadurch war es möglich gewesen, an
den Schatz der Athena eine Abschlagszahlung von 3000
Talenten zu leisten und mit den Rückzahlungen an die übrigen
Götter zu beginnen, deren Schätze während des Krieges zur
besseren Kontrolle einer einheitlichen Verwaltung unterstellt
worden waren ^. Auch hatten die Segestaner sich verpflichtet,
die Kriegskosten aus ihren eigenen Tempelschätzen zu be-
streiten, und sogleich eine erste Rate von 60 Talenten als
Monatssold für ebenso viele Trieren vorausbezahlt ^.
Eine andere Frage ist es freilich, ob die hochgespannten
Erwartungen sich erfüllen konnten, welche die öffentliche
Meinung in Athen an das Unternehmen knüpfte. Die Ein-
nahme von Syrakus lag allerdmgs im Bereiche der Möglichkeit.
Hat doch nur wenig gefehlt, daß sie gelungen wäre; was dann
zu einer Oberhoheit Athens über die ganze Insel geführt haben
würde. Und der Besitz Siciliens würde Athen zur herrschenden
Macht am westlichen Mittelmeer erhoben haben, wie es bereits
die herrschende Macht am östlichen Mittelmeer war. Einer
solchen Stellung Athens gegenüber hätte auch der Peloponnes
seine Selbständigkeit nicht auf die Dauer behaupten können,
und Athen würde die Führung der ganzen Nation in die Hand
bekommen haben *. Die Frage war nur, ob Athen stark genug
^ Auch Thukydides (II 65, 11) hält das Unternehmen an sich für keinen
Fehler, sondern tadelt nur die Art, wie es ausgeführt wurde.
* CIA. I 32; s. unten 2. Abt. § 148 ff.
3 Thuk. VI 6, 2; 8, 1.
* Thuk. VI 90 läßt Alkibiades diese Pläne vor der lakedaemonischen
Volksversammlung entwickeln.
Expedition nach Sicilien. — Der Hermenfrevel. 357
war, die Herrschaft über Sicilien festzuhalten. Mit der poli-
tischen Propaganda war hier nichts zu machen, da die Insel
bereits durch und durch demokratisch war, durch Besatzungen
waren so volkreiche Städte kaum im Gehorsam zu halten,
und zu einer Kolonisation im großen Stile war die attische
Bürgerschaft nicht zahlreich genug. Es würde also voraus-
sichtlich gegangen sein, wie vor jetzt 30 Jahren in Mittel-
griechenland, und die athenische Herrschaft im Westen, auch
wenn es gelungen wäre, sie aufzurichten, sehr bald zusammen-
gebrochen sein; die Schwächung von Syrakus aber, welche
die Folge eines athenischen Sieges gewesen wäre, würde nur
Karthago in die Hände gearbeitet haben.
Der Größe des Unternehmens entsprachen die Rüstungen.
Die Flotte zählte 134 Trieren, von denen Athen selbst 100 gestellt
hatte, darunter 60 Schlachtschiffe und 40 zum Truppen-
transport; an Landungstruppen hatte man reichlich 4000
Hopliten an Bord, darunter 1500 Athener und 500 Argeier.
Athen hatte wohl schon ebenso starke oder auch stärkere
Flotten in See gehen lassen, aber noch keine, die so sorgfältig
ausgerüstet gewesen wäre ^.
Schon war alles zur Abfahrt bereit, als ein unheimliches
Vorkommnis die Stadt in die höchste Aufregung stürzte.
Eines Morgens fand man fast alle Hermen, welche die Straßen
und öffentlichen Plätze Athens schmückten, an den Köpfen
verstümmelt. Die abergläubische Menge sah in diesem uner-
hörten Religionsfrevel ein schlimmes Vorzeichen für die
Expedition nach Sicilien; zugleich argwöhnte man eine Ver-
schwörung zum Umsturz der bestehenden Verfassung. Das
war nun offenbar ein ganz grundloser Verdacht; denn ab-
gesehen von der völligen Aussichtslosigkeit jedes Versuches,
unter den gegenwärtigen Umständen die Demokratie in ihrer
Hochburg zu stürzen, welcher Verschwörer konnte so töricht
sein, die öffentliche Aufmerksamkeit selbst auf sein Treiben zu
lenken? Soviel war ja allerdings klar, daß hier mehr vorlag,
^ Thuk. VI 30 — 32, 43 — 44. über die Zusammensetzung der Expedition
s. unten 2. Abt. § 122.
358 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
als die mutwillige Tat einer Gesellschaft trunkener Zech-
brüder; ein so systematisches Vorgehen setzt das Einver-
ständnis zahlreicher Teilnehmer voraus. Es wurde also dem
Rat unbeschränkte Vollmacht in der Sache gegeben, eine
Untersuchungskommission ernannt und für die Angeber
Belohnungen ausgesetzt. Nun regnete es Denunziationen,
bei denen allerdings über den Hermenfrevel zunächst nichts
herauskam, wohl aber eine Anzahl anderer Religionsvergehen
enthüllt wurden. Namentlich wurde Alkibiades beschuldigt,
in seinem Hause eine Parodie der eleusinischen Mysterien zur
Aufführung gebracht zu haben. Alkibiades verlangte natürlich
sogleich vor Gericht gestellt zu werden; bei dem Rückhalt,
den er an dem Heere hatte, an dessen Spitze er stand, war
seine glänzende Freisprechung so gut wie gewiß. Aber eben
deswegen suchten seine Gegner die Sache zu verschleppen;
und es war auch in der Tat kaum möglich, die schon zum
Auslaufen bereite Expedition zurückzuhalten, bis der Prozeß
entschieden war. Das Volk beschloß also, Alkibiades solle
nach Sicilien abgehen und erst nach seiner Rückkehr sich
gegen die Anklage verantworten ^. Der Sache nach kam das
auf eine Niederschlagung des Verfahrens heraus; man konnte
Alkibiades das Kommando nicht lassen, wenn man ihn für
schuldig hielt, und wer hätte es wagen wollen, ihn zur Rechen-
schaft zu ziehen, wenn er als Sieger aus dem Feldzuge heim-
kehrte ?
Endlich, um Mittsommer, konnte die Expedition in See
gehen; die ganze Stadt gab den Scheidenden bis zum Peiraeeus
das Geleit. Ohne Unfall gelangte man über das Ionische
Meer an die italische Küste. Aber man fand dort sehr kühle
Aufnahme; selbst Rhegion, die alte Verbündete Athens,
weigerte diesmal den Anschluß. Auch in Sicilien war man
voll schwerer Besorgnis; der Zweck einer so gewaltigen Rüstung
konnte doch kein anderer sein, als die Insel der Herrschaft
Athens zu unterwerfen. Aber man war in keiner Weise auf
den Krieg vorbereitet, und die syrakusische Flotte war in so
1 Thuk. VI 27—29, Andok. vdMyst. 11 ff., Plut. Alk. 18 f.
Ankunft der Flotte in Sicilien. — Fortgang des Hermenprozesses. 359
tiefem Verfall, daß es Wahnsinn gewesen wäre, dem Feinde
zur See entgegenzutreten. Im athenischen Kriegsrat drang
nun Lamachos darauf, die Gunst des Augenblicks zu benutzen,
geraden Weges auf Syrakus loszusegeln und die Belagerung
zu beginnen; ein Plan, der aller Wahrscheinlichkeit nach zur
Einnahme der Stadt geführt haben würde. Aber er konnte
damit den beiden angesehenen Kollegen gegenüber nicht
durchdringen, und so wurde auf Alkibiades' Vorschlag be-
schlossen, methodisch zu verfahren und erst die kleineren
Städte zum Anschluß zu bringen, um sich so eine sichere
Operationsbasis zu schaffen. Doch nur das chalkidische Naxos
trat zunächst auf die athenische Seite; die Schwesterstadt
Katane folgte erst, als die Athener durch ein erbrochenes
Tor eingedrungen waren. Das athenische Heer, das bisher
vor den Toren von Rhegion gelagert hat, wurde jetzt hierhin
übergeführt ^.
Währenddessen war in Athen die Untersuchung wegen
der Religionsfrevel weitergegangen. Eine Reihe der an-
gesehensten Bürger wurde ins Gefängnis geworfen und zum
Teil hingerichtet, die Stadt war in fieberhafter Aufregung.
Überall witterte man Verschwörer; niemand war sicher, ob
er nicht im nächsten Augenblick auf die Aussage eines gewissen-
losen Angebers hin verhaftet und zum Tode geführt werden
würde. Da entschloß sich einer der Angeklagten, Andokides
von Kydathenaeon, ein junger Mann aus sehr vornehmem
Hause, ein Geständnis zu machen: er selbst habe mit einer An-
zahl seiner Freunde die Hermen verstümmelt. Ob die Angabe
richtig war, ist niemals ermittelt worden; wie die Sachen
lagen, war sie eine rettende Tat, und Rat und Volk ergriffen
begierig den Ausweg, der sich hier bot, um aus der unhalt-
baren Lage herauszukommen. Die von Andokides Beschul-
digten wurden hingerichtet, soweit man ihrer habhaft w^erden
konnte; auf den Kopf derer, die sich geflüchtet hatten, wurde
ein Preis gesetzt; die übrigen Angeklagten wurden sogleich
aus dem Gefängnis befreit. Der Angeber erhielt Straflosigkeit,
1 Thuk. VI 44—52.
360 XI. Abschnitt. — Der Fall der athehischen Seeherrschaft.
fand es aber doch bald geraten, die Heimat zu verlassen, die
er erst nach Jahren wiedergesehen hat ^.
Der Hermenfrevel schien also gesühnt; es blieb der
Mysterienfrevel. Auch in dieser Sache waren inzwischen
neue Denunziationen erfolgt; und wieder war es Alkibiades,
den man der Tat beschuldigte ^. Es ist ja auch an und für sich
gar nicht unwahrscheinlich, daß diesen Anklagen etwas Wahres
zugrunde lag, und daß Alkibiades den Mummenschanz, den
man zur Erbauung der Gläubigen in Eleusis aufführte, einmal
in lustiger Weinlaune parodiert hat. Jedenfalls ergriffen seine
Gegner mit Eifer die Gelegenheit, die sich ihnen hier bot, ihn
von seiner Höhe herabzustürzen. Allen voran Androkles
von Pitthos, ein Führer der radikalen Partei, der eben im
Rate saß und dort großen Einfluß übte ^. Denn die extreme
Volkspartei konnte es Alkibiades nicht vergessen, daß es
sein Abfall von der gemeinsamen Sache gewesen war, der
vor zwei Jahren beim Ostrakismos gegen Hyperbolos die
Entscheidung gegeben hatte. Und auch die Gemäßigten
hatten keinen Anlaß, sich besonders für den Mann zu er-
wärmen, der bei allem, was er tat, nur seinen eigenen Vorteil
^ Hauptquelle ist neben Thuk. VI 53. 60 die Mysterienrede des Andokides.
die aber natürlich die Tendenz verfolgt, diesen möglichst rein zu waschen,
Daß sie nur mit Vorsicht benutzt werden darf, zeigen auch die abweichenden
Angaben des Thukydides, die unter Lysias' Namen erhaltene Anklagerede gegen
Andokides und des letzteren eigene Rede von seiner Rückkehr. Die Komödie
bietet fast nichts, obgleich Aristophanes' Vögel im Winter nach dem Prozeß
zur Aufführung kamen; Plut. Alk. 18 — 21, Diod. XIII 2, Nepos Ale. 3 kommen
kaum in Betracht. Tö h^ aaqpdi; oubeic; oöxe TÖre ouxe öarepov ^x^i eiireiv irepl
TÜJV bpaadvTUJV tö ^pyov sagt Thukydides (VI 60, 2), und ich maße mir nicht an,
mehr wissen zu wollen. Doch kann der Zweck wohl nur der gewesen sein, das
sicilische Unternehmen noch in letzter Stunde durch ein ungünstiges Vorzeichen
nicht zustande kommen zu lassen. Ob nun gerade die Korinthier die Sache
angestiftet haben, wie Kratippos meinte (bei [Flut.] Leben des Andok. 834 d
ihm folgend Philoch. fr. 110), mag dahingestellt bleiben; es gab auch in Athen,
Leute genug, die das gleiche Interesse hatten. Vgl. Wilamowitz, Aristot. II
113, 1. Von neueren Spezialuntersuchungen ist zu nennen Götz, Der Hermo-
kopidenprozeß, Jahrb. f. Phil. Suppl. VIII (1876). Das Beste bleibt immer
noch die betreffende Partie bei Grote.
- Andok. vdMyst. 16.
3 Thuk. VIII 65,2, Plut. Alk. 19, Andok. vdMyst. 27.
Alkibiades' Sturz. 361
verfolgte und stets bereit war, den Staat in neue kriegerische
Verwicklungen zu stürzen. So vereinigten sich gegen Alki-
biades Männer aus beiden Parteien; Kimons Sohn Thessalos
war es, der die Anklage einbrachte, unterstützt von dem
radikalen Volksführer Androkles. Auf dessen Antrag wurde
Aikibiades nach Hause zurückgerufen, um sich sogleich vor
Gericht zu verantworten.
Es hätte in Alkibiades' Hand gelegen, der Vorladung
den Gehorsam zu weigern, gestützt auf seine Beliebtheit
bei dem Heere; jener erste Volksbeschluß, der den Prozeß
bis nach Beendigung des Krieges vertagte, konnte dafür
den passenden Vorwand abgeben. Auch fühlte die athenische
Regierung sich ihrer Sache so wenig sicher, daß sie ihre Ab-
gesandten ausdrücklich angewiesen hatte, offene Gewalt zu
vermeiden. Aber im entscheidenden Augenblick fand Alki-
biades doch nicht den Mut, aus den Schranken der Gesetz-
lichkeit herauszutreten; er mochte darauf rechnen, daß sein
persönliches Erscheinen genügen würde, um alle Gefahr zu
beschwören. Kaum aber hatte er die Heimreise angetreten,
als ihm die Sachen in anderem Lichte erschienen; und so
entwich er in Thurioi von seinem Schiff und ging in freiwillige
Verbannung. Er hatte sich damit selbst das Urteil gesprochen,
und demgemäß erkannte das Gericht in dem jetzt eröffneten
Kontumazverfahren. Über Alkibiades und seine Mitangeklagten :
seinen Oheim Axiochos von Skambonidae, seinen Vetter
Alkibiades von Phegus, seinen Gaugenossen Adeimantos
wurde die Todesstrafe verhängt, ihr Andenken verflucht, ihr
Vermögen eingezogen ^.
Der Mann war gestürzt, der während der letzten Jahre
in Athen fast allmächtig gewesen war. Und Nikias, der Führer
^ Thuk. VI 61, Plut. Alk. 21 f., wo die Eisangelie des Thessalos im Wort-
laut gegeben ist, Andokides vdMyst. 16. 65. Xen. Hell. I 2, 13. Über Androkles
Thuk. VIII 65, 2, Plut. Alk. 19. Er saß damals im Rate (Andok. Myst. 27).
Rechnungen über den Erlös aus dem eingezogenen Vermögen der in diesem
Prozesse Verurteilten CIA. I 274—76, IV S. 35. 177 f., Köhler Hermes XXIII
395. Über die Verwandtschaft des Alkibiades mit Axiochos Piaton Euthydem.
275 a und Töpffer Alt. Geneal. S. 179 f., unten 2. Abt. § 14. Daß auch Adeimantos
ein Verwandter des Alkibiades gewesen ist, ist sehr wahrscheinlich.
362 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
der Konservativen, stand fern in Sicilien; übrigens war auch
er, zwar nicht selbst, aber durch seine Brüder beim Hermen-
prozeß compromittiert ^. So fiel die Leitung des Staates jetzt
den Führern der radikalen Partei zu, die die Erregung des
Volkes über die Religionsfrevel mit solchem Geschick zu
benutzen verstanden hatten; neben Androkles vor allen
Peisandros, der in der Untersuchungskommission gesessen
hatte und ihr einflußreichstes Mitglied gewesen war ^. Sie
und ihre Freunde trifft für die Politik Athens in der nächsten
Zeit die Verantwortung.
Nikias und Lamachos waren jetzt die alleinigen Befehls-
haber der athenischen Flotte. Sie benutzten den Rest des
Sommers zu einer Fahrt nach Segesta, wobei sie sich über-
zeugten, daß auf eine irgend wirksame Unterstützung von
dieser Seite her nicht zu rechnen sei. Endlich im Spätherbst
unternahmen sie eine Landung bei Syrakus. In der Ebene
am großen Hafen, beim Tempel des olympischen Zeus, kam
es zur Schlacht gegen das ganze syrakusische Aufgebot, das
trotz seiner überlegenen Zahl völlig geschlagen wurde. Doch
blieb der Sieg unfruchtbar, da Nikias es bei der vorgerückten
Jahreszeit für geboten hielt, den Beginn der Belagerung auf
das nächste Frühjahr zu verschieben. Das Heer ging nach
Naxos und Katane zurück und bezog dort die Winter-
quartiere ^.
Die Athener hatten also einen halben Sommer nutzlos
verzettelt. Während des folgenden Winters waren sie ver-
geblich bemüht, Messene auf ihre Seite zu bringen; doch blieb
die Stadt wenigstens in dem Kriege neutral. Besseren Erfolg
hatten sie bei den Sikelern, die in Syrakus ihren natürlichen
Feind sahen und demgemäß die Athener bereitwillig unter-
stützten, soweit sie nicht durch syrakusische Besatzungen
^ Eukrates und vielleicht auch sein zweiter Bruder Diognetos hatten eine
Zeitlang in Untersuchungshaft gesessen {Andok.vdMyst. 47, 15).
^ Andok. Myst. 36, Aristoph. Lysistr. 490 f. Überhaupt wird Peisandros
in den Komödien dieser Jahre ebenso angegriffen wie vorher Kleon und Hyper-
bolos.
3 Thuk. VI 62—72.
Erste Operationen in Sicilien. 363
im Zaume gehalten wurden. Auch einige tyrrhenische Städte
traten aus demselben Grunde aut die athenische Seite. Kama-
rina, das beide Teile zu gewinnen suchten, erklärte neutral
bleiben zu wollen, schickte aber dann doch unter der Hand den
Syrakusiern Beistand. Auch Akragas hielt sich neutral, und
ebenso wies Karthago die athenischen Annäherungsversuclie
zurück. Aber es wurde doch wenigstens soviel erreicht, daß
außer Selinus und Gela keine andere Stadt Siciliens mit
Syrakus in offenes Bündnis trat ^.
Dem athenischen Heere fehlte es bis jetzt so gut wie ganz
an Reiterei, einer Waffe, die für einen Feldzug in Sicilien
unentbehrlich war. Es wurden also mit Anbruch des Früh-
jahrs 250 Reiter von Athen abgesandt, die in Sicilien «beritten
gemacht werden sollten, da ein Transport so vieler Pferde
auf eine so weite Entfernung untunlich schien. Sie kamen
etwa Mitte Mai in Katane an, und nun endlich beschlossen
Nikias und Lamachos ernsthaft gegen Syrakus vorzugehen ^.
Die Syrakusier hätten also Zeit genug gehabt, sich auf die
Belagerung vorzubereiten. Sie hatten denn auch, unter dem
Eindrucke der Niederlage im vorigen Herbst, das im Amt be-
findliche Kollegium von 15 Strategen abgesetzt und an dessen
Stelle drei neue Strategen erwählt, darunter Hermokrates,
den Führer der Opposition ^. Es wurden nun einige Außen-
werke angelegt und namentlich die Vorstadt am Theater,
der sog. Temenites, in die Befestigung hineingezogen, man
versäumte es aber, die Höhe von Epipolae zu sichern, die im
Westen der Stadt aufragt und die ganze Umgegend strategisch
beherrscht. So konnten die Athener, ohne Widerstand zu
finden, an der nahen Küste landen und in raschem Anlauf die
1 Thuk. VI 72—88. Über die Tyrrhener VI 88, 6; 103 2; VII 53, 2;,
57, 10. Mit den Campanern, welche die Neopoliten 413 für die Athener in Sold
nahmen, haben diese Tyrrhener nichts zu tun, denn die campanischen Söldner
kamen erst nach der Niederlage der Athener nach Sicilien (Diod. XIII 44, 2),
auch waren die Tyrrhener nicht Söldner, sondern Bundesgenossen. — Messene
wird unter den syrakusischen Bundesgenossen niemals erwähnt.
2 Thuk. VI 94, vgl. unten 2. Abt. § 6.
3 Thuk. VI 72 f.
* Thuk. VI 75, 1.
364 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
wichtige Stellung besetzen; ein Versuch, sie von dort zu ver-
treiben, blieb ohne Erfolg. Bald darauf kam den
Athenern eine weitere Verstärkung von 400 Reitern ihrer
sicilischen Bundesgenossen; freilich blieb die syrakusische
Reiterei noch immer weit überlegen. Es handelte sich nun
darum, die Stadt durch eine etwa 5 km lange Umwallung
vom Hafen Trogilos im Norden nach dem großen Hafen im
Süden von der Verbindung mit dem Inneren der Insel abzu-
schließen. Vergebens suchten die Belagerten den Fortschritt
dieser Arbeiten durch Ausfälle und die Errichtung von Gegen-
werken zu hindern. Die Athener blieben in allen Gefechten
siegreich; allerdings fiel in einem dieser Kämpfe der Stratege
Lamachos, dessen Energie die bisherigen Erfolge hauptsächlich
verdankt wurden. Aber der Mut der Verteidiger war gebrochen.
Die athenischen Linien wurden von der Hochfläche im Westen
der Stadt bis an den großen Hafen herabgeführt, in den nun
auch die Flotte einlief, die bisher im Norden von Syrakus
bei Thapsos gelegen hatte. Die nördliche Hälfte der Um-
schließungswerke war freilich noch nicht fertig, aber ihre
Vollendung schien nur noch eine Frage kurzer Zeit, und schon
begann man in Syrakus von Ergebung zu sprechen ^.
Da im letzten Augenblick kam der bedrängten Stadt
Rettung. Schon während des Winters hatten die Syrakusier
an Korinth und Sparta Gesandte geschickt und das Ver-
sprechen der Unterstützung erhalten; hatten doch die Pelo-
ponnesier selbst das höchste Interesse daran, zu verhindern,
daß Sicilien von Athen abhängig würde ^. Zum Befehlshaber
des Hilfsheeres wurde ein Mann bestimmt, der wie kein zweiter
in Sparta mit den Verhältnissen des Westens vertraut war,
Gylippos, ein Sohn jenes Kleandridas, der nach seiner Ver-
bannung im Jahre 445 sich nach Thurioi gewandt hatte und
dort rasch zu bedeutendem Einfluß gelangt war 3. Gylippos
erkannte, daß vor allem schnelle Hilfe von nöten sei; und da die
1 Thuk. VI 96—103. Über die Topographie, die athenischen Belagerungs-
werke und die Gegenwerke der Syrakusier unten 2. Abt. § 126 fE.
2 Thuk. VI 73. 88.
* Thuk. VI 93, vgl. oben S. 202.
Belagerung von Syrakus. — Gylippos in Sicilien. 365
Ausrüstung des nach Sicilien bestimmten Geschwaders mit
der im Peloponnes einmal hergebrachten Langsamkeit be-
trieben wurde, ging er selbst indes mit nicht mehr als 4 Trieren
in See, gelangte glücklich durch die Straße von Messina, die
Nikias zu sperren versäumt hatte und landete an der Nord-
küste der Insel in Himera. Die Himeraeer ließen sich bereit-
finden, ihm ein Korps von 1000 Mann und 100 Reitern zur
Verfügung zu stellen; auch aus Selinus, Gela und von den
umwohnenden Sikelern kam Zuzug, so daß Gylippos bald
etwa 3000 Mann unter seinem Befehle hatte, mit denen er quer
durch die Insel auf Syrakus rückte. Hier kam er gerade noch
zur rechten Zeit an, um durch die Lücke der athenischen
Zirkumvallationslinie in die Stadt zu gelangen. War schon
die materielle Unterstützung, die er brachte, nicht unbe-
deutend, so fiel doch die moralische Wirkung seines Eintreffens
noch weit mehr ins Gewicht. . Das Bewußtsein, von den
Stammesgenossen im Peloponnes nicht verlassen zu sein,
einen Spartiaten zum Führer zu haben, weitere Verstärkungen
erwarten zu dürfen, gab den Syrakusiern neuen Mut. Gylippos
schritt nun ohne Zögern zum Angriff; während er selbst durch
eine geschickte Demonstration die athenische Hauptmacht
in ihren Verschanzungen festhielt, gelang es einer Abteilung
seines Heeres in überraschendem Ansturm die Höhe von
Epipolae zurückzugewinnen. Nun galt es, diese wichtige
Stellung durch eine befestigte Linie mit der Stadt zu ver-
binden. Diese Mauer würde die Richtung der athenischen
Zirkumvallationslinie in rechtem Winkel geschnitten und
deren Vollendung unmöglich gemacht haben; es handelte
sich also für Nikias darum, den Bau des syrakusischen Werkes
um jeden Preis zu verhindern. So führte er sein Heer aus den
Verschanzungen heraus und nahm die Schlacht an, die der
Gegner ihm anbot. In einem ersten Treffen blieb den Athenern
der Sieg, aber sie waren doch nicht imstande, den Fortgang
des feindlichen W^erkes zu hemmen, und als es dann noch
einmal zum Kampfe kam, wußte Gylippos seine numerische
Überlegenheit besser zu verwerten, und die Athener wurden
hinter ihre Wälle zurückgeworfen. Die Syrakusier konnten
366 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
nun ihre Mauer in aller Ruhe vollenden, und die Gefahr einer
Einschließung wa,r von der Stadt abgewendet ^.
Nikias sah sich jetzt zu Lande auf die Defensive be-
schränkt. Um sich für alle Fälle wenigstens die Verbindung
mit dem offenen Meere zu sichern, hatte er gleich nach Gylippos'
Ankunft die Landspitze Plemmyrion befestigt, die, der Stadt
gegenüber von Süden her vorspringend, die Einfahrt in den
großen Hafen beherrscht ^. Doch die Lage des athenischen
Heeres wurde von Tag zu Tag ernster. Der Feind erhielt be-
ständig neue Verstärkungen. Noch im Herbst kamen 12
korinthische Schiffe; im folgenden Frühjahr (413) weitere
3000 Mann aus den sicilischen Städten; die Spartaner und
Boeoter sandten 900 Hopliten ^. Und jetzt wagten es die
Syrakusier und ihre Verbündeten, dem Feinde auch zur See
zu begegnen; war doch die athenische Flotte im kläglichsten
Zustande, die Schiffe, die beständig im Dienst sein mußten,
zum großen Teil kaum mehr seetüchtig, die Mannschaften
durch Krankheit und Desertionen gelichtet. Trotzdem fiel
der erste Versuch, sich mit den Athernern zur See zu messen,
für die Syrakusier ungünstig aus; aber während der See-
schlacht nahm Gylippos mit dem Landheer die Befestigungen
auf dem Plemmyrion. Die Einfahrt in den großen Hafen war
damit für die Athener auf das höchste erschwert. Bald er-
neuten die Syrakusier auch ihren Angriff zur See, und diesmal
mit besserem Erfolge; die Athener wurden auf ihrem eigenen
Elemente geschlagen und auf ihr Lager zurückgetrieben.
Nikias war jetzt vollständig eingeschlossen und verloren,
wenn nicht bald Entsatz kam K
Während so Athener und Peloponnesier sich in Sicilien
bekämpften, war auch in Griechenland der Krieg zwischen
1 Thuk. VI 104, VII 1—6.
- Thuk. VII 4.
3 Thuk. VII 7. 19. 21. 32 f. Auch Korinth und Sikyon hatten 700
Hopliten abgesandt (19, 4), die aber, durch einen Sturm nach Kyrene ver-
schlagen, erst im August in Syrakus anlangten (50, 2). Über das boeotische
Kontingent unten 2. Abt. § 125.
* Thuk. VII 21—25. 36—41.
Erste Seekämpfe vor Syrakus. — Besetzung von Dekeleia. 367
beiden Mächten zum offenen Ausbruch gekommen. Bisher
hatten die Gegner sich wohl am dritten Ort nach Möglichkeit
Abbruch getan, doch einer direkten Verletzung des feindlichen
Gebietes sich enthalten. Als aber im Sommer 414 ein lake-
daemonisches Heer in die Argeia einrückte und das Land
weithin verwüstete, konnte Athen nicht länger untätig zusehen.
Um der verbündeten Stadt Luft zu machen, landete ein
attisches Geschwader an der lakonischen Küste ^.
Hatten die Spartaner bisher Bedenken getragen, durch
einen Einfall in Attika den beschworenen Frieden zu brechen,
so bekamen sie jetzt freie Hand. Im Frühjahr 413 überschritt
das peloponnesische Bundesheer, von König Agis geführt,
zum erstenmal wieder seit 12 Jahren die attische Grenze.
Und diesmal begnügte man sich nicht, wie früher, mit einem
kurzen Einfall. Die Spartaner zeigten, daß sie vom Feinde
gelernt hatten. Nachdem die Ebene um Athen verheert war,
errichtete Agis auf den Höhen von Dekeleia ein befestigtes
Lager, etwa 20 km von der Hauptstadt und ebensoweit von
der boeotischen Grenze; eine Stellung, trefflich gewählt, um
den ganzen Norden Attikas militärisch zu beherrschen. Agis
selbst blieb hier mit einer starken Besatzung zurück, die
nun eine beständige Drohung für Athen bildete und die
Bürger zu fortwährendem angestrengten Wachtdienst auf den
Mauern zwang. Von einer Bebauung des Landes konnte
jetzt überhaupt nicht mehr die Rede sein; der Viehstand
ging aus Mangel an Futter zugrunde, und die Sklaven be-
gannen zu Tausenden aus der Stadt zum Feinde überzu-
laufen ^.
Offenbar wäre es jetzt das richtige gewesen, die Flotte
und das Heer aus Sicilien zurückzurufen, sobald das Meer
schiffbar wurde. Nikias hatte das schon im letzten Herbste
befürwortet, da ein Erfolg doch nicht mehr zu erreichen sei ^.
Aber die Regierung glaubte von Athen aus besser imstande
zu sein, die militärische Lage zu beurteilen, als der komman-
1 Thuk. VI 105.
* Thuk. VII 18—19. 27—28, vgl. VI 91, 7, Kratippos 12, 4.
" Thuk. VII 8. 10—15.
368 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
dierende General im Felde; oder vielmehr, die radikalen
Volksmänner, die seit dem Hermenprozeß an der Spitze Athens
standen, wußten sehr wohl, daß es mit ihrer Macht zu Ende
sein müßte in dem Augenblick, wo das sicilische Unternehmen
aufgegeben wurde, für das sie die Verantwortung trugen.
Man hatte also, um Mittwinter, Nikias eine Verstärkung von
10 Schiffen geschickt^; kurz darauf gingen 20 Schiffe unter
Konon nach Naupaktos, um die Absendung von Verstärkungen
aus dem Peloponnes nach Sicilien zu verhindern, was freilich
nicht gelang, da die Korinthier diesem Geschwader überlegene
Kräfte entgegenstellten ^. Inzwischen wurde eine zweite
Expedition nach Sicilien ausgerüstet, nicht viel schwächer als
diejenige, die vor zwei Jahren dorthin abgegangen war; und
man ließ sie im Frühjahr in See stechen, obgleich die Pelo-
ponnesier eben damals Dekeleia besetzt hatten. Den Befehl
erhielt Demosthenes, der gefeiertste Feldherr, den Athen in
diesem Augenblick besaß; neben ihm stand Eurymedon, der
bereits im vorigen Kriege auf Sicilien befehligt hatte. In
Italien fanden die Athener diesmal bessere Aufnahme; Meta-
pont stellte zwei Trieren und 300 Speerwerfer, Thurioi, wo
eine Revolution soeben die athenische Partei ans Ruder
gebracht hatte, 700 Hopliten und ebenfalls 300 Mann leichte
Truppen. Gegen Mittsommer gelangte die Flotte nach Syrakus,
noch gerade zu rechter Zeit, um Nikias vor sicherem Ver-
derben zu retten ^.
Es waren 73 Trieren mit 5000 Hopliten und zahlreichen
Leichtbewaffneten, die Demosthenes und Eurymedon heran-
führten. Die militärische Lage war dadurch mit einem Schlage
verändert, die Athener wieder der stärkere Teil, und Demo-
sthenes drängte demgemäß auf sofortige kräftige Offensive.
Alles hing von dem Besitz von Epipolae ab; und da die offenen
Angriffe auf die syrakusischen Befestigungen ohne Erfolg
blieben, beschloß man einen nächtlichen Überfall. Zuerst
ging alles vortrefflich; beim Scheine des Mondes wurde die
1 Thuk. VII 16.
* Thuk. VII 17.
3 Thuk. VII 16. 20. 26. 31. 35.
Sturm auf Epipolae. — Seeschlachten im Hafen von Syrakus. 369
Höhe erstiegen, die feindlichen Werke im Rücken gefaßt, die
Besatzung in die Flucht getrieben. Aber beim weiteren Vor-
rücken gegen die Stadt hin gerieten die Athener in Unordnung;
der Feind erholte sich von dem ersten Schrecken und hielt
wieder stand, und nun wurden die Athener ihrerseits zurück-
geworfen. In der Verwirrung des Nachtgefechtes löste sich
bald alles in regelloser Flucht; mit großen Verlusten gelangten
die Athener endlich von den steilen Höhen herab in ihr Lager
(Ende Juli 413) \
Demosthenes war jetzt mit Recht der Ansicht, daß jede
weitere Fortsetzung der Belagerung zwecklos sei. Nikias
widersprach anfangs; er fürchtete die Verantwortung für
das mißglückte Unternehmen und wiegte sich noch immer
in der Illusion, mit Hilfe seiner Verbindungen in Syrakus
die Stadt in die Hand zu bekommen. Endlich, nachdem man
einige Wochen nutzlos verloren hatte, während beständig
Verstärkungen nach Syrakus strömten, gab auch er seine
Zustimmung. Am Abend des 27. August lag die Flotte bereit,
das Heer aus dem Hafen zu führen, als die Mondscheibe sich
plötzlich verfinsterte. Die Truppen nahmen das für ein
schlimmes Zeichen, und Nikias, der selbst nicht weniger
abergläubisch war als seine Matrosen, und dem außerdem
der Aufschub ganz gelegen kam, widersetzte sich jetzt der
Abfahrt und erklärte, zu bleiben, bis ein neuer Vollmond am
Himmel stände. Mit dieser Zögerung war das Schicksal des
Heeres entschieden. Denn die Syrakusier steckten sich nun
das Ziel, den Belagerern den Rückzug abzuschneiden und
sie vor den Mauern ihrer Stadt zu vernichten. Sie boten also
dem Feinde von neuem die Seeschlacht an, die dieser, falls
er seine Verbindungen offenhalten wollte, nicht weigern
durfte. Aber in der Enge des Hafens konnten die Athener
ihre Manöverierfähigkeit nicht entwickeln, während sie mit
ihren leichtgezimmerten Schiffen gegenüber den stärker
1 Thuk. VII 42—45. Den Verlust gibt Diod. XIII 11, 5 auf 2500, Plut.
Nik. 21 in runder Zahl auf 2000 Mann an, offenbar weit übertrieben. Thuk.
VII 45, 2 sagt nur ouk öXifOi. Die Zeit ergibt sich aus der Mondfinsternis vom
27. August, s. unten 2. Abt. § 102.
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 24
370 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft.
gebauten peloponnesischen und syrakusischen Trieren im
Nachteil waren. So endete der Tag, trotz der numerischen
Überlegenheit der Athener mit deren völliger Niederlage;
der Stratege Eurymedon fiel, 18 Schiffe wurden genommen
und ihre ganze Mannschaft niedergemacht. Die Syrakusier
waren nun Herren des Hafens, und sie gingen sogleich daran,
dessen Einfahrt zu sperren. Wohl machten die Athener noch
einen letzten verzweifelten Versuch, die Blockade zu sprengen.
Alle noch irgendwie seetüchtigen Schiffe der Flotte — es
waren 110 — wurden ins Wasser gezogen und gegen den
Feind geführt, der nur über 76 Trieren verfügte. Die Leute
wußten, daß die um ihre Rettung kämpften und fochten mit
dem Mut der Verzweiflung. Aber auch jetzt blieben alle
Anstrengungen vergebens; mit einem Verlust von 50 Schiffen
wurden die Athener auf ihr Lager zurückgetrieben ^.
Das Heer war jetzt völlig demoralisiert; an eine Wieder-
holung des Versuches, dem Feinde zur See zu begegnen, war
nicht zu denken. Auch das Lager war nicht länger zu halten,
da die Vorräte zu Ende gingen; es blieb nichts übrig als der
Rückzug zu Lande. Alles Gepäck, alle Kranken und Ver-
wundeten mußten zurückgelassen werden, die Flotte fiel dem
Feinde zur Beute. Die nächste befreundete Stadt war Katane;
aber der direkte Weg dahin war durch die feindlichen Be-
festigungen auf Epipolae versperrt, und der Versuch, sich
am Anapos aufwärts nach Akrae hin einen Weg zu öffnen,
wurde von den Syrakusiern abgeschlagen. Es blieb also nur
die Küstenstraße, die von Syrakus in südwestlicher Richtung
über Eloros nach Kamarina führte. Man verfügte noch immer
über etwa 20 000 Mann ^, allerdings zum großen Teil für den
Kampf zu Lande wertlose Rudermannschaften. Eine um-
sichtige Führung hätte ein solches Heer vielleicht trotz allem
zu retten vermocht; doch es fehlte daran ebensosehr wie
an der nötigen Disziplin bei den Truppen. Man war nicht
einmal darauf bedacht, das Heer zusammenzuhalten. Nikias,
der an der Spitze marschierte, ging vorwärts ohne Rücksicht
1 Thuk. VII 47—71. Diod. XIII 12—17.
- S. unten 2. Abt. § 124.
Der Rückzug. — Katastrophe am Assinaros. 371
auf Demosthenes, der die Nachhut führte und durch die
beständigen Angriffe der verfolgenden Syrakusier zu lang-
samcrem Marsche genötigt war. So kam ein weiter Zwischen-
raum zwischen die beiden atKenischen Heerteile; der Feind
konnte sich mit ganzer Macht auf Demosthenes werfen, der
nach tapferem Widerstände zur Ergebung gezwungen wurde.
6000 Mann streckten die Waffen i.
Jetzt kam die Reihe an Nikias. Unter unablässigen
Angriffen seitens der feindlichen Reiter und leichten Truppen
gelangte er an den Assinaros, einen der kleinen Flüsse, die
bei dem heutigen Noto von den Bergen herab ins Ionische
Meer strömen. Hier löste alle Ordnung sich auf, es erfolgte
ein furchtbares Blutbad, endlich ergab sich Nikias mit dem
Rest seiner Truppen dem Sieger (Anfang Oktober). Da keine
förmliche Kapitulation erfolgt war, blieb der größte Teil
der Gefangenen den Soldaten des siegreichen Heeres als Beute;
,,ganz Sicilien wurde voll davan", wie der Geschichtsschreiber
des Krieges sagt. Doch retteten sich nicht unbedeutende
Teile des athenischen Heeres nach Katane ^.
1 Thuk. VII 72—82.
2 Thuk. VII 82—85, [Lysias] /. Polystr. 23—26, Paus. VII 16, 5. Über
den Rückzug Holm bei Lupus, Syrakus S. 146 ff., Pais, Ricerche storiche e geo-
grafiche S. 189 ff., Ciaceri in Pais' Studi Storici III 353 ff., Pisa 1894. Thuky-
dides nennt drei Flüsse, welche die Athener überschreiten mußten, den Kakyparis,
Erineos, Assinaros. Heute gibt es südlich vom Anapos überhaupt nur dre
Flüsse, die das ganze Jahr hindurch, also auch im Oktober, Wasser haben:
den Cassibile, Fiume di Noto, Teilaro, oder wie er beim Volke heißt, Atiddaru.
Der letztere müßte also der Assinaros sein, denn über die Identität des Cassibile
mit dem Kakyparis läßt der Name keinen Zweifel. Nun ist aber zweifellos der
Atiddaru der schon von Pindar erwähnte Eloros {Nem. IX 40). Es bleibt also
nur die Alternative: entweder war der Erineos im Altertum wasserreicher als
heute und ist in einem der jetzt meist trockenen Flußbetten zwischen Cassibile
und Fiume di Noto zu erkennen (Holm), oder Eloros und Assinaros sind ein
und derselbe Fluß (Pais). Das erstere ist sehr unwahrscheinlich, da es sich
nur um ganz kurze Rinnsale handelt, für letztere Annahme spricht der 'EXibpiO(;
dyiuv, T6XoO|Li6vO(; ^iri 'EXdjpou TroxainoO, den Hesychios erwähnt, und der
kaum etwas anderes sein kann als die Äaoivapia ^optri, welche die Syrakusier
zum Gedächtnis des Sieges gestiftet haben (Plut. Nik. 28). Leider ist aus dem
unklaren Bericht des Thukydides nicht mit Sicherheit zu erkennen, ob Demo-
sthenes nördlich oder südlich vom Kakyparis kapituliert hat; ist das letztere
24*
372 XI. Abschnitt. — Der Fall der athenischen Seeherrschaft,
So hatten die Syrakusier den vollständigsten Sieg errungen,
einen Sieg, wie er nie zuvor von Hellenen über ein hellenisches
Heer gewonnen worden war. Aber sie befleckten ihren Erfolg
durch barbarische R^che an dem wehrlosen Feinde. Die
beiden Feldherren Nikias und Demosthenes wurden gegen
alles hellenische Kriegsrecht hingerichtet; vergebens hatte
Gylippos sie zu retten versucht. Die übrigen Gefangenen,
soweit sie in der Gewalt des Staates waren, wurden in den
Steinbrüchen eingeschlossen, jenen weitgedehnten Latomien,
die tief in den Felsen eingeschnitten, mit üppigster Vegetation
bedeckt, heute einen der anziehendsten Punkte für den Be-
sucher von Syrakus bilden, damals aber noch völlig kahl ein
Bild trostloser Öde boten. Hier blieben die Gefangenen über
zwei Monate, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt, bei
der dürftigsten Nahrung; dann wurden sie als Sklaven ver-
kauft, mit Ausnahme der Athener selbst und ihrer Bundes-
genossen aus Italien und Sicilien. Diese wurden noch bis zum
nächsten Frühjahr gefangen gehalten; was aus denen ge-
worden ist, die diesen schrecklichen Winter überstanden,
hat Thukydides zu berichten nicht wert gehalten ^.
Die Nachricht von dieser Katastrophe wirkte in Hellas
wie ein Donnerschlag; der Nimbus der Unbesiegbarkeit war
zerrissen, der die athenische Flotte seit dem Tage von Salamis
umgeben hatte. Im Peloponnes rüstete man sich, nunmehr
den Athenern auch zur See zu begegnen; Syrakus versprach
der Fall, wie zuletzt auch Holm für wahrscheinlich hielt (bei Lupus S. 156),
So ist der Assinaros der Atiddaru; die Distanzangabe bei Thuk. VII 81, 3, vgl.
81, 1; 82, 3 läßt darüber (trotz Holm) nicht den geringsten Zweifel. Unweit
nördlich der Mündung des Atiddaru erhebt sich die Colonna della Pizzuta, eine
riesige, aus großen Steinquadern aufgemauerte Säule aus griechischer Zeit, in
der man ein Denkmal des Sieges gesehen hat (abgebildet bei Orsi, Not. Scavi
1899, S. 243 und Pais a. a. 0. S. 194). Reste einer ähnhchen Säule finden sich
aber auch nördUch von Noto, am Oberlauf des Flusses (Ciaceri a. a. 0. S. 360);
eine dritte, jetzt verschwundene Säule dieser Art scheint nach Fazello (Buch IV
Kap. 2) bei den Ruinen von Alt-Noto gestanden zu haben. Demnach kann
von einer Beziehung auf den Sieg der Syrakusier nicht die Rede sein. Vgl. Orsi,
a. a. 0. S. 242 ff. — Über die Chronologie des Rückzuges unten 2. Abt. § 102.
1 Thuk. VII 86. 87.
Schicksal des besiegten Heeres. — Folgen der Katastrophe. 373
Hilfe, überall im Umkreis des athenischen Reiches bereiteten
sich die Städte zum Abfall. Kein Mensch in Griechenland
glaubte, daß Athen nach solchen Verlusten imstande sein
würde, auch nur noch einen Feldzug zu überstehen ^.
XII. Abschnitt.
Der Fall der Demokratie.
Der Kampf zwischen den beiden großen griechischen
Demokratien, den die Katastrophe am Assinaros beendet
hatte, sollte in seinen Folgen beiden verhängnisvoll werden;
der Siegerin nicht minder als der Besiegten. Syrakus war,
nach der Anspannung aller Kräfte während der anderthalb-
jährigen Belagerung, tief erschöpft, die Finanzen zerrüttet;
hatte doch der Krieg schon über 2000 Talente (11 000 000 Mk.)
erfordert, und es blieb noch eine drückende Schuldenlast ^.
Nicht weniger schwer waren die einzelnen Bürger getroffen
worden, da während so langer Zeit alle wirtschaftliche Tätig-
keit zum Stillstand gekommen war. Und noch waren die
athenischen Verbündeten auf Sicilien unbezwungen, und wer
vermochte zu sagen, welche Haltung Karthago der neuen
politischen Lage gegenüber einnehmen würde? Athen aber
hatte die gute Hälfte seiner Flotte vor Syrakus eingebüßt,
und gerade die besten Schiffe; der Kern des Hoplitenheeres,
weit über 2000 Mann, war gefallen oder lag gefangen in den
syrakusischen Steinbrüchen. Und die Kosten des Unter-
nehmens hatten fast alle Überschüsse aufgezehrt, die während
der letzten Friedensjahre sich angesammelt hatten. Es war
eine Katastrophe, noch ungleich schwerer als einst die Nieder-
lage in Aegypten.
Gleichwohl ließ man auch jetzt in Athen den Mut nicht
sinken. Noch stand das Reich; noch immer besaß man eine
^ Thuk. VIII 2.
■' Thuk. VII 48, 6; 49, 1.
374 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Flotte, die an Zahl wie an Tüchtigkeit jeder anderen Seemacht
in Griechenland überlegen war. Auch der Schatz war noch
keineswegs völlig erschöpft, und namentlich der Reservefonds
von 1000 Talenten noch ganz unberührt, den man gleich
zu Anfang des Krieges für den äußersten Notfall beiseite
gelegt hatte. Ein weiterer glücklicher Umstand war es, daß
die sicilische Katastrophe am Ende des Sommers erfolgt war,
so daß man für dieses Jahr keinen feindlichen Angriff mehr
zu besorgen hatte. Man hatte also den ganzen Winter Zeit,
für den bevorstehenden Entscheidungskampf zu rüsten ^.
Natürlich war es jetzt vorbei mit dem Einfluß jener
radikalen Demagogen, die das sicilische Unternehmen ins
Werk gesetzt hatten, Peisandros, Androkles, Demostratos
und ihrer Genossen ^. Ja, man begann zu der Einsicht zu
kommen, daß die unbeschränkte Demokratie, wie Ephialtes
und Perikles sie begründet hatten, überhaupt unfähig sei,
den Staat durch die Krisis hindurchzuführen, die ihm bevor-
stand. Man erkannte die Notwendigkeit, die Regierungs-
gewalt gegenüber den wechselnden Majoritäten der Volks-
versammlung zu stärken. So schritt man zur Verfassungs-
änderung. Als höchsteVerwaltungsbehörde wurde ein Kollegium
von zehn Probulen geschaffen, durch Volkswahl aus älteren
bewährten Männern besetzt, denen ein wesentlicher Teil der
Funktionen übertragen wurde, die seit Kleisthenes der Rat
versehen hatte ^. Auch die Leitung des Finanzwesens wurde
^ Thuk. VIII 1. Über den Reservefonds, der erst im nächsten Jahre zur
Verwendung gelangte, Thuk. VIII 15 (vgl. II 24) und Philochoros fr. 116.
^ Thuk. VIII 1, 1 xaXeTToi |u^v rjaav toxc, Hu)Li7rpo6u|ari6eTöi tüliv f)riTÖpuJV
TÖv ^kttXouv — iliarep ouk auToi ijjriqpiactinevoi, wie Thukydides beißend
hinzusetzt. Aristoph. Lysistr. 490 (aufgeführt an den Lenaeen 411) beweist
keineswegs, daß Peisandros noch nach der sicilischen Katastrophe leitenden
Einfluß hatte; die Stelle geht auf die Zeit vorher.
^ Thuk. VIII 1, 3 und Aristophanes Lysistrate (aufgeführt Anfang 411).
Da die Probulen durch die Revolution von 411 beseitigt wurden, wissen wir
natürlich über ihre Kompetenz nur sehr wenig. Die Zehnzahl bezeugt Aristot.
ATT. 29, 2. Daß der Rat im wesentlichen durch die Einsetzung der Probulen
depossediert war, zeigt die Anspielung bei Aristoph. Thesmoph. 808, vgl. Wila-
mowitz, Aristot. u. Athen II 344.
Verfassungsrerorm in Athen. — Steuerreform im Reiche. 375
zum Teil dem Rate entzogen und dafür eine neue Behörde,
das Kollegium der Poristen, geschaffen. In der inneren Ver-
waltung sollte die äußerste Sparsamkeit durchgeführt werden;
freilich an dem Krebsschaden des Budgets, den Soldzahlungen
an die Bürger für Ausübung der politischen und richterlichen
Funktionen, wagte man noch nicht zu rütteln ^.
Zugleich schritt man zu einer Steuerreform im Reiche,
Die Tribute waren bereits auf eine so drückende Höhe empor-
geschraubt worden, daß an eine weitere Steigerung nicht zu
denken war, am wenigsten im jetzigen Augenblick, wo das
Reich in seinen Grundfesten wankte. Man entschloß sich
also, sie ganz zu beseitigen und ersetzte sie durch einen Wert-
zoll von 5% auf die gesamte Ein- und Ausfuhr der Häfen des
Bundesgebietes. Man versprach sich davon eine Erhöhung
des finanziellen Erträgnisses; ein weiterer Vorteil des neuen
Systems war es, daß jetzt die gewaltsame Eintreibung rück-
ständiger Zahlungen fortfiel, die mehr als alles andere die
athenische Herrschaft verhaßt gemacht hatte. Da die Er-
hebung der Zölle durchweg an Unternehmer in Pacht gegeben
wurde, war die Reform ohne große Schwierigkeit durchführbar;
der einzige Unterschied gegen früher war, daß die Verpachtung
jetzt für Rechnung des Reiches erfolgte. Allerdings war es
ein mächtiger Schritt auf der Bahn zum Einheitsstaate, den
Athen damit tat; aber wie die Dinge lagen, wären noch viel
einschneidendere Maßregeln am Platze gewesen. Jedenfalls
hat das System sich bewährt; denn als man im korinthischen
Kriege daran ging, das zerstörte Reich wieder aufzurichten,
hat man nicht die Tribute, wohl aber die Bundeszölle von
neuem ins Leben gerufen ^.
1 Thuk. VIII 1, 3, und über die Poristen Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 249 ff.
Sie werden zuerst erwähnt in Antiphons Rede über den Choreuten (49), die
spätestens 412 gehalten ist. Br. Keils Ansatz auf 425 (Hermes XXIX, 1894,
S. 32 ff. 337 ff.) beruht nur auf seinem „Kleisthenischen Staatskalender",
s. darüber unten 2. Abt, § 97.
- Thuk. VII 28, 4 erzählt die Steuerreform nach der Besetzung von
Dekeleia durch die Peloponnesier; natürlich ließ sie sich nicht von heute auf
morgen durchführen, sie wird also wohl kaum vor dem Winter 413/2 ins Leben
getreten sein. Vgl. Rh. Mus. XXXIX, 1884, 43 ff.
376 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Indessen begann das athenische Reich zusammenzu-
brechen. Die wichtigsten Inseln, Euboea, Lesbos, Chios,
schickten heimlich Abgesandte zu Agis nach Dekeleia oder
nach Sparta selbst und erklärten sich zum Abfall bereit,
sobald eine peloponnesische Flotte an ihren Küsten sich zeige.
In Sparta beschloß man, zunächst Chios die Hand zu reichen,
dessen Anschluß bei seiner starken Flotte und seinen reichen
finanziellen Hilfsquellen besonders wertvoll w^ar. Es wurde
also in Korinth ein Geschwader von 21 Trieren gerüstet und
nach Chios bestimmt; doch waren die Korinthier nicht zu
bewegen, vor dem isthmischen Feste in See zu gehen, dessen
Feier gerade bevorstand. Darüber erfuhr man in Athen, was
im Werke war; und als die Peloponnesier endlich ausliefen,
sahen sie sich von einer gleich starken athenischen Flotte
angegriffen und gezwungen, im Peiraeos Zuflucht zu suchen,
einem einsamen Hafen an der Grenze zwischen Korinth und
Epidauros. Hier wurden sie von den Athenern blockiert ^.
Inzwischen aber war ein Geschwader von 5 Schiffen,
unter dem Spartaner Chalkideus, von Lakonien direkt nach
Chios gesegelt. Sein Erscheinen im Hafen genügte, um die
Stadt zum Anschluß an die Peloponnesier zu bestimmen
(um Mittsommer 412); Erythrae, Klazomenae, Teos folgten
sogleich dem Beispiel der mächtigen Nachbarstadt. Die
Mannschaft der peloponnesischen Schiffe blieb als Besatzung
in Chios zurück; Chalkideus selbst fuhr mit 25 chiischen
Schiffen weiter nach Milet und bewog auch dieses zum Abfall,
während ein anderes chiisches Geschwader, von Landtruppen
unterstützt, die Teos benachbarten Städte Aerae und Lebedos
zum Anschluß an die Sache des Aufstandes brachte. Darauf
gingen 13 chiische Schiffe nach Lesbos, wo die beiden wich-
tigsten Städte, Methymna und Mytilene, sogleich zu ihnen
übertraten; dasselbe taten Kyme und Phokaea auf dem Lesbos
gegenüberliegenden Festland ^.
> Thuk. VIII 5—11.
- Thuk. VIII 11—19, über Phokaea und Kyme vgl. Thuk. VIII 31. Die
Zeit des Abfalls von Chios ergibt sich aus der Folge der Ereignisse bei Thukydides,
verglichen mit Philoch. fr. 116. S. unten 2. Abt. § 103.
Abfall loniens. — Athen und Persien. 377
Und nun trat auch Persien dem Bündnisse gegen Athen
bei. Die Beziehungen zwischen beiden Mächten, die zu keiner
Zeit gute gewesen waren, hatten sich in den letzten Jahren
bedeutend verschlechtert. Denn die kleinasiatischen Satrapen
hatten den Krieg Athens gegen die Peloponnesier benutzt,
um ihr Machtgebiet in lonien und Karicn zu erweitern; schon
430 war Kolophon von den Persern genommen worden ^,
einige Jahre später lasos 2. Auch Sparta hatte mit Persien
Unterhandlungen angeknüpft, die allerdings ohne Ergebnis
geblieben waren ^, da Sparta sich noch nicht entschließen
konnte, die kleinasiatischen Griechen dem Könige preis-
zugeben. Demgegenüber war natürlich Athen bemüht ge-
wesen, zu einer Verständigung mit Persien zu kommen, und
es war denn auch nach König Dareios' Thronbesteigung (424)
gelungen, die Erneuerung des mit Artaxerxes geschlossenen
Vertrages zu erlangen ^ Nicht lange darauf (um 420) brach
in Kleinasien ein Aufstand aus; der Satrap von Sardes,
Pissuthnes, erhob sich gegen seinen Herrn, wurde aber von
den königlichen Truppen unter Tissaphernes gefangen ge-
nommen und zum Könige gesandt, der ihn hinrichten ließ,
worauf Tissaphernes die erledigte Satrapie erhielt ^. Doch
setzte Pissuthnes' Sohn Amorges in Karien mit griechischen
Söldnern den Kampf fort. Da Athen in dieser Zeit durch das
sicilische Unternehmen in Anspruch genommen war, benutzte
1 Thuk. III 34, 1.
- lasos hat noch 421/0 (CIA. I 262, dazu Wilhelm, Wietier Akad. phil.
hist. Kl. Anz. 1909 S. 50) Tribut gezahlt, war aber 412 im Besitze von Pissuthnes'
Sohne Amorges (Thuk. VIII 28, 2).
3 Thuk. II 67 (vgl. Herod. VII 137), IV 60, 2.
^ Aristoph. Acharn. 61 ff. (Anfang 425), Thuk. IV 50, 3 (Frühjahr 424),
Andok. vFr. 29 (Gesandtschaft des Epilykos, Sohnes des Peisandros, die nach
dessen Lebensverhältnissen nur in diese Zeit gehören kann, vgl. Kirchner,
Prosopogr. I 325, und Köhler, Hermes XXVII, 1892, S. 68 ff.); doch scheint
mir sehr unwahrscheinlich, daß der Volksbeschluß für Herakleides aus Klazo-
menae, Dittenb. Syll. ^ 58 sich auf diese Verhandlungen bezieht.
^ Ktes. 52; die Annahme, daß hier eine Verwechslung mit dem Aufstande
des Amorges vorliegt (E. Meyer IV S. 556 A), scheint mir in keiner Weise be-
gründet; vielmehr wird Amorges' Erhebung nur verständlich, wenn der Abfall
des Vaters vorhergegangen war.
378 XII, Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
der neue Satrap die günstige Gelegenheit, sich des wichtigen
Ephesos zu bemächtigen ^, was dann die athenische Regierung
veranlaßte, Amorges unter ihren Schutz zu nehmen. Das war
eine offene Provokation Persiens; und als wenig später die
Katastrophe von Syrakus erfolgte, beschloß der König, seine
alten Ansprüche auf die griechischen Küstenstädte Klein-
asiens endlich zur Geltung zu bringen. Sogleich, noch im
Winter 413/2, traten nun Pharnabazos, der Satrap von
Phrygien am Hellespont, und Tissaphernes mit Sparta in
Unterhandlungen, und sobald Milet in der Hand der Pelo-
ponnesier war, schloß Tissaphernes im Namen des Königs
mit ihnen ein Bündnis ab. Die Peloponnesier erkannten das
Recht des Königs auf alles Gebiet an, das ihm selbst gehörte,
oder seinen Vorfahren gehört hatte. Der König seinerseits
verpflichtete sich dagegen, der in den asiatischen Gewässern
operierenden peloponnesischen Flotte den Sold zu zahlen,
so lange der Krieg mit Athen dauerte ^. Die Peloponnesier
sahen sich so mit einem Schlage aller finanziellen Sorgen
enthoben; allerdings um den Preis der Auslieferung der asiati-
schen Griechen an die Barbaren. Doch das ließ man sich im
Peloponnes wenig anfechten; man schloß vielmehr den Vertrag
mit dem Hintergedanken, den Persern ihre Beute wieder zu
entreißen, sobald man erst mit Athen fertig wäre ^. Indes
auch Sparta sollte die Erfahrung machen, daß es nicht immer
leicht ist, die Geister zu bannen, die man beschworen hat. Das
Beispiel, das Sparta gegeben, fand bei Spartas Feinden nur
zu bereitwillige Nachahmung; und so wurde der Vertrag von
Milet zum ersten Gliede in jener verhängnisvollen Kette von
Ereignissen, die den Großkönig innerhalb weniger Jahrzehnte
^ Thukydides berichtet den Abfall der Stadt nicht; gleich nach dem
Abschluß des Bündnisses der Peloponnesier mit Persien erscheint sie auf pelo-
ponnesischer Seite (VIII 19). Als Alkibiades in Olympia siegte (416), war
Ephesos noch mit Athen verbündet: Satyros fr. 1 bei Athen XII 534 b (daraus
Plut. Alk. 12).
^ Ktes. Pers. 52, Andok. vFr. 29, vgl. Thuk. VIII 5, 5.
3 Über die Verhandlungen Thuk. VIII 5. 6. 8; die Vertragsurkunden
VIII 18. 37.
* Thuk. VIII 84.
Bündnis der Perser mit den Peloponnesiern. — Krieg in lonien. 379
zum obersten Schiedsrichter aller hellenischen Angelegenheiten
erheben sollte.
In Athen hatte man indessen eifrig gerüstet; galt es
doch den Kampf um die Existenz. Auf die Nachricht von
dem Abfall von Chios faßte man den Beschluß, die 1000 Talente
anzugreifen, die man als letzte Reserve für den äußersten
Notfall zurückgelegt hatte. Ein Geschwader von 8 Trieren
unter Strombichides, das sogleich nach Samos hinüberging,
war freilich viel zu schwach, der überlegenen Seemacht von
Chios gegenüber die Fortschritte des Abfalls zu hemmen ^.
Bald aber kamen Verstärkungen über Verstärkungen: erst
12 Schiffe unter Thrasykles, dann 16 unter Diomedon, endlich
10 unter Leon; und jetzt wurden Lesbos und Klazomenae
zurückerobert, Milet blockiert, auf Chios Truppen ans Land
gesetzt und die Bürger in mehreren Treffen geschlagen, die
reiche Insel weithin verheert ^. Darüber gelang es dann aller-
dings den im Peiraeos eingeschlossenen peloponnesischen
Schiffen, die athenische Blockade zu durchbrechen und sich
nach Kenchreae, dem Hafen Korinths am Saronischen Busen
in Sicherheit zu bringen. Hier kam der lakedaemonische
Admiral Astyochos auf die Flotte und fuhr sogleich mit 4
Schiffen nach Chios hinüber ^.
Gegen Ende des Sommers ging noch eine athenische
Flotte nach lonien, 48 Trieren unter Phrynichos, Onomakles
und Skironides, mit 3500 Hopliten an Bord, darunter 1000
Athener und 1500 Argeier. Man landete bei Milet; die Bürger
und ihre peloponnesischen und persischen Bundesgenossen
wurden vor der Stadt in offener Feldschlacht geschlagen, und
eben schickten die Athener sich an, die Belagerung zu be-
ginnen, als das Herannahen einer starken feindlichen Flotte
gemeldet wurde. Es waren 55 Trieren, darunter 22, die Syrakus
und Selinus ihren peloponnesischen Verbündeten zu Hilfe
gesandt hatten. Diesen Kräften gegenüber wagten die Athener
vor Milet keine Seeschlacht, da im Falle einer Niederlage-
1 Thuk. VIII 15. 16, Philochoros fr. 116.
» Thuk. VIII 17. 19. 23. 24.
" Thuk. VIII 20. 23.
380 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
ihr Landheer verloren gewesen wäre; sie nahmen also die
Truppen wieder an Bord und gingen nach Samos zurück.
Die Argeier, die in der Schlacht bei Milet sehr schweren Verlust
erlitten hatten, fuhren jetzt weiter nach Hause; und es scheint,
daß Argos bald darauf mit Sparta Frieden geschlossen hat,
wenigstens hören wir von seiner Beteiligung am Kriege nichts
weiter^. Nun vereinigten sich die Peloponnesier mit den 25
chiischen Schiffen, die bisher von den Athenern im Hafen
von Milet blockiert gehalten waren. Durch unvermuteten
Angriff wurde lasos, die Burg des Amorges, erstürmt, dieser
selbst gefangen und an Tissaphernes ausgeliefert, dem auch
die Stadt übergeben wurde. Die peloponnesischen Söldner
des Amorges traten bei ihren Landsleuten in Dienst und
wurden unter dem Befehl des Spartaners Pedaritos nach Chios
gesandt ^. Der lakedaemonische Admiral Astyochos ging nun
nach Milet und übernahm das Kommando der großen pelo-
ponnesischen Flotte ^.
Die Athener hatten inzwischen ihr vor Chios liegendes
Geschwader nach Samos gezogen, um den 80 peloponnesischen
Schiffen vor Milet gewachsen zu sein. Im Herbst erhielten
sie eine neue Verstärkung von 35 Trieren und konnten nun
den Angriff gegen Chios wieder aufnehmen. Während die
Hauptmacht, 74 Schiffe bei Samos blieb, gingen 30 Schiffe
und ein Teil der Hopliten, die bei Milet gefochten hatten,
nach Chios, wo sie bei dem Tempel des Apollon Delphinios
im Norden der Stadt eine feste Stellung einnahmen ■*. Chios
wurde jetzt zu Wasser und zu Land eingeschlossen; bald
begann Mangel in der Stadt sich fühlbar zu machen, die Sklaven
liefen in Masse zu den Belagerern über, unter den Bürgern
erhob die attische Partei wieder ihr Haupt, und nur durch
1 Thuk. VIII 25—27.
2 Thuk. VIII 28.
3 Thuk. VIII 33. 36.
* Thuk. VIII 30. Die Summe der Einzelposten VIII 15. 19. 23. 25. 30,
beträgt 129 Schiffe, doch waren darunter ÖTrXiTaYWToi (VIII 25, 1), die hier
nicht eingerechnet sind. Da es sich um den Transport von 3500 Mann handelte
und jede ÖTrXixaYUJTÖi; etwa 140 Mann faßte (unten 2. Abt. § 122), ergeben sich
genau die 25 fehlenden Schiffe.
Belagerung von Chios. — Abfall von Knidos und Rhodos. 381
blutige Strenge konnte Pedaritos die Ordnung aufrecht er-
halten. Endlich, da von der großen peloponnesischen Flotte
kein Entsatz kommen wollte, suchte er sich durch einen Ausfall
Luft zu machen, erlitt aber eine völlige Niederlage und blieb
selbst auf dem Platze ^.
Inzwischen war auch Knidos zu Tissaphernes und den
Peloponnesiern abgefallen, und ein Versuch der Athener,
die offene Stadt mit Sturm wiederzunehmen, war vergeblich
geblieben ^. Um Mittwinter ging dann eine weitere Verstärkung
von 27 Schiffen aus dem Peloponnes nach Asien ab, wagte
aber aus Furcht vor der überlegenen athenischen Flotte nicht,
ihren Kurs direkt auf Milet zu nehmen, und gelangte so endlich
nach Kaunos an der Südküste Kariens. Um die Vereinigung
dieses Geschwaders mit der peloponnesischen Hauptmacht zu
hindern, sandten die Athener aus Samos 20 Trieren unter
Charminos in die Gewässer bei Rhodos, wurden aber bei
der kleinen Insel Syme unvermutet von der großen pelo-
ponnesischen Flotte unter Astyochos angegriffen und mit
Verlust von 6 Schiffen geschlagen. Der lakedaemonische
Admiral zog nun das Geschwader in Kaunos an sich und wandte
sich dann, 94 Trieren stark, gegen Rhodos, das sogleich zu
ihm übertrat; die Mannschaft der Flotte nahm für den Rest
des Winters Quartier auf der reichen Insel ^.
So blieb den Athenern jetzt, am Anfang des Jahres 411,
in lonien und Karlen wenig mehr als die Inseln Lesbos, Samos
und Kos und die Küstenplätze Halikarnassos, Notion und
Klazomenae. Allerdings stand ihre Herrschaft am Helles-
pont, in Thrakien und auf den Kykladen noch unerschüttert;
aber niemand konnte zweifeln, daß auch hier der Abfall be-
ginnen würde, sobald eine peloponnesische Flotte sich zeigte.
Und überhaupt war nicht abzusehen, wie Athen gegenüber
der Koalition zwischen den Peloponnesiern, Syrakus und
1 Thuk. VIII 31—34. 38—40. 55.
- Thuk. VIII 35.
=* Thuk. VIII 39. 41 — 44. Anspielung auf die Niederlage bei Syme Aristoph.
Thesmophor. 804 (aufgeführt einige Monate später, an den Dionysien 411, vgl.
Wilamowitz, Aristoteles II 343 ff.).
382 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Persien sich auf die Länge behaupten SDÜte; wenn nichts
anderes, mußte die finanzielle Erschöpfung den Ruin des
Staates herbeiführen. Denn der Schatz ging zur Neige, während
die Einkünfte durch die feindliche Besetzung von Dekeleia
und den Abfall von lonien sich sehr beträchtlich vermindert
hatten; und demgegenüber erforderte der Seekrieg immer
wachsende Mittel ^.
Unter diesen Umständen gewann in Athen die oligarchische
Bewegung an Boden; die Zeit schien gekommen, zu vollenden,
was man nach der sicilischen Katastrophe begonnen hatte.
Ein großer Teil der geistigen und gesellschaftlichen Elite
Athens vereinigte sich zu dem Werke des Umsturzes. An die
Spitze trat Antiphon von Rhamnus, einer der ersten Redner
und der erste Rechtsanwalt seiner Zeit, ein Mann, der aus
seiner oligarchischen Gesinnung nie ein Hehl gemacht und
eben darum bisher vom öffentlichen Leben sich möglichst
zurückgehalten hatte. Neben ihm stand eine ganze Reihe
philosophisch und rhetorisch gebildeter Männer, so Archepto-
lemos von Agryle, ein Sohn des berühmten Architekten und
Staatslehrers Hippodamos von Milet, dem zum Lohn seiner
Verdienste das athenische Bürgerrecht verliehen worden
war, der Sophist Andron, der Tragödiendichter Melanthios,
vor allen Theramenes von Steiria, dessen Vater Hagnon einst
mit Perikles eng befreundet gewesen war, und jetzt, im hohen
Alter, als einer der Probulen an der Spitze der Regierung stand.
Dazu kam dann eine große Anzahl anderer Männer aus den
ersten Familien der Stadt, wie Melesias von Alopeke, der
Sohn jenes Thukydides, der vor einem Menschenalter mit
Perikles um die erste Stelle im Staate gerungen hatte, gewesene
Strategen wie Aristarchos, Aristokrates, Laespodias, praktische
Politiker wie Peisandros, ein alter Demokrat und Anhänger
Kleons, der jetzt seine Schwenkung zum Oligarchen vollzog ^.
Außerdem konnte man auf die Unterstützung der Regierung
^ Vgl. Thuk. VII 28, 4; 76, 6.
* Thuk. VIII 68. Die weiteren Belege bei Wattenbach, De Quadring.
Athenis /actione (Dissert. Berlin 1842) S. 42—46, und Gilbert, Beiträge S. 307
bis 313.
Oligarchische Bewegung in Athen. — Alkibiades in der Verbannung- 383
zählen, da die Probulen in Athen ebenso wie die Mehrzahl
der Offiziere der Flotte auf Samos der Verfassungsänderung
günstig gesinnt waren ^.
Auch Alkibiades war bereit, die Bewegung zu fördern.
Seit seiner Verbannung hatte er nur den einen Gedanken
gehabt, sich die Rückkehr in die Heimat zu öffnen: und er
wußte sehr wohl, daß das nur möglich war, wenn Athen durch
schwere Niederlagen gedemütigt würde. So hatte er denn
kein Bedenken getragen, mit Aufgebot seines ganzen Ein-
flusses in Sparta zum Kriege gegen seine Vaterstadt zu drängen,
und als der Krieg endlich ausgebrochen war, den ionischen
Aufstand nach Kräften zu fördern ^. In Milet war er dann in
intime Beziehungen zu Tissaphernes getreten und hatte sich
dadurch den Lakedaemoniern verdächtig gemacht, deren
gutes Einvernehmen mit dem Satrapen eben damals merk-
lich zu erkalten begann. Denn Tissaphernes erkannte sehr
wohl, daß es den Peloponnesiern nur um die persischen Sub-
sidiengelder zu tun war, daß sie aber sehr wenig geneigt waren,
die Griechen Asiens dem Könige auszuliefern. Unter diesen
Umständen wurde Alkibiades in Milet der Boden zu heiß;
er ging also an den Hof des Satrapen und tat hier sein Möglichstes,
den Bruch zwischen den Verbündeten zu erweitern. Und
wirklich begann Tissaphernes jetzt, der peloponnesischen
Flotte den Sold nur noch unregelmäßig und in vermindertem
Betrage zu zahlen ^.
Nun knüpfte Alkibiades Unterhandlungen mit den
athenischen Offizieren auf Samos an. Er versprach ein Bündnis
zwischen Athen und dem Könige zu vermitteln, stellte aber
die Bedingung, daß die ,, Lumpendemokratie" gestürzt würde,
die ihn vor vier Jahren in die Verbannung getrieben hatte.
^ über die Haltung der Probulen Lysias 12 (g. Eratosth.) 65, Aristo t.
Rhet. III 1419 a, über die Offiziere auf Samos namentlich Thuk. VIII 76, 2,
vgl. 47, 2 und öfter.
2 Thuk. VI 88—92, VII 18, 1. Thukydides sieht diese Ereignisse durch
die Brille des athenischen Verbannten, und ist darum geneigt, den Anteil, den
Alkibiades daran hatte, zu überschätzen.
3 Thuk. VIII 45. 46.
384 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie,
Mit diesem Bescheid ging Peisandros, der als Trierarch auf
der Flotte diente, von Samos nach Athen. Dort brach natürlich
zuerst ein Sturm des Unwillens über diese Forderung aus,
endlich aber siegte die Einsicht, daß für Athen keine Rettung
zu hoffen sei, so lange die Peloponnesier und der Perserkönig
vereinigt ihm gegenüberständen. Das Volk beschloß also,
eine Gesandtschaft an Tissaphernes zu schicken, um auf der
von Alkibiades bezeichneten Grundlage zu verhandeln ^.
Es zeigte sich nun freilich, daß Alkibiades mehr ver-
sprochen hatte, als er zu halten imstande war; denn Tissa-
phernes war keineswegs geneigt, es zum offenen Bruche mit
den Peloponnesiern zu treiben, welche die ganze Küste seiner
Satrapie beherrschten, und deren Flotte gegenüber er voll-
ständig machtlos war. Er stellte also den athenischen Ge-
sandten unannehmbare Bedingungen und schloß dann so-
gleich einen neuen Vertrag mit den Peloponnesiern, wie diese
ihn wünschten. Danach wurde ,,das Land des Königs, soweit
es in Asien liegt" als persischer Besitz anerkannt, die Frage
aber, ob die griechischen Städte an der Küste dazu gehören
sollten, mit Stillschweigen übergangen; dagegen verpflichtete
sich Tissaphernes, der peloponnesischen Flotte, die jetzt in
den asiatischen Gewässern lag, den Sold w^eiterzuzahlen,
bis der König selbst eine Flotte in das Aegaeische Meer schicken
würde; der Frieden mit Athen sollte nur unter Zustimmung
beider Kontrahenten geschlossen werden ^.
So war Athen von einer Verständigung mit Persien
entfernter als je; aber die Sachen waren jetzt so weit ge-
diehen, daß die Oligarchen auch ohne das hoffen konnten,
ihre Pläne durchzusetzen. In Athen selbst ging denn auch
alles ganz glatt. Noch während der Verhandlungen waren
Androkles und andere Führer der radikalen Demokratie
durch Meuchelmord aus dem Wege geräumt worden; das
Volk war vollständig terrorisiert, und als die Gesandten von
Tissaphernes zurückkamen, fanden sie alles für die Ver-
' Thuk. VIII 53. 54.
' Thuk. VIII 56—57, die Urkunde 58.
Oligarchie der Vierhundert. Ö85
fassungsänderung vorbereitet. Es hätte kaum des militärischen
Rückhaltes bedurft, den die Umsturzpartei durch Heran-
ziehung von Hopliten von den Kykladen und aus Aegina
sich sicherte. Dank der Mitwirkung der Regierung verlief
alles in gesetzlichen Formen; ein Volksbeschluß hob die be-
stehende Demokratie auf und beschränkte die politischen
Rechte auf die 5000 wohlhabendsten Bürger. Der erloste Rat
der 500, der schon durch die Einsetzung der Probulen vor
zwei Jahren eines wesentlichen Teiles seiner Kompetenz
entkleidet worden war, wurde jetzt gänzlich beseitigt; man
zahlte den Mitgliedern ihren Sold bis zum Ende des Jahres
aus und schickte sie dann einfach nach Hause (14. Thargelion,
Ende Mai 411). An die Stelle des aufgelösten Rates trat ein
neuer Rat von 400 Mitgliedern, die zunächst von den Führern
der Bewegung gewählt wurden, später aber durch Wahl aus
den 5000 bestellt werden sollten. Dieser Rat erhielt unbe-
schränkte Machtvollkommenheit, erwählte aus seiner Mitte
die Strategen und die übrigen Behörden, und es blieb seinem
Ermessen anheimgegeben, ob und wann er die Versammlung
der 5000 berufen wollte. Außerdem wurde der Grundsatz
aufgestellt, daß fortan niemand mehr für die Verwaltung von
Staatsämtern Besoldung empfangen sollte; bei der bedrängten
Finanzlage eine sehr heilsame Maßregel ^.
Gleichzeitig war man auch auf Samos zur Aktion ge-
schritten. Hier war im vorigen Sommer eine Erhebung des
Demos gegen die Grundbesitzer erfolgt, bei der 200 der letzteren
erschlagen, 400 verbannt worden waren; die übrigen Grund-
besitzer, die man geschont hatte, waren aller politischen
Rechte beraubt worden. Infolgedessen hatte Athen den
Samiern die Autonomie zurückgegeben, die sie nach dem
Aufstande des Jahres 440 verloren hatten ^. Jetzt hielten
die Besitzenden auf Samos den Augenblick für gekommen,
ihre herrschende Stellung auf der Insel zurückzugewinnen;
1 Thuk. VIII 65—70, Aristoteles ATT. 29. 32 (Kap. 30—31) beziehen
sich auf die nach dem Sturz der Vierhundert durch Theramenes eingeführte
Verfassung, s. unten 2. Abt. § 131 ff.
2 Thuk. VIII 21, athenischer Volksbeschluß für die Samier CIA. 1 56.
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 25
386 Xri. Abschnitt, — Der Fall der Demokratie.
sie verbanden sich also mit den oligarchisch gesinnten Offizieren
der athenischen Flotte. Wie in Athen, begannen die Ver-
schwörer auch hier damit, ihren entschiedensten Gegner
durch Mord auf die Seite zu schaffen, jenen Demagogen Hyper-
bolos, der vor 6 Jahren durch den Ostrakismos aus Athen
verbannt, auf Samos die Zeit seiner Rückkehr erwartete
(oben S. 351). Die große Mehrzahl der athenischen Flotten-
mannschaften aber war gut demokratisch gesinnt und ver-
weigerte ihren Offizieren den Gehorsam. So wurde die oli-
garchische Erhebung mit Leichtigkeit niedergeschlagen; die
Strategen und ein Teil der Subalternoffiziere der Flotte wurden
abgesetzt und neue Strategen gewählt, darunter die bisherigen
Trierarchen Thrasybulos und Thrasyllos, die sich an die Spitze
der demokratischen Bewegung gestellt hatten. Das ganze
Heer und alle Bürger von Samos verpflichteten sich durch
feierlichen Eidschwur, an der Demokratie festzuhalten ^.
Es fragte sich, was weiter geschehen sollte. Denn zwischen
der peloponnesischen Flotte und der Oligarchie in Athen
befanden die Demokraten auf Samos sich in einer nahezu
verzweifelten Lage. Nur einen Mann gab es, der vielleicht
Rettung bringen konnte: Alkibiades. Man rief ihn also nach
Samos und wählte ihn zum Strategen, was bei Alkibiades'
überlegener Persönlichkeit auf dasselbe hinauslief, als ob
man ihn zum Oberbefehlshaber der Flotte bestellt hätte.
Freilich, ein Bündnis mit Tissaphernes, auf das man gehofft
hatte, kam auch jetzt nicht zustande; aber der Satrap wurde
doch wieder lauer in der Unterstützung der Peloponnesier,
und vor allem, er sandte eine phoenikische Flotte von 147
Trieren zurück, die bereits bis nach Aspendos in Pamphylien
gelangt war, und deren Erscheinen im Aegaeischen Meere,
1 Thuk. VIII 72—76. Nach Thukydides (73, 2) wäre die oligarchische
Reaktion auf Samos von denselben Leuten ausgegangen, die ein halbes Jahr
früher die demokratische Bewegung gemacht hatten. Das ist höchst unwahr-
scheinlich; das treibende Element sind doch offenbar die entrechteten Geomoren
gewesen (vgl. Thuk. VIII 63, 3). Immerhin mag ja auch auf Samos mancher
Demokrat die Farbe gewechselt haben. •
Sieg der Demokraten auf Samos. — Alkibiades Oberfeldherr. 387
menschlicher Voraussicht nach, das sichere Verderben Athens
herbeigeführt haben würde ^.
Die Regierung in Athen suchte jetzt eine Verständigung
mit der Flotte; und Alkibiades wies die gebotene Hand nicht
zurück. Sein Ansehen bewirkte es, daß die Mannschaft von
dem Verlangen abstand, gegen denPeiraeeus geführt zu werden,
was den Verlust aller athenischen Besitzungen in lonien und
am Hellespont zur Folge gehabt haben würde. Ja, er erklärte
sich sogar bereit, die Oligarchie der Fünftausend anzuerkennen,
nur müsse der erloste Rat der Fünfhundert wieder hergestellt,
und die Herrschaft der Vierhundert beseitigt werden ^.
Diese Sprache verfehlte in Athen ihre Wirkung nicht.
Die gemäßigten Mitglieder des Regierungskollegiums waren
bereit, Alkibiades entgegenzukommen; Antiphon freilich und
seine ultra-oligarchischen Freunde waren so weit gegangen,
daß es für sie keinen Rückzug mehr gab. Aber sie sahen, wie
der Boden unter ihren Füßen wankte, und so griffen sie nach
der einzigen Rettung, die ihnen noch blieb, der Verständigung
mit Sparta um jeden Preis. Schon unmittelbar nach der
Einsetzung der Oligarchie waren Friedensunterhandlungen
eröffnet worden, aber an den unannehmbaren Forderungen
gescheitert, die Sparta bei der Gunst der politischen Lage
stellen zu dürfen geglaubt hatte; jetzt war Antiphon bereit,
auf alles einzugehen und sogar die Selbständigkeit des Staates
zu opfern, wenn nur die Oligarchie bestehen blieb. Freilich
die Zustimmung der Bürgerschaft oder auch nur der Majorität
des Ratskollegiums zu solchen Bedingungen zu erlangen,
war keine Aussicht; es mußte also Vorsorge getroffen werden,
den Plan nötigenfalls auch gegen den Willen des Volkes ins
Werk zu setzen. Zu diesem Zwecke schritt die Regierung
zur Befestigung der Landzunge Eetioneia, von der die Ein-
fahrt in den Peiraeeus beherrscht wird, und deren Besitz
ihr die Möglichkeit gegeben hätte, jederzeit eine peloponne-
1 Thuk. VIII 81—85. 87.
2 Thuk. VIII 82. 86 (Dublette, vgl. Holzapfel, Hermes XXVIII, 1893,
S. 462).
3 Thuk. VIII 70. 71. 86,9.
25*
388 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
sische Flotte in den Hafen einzulassen und dadurch Athen
widerstandslos in die Hand des Feindes zu spielen ^.
Aber die Oligarchie beschleunigte damit nur ihren eigenen
Sturz. Die Befestigung von Eetioneia erregte allgemein
Argwohn, und eines der einflußreichsten Mitglieder der Re-
gierung, der Stratege Theramenes, trat an die Spitze der
Opposition. Phrynichos, einer der fähigsten Führer der
Oligarchie, der als Stratege auf Samos befehligt hatte (oben
S. 379), wurde auf offenem Markte erschlagen, und der An-
stifter des Mordes blieb unentdeckt. Als nun eine peloponne-
sische Flotte bei Aegina erschien, brach unter den Hopliten
im Peiraeeus eine offene Meuterei aus. Die Befestigung von
Eetioneia wurde niedergerissen, dann zogen die Hopliten
hinauf nach der Stadt. Doch trugen beide Teile Bedenken,
die Sache zum äußersten zu treiben; es wurde also ein Kom-
promiß geschlossen, in dem die Regierung sich verpflichtete,
endlich das Verzeichnis der 5000 Bürger zusammenzustellen,
die fortan zur Ausübung der politischen Rechte befugt sein
sollten. Die Versammlung dieser 5000 würde dann aus ihrer
Mitte ein neues Ratskollegium wählen und damit der Staat
wieder zu verfassungsmäßigen Zuständen zurückkehren ^.
Die militärische Aktionsfähigkeit Athens war durch
alle diese Ereignisse natürlich schwer beeinträchtigt worden,
und die Gegner säumten nicht, ihren Vorteil davon zu ziehen.
Noch im Winter, während der oligarchische Staatsstreich vor-
bereitet wurde, fiel Oropos, die athenische Untertanenstadt
an der Nordgrenze Attikas, durch Verrat in die Hand der
Boeoter ^. Mit Anbruch des Frühjahres (411) zog der Spar-
taner Derkylidas mit einem kleinen Truppenkorps zu Lande
von Milet nach dem Hellespont, wo sich Abydos und Lam-
1 Thuk. VIII 89. 90. Die Erzählung des Aristoteles (An. 32) ist auch
hier ganz ungenügend; wir lernen daraus nur, daß die 400 zuerst auf der Grund-
lage des gegenwärtigen Besitzstandes mit Sparta zu unterhandeln suchten, was
Thukydides mit Recht, als unwesentlich, nur beiläufig andeutet (VIII 91, 3).
^ Thuk. VIII 91 — 93. Über Phrynichos' Ermordung vgl. Lysias gAgoratos
70 iT. und CIA. I 59. Charakteristik: Thuk. VIII 27. 48.
3 Thuk. VIII 60, vgl. [Lys.J 20, 6.
Aufstand in Athen. — Oropos. — Abfall des Hellespont. = — Thasos. 389
psakos sogleich an ihn anschlössen. Die letztere Stadt wurde
freilich bald von den Athenern zurückerobert, die auf die
Nachricht von diesen Vorfällen mit 24 Schiffen von Chios
herankamen. Darüber aber mußte die Blockade von Chios
aufgehoben werden; nur das Delphinion blieb nach wie vor
von den Athenern besetzt ^. Als dann im Sommer ein pelo-
ponnesisches Geschwader von 10 Trieren im Hellespont sich
zeigte, fiel auch das wichtige Byzantion von Athen ab; die
Nachbarstädte Kalchedon, Selymbria, Perinthos, Kyzikos
folgten gleich darauf diesem Beispiel ^.
So war auch die hellespontische Provinz im wesent-
lichen für die Athener verloren; es blieb ihnen hier jetzt kaum
mehr als der thrakische Chersones, der von athenischen
Kleruchen besetzt war (oben S. 198), und Lampsakos am
asiatischen Ufer. Und auch in der thrakischen Provinz begann
der Abfall um sich zu greifen. Die wichtigste Bundesstadt
in diesem Teile des Reiches war Thasos, das vor der Tribut-
erhöhung von 424 an Athen jährlich 30 Talente gezahlt hatte
und jetzt wahrscheinlich mehr als das Doppelte dieser Summe
steuerte. Hier hatten die athenischen Oligarchen im Frühjahr
die demokratische Verfassung gestürzt und ihre eigenen
Parteigenossen ans Ruder gebracht; die neue Regierung schritt
sogleich dazu, die Befestigungen der Stadt wieder aufzurichten,
die einst Kimon vor einem halben Jahrhundert niedergerissen
hatte, und trat in Unterhandlungen mit den Peloponnesiern,
Im Herbst sagte Thasos sich von Athen los. Ebenso das
kaum weniger mächtige Abdera an der gegenüberliegenden
Küste des Festlandes '"*.
^ Thuk. VIII 61 — 63. Thukydides berichtet seitdem nichts mehr von
Kämpfen bei Chios. Das Delphinion ist erst 406 von den Peloponnesiem ge-
nommen worden, s. unten S. 418.
2 Thuk. VIII 80. Über Kyzikos Thuk. VIII 107, 1; Diod. XIII 40, 6;
der Abfall von Kalchedon, Selymbria, Perinthos wird in unseren Quellen nicht
erwähnt, wir finden diese Städte aber zu Anfang des folgenden Jahres auf der
peloponnesischen Seite, s. unten S. 395.
3 Thuk. VIII 64. Über den Abfall von Thasos Kratippos, II 4; da
Thukydides ihn nicht mehr erzählt, wird er erst im Herbst erfolgt sein. Xen.
390 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Im Spätsommer, etwa Anfang September, erschien
dann eine peloponnesische Flotte von 42 Schiffen unter dem
Spartaner Agesandridas in den Gewässern von Euboea, dieselbe
Flotte, die soeben Aegina und den Peiraeeus bedroht hatte
(oben S. 388). In aller Eile bemannte man jetzt in Athen,
was von Schiffen zur Hand war, und sandte dies Geschwader
zum Schutze der Insel dem Feinde entgegen; es waren mit
den schon bei Euboea liegenden Schiffen im ganzen 36 Trieren.
Vor Eretria kam es zur Schlacht, in der Agesandridas über
die schlecht ausgerüsteten und mit ungeübter Mannschaft
besetzten Schiffe des Gegners mit leichter Mühe den Sieg
gewann; 22 Trieren fielen in seine Hände. Jetzt erhob sich
Eretria gegen die athenische Herrschaft und bald auch die
übrigen Städte der Insel mit Ausnahme natürlich der atheni-
schen Kleruchengemeinde Oreos ^. Die bei weitem wertvollste
seiner auswärtigen Besitzungen war für Athen verloren.
Die Nachricht von diesen Vorgängen brachte in Athen
eine Panik hervor, schlimmer als vor 2 Jahren die Kunde
von der Katastrophe in Sicilien. Jeden Augenblick erwartete
man die feindliche Flotte vor dem Peiraeeus zu sehen, was
bei der inneren Zwietracht, die in der Stadt herrschte, von
unabsehbaren Folgen hätte sein können. Mindestens lag es
in der Hand der Sieger, Athen die Verbindungen zur See
abzuschneiden und damit die bei Samos liegende Flotte zu
zwingen, zum Entsätze der Stadt nach Griechenland herüber-
zukommen. Indes die Peloponnesier fanden zu einem so
energischen Entschluß nicht die Kraft, und so war das
Schlimmste für diesmal noch abgewendet ^.
Die Oligarchie in Athen brach jetzt, unter dem Ein-
Hell. 1 1, 32 hat mit Thasos nichts zu tun, s. unten Abt. § 105. Über Abdera
Diod. XIII 72, 2.
1 Thuk. VIII 95, vgl. [Lys.] 20, 14, Dittenb. Syll. « 47. 48. Die Zeit dieser
Ereignisse ergibt sich aus Aristot. ATT. 33, 1, wonach der Sturz der Vierhundert
Ende Metageitnion oder Anfang Boedromion 411/0 erfolgt ist. — Die Inseln
im Norden Euboeas blieben Athen treu, mindestens Skiathos (CIA. IV 1, 62 b
S. 166 f.). Dagegen ist Andres bald dem Beispiel Euboeas gefolgt, jedenfalls
vor 407, wo wir es auf peloponnesischer Seite finden (Xen. Hell. I 6, 21).
^ Thuk. VIII 96.
Abfall Euboeas. — Sturz der Vierhundert. — Die neue Verfassung. 391
druck der Niederlage, widerstandslos zusammen, und Thera-
menes ergriff die Leitung des Staates. Der Rat der Vier-
hundert wurde aufgelöst, die Entscheidung über alle Staats-
angelegenheiten in die Hand der Versammlung der „Fünf-
tausend" gelegt; dazu sollten alle die gehören, die imstande
wären, auf eigene Kosten als Hopliten zu dienen, also die
Bürger der drei oberen solonischen Schatzungsklassen. Aus
der Mitte dieser sog. Fünftausend — in Wahrheit waren es
9000 — wurde eine neue Ratsversammlung gewählt, ebenfalls
von 400 Mitgliedern, nach boeotischem Vorbilde (oben S. 181)
in vier Sektionen geteilt, von denen immer eine den Vorsitz
hatte. Die Strategen und die übrigen Wahlbeamten, zu denen
fortan auch die Archonten und die Schatzmeister der Göttin
und der ,, anderen Götter" gehören sollten, wurden aus dem
Rate genommen, die Losbeamten aus den übrigen voll-
berechtigten Bürgern. Zur Reform des geltenden Rechts wurde
eine Kommission von Nomotheten eingesetzt. An dem Grund-
satze, daß niemand für die Verwaltung von Staatsämtern
Bezahlung erhalten sollte, wurde festgehalten. Um die Ver-
ständigung mit der Flotte anzubahnen, wurde das Verbannungs-
dekret gegen Alkibiades aufgehoben, doch waren die Mann-
schaften nicht zur Anerkennung der neuen Verfassung zu
bringen und blieben unter ihren selbstgewählten Strategen.
Immerhin wurde wenigstens erreicht, daß die Flotte ihre
feindselige Haltung gegen die Regierung in Athen aufgab
und mit dieser zusammenwirkte ^.
Von den Führern der gestürzten Oligarchie hatten die
meisten sich rechtzeitig nach Dekeleia in Sicherheit gebracht;
sie wurden jetzt, im Kontumazverfahren, zum Tode verurteilt
und ihre Güter eingezogen. Nur Antiphon und Archeptolemos
wurden gefangen und hingerichtet trotz der meisterhaften
^ Thuk. VIII 97. Diod. XIII 38, 2; 42, 2. Die Angaben bei Aristot. ATT.
30. 31 beziehen sich auf die Verfassung des Theramenes, nicht, wie Aristoteles
glaubte, auf die Oligarchie der Vierhundert, s. unten 2. Abt. § 132. Zahl der
vollberechtigten Bürger: [Lys.] 20 (fPolysir.) 13, vgl. meine Bevölkerung S. 107.
Die Rückberufung des Alkibiades erfolgte nach Kritias' Antrag (fr. 4 bei Plut.
Alk. 33) auf Veranlassung des Theramenes (Nep. Ale. 5, 4, Diod. a. a. 0.).
392 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Rede, mit der Antiphon vor Gericht sich verteidigte. Sonst
war die Verfassungsänderung ohne jedes Blutvergießen vor
sich gegangen. Das Hauptverdienst an dem allem gebührte
Theramenes; ohne sein kräftiges Auftreten gegen die hoch-
verräterischen Pläne seiner Genossen wäre Athen schon damals
in die Hand der Spartaner gefallen, und auch die neue Ver-
fassung war im wesentlichen sein Werk. Er war es denn auch,
dem jetzt die Leitung des Staates zufiel. Seine bisherigen
Freunde, die oligarchischen Ultras, konnten es ihm natür-
lich niemals verzeihen, daß er sich in der entscheidenden
Stunde von ihnen getrennt und dem Interesse Athens das
Interesse der Partei geopfert hatte. Sie nannten ihn seitdem
den ,,Kothornos"; wie dieser an beide Füße paßt, so habe es
Theramenes verstanden, beiden Parteien, Oligarchen und
Demokraten, zu dienen. Und doch war diese Beschuldigung
sehr ungerecht; denn was Theramenes nach dem Sturz der
Vierhundert geschaffen hatte, war keineswegs eine Demokratie,
sondern die Herrschaft des Mittelstandes. Darum haben die
entschiedenen Demokraten Theramenes mit nicht geringerem
Hasse verfolgt, als die entschiedenen Oligarchen. Leider sollte
er nur zu bald die Erfahrung machen, daß der athenische
Mittelstand nicht Kraft genug hatte, die Macht zu- behaupten,
die in seine Hände gelegt war; und als Theramenes später,
ungeschreckt durch seinen Mißerfolg, es noch einmal ver-
suchte, seine Ideale zu verwirklichen, hat er dafür mit dem
Leben zu büßen gehabt. Erst die Nachwelt hat ihm Gerechtig-
keit widerfahren lassen; Aristoteles nennt ihn einen der besten
Bürger, die Athen seit den Perserkriegen hervorgebracht habe,
und ähnlich war das Urteil des ganzen späteren Altertums.
Wir aber, die wir heute in demselben Kampfe stehen, gegen
ein begehrliches Proletariat und ein ebenso begehrliches
Junkertum, werden dem antiken Vorkämpfer unserer Sache
unsere Sympathie nicht versagen ^.
^ Thuk. VIII97. 98, Lysias? (frepi tou öriKoO)4. Über Antiphons Prozeß
[Plutarch] Leben des Antiphon, Krateros bei Harpokr. "Avbpuuv, Thuk. VIII
68, 2, und die Fragmente von Antiphons Verteidigungsrede. Das von J. Nicole
aus einem Genfer Papyrus unter dem Titel Apologie d' Antiphon (Genf und
Theramenes. — Kämpfe im Hellespont. 398
Indessen war die große peloponnesische Bundesflotte
den ganzen Sommer über untätig geblieben. Im Frühjahr
war Astyochos allerdings von Rhodos nach Milet gefahren,
hatte dort die Schiffe aus Chios an sich gezogen und damit
seine Flotte auf 112 Trieren gebracht, sich aber dann darauf
beschränkt, die Athener in Samos zu beobachten, ohne die
Schlacht anzunehmen, die diese ihm anboten i. Die Schuld
daran trugen zum Teil die Differenzen mit Tissaphernes, zum
Teil die Unfähigkeit des lakedaemonischen Admirals. Endlich
wurde Astyochos durch Mindaros im Kommando ersetzt-, und
dieser entschloß sich nun, den Kriegsschauplatz nach dem
Hellespont zu verlegen, wo er an dem Satrapen Pharnabazos
eine bessere Stütze zu finden hoffte (Ende August). Die
Peloponnesier gelangten auch glücklich, an der athenischen
Flotte vorbei, nach Chios und von dort nach Abydos. Die
Athener folgten, war es doch eine Lebensfrage für sie, die
Wasserstraße nach dem Pontos offen zu halten, aus dem Athen
den größten Teil seiner Getreidezufuhr erhielt. Es kam denn
auch sogleich in der Meerenge zwischen Sestos und Abydos
zur Seeschlacht, und den Athenern blieb trotz ihrer geringeren
Stärke — 76 gegen 88 Trieren — der Sieg; freilich ein Erfolg
von mehr moralischer als materieller Bedeutung, da die Ver-
luste, 21 peloponnesische gegen 15 athenische Schiffe, auf
beiden Seiten fast gleich waren ^ (September). Immerhin
wurde das wichtige Kyzikos jetzt von den Athenern zurück-
gewonnen ^. Mindaros rief nun die Flotte des Agesandridas
aus den euboeischen Gewässern herbei, gegen 50 Trieren,
die aber beim Umschiffen des Athos durch einen Sturm zum
Basel 1907) veröffentlichte Bruchstück kann aber dieser Rede nicht angehören,
■wie Pasquali gezeigt hat (in Pais' Stud. Storici 1, 1908, S. 46 ff.). — Über Thera-
menes' leitende Stellung Aristot. ATT. 28, 3, Diod. XIII 42, 2; über seine poh-
tischen Ideale Xen. Hell. II 3, 48, Aristot. ATT. 28, 5. Vgl. meine Attische Politik
S. 76 a. und Pöhlig, Der Athener Theramenes, Fleckeisens Jahrb. Suppl. IX
S. 224—320, Leipzig 1877.
1 Thuk. VIII 60. 63. 79.
= Thuk. VIII 83. 85. 87.
» Thuk. VIII 99—106.
* Thuk. VIII 107.
394 XII. Abschnitt, — Der Fall der Demokratie.
großen Teil vernichtet wurden ^. Dagegen gelangte ein pelo-
ponnesisches Geschwader von 14 Schiffen, das von Rhodos
herankam, glücklich in den Hellespont, wurde aber bei der
Einfahrt von den Athenern mit überlegenen Kräften an-
gegriffen. Sogleich eilte Mindaros mit seiner ganzen Flotte
von Abydos zur Hilfe, und es entspann sich eine zweite große
Seeschlacht. Die Entscheidung gab Alkibiades, der während
des Kampfes mit 18 Schiffen von Samos her in den Hellespont
einfuhr. Die Peloponnesier mußten nach dem Strande zurück-
weichen, wo ihnen Pharnabazos' Heer einen sicheren Rückhalt
bot; doch wurden 30 von ihrer Mannschaft verlassene Schiffe
den Athenern zur Beute ^.
Der Winter machte für jetzt den Operationen ein Ende.
Im Frühjahr erhielten die Athener eine Verstärkung von
20 Schiffen, die Theramenes vom Peiraeeus heranführte,
und nun beschloß Alkibiades, einen entscheidenden Schlag
gegen den Feind zu unternehmen. Mindaros war indes von
Abydos nach Kyzikos gesegelt und hatte diese Stadt wieder
auf die peloponnesische Seite gebracht. Während er seine
Flotte hier vor dem Hafen manöverieren ließ, wurde er unver-
sehens von Alkibiades angegriffen, von Kyzikos abgeschnitten
und an die offene Küste getrieben. Vergebens suchte Pharna-
bazos, der auch diesmal zur Stelle war, mit seinem Heer die
Flotte zu decken; die Athener landeten und erfochten den
vollständigsten Sieg, Mindaros fiel, alle peloponnesischen
Schiffe wurden genommen, nur die Syrakusier fanden Zeit,
die ihrigen zu verbrennen. Doch vermochten die Mannschaften
zum größten Teil sich zu retten (Mai 410) ^. . ; •
1 Thuk. VIII 107, 2, Diod. XIII 41, nach Ephoros, der aber, durch eine
Votivinschrift im Athenatempel von Koroneia irregeführt, die Größe des Ver-
lustes übertreibt. Denn Hippokrates, einer der Führer der Flotte (Thuk. a. a. 0. )
erscheint später in Mindaros' Heer bei Kyzikos (Xen. Hell. 1 1, 23), und Agesan-
dridas selbst stand noch im Sommer 408 an der Spitze eines Geschwaders an der
thrakischen Küste (Xen. Hell. I 3, 17). Vgl. Grote VII 353. Immerhin muß
die Einbuße sehr beträchtlich gewesen sein, da sonst die peloponnesische Flotte
bei Kyzikos stärker gewesen wäre.
2 Xen. Hell. I 1, 2—8, Diod. XIII 45. 46, Plut. Alk. 27.
8 Xen. Hell. I 1, 11—18, Diod. XIII 49—51, Plut. Alk. 28. Polyaen.,
Schlacht bei Kyzikos. — Friedensverhandlungen. 395
So war die große peloponnesische Flotte vernichtet und
die athenische Meeresherrschaft wieder hergestellt; freilich
nur so lange, bis die Peloponnesier eine neue Flotte gebaut
haben würden. Es galt, die Frist nach Kräften auszunützen.
Kyzikos und Perinthos wurden sogleich zum Gehorsam zurück-
gebracht; dann wandte Alkibiades sich nach dem Bosporos,
wo er auf der Landzunge Chrysopolis {Skviari) gegenüber
Byzantion eine Befestigung anlegte. Ein Geschwader von
30 Trieren unter Theramenes wurde hier zurückgelassen, um
Byzantion und Kalchedon zu beobachten und die Wasser-
straße nach dem Pontos freizuhalten. Der Zoll, der hier von
den Handelsschiffen erhoben wurde, gewährte einen wesent-
lichen Beitrag zur Bestreitung der Kriegskosten ^.
Der Schlag von Kyzikos brachte in Sparta die Friedens-
partei wieder zu maßgebenden Einflüsse. Es schien ein Unstern
über dem Seekriege zu walten; und auch wer die Dinge noch
so sanguinisch ansah, mußte zugeben, daß die Niederwerfung
Athens jetzt, wenn überhaupt, erst in Jahren zu erwarten
stand. So entschloß man sich, auf Grund des gegenwärtigen
Besitzstandes den Frieden anzubieten; Dekeleia sollte dabei
für Pylos und Kythera als Kompensation dienen ^. Mehr zu-
bewilligen, war für Sparta ohne Verletzung seiner Ehre un-
möglich; es konnte die athenischen Bundesstädte nicht preis-
geben, die sich ihm in den letzten Jahren angeschlossen hatten.
Auch so hätte Athen einen sehr ansehnlichen Teil seines Macht -
gebietes gerettet, mehr als es jemals nach der Schlacht bei
Aegospotamoi wieder erlangt hat: alle Kleruchien, Samos,
Lesbos, die Kykladen, den thrakischen Chersones und eine
Reihe anderer wichtiger Punkte. Wie die Dinge lagen, waren
das immerhin sehr annehmbare Bedingungen; denn jeder
Verständige mußte sich sagen, daß Athen auf die Länge dem
1, 40, 9. Die Stärke der peloponnesischen Flotte gibt Xen. 1 1, 17 auf 60 Schiffe,
Diod. XIII 50, 2 (vgl. lustin. V 4, 2) auf 80 an. Über die Chronologie unten
2. Abt. § 105.
1 Xen. Hell. I 1, 19—22. Diod. XIII 64.
* Diod. XIII 52. Nepos Ale. 5, 5. lust. V 4, 4. Aristeid. Pan(Uh. S. 265 Dind.
Philochoros fr. 117.118 (unter Theopompos, also noch vor Mittsommer 410).
396 XU. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Kampfe gegen die Peloponnesier und den Großkönig nicht
gewachsen war.
Aber auch in Athen taten die Siege im Hellespont ihre
Wirkung. Die Niederlage vor Syrakus, dann der Abfall loniens
hatten den Sturz der Demokratie zur Folge gehabt; jetzt,
wo die Meeresherrschaft Athens aufs neue begründet schien,
begann die demokratische Partei wieder ihr Haupt zu erheben.
Wie es scheint, stand diesen Bestrebungen Thrasyllos nicht
fern, der im vorigen Sommer mit Thrasybulos die demo-
kratische Bewegung auf Samos geleitet hatte, und nach den
Schlachten im Hellespont im letzten Herbst nach Athen
gekommen war, um die Absendung von Verstärkungen für
die Flotte zu betreiben; er wurde zum Strategen gewählt, und
damit ein weiterer Schritt getan zur Verschmelzung der beiden
Hälften, in die das Reich durch die Ereignisse des Sommers
411 zerfallen war ^. Indes der eigentliche Leiter der demo-
kratischen Bewegung war Kleophon, ein Mann aus den Kreisen
der Gewerbetreibenden, der jetzt die Rolle des Kleon und
Hyperbolos wieder aufnahm ^. Und es waren die Besitzenden
selbst, die durch ihre eigenen Fehler dieser Strömung den
Weg gebahnt hatten. .Der Riß war unheilbar, den erst die
Errichtung der Oligarchie, dann Theramenes' Abfall von der
oligarchischen Sache unter den gebildeten Klassen Athens
geöffnet hatte; an ein Zusammengehen der entschiedenen
Oligarchen mit Männern von Theramenes' Richtung, und
beider mit ehrlichen Demokraten wie Thrasyllos war für jetzt
und noch für lange Zeit nicht zu denken. Dazu kam, daß
gerade die fähigsten Männer der Partei wegen ihrer Teilnahme
an der Oligarchie in die Verbannung getrieben oder doch aufs
schwerste kompromittiert waren. Theramenes selbst mußte
1 Xen. Hell. I 1, 8. Über Thrasyllos Wahl zum Strategen meine Attische
Politik S. 311 f. und unten 2. Abt. § 105.
2 Aristot. ATT. 28, 3, Diod. XIII 53, 2 dn^YKJTO? uJv TÖre brnuoYiuTÖ?)'
vgl. schon Aristoph. Thesmoph. 805 (Dionysien 411); Xupo'rTOiö<;: Schol.
Aristoph. Thesmoph. 805, Frösche 681. Andok. vdMyst. 146, Aeschin. vdGes.lG.
Ael. Verm. Gesch. XII 43 'YirepßöXou hi Kai KXeoqpüJVTO? oubel? öiv eiitoi touc;
iraxdpa?. In einem Stücke Piatons hatte er die Titelrolle, und auch sonst wird
er von der Komödie scharf angegriffen.
Wiederherstellung der Demokratie in Athen. 397
erkennen, daß unter solchen Umständen der Opposition gegen-
über jeder Widerstand nutzlos war; und es war ohne Zweifel
aus diesem Grunde, daß er Athen verlassen hatte, um an der
Spitze eines Geschwaders nach dem Kriegsschauplatz abzu-
gehen.
Auf die Nachricht von dem Siege bei Kyzikos brach denn
auch die Herrschaft der ,, Fünftausend" haltlos zusammen,
und die Demokratie wurde wieder hergestellt, im wesentlichen
so, wie sie vor der Niederlage in Sicilien bestanden hatte.
Mit dem Beginn des neuen Amtsjahres (Juli 410) nahm der
erloste Rat der Fünfhundert wieder die Leitung der Geschäfte
in die Hand, und die Volksgerichte begannen aufs neue zu
funktionieren. Auf jeden Versuch, die Demokratie zu stürzen,
wurden die schärfsten Strafen gesetzt und alle Bürger durch
feierlichen Eidschwur auf die Erhaltung der Verfassung in
Pflicht genommen. Die Kodifizierung des geltenden Rechtes,
die von der Oligarchie in Angriff genommen war, wurde weiter-
geführt, aber natürlich jetzt in ganz anderem Geiste ^.
Die Rückkehr zur unbeschränkten Demokratie hatte die
Wiedereinführung der Diäten für den Rat und die Volks -
gerichte zur Voraussetzung, und diese wurde denn auch auf
Kleophons Antrag beschlossen, allerdings, der bedrängten
Finanzlage entsprechend, nur in dem Betrage von 2 Obolen
^ Das Psephisma des Demophantos, durch das die Bürger auf die Demo-
kratie in Pflicht genommen wurden, bei Andok. vdMyst. 96, vgl. Lyk. gLeokr.
124 — 127, Demosth. 20 (gLept.) 159, H. Droysen, De Demophanti, Patroclidis,
Tisameni populiscitis, Dissert. BerUn 1873. Darin heißt es: öpxei XPÖvo?
Toube ToO vpr]cpi(T|uaTO(; f) ßouXr) ol TrevraKÖaioi oi Xa^övrec; Tili Kuctiauj öxe
KXeoY^vri^ itpu)TO<; dTpaM^äreuev (unter dem Archon Glaukippos 410/9), und
zwar ist das Psephisma unter der Prytanie der Aeantis, der ersten dieses
Jahres {CIA. I 188) zur Annahme gelangt. Wir sehen also, daß die
demokratische Verfassung bereits am Anfang 410/9 funktioniert hat, und
offenbar ist sie eben mit dem Beginn dieses Jahres, 1 — 2 Monate nach der
Schlacht bei Kyzikos, in Kraft getreten. Über die Gesetzgebung, die sich,
wie natürlich, durch eine Reihe von Jahren hingezogen hat, CIA. I 57
(grundlegende Verfassungsbestimmungen), 61 = Dittenb. Sylt. ^ 52, (die
Blutgesetze Drakons bleiben in Geltung), Lys. 30, gNikomachides, Harpokr.
'AiTÖXriHii; (kann sich auch auf die Zeit der 6000 beziehen). Neue Sitzordnung
des Rates Philoch. fr. 119.
398 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
für die Sitzung. Gleichwohl war das Erfordernis dafür sehr
beträchtlich, und es muß anerkannt werden, daß Kleophon
es verstanden hat, die nötigen Mittel herbeizuschaffen, ohne
die Energie der Kriegführung zu lähmen oder die Bürgerschaft
durch übermäßige direkte Steuern zu drücken. Sogar die
Bautätigkeit des Staates wurde wieder aufgenommen, wenn
auch in sehr bescheidenen Grenzen. Kleophon war offenbar
ein guter Verwalter und, wie es scheint, ein Mann von persön-
licher Integrität, wenn er auch ein weitblickender Politiker
so wenig gewesen ist, wie alle seine Parteigenossen ^
^ Über Kleophons Finanzverwaltung Lys. 19 (vAristoph. Verm.) 48
KXeoqpujvTa bä irävTe? laxe, otv iroWd ^xr] biexeipicre xci xf|(; itöXeuu? irdvxa,
Aristot. ATT. 28, 3 oc, Kai xriv biuußeXiav diröpicje irpiJuxoi;, Aeschin. vdGes. 78
biecp6apKiu<; vo|nfi \pr\\xäiniv xöv bfjiiiov. Die Diobelie ist, wie die Schatzrechnung
CIA. I 188 zeigt, bereits seit der 3. Prytanie 410/9 gezahlt worden. Daß es sich
dabei nicht, wie allerdings Aristoteles geglaubt zu haben scheint {Polit. II 1267b)
und darauf hin auch Böckh annahm (ßtaatsh. I ^ 312), um ein Theorikon handelt,
habe ich Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 239 ff. gezeigt und ist heut allgemein an-
erkannt. J. Christ hat die Behauptung aufgestellt, die Diobelie sei eine ,, Staats-
pension" gewesen, die an alle Bürger gezahlt worden sei (bei Wilamowitz, Aristot.
II 212 ff.), und es ist merkwürdig, daß dieser Einfall so viele Zustimmung ge-
funden hat. Rechnen wir auch nur 12 000 Bürger, so betrug das Erfordernis
täglich 4000 dr., 240 tal. im Jahr. Wo hätte diese Summe herkommen sollen,
und was wollen demgegenüber die kleinen Beträge besagen, bis zu 6^4 dr. herab,
die in den Schatzrechnungen {CIA. I 188 und 189) für die Diobelie verrechnet
werden ? Und sollen wir denn annehmen, daß neben der Diobelie noch Richter-
sold und andere Diäten gezahlt worden sind? Doch sicher nicht; |ar) bixöOev
|aia6ocppeTv war ja eine der Grundmaximen der Demokratie. Aber wer würde
sich dann noch zum Geschworenen hergegeben haben, wenn er auch ohne das
seine 2 ob. bekam ? Und bekam sie jeder Bürger, dann doch auch die dbOvaxoi;
wie geht es da zu, daß sie dann später, im Frieden, nur 1 ob. erhielten (Lys. 24) ?
Aber wir wissen ja aus Aristophanes, daß der Richtersold in dieser Zeit bestanden
hat {Frösche 1466), und zwar eben im Betrage von 2 ob. (v. 140, mit dem
Scholion). Und der Richtersold verschlingt alle Staatseinnahmen (6 biKa(Txr](;
aöxä Kaxairivei |UÖV0(;). Wie konnte Aristophanes das sagen, wenn die ,, Staats-
pension" den vielfachen Betrag verschlungen hätte? Denn nehmen wir selbst
an, daß 3000 Geschworene Tag für Tag, also abzüglich der Feste 300 Tage
im Jahre gesessen hätten, was für diese Zeit viel zu hoch ist, so betrug das Er-
fordernis doch nur 50 tal. Also die „Staatspension" ist ein Phantasiegebilde.
Aber immerhin mögen in der Diobelie auch andere Besoldungen einbegriffen
gewesen sein, z. B. die Diäten der Ratsherren; sie waren ja früher höher gewesen.
Die Diobelie, — Thrasyllos in lonien. 399
Kleophon also war jetzt der erste Mann in Athen; und
er sah die militärische Lage mit dem Optimismus an, den die
athenischen Radikalen immer gezeigt haben. Sein Einfluß
bewirkte es, daß die lakedaemonischen Friedensvorschläge
zurückgewiesen wurden; ebensosehr allerdings wohl die Er-
wägung, daß es ziemlich gleichgültig war, was die athenische
Volksversammlung in dieser Sache beschloß, und daß die
wahre Entscheidung bei der Flotte stand, oder vielmehr bei
deren Führer Alkibiades. Und Alkibiades brauchte den Krieg,
der ihm das Mittel war, zu der Stellung im Staate empor-
zusteigen, die sein Ehrgeiz erstrebte; was lag ihm daran, ob
dem Interesse Athens mit der Fortsetzung des Kampfes ge-
dient war?
So ging der Krieg seinen Gang weiter. Gleich nach dem
Abbruch der Verhandlungen rückte König Agis aus seiner
Stellung bei Dekeleia gegen Athen herab, wagte es aber nicht,
die Schlacht anzunehmen, die Thrasyllos ihm unter den Mauern
der Stadt anbot; ein Erfolg, der natürlich in Athen großen
Jubel erregte ^. Nach dem Hellespont wurde der Spartaner
Klearchos mit 15 Trieren gesandt, um Byzantion und die
Nachbarstädte zu sichern ^. In Antandros, am Südfuße des
Ida, wurde mit dem Bau einer neuen Flotte begonnen, wozu
Pharnabazos die Mittel gab ^. Die Athener andererseits ver-
mochten nichts Ernstliches auszurichten, da sie wohl das Meer
beherrschten, wo ihnen jetzt kein Feind mehr gegenüberstand,
aber nicht Landtruppen genug hatten, um eine Belagerung
beginnen zu können. Es wurde also in Athen eine neue
Expedition ausgerüstet, 50 Trieren unter Thrasyllos, mit
wie auch der Richtersold, aber bei den schlechten Zeiten mußte sich eben alles
nach der Decke strecken. Und wenn Aristoteles sagt, daß Kleophon die Diobelie
eingeführt habe (^iröpicfe TTpuJTO(;), so ist das ganz richtig; denn unter der Ver-
fassung des Theramenes hatte es überhaupt keine Besoldungen gegeben. Weiteres
Rh. Mus. a. a. O. — Über Kleophons Integrität Lys. 19, 48 ; Piaton freilich
nennt ihn dtpitaYiöxaTOi; (Kleophon ir.hl) und auch Lysias sagt irpoaebOKäTO
Trdvu TToXXä ^k xry; äpxn«; ^X^iv.
1 Xen. Hell. I 1, 33 f.
2 Xen. Hell. I 35 ff.
3 Xen. Hell. I 1, 24 ff.
400 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
1000 Hopliten und 100 Reitern an Bord, auch von den See-
leuten waren 5000 mit leichter Rüstung versehen, um bei
Landungen als Peltasten zu dienen (Frühjahr 409). Zunächst
war die Wiedereroberung loniens in Aussicht genommen.
Das Heer wurde in Notion ausgeschifft, das nahe Kolophon
trat sogleich über, dann wandte sich Thrasyllos gegen Ephesos.
Hier aber fand er die Syrakusier und Selinuntier sich gegenüber,
die inzwischen den Neubau ihres Geschwaders vollendet und
aus der Heimat eine Verstärkung von 5 Trieren erhalten
hatten. Auch der Satrap Tissaphernes war mit seinem Heere
zur Verteidigung der bedrohten Stadt herbeigeeilt. So erlitt
Thrasyllos eine schwere Niederlage, die ihn 400 Mann kostete
und ihn zwang, das Unternehmen gegen lonien aufzugeben.
Er wandte sich nun nach dem Hellespont und vereinigte sich
dort mit Alkibiades ^.
Dieser hatte sich bisher auf den kleinen Krieg gegen
Pharnabazos und Klearchos beschränken müssen; Thrasyllos'
Ankunft setzte ihn in den Stand, entscheidende Schläge zu
führen. Im Frühjahr 408 begann die Belagerung von Kalchedon ;
ein Ausfall der peloponnesischen Besatzung wurde zurück-
geschlagen, Pharnabazos, der zu gleicher Zeit den Versuch
machte, den Belagerten die Hand zu reichen, vermochte es
nicht, die attischen Linien zu durchbrechen. Infolge dieser
Niederlage bequemte sich der Satrap zu einem Vertrage, in
dem er sich verpflichtete, die Feindseligkeiten gegen Athen
einzustellen, eine athenische Gesandtschaft zum Könige
hinaufzuführen und 20 Talente zu zahlen; die Athener ihrer-
seits erkannten die Unabhängigkeit Kalchedons an, das aber
.gehalten sein sollte, fortan seinen früheren Tribut zu ent-
richten, und die seit dem Abfall aufgelaufenen Rückstände
abzuzahlen. Alkibiades ging nun nach Europa hinüber, nahm
Selymbria ein, und nach längerer Belagerung auch Byzantion ^.
1 Xen. Hell. II, 34; 2, 1—15. Diod. XIII 64, vgl. Lys. 32 {gDiogeiton)
5. 7. Über die Chronologie, auch der folgenden Ereignisse unten 2. Abt.
§ 104 f.
2 Xen. Hell. I 3, Diod. XIII 66 f., Plut. Alk. 29—31, Polyaen. I 40, 2
(= Front. III 11, 3), 47, 2. Der Vertrag mit Selymbria CIA. IV S. 18 f. =
Dittenb. Syll. " 53.
Kalchedon und Byzantion. — Verlust von Kerkyra und Pylos. 401
Die hellespontischen Landschaften, bis auf Abydos, waren
jetzt fast vollständig wieder in der Gewalt der Athener. Im
folgenden Jahre (407) wurden auch Thasos und Abdera durch
Thrasybulos zum Gehorsam zurückgeführt ^, so daß von dem
Reiche, wie es im Jahre 413 gewesen war, im wesentlichen
nur noch das ionische Festland, Chios, Rhodos und Euboea
im Besitze des Feindes blieben.
Darüber waren allerdings in Griechenland wichtige
Stellungen verloren gegangen. Im Frühjahr 410 stand Kerkyra
auf dem Punkte, zu den Peloponnesiern abzufallen; die Demo-
kraten riefen Konon, der die athenische Flottenstation in
Naupaktos befehligte, zur Hilfe herbei, und es kam nun zum
Straßenkampfe, in dem der Menge dank dieser Unterstützung
der Sieg blieb; von den Angehörigen der besitzenden Klassen
wurden viele getötet, mehr als 1000 aus der Stadt getrieben;
den ansässigen Fremden wurde das Bürgerrecht, den Sklaven
die Freiheit gegeben. Bald aber, nachdem Konon den Rücken
gewandt hatte, kehrten die Verbannten zurück und erzwangen
ihre Wiederaufnahme in die Stadt. Kerkyra löste infolgedessen
sein Bündnis mit Athen, ohne sich indessen den Peloponnesiern
anzuschließen; es trat zurück in seine traditionelle Neutralität
gegenüber den hellenischen Händeln ^.
So hatte Athen seine hauptsächlichste Stütze im Westen
verloren. Die Folge war, daß im nächsten Jahre Pylos von
den Lakedaemoniern genommen wurde; eine Entsatzfiotte
von 30 Schiffen unter Anytos, die von Athen aus abgesandt
worden war, wurde durch widrige Winde am Vorgebirge Malea
festgehalten, bis es zu spät war. Der Führer wurde vor Gericht
gestellt, aber freigesprochen, wie man sagte, durch Bestechung
1 Xen. Hell. I 4, 9, Diod. XIII 72, und die Volksbescblüsse für Neapolis
CIA. IV 1 S. 15 = Dittenb. Syll. ^ 49, der erste aus dem Jan. 409, der zweite
von Axiochos beantragte wohl aus dem Sommer 407. Daß Thasos in diesem
Sommer zurückgewonnen wurde, sagt Xen. a. a. O.; Diodor setzt die Einnahme
richtig unter Euktemon (408/7), erzählt sie aber erst nach Alkibiades' Abfahrt
aus Athen.
2 Diod. XIII 48, vgl. Thuk. IV 48,5. Die Revolution scheint in das Früh-
jahr 410 zu gehören, da Diodor den Bericht darüber in die Erzählung der
Expedition des Theramenes einschiebt.
Bei och, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 26
402 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
der Geschworenen ^. Schon etwas früher war auch Nisaea
von den Megarern erobert worden; ein athenisches Heer, das
darauf gegen Megara gesandt wurde, blieb zwar in einem Gefecht
bei den Kerata siegreich, vermochte aber den verlorenen Platz
nicht wieder zu nehmen ^.
Während Alkibiades die hellespontischen Landschaften
unterwarf, waren in Sicilien Ereignisse eingetreten, welche
die Syrakusier zwangen, ihre Schiffe aus dem Aegaeischen
Meere zurückzurufen. In Syrakus war, nach dem Siege über
die Athener, Hermokrates der mächtigste Mann. Schon der
Friede von Gela (424), der dem ersten Versuche der Athener,
sich in Sicilien festzusetzen, ein Ende gemacht hatte, war
zum großen Teil sein Werk gewesen; 10 Jahre später hatte
er bis zu Gylippos' Ankunft und dann an dessen Seite die
Verteidigung von Syrakus geleitet, und sein Verdienst war
es vor allem, wenn man es gewagt hatte, den Kampf mit dem
Feinde auch zur See aufzunehmen. Als dann das athenische
Belagerungsheer vernichtet war, hatte er mit Eifer für die
Absendung eines syrakusischen Geschwaders nach dem
griechischen Osten gewirkt und war selbst an dessen Spitze
getreten ^.
Aber eben diese Entfernung von Syrakus sollte ihm
verhängnisvoll werden. Der Sieg über die Athener hatte
zur Folge gehabt, das Selbstgefühl der unteren Klassen der
Bürgerschaft mächtig zu steigern; sie drängten jetzt nach
Erweiterung ihrer politischen Rechte. So wurde die syra-
1 Xen. Hell. I 2, 18 (Winter 409/8), Diod. XIII 64, 5—7 (unter Diokles
409/8), vgl. unten 2. Abt. § 106; über Anytos' Prozeß auch Aristot. ATT. 27, 5.
2 Diod. XIII 65 (unter Diokles), der einzige, der die Sache erwähnt. Da
nach Xen. Hell. I 1, 36 das Geschwader, mit dem Klearchos nach Byzantion
ging, in erster Linie von Megara gestellt war, sollte man annehmen, daß Nisaea
damals schon wieder megarisch gewesen ist, denn es ist doch kaum wahrschein-
lich, daß die megarischen Schiffe von Pagae gekommen sind. Wenn also Xenophon
Klearchos' Sendung nicht vorgreifend berichtet, müßte die Einnahme von Nisaea
ia den Sommer oder Herbst 410 fallen. Die beiden athenischen Strategen Leo-
trophides und Timarchos können sehr wohl dem Kollegium des Jahres 410/9
angehört haben.
=> Thuk. IV 58, VI 72 f., 99, VII 21, 3, VIII 26, 1.
Demokratische Reformen in Syrakus. — Hermokrates verbannt. 403
kusische Verfassung durch den Volksmann Diokles im Sinne
der radikalen Demokratie umgestaltet und namentlich, nach
athenischem Vorbilde, die Besetzung einer Reihe von Staats-
ämtern durch das Los eingeführt ^. Die neuen Machthaber
sahen in Hermokrates ihren gefährlichsten Gegner ^j und
die Vernichtung der syrakusischen Flotte bei Kyzikos gab
ihnen die erwünschte Gelegenheit, den Feind beiseite zu
schieben. Hermokrates wurde durch Volksbeschluß seiner
Stelle enthoben und aus Syrakus verbannt, und neue Strategen
auf die Flotte gesendet. Der abgesetzte Feldherr wagte keinen
Widerstand; denn wenn er auch seiner Offiziere sicher war,
so waren die Mannschaften dafür in ihrer großen Mehrzahl
überzeugungstreue Demokraten. Er ging also nach Sparta
und schloß sich dann einer Gesandtschaft an, die im Sommer
408 zum König hinaufreiste ^.
Der Krieg zwischen Syrakus und den athenischen Bundes-
genossen im Westen war indes weitergegangen. In Thurioi
allerdings kam es bald nach der Katastrophe am Assinaros
zu einer Revolution, infolge deren die athenisch Gesinnten
verbannt wurden und die Stadt den Peloponnesiern ein
Geschwader zu Hilfe sandte*. Katane aber leistete erfolg-
reichen Widerstand, unterstützt von den Trümmern des
^ Aristot. Polit. V 1304 a, Diod. XIII 33—35 (Einführung des Loses 34, 6),
vgl. 19, 4 TUJv briinaYUJYU'v dvboEÖTaTO? i&v; bei Plut. Nik. 28 heißt er Eurykles.
Daß dieser Demagog Diokles nicht, wie Diodor meint, mit dem alten Gesetz-
geber Diokles (oben I 1, 350) identisch sein kann, dem die Syrakusier nach
seinem Tode heroische Ehren erwiesen und einen Tempel errichteten (Diod.
XIII 35, 2), liegt auf der Hand (Holm, Gesch. Steil. II 78. 417 f., De Sanctis,
Studi ital. di Fil. class. XI, 1903, S. 433). Über Diokles' Verfassungsreformen
Holm a. a. 0. und Freeman, Hist. of Sicüy III 722 ff.
^ Über Hermokrates' Gegensatz zur radikalen Demokratie Thuk. VI
33—40, vgl. Xen. Hell. I 1, 27 ff.
3 Xen. Hell. I, 1, 27—31; 3, 13, vgl. Thuk. VIII 85, 3, weiteres unten
2. Abt. § 110. Die Mannschaft der syrakusischen Schiffe bestand zum größten
Teil aus freien Leuten (Thuk. VIII 84, 2).
* Dionys. Hai. Lys. 1. [Plutarch] Leben des Lysias S. 835 d, unter dem
Archon Kallias (412/1), und zwar zu Anfang des Jahres, denn im Spätherbst 412
stießen bereits 10 thurinische Schiffe zu der peloponnesischen Flotte an der klein-
asiatischen Küste (Thuk. VIII 35, vgl. 61, 2, Xen. Hell. I 5, 19).
26*
404 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
athenischen Heeres ^, um so mehr, als Syrakus durch die lange
Belagerung erschöpft war und den besten Teil seiner Flotte
nach dem Aegaeischen Meere entsendet hatte. Einen schwereren
Stand hatten die Elymer von Segesta und Eryx gegen ihre
mächtige Nachbarstadt Selinus. Von ihren Feinden aufs
äußerste bedrängt, blieb ihnen endlich nichts übrig, als sich
den Karthagern in die Arme zu werfen ^.
Karthago hatte seit dem Unglückstage von Himera
sich jeder Einmischung in die sicilischen Angelegenheiten
enthalten. Selbst während des attischen Krieges war es
neutral geblieben, trotz der Bundesgenossenschaft, welche
die Athener angeboten hatten^; und der Untergang der
athenischen Flotte im Hafen von Syrakus war nicht dazu
angetan, Karthago zu einer Änderung der bisher verfolgten
Politik zu veranlassen. Aber man hatte jetzt keine Wahl
mehr. Gelang es Selinus, die Elymer zu unterwerfen, so waren
die phoenikischen Plätze im Nordwesten der Insel aus nächster
Nähe bedroht, und Karthago war dann voraussichtlich doch
gezwungen, unter noch ungünstigeren Bedingungen den
Kampf gegen die Hellenen Siciliens aufzunehmen.
So sandte man denn im Sommer 409 Segesta ein Truppen-
korps zu Hilfe, das den Selinuntiern eine ernste Niederlage
beibrachte; im nächsten Frühjahr folgte die Hauptmasse
des Heeres, karthagische Bürger, libysche Untertanen und
iberische Söldner, unter dem König Hannibal, dem Enkel
jenes Hamilkar, der einst bei Himera gegen Gelon Schlacht
und Leben verloren hatte. Die Karthager landeten am Vor-
gebirge Libybaeon, rückten ohne Verzug auf Selinus und
begannen die Belagerung. Die Mauern der Stadt waren
während des langen Friedens verfallen und sanken bald vor
den Maschinen des Feindes zusammen; dann wurde unab-
lässig gestürmt, bis endlich, am neunten Tage, die Iberer
durch die Bresche drangen. In der Stadt begann jetzt ein
furchtbares Morden; die Barbaren schonten weder Alter noch
^ [Lysias] fPolystratos 24 £E., vgl. Diod. XIII 56, 2.
2 Diod. XIII 43.
3 Thuk. VI 88, 6.
Zerstörungf von Selinus und Himera. 40Ö
Geschlecht, 16 000 Menschen sollen ihrer Wut zum Opfer
gefallen sein. Nur 5000 Gefangene wurden gemacht und als
Sklaven nach Afrika geführt; noch geringer war die Zahl derer,
denen es gelang, nach dem benachbarten Akragas sich zu
retten. Die Stadt wurde geplündert und ihre Mauern zerstört ^.
Die Katastrophe war mit so furchtbarer Schnelle herein-
gebrochen, daß die Syrakusier keine Zeit gehabt hatten,
rechtzeitig zum Entsätze herbeizukommen. In der Erwartung
des Krieges mit Karthago hatten sie mit Katane und Naxos
Frieden geschlossen und ihre Flotte aus dem Aegaeischen
Meere zurückgerufen ^1 auf die Nachricht von der Landung
des Feindes setzten sie sofort 3000 Hopliten unter Diokles
in Marsch, die schon bis Akragas gelangt waren, als der Fall
von Selinus erfolgte. Sie sollten nur zu bald Gelegenheit haben,
sich mit den Karthagern zu messen ^.
Denn Hannibal wandte sich jetzt nach der Nordküste
der Insel gegen Himera, verstärkt durch Zuzüge aus den
sikanischen und sikelischen Städten. Zum Schutz der be-
drängten Stadt eilte Diokles mit seinem inzwischen auf 4000
Mann verstärkten Heere herbei,, und gleich darauf erschien
auf der Reede die Flotte, die bisher im Aegaeischen Meere
gegen die Athener gefochten hatte. Aber gegen die Über-
macht der Barbaren war alles umsonst. Ein Ausfall der Be-
lagerten wurde mit schwerem Verluste zurückgeschlagen;
die Stadt war nicht mehr zu halten, und man mußte sich
darauf beschränken, die Bevölkerung in Sicherheit zu bringen.
Auch das gelang nur zum Teil; während die Räumung noch
im Gange war, brachen die Karthager in die Stadt, und was
noch von Bewohnern zurückgeblieben war, fiel unter dem
Schwerte der Sieger oder geriet in Gefangenschaft. Die Ge-
1 Diod. XIII 44. 54—59. [Xen.] Hell. I 1, 37. Über die Chronologie
unten 2. Abt. § 110. — Die Angaben über die Stärke des karthagischen Heeres
in unseren Quellen (nach Ephoros 200 000 Mann und 4000 Reiter, nach Timaeos
etwas über 100 000 Mann [Diodor XIII 54, 5], 100 000 Mann auch nach [Xen. j
Hell. I 1, 37) sind wie gewöhnlich sehr übertrieben, vgl. meine Bevölkerung
S. 467 f.
- Diod. XIII 56, 2. Rückberufung der Flotte: lustin. V 4, 5.
3 Diod. XIII 59, 1.
406 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
fangenen schlachtete Hannibal den Manen seines Großvaters
als Totenopfer; die Stadt wurde dem Boden gleich gemacht,
und ihre Stätte ist seitdem wüst geblieben. Dann schiffte der
isiegreiche Feldherr sein Heer nach Libyen ein und hielt in
Karthago seinen triumphierenden Einzug ^.
Der Untergang zweier so bedeutenden Städte, eine Kata-
strophe, wie sie in solcher Furchtbarkeit die Griechen Siciliens
noch niemals betroffen hatte, mußte einen erschütternden
Eindruck hervorbringen. Und die Schuld lastete zum größten
Teil auf der Regierung von Syrakiis. Obgleich der Krieg
mit Karthago seit einem Jahr in sicherer Aussicht gestanden
hatte, war man bei Selinus zu spät gekommen und hatte
Himera nur mit ganz ungenügenden Kräften unterstützt.
Das mußte der jetzt in Syrakus herrschenden Partei ver-
hängnisvoll w^erden, um so mehr, als ihr erster Mann, Diokles,
bei Himera den Befehl geführt hatte und also nicht nur
politisch, sondern auch militärisch für den unglücklichen
Ausgang die Verantwortung trug.
Jetzt hielt Hermokrates den Augenblick für gekommen,
seine Rückkehr nach der Vaterstadt ins Werk zu setzen. Er
gat) also, auf die Nachricht von den Ereignissen in Sicilien,
seine Reise zum Großkönig auf; von seinem Freunde Pharna-
bazos erhielt er die nötigen Geldmittel, um einige Schiffe
auszurüsten und ein kleines Söldnerkorps in Dienst zu nehmen^.
Mit diesen Truppen landete er in Messene; hier zog er 1000
der geflüchteten Bürger von Himera an sich und versuchte
dann einen Handstreich auf Syrakus, der freilich erfolglos
blieb. Er wandte sich nun nach dem Westen der Insel, wo er
Selinus aufs neue befestigte, die alten Bewohner zurück-
rief, und so eine Basis für die Ausführung seiner weiteren
Pläne gewann. Dann zog er vor die phoenikischen Städte
Motye und Panormos, machte in deren Gebiet reiche Beute
und trieb die Bürger, die gegen ihn ausrückten, hinter ihre
Mauern zurück. Nach diesen Erfolgen begannen auch in
Syrakus seine Anhänger sich zu regen; Diokles wurde gestürzt
1 Diod. XIII 69—62, vgl. Frontin. III 10, 3.
2 Xen. Hell I 1, 31.
Hermokrates' Rückkehr und Ende. — Die Karthager vor Akragas. 407
und in die Verbannung geschickt, aber es gelang nicht, Hermo-
krates' Rückberufung beim Volk zu erwirken. So machte er
noch einmal den Versuch, seine Rückkehr mit Gewalt zu
erzwingen. Diesmal wurden ihm die Tore geöffnet, und er
konnte bis zum Marktplatze vordringen. Die Bürger aber
wollten in ihrer großen Mehrzahl von einem gewaltsamen
Umsturz der Verfassung nichts wissen; von allen Seiten
strömten sie in Waffen herbei, und in dem nun sich entspinnen-
den Straßenkampfe fand Hermokrates ein unrühmliches
Ende (407) i.
In Karthago hatte man indes zu einem neuen Zuge nach
Sicilien gerüstet; schienen doch die leichten und glänzenden
Erfolge, die man im vorigen Feldzuge errungen hatte, die
Unterwerfung der ganzen Insel in den Bereich der Möglichkeit
zu rücken. Vergebens versuchten die Syrakusier die Überfahrt
des feindlichen Heeres zu hindern; ihre Flotte besiegte zwar
ein karthagisches Geschwader von 40 Schiffen in der Nähe
von Drepana, sah sich aber zum Rückzug gezwungen, als
Hannibal mit 50 frischen Trieren herankam. Der karthagische
Feldherr setzte nun seine Truppen ans Land und rückte
sogleich vor Akragas, das jetzt, nach dem Fall von Selinus
und Himera, die äußerste Griechenstadt gegen Westen hin
war (Frühjahr 406). Aber die durch Natur und Kunst gleich
starken Befestigungen leisteten den Angriffen der Belagerer
kräftigen Widerstand; und bald kam der bedrängten Stadt
Entsatz. Denn die Griechen Siciliens und Italiens erkannten
jetzt endlich die ganze Größe der Gefahr, die von Karthago
her drohte; aus allen Städten strömten die Kontingente nach
Syrakus. So kam ein Heer zusammen, wie es die Westhellenen
seit Gelons Zeit nicht mehr aufgestellt hatten. An der Spitze
^ Diod. XIII 63. 75. Danach hätte Hermokrates seine Schiffe erst in
Messene gebaut und dort auch die Söldner in Dienst genommen. Wie unwahr-
scheinlich das ist, liegt auf der Hand; einmal in Sicilien angekommen, brauchte
Hermokrates überhaupt keine Schiffe mehr, und Söldner konnte er viel besser
im Peloponnes anwerben. Seine Rückkehr nach Sicilien scheint noch im Herbst
408 erfolgt zu sein, da Diodor sie in unmittelbarem Anschluß an den Fall von
Himera erzählt.
408 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie,
von angeblich 30 000 Mann überschritt der syrakusische
Oberfeldherr Daphnaeos den Himeras, schlug ein karthagisches
Korps, das ihm den Vormarsch wehren wollte, völlig aufs
Haupt und hielt bald seinen Einzug in das befreite Akragas.
Aber es gelang nicht, die Karthager aus ihrem stark befestigten
Lager im Westen der Stadt zu vertreiben. Der Krieg zog
sich in die Länge, und in der volkreichen Stadt begannen
die Vorräte auszugehen. Ein zur See von Syrakus gesandter
Transport fiel dem Feinde in die Hände. Jetzt glaubte man,
die Stadt nicht länger halten zu können, und beschloß, sie zu
räumen (um Mittwinter 406/5). Unter dem Schutz des Entsatz -
heeres wurden die Bewohner nach Gela in Sicherheit gebracht
und ihnen dann Leontinoi zum Aufenthalt angewiesen, das
seit der Übersiedlung seiner Bürger nach Syrakus (oben S. 354)
verlassen stand. Akragas wurde ohne Kampf von den Kar-
thagern besetzt, die nun hier für den Rest des Winters Quartier
nahmen ^.
In Syrakus erhob sich auf die Kunde von diesen Vor-
gängen ein Sturm der Entrüstung. Soviel war klar: entweder
waren Daphnaeos und seine Kollegen im Kommando Verräter,
oder sie waren militärisch ganz unfähig; in beiden Fällen
war ein Wechsel im Oberbefehl dringend geboten. Jetzt
erhob die Partei des Hermokrates wieder ihr Haupt, an ihrer
Spitze zwei der vornehmsten Bürger, Hipparinos und Philistos,
und ein junger Offizier, Dionysios, der sich in den Kämpfen
bei Akragas glänzend hervorgetan hatte und dadurch zu
großer Popularität gelangt war. Diese Popularität wurde
noch dadurch gesteigert, daß er einer Familie des Mittel-
standes angehörte; denn in Syrakus ebenso wie in Athen
waren trotz der Demokratie die hohen Befehlshaberstellen
tatsächlich ein Privilegium der reichsten und vornehmsten
1 Diod. XIII 80—90, Xen. Hell. I 5, 21. Über die Topographie Schubring,
Akragas (Leipzig 1870) und Cavallari, Sulla topografia di talune ciüa greche di
Sicilia, Arch. Stör. Sic. n. S. IV 1879, der den von Schubring (und Holm) an-
genommenen Lauf der Mauern in einem wesentlichen Punkte berichtigt. Danach
die Pläne bei Freeman und in Kieperts Formae (XIX). Über die Chronologie
unten 2. Abt. § 111.
Fall von Akragas. — Dionysios Oberfeldherr. 409
Geschlechter. So hatte Dionysios vollen Erfolg, als er in der
Volksversammlung auftrat und die Strategen des Verrates
beschuldigte; auf seinen Antrag wurden sie ihres Amtes ent-
hoben und neue Feldherren an ihrer Stelle erwählt, darunter
Dionysios selbst. Dieser setzte nun weiter durch, daß an-
gesichts der furchtbaren Gefahr, welche den Staat bedrohte,
die Verbannten zurückgerufen wurden; eine Maßregel, die
zunächst den geflüchteten Parteigenossen des Hermokrates
zugute kam und Dionysios eine große Anzahl ergebener An-
hänger sicherte. Dann zog er nach Gela, wo er in einen inneren
Zwist zugunsten des Demos gegen die Besitzenden eingriff;
eine Anzahl der Vornehmen wurden auf sein Betreiben zum
Tode verurteilt und ihr Vermögen eingezogen. Natürlich
steigerte dieses Verhalten Dionysios' Ansehen bei der Menge
in Syrakus, die nun endlich den Mann gefunden zu haben
glaubte, der imstande wäre, den Staat zu retten. Dionysios
zögerte nicht, diese günstige Stimmung auszubeuten; er begann
nun gegen seine Mitfeldherren dasselbe Spiel, das ihm soeben
seinen Vorgesetzten gegenüber so gut gelungen war, und
beschuldigte auch sie, sich den Karthagern verkauft zu haben.
Eine solche Anklage aus solchem Munde war jetzt in Syrakus
ihres Erfolges gewiß; und auch wer nicht in das Geschrei über
den Verrat einstimmte, konnte sich der Überzeugung nicht
verschließen, daß, wenn nicht alles zugrunde gehen solle, der
Oberbefehl in die Hände eines Mannes gelegt werden
müsse. Noch war es unvergessen, wie einst zu der Größväter
Tagen Gelon als unbeschränkter Oberfeldherr Sicilien vor den
Karthagern gerettet hatte. So wurden die Strategen ab-
gesetzt und Dionysios der alleinige Befehl über das Heer
übertragen.
Es galt nun, die Truppen zu gewinnen; Dionysios brachte
also einen Volksbeschluß zur Annahme, der die Löhnung auf
das Doppelte des bisherigen Betrages erhöhte. Dann befahl
er dem syrakusischen Aufgebot, sich in Leontinoi zu sammeln.
Hier wurde ein Mordversuch auf den Feldherrn gemacht,
wie seine Feinde sagten, von ihm selbst angestiftet; er gab
ihm den Vorwand, sich von der Heeresversammlung eine
410 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Leibwache von 600 Mann bewilligen zu lassen, die er selbst
aus den zuverlässigsten Leuten auswählte und auf über 1000
Mann brachte. Ein in Gela stehendes Söldnerkorps von 1500
Mann, das von den Akragantinern angeworben und dann in
syrakusische Dienste getreten war, wurde gleichfalls nach
Leontinoi gezogen. Auf diese Macht gestützt, glaubte Di onysios
den Staatsstreich wagen zu können; er marschierte an der
Spitze der ihm ergebenen Truppen nach Syrakus, besetzte
das Arsenal und nahm die ganze Regierungsgewalt in seine
Hände. Die Stadt blieb ruhig; jeder Widerstand wäre doch
nutzlos gewesen, und dem Karthagerschrecken gegenüber
schien alles andere Nebensache, wenn Syrakus nur gerettet
wurde, gleichviel wie und durch wen. Dionysios ließ nun
seine beiden einflußreichsten Gegner, Daphnaeos und Da-
marchos, von der Volksversammlung zum Tode verurteilen
und sie dann hinrichten; er selbst vermählte sich mit der
Tochter des Hermokrates und gab Hermokrates' Schwager
Polyxenos seine Schwester zur Ehe ^.
Die Karthager hatten den Ausgang der Wirren in Syrakus
in Akragas abgewartet; jedes Vorgehen ihrerseits würde nur
der syrakusischen Kriegspartei zugute gekommen sein. Erst
als Dionysios zum Oberfeldherrn erwählt war, setzten sie sich
1 Diod. XIII 91—96, vgl. Aristot. Polit. V 1305 a, Polyaen V 2, 2, Plut
Apophth. Reg. Dionys. 1 S. 175. Eine gute Schilderung der Lage gibt [Piatons]
VIII. Brief S. 353. Über Hipparinos Arist. Polit. V 1306 a; nach [Piaton] Brief
VIII 353 b (daraus Plut. Dion 3) wäre er vom Volke als 0i)jaßou\oi; dem Strategen
Dionysios zur Seite gestellt worden, was in dieser Form ohne Zweifel falsch,
in der Sache aber richtig ist, da Hipparinos gewiß eine der einflußreichsten
Stellen in der neuen Regierung bekleidet hat. Später hat Dionysios seine Tochter
zur Frau genommen. — Damarchos ersetzte Hermokrates nach dessen Ver-
bannung im Befehl über die Flotte an der kleinasiatischen Küste (Thuk. VIII
85, 3, Xen. Hell. I 1, 29), war also offenbar dessen Gegner; wahrscheinlich hat
er dann neben Daphnaeos bei Akragas kommandiert. — Dionysios war, als er
zur Herrschaft gelangte (405), 25 Jahre alt (Cic. Tusc. V 20, 57, vgl. Ephoros
bei Polyb. XII 4 a), also 430 geboren. Über seine Herkunft Isokr. Phil. 65,
Cic. a. a. O. (bonis parentibus atque honesta loco natus, etsi id quidem alius alio
modo tradidit), Demosth. gLept. 161, Polyb. XV 35, 2, Diod. XIII 96, 4, XIV
67, 1. Anhänger des Hermokrates: Diod. XIII 79, 9. Über Phihstos Diod.
XIII 91, 4.
Dionysios' Staatsstreich. — Verlust von Gela und Kamarina. 411
in Bewegung und begannen, etwa um Mittsommer 405, die
Belagerung von Gela. Wie im Vorjahre versammelte sich in
Syrakus das Bundesheer der sicilischen und italischen Griechen,
dessen Befehl diesmal natürlich Dionysios übernahm. Aber
der Ausgang war derselbe wie vor Akragas, freilich auch die
griechische Verteidigungsstellung viel schwächer. Dionysios'
Angriff auf das karthagische Lager schlug vollständig fehl;
Gela konnte nun nicht länger gehalten werden, und es blieb
nichts übrig, als auch diese Stadt und das benachbarte Kama-
rina zu räumen und die Bewohner nach Syrakus in Sicherheit
zu bringen. Die ganze Südküste der Insel war damit in der
Hand des Feindes, und man stand vor der Belagerung von
Syrakus selbst ^.
Auch die Militärdiktatur also hatte das Kriegsglück
nicht zu wenden vermocht. Es war das sehr natürlich; die
verrotteten Zustände, wie sie unter der Demokratie im syra-
kusischen Militärwesen sich entwickelt hatten, ließen sich
von heute auf morgen nicht ändern ^. Dionysios' Stellung
aber mußte durch diese Ereignisse um so schwerer erschüttert
werden, je mehr das Volk sich von seiner Leitung versprochen
1 Diod. XIII 108—111. [Xen.] Hell. II 3, 5. Schubring, Rhein. Mus.
XVIII, 1873, S. 82 ff., der, um keine Lücke in dem Bericht Diodors annehmen
zu müssen, heber zu der Auskunft greift, der Gelas habe seit dem Altertum
seinen Lauf geändert und sei nördlich an der Stadt vorbeigeflossen, statt ■wie
jetzt östlich von ihr. Soweit ich ohne Autopsie urteilen kann, ist das völlig
unmöglich. Wir müssen vielmehr annehmen, daß die Karthager auch hier,
väe bei der Belagerung von Akragas, zwei Lager geschlagen haben, eines im
Westen der Stadt und das andere östUch davon, am Flusse. Die Beschreibung
Diodors, der nur das Hauptlager im Westen erwähnt, wird bei dieser Annahme
ohne weiteres klar. Vgl. Cultrera, Rend. Line. 1908 S. 257 ff. und besonders
Pareti, Rom. Mitt. XXV, 19 S. 1 ff. — Beim Beginn der Belagerung entführten
die Karthager die Kolossalstatue des Apollon, die vor der Stadt stand, und
sandten sie nach Tyros; wie Timaeos erzählte (bei Diod. XIII 108, 4), wurde
Tyros an dem Jahrestage dieses Frevels von Alexander erobert. Demnach
hätte die Belagerung von Gela im Hekatombaeon begonnen. S. unten 2. Abt.
§111.
^ Charakteristisch ist, daß Dionysios, als er dem syrakusischen Aufgebot
in Leontinoi sich zu sammeln befahl, selbst annahm tiöv ZupaKoaiuJV
Tou? irXeiaTou? ovib' f^Heiv eiq Aeovrivouc (Diod. XIII 95, 3).
412 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
hatte. Während des Rückzuges von Kamarina kam es zur
Meuterei im Heere; die syrakusischen Reiter, Männer aus
den ersten Familien der Stadt, sprengten nach Syrakus, wo
sie ohne Widerstand zu finden sich des Arsenals bemächtigten;
das Haus des Herrschers wurde ausgeplündert, seine junge
Gemahlin so furchtbar mißhandelt, daß sie den Folgen erlag.
Darauf zerstreuten die Reiter sich in ihre Häuser, im Glauben,
daß alles getan sei. Aber Dionysios folgte ihnen auf dem
Fuße, an der Spitze seiner zuverlässigsten Söldner; um Mitter-
nacht stand er vor der Stadt, das Tor wurde erbrochen, der
Marktplatz besetzt, die Reiter, die sich vereinzelt und ohne
Ordnung zur Wehr stellten, zum Teil niedergehauen, zum
Teil aus der Stadt geschlagen. Die Herrschaft des Tyrannen
war jetzt fester begründet als je ^.
Im karthagischen Heere war schon während der Be-
lagerung von Akragas eine Epidemie ausgebrochen, welcher
der König Hannibal selbst zum Opfer gefallen war; jetzt trat
die Seuche mit verstärkter Heftigkeit auf. Imilkon, der seinem
Großoheim Hannibal in der Königswürde und im Oberbefehle
gefolgt war ^, konnte unter diesen Umständen nicht daran
denken, die Belagerung einer Festung wie Syrakus zu be-
ginnen, um so weniger, als der Winter herannahte. Auch
hatte Sparta jetzt, nach dem Siege von Aegospotamoi (unten
S. 424), die Hände frei, und es war mit Sicherheit voraus-
zusehen, daß es Syrakus nicht im Stiche gelassen haben würde.
Imilkon eröffnete also Unterhandlungen, und Dionysios wies
die gebotene Hand nicht zurück. Man einigte sich auf der
Grundlage des gegenwärtigen Besitzstandes. Die eroberten
Griechenstädte sollten Karthago gehören, die vertriebenen
* Diod. XIII 112 f. ; über den Tod der Gemahlin des Dionysios auch
Diod. XIV 44, Plut. Dion 3.
2 Klio VII, 1907, S. 25.
3 Diod. XIII 114. Katane und Naxos werden nicht ausdrücklich erwähnt;
da aber sogar die Unabhängigkeit von Leontinoi ausbedungen wurde (vgl.
Diod. XIV 14 f.), das im syrakusischen Besitz war, so ist klar, daß dasselbe
von den beiden nördUch davon gelegenen Städten zu gelten hat, die bereits von
Syrakus unabhängig waren. Das argumentum ex silentio darf Diodor gegenüber
noch weniger angewendet werden als sonst.
Aufstand in Syrakus, — Frieden mit Karthago. — Alkibiades' Rückkehr, 413
Bürger als tributpflichtige Untertanen zurückkehren; auch
die Elymer und Sikaner sollten Karthago unterworfen sein.
Dionysios wurde als Herrscher von Syrakus anerkannt; den
Sikelern wurde die Unabhängigkeit gewährleistet, ebenso den
Griechenstädten im Osten der Insel, Messene, Naxos, Katane;
Leontinoi, das seit 423 mit Syrakus vereinigt war, wurde als
selbständige Gemeinde wieder hergestellt. Kamarina, Gela,
Akragas wurden, so gut es gehen wollte, neu aufgebaut; im
Gebiet des zerstörten Himera hatten die Karthager schon
vor zwei Jahren die Kolonie Thermae gegründet, in der nun
die noch übrigen Himeraeer Aufnahme fanden ^. Die Hälfte
der Insel war jetzt von Karthago abhängig.
Während so die große Demokratie des Westens sich
in eine Militärmonarchie umwandelte, ging auch die große
Demokratie des Ostens mit schnellen Schritten ihrem Unter-
gang entgegen. Es schien eine Zeitlang, als ob auch hier die
Monarchie zum Siege gelangen sollte. Wenn Athen die Folgen
der sicilischen Katastrophe und des Abfalls seiner Bündner
überwunden, wenn es die Herrschaft des Aegaeischen Meeres
wiedergewonnen hatte, so verdankte es das zum großen Teil
dem Feldherrngenie des Alkibiades. Dieser stand seit 411
an der Spitze der Flotte, nicht durch Wahl des Volkes in Athen,
sondern der Mannschaften der Flotte selbst, und damit frei
von jeder Verantwortlichkeit gegen die Behörden daheim;
der Sache nach war er während dieser Zeit Diktator im größten
Teil des athenischen Reiches. Jetzt , nach der vollendeten Unter-
werfung des Hellespontes, schien der Augenblick gekommen,
wo er seine Hand auch nach der Herrschaft über Athen aus-
strecken konnte. Er ließ sich also im Frühjahr 407 vom Volk
zum Strategen wählen und hielt auf die Nachricht von der
erfolgten Wahl unter dem Jubel von Tausenden seinen Einzug
in die Vaterstadt, die er vor 8 Jahren an der Spitze der nach
Sicilien bestimmten Flotte verlassen hatte (Ende Thargelion, im
Juni 407). Seine Ankunft brachte alle Opposition zum
^ Diod. XIII 79, Cic. Verr. II 35, 86, vgl. Freeman Hist. of Sic. III 510 ff.
Als Flecken des himeraeischen Gebietes hat Thermae schon vorher bestanden
(Phihst. fr. 20, aus dem III. Buch, bei Steph. Byz. Qip)ia).
414 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Schweigen, die sich etwa noch regte; feierlich wurde er von
dem religiösen Fluche gelöst, der vom Mysterienprozeß her auf
ihm lastete, sein Vermögen wurde ihm zurückgegeben, ein
Volksbeschluß verlieh ihm unbeschränkte Vollmacht für die
Leitung des Krieges ^.
Das Ziel schien erreicht; nur noch ein letzter Schritt
blieb zu tun, und Freund und Feind erwartete, daß er ge-
schehen würde. Die Bewerbung um die Strategenwürde
und die Rückkehr nach Athen hatte nur dann einen Zweck,
wenn Alkibiades entschlossen war, die bestehende Verfassung
über den Haufen zu werfen, um in Athen dieselbe Stellung
einzunehmen, die er bisher auf der Flotte gehabt hatte. Sonst
war die Rückkehr nach Athen ein schwerer politischer Fehler,
da Alkibiades damit nur seine bisherige Machtvollkommenheit
opferte, ohne irgend ein greifbares Äquivalent dafür einzu-
tauschen. Denn dieselbe Volksgunst, die ihn heute zu den
höchsten Ehren erhoben hatte, konnte ihn morgen herab-
stürzen, so lange seine Macht keine andere Grundlage hatte,
als die wechselnden Majoritäten der Volksversammlung. Und
es ist sehr wahrscheinlich, daß die Herrschaft ihm zugefallen
wäre, wenn er es gewagt hätte, die Hand danach auszustrecken.
War doch ganz Athen überzeugt, daß nur unter Alkibiades'
Leitung eine siegreiche Beendigung des Krieges zu hoffen
war; die besitzenden Klassen aber und namentlich alle, die
bei der oligarchischen Bewegung kompromittiert waren,
würden die Tyrannis begrüßt haben als Erlösung von der
Pöbelherrschaft, in die Athen unter Kleophons Leitung mehr
und mehr zurücksank 2.
1 Xen. Hell. I 4, 8—20, Diod. XIII 68 f., Plut. Alk. 32—34, Nepos Ale. 6,
lustin. V 4, 6 — 18. Die Rückkehr erfolgte am Plynterienfeste, über dessen
Kalenderzeit A. Mommsen, Feste der Stadt Athen S. 491 ff. Über die Rückgabe
des Vermögens (in Grundstücken, statt in Geld) auch Isokr. 16 irepl ToO
ZeuYOU(;) 46.
- Über die Stimmung in Athen Xen. Hell. I 4, 16—17, Diod. XIII 68, 4—6,
Plut. Alk. 34. Vgl. auch die ein Jahr später geschriebenen Frösche des Aristo-
phanes. Über die Verfolgungen gegen die Mitglieder der gestürzten Ohgarchie
Lys. 25 (briiuou KaxaX.) 25, 30 (giVjÄom.) 7, und namentlich die Rede /Pö/ysir.,
vgl. Aristoph. Frösche 686 ff.
Neuschöpfung der peloponnesischen Flotte. — Lysandros. 415
Aber wie einst in Sicilien, verließ Alkibiades auch jetzt
in der entscheidenden Stunde der Mut, aus der Bahn der
Gesetzlichkeit herauszutreten und alles an alles zu wagen.
Er ließ die Gelegenheit vorübergehen, zum eigenen Verhängnis
und zum Verhängnis Athens. Nachdem er den ganzen Sommer
in Athen vertrödelt hatte, ging er endlich im Herbst an der
Spitze von 100 Trieren, 1500 Hopliten und 150 Reitern zur
Unterwerfung loniens in See, begleitet von den hochgespannten
Erwartungen seiner Mitbürger. Er sollte die Heimat niemals
wiedersehen ^.
Auf dem Kriegsschauplatze hatten die Verhältnisse
sich indessen zuungunsten Athens wesentlich verändert.
Seit dem Tage von Kyzikos waren die Peloponnesier unab-
lässig bemüht gewesen, eine neue Flotte zu schaffen; und
wenn auch die Abberufung der sicilischen Kontingente diese
Bemühungen sehr erschwert hatte, so wurde das Ziel doch
endlich erreicht. Im Sommer 407 lag bei Ephesos eine Flotte
von 70 Schiffen versammelt, die dann bis zum Winter auf 90
vermehrt wurde; w^ohl war diese Flotte der athenischen
weder an Zahl noch an Qualität gewachsen, aber sie reichte
doch immerhin aus, diese bis zu einem gewissen Punkte im
Schach zu halten und ihre Operationen zu hemmen ^.
Vor allem aber, die Spartaner fanden zur Führung ihrer
Flotte endlich den rechten Mann. Der neue Nauarch Lysandros,
der Sohn des Aristokritos, der im Frühjahr den Befehl über-
nommen hatte, stammte aus wenig begütertem Hause, das
freilich seinen Ursprung, gleich den Königen, auf Herakles
zurückführte. Als Soldat von erprobter Tüchtigkeit und
einer der ersten Feldherren seiner Zeit, verdankte er seine
Erfolge doch hauptsächlich seinem diplomatischen Geschick
und der Gabe, die Menschen seinen Zwecken dienstbar zu
machen. Sein Leben lang hat er nur den einen Ehrgeiz gekannt,
seinem Lande zu nützen. Alle niederen Leidenschaften lagen
tief unter ihm; Millionen sind durch seine Hände gegangen,
ohne daß er für sich selbst auch nur eine Drachme genommen
1 Xen. Hell. I 4, 21, Diod. XIII 69, 4, Plut. Alk. 35.
- Xen. Hell. I 1, 32; 5, 1. 12.
416 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
hätte. Der Mann, der mit fast unbeschränkter Machtvoll-
kommenheit über halb Hellas geboten hatte, ist in Armut
gestorben ^.
Daneben gestalteten die Beziehungen zu Persien sich
intimer als je. Statt wie bisher mit den Satrapen zu verhandeln,
hatten die Spartaner endlich eine Gesandtschaft zum König
hinaufgeschickt (408), und dieser war es gelungen, den per-
sischen Hof zu überzeugen, daß die von Tissaphernes befolgte
Schaukelpolitik dem Interesse des Reichs nicht entspreche.
Tissaphernes wurde demgemäß seiner Stellung als Satrap
von Sardes entsetzt und auf Karlen südlich des Maeandros
beschränkt ^; nach Sardes aber wurde als Satrap von
Lydien, Großphrygien und Kappadokien, zugleich als Ober-
feldherr aller Streitkräfte in Kleinasien, im Frühjahr 407
Kyros gesandt, der zweite Sohn des Königs Dareios, ein eben
dem Knabenalter entwachsener Jüngling von hohem Streben,
dessen Ziel es war, dereinst statt seines älteren Bruders Arta-
xerxes die Tiara der Achaemeniden zu tragen. Er war von
seinem Vater angewiesen, den Peloponnesiern kräftige Unter-
stützung zu gewähren, und er erkannte bald, daß es auch
für seine eigenen Zwecke vom höchsten Werte sei, sich an
Sparta einen sicheren Rückhalt zu schaffen. Lysandros'
diplomatische Geschmeidigkeit trug viel dazu bei, diese An-
näherung zu erleichtern; und so flössen denn die persischen
Subsidien für die peloponnesische Flotte jetzt so reichlich,
wie nie zuvor ^.
1 Plut. Lys. 2, Theopomp. fr. 21. 22 {FHG. I 281). Nach Phylarch fr. 44
bei Athen. VI 271 e, und Aehan Verm. Gesch. XII 43 wäre Lysandros Mothake
gewesen (Sohn eines spartiatischen Vaters und einer heilotischen Mutter); eine
Fabel, die keiner Widerlegung bedarf. Wenn Isokr. Paneg. 111 sagt, die Mit-
glieder der Dekarchien fjpoOvTO tOuv eiXdjTUJV ^vi bouXeüeiv, so geht das auf
die Harmosten, nicht auf Lysandros.
^ Tralleis gehörte zu Kyros' Satrapie: Xen. Anab. I 4, 8.
3 Xen. Hell. I 4, 1—5; 5, 1—10, Anab. I 1, 2; 9, 7, Diod. XIII 70, Plut
Lys. 4. 5, Alk. 35. Nach Plut. Artox. 2 wäre Kyros nach der Thronbesteigung
seines Vaters Dareios (424/3) geboren, also 407 höchstens 17 Jahre alt gewesen.
Dementsprechend heißt er Plut. Lys. 4 |ueipdKiov (vgl. Lys. 9). Die Zweifel
Büngers (Fleckeisens Jahrb. CLI, 1895, 375 ff.) scheinen mir unbegründet. Aller-
Kyros in Kleinasien. — Schlacht bei Notion. — Alkibiades' Sturz. 417
Unter diesen Umständen blieben die Hoffnungen un-
erfüllt, die man in Athen an das Aussegeln der großen Flotte
untcyf Alkibiades geknüpft hatte. Für größere Unternehmungen
war der Winter ohnehin nicht die geeignete Zeit; bald hatte
Alkibiades mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, bei
denen es ohne schwere Bedrückung der Bundesgenossen nicht
abging. Endlich gelang es Lysandros, während Alkibiades
auf einer Expedition abwesend war, der zur Beobachtung
von Ephesos vor Notion liegenden athenischen Flotte eine
Niederlage beizubringen, bei der 15 Trieren in seine Hände
fielen; der erste Mißerfolg zur See, den Athen seit 5 Jahren
erlitten hatte (Frühjahr 406) ^
Es war nur eine verhältnismäßig unbedeutende Schlappe,
welche die militärische Lage ganz unverändert ließ; aber sie
machte in Athen einen um so tieferen Eindruck, je sicherer
man auf große Siege unter Alkibiades' Führung gerechnet
hatte. Dessen zahlreiche Feinde säumten nicht, diese Stimmung
auszubeuten; und sie erreichten es denn auch, daß bei den
Strategenwahlen, die unmittelbar nach der Niederlage ge-
halten wurden, Alkibiades unterlag. Nach Athen zurück-
zukehren verschmähte er; da sein Ansehen auch auf der Flotte
erschüttert war, legte er den Befehl sogleich nieder; er war
zu hoch gestiegen, als daß er wie ein gewöhnlicher Feld-
herr zur gesetzlichen Rechenschaftsablage sich hätte stellen
mögen. So ging er in freiwillige Verbannung auf die festen
Schlösser am Hellespont, deren Besitz er sich während der
Zeit seiner Macht als Zuflucht für den äußersten Notfall ge-
sichert hatte. Das Kommando auf der Flotte übernahm
dings soll Kyros' Bruder Artaxerxes 86 (Deinon bei Plut. Artox. 30) oder 94
([Lukian] laoKpöß. 15) Jahre alt geworden sein; da er 358 starb, wäre er also
444 oder 452 geboren. Ein so großer Altersunterschied zwischen beiden Brüdern
wäre allerdings wenig wahrscheinlich; es ist aber sehr fraglich, ob auf die Zahlen
Verlaß ist. Jedenfalls hätte Bünger nicht ,, Kinder des Kyros" aus Plut. Artox. 3
herauslesen sollen. — Idealisierte Charakteristik des Kyros bei Xen. Anab. I 9;
sie läuft genau besehen darauf hinaus, daß er gut zahlte, und seine Leute auch
sonst gut behandelte.
1 Xen. Hell. I 5, 11—14, Diod. XIII 71, Plut. Lys. 5, Alk. 35, Nepos Ale. 7,
lustin. V 5 (wertlos).
Beloch, Griech. Geschichte II, i. 2. Aufl. 27
418 >^il- Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Konon von Anaphlystos, einer der Mitfeldherren des Alki-
biades, der bei den Wahlen für das nächste Jahr im Amte
bestätigt worden war ^. ^
Um diese Zeit machten die Peloponnesier den Versuch,
Athen durch einen Handstreich zu nehmen. Agis, der noch
immer in Dekeleia stand, zog Verstärkungen an sich und
führte dann sein Heer, 12 000 Hopliten und ebensoviel leichte
Truppen nebst 1200 Reitern, in einer mondlosen Nacht gegen
die Stadt. Doch die Athener hielten gute Wacht und eilten
sogleich auf die Mauer, so daß Agis nichts übrig blieb, als
unverrichtetersache wieder abzuziehen ^.
Lysandros' Amtsjahr war inzwischen längst abgelaufen
und Kallikratidas übernahm den Befehl über die Flotte (Früh-
jahr 406). Der neue Nauarch war ein Spartaner von altem
Schrot und Korn, der sich nicht dazu hergab, Kyros den Hof
zu machen; was dann zur Folge hatte, daß dieser ihm die
Subsidien sperrte. Gleichwohl gelang es Kallikratidas, mit
Unterstützung der kleinasiatischen Bundesstädte, die sehr
wohl wußten, was auf dem Spiele stand, seine Flotte auf
140 Trieren zu verstärken, und er war damit in der Lage, eine
kräftige Offensive zu ergreifen. Das athenische Kastell am
Delphinion auf Chios wurde erstürmt, dann Teos und Me-
thymna genommen. Konon war viel zu schwach, diese Erfolge
zu hindern; denn seine Seeleute, denen er aus Geldmangel
den Sold' nur unregelmäßig zahlen konnte, desertierten in
Masse, so daß der Bestand seiner Flotte auf 70 Trieren herab-
sank. Endlich zwang ihn Kallikratidas vor dem Hafen von
Mytilene zur Schlacht; 30 attische Trieren wurden genommen,
der Rest in Mytilene eingeschlossen. Auch ein athenisches
Geschwader von 12 Trieren, das von Samos zur Hilfe herbei-
kam, wurde bis auf 2 Schiffe genommen. Die große Flotte
1 Xen. Hell. I 5, 15—18, Diod. XIII 73 f., Plut. Alk. 36, Lys. 5, Nepos
Ale. 7, vgl. Lys. gAlk. I 36 ff., Isokr. 16, 38. Weiteres unten 2. Abt. § 107.
^ Diod. XIII 72, der die Sache gleich nach der Schlacht bei Notion und
vor Alkibiades' Absetzung erzählt. Daß Xenophon nichts davon erwähnt, ist
kein genügender Grund, in dem Bericht Diodor ein Duplikat des Angriffs im
Jahr 410 zu sehen, der bei Diodor übergangen wird.
Schlacht an den Arginusen. 419
die so lange das Aegaeische Meer beherrscht hatte, bestand
nicht mehr: der Fall der belagerten Stadt schien in kurzer
Frist zu erwarten, und damit war menschlichem Ermessen
nach die Entscheidung des Krieges gegeben ^.
So hatte sich die Lage gewandelt, seit Alkibiades vor
kaum einem Jahre zur Unterwerfung loniens ausgesegelt
war. Aber man begriff in Athen, daß es gelte, das äußerste
aufzubieten, um den drohenden Schlag abzuwehren. Was
noch von Schiffen im Arsenale lag, wurde in Stand gesetzt,
alle kriegstüchtige Mannschaft in Attika aufgeboten; den
-Metoeken wurde das Bürgerrecht, den Sklaven die Freiheit
versprochen ^. Zur Bestreitung der Kosten wurde fast alles
eingeschmolzen, was an Weihgeschenken aus edlem Metall
in den Tempeln auf der Akropolis noch übrig war ^; selbst
die goldenen Statuen der Siegesgöttin wanderten bis auf zwei
in die Münze, doch wurde das Gewand der Parthenos selbst
in dieser Zeit höchster finanzieller Bedrängnis nicht an-
getastet. So wurden 110 Trieren bemannt; Samos stellte
10 Schiffe, aus allen Teilen des Aegaeischen Meeres wurden
die zerstreuten Geschwader herangerufen. Nach Verlauf eines
Monats konnten 150 Trieren zum Entsatz von Mytilene in See
gehen. Auf die Nachricht davon teilte Kallikratidas seine
Flotte, die inzwischen auf 170 Trieren verstärkt worden war;
er ließ 50 Schiffe vor Mytilene zurück und fuhr selbst mit
120 Schiffen dem Feinde entgegen. Bei der Inselgruppe
der Arginusen, am südlichen Eingang in den Sund von Lesbos,
kam es zur Seeschlacht, der größten, die bisher in diesem
Kriege geschlagen worden war, und noch einmal blieb der
Sieg den Athenern. Kallikratidas fiel, mehr als 70 seiner
1 Xen. Hell. I 5, 20—6, 24. Diod. XIII 76—78. Polyaen. I 48, 2. Er-
oberung des Delphinion und von Teos (die Handschr. geben 'Hiöva, was nach
Diod. XIII 76, 4 zu verbessern ist): Xen. Hell I 5, 15. Wann Teos, das 412
zu den Peloponnesiern abgefallen war (oben S. 376), von den Athenern zurück-
gewonnen worden ist, wird nicht überliefert.
- Xen. Hell. I 6, 24. Diod. XIII 97, 1. Aristoph. Frösche 33. 190. 693 f.,
und Hellanikos in den Scholien zu letzterer Stelle; über die Niken Foucart,
Bull. Corr. Hell. XII, 1888, S. 283 ff.
=» CIA. I 140 S. 69, vgl. S. 77, Schol. Aristoph. Frösche 720.
27*
420 XII, Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Schiffe wurden versenkt oder genommen, der Rest rettete
sich nach Chios und Phokaea. Hätten die athenischen Feld-
herren ihren Sieg kräftig verfolgt, so konnte auch das Blockade-
geschwader vor Mytilene vernichtet werden. Aber statt zu
handeln, hielten sie Kriegsrat ab; darüber setzte ein heftiger
Nordwind ein, der nicht nur die Fahrt nach Mytilene unmög-
lich macKte, sondern die Athener auch an der Rettung ihrer
eigenen Schiffbrüchigen verhinderte. So gelang es den Pelo-
ponnesiern, ihre Landtruppen und Vorräte an Bord zu nehmen
und ihr Geschwader nach Chios in Sicherheit zu bringen
(August 406) 1.
Auch so hatten die Athener Großes erreicht; Konon
war entsetzt, das maritime Übergewicht Athens wieder her-
gestellt. Aber freilich war der Sieg teuer erkauft; 25 Trieren
mit fast ihrer ganzen Mannschaft waren verloren gegangen,
und diese Verluste wurden um so schwerer empfunden, als
die Flotte diesmal nicht wie sonst mit gemieteten Ruderern,
sondern zum großen Teil mit athenischen Bürgern bemannt
war. Bald ging das Gerücht, die auf den Wracks und den
Schiffstrümmern umhertreibenden Seeleute hätten gerettet
werden können, wenn die Strategen sie nicht hilflos ihrem
Schicksal überlassen hätten. Daraufhin wurden die Feld-
herren vom Amt suspendiert und zur Rechenschaft nach Athen
gerufen. Sie versuchten es nun, die Verantwortung auf die
Trierarchen abzuwälzen, denen sie die Bergung der Schiff-
brüchigen befohlen hatten, darunter Thrasybulos und Thera-
menes; aber sie verschlimmerten damit nur ihre Lage, denn
jetzt waren Theramenes und seine Genossen gezwungen,
um ihrer Rettung willen zu Anklägern der Strategen zu werden.
Es wurde ihnen denn auch nicht schwer, nachzuweisen, daß
sie den Befehl, die Schiffbrüchigen zu bergen, erst erhalten
hatten, als der Sturm jeden Rettungsversuch unmöglich
machte, und damit die Verantwortung auf die Strategen
zurückzuwerfen. Die Erbitterung gegen diese wuchs nun beim
Volk höher und höher; man beschloß, die Sache nicht an das
1 Xen. Hell I 6, 19—38, Diod. XIII 97—100. Über die Chronologie
unten 2. Abt. § 103.
Feldherrenprozeß in Athen. 421
Gericht zu verweisen, sondern in der Volksversammlung
selbst zur Verhandlung zu bringen. Nach zwei stürmischen
Sitzungen wurde das Urteil gesprochen, gegen das Herkommen
nicht über jeden Angeklagten einzeln, sondern über alle zu-
gleich; es lautete auf den Tod und Einziehung des Vermögens.
Von den 8 Strategen, die bei den Arginusen befehligt hatten,
hatten zwei, Protomachos und Aristogenes, in richtiger Er-
kenntnis der Lage es überhaupt nicht gewagt, sich dem Volke
zu stellen; die übrigen sechs wurden hingerichtet. Es waren
Perikles, der Sohn des großen Perikles und der Aspasia, Thra-
syllos, der bei der demokratischen Erhebung auf Samos in
erster Reihe gestanden, dann Diomedon, Lysias, Erasinides
und Aristokrates, alles gute Demokraten und verdiente Offi-
ziere, die nach dem großen Siege, durch den sie soeben Athens
Meeresherrschaft gerettet hatten, wohl auf mildere Beurteilung
Anspruch gehabt hätten, selbst wenn sie wirklich nicht alles
getan haben sollten, was zur Rettung ihrer verunglückten
Leute möglich war. So hat Sokrates die Sache angesehen, der
bei der entscheidenden Abstimmung unter den Prytanen saß;
und die öffentliche Meinung Athens ist bald zu derselben
Einsicht gekommen. Die Verurteilung der Feldherren von
Seiten der erregten Volksmenge ist menschlich zu begreifen
und also auch zu entschuldigen; aber sie bleibt ein Schandfleck
für Athen oder vielmehr für die Verfassung, unter der solche
Dinge geschehen konnten (Oktober 406) ^.
1 Xen. Hell. I 7, II 3, 32. 35, Diod. XIII 101—103. Die beste neuere
Darstellung ist noch immer die von Grote (Kap. 64, VII 417 ff.). Daß eine
Verletzung des formellen Rechtes bei dem Prozeß nicht stattgefunden hat, ist
richtig (Fränkel, Att. Geschworenenger., Berlin 1877, S. 75 ff.), aber nur darum,
weil die Verteidiger der Strategen gegenüber dem Toben des Volkes nicht den
Mut hatten, die Ypc^pn Ttapvöjaujv aufrecht zu erhalten, die sie gegen den An-
kläger Kallixenos angemeldet hatten. Es ist ganz falsch, zu meinen, die Strategen
wären verurteilt worden, weil sie die Bergung der Toten unterlassen hätten
(so schon Diod. XIII 100 f.); er handelte sich in erster Linie um die Schiff-
brüchigen (Xenophon spricht stets von den vauaTOi, vgl. ganz besonders Hell.
I 7, 11). Herbst, Schlacht bei den Argimcsen (Progr. Hamburg 1855) ist ziemlich
wertlos und in der Auffassung verfehlt. Über Theramenes' Haltung meine
Att. Politik S. 87 f. Bezeichnenderweise machen ihm die Neueren einen Vor-
422 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Politische Motive scheinen bei der Anklage gegen die
Feldherren kaum mitgespielt zu haben. Aber es konnte doch
nicht fehlen, daß die Partei des Alkibiades ihren Vorteil aus
dem Sturz des Strategenkollegiums zog, das im letzten Früh-
jahr Alkibiades und seine Freunde aus ihrer leitenden Stellung
verdrängt hatte. Alkibiades' Rückberufung wurde jetzt in
Athen lebhaft erörtert ^, und wenn auch bei der Tyrannen-
furcht der Menge diese Agitation erfolglos blieb, so war doch
Alkibiades' Freund Adeimantos unter den neuen Strategen,
die zum Ersatz der hingerichteten Feldherren erwählt wurden.
Auch Theramenes wurde gewählt, seine Wahl aber bei der
Prüfung vor Gericht kassiert ^. Kleophons Einfluß blieb nach
wie vor in Athen maßgebend. An die Spitze der Flotte traten
Konon, Adeimantos und Philokles; im Frühjahr wählte man
noch drei andere Strategen hinzu, Menandros und Tydeus,
die bereits in Sicilien befehligt hatten, und Kephisodotos,
der jetzt zum ersten Male hervortritt. Die Feldherren sollten
täglich im Oberbefehl abwechseln, wodurch natürlich jede
Einheitlichkeit der Leitung verloren ging ^.
Wurf daraus, daß er sich gegen die Anklage der Strategen verteidigte (wenn
Kritias das bei Xen. Hell. VI 3, 32 tut, so ist das etwas ganz anderes), während
sie von Thrasybulos kein Wort sagen. Cet animal est tres mechant, quand on
l'attaque, ü se defend. Und doch hat Theramenes die Strategen zu entlasten
versucht (Xen. Hell. 17, 6). Wohl aber ist klar, daß die Strategen sich selbst
um die Rettung, der Schiffrührigen hätten bekümmern müssen, und es gibt
überhaupt nichts Verächtlicheres, als wenn ein Vorgesetzter seinen Unter-
gebenen zum Sündenbock machen will. Perikles und Diomedon, die Gentlemen
waren, hatten das zu verhindern gesucht (Xen. Hell. I 7, 17). — Aristokrates
ist wahrscheinlich nicht identisch mit dem gleichnamigen Taxiarchen, der an
Theramenes Seite die Herrschaft der Vierhundert stürzen half, sondern mit
dem CIA. I 188 erwähnten Strategen der Flotte auf Samos, vgl. meine Alt.
Politik S. 327 und unten 2. Abt. § 112.
^ Aristoph. Frösche 1422 ff.
* Lysias 13 (gAgorat.) 10, vgl. meine Atiische Politik S. 90.
3 Xen. Hell. I 7, 1, über den Wechsel im Oberbefehl Diod. XIII 106.
Tydeus (der Name ist in Athen selten) ist zweifellos identisch mit dem in der
Rede für Polystraios 26 erwähnten athenischen Befehlshaber in Katane; Menan-
dros wird derselbe sein, der im Frühjahr 413 Nikias im Befehl vor Syrakus
beigeordnet wurde (Thuk. VII 16).
Die neuen Strategen. — Friedensverhandlungen. 423
In Sparta mußte die Niederlage bei den Arginusen einen
noch tieferen Eindruck machen, als einst die Niederlage bei
Kyzikos. Damals waren nur die leeren Schiffe verloren ge-
gangen; jetzt betrug der Verlust über 70 Trieren mit der
ganzen Bemannung, gegen 14 000 Mann; noch keine Schlacht
dieses Krieges hatte auch nur annähernd solche Opfer gekostet.
Und Sparta selbst war besonders schwer betroffen; denn von
den 10 Schiffen, die es gestellt hatte, hatte nur eins sich zu
retten vermocht. Athens Hilfsquellen aber schienen uner-
schöpflich und das Ende des Krieges ferner als je. Schon
vor zwei Jahren, nach Alkibiades' Erfolgen am Bosporos,
hatte man Verhandlungen angeknüpft, zunächst zum Aus-
tausch und der Auslösung der Gefangenen ^; jetzt entschloß
man sich, noch einmal den Frieden anzubieten, natürlich
wieder auf der Grundlage des gegenwärtigen Besitzstandes,
die allein möglich war. Aber Kleophon war nach dem neuen
glänzenden Siege weniger als je geneigt, einem Frieden zuzu-
stimmen, der Athens Machtgebiet nicht im vollen Umfange
wieder herstellte; und auf seinen Betrieb wurden die lake-
daemonischen Vorschläge abgewiesen ^.
Kyros und die ionischen Bundesgenossen der Pelo-
ponnesier verlangten nun, daß Lysandros wieder an die Spitze
der Flotte gestellt würde, der einzige Mann, der sich bisher
in der Leitung des Seekrieges bewährt hatte; und Sparta
konnte sich dieser Forderung nicht entziehen. Es gab aller-
dings ein Gesetz, wonach niemand mehr als einmal im Leben
die Nauarchie bekleiden durfte; man half sich also damit,
daß man Lysandros zwar nicht den Titel, wohl aber die Kom-
petenz eines Nauarchen gab ^ Die reichlichen Hilfsgelder,
die Kyros nun zahlte, machten es Lysandros leicht, die bei den
1 S. das von Usener, Fleckeisens Jahrb. CHI, 1871, S. 311 ff. hergestellte
Fragment Androtions (Archon EÖKTr||uuuv, 4(^/1).
^ Aristot. ATT, 34, 1, vgl. Aristophanes am Schlüsse der Frösche. Grote
(VIII S. 1 A.) würde die Richtigkeit dieser Angabe kaum bezweifelt haben,
hätte ihm statt der Scholien zu Aristophanes der Text der 'ASrivailuv iroXiTefa
selbst vorgelegen.
3 Xen. Hell. II 1, 6 f., Plut. Lys. 7, näheres unten 2. Abt. § 115.
424 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Arginusen erlittenen Verluste zu ersetzen; freilich erforderte
die Rüstung Zeit, und erst im Hochsommer 405 war die pelo-
ponnesische Flotte imstande, wieder die Offensive zu er-
greifen ^. Sie wandte sich nach dem Hellespont, wo Lam-
psakos mit Sturm genommen wurde. Die Athener folgten
sogleich und legten sich Lampsakos gegenüber am Ufer des
thrakischen Chersones auf der offenen Reede von Aegos-
potamoi vor Anker; im Vertrauen auf ihre überlegene See-
tüchtigkeit glaubten sie den Rückhalt eines befestigten Platzes
entbehren zu können. An Stärke standen die beiden Gegner
sich annähernd gleich; die Athener hatten 180, die Pelo-
ponnesier gegen 200 Trieren; aber Lysandros weigerte sich
die Schlacht anzunehmen, welche der Feind ihm anbot, und
blieb mit seinen Schiffen unbeweglich im Hafen von Lam-
psakos. Erst am fünften Tage schritt er unvermutet zum
Angriff, eben als die Athener, durch sein langes Zögern sicher
gemacht, sich am Lande zerstreut hatten. Rasch durchschnitt
die peloponnesische Flotte die schmale Meerenge; den Athenern
blieb keine Zeit, ihre Schiffe zu bemannen oder gar sich in
Schlachtordnung aufzustellen. So fiel die athenische Flotte
fast ohne Widerstand in die Hände des Feindes; nur 20 Schiffe
mit dem Strategen Konon entkamen. Von der Bemannung
der übrigen Flotte rettete sich der größte Teil nach Sestos
und anderen Plätzen des Chersones; immerhin machte der
Sieger viele Tausende von Gefangenen. Die Athener darunter,
3000 Mann, ließ Lysandros in Lampsakos hinrichten, zur
^ Die Stärke der athenischen Flotte gibt Xen. Hell. II 1, 30 auf 180 Schiffe
an, Diod. XIII 104, 2 auf 173, von denen 20 bei Samos zurückgebUeben wären
(die letztere Angabe bestätigt durch CIA. IV 2, 1); die peloponnesische Flotte
war nach Plut. Lys. 9 der athenischen an Zahl der Schiffe ungefähr gleich, nach
Xenophon II 2, 5 zählte sie nach der Schlacht 200 Trieren. Vor Athen hatte
Lysandros dann, nach manchen Entsendungen, noch 150 Trieren (Xen. Hell.
II 2, 9). Eine Aufzählung der einzelnen Kontingente und ihrer Führer gibt
Paus. X 9, 7 — 10 nach dem delphischen Siegesdenkmal; die Inschriften dieses
Denkmals sind jetzt bei den Ausgrabungen wieder aufgefunden (Homolle,
Bull. Corr. Hell. XXI, 1897, S. 284 ff. Pomtow, Athen. Mut. XXXI, 1906,
S. 505. Inschrift der Statue Lysandros' in Delphi Jahrb. Arch. Inst. XVII, 1902,
Anz. S. 18).
Schlacht bei Aegospotamoi, 425
Repressalie für Barbareien, welche von athenischer Seite
gegen peloponnesische Gefangene verübt worden waren. Nur
Adeimantos wurde verschont; wie man meinte, weil er die
Flotte an Lysandros verraten hätte (August / September
405) 1.
Nie ist ein großer Sieg mit geringeren Opfern gewonnen
worden; ohne ein Schiff, ja, fast ohne einen Mann einzubüßen,
hatte Lysandros die ganze athenische Flotte vernichtet. Der
Krieg war entschieden; Athen besaß jetzt keine Mittel mehr,
eine neue Flotte auszurüsten. Selbst die wenigen aus der
Niederlage geretteten Schiffe gingen Athen zum Teile verloren;
denn Konon wagte es nicht, seinen Mitbürgern vor Augen
zu treten, und suchte mit 8 Trieren Zuflucht bei dem Athen
befreundeten Könige von Salamis auf Kypros, Euagoras ^.
Überall brach nun die athenische Herrschaft zusammen;
die festen Plätze des Reiches ergaben sich ohne Widerstand,
um so mehr, als Lysandros den Besatzungen freien Abzug
gewährte. So fiel erst Sestos, dann Byzantion, dann Mytilene;
zehn Schiffe genügten, um das ganze athenische Thrakien
zur Unterwerfung unter Sparta zu bringen. Von allen Bundes-
städten hielt nur Samos fest an der Treue gegen Athen ^.
Eine der geretteten Trieren brachte die Nachricht von
der Vernichtung der Flotte nach dem Peiraeeus. Es war schon
dunkel, als das Schiff in den Hafen einlief; aber die Unglücks-
botschaft verbreitete sich noch am selben Abend gleich einem
Lauffeuer durch die ganze Stadt; und wie ein Zeitgenosse
berichtet, vermochte niemand in dieser Nacht ein Auge zu
schließen. Jetzt stieg die Erinnerung herauf an all die Frevel,
1 Xen. Hell. II 1, Plut. Lys. 7—13, Alk. 36 f., NeposLys. 8, Polyaen. I 45, 2,
Diod. XIII 104 — 106. Der Schlachtbericht Diodors weicht in wesentlichen
Punkten von Xenophon ab und ist größtenteils wertlos. Von Adeimantos' Verrat
spricht auch Lysias 14 {gAlk. I) 38, vgl. Dem. vdGes. 19. In den 12 geretteten
Schiffen, von denen Lys. 21 (diToX. bujpob.) 11 spricht, sind offenbar die 8 Trieren
nicht einbegriffen, die Konon nach Kypros führte, vgl. Isokr. gKallim. 59. Über
die Zeit unten 2. Abt. § 103.
2 Xen. Hell. II, 1, 29, Diod. XIII 106, 6. Athenisches Ehrendekret für
Euagoras aus der Zeit von 407 bis 405 CIA. I 64.
=» Xen. Hell II 2, 1—6, Plut. Lys. 13, Diod. XIII 106.
426 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
die Athen in der Zeit seiner Macht gegen andere hellenische
Städte verübt hatte; man gedachte der Bürger von Melos,
von Skione, von Torone, die man zum Tode geführt, deren
Weiber und Kinder man in die Knechtschaft verkauft hatte,
der Bewohner von Aegina und Histiaea, die man von Haus
und Hof hinweg ins Elend getrieben. Wie, wenn die Sieger
jetzt gleiches mit gleichem vergalten? Aber man war ent-
schlossen, was auch kommen möge, wenigstens mit Ehren
zu fallen. Die Stadt wurde also in Verteidigungszustand
gesetzt, allen denen, die wegen ihrer Teilnahme an der oli-
garchischen Bewegung des Jahres 411 oder als zahlungs-
unfähige Staatsschuldner politisch rechtlos geworden waren,
wurden ihre vollen Rechte zurückgegeben, den treuen Samiern
das athenische Bürgerrecht verliehen. Nur die Verbannten
zurückzurufen, konnte man sich auch jetzt nicht entschließen ^.
Bald erschien Lysandros mit 150 Schiffen im Saronischen
Busen; er nahm Aegina ein, und legte sich dann vor den
Peiraeeus. Gleichzeitig führte König Pausanias, der seinem
Vater Pleistoanax vor vier Jahren (409/8) auf dem Thron
der Agiaden gefolgt war, das Gesamtaufgebot der Peloponnesier
nach Attika, wo er sich mit den Truppen vereinigte, die unter
Agis Dekeleia besetzt hielten. Beide Könige rückten nun
vor Athen und schlugen ihr Lager bei der Akademie, in un-
mittelbarer Nähe der Mauern auf. Sie mußten sich allerdings
überzeugen, daß die Stadt mit Gewalt nicht zu nehmen war;
das peloponnesische Heer kehrte also mit Anbruch des Winters
in die Heimat zurück, und nur die Flotte blieb, um Athen
die Zufuhr zur See abzuschneiden. Nach einigen Monaten,
etwa im Januar, begannen in der volkreichen Stadt die Vor-
räte knapp zu werden, und jetzt endlich bequemten sich
die Belagerten zur Unterhandlung ^. Athen erklärte sich
^ Xen. Hell. II, 2, 3 f. Der Volksbeschluß über die Rehabilitierung der
äTijUoi bei Andok. vdMyst. 11—19, vgl. Xen. Hell. II 2, 11, Lysias 25, 27; der
Beschluß über die Verleihung des Bürgerrechts an die Samier CIA. IV 2, 1 b.
Einsichtige Pohtiker hatten beide Maßregeln schon längst empfohlen; vgl.
Aristoph. Lysistr. 582 ff., Frösche 689 ff.
2 Xen. Hell. II 2, 5—11, Diod. XIII 107, Isokr. 18 (gKalUm.) 60 f.
Belagerung von Athen. — Unterhandlungen. 427
bereit, auf das Reich bis auf Samos und die Kleruchien zu
verzichten und mit Sparta in Bund zu treten. Auf solche
Anerbietungen konnten die Sieger natürlich nicht eingehen;
sie forderten Niederreißung der langen Mauern auf eine Strecke
von 10 Stadien (gegen 2 km) und Abtretung aller auswärtigen
Besitzungen bis auf Lemnos, Imbros und Skyros, wo seit einem
Jahrhundert eine athenische Bevölkerung ansässig war und
es keine alten Bewohner mehr gab, die man hätte zurück-
führen können. Aber Kleophon konnte sich noch immer in die
Lage nicht finden; auf seinen Antrag beschloß das Volk, nie-
manden anzuhören, der es wagen würde, für einen solchen
Frieden zu sprechen ^.
Das war ja nun offener Wahnsinn; denn Athen hatte
von keiner Seite Hilfe zu erwarten, und nur ein Wunder hätte
die Stadt retten können. Jede Verlängerung des Widerstandes
also konnte nur die Folge haben, die Forderungen der Sieger
zu steigern, ja, die Gefahr lag nahe, daß Sparta, wenn die
Verhandlungen einmal abgebrochen waren, ihre Wieder-
aufnahme überhaupt ablehnte und Unterwerfung auf Gnade
und Ungnade forderte. Das abzuwenden, erbot sich Thera-
menes, als Gesandter zu Lysandros zu gehen, um den Versuch
zu machen, bessere Bedingungen zu erwirken; er wußte natür-
lich sehr wohl, daß er nichts erreichen würde, aber es galt, die
Verhandlungen hinzuziehen, bis das Volk zur Besinnung ge-
kommen wäre. So blieb Theramenes drei Monate in Lysandros'
Hauptquartier, während die Hungersnot in Athen immer
höher stieg und zahlreiche Opfer hinwegraffte. Theramenes*
Freunde waren indessen nicht untätig; die Friedenspartei
bekam im Rate das Übergewicht, Kleophon wurde vor Gericht
gestellt, unter der Anklage, seine Pflicht als Offizier nicht
erfüllt zu haben, und wie die Strömung in Athen jetzt ging,
gelang es, seine Verurteilung und Hinrichtung durchzusetzen ^.
^ Xen. Hell. II 2, 12—15, Lys. 13 {gAgorat.) 8, Aesch. vdGes. 76, Plut.
Apophth. Lakon, 22 S. 233. Bei der Aufnahme der Samier in den Bürgerverband
hatte sich Athen, wie natürlich, verpflichtet, keinen Frieden zu schließen, in dem
Samos nicht einbegriffen wäre {CIA. IV 2, 1 b).
- Xen. Hell. II 2, 16, Lysias gEratosth. 68 ff., gAgorai. 9—12. 20, gNikom,
428 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
Der Hauptgegner des Friedens war damit aus dem Wege
geräumt. Theramenes kehrte nun nach Athen zurück und
wurde sogleich an der Spitze einer Gesandtschaft nach Sparta
gesandt, mit unbeschränkter Vollmacht zum Abschlüsse des
Friedens. Natürlich konnte von Bedingungen, wie sie vor
vier Monaten bewilligt worden wären, jetzt nicht mehr die
Rede sein. Ja, die Korinthier, Thebaner und andere sparta-
nische Bundesgenossen stellten die Forderung, daß Athen
zerstört, seine Bürger in die Sklaverei verkauft würden ^.
Von solcher Barbarei war Sparta weit entfernt ^; hat doch
Sparta seit der Eroberung Messeniens niemals eine hellenische
Gemeinde vernichtet. Athen wurde also der Frieden gewährt;
es behielt seine Unabhängigkeit und blieb im Besitze seines
attischen Landgebietes mit Einschluß von Salamis. Dagegen
mußte es alle auswärtigen Besitzungen abtreten, die Be-
festigungen des Peiraeeus und die langen Mauern, die den
Hafen mit der Stadt verbanden, niederreißen, seine Kriegs-
schiffe bis auf 12 ausliefern, die Verbannten zurückrufen
und sich Sparta gegenüber zur Heeresfolge verpflichten ^.
10 — 13. Daß Kleophon vor Theramenes' Rückkehr aus Sparta hingerichtet
wurde, sagt Lys. gAgoratos 12; da er aber die beiden Gesandtschaften des Thera-
menes zu Lysandros und nach Sparta zusammenwirft, so steht nichts im Wege,
die Hinrichtung Kleophons schon vor die Rückkehr des Theramenes von Lysan-
dros zu setzen, was aus inneren Gründen sehr wahrscheinlich ist. Nach Schol.
Aristoph. Frösche 679 wäre Kleophon Stratege gewesen, daß er wenigstens
Offizier war, werden wir annehmen müssen, da er für ein Vergehen zum Tode
verurteilt wurde (XemoaTpaTiou), das für einen gemeinen Soldaten nur eine
partielle Atimie im Gefolge gehabt hätte (vgl. Rh. Mus. XXXIX, 1884, S. 255 f.);
auch kann doch ein Mann in Kleophons Stellung nicht wohl als gemeiner Soldat
gedient haben.
1 Xen. Hell. II 2, 19; 3, 8, VI 5, 35. 46, Plut. Lys. 15, Andok. vdMysL 142,
vFr. 21, Isokr. 14 (Plat.) 31 f., 18 (gKallim.) 29.
- lustin. V 8, 4. Es ist eine höchst ungerechtfertigte Behauptung (Polyaen.
I 45, 5), Sparta habe Athen verschont, um sich daran einen Stützpunkt gegen
Theben zu schaffen. Ganz im Gegenteil, politisch hätte es für Sparta gar nichts
Vorteilhafteres geben können als die Zerstörung Athens.
' Xen. Hell. II 2, 20, Plut. Lys. 14 (gibt den Beschluß der Ephoren im
Wortlaut), Andok. vFr. 12, Diod. XIII 107, XIV 3. Nach Diodor und Aristot.
ATT. 34, 3, vgl. lustin. V 8, 5, hätte der Vertrag die Bestimmung enthalten,
•daß in Athen die irÖTpio«; iroXireia bestehen solle; das Friedensinstrument
Der Frieden. — Einnahme von Samos. 429'
Am Tage nach Theramenes' Rückkehr ratifizierte ein
Volksbeschluß diese Bedingungen, und Lysandros fuhr mit
der peloponnesischen Flotte in den Peiraeeus ein, am 16. Mu-
nichion (April / Mai 404). Lysandros begann jetzt sogleich
die langen Mauern niederzureißen, unter dem Jubel seiner
Bundesgenossen; sie meinten, daß nun endlich die Freiheit
der Hellenen gesichert sei. Sie sollten bald genug inne werden,
daß sie nur den Herrn gewechselt hatten ^.
Es blieb noch übrig, Samos zur Unterwerfung zu bringen.
Lysandros ging also nach kurzem Aufenthalt in Athen dorthin
unter Segel und begann die Belagerung. Die Bürger ver-
teidigten sich mit dem Mut der Verzweiflung; wußten sie doch.
daß sie durch die greuelvolle Revolution des Jahres 412 (oben
S. 385) jeden Anspruch auf Schonung verwirkt hatten. Natür-
lich war auch hier aller Widerstand nutzlos; nach einigen
Monaten mußte die *Stadt sich ergeben. Den Bürgern wurde
freier Abzug bewilligt, die vor 8 Jajiren vertriebenen Grund-
eigentümer kehrten in die Heimat zurück und traten wieder
in den Besitz ihrer Güter ^.
Indessen hatten in Athen die Parteien gehadert. Die
heimgekehrten Verbannten drängten auf den Umsturz der
Demokratie, und sie fanden Unterstützung bei den leitenden
Männern des Rates. Auch Theramenes hoffte sein altes Ideal,,
eine gemäßigte Oligarchie, jetzt noch einmal verwirklichen,
zu können. Demgegenüber rüsteten sich die Demokraten zur
Abwehr, an ihrer Spitze die Strategen Strombichides aus
Euonymia und Eukrates aus Kydantidae, ein Bruder des
Nikias; es scheint, daß es darauf abgesehen war, die Führer
der oligarchischen Partei aus dem Wege zu räumen. Doch
wurde die Sache noch rechtzeitig dem Rat hinterbracht, der
bei Plutarch enthält nichts darüber, und aus Lys. gEratosih. 70 ff. ergibt sich,
deutlich, daß die Verfassungsfrage erst nach Lysandros' Rückkehr aus Samos-
zur Sprache kam.
1 Xen. Hell. II 2, 21 f., Plut. Lys. 14 f. (hier auch das Datum, vgl. Thuk.
V 26, 3).
* Xen. Hell. II 3, 6 f., Diod. XIV 3, 4 (vorgreifend erzählt er die Belagerung
schon XIII 106, 8), Plut. Lys. 14. Die Vertnebenen wurden zum Teil in Ephesos.
und Notion aufgenommen {CIA. II 1 b S. 393).
430 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie.
die Häupter der Verschwörung sogleich in Haft nehmen ließ.
Trotzdem glaubten die Oligarchen ohne militärischen Rückhalt
nicht zum Ziele kcrmmen zu können. Sie sandten also Bot-
schaft an Lysandros nach Samos, und dieser lief nun mit seiner
Flotte zum zweitenmal in den Peiraeeus ein. Jetzt wurde
eine Volksversammlung einberufen, in der Theramenes den
Antrag stellte, die Demokratie aufzuheben und zu der Ver-
fassung zurückzukehren, die ,,zur Zeit der Väter" bestanden
hatte. Natürlich erhob sich eine heftige Opposition; da aber
trat Lysandros auf und erklärte, daß Athen den Frieden ge-
brochen habe; denn noch ständen die langen Mauern, obgleich
die zu ihrer Niederreißung gewährte Frist bereits verstrichen
sei; nur bei Annahme der Vorschläge des Theramenes sei er
bereit, die Verletzung des Vertrages zu verzeihen. Dieser
Drohung gegenüber verstummte der Widerstand, und es
wurde eine provisorische Regierung von dreißig Männern
eingesetzt, mit dem Auftrage, die neue Verfassung auszu-
arbeiten (Mittsommer 404). Die Wahl fiel natürlich auf die
von Theramenes und dem leitenden Ausschuß der Oligarchen
bezeichneten Kandidaten. Nun wurde die Schleifung der
Befestigungen des Peiraeeus und der langen Mauern vollendet,
und die Kriegsschiffe an Lysandros ausgeliefert; dieser entließ
die Flottenkontingente der Bundesgenossen in ihre Heimat
und fuhr selbst mit den erbeuteten Schiffen und Trophäen nach
Gytheion, dem Seehafen Spartas. Der lange Krieg war be-
endet ^.
^ Xenophon berichtet nichts über die Ereignisse in Athen zwischen der
Kapitulation und der Einsetzung der Dreißig. In die Lücke treten Diod. XIV 3,
Aristot. ATT. 34, 3 und namentlich Lysias gEratosth. 71 — 78 und gAgoratos
15 — 35. Daß die demokratische Verschwörung erst nach der Kapitulation
erfolgte, ist evident; denn als Theramenes aus Sparta zurückkam, war die Hungers-
not derart, daß nur ein Wahnsinniger an weiteren Widerstand hätte denken
können. Dazu kommt dann, daß zu der Zeit als Agoratos die Verschworenen,
denunzierte, die Blockade des Peiraeeus nicht mehr bestand (Lys. gAgor. 25),
und daß die Verhaftung der Verschworenen nicht lange vor der Einsetzung der
Dreißig erfolgt ist, da erst der von diesen berufene Rat das Urteil gesprochen
hat. Das hat bereits Grote gesehen. Auch Lysias widerspricht nur scheinbar;
denn die ^KK\n,aia irepi Tf|<; eipt'ivrii; gAgor. 17 ist identisch mit der g£rato5//j. 71
Oligarchie in Athen. 431
Die Einsetzung der Oligarchie in Athen war das letzte
Glied in einer Kette politischer Umwälzungen, welche den
Sturz der Demokratie in fast dem ganzen Umfang des früheren
attischen Reiches zur Folge gehabt hatten. Überall waren
es die besitzenden Klassen gewesen, deren Einfluß den Über-
tritt der Gemeinden auf die peloponnesische Seite bewirkt
hatte ^; es konnte nicht fehlen, daß die Gewalt von da an mehr
und mehr in ihre Hände überging. So in Chios während der
Belagerung durch die Athener ^. Auch die athenischen Oli-
garchen hatten bei der Revolution des Jahres 411 mit Erfolg
dahin gearbeitet, die Macht in den Bundesstädten so viel als
möglich in die Hände ihrer politischen Freunde zu bringen;
und diese Regierungen hielten sich mit Unterstützung der
Peloponnesier zum Teil auch nach dem Sturz der Vierhundert
in Athen ^. Ließ aber die Demokratie sich nicht auf ver-
fassungsmäßigem Wege beseitigen, so schreckten die Oli-
garchen auch vor gewaltsamem Umsturz der bestehenden
Verfassung nicht zurück, wobei sie sicher waren, an den pelo-
ponnesischen Garnisonen einen festen Rückhalt zu finden.
So kehrten im Jahre 408 mit Hilfe des lakedaemonischen
Nauarchen Kratesippidas die Verbannten nach Chios zurück
und schickten nun ihrerseits die Demokraten in die Ver-
erwähnten ^KKXr^aia, in der die Dreißig eingesetzt wurden. Für die Schleifung
der langen Mauern und des Peiraeeus muß den Athenern ein paar Monate Frist
gegeben worden äein; diese Frist war verstrichen, als Lysandros von Samos
zurückkehrte und die Dreißig gewählt wurden. Daß aber die oligarchische
Regierung erst unter Pythodoros eingesetzt ist, wie Aristoteles angibt (ATT.
35, 1), ist nicht ganz richtig, aus dem einfachen Grunde, weil niemand sein
eigener Vater sein kann, und Pythodoros erst von den Dreißig gewählt ist;
was ich Philol. XLIII, 1884, S. 264 darüber bemerkt habe, hat auch heute noch
Geltung. Aber allerdings wird die Verfassungsänderung gegen Ende des Jahres
des Alexias erfolgt und Pythodoros gleich damals ins Amt getreten sein. Den
Ergebnissen der Untersuchung von Schwartz Rh. Mus. XLIV (1889) 104 fl.
kann ich nach dem Gesagten nicht zustimmen; mit Recht polemisiert Boernei
dagegen {De rebus a Graecis 410 — 403 gestis, Dissert. Gott. 1894 S. 49 ff.),
dessen Ansicht über die Zeit der Verschwörung freihch ebenso unhaltbar ist.
1 So in Chios (Thuk. VIII 9, 3), in Rhodos (VIII 44, 1).
- Thuk. VIII 38, 3.
3 Thuk. VIII 64 f.
432 XII. Abschnitt. — Der Fall der Demokratie. *
bannung ^. Aber erst Lysandros hat die Verfassungsreform
im oligarchischen Sinne konsequent durchgeführt. Schon
während seiner ersten Nauarchie hatte er mit den oHgarchischen
Klubs in den kleinasiatischen Städten enge Fühlung ge-
nommen ^; sobald er dann im Frühjahr 405 zum zweitenmal
an die Spitze d'cr peloponnesischen Flotte getreten war, begann
er ans Werk zu schreiten. In Milet erfolgte auf seinen Betrieb
eine Erhebung der Oligarchen, bei der eine große Anzahl der
angesehenen Demokraten ermordet oder in die Verbannung
getrieben wurde ^. Nach dem Siege von Aegospotamoi wurden
überall in den eroberten Städten Regierungskollegien von
10 Männern — sog. Dekarchien — eingesetzt und dieselbe
Verfassungsreform dann auch, so weit als möglich, in den alten
Bundesstaaten durchgeführt. Die Mitglieder dieser Regierungen
wurden den zuverlässigsten Parteigenossen entnommen, ohne
Rücksicht auf vornehme Geburt oder Reichtum *; daß sie
durchweg der wohlhabenden und gebildeten Klasse angehörten,
ist selbstverständlich.
So war denn die Herrschaft der besitzlosen Masse fast
im ganzen Umkreis der griechischen Welt hinweggefegt worden.
Die Demokratie hielt sich noch an wenigen Punkten, in Argos,
Mantineia und Elis, in Kyrene, auf Kerkyra und in Unter-
Italien. In Syrakus herrschte die Militärdiktatur, im griechi-
schen Osten lag die Macht fast überall in den Händen der
Besitzenden, der ,, edlen und guten" (KaXoi KaTaöoi), wie sie
selbst sich nannten. Sie sollten jetzt zeigen, ob sie ein Recht
hatten, auf diesen Namen Anspruch zu machen.
^ Diod. XIII 65, Xen. Hell. III 2, 11.
2 Diod. XIII 70, Plut. Lys. 5.
^ Diod. XIII 104, Plut. Lys. 8. An den Dionysien, also wahrscheinlich
im Frühjahr 405.
* Plut. Lys. 13, Xen. Hell. II 3, 7, III 4, 7, Diod. XIV 13.
0
DF
2U
1912-
Bd. 2
Abt.l
Beloch, Julius
Griechische Geschichte
2. neugestaltete Aufl.
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