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Full text of "Griechische Kunstgeschichte"

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GRIECHISCHE 

KUNSTGESCHICHTE 

VON 

HEINRICH  BRUNN 


ERSTES  BUCH 

DIE  ANFÄNGE  UND  DIE  ÄLTESTE 
DECORATIVE  KUNST 


MÜNCHEN  1893 

VERLAGSANSTALT  FÜR  KUNST  UND  WISSENSCHAFT 

VORMALS   FRIEDRICH  BRÜCKMANN 


GRIECHISCHE 

KUNSTGESCHICHTE 


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GRIECHISCHE 


KUNSTGESCHICHTE 


VON 


HEINRICH  BRUNN 


ERS IKS  BUCH 

DIE  ANFÄNGE  UND  DIE  ÄLTESTE 
DECORATIVE  KUNST 


MÜNCHEN  1893 


VERLAGS  ANSTALT  FÜR  KUNST  UND  V^ISSENSCHAFT 

VORMALS   FRIEDRICH  BRÜCKMANN 


Alle  Rechte  vorbehalten 


Bnickmann  sche  Huchdruckerei  in  München. 


DEN  MANEN 

WELCKERS  UND  RITSCHLS 

IN  ERINNERUNG  AN  DEN  20.  MÄRZ  1843. 


VORREDE. 


Als  mir  vor  mehr  als  zwei  Decennien  der  Gedanke  entgegen- 
gebracht wurde,  als  das  Ziel  umfangreicher  kunstgeschichtlicher  Studien 
eine  zusammenfassende  Darstellung  der  griechischen  Kunstgeschichte 
ins  Auge  zu  fassen,  glaubte  ich  anfangs,  mich  ablehnend  verhalten  zu 
müssen.  Allerdings  lag  die  Gefahr  nahe,  dass  die  Resultate  meiner 
Einzelnstudien  ohne  solche  Zusammenfassung  leicht  von  Andern  als 
gute  Beute  in  ungerechtfertigter  und,  was  noch  schlimmer,  in  falscher 
oder  missverstandener  Weise  verwerthet  werden  dürften.  Solchen 
Erfahrungen  gegenüber  erschien  es  fast  als  Pflicht,  den  Gedanken 
nicht  ganz  abzuweisen,  um  so  mehr  als  damals  die  sonstigen  Verhält- 
nisse sogar  günstiger  gelagert  waren,  als  jetzt.  In  der  That  gelang 
es  mir  in  der  Frist  weniger  Jahre,  den  Stoff  bis  über  den  Höhepunkt 
der  kunstgeschichtlichen  Entwickelung  hinaus  zu  bewältigen,  aber  das 
zu  hoch  gesteckte  Ziel,  nemlich  die  Absicht,  anstatt  grösserer  Theile 
sofort  das  Ganze  in  harmonischer  Abrundung  dem  Publicum  vorzulegen, 
erwies  sich  der  Vollendung  eben  dieses  Ganzen  als  verhängnissvoll. 

Gerade  die  Zeit  des  Beginnes  der  Arbeit,  das  weltgeschichtliche 
Jahr  1870,  bezeichnet  auch  für  die  Entwickelung  der  Archäologie  einen 
Wendepunkt.  Die  Schliemann'schen  Ausgrabungen,  durch  welche  unsere 
Kenntnisse  der  Anfänge  der  Kunst  in  ein  höheres  Alter  hinaufgerückt 
wurden,  gewannen  immer  mehr  an  Bedeutung;  es  folgten  die  Ent- 
deckungen von  Olympia  und  von  Pergamon,  die  Ausdehnung  der 
Thätigkeit  des  archäologischen  Instituts  auf  Griechenland,  der  Mit- 


VIII 


bewerb  der  französischen,  englichen  und  amerikanischen  Schulen  in 
Athen  und  nicht  am  wenigsten  die  neuerwachte  Thätigkeit  und  Reg- 
samkeit der  Griechen  selbst  —  alles  das  trug  bei  zu  einer  ganz  un- 
erwarteten Erweiterung  unserer  Denkmälervorräthe,  und  so  sehr  ich 
mich  rühmen  darf,  dass  durch  die  neuen  Entdeckungen  meine  Grund- 
anschauungen nur  wenig  berührt  oder  erschüttert  wurden,  ja  dass  sogar 
gewagte  Hypothesen  vielfach  die  erwünschteste  Bestätigung  erfuhren  — 
immer  und  überall  bedurfte  das  Neue  der  Verarbeitung  und  der  Ein- 
ordnung in  den  grösseren  Zusammenhang.  Namentlich  der  Abschnitt 
über  die  Ursprünge  und  Anfänge  musste  sich  bald  als  veraltet  er- 
w^eisen.  Ja,  als  ich  in  letzter  Zeit  den  gleichen  Abschnitt  in  völliger 
Neubearbeitung  zu  Ende  geführt  hatte,  wurde  mir  sofort  klar,  dass 
auch  diese  neue  Fassung  bald  wieder  von  dem  gleichen  Schicksale 
ereilt  werden  würde. 

So  sah  ich  mich  in  bestimmtester  Weise  vor  die  Entscheidung 
gestellt,  entweder  den  Gedanken  an  die  Ausführung  einer  Kunstge- 
schichte definitiv  und  für  immer  aufzugeben,  oder  zwar  den  Grund- 
gedanken festzuhalten,  aber  in  der  Durchführung  etwas  veränderte 
Wege  einzuschlagen.  Ich  habe  mich  für  das  Letztere  entschieden. 
Denn  im  Allgemeinen  darf  ich  wohl  annehmen,  dass  augenblicklich 
Niemand  in  der  Lage  ist,  eine  Geschichte  der  griechischen  Kunst 
in  absolutem  Sinne  zu  schreiben,  nicht  bloss  wegen  der  Schwierig- 
keiten, bei  der  Zersplitterung  der  heutigen  Litteratur  die  Fülle 
des  neuen  und  täglich  sich  mehrenden  Stoffes  zu  erschöpfen,  sondern 
der  noch  grösseren,  in  der  Fluth  der  durch  diese  Bereicherung  noth- 
wendig  gewordenen  Hypothesen  den  richtigen  Pfad  der  Entwickelung 
zu  erkennen  und  festzuhalten.  Und  doch  darf  dieses  wichtigste  Ziel 
nicht  aus  den  Augen  verloren  werden. 

Es  scheint  ja  einfach  und  sicher,  von  den  durch  die  alten  Autoren 
gegebenen  Nachrichten  und  den  aus  ihnen  sich  ergebenden  Vermu- 
thungen auszugehen.  Aber  unsere  schriftliche  Ueberlieferung  über  die 
Zeit  vor  und  zu  Anfang  der  Olympiaden  —  welche  Gewähr  vermag 
sie  uns  in  ihren  einzelnen  Angaben  zu  bieten  ?    In  ihrer  Ausgestaltung 


IX 


hat  die  historische  Sage  selbst  nur  den  Werth  einer  Hypothese,  die 
der  vorsichtigsten  Kritik  bedarf  und  eine  unzweifelhafte  und  sichere 
Grundlage  nicht  zu  gewähren  vermag. 

Mindestens  ebenbürtig  steht  solchen  Hypothesen  gegenüber,  was 
die  noch  erhaltenen  Arbeiten  der  Kunst  an  und  für  sich  über  die 
Bedingungen  ihres  Entstehens  lehren.  Daraus  ergiebt  sich  also  für 
uns  die  Nothwendigkeit,  an  den  Denkmälern  selbst  die  Voraussetzungen 
zu  prüfen,  aus  denen  sie  erwachsen  sind.  Hierbei  aber  dürfen  wir, 
um  zur  Klärung  und  Vereinfachung  der  Probleme  zu  gelangen,  uns 
nicht  scheuen,  die  elementarsten  Voraussetzungen,  selbst  w^o  sie  selbst- 
verständlich scheinen,  ausdrücklich  auszusprechen,  ja  nachdrücklich  zu 
betonen.  Denn  je  einfacher  sie  sind,  um  so  mehr  erweisen  sie  sich 
als  die  sicheren,  unveränderlichen  Grundgesetze,  aus  denen  sich  die 
griechische  Kunst  wie  mit  innerer  Nothwendigkeit  als  ein  organisches 
Ganze  entwickelt.  Und  so  sehr  wir  auch  in  der  Deutung  der  einzelnen 
Erscheinungen  geirrt  haben  mögen,  so  werden  gerade  jene  Grund- 
principien  schliesslich  wieder  den  richtigen  Weg  zur  Verbesserung  der 
Irrthümer  zeigen. 

Mein  Ziel  ist  also  nicht,  eine  vollständige  und  Alles  erschöpfende 
Kunstgeschichte  zu  schreiben,  sondern  für  einen  Neubau  derselben 
jene  nothwendige  Unterlage  zu  schaffen.  Dieses  Ziel  habe  ich  in 
dem  vorliegenden  ersten  Buche  für  die  Anfänge  der  griechischen 
Kunstgeschichte  zu  erreichen  gestrebt  und  in  solcher  Beschränkung 
hoffentlich  auch  erreicht.  Verhehlen  kann  ich  mir  nicht,  dass  in 
manchen  einzelnen  Punkten  schon  jetzt  eine  Ueberarbeitung  als 
nützlich,  ja  noth wendig  sich  erweisen  dürfte,  während  ich  hoffe, 
dass  die  vereinfachte  Betrachtung  der  ganzen  Aufgabe,  wie  ich  sie 
anzubahnen  versucht  habe,  sich  widerstandsfähiger  erweisen  und  zur 
Aufstellung  der  richtigen  Gesichtspunkte  führen  werde,  von  denen  aus 
die  Detailarbeit  sicherer  und  nutzbringender  einzugreifen  vermag  als 
bisher. 

Schliesslich  galt  es  auch  für  mich,  das  apelleische  manum  de 
tabula    zu    beherzigen   und  dem   ängstlichen  Zaudern  ein  Ende  zu 


X 


machen.  Selbst  auf  die  letzte  Glättung  während  des  Druckes  musste 
ich  verzichten,  da  ich  wegen  plötzlicher  Erkrankung  die  Drucklegung 
nicht  selbst  überwachen  konnte,  sondern  den  Händen  meines  Schülers 
und  Assistenten,  Herrn  Dr.  Paul  Arndt  anvertrauen  musste,  dem  ich 
dafür  zu  lebhaftem  Danke  verpflichtet  bin.  Mit  ihm  konnte  ich  auch 
noch  die  Auswahl  der  Illustrationen  berathen,  denen  nicht  der  Werth 
eines  förmlichen  Bilderatlasses  beizumessen  ist,  die  aber  dem  Zwecke, 
den  Text  in  anschaulicher  Weise  zu  erläutern,  in  vollstem  Maasse 
entsprechen  dürften. 

Das  Material  für  die  Fortsetzung  des  Werkes  ist  so  weit  vor- 
bereitet, dass  ich  mich  der  Hoffnung  hinzugeben  wage,  nach  dem 
ersten  die  weiteren  Bücher,  welche  die  griechische  Kunst  in  ver- 
w^andter  Auffassung  behandeln  sollen,  in  nicht  zu  langen  Zwischenräumen 
zu  gutem  Ende  zu  führen. 


Inhalt  des  ersten  Buches. 

Seite 


Vorrede   VII 

Erstes  Capitel.    Die  Kunst  der  vorhomerischen  Zeit. 

Einleitung   i 

Die  kyklopische  Bauweise 

Das  Constructive  ,   3 

Die  Ausschmückung   20 

Die  »mykenische«  Culturstufe   29 

Die  mykenischen  Vasen   42 

Die  Goldbecher  von  Vafio   46 

Die  Vasen  des  geometrischen  und  des  Dipylon-Styles   52 

Historischer  Rückblick   59 

Zweites  Capitel.    Die  Kunst  der  homerischen  Zeit. 

Allgemeines   65 

Der  homerische  Schild   73 

Vergleichung  des  Schildes  mit  assyrischer  Kunst   77 

Die  norditalischen  Situlae   81 

Der  hesiodische  Schild   85 

Drittes  Capitel.   Die  Stellung  des  hellenischen  Geistes  gegen- 
über fremden  Einflüssen. 

Die  Zeusgrotte  auf  dem  Ida   90 

Das  Regulini-Galassi'sche  Grab  in  Caere   93 

Kypros  und  die  Phönicier   98 

Rückwirkung  auf  Assyrien   107 

Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 

Historische  Nachrichten   116 

Alte  Bronzearbeiten   I19 

Die  Vq.senmalerei 

Die  kyprische  Keramik   126 

Die  Fortsetzung  des  Dipylon-Styles   130 

Melos;  Thera   135 

Rhodos   141 

Resultate   144 

Rhodos  und  Naukratis   145 

Korinth     148 

Die  korinthischen  Pinakes   153 

Die  Sarkophage  von  Klazomenae   157 

Grössere  Vasenbilder   1 159 

Die  Frangoisvase   164 

Der  Kasten  des  Kypselos   171 

Der  amykläische  Thron   178 

Schlusswort   182 


XII 


Verzeichnis  der  Abbildungen. 

Seite 

1.  Stück  der  westlichen  Burgmauer  in  Tiryns.    Nach  Schliemann,  Tiryns,  S.  390  .  7 

2.  Mauerstück  aus  Oenone.   Nach  Gell,  Probestücke  von  Städtemauern  183 1,  Taf.  29  8 

3.  Thor  in  Alatri.    Nach  Dodwell,  Views  and  descriptions  of  cyclopian  or  pelasgic 
remains  in  Greece  and  Italy  (1834),  Taf.  93   8 

4.  Gallerie  in  Tiryns.    Nach  Mon.  d.  Inst.  1838,  tav.  LVII,  Fig  VT   8 

5.  Das  Löwenthor  von  Mykenae.    Nach  Photographie   9 

6.  Thor  in  Oeniadae,    Nach  Mon.  d.  Inst.  1838,  tav.  LVII,  Fig.  XI   10 

7.  Gallerie  in  der  Südmauer  von  Tiryns.    Nach  Schliemann,  Tiryns,  S.  385  ...  11 

8.  u.  9.  Das  sog.  Schatzhaus  des  Atreus,  Durchschnitt  u.  Grundriss.   Nach  Mitt.  d. 

ath.  Inst.  1879,  Taf.  XI   12 

10. — 12.  Nurhagen  auf  Sardinien.    Nach  Pais,  la  Sardegna  prima  del  dominio  romano 

(atti  dei  Lincei  1880—81),  tav.  11  16  u.  17 

13.  Heiligthum  auf  dem  Berge  Ocha.    Nach  Mon.  d.  Inst.  1842,  tav.  XXXVII,  2    .  19 

14.  Theil  der  Decke  von  Orchomenos.     (Nach  dem  iVbguss  des  Originales.)  Nach 
Sybel,  Weltgeschichte  der  Kunst,  S.  62   22 

15.  Theil  der  Decke  von  Orchomenos  (Reconstruction).  Nach  Journ.  of  hell,  stud.,  pl.  XII  22 

16.  Alabasterfries  aus  Tiryns.    Nach  Sybel,  Weltgeschichte  der  Kunst,  S.  62  ,    .    .  23 

17.  Halbsäule  vom  Schatzhaus  des  Atreus  in  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  55  .    .    .  24 

18.  Relief  am  Löwenthor  von  jNIykenae.    Nach  Brunn-Bruckmann,  Denkm.  gr.  u.  röm. 
Sculptur,  Taf.  151   25 

19.  Felsengrab  von  Antiphellos   in  Lykien.    Nach  Reber,   Geschichte  der  Baukunst 

im  Alterthum,  S.   194   28 

20.  — 22.  Spinnwirtel  aus  Troia.    Nach  Schliem„ann,  Ilios,  Abb.  1889,  484  und  1289  30 

23.  Steingegenstand  aus  Troia.    Ebendaselbst,  Abb.  205                                   ...  31 

24.  u.  25.  Troianische  Gefässe.    Ebendasebst,  Abb.  987  und  1154   31 

26.  Mykenische  Ornamentmotive.    Nach  Schliemann,  Mykenae,  S.  102   32 

27.  Grabstele  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  91   32 

28.  Holzknopf  mit  Überzug  von  Goldblech  aus  Mykenae.  Ebendaselbst,  S.  299,  Abb.  383  33 

29.  Goldblatt  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  194,  Abb.  240   33 

30.  Goldblatt  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  198,  Abb.  248   34 

31.  Goldenes  Kreuz  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  219,  Abb.  285   34 

32.  Goldenes  Diadem  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  215,  Abb.  281   35 

33.  Goldenes  Diadem  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  216,  Abb.  282    .....  36 

34.  Goldenes  Ornament  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  207,  Abb.  265      ....  37 

35.  Goldblechzierrath  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  S.  209,  Abb.  268   37 

36.  u.  37.  Goldplatten  aus  Mykenae.    Nach  Photographien   38 

38.  Goldene  Gesichtsmaske  aus  Mykenae.    Nach  Photographie   39 

39.  Dolchklinge  aus  Mykenae.    Nach  Bull,  de  corr.  hell.  1886,  pl.  II   40 

40.  — 43.  Sogenannte  Inselsteine.    Nach  Collignon,  histoire  de  la  sculpture  grecque, 

P-  56  u.  57    41 

44. — 46.  Gefässe  aus  Mykenae.  Nach  Furtwängler  und  Loeschcke,  mykenische  Vasen, 

Taf.  IX,  44;  XI,  56;  III,  12a   44 

47.  Vasenscherbe  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  Taf.  II   44 

48.  Kriegervase  aus  Mykenae.    Nach  Furtwängler  und  Loeschcke,  mykenische  Thon- 
gefässe,  Taf.  XLII   45 


XIII 

Seite 


49.  Vasenscherbe  aus  Mykenae.    Ebendaselbst,  Taf.  XLI,  423   45 

50.  Wandgemälde  aus  Tiryns.    Nach  Schliemann,  Tiryns,  Taf.  XIII   46 

51.  u.  52.  Becher  von  Vafio.    Nach  'Eq?r]f^.  dgx.  1889,  jiiv.  9  48  u.  49 

53.  Elemente  und  Formen  des  geometrischen  Vasenstyles.    Nach  Conze,  zur  Gesch. 

d.  Anfänge  griech.  Kunst;  Wiener  Sitz.-Ber.  LXIV   54 

54.  Vase  des  Dipylon-Styles.    Nach  Mon.  d.  Inst.  IX,  tav.  39 — 40   55 

55.  Vasenscherbe  aus  Tiryns.    Nach  Schliemann,  Tiryns,  Taf.  XIV   58 

56.  Mykenische  Vasenscherbe.    Nach  Schliemann,  Mykenae,  Taf.  XX,  Abb.  197      .  58 

57.  Mykenische  Vasenscherbe.    Ebendaselbst,  Taf.  XXI,  Abb.  203   59 

58.  Schema  des  homerischen  Schildes.    Nach  Zeichnung   74 

59.  Assyrisches  Relief.    Nach  Layard,  Monuments  of  Niniveh,  II.  series,  pl.  18  .  79 

60.  Silberscherbe  aus  Mykenae.    Nach  'E(p)]ju.  dgx-  1891,  jTiv.  2   80 

61.  Situla  aus  Bologna.    Nach  Zannoni,  i,cavi  della  Certosa  di  Bologna,  tav.  35   .    .  83 

62.  Schema  des  hesiodischen  Schildes.    Nach  Zeichnung   86 

63.  — 65.  Bronzeschilde  aus  Kreta.    Nach  Halbherr  ed  Orsi,  antichitä  dell'  antro  di 

Zeus  Ideo  in  Greta  1888,  tav.  I,  IV  u.  II  91  u.  92 

66.  Bronzefragment  aus  Kreta.    Ebendaselbst,  tav.  IX   92 

67.  Bronzegefäss  aus  Caere.    Nach  Grifi,  monumenti  di  Gere  antica,  tav.  XI,  2   .    .  94 

68.  Theil  eines  Bronzeschildes  aus  Gaere.    Ebendaselbst,  tav.  XI,  3   95 

69.  Silberschale  aus  Gaere.    Ebendaselbst,  tav.  V,  i   96 

70.  Kyprische  Silberschale.    Nach  Gesnola,  Gyprus,  pl.  XIX,  p.  277    98 

71.  Der  sog.  Lebensbaum.   Nach  Perrot  et  Ghipiez,  histoire  de  l'art  II,  p.  222,  fig.  81  107 

72.  Assyrische  Gewandstickerei  in  Steinrelief,    Ebendaselbst,  II,  p.  772,  fig.  444  108 

73.  Fussbodenornament  aus  Kujundschik.  Nach  Reber,  Gesch.  d.  Baukunst  im  Alter- 
thum, S.  38,  Abb.  19   109 

74.  Jagdhunde.    Assyrisches  Relief.    Nach  Perrot  et  Ghipiez,  histoire  de   l'art  II, 

P.  559,  fig.  262   HO 

75.  Verwundete  Löwin.    Assyrisches  Relief.    Ebendaselbst,  II,  p.  573,  fig.  270   .    .  in 

76.  Verwundeter  Löwe.    Assyrisches  Relief.    Nach  Photographie   112 

77.  Kyprisches  Relief.    Nach  Brunn-Bruckmann,  Denkm.  griech.  und  röm.  Sculptur, 

Taf.  207   114 

78.  Bronzener  Greifenkopf  aus  Olympia.    Nach  Furtwängler,  Bronzen  von  Olympia, 

Taf.  XLVII,  805   117 

79.  Löwe.    Assyrische  Bronze.    Nach  Photographie   118 

80.  Terracotta  einer  Brotbäckerin  aus  Tiryns.  Nach  Schliemann,  Tiryns,  S.  169,  Abb.  76  118 

81.  Bronzerelief  aus  Kreta.    Nach  Halbherr  ed  Orsi,  antichitä  dell'  antro  di  Zeus 
Ideo  in  Greta,  tav.  XI,  i   119 

82.  Theil  eines  Diadems  aus  Theben.    Nach  Annali  d.  Inst.  1880,  tav.  G,  2      .    .  120 

83.  Bronzefragment  aus  Boeotien.    Ebendaselbst,  tav.  H   120 

84.  Broiizeplatte  aus  Olympia.  Nach  Furtwängler,  Bronzen  von  Olympia,  Taf.  XXXVIII  121 

85.  Bronzerelief  aus  Olympia.    Ebendaselbst,  Taf.  XXXIX,  699a   123 

86.  Relief  eines  griechischen  Spiegelgrififes.    Nach:  Historische  und  philologische  Auf- 
sätze, Festgabe  an  Ernst  Gurtius  1884,  Taf  IV   124 

87.  Bronzerelief  aus  Kreta.    Nach  Annali  d.  Inst.  1880,  tav.  T   124 

88.  Bronzerelief  aus  Olympia.    Nach  Furtwängler,  Bronzen  von  Olympia,  Taf,  XL   .  125 

89.  — 91.  Kyprische  Gefässe.    Nach  Perrot  et  Ghipiez,    histoire  de  l'art  III,  p.  691. 

fig.  497,  und  Brunn-Lau,  Taf.  I,  2  und  II,  2   126 


XIV 

Seite 

92.  u.  93.  Kyprische  Vasen.    Nach  Perrot   et   Chipiez  histoire  de  l'art  III,   p.  699, 

fig.  507  und  p.  706,  fig.  518   127 

94   Ornamentmotiv  einer  kyprischen  Schale.    Ebendaselbst  p.  700,  fig.  509     .     .     .  127 

95.  Flügelgestalt  auf  einer  kyprischen  Vase.    Ebendaselbst  p.  707,  fig.  519    .    .    .  128 

96.  Streitwagen.    Bild  einer  kyprischen  Vase.    Ebendaselbst  p.  717,  fig.  528  ,     .    .  128 

97.  Kyprisches  Vasenbild,    Ebendaselbst,  p.  715,  fig.  526   129 

98.  Kyprische  Vase.    Ebendaselbst  p.  711,  fig.  523   129 

99.  Von  einer  Vase  des  Dipylonstyles  aus  Athen.  Nach  Arch.  Zeit.  1885,  Taf.  8     .  131 

100   Von  einer  Vase  des  Dipylonstyles  in  Athen.    Ebendaselbst,  S.  139   131 

loi.  Bild  einer  Vase  aus  Attika.    Nach  Jahrb.  d.  Inst.  II,  Taf.  3   132 

102  u.  103.  Bild  einer  Vase  aus  Attika.    Ebendaselbst,  Taf  4  132  u.  133 

104.  Sogenannte  Phaleron-Va^e.    Nach  Brunn-Lau,  Taf  VII,  i   134 

105.  Attische  Amphora  in  Berlin.    Nach  Jahrb.  d.  Inst.  IT,  Taf.  5   135 

106.  Vase  aus  Thera.    Nach  Mon.  d.  Inst,  IX,  5,  i   136 

107   u.  108.  Vasen  aus  Melos.    Nach  Conze,  melische  Thongefässe,  Titelvignette  und 

Taf.  I,  I   137 

109.  Bild  einer  Vase  aus  Melos.    Ebendaselbst,  Taf.  IV   139 

HO.  Bild  einer  Vase  aus  Kameiros.    Nach  Salzmann,  necropole  de  Camirus,  pl.  39    .  141 

111.  Rhodischer  Teller.    Ebendaselbst,  pl.  55   142 

112.  Medusa.*)    Teller  aus  Rhodos.   Nach  Journ.  of  hell.  stud.  1885,  pl-  LIX     .    .  142 

113.  Rhodischer  Teller.    Nach  Salzmann,  necropole  de  Camirus,  pl.  51   143 

114.  Teller  von  Kameiros.    Nach:  Verh.  d.  23.  Phil.-Vers  in  Hannover  1864  .     .    .  143 

115.  Kanne  aus  Rhodos.    Nach  Jahrb.  d.  Inst.  I,  S.  138,  Abb.  2973   146 

116.  Bild  einer  Vase  aus  Vulci.    Nach  Urlichs,  2  Vasen  ältesten  Styls,  1873,  Abb.  2a  147 

117.  Deckel  der  sogenannten  Dodwellvase.    Nach  Brunn-Lau.  Taf.  III,  ib   .    .    .    .  148 

118.  — 122.  Korinthisches  Salbgefäss  in  Berlin.  Nach  Arch.  Zeit.  1883,  Taf  10  .  .  149 
123.  u.  124.  Korinthische  Vase  des  Chares.    Nach  Arch.  Zeit.  1864,  Taf,  184     .    .  150 

125.  Korinthische  Vase  des  Timonidas,    Nach  Arch,  Zeit.  1863,  Taf.  175    ,    .    .    ,  151 

126.  Korinthisches  Vasenbild.     Nach  Annali  d.  Inst.  1862,  tav,  B   153 

127.  — -134.  Korinthische  Pinakes.    Nach  Ant.  Denkm,  d.  Inst.  I,  Taf.  7  u.  8  ,     154 — 156 

135.  Theil  eines  Sarkophages  von  Klazomenae.    Nach  Ant.  Denkm.  d.  Inst.  I,  Taf.  44  158 

136.  Chalkidisches  Vasenbild.    Nach  Mon.  d.  Inst.  I,  tav.  51   159 

137.  Die  sogenannte  Arkesilasschale.    Ebendaselbst,  tav.  47   161 

138.  Schale  aus  Naukratis.    Nach  Studniczka,  Kyrene,  S.  18   163 

139.  u.  140,  Schüssel  aus  Aegina.  Nach  Arch.  Zeit,  1882,  Taf.  9  .  .  .  164  u,  165 
141.  u.  142,  Frangoisvase.    Nach  Arch,  Zeit,  1850,  Taf.  23  und  24     .    .    .     166  u.  167 


*)  Hiernach  ist  die  irrthümliche  Unterschrift  im  Texte  „Sog.  persische  Artemis'^  zu 
berichtigen. 


Erstes  Capitel. 

Die  Kunst  der  vorhomerischen  Zeit. 


Die  Anfänge  der  griechischen  Kunstgeschichte  reichen  bis  in 
die  Zeiten  der  Sage  zurück,  über  welche  uns  bestimmte  historische 
Zeugnisse  nicht  vorUegen.  Dennoch  wünschen  wir  zu  erfahren,  nicht 
nur  wann,  sondern  wie  sie  entstand,  ob  sie  von  Anfang  an  auf  griechi- 
schem Boden  erwuchs  oder  ob  sie  äusseren,  aus  der  Ferne  empfangenen 
Anregungen  ihren  Ursprung  verdankt.  Es  ist  Pflicht  der  Wissenschaft, 
auch  diese  Fragen  der  Erörterung  zu  unterwerfen :  denn  was  die  griechi- 
sche Kunst  geworden,  vermögen  wir  nur  dann  völHg  zu  verstehen,  wenn 
wir  ihr  Werden  bis  zu  den  ersten  Keimen  und  Wurzeln  zurück  verfolgen. 
Allein  ein  bestimmter  Erfolg  lässt  sich  von  solchen  Untersuchungen 
erst  dann  erwarten,  wenn  wir  die  ältesten  Erzeugnisse  griechischen 
Kunstsinnes  nach  ihrem  Wesen  geprüft,  ihren  Charakter  festgestellt 
und  dadurch  eine  sichere  Grundlage  für  die  Vergleichung  mit  den 
Kunstprodukten  anderer  Völker  gewonnen  haben  werden. 

Als  allgemeinster  Ausgangspunkt  darf  der  Satz  hingestellt  werden, 
dass  der  künstlerische  Trieb  mit  dem  Menschen  geboren  wird.  Allein 
dieser  Trieb  wird  sich  keineswegs  nur  in  einer  einzigen,  sondern  in 
sehr  verschiedenen  Richtungen  und  darum  auch  mit  sehr  verschiedenen 
Erfolgen  zu  äussern  vermögen.  Der  Mensch  hat  seine  Freude  daran, 
seine  Person  und  seine  Umgebung,  so  weit  er  sie  sich  selbst  schafft, 
zu  schmücken  und  dadurch  über  das  nackte  Bedürfnis  hinaus  zu  ver- 
edeln.   Es  liegt  aber  nicht  weniger  im  Menschen  der  Trieb,  das,  was 


2 


Erstes  Capitel.     Vorhomerische  Kunst. 


sein  Auge  sieht,  im  Bilde  nachzugestalten  und  schliesslich  diese  Nach- 
ahmung bis  zur  Täuschung,  bis  zum  Wetteifer  mit  der  Erscheinung 
der  Natur  zu  steigern.  Und  endlich  Hegt  im  Menschen  auch  das  Be- 
dürfnis, nicht  bloss  durch  das  Wort,  sondern  auch  durch  das  Bild  etwas 
auszusprechen.  Das  Bild  soll  etwas  bedeuten,  und  wie  sich  aus  diesem 
Bedürfnis  nach  der  einen  Seite  eine  wirkliche  Bilderschrift  entwickelt, 
so  erhebt  sich  nach  der  andern  Seite  das  Kunstwerk  bis  zum  Aus- 
drucke der  höchsten  Ideen  des  Göttlichen. 

Wie  aber  die  Ziele  des  Kunsttriebes  ursprünglich  verschieden 
sind,  so  auch  die  Mittel  zur  Erreichung  derselben.  Die  menschliche 
Hand  kann  sich  die  Aufgabe  stellen,  einen  festen  oder  harten  Stoff, 
einen  Stamm,  einen  Wurzelknorren,  einen  Stein  so  zu  bearbeiten  und  abzu- 
arbeiten, dass  er  sich  einer  darzustellenden  Gestalt  immer  mehr  annähert 
und  schliesslich  diese  Gestalt  selbst  in  ihren  Formen  und  in  ihrer 
Erscheinung  wiedergiebt,  aber  ebenso,  aus  einem  weichen  oder  dehn- 
baren Stoffe  ein  Bildwerk  aufzubauen  und  frei  zu  gestalten.  Sie  ver- 
mag nicht  minder,  aus  verschiedenartigen  Stoffen  bestimmte  Muster 
und  Gestaltungen  zusammenzufügen,  und  wiederum,  aus  verschiedenen 
Farbstoffen  ein  Bild  der  Dinge  nach  ihrer  äussern  Erscheinung  dem 
Auge  sichtbar  darzustellen. 

Zur  Vollendung  der  Kunst  müssen  alle  diese  Elemente  mitwirken, 
müssen  sich  mischen  und  in  einander  verwachsen:  in  ihren  Anfängen 
werden  sie  sich  nicht  notwendig  zu  gleicher  Zeit  und  an  den  gleichen 
Orten  als  wirksam  erweisen,  sondern  getrennt,  vereinzelt  oder  neben 
einander  eine  erste  Entwicklung  durchmachen. 

Diese  kurzen  Andeutungen  sind  hier  vorangestellt  worden,  um 
in  dem  Widerstreite  der  Meinungen  über  die  Anfänge  der  griechischen 
Kunst  einen  Standpunkt  zu  gewinnen,  der  den  einzelnen,  sehr  ver- 
schiedenartigen Erscheinungen  gegenüber  einen  freien  Um-  und  Uber- 
blick gewährt  und  uns  gestattet,  dieselben  bestimmten  allgemeineren 
Gesichtspunkten  unterzuordnen.  Sie  allein  dürften  schon  genügen, 
um  in  uns  die  Überzeugung  zu  erwecken,  dass  die  griechische  Kunst, 
in  der  die  Mannigfaltigkeit  des  Kunsttriebes  uns  in  so  seltenem  Maasse 
entgegentritt,  von  ihren  Anfängen  an  nicht  sofort  wie  ein  Strom  aus 
einem  einzigen  mächtigen  Quell  hervorbrach,  sondern  dass  die  ver- 
schiedenen Äusserungen  des  Kunsttriebes,  einzelnen  Wasseradern  ver- 
gleichbar, zuerst  getrennt  ans  Licht  traten,  um  erst  nach  kurzem  oder 
längerem  Verlauf  zusammenfliessend  und  gesammelt  den  einheitlichen 
Strom  zu  bilden. 


Einleitung.  —  Kyklopische  Bauweise :  Constructives. 


3 


Hierzu  gesellt  sich  eine  weitere  Betrachtung  allgemeinerer  Art. 
Wir  sagten,  der  künstlerische  Trieb  werde  mit  dem  Menschen  geboren. 
Wie  aber  seine  Äusserungen  bei  dem  Kinde  nicht  sofort  bei  der  Geburt 
zu  Tage  treten,  so  verlangt  auch  die  Kindheit  der  Menschheit  eine  ge- 
wisse Entwicklung  der  Cultur,  ehe  sich  dieser  Kunstsinn  in  bestimmten 
Formen  .^u  bethätigen  im  Stande  ist.  Die  Kunst  der  Töne  und  der 
sprachlichen  Laute,  Musik,  Gesang  und  Poesie,  vermag  sich  schon  bei 
dem  Jäger,  der  ohne  festen  Wohnsitz  durch  die  Wälder  schweift,  bei 
dem  Hirten,  der  heute  hier,  morgen  dort  die  fettesten  Weiden  auf- 
sucht, bis  zu  einer  verhältnismässig  sogar  hohen  Blüthe  zu  entwickeln. 
Die  bildende  Kunst  findet  auf  der  gleichen  Stufe  der  Cultur  nur  erst 
ein  enges  Feld  für  ihre  Bethätigung.  Sie  ist,  von  der  bei  manchen 
Völkern  üblichen  Bemalung  des  Körpers  selbst  abgesehen,  auf  die 
Ausschmückung  der  Kleidung,  der  Waffen  und  der  tragbaren,  für  die 
nächsten  Bedürfnisse  des  Lebens  bestimmten  Geräte  beschränkt,  und 
folgt  zuerst  dem  Bedürfnis  in  dienender  Unterordnung.  Doch  wird 
sich  die  Bedeutung  der  dabei  zur  Verw^endung  kommenden  Elemente 
für  eine  fortschreitende  Entwicklung  erst  da  richtiger  würdigen  lassen, 
wo  wir  sie  in  den  Zusammenhang  des  Culturbildes  einer  Bevölkerung 
einzureihen  vermögen,  bei  der  sich  der  Übergang  vom  Wanderleben 
zur  Sesshaftigkeit  bereits  vollzogen  hat.  Auf  die  dadurch  bedingten 
Verhältnisse  hat  sich  daher  unser  Augenmerk  zuerst  zu  lenken. 

Die  kyklopische  Bauweise. 

Das  Constructive.  Die  Gründung  fester  Wohnsitze  erweckt 
mit  Notwendigkeit  eine  Reihe  von  Bedürfnissen,  deren  Befriedigung 
der  Baukunst  anheimfällt.  Zwar  handelt  es  sich  anfangs  noch  nicht 
um  die  Erfüllung  künstlerischer  Forderungen;  aber  in  der  Richtung, 
in  w^elcher  man  dem  praktischen  Bedürfnis  gerecht  zu  werden  sucht,  wird 
sich  bereits  ein  bestimmter  Grad  künstlerischer  Auffassung  offenbaren. 

Der  feste  Wohnsitz  bedarf  des  Schutzes  für  den  Menschen  und 
seinen  Besitz,  und  dieser  Schutz  wird  nach  den  durch  die  Natur 
gebotenen  Bedingungen  durch  verschiedene  Mittel  gewonnen.  So  ent- 
stehen in  sumpfigen  oder  seereichen  Gegenden  die  Pfahlbauten,  in  den 
Ebenen  Wall  und  Graben,  in  Gebirgen  oder  steinigen  Gebieten  der 
steinerne  Wall  oder  die  Mauer. 

Die  Natur  Griechenlands  und  eines  Theiles  von  Italien  musste 
schon  früh  auf  die  letztere  Art  der  Befestigung  hinführen,  und  in  der 
That  finden  sich  dort  aus  einer  Zeit,  die  mehr  der  Sage  als  der  Ge- 


4 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


schichte  angehört,  zahlreiche  Reste  gewaltiger  Anlagen,  welche  unter 
dem  Namen  der  pelasgischen  oder  kyklopischen  Mauern  bekannt 
sind :  steinerne  Wälle,  aus  mächtigen  Blöcken  aufgeschichtet,  die  ohne 
festen  Mörtel  sich  durch  ihre  eigne  Massenhaftigkeit  im  Gleichgewicht 
erhalten.  Schon  im  Altertum  mehrfach  erwähnt  (Overbeck  SQ  i — 26), 
erregten  sie  bereits  im  15.  Jahrhundert  die  Aufmerksamkeit  des  ersten 
wissenschaftlichen  Reisenden  Cyriacus  von  Ancona.  Merkwürdiger 
Weise  bUeben  sie  dann  mehr  als  drei  Jahrhunderte  fast  unbeachtet,  bis 
sie  in  den  ersten  Decennien  des  19.  um  so  eifriger  untersucht  wurden. 1) 

Das  Gebiet,  über  welches  diese  Bauten  zerstreut  sind,  beschränkt 
sich  keineswegs  auf  das  eigentliche  Griechenland,  sondern  erstreckt 
sich  östlich  über  den  grössten  Theil  Kleinasiens  bis  gegen  Kappodokien, 
westlich  über  ganz  Mittelitalien  vom  Arno  bis  südlich  vom  Silarus 
(Bull.  d.  Inst.  1883,  p.  7).  Wenig  zahlreich  sind  die  Reste  in  Sicilien, 
und  vereinzelt  steht  ein  Beispiel  an  der  Küste  Spaniens  in  Tarragona 
(ib.  1860,  p.  161).  Es  darf  mithin  die  ganze  Bauweise  nicht  als  eine 
ausschliesslich  hellenische  betrachtet  werden.  Pelasgisch  wird  von 
den  Alten  allerdings  nur  ein  einzelnes  Stück  der  athenischen  Burg- 
mauer genannt  (Herod.  5,  64;  vgl.  Thuc.  2,  17;  Strabo  9,  401). 

Doch  ist  eine  allgemeinere  Anwendung  dieser  Bezeichnung  im. 
Sinne  von  „vorhellenisch"  insofern  berechtigt,  als  wir  unter  dem  Namen 
der  Pelasger  diejenigen  Völkerstämme  zusammenzufassen  pflegen, 
welche  sich  vor  der  Entwicklung  des  eigentlichen  Hellenenthums  nicht 
nur  über  Griechenland,  sondern  auch  über  einen  Theil  Italiens  ver- 
breitet hatten.  Auch  die  Benennung  „kyklopisch"  wird  von  den 
Alten  nur  in  beschränkter  Geltung  von  dem  Gebiete  von  Argos, 
Tiryns,  Mykenae  und  Nauplia  angewendet,  indem  namentlich  be= 
richtet  wird,  dass  Proetos,  durch  lobates  von  Lykien  in  seiner 
Herrschaft  zu  Tiryns  wieder  eingesetzt,  von  dort  Kyklopen  mit- 
gebracht habe,  welche  für  ihn  die  Stadt  mit  Mauern  umgaben. 
Diese  lykischen  Kyklopen  können  ihrer  Natur  nach  so  wenig  mit 
dem  homerischen  Hirtenvolk  wie  mit  den  Gesellen  des  Hephaestos 
verwechselt  werden,   sondern  ihr   Name  bezeichnet  sie  als  Erbauer 


^)  Ausser  den  zerstreuten  Arbeiten  von  Petit-Radel  und  den  zahlreichen  Aufsätzen 
in  den  Schriften  des  archäologischen  Institutes  sind  besonders  zu  erwähnen  die  Werke  von 
Gell:  Probestücke  von  Städtemauern  des  alten  Griechenlands,  München  1831  ;  Dodwell: 
Views  and  descriptions  of  Cyclopian  or  Pelasgic  remains  in  Greece  and  Italy,  London  1834, 
und  für  Kleinasien  das  Werk  von  Texier.    Vgl.  Müller,  Hdb.  d.  Arch.  §  46  u.  166. 


Kyklopische  Bauweise:  Constructives. 


5 


des  Mauerringes  (xvxlog),  und  die  Siebenzahl,  in  welcher  sie  auf- 
treten, charakterisirt  die  solenne  Anzahl  der  Thore  (vgl.  Welcker  im 
Rhein.  Mus.  1834.  II,  467).  Insofern  sie  also  kaum  als  mythologische 
Persönlichkeiten,  sondern  als  Gattungsbegriffe,  als  gewaltige  Hand- 
arbeiter fyaorsQoxetQsg)  aufgefasst  werden,  darf  auch  die  von  ihnen  geübte 
Bauweise  überhaupt  als  kyklopische  bezeichnet  werden. 

Aus  dem  Alter  jener  Mauern  in  Argolis  glaubte  man  ferner  auch 
die  Zeit  ihrer  Erbauung  an  andern  Orten  genauer  bestimmen  zu  können ; 
allein  die  ältesten  chronologischen  Angaben  bieten  wegen  ihres  sagen- 
haften Charakters  keinerlei  Gewähr  ihrer  Richtigkeit.  Allerdings  wird 
Tiryns,  dessen  gewaltige  Mauerreste  wir  noch  heute  bewundern,  schon 
von  Homer  (II.  II,  559)  das  ummauerte  und  von  Hesiod  (Scut.  81)  das 
wohlgegründete  genannt,  und  ist  dadurch  wenigstens  der  Beweis  für 
ein  über  diese  Dichter  hinausgehendes  Alter  geliefert.  Nur  darf  des- 
halb keineswegs  jede  kyklopische  Mauer  als  vorhomerisch  betrachtet 
werden.  Norba  z.  B.  und  Circei  im  Lande  der  Volsker  sind  römische 
Colonien  aus  dem  Ende  der  Königszeit,  und  da  sie  kyklopisch  be- 
festigt sind,  so  dürfen  wir  daraus  keineswegs  folgern,  dass  diese 
Colonien  die  Stelle  älterer  Gründungen  eingenommen  haben,  sondern 
vielmehr,  dass  man  damals  noch  nach  dem  alten  System  baute.  Den 
besten  Beweis  dafür  liefert  Alba  Fucensis:  die  noch  jetzt  erkennbare 
Bresche,  durch  welche  die  Römer  305  v.  Chr.  G.  eindrangen,  ist  ganz 
nach  dem  alten  System  restauriert.  Ja  wenn  sogar  bei  einer  Aus- 
besserung der  Mauern  von  Ferentinum  auf  ein  sehr  sorgfältig  gefügtes 
Stück  ein  anderes  von  weit  roherer  Construction  gesetzt  wurde,  so 
müssen  wir  leider  bekennen,  dass  die  grössere  oder  geringere  Vor- 
trefflichkeit der  Fügung  uns  keineswegs  einen  Schluss  auf  höheres 
oder  geringeres  Alter  gestattet.  Nur  das  ist  sicher,  dass  eine  durch- 
gebildete Ausführung  nicht  der  ältesten  Zeit  angehören  kann,  während 
bei  roher  Arbeit  ein  hohes  Alter  wohl  möglich,  aber  je  nach  den 
localen  Verhältnissen  nicht  einmal  wahrscheinlich  ist.  Die  Wissen- 
schaft muss  daher  auf  eine  historische  Betrachtung  dieser  Bauweise 
verzichten  und  sich  mit  einer  Systematik  begnügen,  bei  welcher  aller- 
dings die  vollkommenere  Stufe  stets  die  unvollkommenere  voraussetzt. 

Die  künstlerische  Befähigung  der  Erbauer  wird  sich  zunächst 
in  dem  Sinne  für  das  Constructive  zeigen  müssen,  welcher  sich  in  dem 
Bestreben  offenbart,  den  vorgesetzten  Zweck  mit  den  relativ  einfachsten 
Mitteln  zu  erreichen.  Für  den  nächsten  Zweck,  die  Sicherung  des 
Wohnsitzes,  ist  aber  schon  die  Wahl  des  Platzes  selbst  von  hoher 


6 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Bedeutung.  Griechenland  und  der  genannte  Theil  Italiens  sind  über- 
wiegend gebirgig.  Zu  Städteanlagen  eigneten  sich  besonders  die  von 
der  Hauptkette  sich  loslösenden,  gegen  die  Thäler  und  die  Ebene  vor- 
springenden Hügel,  deren  Spitzen  natürliche  Burgen  und  Akropolen 
bildeten,  während  die  eigentlichen  Wohnungen  an  den  Abhängen  Platz 
fanden.  Es  galt  hier  zunächst,  die  Natur  zu  unterstützen.  Es  war 
nicht  ausgeschlossen,  dass  im  ebenen  und  weichen  Terrain  schon  ein 
ausgehobener  Graben  und  aufgeschütteter  Wall  den  nöthigen  Schutz 
bot,  wofür  z.  B.  die  eine  Seite  der  Befestigungen  Troias  einen  Beleg 
geboten  hat.  Weiter  konnte  es  da,  wo  sich  Abhänge  mit  scharfen 
Rändern  fanden,  schon  genügen,  durch  Abarbeiten  des  Felsens  an 
einzelnen  Stellen  die  natürliche  Festigkeit  zu  verstärken  oder  einzelne 
Lücken  durch  Mauerwerk  auszufüllen.  wSonst  aber,  und  namentlich 
wo  ein  fester  Abschluss  gegen  die  Ebene  verlangt  wurde,  musste  der 
Hügel  gewissermaassen  mit  einer  künstlichen  Felswand  umkleidet 
werden.  Das  Material  dazu  lieferte  der  Berg  selbst,  und  aus  dem 
Material  entwickelte  sich  die  besondere  Art  der  Construction.  So 
natürlich  dieser  Satz  erscheint,  so  hat  er  sich  doch  erst  spät  Geltung 
verschafft.  (Canina,  Architect.  VII,  87.)  Früher  glaubte  man,  dass 
sich  die  horizontale  und  die  dem  Quaderbau  sich  annähernde  Schichtung 
erst  nach  und  nach  aus  dem  Polygonalbau  entwickelt  habe,  während 
eine  genauere  Beobachtung  lehrte,  dass  hier  kein  Moment  einer 
chronologischen  Scheidung  gegeben  sei,  und  dass  es  bei  freier,  nicht 
durch  besondere  constructive  Zwecke  bedingten  Wahl  rein  von  der 
Natur  des  an  einem  Orte  vorhandenen  Gesteins  abhing,  ob  man  der 
polygonen  oder  einer  mehr  quadratischen  Fügung  den  Vorzug  gab. 

Die  älteste  und  roheste  Art  besteht  in  einfacher  Schichtung  ge- 
waltiger Blöcke.  So  sagt  Pausanias  (II,  25,  8)  von  den  Mauern  von 
Tiryns,  sie  seien  aus  unbehauenen  Steinen  gebaut,  von  denen  jeder 
eine  Grösse  habe,  dass  ein  Maultiergespann  auch  den  geringsten  unter 
ihnen  nicht  um  ein  Weniges  aus  seiner  Lage  zu  verrücken  vermöge; 
kleine  Stücke  seien  schon  ursprünglich  eingefügt,  um  die  nöthige 
Verbindung  zwischen  den  grossen  herzustellen.  Dagegen  findet  sich 
ein  fester  Mörtel  noch  nicht  verwendet :  nur  haben  neuere  Beobachtungen 
den  Beweis  geliefert,  dass  die  Blöcke  in  dünne  Lagen  von  Lehm  oder 
Thon  eingebettet  waren,  die  jedoch  besonders  nach  aussen  hin  durch  den 
Einfluss  der  Witterung  meist  weggespült  sind  (Abb.  i).  Weiter  verlangte 
die  SoUdität  der  Construction,  dass  so  viel  als  möghch  die  breiteste 
Seite  nach  unten  gelegt  wurde,  während  nur  die  Herstellung  einer 


Kyklopische  Bauweise:  Constructives. 


7 


ebenen  Aussenseite  eine  oberflächliche  Bearbeitung  nöthig  machte. 
Von  diesen  Anfängen  aus  entwickelt  sich  das  Constructive  durch  eine 
Reihe  vön  Mittelstufen  zu  dem  feingefügten  Polygon-  und  Quaderbau. 
Überall  zeigt  sich  dabei  die  Tendenz  grösster  Sparsamkeit  in  der 
Bearbeitung.  Man  suchte  jeden  Stein  mit  möglichst  geringer  Einbusse 
an  seinem  Volumen  zu  verwerten  und  bediente  sich  dabei  w^ahr- 
scheinlich  des  sogenannten  lesbischen  Kanons  (Aristot.  Ethic.  Nie.  V,  12). 
Derselbe  bestand,  wie  es  scheint,  aus  einem  biegsamen  bleiernen  Stabe, 
den  man  in  die  durch  die  Schichtung  mehrerer  Steine  entstandenen 


I.    Stück  der  westlichen  Burgmauer  in  Tiryns. 


Winkel  drückte.  Mit  dem  auf  diese  Weise  gewonnenen  Winkelmaasse 
liess  sich  dann  unter  dem  vorhandenen  Material  leicht  ein  Stein  von 
ungefähr  entsprechender  Form  auswählen,  der  nur  geringer  Nachhilfe 
bedurfte,  um  in  die  betreffenden  Winkel  eingepasst  zu  werden.  Dieselbe 
Ökonomie  der  Arbeit  zeigt  sich  nicht  weniger  darin,  dass  die  Sorgfalt 
nicht  nur  im  Allgemeinen  durch  den  besonderen  Zweck  eines  Baues 
bedingt  erscheint,  sondern  dass  sich  sogar  an  einem  und  demselben 
Baue  verschiedene  Grade  von  Sorgfalt  finden.  Bei  einfachen  Stütz- 
mauern von  Terrassen,  wie  sie  nicht  selten  an  den  Abhängen  im 
Innern  der  Städte  vorkommen,  durfte  man  sich  mit  einfacher  Schichtung 
begnügen.  Die  Umkleidung  einer  regelmässigen  stufenförmigen  Tempel- 


8 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


substruction,  wie  z.  B.  in  Segni  (Dod- 
well,  Views  86),  verlangte  an  sich  schon 
eine  grössere  Aufmerksamkeit.  An  den 
Stadtmauern  ist  stets  die  innere  Seite 
nachlässiger  gearbeitet  als  die  äussere. 
An  letzterer  aber  steigert  sich  die 
Sorgfalt  wieder  an  den  leichter  ver- 


letzlichen Ecken,  wo  ausserdem  der 
Druck,  welchen  die  Massen  von  beiden  Seiten  gegen  dieselben  aus- 
üben, zum  Theil  dadurch  aufgehoben  wird,  dass  die  Hauptlinien  der 
Schichtung  nicht  abwärts  nach  den  Ecken,  sondern  von  diesen  nach 
den  Seiten  abfallen  (Abb.  2). 

Neue  Schwierigkeiten  entstanden,  wo  in  dem  Mauerringe  eine 
Öffnung,  ein  Thor  zu  lassen  war.  Die  Entwicklung  scheint  hier  von 
zwei  Punkten  ausgegangen  zu  sein.  Wo  sich  balkenartiges  Gestein 
vorfand,  schloss  man  die  obere  Öffnung  durch  einen  einzigen  Deckbalken, 
der  z.  B.  in  Alatri  eine  Länge  von  mehr  als  5  m  erreicht  (Abb.  3). 
Wo  diese  fehlten,  da  liess  man,  anstatt  senkrechte  Seitenpfosten  zu 
errichten,  von  den  dieselben  bildenden  Stein  schichten  stets  die  obere 


3.    Thor  in  Alatri.  4.     Gallerie  in  Tiryns. 


Über  die  untere  hervorragen,  bis  sie  sich  von  rechts  und  links  oben 
in  einer  Spitze  begegneten,  so  dass  eine  äusserlich  dem  gotischen 
Spitzbogen  verwandte  Öffnung  entstand  (Abb.  4).  Nach  Umständen  com- 


Kyklopische  Bauweise :  Constructives. 


9 


binierte  man  auch  beide  Systeme,  indem  man  sich  bei  partieller  Ein- 
ziehung der  Lagen  mit  einem  kürzeren  Deckbalken  begnügen  konnte.  Um 
einen  schwachen  Deckbalken  von  zu  grossem  Drucke  darüber  liegender 
Schichten  zu  entlasten,  Hess  man  über  seiner  Mitte  eine  nach  Art 
der  zweiten  Thorgattung  construirte  dreieckige  Öffnung  frei,  die,  wie 
beim  Löwenthor  von  Mykenae,  durch  eine  Platte  geschlossen  werden 


5.    Das  Löwenthor  von  Mykenae. 


konnte  (Abb.  5).  An  die  Stelle  der  einfachen  Decke  traten  zuweilen 
auch  sparrenförmig  gegen  einander  geneigte  Balken,  oder  die  obersten 
Schichten  wurden  durch  einen  als  Schlüssel  dienenden  Stein  in  der 
Mitte  auseinander  gehalten,  so  dass  schon  hier  deutlich  die  praktischen 
Anfänge  wirklicher  Bogenconstruction  hervortreten  (Abb.  6). 

Ausser  der  Thüröfifnung  verlangt  die  ganze  Anlage  der  Thore 
die  Beachtung  besonderer  Regeln.  Man  liebte  es,  die  von  aussen  in 
das  Thor  einmündenden  Strassen  nicht  direct  auf  dasselbe,  sondern 


lO  Erstes  Capitel.    Vorhornerische  Kunst. 

in  der  Art  neben  der  Mauer  hinzuführen,  dass  die  rechte  vom  vSchilde 
entblösste  Seite  eines  vorrückenden  Feindes  mit  Erfolg  von  der  Höhe 
der  Mauer  beworfen  werden  konnte.  War  das  Terrain  für  eine  solche 
Anlage  nicht  geeignet,  so  musste  dafür  eine  künstliche  Flankierung 
durch  einen  rechts  vom  Thore  hervortretenden  Thurm  oder  vielleicht 
richtiger  eine  Bastion  eintreten;  denn  wenn  auch  bei  Homer  die  Er- 
wähnung von  Thürmen  nicht  ganz  fehlt,  und  z.  B.  an  den  Mauern  von 
Tiryns  sich  manche  thurmartige  Anlagen  finden,  so  mögen  eigenthche 

Festungsthürme,  wenigstens  in  syste- 
matischer Anwendung  wohl  im  Fort- 
schritte der  Zeit  mit  polygonen  Mauern 
verbunden  sein,  im  ganzen  aber  sind 
sie  den  älteren  Anlagen  fremd. 

Es  kann  nicht  dieses  Ortes  sein, 
neben  den  constructiven  auch  die  rein 
fortificatorischen  Gesichtspunkte  weiter 
zu  verfolgen.  Doch  soll  nicht  unter- 
lassen werden,  hier  auf  die  lehrreichen 
Erläuterungen  hinzuweisen,  mit  denen 
Hauptmann  Steffen  die  von  ihm  be- 
arbeiteten »Karten  von  Mykenai«  (Berk 
1884)  begleitet  hat.  Sie  gewähren  ein 
Bild  davon,  wie  man  schon  in  den 
Zeiten  kyklopischer  BauAveise  sich  nicht 
bloss  auf  -die  Befestigung  eines  ein- 
zelnen Platzes  beschränkt,  sondern  wie 
ein  solcher  Platz  von  der  Bedeutung- 
Mykenaes  immer  den  Mittel-  und  Stütz- 
punkt eines  ausgedehnten  Befestigungssystems  bildete,  das  in  defensiver 
und  offensiver  Beziehung  eine  ganze  Landschaft  beherrschte. 

Ähnlich  wie  die  spitzbogigen  Thore  sind  die  Gallerien  construirt, 
die  sich  an  einigen  Orten  in  Argolis ,  besonders  in  Tiryns  erhalten 
haben.  Man  glaubte  dort  zwei  von  einander  getrennte,  parallel  laufende 
Gänge  im  Innern  der  südlichen  Burgmauer  von  einer  einfachen  Gallerie 
in  der  Ostmauer  trennen  zu  müssen,  die  sich  nach  aussen,  dem 
Abhänge  gegen  die  Stadt  hin,  in  der  Art  einer  Halle  durch  eine 
Reihe  von  gleichfalls  spitzbogigen  Thüren  zu  öffnen  schien  (Gell, 
Argolis  T.  15 — 16;  Arch.  Zeit.  1845,  T.  26).  Es  lag  nahe,  an  die 
KvxAMJiia  TToodvoa  des  Eurystheus  bei  Pindar  (fragm.  inc.  15)  zu  erinnern. 


Kyklopische  Bauweise:  Constructives. 


in  welche  Herakles  die  Rinder  des  Geryon  einsperrte,  oder  auch  die 
ganze  Anlage  mit  den  von  Pausanias  II,  25,  g  erwähnten  Kammern 
(^dla/iwi)  der  Töchter  des  Proetos  in  Verbindung  zu  bringen.  Erst  die 
Ausgrabungen  Schliemanns  haben  ergeben ,  dass  von  den  beiden 
Gängen  der  Südseite  der  obere  durch  eine  Treppe  den  Zugang  zu 
dem  unteren  vermittelte  und  dass  von  diesem  aus  eine  Reihe 
von  Thüren  in  ebensoviele  noch  jetzt  erhaltene  Kammern  führte, 
während   die  Ostseite  die  ganz  gleiche  Anlage  zeigt,  nur  mit  dem 


7.    Gallerie  in  der  Südmauer  von  Tiryns. 


Unterschiede,  dass  die  Kammern  jetzt  zerstört  und  nur  die  Eingänge 
erhalten  sind  (Schliemann,  Tiryns  S.  365  ff.)  Es  kann  wohl  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  diese  Anlagen  als  kellerartige  Vorraths- 
kammern zu  dienen  bestimmt  waren,  deren  man  für  die  Zwecke  einer 
längeren  Vertheidigung  bedurfte,  ohne  dass  ihnen  eine  fortificatorische 
Bedeutung  im  engeren  Sinne  zukäme  (Abb.  7). 

Es  ist  bereits  erwähnt  worden,  dass  sich  neben  dem  Polygonbau 
auch  die  zu  dem  regulären  Quaderbau  hinführende  Constructionsweise 
entwickelte.  So  sehr  nun  hierbei  die  Natur  des  Materials  in  Betracht 
kam,  so  weist  doch  der  Umstand,  dass  beide  Systeme  an  demselben 
Orte  neben  einander  auftreten,  darauf  hin,  dass  auf  die  weitere  Aus- 


12 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


bildung  noch  besondere  Bedingungen,  namentlich  der  Zweck  und  die 
eigenthümliche  Natur  gewisser  Bauten  bestimmend  einwirkten. 

Den  Beweis  dafür  liefern  die  sogenannten  Thesauren,  unter  denen 
durch  Grösse  und  Erhaltung  das  »Schatzhaus  des  Atreus«  bei  Mykenae 
die  hervorragendste  Stelle  einnimmt  (Gell,  Argolis  pl.  4—6 ;  Donaldson 
im  Supplement  zu  Stuart  and  Revett  Ant.  of  Athens  pl.  i — 5;  Mitt. 
d.  ath.  Inst.  IV.  S.  177).  Es  lässt  sich  in  seiner  Gestalt  mit  einem 
Bienenkorb  vergleichen,  der  halb  in  den  Boden  eingesenkt  mit  einem 


8.  u.  9.    Das  sog.  Schatzhaus  des  Atreus.    Durchschnitt  und  Grundriss. 


Erdhügel  überdeckt  ist,  welcher  durch  seinen  Druck  den  ganzen  Bau 
zusammenhält.  Ein  langer,  20' breiter,  in  den  Hügelrand  eingeschnittener 
und  an  beiden  Seiten  mit  Mauern  verkleideter  Gang  führt  zu  der  über 
20'  hohen  und  oben  7V2'>  unten  etwas  breiteren  Thür,  die  in  ihrer 
ganzen  Breite  und  Tiefe  durch  zwei  nebeneinanderliegende  Steine 
überdeckt  ist,  von  denen  der  grössere  an  der  Innenseite  die  gewaltigen 
Maasse  von  fast  27'  Länge,  16^  Breite  und  fast  4'  Dicke  hat.  Ein  über 
der  Mitte  in  der  oben  angegebenen  Weise  offen  gelassenes  Dreieck 
dient  zu  seiner  Entlastung.  Der  innere  Rundbau  hat  einen  Durch- 
messer von  etwa  48'  und  die  gleiche  Höhe;  und  aus  ihm  führt  rechts 
eine  kleinere  Thür  in  ein  schmuckloses  viereckiges  Gemach  (Abb.  8  u.  9). 


Kyklopische  Bauweise:  Constructives. 


13 


Das  Princip  der  Construction  entspricht  dem  bei  den  spitzbogigen 
Thoren  angewendeten,  nur  dass  die  Natur  des  Rundbaues  einen  ziemUch 
durchgebildeten  Quaderbau  verlangte.  Die  Steine  liegen  horizontal 
in  kreisförmigen  Reihen  und  treffen  von  unten  beginnend  in  allmälig 
verengerten  Ringen  im  Scheitel  zusammen.  Von  eigentlicher  Gewölbe- 
construction  ist  also  noch  nicht  die  Rede;  ja  die  Steine  sind  nicht 
einmal  in  den  Radien  der  horizontalen  Reihen  keilförmig  zugeschnitten ; 
das  Versetzen  der  Steine  geschah  nur  mit  geebneter  Lager-  und 
Stossfläche;  die  Glättung  der  innen  regelmässig  gebogenen  Stirnflächen 
erst  nach  dem  Versetzen.  Die  Fügung  der  Steine  ist  sehr  sorgfältig 
und  ohne  festes  Bindemittel  ausgeführt;  nur  eine  Art  Lehm  diente 
zur  Ausfüllung  der  Fugen. 

Viel  ist  über  die  Bestimmung  des  Baues  gestritten  worden.  Da 
Pausanias  (II,  16,  6)  berichtet,  dass  unter  den  Ruinen  von  Mykenae, 
die  damals  kaum  bedeutender  waren  als  jetzt,  des  Atreus  und  seiner  Söhne 
unterirdische  Bauten,  in  denen  sie  ihre  Schätze  aufbewahrten,  ferner 
das  Grab  des  Atreus  und  verschiedene  andere  Bauten  besonders  be- 
merkenswert seien,  so  haben  die  Ansichten  zwischen  der  Bedeutung 
von  Schatzhäusern  und  von  Gräbern  geschw^ankt  (vgl.  besonders 
Welcker  kl.  Schriften  III,  353).  Nun  liegt  unser  Monument  nebst 
den  Resten  einiger  anderen  von  verwandter  Art  ausserhalb  der  Stadt- 
mauer, während  man  zur  Aufbewahrung  von  Schätzen  gewiss  den 
gegen  Angriffe  am  meisten  gesicherten  Platz,  nämlich  die  Akropolis 
wählte.  Für  ein  Schatzhaus  erscheint  ferner  der  grossartige  Eingang 
wenig  geeignet;  man  erwartet  für  ein  solches  vielmehr  eine  Anlage 
wie  die  des  Thesauros  in  Messene,  in  welchem  Philopoimen  seinen 
Tod  fand  (Plut.  Philop.  19;  Liv.  39,  50),  ohne  Luft  und  Licht  von 
aussen  und  ohne  Thür,  nur  mit  einer  oberen,  durch  einen  grossen 
Stein  verschliessbaren  Öffnung,  durch  welche  man  sich  in  das  Innere 
hinabliess;  oder  es  dürften  auch  die  den  tirynthischen  verwandten 
Reste  von  Gallerien  in  der  Burgmauer  (Arch.  Anz.  1862,  S.  329; 
Schliemann,  Myk.  S.  35)  mit  den  von  Pausanias  erwähnten  Schatz- 
häusern in  Verbindung  zu  setzen  sein.  Für  Grabesbestimmung  sprechen 
dagegen  sowohl  die  Lage  ausserhalb  der  Stadt,  das  Nebeneinander 
mehrerer  ähnlicher  Bauten,  als  der  über  denselben  aufgeschüttete 
Tumulus,  die  Art  des  Zuganges,  die  mit  Steinplatten  verschliessbare 
Thür,  die  von  dem  Hauptraum  gesonderte  kleinere  Grabkammer  und 
die  aus  vorhandenen  Spuren  noch  erkennbare  reiche  Ausschmückung 
des  Portals  und  des  Inneren  in  Stein  und  Metall  (s.  u.).    Mit  Recht 


14 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


ist  ferner  darauf  hing-ewiesen  worden,  wie  die  Erwähnungen  des 
Sophokles  über  das  Grab,  in  welches  Antigone  eingeschlossen  wird, 
durchaus  auf  einen  Bau  verwandter  Art  hindeuten  (Antig.  774;  849; 
885;  945;  949;  1204—5;  vgl-  Elect.  379—82). 

Die  hier  dargelegten  Ansichten  haben  durch  die  Untersuchungen 
der  letzten  Jahre  ihre  volle  Bestätigung  erhalten  (vgl.  Adler  in  der 
Vorrede  zu  Schliemanns  Tiryns  S.  33  ff.).  Unsere  Kenntnisse  sind 
nicht  mehr  auf  das  „Schatzhaus  des  Atreus"  und  das  des  Minyas  in 
Orchomenos  (s.  u.)  beschränkt.  Wir  haben,  wenn  auch  zum  Theil  nur 
ungenügende,  Kunde  von  weiteren  fünf  verwandten  Anlagen  bei 
Mykenae  erhalten,  ferner  von  einem  ähnlichen  Bau  in  der  Nähe  des 
Heräon  von  Argos  (Mitt.  d.  a.  J.  III,  271),  ebenso  bei  Pharis  (Baphio) 
in  Lakonien  und  bei  Volo  (Dimini)  in  Thessalien  (ebd.  IX,  99;  XI,  435; 
XII,  136;  'E(pr]^.  oLQx.  1889,  136).  Von  besonderer  Bedeutung  ist  aber 
das  „Kuppelgrab  bei  Menidi"  in  Attika  (herausgeg.  vom  d.  arch.  Inst, 
in  Athen  1880).  Von  geringerem  Umfang  als  das  des  Atreus  ent- 
spricht es  doch  demselben  durchaus  in  seiner  Gesamtanlage,  zeigt  aber 
einen  weit  älteren  und  roheren  Baucharakter,  indem  das  Ganze  ohne 
jede  eigentliche  Meisselarbeit  aus  Kalkbruchsteinen  errichtet  ist.  Der 
reiche  Inhalt  aber,  der  hier  sorgfältiger  als  anderwärts  erforscht  worden 
ist,  kann  über  die  Grabesbestimmung  des  Baues  auch  nicht  den  ge- 
ringsten Zweifel  übrig  lassen. 

Allerdings  ist  es  dadurch  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  die 
gleiche  Constructionsweise,  natürlich  unter  bestimmten  Modificationen, 
für  andere  Zwecke  verwendet  werden  konnte  und  wirklich  verwendet 
wurde.  Beispiele  dafür  liefern  das  Quellenhaus  von  Burinna  auf  Kos 
(Texier,  Asie  mineure  II,  pl.  133;  Arch.  Zeit.  1850,  T.  22)  und  der 
untere  Theil  des  mamertinischen  Gefängnisses  in  Rom,  ursprünglich 
ebenfalls  ein  Ouellenhaus  (Canina,  Caere  t.  10),  welche  indessen  in 
constructiver  Beziehung  nichts  Neues  lehren. 

Auf  Fragen  dieser  Art  leiten  vielmehr  einige  Nachrichten  über 
eines  der  Kuppelgräber,  das  bisher  nur  kurz  erwähnte  „Schatzhaus 
des  Minyas"  in  Orchomenos  hin.  Pausanias  IX,  36,  4;  38,  2  nennt  es 
ein  Wunderwerk,  welches  keinem  in  Hellas  und  anderwärts  nachstehe; 
es  sei  aus  Stein  (Marmor)  erbaut  und  von  runder  Gestalt,  oben  in  eine 
nicht  gerade  scharfe  Spitze  auslaufend;  der  oberste  Stein  aber  solle 
dem  Ganzen  als  „Harmonia",  Verbindung,  dienen.  Der  Bau,  nicht  nur 
im  Grundplan,  sondern  auch  in  seinen  Grössen  Verhältnissen  dem  Schatz- 
haus des  Atreus  annähernd  entsprechend,  ist  nur  in  den  acht  untersten 


Kyklopische  Bauweise:  Constructives, 


15 


Steinschichten  ganz,  in  vier  andern  nur  sehr  teilweise  erhalten,  der 
ganze  obere  Theil  eingestürzt.  Auffällig  musste  hier  die  Erwähnung 
des  obersten  Steines  erscheinen,  der,  wenn  er  einfach  die  runde  Öffnung 
des  letzten  verengerten  Steinkreises  zugedeckt  hätte,  keineswegs  die 
besondere  Bedeutung  für  sich  hätte  in  Anspruch  nehmen  können,  die 
ihm  doch  als  Harmonia,  als  Schlussstein  des  Ganzen  beigelegt  zu 
werden  scheint.  So  glaubte  man  also  eine  Hindeutung  auf  Gewölbe- 
bau  zu  erkennen,  um  so  mehr  als  W.  Mure  (Ann.  d.  Inst.  1838,  p.  141) 
auf  eine  leise  Neigung  nach  innen  in  dem  Zuschnitt  der  oberen  Fläche 
des  die  Thür  überdeckenden  gewaltigen  Steinbalkens  hinwies,  welche 
mit  der  Auffassung  der  Worte  des  Pausanias  im  besten  Einklänge 
zu  stehen  schien.  In  den  Berichten  Schliemanns  über  seine  ausge- 
dehnten Untersuchungen  an  Ort  und  Stelle  wird  dieser  besonderen 
Streitfrage  gar  nicht  gedacht.  Doch  darf  aus  seinem  Stillschweigen, 
sowie  aus  den  Bemerkungen  über  einen  von  ihm  für  den  Schlussstein 
gehaltenen  Steinblock  wohl  gefolgert  werden,  dass  sich  seinen  Beob- 
achtungen nichts  dargeboten  hat,  was  sich  auf  eine  von  der  mykenischen 
abweichende  Constructionsweise  deuten  liesse. 

Eine  entscheidende  Bedeutung  für  die  Frage  nach  dem  Alter 
des  Gewölbebaues  kann  leider  auch  einem  anderen  besser  erhaltenen 
Bauwerke  nicht  beigelegt  werden.  Derselbe  W.  Mure  hat  in  den 
Mon.  d.  Inst.  II,  57  einen  Brückenbogen  in  reiner  Wölbung  von  27' 
Spannweite  abgebildet,  welcher  zwischen  die  kyklopischen  Substruc- 
tionen  einer  Strasse  eingesprengt,  also  mit  diesen  gleichalterig  ist. 
Er  findet  sich  drei  Stunden  von  Sparta  bei  Xerokampo  an  der  einzigen 
Stelle,  die  einen  Übergang  zu  Wagen  von  Pherae  nach  Sparta  über 
den  Taygetos  ermöglicht.  Diese  Strasse  musste  also  nach  Homers 
Erzählung  Telemachos  auf  seiner  Fahrt  von  Pylos  nach  Sparta  pas- 
sieren (Od.  IV,  487 — 97);  allein  ob  damals  die  noch  jetzt  erhaltene 
Brücke  schon  vorhanden  war,  lässt  sich  mit  Sicherheit  in  keiner  Weise 
behaupten.  Etwas  mehr  lehren  uns  die  Mauern  von  Oeniadae  und 
einigen  anderen  akarnanischen  Städten,  die  zuerst  durch  Mure  (a.  a.  O.), 
dann  genauer  durch  Heuzey  (le  mont  Olympe  et  TAcarnanie)  bekannt 
geworden  sind.  Sie  bestätigen  zunächst  die  Richtigkeit  einer  Be- 
merkung Sempers  (Stil  II,  456):  „Offenbar  ist  in  dem  entwickelten 
kyklopischen  Gemäuer  das  Princip  des  Gewölbes  latent;  mag  man 
dasselbe  durchbrechen,  wo  man  wolle,  so  bildet  sich  über  der  Bresche 
von  selbst  ein  Spannbogen,  der  sich  dem  Einstürzen  der  oberen  Mauer- 
theile  entgegenstemmt."  Von  diesem  Ausgangspunkt  lässt  sich  an  den 


i6 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Thoren  von  Oeniadae  die  Entwicklung  der  Bogenconstruction  durch 
eine  Reihe  von  Zwischenstufen  verfolgen,  und  zwar  so,  dass  auch  an 
den  fortgeschrittensten  Leistungen  (so  besonders  dem  Thore  bei  Heuzey 
pl.  i6)  sich  immer  noch  erkennen  lässt,  wie  die  Vervollkommnung 
mit  einer  natürlichen  Ursprünglichkeit  sich  durchaus  auf  dem  Wege 
praktischer  Versuche  vollzog.  Nun  hören  wir  von  den  Mauern  von 
Oeniadae  allerdings  zuerst  bei  Gelegenheit  der  Belagerung  und  Er- 
oberung durch  die  Messenier  im  Jahre  453  v.  Chr.  (Paus.  IV,  25),  was 
jedoch  in  keiner  Weise  ausschliesst,  dass  ihre  Erbauung  in  eine  weit 
frühere  Epoche  hinaufreicht.  Schon  diese  historische  Angabe  aber 
zeigt  wenigstens,  dass  Demokrit  von  Abdera  zur  Zeit  des  peloponnesi- 
schen  Krieges  nicht,  wie  Seneca  (Ep.  90)  behauptet,  der  Erfinder  des 
Gewölbebaues  war,  sondern  dass  sich  sein  Verdienst  auf  die  wissen- 


10.  u.  II.    Nurhagen  auf  Sardinien. 


schaftliche  Begründung  desselben  beschränkt  haben  mag.  Andererseits 
soll  hier  weniger  betont  werden,  was  durch  neuere  Forschungen  über 
eine,  wenn  auch  wenig  ausgedehnte  Anwendung  der  Bogencon- 
struction in  sehr  alten  Bauten  Aegyptens  und  Assyriens  festgestellt 
ist  (Perrot,  Hist.  de  l'art  I,  530;  II,  231).  Wohl  aber  muss  mit  allem 
Nachdruck  darauf  hingewiesen  werden,  dass  wir  in  der  Cloaca  maxima 
in  Rom  ein  Denkmal  aus  der  letzten  Königszeit  besitzen,  welches  die 
volle  systematische  Durchbildung  des  Gewölbebaues  voraussetzt  und 
umsomehr  unsere  Bewunderung  verdient,  als  es  unter  sehr  schwierigen 
Bedingungen  in  einem  sumpfigen  Terrain  ausgeführt  ist  (Ant.  Denkm. 
d.  Inst.  II,  37). 

Wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen,  dass  wir  bei  der  Erforschung 
von  Zeiten,  in  welche  kaum  ein  directes  historisches  Zeugnis  zurück- 
reicht, leichter  als  sonst  dem  Irrtum  unterworfen  sind;  aber  betrachten 
wir  den  verständigen  praktischen  Sinn,  der  aus  der  kyklopischen  Bau- 


Kyklopische  Bauweise :  Constructives. 


17 


weise  hervorleuchtet,  überlegen  wir  ferner,  wie  ihre  Massenhaftigkeit 
eine  nicht  unbedeutende  Kenntnis  technischer  Hilfsmittel  und  wenigstens 
praktisches  Verständnis  mechanischer  Gesetze  voraussestzt,  so  wird 
wenigstens  die  Möglichkeit  anerkannt  werden  müssen,  dass  die  Anfänge 
des  Gewölbebaues  auch  bei  den  Griechen  bis  gegen  die  homerischen 
Zeiten  zurückreichen,  wenn  derselbe  auch  nur  für  bestimmte  seltene 
Fälle  reserviert  und  ausserdem  bei  der  zunächst  folgenden  Entwicklung 
der  griechischen  Architektur  durch  andere  Auskunftsmittel  vorläufig 
in  den  Hintergrund  gedrängt  worden  sein  mag. 

Im  Anschluss  an  die  sogenannten  Thesauren  oder  Kuppelgräber 
ist  hier  der  eigenthümlichen  Bauten  kurz  zu  gedenken,  welche  unter 
dem  Namen  Nurhagen  auf  Sardinien  zu  Tausenden,  oder  Talayots  auf 


12.    Nurhage  auf  Sardinien. 


den  Balearen  zu  Hunderten  sich  finden  (A.  de  la  Marmora,  Voyage  en 
Sardaigne  II,  Atl.  pl.  6 — 14;  EttorePais,  La  Sardegna  prima  del  dominio 
romano,  in  den  Atti  dei  Lincei  1880 — 81)  (Abb.  10 — 12).  Der  harte 
Felsboden  dieser  Inseln  gestattete  keine  unterirdischen  Anlagen.  Sie 
sind  daher  über  der  Erde  in  Form  von  abgestumpften  Kegeln  aus  mög- 
lichst horizontal  geschichteten  roh  quadratischen  Blöcken  ohne  Mörtel 
aufgeführt  und  bilden  den  sehr  massiven,  fünf  und  mehr  Meter  dicken 
Mantel  eines  glockenförmigen  Raumes  von  4  —5  m  Durchmesser, 
der  in  seiner  Form,  wie  in  der  Construction  seiner  Wände  dem  Schatz- 
hause des  Atreus  im  wesentlichen  entspricht.  Zuweilen  findet  sich 
über  demselben  noch  eine  zweite,  ja  sogar  noch  eine  dritte  Kammer. 
Enge,  an  der  äusseren  Öffnung  nicht  mannshohe,  nach  innen  sich 
erweiternde  Gänge  bilden  die  Verbindung  zwischen  aussen  und  innen 
und  winden  sich  spiralförmig  nach  den  oberen  Stockwerken  und  bis 


i8 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


auf  die  Plattform.  Ohne  Fenster  erhalten  sie  nur  selten  durch  eine 
spaltenartige  Öffnung  ein  schwaches  Licht.  Oft  finden  sich  zwei,  drei 
und  mehrere  solcher  Thürme  durch  einen  gemeinsamen  Mantel  zu 
einer  Einheit  von  elliptischem  oder  dreiblattförmigem  Grundriss  ver- 
bunden. Lange  sind  sie  für  Gräber  gehalten  worden,  doch  scheinen 
manche  Gründe  für  Behausungen  der  Lebenden  zu  sprechen:  zwar 
nicht  Wohnungen,  in  denen  sich  der  Mensch  nach  Bequemlichkeit 
einrichtet,  sondern  Zufluchtstätten,  die  durch  ihre  schwere  Zugänglich- 
keit bei  noch  ungeordneten  Culturzuständen  für  Personen  und  werth- 
volleren Besitz  gegen  plötzliche  Angriffe  Schutz  und  Sicherheit 
gewährten.  Man  hat  phönikische  Gegenstände  in  ihnen  gefunden. 
Doch  darf  uns  dieser  Umstand  nicht  verleiten,  die  Bauten  selbst  diesem 
Volke  beizulegen,  das  wohl  seine  Handelsfactoreien,  aber  schwerlich 
eigentliche  Colonien  auf  diesen  Inseln  besass.  Sie  können  daher  nur 
der  ältesten  einheimischen  Bevölkerung  angehören,  mag  diese  nun 
tyrrhenischen  oder  iberischen  Stammes  gewesen  sein.  Denn  wenn  sie 
auch  Pseudo- Aristoteles  (mirab.  auscult.  loo)  mit  lolaos,  Diodor 
(IV,  30)  mit  Daedalos  in  Verbindung  setzt  und  ersterer  sie  nach  ihrer 
Construction  mit  der  althellenischen  Bauweise  vergleicht,  so  dürfen 
sie  doch  nur  als  eine  Abart  derselben  betrachtet  werden.  Noch  mehr 
entfernen  sich  von  rein  griechischem  Charakter  die  auf  den  gleichen 
Gebieten  vorkommenden  Sepolcri  de'  Giganti.  Die  Giganteja  endHch 
auf  Gozzo  bei  Malta  (Nouv.  Ann.  de  l'Inst.  pl.  i — 2),  vielleicht  phöni- 
kische Cultstätten,  erinnern  nur  noch  in  der  Schichtung  der  Steine 
an  die  kyklopische  Weise,  dürften  aber  am  wenigsten  geeignet  sein, 
den  Ursprung  und  die  Ausbildung  derselben  auf  die  Phönikier  zurück- 
zuführen. 

Bei  einem  Blicke  auf  die  bisher  betrachteten  Bauten  lässt  sich 
nicht  verkennen,  dass  die  Anwendung  der  kyklopischen  Constructions- 
weise  im  Grunde  einzig  auf  dem  Principe  der  Umkleidung  beruht. 
Die  Mauer  hat  nur  die  Bedeutung  eines  Walles,  der  nach  aussen 
durch  sorgfältiger  gefügte  Steine  mit  einem  Mantel  umkleidet  wird, 
während  umgekehrt  bei  den  Thesauren  dieser  Mantel  die  Richtung 
nach  dem  inneren  Räume  hat  und  bei  den  Nurhagen  die  äussere  und 
die  innere  Bekleidung  combiniert  erscheinen.  Die  Vorteile  des  ganzen 
Systems,  die  Ökonomie  der  Arbeit  in  der  Benützung  des  Materials 
mussten  natürlich  verschwinden,  sobald  man  es  für  die  Errichtung 
einer  aufrechtstehenden  Wand  verwenden  wollte,  welche  bei  mässiger 
Stärke  nach  aussen  und  nach  innen  eine  ebene  Fläche  darbieten  soll. 


Kyklopische  Bauweise:  Constructives. 


19 


Hieraus  erklärt  es  sich,  dass  in  wirklich  alter  Zeit  (vereinzelte  Beispiele 
aus  späteren  Perioden,  wie  eine  Tempelcella  in  Rhamnus  und  die 
Ruinen  von  Knidos  und  Aperrae  in  Lykien:  Texier  III,  160  u.  207, 
können  hier  nicht  in  Betracht  kommen)  die  kyklopische  Bauweise 
für  einfachen  Wandbau  nicht  nachweisbar  ist.  Nur  in  einem  kleinen 
District  findet  sich  eine  Ausnahme;  aber  auch  dort  ist  sie  wieder  be- 
g-ründet  und  gerechtfertigt  durch  die  Natur  des  Materials.  Es  handelt 
sich  um  einige  wahrscheinlich  dem  dryopischen  Volksstamme  an- 
gehörige  Bauten  auf  dem  südlichen  Teile  von  Euböa,  unter  denen 
namentlich  der  Tempel  auf  der  Höhe  des  Ocha  genauer  bekannt 
geworden  ist  (Mon.  d.  Inst.  III,  37;  Welcker,  kl.  Schriften  III,  376; 
vgl.  Rhein.  Museum  X,  611;  Bur- 
sian  in  der  Arch.  Zeit.  1855,  S. 
12g).  Er  ist  ein  kleines,  länglich 
viereckiges  Gebäude  von  12,70  m 
äusserer  und  9,85  m  innerer  Länge, 
7,70  äusserer  und  4,95  m  innerer 
Breite,  mit  einfacher  Thür  und 
zwei  kleinen  Fenstern  an  der 
einen  Längenseite  (Abb.  13).  Das 
Material,  welches  hier  zur  Ver- 
wendung kam,  ist  ein  leicht  spalt- 
barer, schieferiger  Stein,  der  in 
dünneren  oder  dickeren  Platten 
brach,  denen  sich  ohne  grosse  ^3.  Heiligthum  auf  dem  Berge  ucha. 

Mühe  eine  länglich  viereckige  Ge- 
stalt geben  Hess.  So  wurden  hier  durch  oblonge  Schichtung  wirkliche 
Wände  hergestellt,  welche  indessen  wegen  der  Art  der  Bedachung 
die  immerhin  sehr  bedeutende  Stärke  von  1,33 — 1,52  m  haben.  Mehrere 
übereinandergelegte  Steinplatten,  von  denen  stets  die  obere  über  die 
untere  hervorragt,  treten  nämlich  von  den  vier  Seiten  nach  der  Mitte 
vor  und  werden  durch  andere  Steine,  die  senkrecht  über  der  Mauer 
auf  ihnen  lasten,  im  Gleichgewicht  gehalten.  Diese  immerhin  etwas 
kühne  Construction  würde  man  sich  wesentlich  erleichtert  haben, 
wenn  man  die  Kopfenden  der  obersten  Platten  sparrenartig  gegen- 
einander gelehnt  und  sie  teilweise  durch  ihr  eigenes  Gewicht  sich 
hätte  stützen  lassen.  Allein  in  der  ganzen  Firstlinie  findet  sich  eine 
0,50  m  breite  Spalte,  die,  wo  Fenster  vorhanden  sind,  keineswegs  bloss 
zum  Behufe  der  Beleuchtung  offen  gelassen  sein  kann.  Da  nun  ähnliche 

2* 


20 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Öffnungen  sich  auch  an  den  verwandten  Bauten  von  Stura  finden 
(s.  o.),  so  haben  wir  hier  das  älteste  vSystem  hypäthraler  Anlagen  zu 
erkennen,  und  müssen  daraus  folgern,  dass  der  ganze  Bau  nicht  etwa 
als  Sennhütte  oder  als  Grab,  sondern  als  Local  für  rehgiösen  Cultus 
gedient  hat.  Die  Sage,  dass  Zeus  seine  heilige  Hochzeit  mit  der  Hera 
auf  dem  Ocha  gefeiert  habe  (Steph.  Byz.  5.  v.  Käqx,oxog),  gestattet  es,  den 
Tempel  mit  dem  Cultus  dieser  Gottheiten  in  Verbindung  zu  setzen, 
während  die  Gebäude  bei  Stura  der  Demeter,  dem  Klymenos  und  der 
Kora  geweiht  sein  mochten.  —  Von  einer  weiteren  Verbreitung  dieser 
Bauweise  finden  sich  keine  Spuren,  wenn  nicht  etwa  die  »mit  langen 
Steinen  überdeckte«  Wohnung  der  Styx  bei  Hesiod  (Theog.  778)  auf 
verwandte  Dachconstructionen  in  dem  benachbarten  Böotien  hin- 
deuten sollte. 

Was  von  Labyrinthen,  Kanälen  und  ähnlichen  Anlagen  der 
sagenhaften  Zeit  sonst  noch  erzählt  wird,  kann  hier  übergangen  werden, 
da  die  betreffenden  Nachrichten  uns  über  das  Constructive  im  Un- 
klaren lassen.  Nur  die  Reste  einiger  pyramidalen  Anlagen  im  Peloponnes 
(Bleuet,  Exped.  de  la  Moree  II,  pl.  55;  vgl.  Reber,  Gesch.  d.  Bauk. 
S.  224)  mögen  hier  kurz  erwähnt  werden,  um  zu  bemerken,  dass  ihre 
Ähnlichkeit  mit  den  Pyramiden  nur  eine  äusserliche  ist.  Sie  schliessen 
sich  vielmehr  den  bisher  betrachteten  pelasgischen  Bauten  an,  gehören 
aber  wegen  der  Anwendung  eines  festen  Mörtels  in  eine  spätere  Zeit. 

Die  Ausschmückung.  So  wenig  sich  die  pelasgische  Bauweise 
in  chronologischer  Entwicklung  verfolgen  liess,  so  zeigte  sie  doch  in 
der  Systematik  einen  Fortschritt  von  rohen  Anfängen  zu  einer  sorg- 
fältigen Durchbildung  des  rein  Constructiven.  Wie  überall,  war  auch 
hier  das  Bedürfnis  die  Mutter  des  Fortschrittes,  und  insofern,  als  die 
Befriedigung  des  Bedürfnisses  in  der  äusseren  Erscheinung  der  Form 
überall  zum  deutlichen  Ausdruck  gebracht  wurde,  war  auch  den  ersten 
Forderungen  einer  ästhetischen  Wirkung  bereits  Genüge  geleistet. 
Wir  bewundern  den  gesunden  Sinn  für  das  Zweckmässige  in  der 
Anlage.  Bald  indessen  musste  auch  die  Lust  erwachen,  dem  Noth- 
wendigen  und  Nützlichen  den  Schmuck  hinzuzufügen,  und  sind  uns 
hier  auch  nur  dürftige  Reste  erhalten,  so  bieten  sie  uns  doch  nicht 
unwichtige  Fingerzeige  für  die  Entwickelung  der  weiteren  Fortsehnte. 

In  den  Kuppelgräbern,  besonders  dem  grossen  von  Mykenae  und 
dem  von  Orchomenos  befinden  sich  an  den  Wänden,  wie  an  den 
Thürumrahmungen  zahlreiche  in  regelmässiger  Ordnung  angebrachte 


/ 

Kyklopische  Bauweise :   Ausschmückung.  2  I 

Löcher,  in  denen  vielfach  noch  breitköpfige  Bronzenägel  stecken. 
Dazu  sind  bei  verschiedenen  Grabungen  Reste  von  geschmolzenem 
Metall  und  Metallplatten,  einmal  sogar  in  einer  der  kleineren  Kuppeln 
„eine  Erzplatte  an  der  inneren  Fläche  noch  wohl  erhalten"  (Arch.  Anz. 
1862,  S.  329),  zu  Tage  gekommen.  Wenn  nun  auch  die  Annahme, 
dass  das  ganze  Innere  dieser  Bauten  mit  Metall  überzogen  gewesen 
sei,  durch  die  neueren  Untersuchungen  keine  Bestätigung  gefunden 
hat,  so  darf  doch  eine  theilweise  Bekleidung  mit  Sicherheit  ange- 
nommen werden.  Wie  weit  freilich  das  Metall  friesartig  in  einfachen 
Platten  verwendet  oder  in  anderen  Formen  decorativ  verarbeitet  war, 
hat  sich  bisher  nicht  feststellen  lassen. 

Ein  deutliches  Bild  damaliger  Ornamentik  bietet  die  Steindecke 
der  Nebenkammer  in  Orchomenos  (Schliemann,  Orchomenos  Taf.  i  u.  2 
und  im  Journ.  of  hell.  stud.  II,  12  u.  13),  die  in  flachem  Relief  nach  Art 
eines  ausgebreiteten  Teppichs  mit  besonderem  Mittelstück  geziert  ist. 
Das  Hauptornament  bilden  spiralförmige  Mäander  mit  Fächerblumen 
in  den  Ecken,  während  die  Säumung  des  Mittelstückes  wie  des  ganzen 
Teppichs  durch  reich  gegliederte  Rosetten  bewirkt  wird.  Beim  ersten 
Anblicke  glauben  wir  es  hier  mit  einer  sehr  vorgeschrittenen  Kunst- 
entwicklung zu  thun  zu  haben,  die  in  so  alter  Zeit  schwer  begreiflich 
erscheint.  Am  leichtesten  möchte  man  sich  aus  dieser  Verlegenheit 
durch  den  Hinweis  befreien  zu  können  meinen,  dass  die  gleichen 
Elemente  der  Decoration  sich  bereits  in  Ägypten,  im  neuen  Reiche, 
aber  immer  noch  früher  als  im  ältesten  Griechenland  wiederfinden. 
Dass  Ägypter  in  Orchomenos  gearbeitet,  wird  allerdings  wohl  niemand 
zu  behaupten  wagen.  Aber,  könnte  man  sagen,  ornamentale,  schema- 
tische „Formeln"  lassen  sich  ja  leichter,  fast  wie  mechanisch  von  einem 
Volke  oder  einem  Orte  anderswohin  übertragen,  als  die  künstlerischen 
Gestaltungen  lebendiger,  organischer  Geschöpfe.  Doch  mahnt  hier 
wieder  eine  andere  Erwägung  zur  Vorsicht,  nämlich  dass  gerade  die 
Spirale  und  die  Rosette  der  ältesten  ägyptischen  Kunst  als  Grund- 
elemente nicht  eigenthümlich ,  sondern  erst  im  neuen  Reiche  durch 
asiatischen,  wahrscheinlich  assyrischen  Einfluss  eingeführt  zu  sein 
scheinen  (v.  Sybel,  Kritik  des  ägypt.  Ornamentes  S.  i).  Wenn  es 
hiernach  noch  keineswegs  sicher  ist,  auf  w^elchem  Wege  diese  Elemente 
in  Griechenland  Eingang  fanden,  so  werden  wir  andererseits  kaum 
eine  einfache,  rein  mechanische  Übertragung  ohne  Spuren  eigener 
Weiterentwicklung  annehmen  dürfen.  Vergessen  wir  also  vorläufig 
die  Frage  nach  dem  Ursprünge,  um  uns  vielmehr  klar  zu  machen. 


22 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


auf  welcher  Stufe  der  Entwicklung  das  steht,  was  wir  vor  Augen 
haben.  Hier  nun  kann  uns  ein  merkwürdiger  Irrthum  in  der  Publi- 
cation  Schliemanns  zur  Erkenntnis  der  engen  Schranken  führen,  inner- 
halb welcher  sich  der  Künstler  bewegte.  Die  zweite  Tafel  bietet  uns 
in  vergrössertem  jMaasstabe  einen  (wie  der  Gypsabguss  lehrt,  richtig 
gezeichneten)  Theil,  einen  Ausschnitt  des  auf  Taf  i  dargestellten  Ganzen, 
der  aber  mit  keinem  Theile  eben  dieses  Ganzen  sich  deckt  (Abb.  14  u.  15). 


14.    Theil  der  Decke  von  ürchomenos.    Nach  dem  Abguss  des  Originales 


15.    Theil  der  Decke  von  Orchomenos.  Reconstruction. 

Denn  nicht  nur  sind  in  dem  einen  Bilde  die  Spiralen  umgekehrt,  wie  von 
der  Gegenseite  des  anderen  gezeichnet,  sondern  auch  die  Fächerblätter 
mit  ihren  diagonalen  Spitzen  stehen  in  der  ersten,  an  den  äusseren 
Rand  anstossenden  Reihe  hier  nach  aussen,  dort  nach  innen  gewendet, 
in  der  zweiten  umgekehrt  u.  s.  w.  Und  doch  werden  wir  uns  dieses 
Irrthums,  nur  mit  einer  gewissen  Anstrengung  bewusst.  Die  Grund- 
einheit des  ganzen  Musters  bildet  nämlich  ein  Viereck  von  je  zwei 
Spiralen  und  zwei  Fächerblättern,  bei  denen  die  Richtung  nach  rechts 
oder  nach  links  principiell  durchaus  gleichgiltig  ist.    Ist  aber  factisch 


Kyklopische  Bauweise  :  Ausschmückung. 


23 


die  eine  oder  die  andere  Richtung  einmal  gewählt,  so  können  die 
Grundeinheiten  in  den  Dimensionen  der  Länge  und  der  Breite  in  be- 
liebiger Zahl  ohne  Ende  wiederholt  und  aneinander  gereiht  werden, 
wie  das  Streifenmuster  eines  gewebten  Stoffes.  Der  Künstler  ist  noch 
beschränkt  auf  das  Princip  der  Reihung  einzelner  Elemente,  aber  noch 
ohne  Kenntnis  des  tectonischen  Princips  symmetrischer  Entsprechung, 
welche  von  einem  einheitlichen  Mittelpunkte  aus  die  einzelnen  Ele- 
mente nach  den  verschiedenen  Richtungen  und  Ecken  hin  in  einem 
festen  Gleichgewichte  erhält.  Nicht  einmal  die  Rosetten  der  Borden 
sind  mit  dem  Spiralmuster  in  ein  festes  Verhältnis  gesetzt,  sondern 
bleiben  in  ihrer  Zahl  etwas  hinter  demselben  zurück. 

Auf  gleicher  Linie  mit  der  sculpierten  Decke  von  Orchomenos 
stehen    die    gemalten   Wanddecorationen    des  Palastes    von  Tiryns 


16.    Alabasterfries  ans  Tiryns. 


(Schliemann  T.  5  ff.).  In  denselben  wiederholt  sich  sogar  das  gleiche 
Muster,  in  welchem  allerdings  das  Fächerblatt,  wenn  auch  wohl  nur  infolge 
der  flüchtigen  Behandlung  von  Seiten  des  Malers,  einen  grossen  Theil 
seines  Reizes  verloren  hat.  Andere  Reste,  die  vielleicht  einer  ge- 
flügelten Gestalt  angehören,  zeigen  wenigstens  in  der  Stylisierung  der 
Zeichnung  keine  principielle  Verschiedenheit.  Einen  etwas  anderen 
Eindruck  macht  ein  Alabasterfries  mit  eingesetzten  Glaspasten  (T.  4), 
dessen  decoratives  Schema  fast  unverändert  auf  zwei  mykenischen 
Steinplatten  und  ganz  klein  auch  auf  Glaspasten  von  Menidi  wiederkehrt 
(Abb.  1 6).  Die  Elemente  der  Rosetten  u.  s.  w.  bleiben  die  gleichen  und 
auch  in  der  Nebeneinanderordnung  und  Reihung  herrscht  noch  das 
gleiche  Princip.  Nur  möchte  ein  gewisser  Fortschritt  in  der  An- 
wendung desselben  anzuerkennen  sein,  insofern  die  aus  zwei  Halb- 


24  Erstes  Capitel.     Vorhomerische  Kunst. 

rosetten  und  einem  viereckigen  Mittelfelde  gebildeten  Einzelngruppen 
sich  zwar  in  ihrer  horizontalen  Reihung  nur  einfach  ohne  Verflechtung 
berühren,  für  sich  selbst  aber  bereits  als  Einheiten  nach  dem  Gesetz 
symmetrischer  Entsprechung  in  sich  abgeschlossen  erscheinen,  wobei 
die  seithche  Verlängerung  der  Halbrosette  gegenüber  dem  viereckigen 
Mittelfelde  eine  die  zu  mechanische  GHederung  mildernde  und  rhyth- 
misch ausgleichende  Wirkung  ausübt. 

Weiter  kommt  hier  die  Ausschmückung  des  Portals  an  dem 
grossen  Grabe  von  Mykenae  in  Betracht.  Neben  der  nach  innen  ab- 
gestuften Thüreinrahmung  war  dasselbe  mit  zwei  sculpierten  Halb- 
säulen geziert,  die  nach  neueren  Beobachtungen  sich  nicht  nach  oben, 
sondern  nach  unten  verjüngten  (Abb.  17).  Indem  sonach  verschiedene 
Bruchstücke  nicht,  wie  man  glaubte,  der  Basis, 
sondern  dem  Kapitäl  zuzutheilen  sind,  müssen  die 
früher  versuchten  Restaurationen  als  unhaltbar  be- 
zeichnet werden,  während  das  an  Ort  und  Stelle, 
sowie  in  den  Sammlungen  von  Athen,  München 
und  London  erhaltene  Material  zu  einer  sicheren 
und  vollständigen  Wiederherstellung  in  keiner  Weise 
genügt.  Fest  steht  jedoch,  dass  in  der  Decoration 
der  Halbsäule  das  Spiralornament  wiederkehrt  ;  aber 
17.  Halbsäule  vom  Schatz-  indem  es  wie  eine  P'üllung  zwischen  zwei  zickzack- 
haus des  Atreus  in  Mykenae.  förmige  Bänder  oder  Borden  eingeordnet  ist,  tritt 
es  in  Verbindung  mit  einem  neuen  Elemente,  das 
sich  aus  den  bisher  betrachteten  Systemen  nicht  ohne  Weiteres  ab- 
leiten lässt. 

„Was  sind  nun",  um  mit  den  Worten  Sempers  (Stil  I,  439)  fort- 
zufahren, „diese  marmornen  Säulenschäfte  mit  ihrer  allgemeinen 
Schmuckdecke,  mit  schwach  vertieftem  und  schwach  erhabenem  Zick- 
zack und  Spiralornament,  mit  gleich  verzierter  tief  unterschnittener 
Basis,  anderes  als  Metallsäulen  in  Marmor  ausgeführt,  nämlich 
Säulen  aus  getriebenem  Metalle?  .  .  .  Wie  die  Säulen  sind  auch 
die  grünen,  weissen  und  rothen  Marmorplatten,  die  als  Antepagmenta 
(Gewände)  in  mehrfachen  Bahnen  rings  um  die  Thür  des  Atriden- 
monumentes  herumliefen,  mit  Schilden,  Wellenlinien,  Agraffen  und 
Rosetten  reichlich  geschmückt,  oder  vielmehr  vollständig  damit  über- 
deckt." Das  gleiche  Princip  der  Ornamentation  aber  waltet  in  der 
Steindecke  von  Orchomenos,  wie,  auf  die  Malerei  übertragen,  in  dem 
Wandschmuck  von  Tiryns.    Zwei  Punkte  sind  bei  dieser  Auffassung 


Kyklopische  Bauweise :  Ausschmückung^. 


25 


von  weitgreifender  principieller  Bedeutung:  in  allen  diesen  Decorationen 
tritt  uns  deutlich  das  Princip  der  Bekleidung,  der  Incrustation,  ent- 
gegen, und  zwar  als  ein  vom  Constructiven  gesondertes,  noch  unver- 


18.    Relief  am  Löwenthor  von  Mykenae. 


mitteltes,  ja  gegensätzliches  Element.  Nicht  minder  bedeutsam  aber 
ist  es,  dass  die  mit  dem  Hammer  getriebene  Metallarbeit,  das  Sphyre- 
laton,  .bereits  in  ein  anderes  Material,  in  den  Marmor  (sowie  in  die 
Malerei)  übertragen  erscheint,  dass  also  auch  hier  über  das  construc- 


26 


Erstes  Capitel.    Vorhoinerische  Kunst. 


tive  Bedürfnis  hinaus  ein  neues  künstlerisches  Princip  sich  geltend  zu 
machen  sucht.  Es  muss  genügen,  hier  diese  beiden  Punkte  vorläufig 
zu  betonen;  ihre  historische  Wichtigkeit  wird  erst  später  hervortreten. 

Zunächst  ist  noch  ins  Auge  zu  fassen,  was  wir  über  Sculpturen 
jener  ältesten  Zeit  wissen.  Ein  steinernes  Medusenhaupt  in  Argos 
wurde  Pausanias  (II,  20,  7)  als  ein  Werk  der  Kyklopen  gezeigt.  Doch 
dürfen  wir  vermuthen,  dass  dasselbe  nicht  einem  künstlerischen  Be- 
dürfnisse, sondern  dem  Zwecke,  als  ein  Unheil  abwehrendes  Symbol 
zu  dienen,  seinen  Ursprung  verdankte.  Ein  zweites,  von  Pausanias 
(II,  16,  5)  erwähntes  Werk  existiert  dagegen  noch  heute  und  wohl 
in  demselben  Zustande  wie  damals:  die  Löwen  über  dem  Thore  von 
Mykenae:  »auch  sie  sollen  Werke  der  Kyklopen  sein,  welche  dem 
Proetos  die  Mauern  von  Tiryns  baueten«  (Abb.  18).  Das  Dreieck  nämlich, 
welches  zur  Entlastung  des  oberen  Thorbalkens  offen  gelassen  war, 
ist  durch  eine  Kalksteinplatte  geschlossen,  deren  Vorderseite  mit  diesen 
Thierfiguren  in  Hochrelief  geziert  ist  (vgl.  Adler  in  der  Arch.  Zeit.  1865, 
S.  I ;  T.  193  ;  Brunn-Bruckmann,  Denkmäler  151).  Aufgerichtet  stehen  sie 
einander  gegenüber  mit  den  Vorderbeinen  auf  einer  mehrfach  gegliederten 
Basis,  auf  welcher  sich  zwischen  ihnen  eine  Säule  mit  Gebälk  bis  etwas 
über  die  Höhe  ihrer  Köpfe  erhebt.  Diese,  mit  ihrem  Blicke  nach  aussen 
gerichtet,  traten  auch  materiell  aus  der  Pläche  der  Reliefplatte  heraus, 
so  dass  man  genötigt  war,  sie  in  besonders  eingefügten  Stücken  aus- 
zuführen, welche  leider  nicht  mehr  erhalten  sind.  Es  leuchtet  sofort 
ein,  dass  wir  es  nicht  mit  einem  Bilde  aus  der  Wirklichkeit,  sondern 
mit  einer  symbolischen  Darstellung  zu  thun  haben.  Wie  das  erwähnte 
Medusenhaupt,  oder  der  Phallos  an  den  alten  Thoren  von  Alatri  und 
Ferentino,  wie  ferner  ein  Paar  Augen  mit  einer  Nase  auf  den  Mauern 
von  Thasos  (Conze,  Inselreisen  S.  12;  T.  5)  als  Unheil  abwendende 
Symbole  zu  deuten  sind,  so  dürfen  auch  die  den  Ankommenden  an- 
blickenden Löwen  als  gewaltige  und  schützende  Wächter  betrachtet 
werden.  Die  Säule  mit  Gebälk  als  eine  auch  in  der  späteren  Kunst 
beibehaltene  Abbreviatur  des  Hauses  bezeichnet  alsdann  den  Gegen- 
stand des  Schutzes,  die  Wohnungen  der  Menschen  oder  die  Burg. 
Dagegen  ist  in  dem  doppelt  getheilten  Unterbau  schwerlich  ein  doppelter 
Steinsitz  oder  Thron  zu  erkennen,  wie  sie  wohl  bei  Homer  in  den 
Vorhallen  der  Königshäuser  vorkommen.  Die  Zusammensetzung  aus 
einer  oberen  und  unteren  Platte  und  einem  in  der  Mitte  eingezogenen 
Zwischengliede,  welche  in  altitalischen  Altären  eine  gewisse  Analogie 
hat  (Ritsehl,  Prise,  lat.  mon.  t.  56;  Brunn,  Urne  etrusche.  I,  t.  42  u. 


Kyklopische  Bauweise:  Ausschmückung. 


27 


45 ;  vgl.  auch  einen  »Inselstein«  aus  Kreta  bei  Furtwängler  und 
Lösch cke,  ^ly kenische  Vasen  T.  E,  11),  erlaubt  eher,  an  zwei  herd- 
artige Altäre  zu  denken,  die  in  Verbindung  mit  der  Säule  zum  Aus- 
drucke des  Gedankens:  Haus  und  Altar  oder  Herd,  dienen  könnten. 
Doch  lässt  sich  auch  diese  Vermuthung  nicht  sicher  begründen.  Wichtiger 
als  die  symbolische  Bedeutung  ist  für  die  Kunstgeschichte  der  Styl 
des  Werkes.  Wer  einigermaassen  mit  griechischer  Kunst  vertraut  ist, 
wird  sich  zunächst  durch  denselben  fremdartig  berührt  finden  und  bei 
flüchtiger  Betrachtung  fast  eher  mittelalterliche  Wappenthiere  als  grie- 
chische Löwen  vor  sich  zu  haben  glauben.  Wir  werden  allerdings  von 
der  Forderung  strenger  Correctheit  absehen  dürfen  und  auch  an  der 
Vernachlässigung  in  der  Ausführung  einzelner  Theile,  wie  der  Tatzen, 
keinen  Anstoss  zu  nehmen  brauchen.  Wohl  aber  vermissen  wir  das 
Herauswachsen  aus  der  inneren  Einheit  des  Organismus,  das  Ausgehen 
von  dem  organischen  Zusammenhange  der  Theile,  worin  sich  später 
das  eigenthümliche  Wesen  der  griechischen  Kunst  zeigen  wird.  Wir 
empfinden,  dass  das  Werk  nicht  aus  frischer,  unmittelbarer  Anschauung 
der  Natur  entstanden,  sondern  dass  (z.  B.  in  der  Verbindung  der 
Vorderbeine  mit  der  Brust)  ein  mehr  schematischer  Typus  zu  Grunde 
gelegt  ist.  Wir  bemerken  das  Streben,  die  Massen  auch  im  Detail 
auszubilden;  aber  auch  dieses  Detail  erscheint  mehr  äusserlich  auf- 
getragen, ohne  von  der  Spannung  der  Muskeln  und  Bänder  eine 
deutliche  Vorstellung  zu  erwecken.  Anstatt  alterthümlicher  Härte  und 
Schärfe  begegnen  wir  vielmehr  einer  gewissen  Fülle  und  Weichheit, 
ja  Weichlichkeit  der  Formen.  Unwillkürlich  wendet  sich  unser  Blick 
nach  Asien,  wo  schon  früh  die  Thierfigur  schematisch  durchgebildet 
war,  wo  der  gesamte  decorative,  aus  der  Weberei  hervorgegangene 
Kunstcharakter  auf  ein  Schematisieren  der  einzelnen  Formen  hindrängt 
und  die  Weichheit  und  Üppigkeit  des  Orients  sich  auch  in  dem 
Wesen  der  Kunst  unverkennbar  ausprägte.  Allerdings  erscheint  sie 
in  dem  grösseren  Theile  der  Sculpturen  von  Niniveh  bereits  erstarrt 
und  verknöchert.  Doch  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  die  letzteren 
höchst  wahrscheinlich  jünger  sind,  als  das  Löwenthor,  und  dass  wir 
also  zum  Behufe  einer  Vergleichung  uns  das  Bild  der  assyrischen 
Sculptur  vor  ihrer  Erstarrung  in  der  Phantasie  vergegenwärtigen 
müssen.  Dabei  ist  ferner  zu  betonen,  dass  nur  eine  Verwandtschaft 
behauptet  werden  soll,  deren  Grad  erst  näher  zu  bestimmen  ist.  Zu 
diesem  Zwecke  bedarf  es  zunächst  einer  genaueren  Betrachtung  der 
Säule  zwischen  den  beiden  Thieren.    Auch  hier  erscheint  die  Form  in 


28 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


ihrer,  wenn  auch  schwachen,  Verjüngung  nach  unten  als  unhellenisch. 
Ihre  Bekrönung  ähnelt  eher  einer  umgekehrten  ionischen  Basis,  als 
einem  der  Belastung  des  Gebälkes  entgegenstrebenden  Echinus.  Im 
Gebälk  selbst  aber  muss  sich  unsere  Aufmerksamkeit  vor  allem  auf 
die  vier  Kreise  richten,  welche  sich  durch  die  Profilansicht  als  die 
Köpfe  runder  Holzbalken  charakterisieren.  Sie  finden  ihre  sprechende 
Analogie  in  den  Felsengräbern  Lykiens,  die  in  ihren  Fa^aden  das 
treueste  Abbild  einheimischen  Holzbaues  darbieten  (Abb.  ig).  Auch 
die  Vorsprünge  der  Platte,  auf  denen  die  Säule  und  die  Vorderfüsse 
der  Löwen  ruhen,  erinnern  an  die  Verzapfungen  der  Balkenrahmen, 


Monumente  und  der  Tradition  liefert  jetzt  den  historischen  Beweis 
eines  alten  Zusammenhanges  mit  Asien,  in  welchem  Lykien  als 
Zwischenstation  erscheint.  Wir  verstehen  jetzt,  dass  der  Umbildungs- 
process  der  aus  dem  inneren  Asien  herübergenommenen  Elemente 
bereits  begonnen  hat.  Allein  der  eigentlich  hellenische  Geist,  welcher 
diese  Elemente  mit  neuem  Leben  zu  durchdringen  und  daraus  etwas 
durchaus  Neues  zu  schaffen  vermöchte,  ist  noch  nicht  zum  Durch- 
bruch gekommen.  Das  Relief  des  Löwenthores  bezeichnet  ein  Uber- 
gangsstadium ;  und  wenn  es  auch  bei  der  Vereinzelung,  in  welcher 
es  auf  uns  gekommen,  nicht  wohl  möglich  ist,  das  Verhältnis  der 
fremden  und  der  einheimischen  Elemente  in  festen  Begrenzungen  von 
einander  zu  scheiden,  so  steht  doch  so  viel  fest,  dass  es  nicht  als 
hellenisch  im  strengeren  Sinne  betrachtet  werden  darf 


denen  w^ir  dort  begegnen.  In 
diesem  Zusammenhange  gewinnt 
die  Nachricht,  dass  die  Mauern 
von  Mykenae  von  lykischen 
Kyklopen  erbaut  und  dass  auch 
die  Löwen  ihr  Werk  seien,  eine 
unerwartete  Bedeutung :  eine 
Bedeutung,  die  noch  dadurch 
verstärkt  wird,  dass  mehr  in  dem 
Innern  Kleinasiens,  in  Phrygien, 
an  einem  hochalterthümlichen 
Felsgrabe  der  Typus  der  gegen 
eine     Säule  emporgerichteten 


[9.    Felsengrab  von  Antiphellos  in  Lykien. 


Löwen  sich  w^iedergefunden  hat : 
Journ.  of  hellen,  stud.  i882,pl.  17. 
Denn  die  Übereinstimmung  der 


Die  „mykenische"  Culturstufe. 


29 


Die  5,mykenische"  Culturstufe. 

Die  ältesten  Bauwerke  gewähren  uns  in  ihrer  Construction  und 
ihrer  Ausschmückung  das  Bild  einer  Cultur,  welche  bereits  eine  längere 
Entwicklung  zur  Voraussetzung  hat.  Dadurch  aber,  dass  sie  uns  als 
an  bestimmte  Örtlichkeiten  gebunden  gegenübertreten,  bieten  sie  uns 
bestimmte  Richtpunkte  für  die  Beurtheilung  derjenigen  Erzeugnisse  des 
Kunsttriebes,  welche,  wenn  auch  nicht  immer  in  der  Ausführung,  doch 
in  ihrem  Ursprünge  auf  noch  ältere  Culturzustände  hinweisen,  wie  sie 
sich  schon  vor  Begründung  fester  Wohnsitze  zu  entwickeln  beginnen. 
Das  Material,  welches  der  Boden  Griechenlands  der  Forschung  auf 
diesen  Gebieten  dargeboten  hat,  ist  jedoch  noch  immer  ein  so  zer- 
streutes und  lückenhaftes,  dass  es  sich  nicht  sofort  und  wie  von  selbst 
zu  einem  Gesammtbilde  ordnet.  Die  Prüfung  muss  deshalb  von  der 
Betrachtung  des  Einzelnen  oder  einzelner  Gruppen  ausgehen,  und 
erst  wenn  es  gelingt,  auf  diesem  Wege  von  dem  Wesen  und  der 
Bedeutung  der  verschiedenen  Gegenstände  klarere  Anschauungen  zu 
gewinnen  und  dadurch  bestimmte  Thatsachen  festzustellen,  werden  wir 
den  Versuch  wagen  dürfen,  das  Einzelne  unter  umfassenderen  Gesichts- 
punkten zusammenzuordnen  und  für  die  Anfänge  der  Kunstgeschichte 
zu  verwerthen. 

Zuerst  muss  hier  der  Funde  Schliemanns  auf  troischem  Boden 
gedacht  werden,  über  welche  der  Entdecker  selbst  am  ausführlichsten 
in  dem  „Ilios"  betitelten  Werke  (1881;  vgl.  auch  „Troja"  1884)  Bericht 
erstattet  hat.^)  Ihre  hohe  Alterthümlichkeit  und  ihre  durch  die  Poesien 
Homers  verherrlichte  Fundstätte  geben  ihm  ein  Anrecht  auf  eine  mehr 
als  gewöhnliche  Beachtung.  Wir  dürfen  wohl  voraussetzen,  dass 
künstlerisches  Streben  sich  vorzugsweise  in  der  Verarbeitung  kost- 
barer Stoffe,  besonders  des  Goldes  für  Gegenstände  des  Luxus  ver- 
rathen  müsse.  Betrachten  wir  also  den  sogenannten  Schatz,  des  Priamos 
(Ilios  S.  508  ff.),  so  finden  wir  an  den  Ohrringen  und  Ohrgehängen,  den 
Armbändern,  dem  Haarschmuck  das  Gold  seinen  natürlichen  Eigen- 
schaften entsprechend  in  Perl-,  Faden-,  Blattform  verarbeitet.  Unter 
den  einzelnen  Elementen  sind  die  kleinsten  (S.  514)  technisch  sauber 
und  zierlich,  die  grösseren  einfach  und  schmucklos  gebildet.  Aus 
solchen  nicht  sehr  mannigfaltigen,  aber  zahlreich  wiederholten  Ele- 
menten werden  dann  grössere  Schmuckstücke  einfach  durch  Reihung 


^)  Eine  übersichtliche  Behandlung  nicht  nur  der  troischen,  sondern  auch  der  übrigen 
Ausgrabungen  Schliemanns  bietet  das  Buch  von  Schuchhardt:  Schliemanns  Ausgrabungen,  1890. 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


20.    Spinnvvirtel  aus  Troia. 


7^/  -  c> 


in  einer  regelmässigen  Ordnung  her- 
gestellt. Spuren  einer  weiteren  Ent- 
wicklung finden  sich  nur  in  einigen, 
nicht  dem  grossen  Schatze  angehörigen 
Fundstücken  (S.  544;  551;  557),  die 
wegen  ihres  spärlichen  Vorkommens 
und  ihres  abweichenden  Charakters 
als  wahrscheinlich  nicht  einheimische 


Waare  erst  an  einer  späteren  Stelle  gewürdigt  werden  können. 

Anfängen  einer  anderen  Art  von  Ornamentik  begegnen  wir  in 
den  zahlreichen  Spinnwirteln  aus  gebrannter  Erde:  die  unteren  Flächen 
sind  mit  eingeritzten  Linien,  geraden  und  gebogenen,  verziert  (Abb.  20). 
Aber  dieses  eng  begrenzte  Feld  gestattet  keine  breite  systematische  Ent- 
faltung; und  so  ergiebt  sich,  wenn  auch  in  den  mannigfaltigsten  Com- 
binationen,  eine  Reihe  von  Mustern,  in  denen  allerdings  das  Princip 
der  Symmetrie,  aber  eben  nur  in  eng  begrenztem  Kreise  zur  Geltung 
zu  gelangen  vermag.  Eine  weitere  Begrenzung  ergiebt  sich  dadurch, 
dass  neben  dem  linearen  die  dem  Pflanzenreich  entnommenen  Elemente 


gänzlich  fehlen,  sowie  dadurch,  dass  die  wenigen  kleinen  Thier-  und 
Menschengestalten  ohne  eigentlichen  Körper  bloss  durch  einfache  Striche 
zur  Bezeichnung  des  Leibes  und  der  Gliedmaassen  wiedergegeben  sind 
{z.  B.  Nr.  484;  1289;  1889  ff.)  (Abb.  21  u.  22).  Weitere  Versuche,  die 
volle  Menschengestalt  zu  bilden,  fehlen  fast  vollständig.  Denn  in  ver- 
schiedenen formlosen  Idolen  und  in  den  sogenannten  Gesichtsurnen 
begnügte  man  sich,  das  menschliche  Gesicht  durch  Augen  und  Nase, 
nicht  einmal  immer  durch  den  Mund  zu  bezeichnen,  so  dass,  da 
ausserdem  die  Angabe  der  Ohren  meist  fehlt,  die  Verwechselung  des 
menschlichen  mit  dem  Eulenkopfe  möglich  wurde,  während  an  den 


21.  u.  22.    Spinnwirtel  aus  Troia. 


Die  „mykenische"  Ciüturstufe. 


31 


menschlichen  Körper  nur  die  Andeutungen  der  Brustwarzen  und  des 
Nabels  erinnern  (S.  328;  377;  581)  (Abb.  23  u.  24). 

Auch  in  den  Thongefässen  zeigt  sich  noch  keine  künstlerische 
Entwicklung,  und  nur  eine  Gattung,  von  kugelförmiger  Gestalt,  mit 
engem  Hals  und  langgestrecktem  Ausguss  (z.  B.  S.  612)  lenkt  unsere 
Aufmerksamkeit  dadurch  auf  sich,  dass  diese  Form  bisher  fast  aus- 
schliesslich nur  noch  aus  kyprischen  Fundorten  bekannt  geworden  ist 
(Abb.  25). 

Es  darf  vollkommen  zugegeben  werden,  dass  diese  Gegenstände, 
sowie  die  zugleich  gefundenen  Stein-  und  Metallgeräthe  für  die  Cultur- 


geschichte  einen  hohen  Werth  besitzen.  Aber  mit  Nachdruck  muss 
hier  betont  werden,  dass  die  Anfänge  der  Cultur-  und  Kunstgeschichte 
sich  keineswegs  decken.  Eine  eigentliche  künstlerische  Entwicklung 
hat  in  den  troischen  Funden  noch  gar  nicht  begonnen;  charakteristische 
Kunstformen  treten  noch  nirgends  hervor.  Sie  liefern  zunächst  nur 
eine  erneute  Bestätigung  für  die  auch  sonst  bekannte  Thatsache,  dass  die 
homerischen  Gedichte  nicht  die  Zustände  zur  Zeit  des  troischen  Krieges, 
sondern  nur  diejenigen  zur  Zeit  des  oder  der  Dichter  schildern.  Nur 
einzelne  Elemente,  namentlich  in  der  linearen  Ornamentik  und  in  den 
Gefässformen,  treten  uns  entgegen,  auf  die  gelegentlich  später  noch 
Rücksicht  zu  nehmen  sein  wird. 

Was  von  den  troischen  Funden,  das  gilt  auch  von  den  Ent- 
deckungen, die  man  auf  der  Insel  Thera  unter  einer  durch  den  Aus- 


23.  Steingegenstand 
aus  Troia. 


24.  u.  25.    Troianische  Gefässe. 


32 


Erstes  Capitel.    Vorhoinerische  Kunst. 


26.  Mykenische 
Ornament- 
motive. 


bruch  eines  Vulcanes  gebildeten  Schicht  gemacht  hat,  wobei  es  dahin- 
gestellt bleiben  mag,  ob  dieselben  auf  geologische  Anzeichen  hin  bis 
gegen  das  Jahr  2000  v.  Chr.  hinaufzurücken  sind;  vgl. 
Heibig,  d.  homer.  Epos    S.  48. 

Reicher  und  mannigfaltiger  als  die  troischen  Funde 
sind  die  von  Mykenae,  unter  denen  vor  allen  diejenigen 
der  innerhalb  des  Mauerringes  hinter  dem  Löwenthor 
entdeckten  „Königsgräber"  unsere  Aufmerksamkeit  in 
Anspruch  nehmen  (Schliemann,  Mykenae  1878;  Schuch 
hardt,  Schliemanns  Ausgrabungen,  Kapitel  IV).  Als  sicher 
an  Ort  und  Stelle  gearbeitet  mögen  hier  zuerst  die  zur 
äusseren  Bezeichnung  der  Gräber  errichteten  Grabstelen  genannt  werden: 
längliche  Platten  aus  einheimischem  Kalkstein,  denen  eine  architek- 
tonische Kunstform  noch  nicht  gegeben  ist.  Als  decorative  Elemente 
finden  wir  die  Spirale  in  Verschlingungen  und  rundliche  Mäander- 
linien (Abb.  26).    Die  Figurendarstellungen  sind  sehr  einfacher  Art: 

Männer  zu  Wagen,  Kampf-  und 
Jagdscenen,  immer  in  Beschränk- 
ung auf  wenige  Figuren  (Abb.  27). 
Das  flache  Relief  ist  gewonnen, 
indem  um  die  roh  und  unbeholfen 
gezeichneten  Figuren  herum  der 
Reliefgrund  in  mässiger  Ver- 
tiefung ausgehoben  ist.  Eine 
Modellierung  auch  nur  der  Haupt- 
formen der  Körper  fehlt  noch 
gänzlich;  höchstens  wird  eine 
Innenzeichnung  durch  einige  ein- 
geritzte Linien  versucht.  So  er- 
klärt es  sich  auch,  dass  die 
Wagen,  an  denen  nur  ein  Rad 
sichtbar  ist,  auch  nur  mit  einem 
Pferde  bespannt  erscheinen,  nicht 
etwa,  weil  dies  dem  wirklichen  Ge- 
brauche entspräche,  sondern  weil 

27.    Grabstele  aus  Mykenae.  ^^^^^  RcUefstylisierUng 

in  zwei  oder  mehreren  Schichten 
noch  nicht  vorgedrungen  war.  Zu  beurteilen,  ob  in  Mykenae  von 
solchen  Anfängen  aus  überhaupt  eine  weitere  Entwicklung  stattfand. 


Die  „mykenische"  Culturstufe. 


33 


28.    Holzknopf  mit  Überzug  von  Goldblech  aus  Mykenae. 


fehlen  uns  die  Mittel.  Denn  auch  was  wir  von  Rundbildern  durch 
kleine  Idole  und  Thiergestalten  aus  gebranntem  Thon  und  anderen 
Stoffen  erfahren ,  geht 
nicht  über  die  ersten 
Anfänge  hinaus,  in  denen 
sich  ein  künstlerisches 
Princip  noch  nicht  er- 
kennen lässt. 

Einer  eingehenderen 
Prüfung  bedarf  der  übrige 
reiche  Grabesschmuck, 
der  nach  der  Art  seiner 
künstlerischen  Herstel- 
lung unter  verschiedenen 
Gesichtspunkten  zu  be- 
trachten ist.    Unter  den 

Goldsachen,  die  einen  Hauptbestandtheil  bilden,  sondert  sich  als  eine 
eigene  Kategorie  eine  Reihe  von  Schmuckgegenständen  aus:  Diademe, 
sternartige  Blumen,  Schildchen,  etwa  zum  Aufsetzen  auf  die  Gewandung 
bestimmt,  Knöpfe  u.  a.,  aus  dünnem  Goldblech  gepresst  oder  mit 
Stempeln  und  Stanzen  getrieben  (z.  B.  Nr.  239  ff.,  281  ff.,  387  ff.,  492  ff.). 
Neben  rhomboidalen  Combinationen  (Nr.  377  ff.)  (Abb.  28)  sind  runde 
Felder,  einzeln  oder  in  der  Mehrzahl  verbunden  (Nr.  281  u.  282),  be- 
sonders zahlreich  vertreten.  In  der  Ornamentierung  begegnen  wir  einem 
Vorwiegen  der  Spirale  und  gerundeter  Linien.    Unter  den  Elementen 

aus  der  Pflanzenwelt  werden  Blumen  und 
Blättchen  vor  dem  Blattwerk  bevorzugt;  aus 
der  Tierwelt  treten  neben  Schmetterlingen 
besonders  polypenartige  Geschöpfe  des 
Meeres  hervor  (Abb.  29).  Die  ganze  Gattung 
überrascht,  ja  blendet  das  Auge  durch  eine 
gewisse  Eleganz  der  äusseren  Erscheinung. 
Wie  sie  aber  plötzlich  ohne  eine  uns  be- 
kannte künstlerische  Vorstufe  uns  entgegen- 
tritt (nur  einige  spärliche  Proben  aus  Troia 
gehören  hierher),  so  vermögen  wir  bis  jetzt 
ebensowenig  eine  directe  Weiterentwicklung 
nachzuweisen.  Um  sie  richtig  zu  würdigen,  müssen  wir  daher  den 
Blick  rückwärts  wenden,  uns  geistig  zurückversetzen  in  die  Zeit  der 

3 


29.    Goldblatt  aus  Mykenae. 


34 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Entstehung  und  der  Ursprünge,  aus  denen  die  ganze  Gattung  er- 
wachsen ist.  Wir  haben  aber  dabei  nach  den  Anfängen  einer  kunst- 
mässigen  Zeichnung  oder  plastischen  Modelherung  gar  nicht  zu  fragen, 


30.    Goldblatt  aus  Mykenae. 

31.    Goldenes  Kreuz  aus  Mykenae. 


sondern  unsere  Aufmerksamkeit  vielmehr  auf  das  zu  richten,  was  noch 
heute  fast  mit  den  gleichen  Mitteln  geübt  wird:  auf  Putzmacherarbeit. 
Gehen  wir  zurück  auf  die  einfachsten  Elemente  derselben! 

Der  Faden,  der  biegsame  Metalldraht,  wenn  er  in  der  Ebene  um 
einen  Mittelpunkt  gelegt  wird,  ergiebt  ni':ht  aus  künstlerischer  Über- 
legung, sondern  selbstverständlich  die  Spirale;  wird  er  zwischen  zwei 
parallelen  Rändern  durch  regelmässiges  Zusammenschieben  in  seiner 
Länge  verkürzt,  so  bildet  sich  eine  Art  von  nicht  eckigem,  sondern 
rundlichem  Mäander.  In  ähnlicher  Weise  lassen  sich  noch  andere 
Muster  darstellen,  während  sich  ebenso  leicht  aus  der  Verbindung 
mehrerer  Fäden  die  gedrehte  Schnur  ergiebt.  Fast  ausschliesslich  mit 
diesen  Elementen  arbeitet  noch  heute  die  Filigrantechnik. 

Anders  ist  das  Verfahren  bei  der  Darstellung  von  Blumen.  Hier 
werden  zuerst  die  Stempel  und  Staubfäden  einzeln  vorbereitet,  die 
einzelnen  Blätter  aus  Gold,  Papier  oder  andern  Stoffen  zugeschnitten, 
gebogen,  zurechtgedrückt  und  dann  erst  an  einem  Stiel  zusammen- 
gebunden. Ähnliches  gilt  von  der  Bildung  von  Schmetterlingen,  ihren 
Fühlhörnern,  Köpfen ,  Körpern  und  Flügeln  und  nicht  weniger  von 
den  polypenartigen  Geschöpfen.  Wir  verstehen  leicht,  wie  hier  bei 
den  verschiedenartigen  Verbindungen  die  Filigranarbeit  wieder  zu 
theilweiser  Anwendung  gelangt,  neben  ihr  aber  eine  Reihe  von  neuen 
Elementen,  nicht  bloss  in  Blattform,  sondern  perl-  oder  nagelkopf- 


Die  ,,mykenische"  Culturstufe. 


35 


artigen  Knöpfen  u.  a.  Eingang  findet.  Alles  beruht  hier  in  erster 
Linie  auf  der  Geschicklichheit  der  Hand  oder,  um  noch  schärfer  zu 
scheiden,  auf  einer  besonderen  Fertigkeit  der  Finger,  zu  der  sich  weiter 
nicht  sowohl  ein  ausgeprägter  Kunstsinn,  sondern  eine  Eigenschaft  zu 
gesellen  hat,  die  wir  wohl  als  Geschmack  im  Verbinden  und  Anordnen 
bezeichnen  mögen:  Eigenschaften,  welche  dem  weiblichen  Geschlechte 
in  höherem  Maasse  als  dem  männlichen  eigen  zu  sein  pflegen. 

In  den  mykenischen  Goldschmucksachen  tritt  der  ursprüngliche 
Zusammenhang  mit  solcher  Putzmacherarbeit  in  den  aus  verschiedenen 
Blättern  gebildeten  Blumen  (N.  285  ff.)  noch  deutlich  zu  Tage  (Abb.  30  u. 
3 1).  Meistentheils  jedoch  hat  dieselbe  bei  der  Übertragung  in  den  Metall- 
styl bereits  eine  weitere  Metamorphose  durchgemacht.  Die  Verbindung 
metallischer  Fäden  und  Blätter  weist  auf  das  technische  Verfahren  des 
Löthens  hin.  Weiter  aber  musste  sich  der  Wunsch  und  das  Streben,  nicht 
bei  jeder  Wiederholung  eines  Objectes  den  ganzen  Arbeitsprocess  von 
Anfang  bis  zu  Ende  von  Neuem  durchzumachen,  das  Bedürfnis  nach 
mechanischen  Hilfsmitteln  der  Vervielfältigung  geltend  machen.  Diesem 
Bedürfnis  wurde  man  gerecht  durch  Herstellung  von  Stanzen,  Matrizen, 
Formsteinen  (Nr.  162 — 3),  mit  deren  Hilfe  man  durch  Treiben,  Drücken 
oder  Pressen  der  dünnen  Metallblätter  ein  gegebenes  Muster  in  be- 
liebiger Anzahl  zu  wiederholen  im  Stande  war;  wobei  es  nicht  aus- 


32.    Goldenes  Diadem  aus  Mykenae. 


bleiben  konnte,  dass  diese  Muster  in  ihren  einzelnen  Bestandtheilen  von 
Fäden  und  Blättern,  wie  in  ihren  Verbindungen  zu  Blumen  oder  Thieren 
immer  mehr  schematisiert  und  in  eine  weniger  organische  als  orna- 

3* 


36 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


mentale  Auffassung  übergeführt  wurden.  Diese  Wandelung  musste 
sich  um  so  nothwendiger  ergeben,  als  mit  der  neuen  Technik  sich  der 
Übergang  von  einer  Zusammenfügung  einzelner  Blätter  und  Theile  zu 
einer  Darstellung  derselben  auf  einer  gemeinsamen  Grundfläche,  d.  h. 
zur  Reliefdarstellung  vollzog.  Wie  aber  auch  hier  noch  in  der  Ver- 
bindung zu  einem  Ganzen  die  Entstehung  aus  der  Wiederholung  und 
Zusammenordnung  der  einzelnen  gleichartigen  Elemente  sichtbar  bleibt, 
so  bewahrt  das  gleiche  Princip  seine  Geltung  auch  noch  in  der  Zu- 
sammenordnung der  auf  diese  Weise  gewonnenen,  in  sich  abge- 
schlossenen Muster.  Da  ist  z.  B.  die  Fläche  eines  nach  beiden  Enden 
spitz  zulaufenden  Diadems  (Nr.  281)  (Abb.  32)  mit  grösseren  und  kleineren 
kreisrunden  rosettenartigen  Schildchen  in  bunter  Abwechslung  bedeckt, 
ohne  weitere  Rücksicht  auf  den  Raum,  als  dass  nach  den  Seiten  und 
nach  unten  die  Grösse  der  Schildchen,  aber  auch  hier  durchaus  nicht 
in  strenger  Regelmässigkeit,  sich  verringert.  Die  auf  dem  oberen 
Rande  aufstehenden  Blätter  aber  sind  ebenso  ordnungslos  und  dazu 
ohne  irgendwelche  künstlerische  Verbindung  mehr  angebogen  als  an- 
gefügt. Selbst  bei  dem  Diadem  Nr.  282  (Abb.  33),  wo  die  einfache  Reihe 
der  Schildchen  nach  den  Seiten  in  regelmässigen  Verhältnissen  abnimmt, 
zeigt  sich  ein  Fortschritt  nur  in  der  strengeren  symmetrischen  Anordnung. 
Von  einer  Verbindung  dagegen,  wie  in  den  Arabeskengewinden  der 
eigentlich  hellenischen  Kunst,  die  gleich  einer  Pflanze  aus  dem  ge- 
gebenen Räume  herauswachsen  und  denselben  gliedern,  findet  sich 
hier  noch  keine  Spur:  alles  beschränkt  sich  auf  ein  Zusammenordnen 
von  für  sich  bestehenden  Einheiten. 

Was  uns  an  diesen  Arbeiten  anzieht,  ist  also  das  „Hand-Werk", 


33.    Goldenes  Diadem  aus  Mykenae. 

welches  ja  allerdings  eine  der  Voraussetzungen  auch  für  die  Ausführung 
eines  wirklichen  Kunstwerkes  bildet.  Nur  dürfen  wir  nicht  vergessen, 
dass  die  für  dasselbe  verwendbaren  Elemente  ihre  höhere  Bedeutung 
und  Belebung  erst  durch  das  Hinzutreten  einer  eigentlich  künstlerischen. 


Die  „mykenische"  Ciilturstufe. 


37 


sei  es  constructiven  oder  geistigen  Idee  zu  erhalten  vermögen,  welche 
in  diesen  rein  decorativen  Schmucksachen  noch  nicht  vorhanden  ist. 
In   einer  zweiten  Reihe  kehren  nicht  nur  Schmetterlinge  und 


Seethiere  wieder,  sondern  es  finden  sich  ausserdem  Greife,  Sphinxe, 
mehrfach  auch  paarweise  geordnet,  (Doppel-)  Adler,  Eulen,  Hirsche  u.  a., 
endlich  auch  menschliche  Gestalten,  nackt  und  bekleidet,  vielleicht 
Aphrodite  mit  einer  oder  mehreren  Tauben  (Nr.  264 — 80;  424;  480  ff.) 
(Abb.  34  u.  35).  Von  der  ersten  Reihe  unterscheiden  sie  sich  dadurch, 
dass  sie  nicht  auf  einen  Reliefgrund  aufgesetzt  erscheinen,  sondern  an 
ihren  äusseren  Umrissen  aus  dem  Goldblech  herausgeschnitten  sind,  und 
dadurch,  obwohl  immer  noch  zu  den  decorativen  Zwecken  bestimmt,  doch 
für  sich  einen  mehr  selbständigen  künstlerischen  Charakter  zu  bean- 
spruchen scheinen.  Bei  näherer  Betrachtung  indessen  zeigt  sich,  dass  es 
sich  keineswegs  um  eine  principielle  Verschiedenheit  handelt.  In  der 
Technik  begegnen  wir  namentlich  in  der  Behandlung  der  Federn  und 
der  Flügel  derselben  Art  des  Fälteins  und  Zurechtdrückens,  in  der 
Auffassung  der  Formen  dem  gleichen  Charakter  des  Rundlichen  und 
Laxen,  während  der  Begriff  einer  eigentlich  künstlerischen  Styli- 
sierung,  einer  Übersetzung  der  natürlichen  Formen  in  die  Formen  der 
Kunst,  auch  hier  durchaus  noch  fehlt.  Dasselbe  gilt  von  den  jagenden 
Löwen  auf  zwei  Goldplatten  (Nr.  470 — i)  (Abb.  36  u.  37),  die  schon 
nicht  mehr  als  Schmuckstücke,  sondern  als  Reliefs  an  sich  gearbeitet 
scheinen,  sowie  von  dem  Bilde  eines  tempelartigen  Baues  (423). 


34.    Goldenes  Ornament  aus  Mykenae. 


35.    Goldblechzierrath  aus  Mykenae. 


38 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


36.    Goldplatte  aus  Mykenz 


Von  einer  künstlerischen  Gestaltung  lässt  sich  auch  bei  den 
goldenen  Gesichtsmasken  noch  nicht  reden,  die  bestimmt  waren,  das 
Antlitz  der  Toten  zu  bedecken  (Nr.  331 — 2;  473 — 4):  sie  sind  im 
Grunde  nichts  als  ein  Abdruck  oder  Abklatsch  wirklicher  Gesichter, 
gefertigt  etwa,  wie  ein  dem  Körper  angepasster  Panzer  (Abb.  38).  An 

dem  silbernen  Kuhkopf 
endlich  (Nr.  327 — 8)  tritt  die 
Eleganz  der  schmückenden 
Rosette  auf  der  Stirn  in 
einen  scharfen  Gegensatz  zu 
dem  Mangel  feiner  Model- 
lierung der  Formen  des 
Kopfes  selbst. 

Einen  wesentlich  anderen 
Charakter  als  die  Goldschmuckarbeiten  von  Mykenae  tragen  die  eben- 
dort  in  den  ältesten  Gräbern  gefundenen  kurzen  Schwerter,  die  erst 
längere  Zeit  nach  ihrer  Entdeckung  sich  bei  gründlicher  Reinigung 
als  reich  geschmückt  erwiesen  haben  {'A&,jvaiov  IX,  162  u.  X,  302; 
Mitt.  d.  ath.  Inst.  1882,  T.  8  u.  1883,  i;  Bull,  de  corr.  hellen.  1886, 
p.  I — 3)  (Abb.  39).  Technisch  unterscheiden  sich  zwei  Haupt gattungen. 
Bei  der  einen  besteht  die  Klinge  aus  einem  einzigen  Stück  Bronze, 
welches  auf  beiden  Seiten  mit  Darstellungen  in  flach  erhabener  Arbeit 
verziert  ist.  An  der  andern  sind  in  die  beiden  Seiten  der  dazu  vor- 
bereiteten Klinge  besondere  dünne  Metallplatten  aus  Gold  oder  aus 
Bronze  eingelegt,  auf  diese  sodann  figürliche  Darstellungen  aus  ver- 
schiedenfarbigem Metall,  be- 
sonders aus  hellerem  und 
dunklerem  Golde,  aufge- 
tragen, vermittelst  des  Grab- 
stichels weiter  durchge- 
bildet, und  schliesslich  deren 
Farbenwirkung  noch  durch 
schmelzartige  Zuthaten  er- 
höht. Wir  haben  es  hier 
mit  einer  hochentwickelten 

Technik  zu  thun,  welche  bereits  eine  lange  Kunstübung  voraussetzt. 
Auf  eine  solche  weisen  aber  auch  die  Darstellungen  selbst  hin.  Unter 
diesen  finden  wir  ein  aus  Spirallinien  gebildetes  Ornament,  welches 
bestimmt  auf  ägyptische  Vorbilder  hinweist.    Auf  starken  ägyptischen 


37.    Goldplatte  aus  Mykenae. 


Die  ,,mykenische"  Culturstufe. 


39 


Einfluss  deutet  ebenfalls  der  Blumenschmuck  eines  Silbergefässes,  deuten 
ferner  die  Lotospflanzen  in  der  Darstellung  einer  Jagd  katzenartiger 
Thiere  auf  Wasservögel,  ferner  greifenartige  Bildungen  in  einer  andern, 
sowie  der  Schurz  der  Jäger  in  einer  dritten.  Und  doch  ist  der  Styl 
dieser  Arbeiten  nicht  in  der  Weise  ägyptisch,  dass  wir  an  Ausfuhr- 
artikel ägyptischen  Handels  zu  denken  berechtigt  wären.  Vielmehr 
dürfte  es  hier  ganz  besonders  zu 
betonen  sein,  dass  an  die  religiösen 
Ideen,  an  den  hieroglyphischen 
Charakter  ägyptischer  Auffassung 
in  diesen  Arbeiten  durchaus  nichts 
erinnert.  Die  Bedeutung  dieser 
Beobachtung  wird  aber  wesent- 
lich dadurch  verstärkt,  dass  sie 
sich  bei  einer  demnächst  zu  be- 
trachtenden Gattung  von  ge- 
schnittenen Steinen  wiederholt, 
die  mehrfach,  und  zwar  gerade  in 
einigen  Jagd-  und  Kampfscenen 
mykenischer    Exemplare  durch 

die  Auffassung  der  Thiere  und  der  38.    Ooldene  Gesichtsmaske  aus  Mykenae. 

wespenartig   dünnen  Menschen- 
gestalten auch  in  stylistischer  Beziehung  eine  sehr  enge  Verwandt- 
schaft mit  den  Darstellungen  der  Schwerter  verraten. 
,  Diese  Steine,  die  sogenannten  „Inselsteine",  auf  welche  die  Auf- 

I  merksamkeit  besonders  durch  die  Untersuchungen  Milchhöfers  in  der 
'  Schrift:  „Die  Anfänge  der  Kunst  in  Griechenland"  ^1883)  gelenkt 
worden  ist,  entstammen  einem  Fundgebiete,  das  sich  von  Cypern  und 
Rhodos  über  die  Inseln  des  ägäischen  Meeres  bis  nach  Kreta  und 
über  die  Küsten  des  griechischen  Festlandes  erstreckt  und  uns  als  ein 
einheitliches  Bild  noch  einmal  bei  Betrachtung  der  Vasenmalerei  ent- 
gegentreten wird.  (Eine  grössere  Auswahl  bieten  Furtwängler  und 
Löschcke,  Mykenische  Vasen,  Taf.  E,  und  O.  Rossbach,  Arch.  Zeit. 
1883,  T.  16)  (Abb.  40-43). 

Zum  Siegeln  bestimmt  sind  sie  vertieft  geschnitten.  Wegen  der 
Schwierigkeit  der  Technik  wählte  man  zuerst  weichere,  leichter  zu 
bearbeitende  kieselartige  Steine,  später  auch  härtere  Gemmen,  daneben 
Gold  und  Silber.  Ausser  blossen  Ornamenten  sind  besonders  häufig 
Thiere  dargestellt,  sowohl  einheimische  als  fremde,  zahme  oder  wilde. 


40 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst 


theils  einfach  im  Anschlüsse  an  die  Natur,  theils  in  phantastischen 
Zusammensetzungen.  Mit  ihnen  werden  menschHche  Figuren  ver- 
bunden, gleichfalls  in  natürhcher  Gestalt  oder  in  Mischbildung.  Über- 
wiegende Bedeutung  erhält  der  Mensch  in 
kriegerischen  und  Jagddarstellungen.  Zuletzt, 
aber  wohl  erst  bei  dem  Übergange  zu  einer 
neuen  Zeit,  scheinen  einzelne,  besonders  auf 
Herakles  und  Prometheus  bezüghche  Scenen 
aus  der  Heroenmythologie  Eingang  gefunden 
zu  haben. 

Die  Beurtheilung  dieser  Arbeiten  ist  wesent- 
lich bedingt  durch  den  Zweck,  dem  sie  zu 
dienen  bestimmt  sind.  Die  Darstellungen  sind 
zwar  nicht,  wie  die  Hieroglyphen,  als  eigent- 
liche Bilderschrift  zu  betrachten,  aber  sie 
reden  eine  Bilder  spräche,  welche  theils  durch 
Wiederholung  bestimmter  Typen  in  weiteren 
Kreisen,  theils  als  Ausdruck  individueller  Vor- 
stellungen nur  wenigen,  in  erster  Linie  nur 
dem  Eigenthümer  verständlich  sein  mochten. 
Es  ist  die  Sprache  der  Wappen  (vgl.  Curtius, 
Über  Wappengebrauch  und  Wappenstyl  im 
griechischen  Alterthum  1874).  Die  erste  und 
Hauptaufgabe,  die  dem  Künstler  gestellt  wurde, 
bestand  also  nicht  darin,  das  Feld  des  Steines 
decorativ  zu  schmücken,  auch  nicht  darin, 
einen  Gegenstand  der  Natur  mit  möglichster 
Treue  künstlerisch  nachzubilden,  sondern  der 
Gegenstand  soll  so  weit  erkennbar  gemacht 
werden,  dass  er  etwas  aussage,  etwas  bedeute 
oder  auch  nur  vergleichsweise  andeute.  Jeden- 
falls treten  die  künstlerischen  Anforderungen 
so  weit  zurück,  dass  sie  nicht  in  erster  Linie 
maassgebend  erscheinen.  Selbst  in  fortge- 
schrittenen Zeiten  folgt  das  Wappenschild  zwar 
zum  Theil  der  allgemeinen  Entwicklung  der  Kunst  und  ihren  erhöhten 
Ansprüchen,  doch  hat  daneben  der  im  engen  Sinne  heraldische  Styl 
noch  bis  heute  einen  hohen  Grad  von  Unabhängigkeit  bewahrt. 

So  tritt  uns  allerdings  in  den  Inselsteinen  eine  bestimmte  Aus- 


39.    Dolchklinge  aus  Mykenae. 


Die  „mykenische"  Culturstufe. 


41 


drucksweise  entgegen;  innerhalb  derselben  aber  zeigen  sich  von  einer 
lebendigen  Entwickelung  nur  verhältnismässig  geringe  Spuren,  und 
was  noch  wichtiger  ist,  es  fehlt  uns  bis  jetzt  wenigstens  die  Brücke, 
um  die  ganze  Gruppe  der  Inselsteine  mit  der  späteren  Glyptik,  ja  mit 
dem  Fortschritt  der  eigentlich  hellenischen  Kunst  in  unmittelbaren 
Zusammenhang  zu  bringen.  Nehmen  wir  dazu,  dass  uns  diese  Steine 
meist  vereinzelt,  ohne  Fundnotiz  und  von  der  Verbindung  mit  andern 
Gegenständen  losgelöst  überliefert  w^erden,  so  werden  wir  zugestehen 
müssen,  dass  sie  sich  für  die  geschichtliche  Entwickelung  der  griechi- 
schen Kunst  nach  ihrer  formalen  Seite  zunächst  kaum  verwerthen  lassen. 

Andere  Gesichtspunkte  machen  sich  für  die  Beurtheilung  des 
Inhaltes  ihrer  Bilderkreise  geltend.  Die  älteste  schriftliche  Urkunde 
über  das  Griechenthum  ist  für  uns  das  homerische  Epos,  aber  keines- 
wegs für  die  ältesten  Zeiten  desselben,  sondern,  wenn  auch  unter 


40. — 43.    Sogenannte  Inselsteine, 


vielfachen  Zurückweisungen  auf  Früheres,  doch  zunächst  und  zumeist 
für  das  Zeitalter  des  Dichters  selbst.  Das  ist  allerdings  allgemein  an- 
erkannt; allein  es  ist  ein  Verdienst  Milchhöfers,  diesen  Gegensatz  be- 
stimmter hervorgehoben  und  in  seiner  principiellen  Bedeutung  schärfer 
betont  zu  haben.  Wenn  Homer  den  Griechen  ihren  Olymp  geschaffen, 
so  steht  er  damit  nicht  am  Anfange,  sondern  auf  der  Höhe  einer 
Entwickelung,  der  eine  lange  Vorgeschichte  vorangegangen  sein  muss. 
»Der  Anfang  religiöser  Vorstellungen,  die  Personification  der  zahlreich 
in  der  Natur  vorhandenen  Erscheinungen  und  Kräfte  enthält  ur- 
sprünglich ebensowenig  einheitliche  als  überhaupt  reine  Götterbegrifife. 
Weder  Monotheismus  noch  Polytheismus  oder  Pantheismus  bilden  die 
erste  Stufe«  (vS.  114).  Voran  geht,  was  Milchhöfer  mit  einem  passenden 
Ausdruck  als  Polydämonismus  zu  bezeichnen  vorschlägt.  Dieses 
Dämonenthum  ist  es,  gegen  welches  Homer  durch  seine  Götter- 
schöpfungen ankämpft  und  welches  er  durch  dieselben  im  wesent- 


42 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


liehen  überwindet.  Aber  wie  diese  »tiefere  Schicht«,  dieser  »niedere 
Glaube,  der  Dämonismus  oder  Aberglaube  zum  unverwüstlichsten, 
unveräusserlichsten  Besitzstande  eines  Volksindividuums  gehört,  der 
an  Unwandelbarkeit,  Zähigkeit  selbst  die  angestammte  Sprache 
nicht  überbietet«  .  .  .,  so  dass  er  später  »auch  unter  neuen  Formen 
immer  wieder  hervorbricht«  (S.  88),  so  ragen  auch  die  Spuren  des- 
selben »in  die  Dichtung  hinein  wie  Reste  einer  überwundenen  Epoche; 
nur  andeutungsweise  und  mit  unwillkürlicher  oder  bewusster  Zurück- 
haltung geht  der  Sänger  an  ihnen  vorüber«  (S.  151).  Nach  dieser 
Vorzeit  weisen  uns  die  Inselsteine  zurück;  und  so  wenig  bis  jetzt  über 
die  Deutung  ihrer  Bilder  im  Einzelnen  ein  Einverständnis  erzielt 
worden  ist,  so  bleibt  es  doch  eine  Thatsache  von  Wichtigkeit,  dass 
wir  durch  dieselben  eine  wenn  auch  sehr  fragmentarische  Anschauung 
von  einem  Culturzustande  gewinnen,  der  zu  unseren  Vorstellungen  von 
der  Cultur  der  homerischen  Zeit  in  einen  bestimmten  Gegensatz  tritt. 

Die  mykenischen  Vasen.  Die  bisher  betrachteten  Arbeiten: 
Goldschmuck,  kostbare  Waffen,  geschnittene  Steine  dienen  weniger 
dem  Bedürfnis,  als  dem  Luxus,  der  nicht  selten  das  Fremde  vor  dem 
Einheimischen  bevorzugt.  Für  die  Beurtheilung  der  allgemeinen  Cultur- 
zustände  erweisen  sich  daher  oft  die  Gegenstände  des  mehr  massen- 
haften alltäglichen  Gebrauches  als  von  grösserer  Wichtigkeit.  Unter 
diesen  nimmt  eine  hervorragende  Stelle  das  Töpfergeschirr  ein,  das 
aus  einem  geringwerthigen,  aber  dem  zerstörenden  Einflüsse  der  Zeit 
wenig  unterworfenen  Material  gearbeitet,  sich  in  grösseren  Massen 
erhalten  hat  und  auch  in  zertrümmertem  Zustande  noch  seinen  wissen- 
schaftlichen Werth  bewahrt.  Hier  ist  es  wiederum  das  Verdienst 
Schliemanns,  durch  seine  Ausgrabungen  in  Mykenae  namentlich  aus 
den  sogenannten  Königsgräbern  und  aus  den  älteren  Fundschichten 
ein  reiches  Material  ans  Licht  gefördert  zu  haben.  Die  hierdurch  ge- 
wonnene Anschauung  lenkte  sodann  die  Aufmerksamkeit  auf  eine 
Reihe  gleichartiger  Funde,  die  sich  über  das  schon  oben  bezeichnete 
Gebiet  von  Cypern  und  Rhodos,  über  die  Inseln  des  ägäischen  Meeres 
bis  nach  Kreta  und  über  die  Ostküste  des  griechischen  Festlandes  bis 
nach  Böotien  erstreckt  (Schliemann,  Mykenae  1878;  Furtwaengler  u. 
Löschcke,  Mykenische  Thongefässe  1879,  und  Mykenische  Vasen  1886). 
Mag  nun  auch  Mykenae  bis  jetzt  die  reichste  Auswahl  von  Mustern 
der  ganzen  Gattung  darbieten,  so  werden  wir  uns  doch  vor  der 
Schlussfolgerung  hüten  müssen,  dass  dieser  Ort  den  Ausgangs-  und 


Die  „mykenische"  Culturstufe  :  Die  Vasen. 


43 


Mittelpunkt  der  ganzen  Fabricationsweise  gebildet  habe,  von  dem  aus 
die  fertige  Waare  über  den  ganzen  oben  bezeichneten  Umkreis  ver- 
breitet worden  sei.  Auch  bei  verhältnismässig  regem  Handelsverkehr 
werden  wir  in  so  alter,  sagen  wir  vorläufig  ganz  allgemein:  vorhomeri- 
scher Zeit  nicht  annehmen  dürfen,  dass  ein  so  weites  Gebiet  von  einem 
einzigen,  nicht  einmal  im  Mittelpunkte  gelegenen  Orte  aus  mit  so 
geringwerthiger  Waare  versorgt  worden  sei,  deren  Herstellung  bei  ein- 
facher Übertragung  der  Handwerksüberlieferung  von  einem  Orte  zum 
andern  keiner  Schwierigkeit  unterworfen  sein  konnte.  Der  Augenschein 
kann  dieser  Auffassung  nur  zur  Bestätigung  dienen :  versuchen  wir 
nur  einmal,  den  Eindruck  der  Funde  von  lalysos  (F.  u.  L.  1886, 
T.  I  —  Ii)  gegenüber  denen  von  Mykenae  (T.  23  ff.)  zu  einem  Gesamt- 
bilde zusammenzufassen,  so  tritt  uns  in  den  ersteren  eine  gewisse 
kahlere  Nüchternheit,  in  den  letzteren  eine  etwas  laxere  oder  üppigere 
Überfülle  der  Ornamentik  entgegen,  die  eine  völlige  Gleichheit  des 
Ursprunges  ausschliessen.  Es  lassen  sich  locale  Verschiedenheiten 
nicht  verkennen,  wie  sie  sich  aus  der  Verschiedenheit  der  Handwerks- 
übung in  den  einzelnen  Werkstätten  ohne  Schwierigkeit  erklären, 
während  allerdings  der  Grundcharakter  auf  dem  ganzen  Gebiete  dieser 
Funde  ein  einheitlicher  bleibt. 

Bei  der  Bearbeitung  des  bildsamen  Thones  gelingt  es  mit  Hilfe 
der  Drehscheibe,  Gefässe  von  schwererer  oder  leichterer  Form  und 
von  nicht  ungefälligem  Ausseren  herzustellen,  an  welche  Handhaben 
und  Henkel  vielfach  mit  praktischem  Geschick  angefügt  sind,  doch 
noch  nicht  so,  dass  sie  mit  dem  Körper  zu  einer  einheitlichen  Kunst- 
form zusammengewachsen  erscheinen.  Eine  allgemeine  Gliederung  der 
Flächen  wird  durch  reifenartige  Linien  gegeben.  Die  zwischen  ihnen 
bleibenden  Felder  werden  mit  Ornamenten  bedeckt,  nicht  ordnungslos, 
sondern  schon  vielfach  macht  sich,  wenn  auch  noch  innerhalb  enger 
Grenzen,  ein  Sinn  für  Symmetrie  geltend,  auf  welche  ja  die  Natur  selbst  in 
vielen  ihrer  Bildungen  hinweist  (z.  B.  2,  10;  5,  28  B).  Aber  auch  hier 
handelt  es  sich  wie  bei  den  Henkeln  mehr  um  eine  geschickte  An- 
ordnung, als  um  eine  Entwicklung  und  Gliederung  aus  der  Natur 
und  den  Bedingungen  des  gegebenen  Raumes.  Im  Ganzen  überwiegt 
in  der  Ausschmückung  noch  die  Neigung,  die  Flächen  nach  dem 
Princip  der  textilen  Kunst  mit  sich  wiederholenden  Mustern  zu  über- 
decken oder  zu  überziehen. 

Unter  den  Elementen  der  aufgemalten  Decoration  ist  die  gerade 
Linie,  insofern  sie  den  Körper  der  Gefässe  reifenartig  umzieht,  durch 


44 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


die  Technik  der  Drehscheibe  wie  selbstverständUch  gegeben.  Ausser- 
dem dient  sie  fast  nur  als  eine  Art  Schraffierung  zur  Ausfüllung. 
Schon  eigenthümlicher  ist  die  Verwendung  der  Bogenlinie,  aber  nicht 


f. 


44.  —  46.    Gefässe  aus  Mykenae. 


in  Kreisform,  sondern  in  Kreisabschnitten  und  als  Spirale  (Abb.  45). 
Der  besondere  Charakter  aber  beruht  auf  der  Darstellung  von  Ge- 
bilden aus  der  Pflanzen-  und  der  Thierwelt.  Es  finden  sich  Blätter 
und  Blüthen  (Abb.  47),  vereinzelt  oder  an  Stengeln  verbunden,  Vögel 

(Abb.  4 4), von  andern  Thieren 
aber  besonders  Geschöpfe 
des  Meeres,  Fische,  Polypen 
und  Muscheln  (Abb.  46),  nur 
in  jüngeren  Exemplaren 
Stiere  (Abb.  49)  und  Pferde, 
und  schliesslich  ausnahms- 
weise auch  die  menschliche 
Gestalt  (Abb.  48).  Den  Aus- 
gangspunkt der  Darstellung 
bietet  überall  die  einfache 
Nachbildung  der  äusseren 
Erscheinung  der  Dinge,  wie 
sie  sich  dem  Auge  dar- 
stellt. Die  öftere  Wiederholung  aber  erweckt  zwar  das  Streben  nach 
einer  festen  typischen  Ausdrucksweise,  doch  führt  dasselbe  in  Er- 
mangelung eines  bestimmt  ausgesprochenen  Princips  mehr  zu  einer 


enscherbe  aus  Mykenae. 


Die  „mykenische*'  Culturstufe :  Die  Vasen. 

schablonenhaften  und  manierierten  Verknöcherung,  als  zu  einem  aus- 
geprägten künstlerischen  Styl.  Auch  in  den  menschlichen  Figuren 
ist  es  nicht  der  Organismus  der  Gestalt,  auf  welchen  der  Nachdruck 


Kriegervase  aus  Mykenae. 


gelegt  ist,  sondern  der  Maler  giebt  (T.  42  u.  43)  ein  Bild  der  Erscheinung 
eines  menschlichen  Wesens  mit  Armen,  Beinen,  Kopf  mit  Mund, 
Augen,  Nase,  angethan  mit  Gewand,  Schuhen,  Strümpfen  und  mit 
kriegerischen  Waffen,  stehend  oder  schreitend,  ohne  Verkrüppelung 
und  Missgestaltung,  aber  in  mehr  weicher  und  laxer,  als  fester  und 
scharfer  Umschreibung  der  Formen. 

Betrachten  wir  jetzt  mit 
gleichem  Auge  die  Stierfragmente 
aufTaf.  41  (Abb.  49),  so  gewinnen 
wir  dadurch  zugleich  einen  Maass- 
stab für  die  Beurtheilung  der  hoch- 
alterthümlichen  Malerei  auf  einer 
Mauer  des  Palastes  von  Tiryns 
{T.  13)^  eines  wild  vorstürmenden 
Stieres  und  einer  schwer  ver- 
ständlichen, über  dem  Rücken 
desselben  voltigierenden  (?)  männ- 
lichen Figur  (Abb.  50).  Wir  werden 
überrascht  durch  die  Lebendigkeit 

der  Conception,  und  sicher  war  darin  der  Wandmaler  dem  Vasenmaler 
überlegen.  Und  doch  steht  er  in  der  sonstigen  künstlerischen  Ent- 
wicklung kaum   höher.    Er  blendet  uns.    Aber  ist  denn  selbst  nur 


49.    Vasenscherbe  aus  Mykenae. 


46 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


das  Grundmotiv  des  Rennens  charakteristisch  aufgefasst?  Ist  die 
Haltung  des  Thieres  in  seinem  Vordertheil  nicht  fast  mehr  die  eines 
Rosses  als  eines  Stieres?  Gewisse  Eigenthümlichkeiten  im  Bau  des 
Körpers  sind  trotz  kindlichen  Ungeschickes  der  Ausführung  vom 
Vasenmaler  fast  richtiger  aufgefasst  als  vom  Wandmaler.  Bei  beiden 
aber  fehlt  die  Zeichnung  der  Formen  innerhalb  des  silhouettenartigen 
Umrisses  des  Körpers,  und  es  ist  fast  mehr  Nachdruck  gelegt  auf  die 
Flecken  des  bunten  Felles,  als  auf  die  Abgliederung  der  Schenkel 
und  die  Zeichnung  der  Schnauze  und  der  Augen.    Durch  diese  Be- 


50.    Wandgemälde  aus  Tiryns. 

merkungen,  welche  nur  vor  Überschätzung  warnen  sollen,  hört  das 
gemalte  Bild  auf,  eine  Anomalie  in  der  Kunst  seiner  Zeit  zu  bilden, 
sondern  fügt  sich  in  dieselbe  Entwicklung  ein,  die  wir  in  der 
„mykenischen"  Vasenmalerei  kennen  gelernt  haben.  Wir  können  uns 
desselben  freuen,  wie  des  Versuches  eines  mit  lebendiger  Auffassung 
begabten  Knaben,  an  welchen  wir  noch  nicht  den  Anspruch  stellen, 
dass  er  bereits  etwas  gelernt  habe. 

Die  Goldbecher  von  Vafio  (Abb.  5 1  u.  52).  Der  Eindruck  der 
Überraschung,  den  schon  dieses  Stierbild  bei  seiner  Auffindung  hervorrief, 
musste  sich  noch  bedeutend  steigern  bei  einer  Entdeckung,  die  erst 


Die  „mykenische"  Culturstufe:  Goldbecher  von  Vafio. 


47 


längere  Zeit  nachher  und  nachdem  die  obigen  Bemerkungen  bereits 
niedergeschrieben  waren,  auf  spartanischem  Boden  gemacht  wurde.  In 
einem  Kuppelgrabe  bei  Vafio  in  der  Nähe  von  Amyklae  fanden  sich 
zwei  einhenkelige  goldene  Trinkbecher,  deren  Aussenseiten  reich  mit 
getriebenen  Reliefs  geschmückt  sind,  die  uns  bestimmt  auf  das  Wand- 
gemälde zurückweisen.  Denn  es  handelt  sich  in  denselben  um  das 
Einfangen  und  die  Bändigung  gewaltiger  vStiere,  die  wir  uns  nicht  in 
einem  geschlossenen  Gehöft,  sondern  auf  freier  waldiger  Weide  ge- 
halten zu  denken  haben  {'Ecprjfi.  ao/.  1889,  9).  In  der  Mitte  des  ersten 
Bechers  ist  ein  Stier  in  ein  aus  dicken  Stricken  geknüpftes  Netz  sich 
überschlagend  gestürzt;  eilig  entflieht  nach  rechts  ein  anderer;  ein 
dritter,  der  nach  links  stürmt,  hat  einen  Mann  zwischen  seine  Hörner 
genommen  und  wirft  ihn  kopfüber  zur  Erde,  während  ein  zweiter 
Mann,  der  sich  zuerst  über  seinem  Rücken,  wie  in  dem  Gemälde,  be- 
funden haben  muss,  rückwärts  zur  Erde  geschleudert  wird.  Auf  dem 
zweiten  Becher  wird  ein  Stier  von  einem  Mann  am  Hinterfusse  mit 
einem  Stricke  gefesselt ;  hinter  ihm  stehen  zwei  andere  Stiere  ruhig  neben- 
einander, ein  dritter  schickt  sich  zum  Grasen  an.  Ausser  ausführlichen 
Terrain  an  gaben  bilden  einmal  zwei  Palmen  und  einige  Sträucher,  das 
andere  Mal  zwei  pinienartige  Bäume  eine  landschaftliche  Scenerie, 
während  an  den  oberen  Theilen  die  Lücken  der  Composition  wie  durch 
herabhängende  Felspartien  gefüllt  sind.  Die  Ausführung  ist  keine 
flüchtige  und  oberflächliche,  sondern  geht  meist  sehr  ins  Einzelne,  so 
bei  dem  Terrain  und  den  Bäumen,  während  an  den  menschlichen 
Gestalten  die  starke  Betonung  der  Musculatur  zu  einer  schlanken 
Magerkeit  der  Behandlung  führt.  Wahrhaft  betroffen  aber  fühlen 
wir  uns  durch  die  Lebendigkeit  und  Energie  der  Conception  und 
nicht  weniger  durch  die  Abwesenheit  alles  dessen,  was  wir  sonst  als 
das  Eigenthümliche  archaischen  Kunstcharakters  zu  betrachten  ge- 
wohnt sind. 

So  ist  es  allerdings  schwierig,  sich  in  dem  ersten  Eindrucke 
dieser  Arbeiten  zurechtzufinden,  und  es  ist  daher  noch  mehr  als  sonst 
nöthig,  sich  die  volle  Unbefangenheit  zu  wahren,  um  zu  einer  richtigen 
Beurtheilung  und  Würdigung  dieser  Dinge  an  sich  und  im  Zusammen- 
hange mit  den  sie  umgebenden  Erscheinungen  zu  gelangen. 

Das  Grab,  in  dem  die  Becher  gefunden  sind,  gehört  nach  seiner 
Bauweise  den  Kuppelgräbern  an,  welche  derjenigen  Culturperiode 
eigen  sind,  die  wir  uns  jetzt  als  die  »mykenische«  im  weiteren  Sinne 
zu  bezeichnen  gewöhnt  haben.    Der  gleichen   Periode  entsprechen 


48 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


durchaus  die  in  dem  Grabe  gemachten  Funde  an  Geräthen  und  Waffen, 
wie  auch  die  Reihen  von  »Inselsteinen«,  so  dass  es  schon  dadurch 
unmöghch  wird,  die  Becher  aus  dem  zeitHchen  Zusammenhange  mit 


51.    Becher  von  Vafio. 


ihnen  loszureissen  und  einer  wesentHch  jüngeren  Zeit  zuzuv/eisen. 
Sollen  wir  sie  nun  etwa  für  fremde  Arbeiten  eines  in  der  Cultur  vor- 
geschritteneren Volkes  halten  ?  Aber  nichts  erinnert  uns  hier  an 
ägyptische,  nichts  an  assyrische  Kunst,  nichts  auch  an  kyprische 
Arbeiten  gemischten  Styls,  während  umgekehrt  uns  nichts  entgegen- 
tritt, was  mit  griechischem  Wesen  im  allgemeinsten  Sinne  irgendwie 
im  Widerspruch  stände.  Fassen  wir  aber  jetzt  das  Einzelne  schärfer 
ins  Auge,  so  werden  wir  zwischen  Auffassung  und  Ausführung  be- 
stimmt zu  scheiden  haben.  Wir  bewundern  die  Lebendigkeit  der 
Auffassung.  Müssen  wir  aber  nicht  z.  B.  bei  dem  fliehenden  Stiere 
des  ersten  Gefässes  die  Frage  wiederholen,  die  wir  bei  dem  Stiere 
des  Wandbildes  aufwarfen :  ist  selbst  nur  das  Grundmotiv  des  Rennens 
charakteristisch  aufgefasst  ?  ist  die  Haltung  des  Thieres  in  seinem  Vorder- 
theil  nicht  fast  mehr  die  eines  Rosses  als  eines  Stieres  ?  Und  bei  wei- 
terem Nachdenken  werden  wir  nicht  umhin  können,  uns  der  mykenischen 
Dolchklingen  (siehe  oben  Seite  38)  oder  auch  der  Goldplatten  (Schlie- 
mann Nr.  471)  zu  erinnern:  da  laufen  Löwen,  Rehe  oder  Gazellen, 
katzenartige  Thiere,  Pferde  gerade  so  wie  der  Stier  mit  gerade  vor- 
gestreckten Vorder-  und  nach  rückwärts  geworfenen  Hinterbeinen, 
nicht  so,  wie  es  für  jedes  dieser  Thiere  in  der  Wirklichkeit  charakte- 
ristisch ist,  sondern  der  Künstler  folgt  einer  allgemeinen  Vorstellung, 
die  er  sich  von  dem  Begriffe  schnellsten  Laufes  überhaupt  gebildet 
hat,  und  die  es  ihm  hier,  wo  es  sich  um  das  einheitliche  Grundmotiv 


Die  „mykenische"  Culturstufe:  Goldbecher  von  Vafio. 


49 


des  Gestrecktseins  handelt,  auch  gehngt,  bei  dem  Beschauer  wieder 
zu  erwecken.  Ungewöhnhcher  und  nicht  so  einfach  ist  das  Motiv  des 
in  das  Netz  gestürzten  Stiers ;  auch  hier  lassen  wir  uns  im  Hinblick 
auf  die  Zwangslage  des  Thieres  für  einen  Augenblick  täuschen,  jedoch 
nur  so  lange,  bis  wir  versuchen,  uns  das  Verhältnis  des  Vorder-  zum 
Hintertheil  des  Körpers  einigermaassen  klar  zu  legen,  um  sofort  die 
Unmöglichkeit  der  Verdrehung  zu  erkennen.  Gewaltig  ist  im  Gesammt- 
motiv  das  Anstürmen  des  dritten  Stieres,  und  ebenso  ist  die  Darstellung 
der  beiden  in  der  Luft  schwebenden  Gestalten  aus  einer  lebendigen 
Vorstellung  des  Kopfüberstürzens  hervorgewachsen;  durch  welche  be- 
sonderen Umstände  sie  jedoch  in  diese  Lage  versetzt  sind,  in  welcher 
Weise  der  Stier  die  eine  zwischen  die  Hörner  genommen,  die  andere 
von  seinem  Rücken  abgeschüttelt  hat,  darüber  vermögen  wir  uns  bei 
genauerem  Zusehen  keine  Rechenschäft  zu  geben.  Genug,  die  gesammte 
Auffassung  erinnert  vielfach  an  Darstellungen  der  Inselsteine,  wenn 
auch  bei  der  besonderen  Natur  derselben  das  Unvermittelte,  ja  theilweise 
Verdrehte  in  der  Erfindung  der  einzelnen,  wie  in  der  Zusammen- 
ordnung der  verschiedenen  Gestalten  eine  wesentliche  Steigerung  nach 
der  Seite  des  Phantastischen  erfahren  hat.  —  Grössere  Ruhe  herrscht 
in  den  Bildern  des  zweiten  Bechers :  wenn  das  eine  Thier  den  Kopf 
neigt,  wie  um  zu  grasen,  wenn  das  mittlere  Paar  nebeneinander  steht, 
wie  in  ruhiger  Unterhaltung  begriffen,  und  der  Stier  vor  ihnen  der 
Lage,  in  die  er  durch  die  Fesselung  versetzt  ist,  durch  lautes  Brüllen 


52.    Becher  von  Vafio. 


Ausdruck  giebt,  so  vereinigt  sich  das  Alles  im  Gegensatz  zu  der 
Erregung  der  ersten  Reihe  zu  einer  Art  von  Stimmungsbild,  bei  dem 
weniger  eine  lebhaft  erregte  Phantasie,  als  ruhige  Beobachtung  des 

4 


50 


Erstes  Capiiel.    Vorhomerische  Kunst. 


Einzelnen  sich  geltend  macht.  Und  in  der  That  lenkt  sich  hier  unsere 
Aufmerksamkeit  vor  Allem  auf  das  Maass  der  Durchführung.  Um  bei 
den  Bäumen  anzufangen,  so  überrascht  uns  das  Bestreben,  Stamm, 
Äste  und  Laub  in  fast  landschaftlicher  Erscheinung  wiederzugeben. 
Bei  den  Thieren  werden  an  den  Beinen,  am  Schweife,  am  Halse,  an 
den  Köpfen  die  an  der  Oberfläche  hervortretenden  Eormen,  besonders 
auch  die  Falten  der  Haut,  die  Besonderheiten  des  Felles  betont. 
An  der  menschlichen  Gestalt  wird  der  Nachdruck  auf  die  Musculatur 
gelegt.  Hier  aber,  wo  in  der  Stellung  und  Haltung  eine  bestimmte 
Handlung  ausgedrückt  w^erden  soll,  treten  auch  die  Grenzen  bestimmt 
hervor,  innerhalb  welcher  sich  die  Beobachtungen  des  Künstlers  be- 
wegen. Wir  verstehen,  wie  der  Mann  das  Seil  fasst,  um  das  Bein 
des  Stiers  in  die  Höhe  zu  ziehen;  aber  noch  ist  es  dem  Künstler 
nicht  gelungen,  die  nothwendige  Wirkung  der  Fesselung,  den  Ausdruck 
des  durch  dieselbe  hervorgerufenen  Widerstandes  weder  in  dem  Thiere 
noch  in  seinem  Bändiger  formal  zur  Darstellung  zu  bringen.  Auch 
darüber  dürfen  wir  uns  nicht  täuschen,  dass  überhaupt  trotz  des  Reich- 
thums einzelner  Beobachtungen  das  innere  Verständnis  der  Formen  in 
ihren  Verhältnissen  und  ihrem  Zusammenhange,  in  der  Unterordnung 
des  Einzelnen  unter  das  Ganze  noch  keineswegs  erreicht  ist.  — 
Auch  die  mykenische  Vasenmalerei  ging  aus  von  einfacher  Nach- 
bildung der  äusseren  Erscheinung  der  Dinge.  An  den  einzigen  bis 
jetzt  bekannten  Darstellungen  der  Menschengestalt,  den  aufmarschie- 
renden Kriegern  (s.  oben  S.  44),  beruhte  die  Darstellung  auf  Beobachtungen 
mehr  sachlicher  als  künstlerischer  Art.  Es  handelte  sich  mehr  um 
die  Wiedergabe  der  einzelnen  Theile  des  Körpers,  um  die  Einzelnheiten 
in  Kleidung  und  Bewaffnung,  als  um  die  künstlerische  Durchbildung 
der  Gestalten.  Damit  stimmen  die  Goldbecher  in  der  Grundauffassung 
überein;  und  wenn  sie  uns  auf  einer  höheren  Stufe  der  Vortrefflich- 
keit entgegentreten,  so  wird  sich  dieser  Unterschied  recht  wohl  auf 
die  besonderen  Bedingungen  ihrer  Herstellung  zurückführen  lassen. 
Die  mykenischen  Vasenmalereien  sind  Producte  einer  reinen  Hand- 
werksthätigkeit.  Ähnlich  wie  das  Stiergemälde  auf  die  Wand,  sind 
sie  mit  weichem  Pinsel  von  flüchtiger,  wenig  gebildeter  Hand  auf  den 
Thongrund  aufgetragen.  Sie  bilden  dadurch  den  vollen  Gegensatz  zu 
der  Metallarbeit  der  Dolchklingen,  die,  in  einem  harten  Material  aus- 
geführt, ein  sorgsames  und  langwieriges  technisches  Verfahren  er- 
heischten und  als  Luxuswaffen  für  ihre  Anfertigung  geschicktere  und 
gewähltere  Arbeitskräfte  in  Anspruch  nahmen.    Darin  sind  die  Gold- 


Die  „mykenische"  Culturstufe :  Goldbecher  von  Vafio.  ^  I 

oecher  ihnen  verwandter,  als  den  Vasenmalereien.  Auch  sie  sind  in 
Metall,  allerdings  in  dem  weicheren  dehnbaren  Golde  ausgeführt,  in 
dem  die  Technik  des  Treibens  auf  eine  mehr  rundliche  und  weiche 
Formengebung  führte,  welche  sogar  gewisse  malerische  Elemente  be- 
günstigte, so  dass  zu  schärferer  Bezeichnung  manchen  Details  das  ein- 
fachere Verfahren  des  Treibens  eine  Ergänzung  durch  eine  Art  von 
Gravierung  finden  musste.  Dass  wir  schliesslich  in  den  beiden  Reliefs 
nicht  gewöhnliche  Handwerksarbeiten,  sondern  hervorragende  Lei- 
stungen eines  aussergewöhnlich  begabten  und  in  seinem  Kunstzweig 
fertigen  Meisters  vor  Augen  haben,  wird  keines  besonderen  Beweises 
bedürfen. 

Und  doch  wird  unser  Empfinden  noch  immer  Anstand  nehmen, 
die  beiden  Becher  mit  den  übrigen  „mykenischen"  Funden  nach  Ort 
and  Zeit  ihrer  Entstehung  auf  ein  und  dieselbe  Linie  zu  stellen.  Um 
darüber  zu  einer  bestimmten  Uberzeugung  zu  gelangen,  werden  wir  uns 
die  Elemente  klar  zu  machen  haben,  die  bei  der  Schaffung  eines  Kunst- 
w^erkes  in  vollem  Sinn  des  Wortes  mitzuwirken  berufen  sind.  Einmal 
bedarf  es  einer  regen  Einbildungskraft,  die  sich  von  den  Dingen  in 
der  Gesammtheit  ihrer  Erscheinung  eine  lebendige  Vorstellung  zu  bilden 
vermag;  weiter  einer  scharfen  Beobachtungsgabe,  welche  das  Einzelne 
in  seinen  Formen  und  seiner  Charakteristik  zu  erfassen  versteht.  Beide 
Eigenschaften  treten  an  den  Goldbechern  als  die  für  ihren  künstlerischen 
Charakter  vorzugsweise  bestimmenden  hervor.  Es  ist  aber  für  das 
höhere  Kunstwerk  noch  ein  drittes  Element  erforderlich,  welches 
zwischen  den  beiden  ersten  als  den  Endpunkten  gewissermaassen  die 
Vermittlung  zu  übernehmen  und  dieselben  zu  einer  höheren  Einheit 
zu  verschmelzen  hat:  das  ist  die  plan-  oder  schulmässige  Durchbildung 
des  Gedankens  und  der  Form  und  ihre  gegenseitige  Durchdringung 
nach  klar  verstandenen  künstlerischen  stylistischen  Principien.  Dieses 
Element  fehlt  den  Bechern,  wie  der  mykenischen  Kunststufe  über- 
haupt. Wir  haben  es  vielmehr  mit  einer  Übung  der  Kunst,  einem 
ausgedehnten  Betriebe  künstlerischer  Arbeit  zu  thun,  wie  er  sich  auf 
einer  frühen  Stufe  der  Cultur  aus  dem  Volksgeiste  entwickelt,  aber 
auch  bei  fortgeschrittener  Civilisation  abseits  derselben  als  ein  boden- 
wüchsiger,  als  eine  Bauern-  oder  Hausindustrie  sich  erhalten  und  sogar 
neben  einer  schulmässigen  Kunst  noch  lange  fortbestehen  kann.  Bei- 
spielsweise, um  von  den  Industrieen  halbcivilisierter  Völker,  wie  denen 
der  Balkanländer  oder  des  Orients,  abzusehen,  mag  hier  nur  an  die 
Holzschnitzereien  in  den  Alpenländern  erinnert  werden,    die  durch 

4* 


52 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


die  Vollendung  in  ihrer  besonderen  Art  andere  durch  dieselbe  nicht 
nothwendig  bedingte  Anforderungen  uns  oft  sogar  ganz  vergessen 
lassen.  Ebenso  nahe  liegt  der  Vergleich  mit  einem  anderen  Gebiete 
geistiger  Thätigkeit,  dem  Gebiete  der  Volkssage  und  -Dichtung  in  ihrem 
Verhältniss  zur  Kunstpoesie.  Wären  uns  vorhomerische  Lieder  oder 
Gesänge  erhalten,  so  würden  sie  uns  gewiss  vielfach  durch  Lebendig- 
keit der  Phantasie,  wie  durch  frische  Auffassung  des  wirklichen  Lebens 
überraschen,  und  doch  bedurfte  es  des  in  der  Gestalt  des  Homer 
personificierten  Geistes,  um  aus  der  Volksdichtung  das  Epos  in  seiner 
künstlerischen  Vollendung  erstehen  zu  lassen.  Unter  solchen  Ge- 
sichtspunkten treten  die  beiden  Goldbecher  nicht  aus  dem  Kreise 
der  mykenischen  Kunst  heraus,  wenn  sie  auch  an  die  letzte  Grenze 
derselben  herabrücken.  Das,  worin  sie  über  dieselbe  hinauszugehen 
scheinen,  beruht  auf  der  persönlichen  Befähigung  ihres  Urhebers, 
in  welchem  die  Eigenschaften  der  Umgebung,  in  der  er  lebt,  zur 
höchsten  Leistungsfähigkeit  gedeihen,  vielleicht  gerade  darum,  weil  er 
im  Princip  noch  auf  dem  gleichen  Boden  stehen  bleibt  und  durch  neue 
Anforderungen  nicht  beunruhigt  wird.  Denn  wo  in  einer  bestimmt 
begrenzten  Richtung  so  Vollendetes  geleistet  wird,  da  wird  es  dem 
Einzelnen  schwer,  wenn  nicht  unmöglich,  mit  eigenem  Willen  aus 
diesen  Kreisen  herauszutreten.  Ein  solcher  Wechsel  setzt  ganz  neue 
Anregungen  voraus,  die  weniger  aus  den  bisherigen  Anschauungen 
herauswachsen,  als  dass  sie  von  aussen  her  durch  den  Einfluss  mannig- 
fach veränderter  Verhältnisse  sich  vorbereiten  und  zur  Geltung  gelangen. 
Dass  wir  in  allen  bisher  von  uns  betrachteten  künstlerischen  Arbeiten 
keinen  Darstellungen  poetisch-mythologischen  Inhalts  begegnet  sind, 
muss  hier   zum  Schlüsse  nochmals  ausdrücklich  betont  werden. 

Die  hier  dargelegten  Anschauungen  mögen  zunächst  noch  einiger- 
maassen  gewagt  erscheinen ;  doch  finden  sie  eine  erwünschte  Bestätigung 
in  thatsächlichen  Verhältnissen,  die  uns  entgegentreten,  wenn  wir 
nach  dieser  längeren  Abschweifung  wieder  zur  Betrachtung  der  Vasen- 
malerei zurückkehren. 

Die  Vasen  des  geometrischen  und  des  Dipylon-Styls. 

Schon  vor  den  mykenischen  Ausgrabungen  hat  Conze  aus  der 
Masse  späterer  Arbeiten  eine  bestimmte  Gruppe  ausgesondert,  die  sich 
durch  den  Charakter  hoher  Alterthümlichkeit  auszeichnet,  wenn  sie 
auch  darin  jetzt  hinter  die  mykenische  Gattung  zurücktritt  (Zur  Ge- 
schichte der  Anfänge  griechischer  Kunst,  in  den  Sitzungsber.  d.  Wiener 


Geometrischer  und  Dipylon-Styl. 


53 


Akad.  LXIV.  S.  505).  Dass  sich  im  Technischen,  in  der  Behandlung 
des  Thons,  der  Farbe,  des  Firnisses  bereits  eine  gewisse  Reinigung 
oder  Verfeinerung  bemerkbar  macht,  mag  nur  kurz  angedeutet  werden. 
An  den  Formen  der  Gefässe  ist  der  Umriss  meist  etwas  weniger 
rundhch  und  bauchig,  vielmehr  schon  etwas  gestreckt  und  nach  oben 
stehend.  Doch  zeigt  sich  z.  B.  in  dem  Ansätze  der  Handhaben  und 
Henkel  noch  kein  principieller  Fortschritt.  Von  entscheidender  Wichtig- 
keit aber  ist  das  System  und  die  Ordnung  der  Ornamente,  welche 
besonders  am  oberen  Theile  der  Gefässe,  oft  nur  an  der  Vorderseite, 
in  horizontalen  Reihen  so  vertheilt  sind,  dass  sich  häufig  innerhalb  der- 
selben durch  verticale  Linien  eine  Gliederung  in  Felder  ergiebt  (Abb.  53). 
Im  Einzelnen  sind  sie  vorwiegend  linearer  Natur;  wir  finden  parallele, 
schachbrettartig  und  rautenförmig  gekreuzte,  strahlenförmig  und  im 
Zickzack  verbundene  Linien,  ferner  das  Kreuz,  das  Hakenkreuz  und 
wenigstens  in  seinen  Elementen  den  Mäander.  Unter  den  weniger 
häufigen  nicht  geraden  Linien  tritt  besonders  der  Kreis  mit  Betonung 
seines  Mittelpunktes  hervor,  während  seine  Fläche  mehrfach  durch  ein 
Kreuz  oder  durch  concentrische  Kreise  gegliedert  ist.  Eigenthümlich 
sind  die  neben  einander  gestellten,  durch  schräge  Tangenten  ver- 
bundenen Kreise,  welche  in  diesem  System  die  Stelle  bandartig  ge- 
reihter Spiralen  vertreten.  Die  Thierbildungen  beschränken  sich  auf 
Pferde,  welche  meist  an  der  Krippe  angebunden  stehen,  auch  Böcke, 
Hirsche,  und  unter  den  Vögeln  fast  nur  auf  Gänse.  Dagegen  fehlen 
wilde  Thiere  wie  Löwe  und  Panther,  und  bis  auf  vereinzelte  Blätter 
und  Blüthen  auch  die  Ornamente  aus  der  Pflanzenwelt. 

So  einfach  diese  Elemente  scheinen,  so  sind  sie  doch  schwerlich 
zuerst  für  die  Gefässmalerei  erfunden  worden,  sondern  sie  weisen  in 
ihren  Ursprüngen  auf  die  noch  ältere  Kunstübung  nicht  sowohl  des 
Webens,  als  des  Flechtens  und  Stickens  zurück,  in  deren  Technik  sie 
ihre  natürliche  Begründung  finden.  In  ihrer  Übertragung  sind  sie 
aber  bereits  zu  einem  bestimmten  System  geordnet,  das  unabhängig 
von  der  Individualität  eines  Einzelnen  nicht  etwa  nur  in  einem  engen 
Kreise,  sondern  in  weiteren  Kreisen  sich  wirksam  erweist.  Denn 
Vasen  der  besagten  Art  finden  sich  nicht  nur  an  den  Küsten  Klein- 
asiens, auf  den  Inseln,  wie  Rhodos  und  Melos,  ferner  im  eigentlichen 
Griechenland,  sondern  nicht  weniger  an  der  Nordküste  Afrikas  in 
Tripolis,  wie  auch  in  Etrurien.  Ja  selbst  bis  auf  die  nordeuropäischen 
Völkerschaften  hat  sich  dieses  System  ausgebreitet,  wo  es  eigentlich 
erst  durch  den  römischen  Einfluss  überwunden  zu  sein  scheint.  Im 


54 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Süden  dagegen  hatte  es,  wie  wir  sehen  werden,  bereits  vor  Homer 
seine  ausschhesshche  Herrschaft  verloren,  wenn  es  sich  auch  noch 
lange  Zeit  in  handwerksmässiger  Übung  erhielt  und  gerade  die  auf  uns  ge- 
kommenen Proben  zumeist  diesem  späteren  Nachleben  angehören  mögen. 
Die  Hauptsache  für  uns  ist,  dass  es  einmal  die  Herrschaft  besass  und 
dass  sich  in  seiner  Anwendung  bereits  ein  künstlerisches  Princip 
erkennen  lässt,  welches,  natürlich  in  mannigfacher  Weiterbildung,  im 
Verlaufe  der  griechischen  Kunst  seine  maassgebende  Bedeutung  nie 
verloren  hat.  Wie  das  einzelne  lineare  Ornament  auf  mathematischer 
Grundlage  beruht  (weshalb  man  auch  das  ganze  System  als  das 
geometrische  bezeichnet  hat),  so  wird  der  gleiche  Charakter  auch 


53.    Elemente  und  Formen  des  geometrischen  Vasenstyles. 


in  den  verschiedenen  Combinationen  desselben  festgehalten:  das  Orna- 
ment soll  den  zu  schmückenden  Raum  nicht  nur  bedecken,  sondern 
soll  ihn  theilen  und  gliedern,  soll  die  Natur  dieses  Raumes  künstlerisch 
charakterisieren.  Wo  der  Körper  der  Gefässe  die  volle  Rundung 
darbietet,  da  wird  er  durch  rings  herumlaufende  Linien  und  Streifen 
gegliedert,  in  welchen  die  einzelnen  Elemente,  Kreise,  Mäander, 
Strahlen  u.  a.  zu  einem  fortlaufenden  Bande  verbunden  sind;  selbst 
die  Thiere  folgen  sich  in  ununterbrochenen  Reihen.  Wo  aber  die 
Rundung  durch  die  Henkel  unterbrochen  wird,  da  scheiden  sich  vier- 
seitige Felder  aus,  welche  meist  durch  senkrechte  Linien  und  Streifen 
wieder  in  mehrfache  Unterabtheilungen  zerfallen,  in  denen  fast  durch- 
gängig eine  symmetrische  Anordnung,  so  namentlich  auch  in  der 
Gegenüberstellung  einzelner  Thiere,  Platz  greift. 


Geometrischer  und  Dipylon-Styl. 


55 


So  einfach  und  fast  selbstverständlich  dieses  mathematische 
Princip  der  Raumgliederung-  erscheint,  so  tritt  seine  tiefere  Bedeutung 
bereits  in  einer  weiteren  Entwicklung  noch  innerhalb  derselben 
Categorie  von  Vasen  deutlicher  hervor.  Aus  athenischen  Funden, 
namentlich  aus  Gräbern  beim  Dipylon,  sind  mehrere  Exemplare  bekannt 
geworden,  auf  denen  zwischen  den  bisherigen  decorativen  Elementen 
auch  Compositionen  menschlicher  Figuren  eingefügt  sind  (Mon.  dell' 
Inst.  IX,  t.  39 — 40;  Annali  1872,  t.  i — k  nebst  den  gründlichen  Er- 


54.    Vase  des  Dipylon-Styles. 


örterungen  von  Hirschfeld  p.  131  — 181;  vgl.  auch  das  Fragment  bei 
Collignon,  Hist.  de  la  sculpt.  gr.  I,  p.  76):  auf  Totencultus  bezüghche 
Darstellungen,  Tänze,  Reihen  von  Wagen,  Schiffskämpfe  (Abb.  54).  Die 
Ausführung  lässt  sich  kaum  kindlicher  denken:  ein  Kreis  mit  Punkt 
und  einer  gleich  einem  Vogelschnabel  hervortretenden  Nase,  zuweilen 
auch  einem  Haarschopf  bezeichnet  den  Kopf;  den  Oberkörper  bildet  fast 
ein  Dreieck,  an  welches  die  Arme  wie  dünne  Stecken  angesetzt  sind, 
zuweilen  mit  Fingern  nach  Art  von  Blattbüscheln  versehen.  Mehr 
Körper  ist  den  Beinen  gegeben,  an  denen  sich  wenigstens  Schenkel 
und  Waden  sondern.    Um  an  dem  allgemeinen  Typus  der  nackten 


56 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Menschheit  die  Geschlechter  zu  scheiden,  begnügt  sich  der  Maler  zur 
Bezeichnung  der  Weiblichkeit  mit  der  Angabe  der  aus  dem  Dreieck 
des  Oberkörpers  heraustretenden  Brustwarzen.  Kleider  sind  von  ge- 
würfeltem Stoffe ;  die  kurzen  Röcke  oder  Rüstungen  der  Krieger  und 
Wagenlenker  dagegen  in  der  Form  des  böotischen  Schildes  typisch 
stylisirt.  Alle  Stellungen  sind  schematisch  eckig,  nur  in  den  Kampf- 
scenen  etwas  individueller  behandelt.  Nicht  weiter  vorgeschritten  ist 
die  Bildung  der  Pferde  mit  ihren  dünnen  Leibern  und  langen  Hälsen. 
Und  dennoch  werden  wir  diese  kindlichen  Versuche  kaum  als  roh 
bezeichnen  dürfen;  denn  überall  tritt  uns  ein  unverkennbarer  Sinn  für 
Ordnung  und  Regel  entgegen.  Bei  der  einzelnen  Gestalt  richtet  sich 
das  Streben  nicht  zuerst  darauf,  die  äussere  Erscheinung  in  ihrer 
ganzen  Breite  wiederzugeben,  sondern  das  mathematische  Grundschema 
der  Gestalt,  wie  es  vor  Allem  auf  dem  Knochengerüst  beruht,  zu  er- 
fassen und,  man  möchte  sagen,  nur  nothdürftig  mit  weiteren  körper- 
lichen Formen  zu  umkleiden.  Die  einzelne  Figur  aber  bildet  wiederum 
nur  den  Theil  eines  Ganzen,  in  welchem  ihr  nach  dem  gleichfalls  mathe- 
matischen Gesetz  räumlicher  Entsprechung  ihre  Stelle  angewiesen  wird. 
Die  ganze  Composition  endlich  fügt  sich  durchaus  regelmässig  dem 
oben  dargelegten  System  decorativer  Raumgliederung  ein.  Die  Ge- 
spanne ziehen  sich  in  ununterbrochener  Folge  um  den  Körper  der 
Vase  herum,  und  eine  ähnliche  Anordnung  darf  bei  den  Schiffen 
vorausgesetzt  werden.  Die  grosse  Totenausstellung  dagegen  nimmt 
das  Feld  zwischen  den  Henkeln  ein:  in  dem  hohen  Leichenwagen 
gewinnt  sie  einen  klar  hervortretenden  Mittelpunkt;  die  obere  (der 
Idee  nach  als  die  hintere  aufzufassende)  Reihe  der  Figuren  aber  dient 
nicht  nur,  die  Mitte  noch  weiter  aufzubauen,  sondern  auch  die  Gliederung 
der  Composition  in  bestimmtere  Beziehung  zu  der  ursprünglichen,  noch 
in  dieselbe  hineingreifenden  geometrischen  Feldertheilung  zu  setzen. 
Es  ist  also  ein  und  dasselbe  Princip,  welches  das  ganze  System  der 
Decoration  bis  in  die  einzelne  Figur  durchdringt;  und  eben  darin  ist 
es  begründet,  dass  der  unbefangene  Beschauer  bereits  eine  gewisse 
Befriedigung  empfindet,  auch  wenn  er  von  der  Ausführung  des 
Einzelnen,  ja  von  dem  Inhalte  der  Darstellung  noch  völlig  absieht. 

Doch  darf  auch  dieser  nicht  ausser  Betracht  gelassen  werden. 
Er  erscheint  durchaus  bedingt  durch  die  Grabesbestimmung  der  Ge- 
fässe.  Unzweifelhaft  ist  dies  bei  den  Darstellungen  der  Totenklage 
um  den  Verstorbenen,  der  auf  der  Bahre  ausgestellt  ist  oder  auf  dem 
Wagen  zur  Gruft  geführt  werden  soll.   Auf  die  dem  Toten  schuldigen 


Geometrischer  und  Dipylon-Styl. 


57 


Ehren  lassen  sich  die  Gespanne  und  die  Tänze  als  Andeutung  der 
Leichenspiele  beziehen;  und  wenigstens  möglich  ist  es,  dass  in  den 
Schiffskämpfen  eine  Hinweisung  auf  die  Thaten,  das  Leben  und  die 
Geschicke  des  Verstorbenen  gegeben  ist.  Jedenfalls  ist  der  Stoff  der 
Wirklichkeit  entlehnt,  ohne  Beimischung  irgendwelcher  Elemente  der 
religiösen  oder  poetisch  -  mythologischen  Sagen  oder  auch  nur  des 
phantastischen  Polydämonismus  der  Inselsteine.  Und  doch  ist  die 
Auffassung  und  Behandlung  dieses  Stoffes  keineswegs  eine  realistische. 
Schon  in  der  Wahl  der  Gegenstände,  sofern  sie  richtig  gedeutet  sind, 
verräth  sich  ein  poetischer  Sinn,  der  bedeutsame,  allgemein  gültige 
Momente  hervorzuheben  weiss.  Aber  auch  in  der  Auffassung  ver- 
bietet schon  jenes  mathematische  Princip  in  der  künstlerischen  Com- 
position  und  Ausführung  ein  enges  Anschliessen  an  die  Wirklichkeit; 
und  wie  die  einzelne  Figur  fast  nur  das  allgemeine  Schema  der  Ge- 
stalt zeigt,  so  begnügt  sich  auch  die  gesammte  Darstellung,  die 
Handlung  in  ihren  allgemeinen  unveränderlichen  Zügen  kenntlich  zu 
machen  und  zu  charakterisiren.  Eben  dadurch  erklärt  es  sich,  dass 
in  Darstellungen  der  Totenklage  die  gleiche  Grundauffassung  bis  in 
die  Blüthezeit  der  griechischen  Kunst  gewahrt  bleiben  konnte  und 
dass  das  Fortschreiten  der  Entwicklung  sich  nur  in  der  Ausführung, 
nicht  in  der  Idee  zeigt.  Genug:  wir  dürfen  die  Behauptung  wagen, 
dass  schon  in  diesen  ersten  Versuchen  die  ideale  Richtung  der  helleni- 
schen Kunst  sich  in  kräftigen  Keimen  geltend  macht  und  dass  eine 
der  fundamentalen  Aufgaben  dieser  Richtung,  die  gegenseitige  Durch- 
dringung von  Inhalt  und  Form,  hier  bereits  in  befriedigender  Weise 
gelöst  ist. 

Wir  haben  die  Vasen  des  geometrischen  und  Dipylonstyls  zuerst 
für  sich  allein  betrachtet.  Es  wird  aber  nicht  einer  Vergleichung 
im  Einzelnen  bedürfen,  um  uns  zu  überzeugen,  dass  sie  in  den  Grund- 
principien  und  in  den  Elementen  ihres  Decorationssystems  sich  mit 
der  mykenischen  Gattung  nach  keiner  Seite  berühren,  dass  beide  Arten 
vielmehr,  eine  jede  für  sich,  neben  einander  bestehen.  Das  mathe- 
matische System  schematischer  Linien  und  Formen  bildet  den  vollsten 
Gegensatz  zu  der  blossen  Nachahmung  der  Wirklichkeit  nach  dem 
Eindrucke  ihrer  äusseren  Erscheinung. 

Dieses  Verhältniss  wird  recht  augenfällig,  wo  sich  die  beiden 
Richtungen  schliesslich  begegnen  und  eine  wechselseitige  Beeinflussung 
beginnt,  wie  es  gegen  das  Ende  der  mykenischen  Periode  in  Mykenae 
selbst  und  in  Tiryns  thatsächlich  der  Fall  ist.    Aus  letzterem  Orte 


58 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


sind  uns  mehrere  Vasenfragmente  mit  Thier-  und  Menschengestalten 
bekannt  geworden  (SchUemann,  T.  14  fF.),  die  bei  flüchtiger  Be- 
trachtung stark  an  die  Dipylon- 
vasen  erinnern  und  doch  im 
innersten  Grunde  sich  scharf  von 
ihnen  unterscheiden  (Abb.  55).  Der 
Dipylonstyl  ist  hier  fast  zur  Cari- 
catur  geworden;  die  mathema- 
tischen Linien  und  Formen  ab- 
gerundet und  verweichlicht ;  nicht 
nur  die  breiten  Flächen,  sondern 
auch  das  Innere  der  Doppelum- 
risse der  Köpfe  und  Linien  ist 
ganz  ohne  Sinn  mit  Punkten  und 
Linien  ornamental  ausgefüllt.  In- 
dem wir  an  den  verschiedenen  Bruchstücken  die  Nachahmung  von  Stufe 
zu  Stufe  verfolgen  können,  muss  der  steigende  Mangel  an  Verständnis 
der  Vorbilder  nur  um  so  mehr  verstimmen.  So  wirkte  offenbar  der 
Dipylonstyl  zersetzend  und  auflösend  auf  einen  an  mykenische  Auf- 
fassung gewöhnten  Maler.  —  Das  Umgekehrte  findet  sich  in  Mykenae 
in  einer  Gruppe  von  Vasenscherben,  die  sich  von  den  übrigen 
Massen ,  besonders  denen  der  Königsgräber ,  schon  durch  ihre  Fund- 


56.    Mj^kenische  Vasenscherbe. 


55.   Vasenscherbe  aus  Tiryns. 


Stätte  im  Zugange  zu  dem  in  der  Nähe  des  Löwenthores  gelegenen 
Kuppelgrabe  scheidet  (Schliem ann,  T.  20,  21)  (Abb.  56  und  57).  In 
der  Zeichnung  dieser  Bruchstücke  treten  die  gerundeten  und  ge- 
schwungenen Linien  und  die  Spiralen  zurück,  ebenso  die  Elemente 


Geometrischer  und  Dipylon-Styl.  —  Historischer  Rückblick. 


59 


aus  der  Pflanzenwelt  und  die  Geschöpfe  des  Aleeres.  Vielmehr 
überwiegt  die  Zickzacklinie,  der  Mäander  und  der  Kreis,  nur  mit 
dem  Unterschiede,  dass  an  die  Stelle  der  einfachen  meist  doppelte 
Linien  mit  schraffierter  Füllung  treten,  welche  dieser  Ornamentik 
gegenüber  der  Magerkeit  des  geometrischen  Styles  eine  gewisse 
Breite  und  Fülle  verleihen.  Hier  hat  also  die  gegenseitige  Durch- 
dringung der  beiden  Stylgattungen  begonnen,  und  zwar  so,  dass 
die  Strenge  und  Einseitigkeit  des 


geometrischen  Styls  eine  Milde- 
rung durch  den  Einfluss  der 
weicheren  mykenischen  Kunst- 
übung erfährt.  Die  weitere  Ent- 
wicklung wird  sich  erst  später 
und  an  anderen  Orten  verfolgen 
lassen. 

Zunächst  ist  es  vielmehr  an 
der  Zeit,  die  Thatsachen,  welche 


wir  aus  der  Betrachtung  nicht  57.  Mykenische  vasenscherbe. 

nur   der  Vasenmalerei,  sondern 

auch  der  übrigen  Gruppen  decorativer  Arbeiten  gewonnen  haben ,  so 
weit  als  möglich  zu  einem  Gesammtbilde  zu  vereinigen.  Die  festen 
Grundlagen  bieten  uns  dabei  die  örtlichen  Grundlagen  von  AEykenae, 
Tiryns  und  Orchomenos. 

Historischer  Rückblick. 

Als  Schliemann  die  ältesten  Gräber  in  Mykenae  entdeckte,  musste 
die  Lage  derselben  innerhalb  des  Löwenthores  befremdlich  erscheinen; 
und  die  dadurch  hervorgerufenen  Bedenken  führten  daher  auf  die 
Vermuthung,  dass  sich  diese  Gräber  ursprünglich  ausserhalb  eines 
engeren  Mauerringes  der  Akropolis  befunden  haben,  und  dass  der  Theil 
der  Mauer,  in  welchen  das  Löwenthor  hineinführt,  einer  Erweiterung 
der  Burg  und  darum  einer  jüngeren  Zeit  als  der  ihrer  ersten  Gründung 
angehöre.  Allerdings  hat  Steffen  (Karten  von  Mykenai  S.  50)  dagegen 
den  Einwand  erhoben,  dass  die  innerhalb  des  Löwenthores  noch  jetzt 
vorhandene  Stützmauer  nicht  die  alte  Ringmauer  gewesen  sein  könne. 
Allein  die  äussere  Ringmauer  folgt  in  unverkennbarer  Weise  der 
Rundung  des  von  Steffen  selbst  als  jünger  anerkannten  Plattenringes 
der  Gräber.    Fassen  wir  aber  den  Bau  derselben  als  ein  Herausrücken 


6o 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


auf,  so  begreift  es  sich  leicht,  wenn  man  dazu  das  Material  der  dadurch 
überflüssig  werdenden  inneren  Befestigung  verwendete  und  diese  durch 
eine  einfache  Stützmauer  ersetzte.  Halten  wir  also  an  der  Annahme 
einer  Anlage  der  Gräber  ausserhalb  der  ältesten  Stadt  fest,  so  gehören 
in  den  Culturkreis  derselben  die  Malereien  der  ältesten  „mykenischen" 
Vasen,  die  Reliefs  der  Grabstelen,  der  zum  Putz  bestimmte  Gold- 
schmuck, die  Metallarbeit  der  Schwertklingen,  die  Glyptik  eines 
wesentlichen  Theiles  der  Inselsteine.  —  Es  folgt  die  Erweiterung  des 
Mauerringes  mit  dem  Löwenthor,  mit  der  wir  die  Erbauung  der 
Kuppelgräber  ausserhalb  desselben  in  Beziehung  setzen  dürfen.  Hier 
treten  uns  an  dem  Löwenrelief  wie  an  dem  Schmucke  des  einen  Grab- 
portals vielfach  neue  Elemente  entgegen,  die  auf  ein  wesentlich  ab- 
weichendes Decorationssystem  hindeuten.  —  Die  Mauern  von  Tiryns 
mögen  im  Alter  denen  von  Mykenae  sogar  vorangehen;  jünger  erscheint 
aber  nach  manchen  Anzeichen  der  Palast.  Seine  Decoration  begegnet 
sich  nach  der  einen  Seite  mit  der  der  Grabkammerdecke  von  Orcho- 
menos,  nach  der  andern  weist  sie  auf  die  jüngere  mykenische  Zeit  hin. 
Diesen  jüngeren  Anlagen  von  Mykenae  wie  von  Tiryns  aber  ent- 
stammen sodann  zwei  Zweiggattungen  der  Vasenmalerei,  welche 
bereits  mehr  oder  weniger  auf  einen  Einfluss  des  geometrischen  oder 
Dipylonstyles  hindeuten. 

So  tritt  uns  also  eine  gewisse  Abfolge  der  verschiedenen  Lager- 
ungen entgegen,  ohne  dass  sich  jedoch  für  eine  derselben  bisher  eine 
feste  Zeitbestimmung  ergeben  hätte.  Um  auch  nur  annähernd  zu 
einer  solchen  zu  gelangen,  gehen  wir  davon  aus,  dass  die  älteste 
Culturgeschichte  nicht  auf  Mykenae  und  seine  Umgebung  beschränkt 
war,  sondern  sich  auf  weitere  Gebiete,  namentlich  über  die  Inseln  bis 
nahe  an  die  kleinasiatische  Küste  erstreckte.  Fremde  Einflüsse  lassen 
sich  nirgends  verkennen,  die  in  den  Industrieartikeln  mehr  auf  Aegypten, 
in  den  baulichen  Anlagen  mehr  auf  Kleinasien  hinzuweisen  scheinen; 
aber  eine  Umbildung,  eine  Verarbeitung  der  fremden  Elemente  beginnt 
bereits  Platz  zu  greifen.  So  werden  wir  auf  die  sagenhafte  Urge- 
schichte Griechenlands  hingewiesen,  die  allerdings  Mancherlei,  aber 
freilich  auch  mancherlei  untereinander  Widersprechendes  zu  berichten 
weiss.  Da  hören  wir  von  den  Wanderungen  eines  Danaos  aus 
Aegypten,  eines  Kadmos  aus  Phönikien,  eines  Pelops  aus  Lydien,  von 
den  Beziehungen  eines  Proetos  zu  Lykien.  Wohl  möchten  wir  da  als 
Thatsache  behaupten,  was  wir  gern  glauben,  dass  die  erste  Anlage 
der  Burg  von  Mykenae  von  den  Persiden,  die  Erweiterung  und  Ver- 


Historischer  Rückblick. 


6i 


schönerung  von  den  Atriden  herrühre  (Adler  bei  Schliemann,  Tiryns 
S.  XLVI),  wenn  nur  in  den  Sagen  dieser  Geschlechter  irgend  ein 
Element  hervorträte,  welches  diese  Namen  zu  einer  bestimmten  Stufe 
der  Cultur  in  nähere  Beziehung  setzte.  Wenn  ferner  die  Untersuchung 
in  dem  Maasse,  als  sie  sich  in  Einzelnes  zu  vertiefen  strebt,  in  Gefahr 
geräth,  immer  mehr  jeden  sichern  Boden  zu  verlieren,  so  werden  wir 
uns  überhaupt  begnügen  müssen,  uns  ein  Bild  der  Verhältnisse  nur 
in  sehr  allgemeinen  Zügen  zu  entwerfen.  Knüpfen  wir  jetzt  an  die 
Beobachtung  an,  dass  in  den  ältesten  decorativen  Arbeiten  die  Ge- 
schöpfe des  Meeres  in  so  auffälliger  Weise  überwiegen,  so  dürfen  wir 
uns  dadurch  an  den  Sagenkreis  des  Minos  erinnern  lassen,  der  in  sich 
vereinigt,  worauf  es  hier  ankommt.  Mit  dem  Namen  des  Minos  ver- 
knüpft sich  nicht  nur  die  Vorstellung  einer  alten  Meeresherrschaft, 
sondern  diese  Herrschaft  erscheint  auch  als  die  erste  grösste  politische 
Schöpfung  im  Gebiete  des  Griechenthums ;  Minos  selbst  ist  Gesetz- 
geber und  dadurch  Vertreter  einer  bestimmten  Stufe  der  Cultur. 
Die  Grenzen  seiner  Herrschaft  und  seines  Einflusses  entsprechen  im 
Ganzen  dem  Gebiete,  das  uns  in  verschiedenen  Zweigen  der  Kunst- 
übung als  ein  einheitliches  entgegentrat.  Dieses  Gebiet  aber  lag  den 
Eirjflüssen  älterer  Civilisationen  offen  gegenüber,  deren  Grundlagen 
auf  Aegypten  und  Mesopotamien  beruhten,  während  ihre  Verbreitung 
zunächst  den  Weg  über  Kleinasien  einschlug.  Dort  hören  wir  in 
griechischen  Sagen  von  Phrygiern,  Lydiern,  Lykiern  erzählen,  nament- 
lich auch  von  dem  Treiben  der  Karer  zur  See.  Hier  finden  bereits 
auch  die  Phönikier  eine  Stelle,  nicht  sowohl  als  Träger  einer  eigenen 
Cultur,  sondern  als  Vermittler:  sie  sind  ein  Kaufmanns volk ,  bemüht 
den  Waarenverkehr  zwischen  verschiedenen  Völkern  und  gerade 
solchen  einer  höheren  und  einer  niederen  Cultur  zu  vermitteln.  Welcher 
Antheil  in  diesen  wechselvollen  Bewegungen  den  einzelnen  Stämmen 
zuzuerkennen  sei,  wird  sich  bei  der  Natur  unserer  Quellen  schwerlich 
jemals  mit  einiger  Sicherheit  ermessen  lassen.  Was  aber  die  Sage 
von  Minos  berichtet,  das  erscheint  jetzt  gegenüber  dem  Vordringen 
von  verschiedenen  Punkten  des  Ostens  her  als  eine  Gegenströmung, 
welche  ihre  natürliche  Erklärung  in  dem  Streben  findet,  dem  Westen 
sein  eigenes  Recht,  seine  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit  zu 
wahren,  zunächst  auf  dem  Felde  der  Politik,  aber  nicht  weniger  auf 
allen  übrigen  Gebieten  des  socialen  Lebens.  Man  musste  danach 
trachten,  durch  eigene  Arbeit  zu  erzeugen,  was  man  bisher  von  aussen 
empfangen  hatte,   musste  mit  dem  Auslande   in  Concurrenz  treten. 


62 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Anfangs  überwog  die  Nachahmung  des  Fremden,  so  dass  es  nicht 
überraschen  kann,  wenn  es  uns  oft  schwer  wird,  bei  der  Betrachtung 
der  einzelnen  Fundstücke  fremde  und  einheimische  Arbeit  zu  unter- 
scheiden. Doch  bald  dringen  neue  Elemente  ein,  durch  welche  sich 
eine  Umwandlung  zu  vollziehen  beginnt,  welche  wir  nicht  umhin 
können,  als  eine  bereits  griechische  im  allgemeinen  Sinne  zu  bezeichnen. 
Freilich  bewegt  sich  dieselbe  noch  innerhalb  gewisser  Vorstufen  und 
Vorübungen.  Die  verschiedenen  Gattungen  der  Kunstübung,  wie 
Vasenmalerei,  Goldschmuck,  Glyptik  stehen  ohne  nähere  Berührung 
neben  einander,  und  in  jeder  derselben  werden  einzelne  Gesichtspunkte 
einseitig  und  nur  bis  zu  einem  beschränkten  Ziele  verfolgt:  über 
dieses  hinaus  lässt  sich  eine  Entwicklung,  wie  sie  nur  durch  gegen- 
seitige Durchdringung  verschiedener  Stylprincipien  auf  eine  höhere 
Stufe  erhoben  werden  könnte,  in  keiner  Weise  erkennen;  wir  be- 
gegnen vielmehr  auf  den  verschiedenen  Gebieten  geradezu  einem 
Stillstand. 

Ist  es  wohl  Zufall,  dass  die  gleichen  Erscheinungen  auf  dem 
politisch-historischen  Gebiete  wiederkehren  ?  Nach  Minos  verschwindet 
auch  seine  Schöpfung,  und  Kreta  tritt  z.  B.  im  troischen  Kriege  aus 
seiner  hervorragenden  Stellung  in  die  Reihe  anderer  Staatswesen 
zurück.  Grössere  Katastrophen  müssen  sodann  eingetreten  sein,  durch 
welche  die  führende  Rolle  an  andere  Stämme  überging,  die,  anfangs 
vielleicht  auf  einer  niedrigen  Stufe  stehend,  doch  das  ganze  Leben  mit 
neuen  Elementen  befruchteten  und  dadurch  eigentlich  erst  den  Grund 
zu  der  im  engen  Sinne  hellenisch-nationalen  Geistesentwicklung  legten. 

Entschieden  macht  sich  dieser  Umschwung  in  der  Kunst  geltend. 
Hier  tritt  in  den  Vasen  des  geometrischen  Styls,  namentlich  in  den 
vorgeschritteneren  Exemplaren  der  Dipylonvasen,  ein  neues  Princip 
hervor :  im  Raum,  in  der  Form,  im  Ornament  wie  in  der  organischen 
Thier-  und  Menschengestalt.  Von  dieser  Grundlage  aus  gliedert  sich 
der  Raum,  die  einzelne  Gestalt,  die  Verbindung  der  Gestalten  zu  einer 
Composition  nicht  nur  im  Raum,  sondern  auch  in  der  Unterordnung 
unter  einen  geistigen  Gedanken.  Dieses  Princip  aber  —  und  das  muss 
schon  hier  nachdrücklich  betont  werden  —  verschwindet  nicht  mehr, 
sondern  bewahrt,  wenn  auch  zeitweilig  zurückgedrängt,  seine  Kraft 
und  lässt  sich,  im  Wesen  sich  gleich  bleibend,  nur  in  immer  mehr 
verfeinerter  und  gereinigter  Anwendung  bis  zur  höchsten  Höhe  der 
Kunst  verfolgen:  es  ist  recht  eigentlich  das  Princip  der  helleni- 
schen Kunst. 


Historischer  Rückblick. 


63 


Woher  stammt  es?  Es  soll  hier  nicht  zu  viel  Werth  darauf 
gelegt  werden,  dass  das  lineare  Princip  schon  in  den  Ornamenten  und 
den  aus  blossen  Linien  gebildeten  primitiven  Thier-  und  Menschen- 
gestalten der  troischen  Spinnwirtel  auftritt.  Wenn  aber  die  älteste 
Geschichte  Troias  kaum  weniger  als  nach  Asien  uns  nach  Thrakien 
hinüberweist,  so  dürfen  wir  uns  wohl  an  dieses  Land  erinnern  lassen, 
welches  trotz  aller  Dunkelheit  der  Ueberlieferung  in  dem  Verschiebungs- 
process  alter  Völkerstämme  als  eine  Art  Mittelpunkt  der  Bewegung 
eine  ganz  eigenartige  Stellung  eingenommen  haben  muss.  Wir  sprechen 
hier  nicht  von  den  Beziehungen  zu  noch  nördlicheren  Ländern.  Wohl 
aber  darf  ein  historischer  Kern  den  Erzählungen  nicht  abgesprochen 
werden,  die  von  den  Völkerzügen  aus  dem  Norden  von  Griechenland 
nach  dem  Süden  in  den  Zeiten  bald  nach  dem  troischen  Kriege  handeln. 
Die  Wanderungen  der  Dorier,  bei  denen  wir  den  Nachdruck  nicht 
ausschliesslich  auf  den  Namen  der  Dorier  zu  legen  haben,  erscheinen 
als  ein  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der  Griechen,  nicht  blos  in 
ihren  politischen  Verhältnissen,  sondern  in  ihrem  ganzen  übrigen  Leben 
und  namentlich  auch  in  der  Kunst.  Mit  dem  Vordringen  dieser  Völker- 
züge in  den  Peloponnes  verschwindet  die  Kunstübung,  die  wir  bisher 
nur  örthch  und  zu  eng  als  die  »mykenische«  bezeichnet  haben,  die 
aber  wohl  allgemein  als  eine  der  altansässigen  pelasgisch-achäischen 
Bevölkerung  gemeinsame  betrachtet  werden  darf.  Als  höchste  Leistung 
derselben  lernten  wir  die  Goldbecher  von  Vafio  kennen,  und  innerhalb 
der  künstlerischen  Grundanschauungen,  aus  denen  sie  hervorwuchsen, 
möchte  es  schwer  gewesen  sein,  sie  zu  überbieten.  Was  aber  noch 
fehlte,  um  zu  höherer  Vollendung  fortzuschreiten,  das  würde  das  den 
geometrischen  Styl  beherrschende  Princip  zu  leisten  im  Stande  ge- 
wesen sein.  Um  so  mehr  ist  hier  zu  betonen,  dass  die  Goldbecher 
vom  Einflüsse  dieses  Princips  durchaus  unberührt  geblieben  sind. 
Wir  erkennen  deutlich,  dass  dasselbe  in  Mykenae  nicht  heimisch, 
vielmehr  durchaus  fremden  Ursprungs  war;  und  wenn  es  bei  dem  ein- 
tretenden politischen  Wechsel  nicht  sofort  zur  Herrschaft  gelangt,  so 
dürfen  wir  den  Grund  dafür  wohl  darin  suchen,  dass  es  noch  nöthig 
hatte,  nicht  nur  sich  in  sich  selbst  zu  festigen,  sondern  auch  sich  durch 
die  Berührung  mit  fremden  Anschauungen  über  die  eigene  Einseitig- 
keit zu  erheben.  Jedenfalls  lehrt  die  Folge,  dass  gerade  dieses  Princip 
es  ist,  durch  welches  auch  in  der  Kunst  der  Begriff  des  Hellenen- 
thums immer  entschiedener  in  den  Vordergrund  tritt. 


64 


Erstes  Capitel.    Vorhomerische  Kunst. 


Durch  die  dorischen  Wanderungen  ist  eine  ungefähre  Zeit- 
bestimmung auch  für  die  Wandlungen  auf  dem  Gebiete  der  Kunst 
gegeben.  Zu  einem  verwandten  Ergebniss  gelangen  wir,  wenn  wir 
uns  schliesslich  der  geistigen  Jdeenkreise  erinnern,  die  in  der  Kunst 
zur  Darstellung  gelangten.  Die  mykenische  Kunst  ging  kaum  über 
das  hinaus,  was  die  Wirklichkeit  dem  Auge  darbot.  In  den  Insel- 
steinen trat  uns  ein  dämonplogisches  Element  entgegen.  Auch  in  den 
Dipylonvasen  fehlt  noch  ein  mythologischer  Inhalt.  Die  homerische 
Poesie  hat  noch  nirgends  begonnen,  ihren  Einfluss  auszuüben.  Alles, 
w^as  wir  bisher  betrachtet,  gehört  also  noch  der  vorhomerischen  Zeit  an. 


Die 


Zweites  Capitel. 

Kunst  der  liomerisclien  Zeit. 


Es  bietet  gewiss  ein  hohes  kunstgeschichthches  Interesse,  die 
Zustände  des  menschlichen  Lebens,  wie  sie  in  den  homerischen  Dich- 
tungen geschildert  werden,  nach  ihren  verschiedenen  Richtungen  bis 
ins  Einzelne  zu  verfolgen;  und  eine  Behandlung  dieser  Aufgabe,  wie 
sie  in  dem  Werke  W.  Helbigs:  »Das  homerische  Epos  aus  den  Denk- 
mälern erläutert«  (2  Aufl.  1887)  vorliegt,  darf  daher  der  Anerkennung 
in  weitesten  Kreisen  sicher  sein.  Die  Aufgabe  der  Kunstgeschichte 
ist  eine  beschränktere:  sie  hat  die  homerischen  Schilderungen  nur  in 
so  weit  zu  verwerthen,  als  in  ihnen  ein  Fortschritt  in  der  Entwicklung 
künstlerischer  Ideen  in  die  Erscheinung  tritt  (vgl.  meine  Abhandlung: 
Die  Kunst  bei  Homer,  in  den  Abhandl.  d.  Münch.  Akad.  XI.  Bd.  1868). 

Es  ist  jetzt  allgemein  anerkannt,  dass  die  Dichtungen  Homers 
nicht  die  Zustände  der  Zeit  des  troischen  Krieges,  um  welchen  sich 
die  Handlung  bewegt,  sondern  die  seiner  eigenen  Zeit  und  Umgebung 
schildern.  Was  sie  aber  bieten,  bedarf  der  Ergänzung  und  Belebung 
durch  die  Anschauung  noch  erhaltener  Ueberreste  aus  alten  Zeiten. 
Daraus  ergiebt  sich  ein  Doppelverhältniss  eigenthümlicher  Art.  Die 
Zustände  des  homerischen  Lebens  wurzeln  zu  einem  grossen  Theile 
in  der  Vergangenheit ;  und  wenn  wir  uns  bei  der  Betrachtung  derselben 
schon  mehrfach  auf  Homer  berufen  mussten,  so  treten  jetzt  seine  Worte 
vielfach  durch  einen  Rückblick  auf  diese  Vergangenheit  in  eine  helle 
Beleuchtung.  Umgekehrt  bietet  uns  aber  das  homerische  Leben  auch 
das  Bild  einer  jüngeren  Zeit,  für  das  uns  eine  lebendige  Anschauung 
nur  Kunstproducte  zu  bieten  vermögen,  welche  nicht  schon  hier  einer 
eingehenden  Prüfung  unterworfen  werden  können.  Wir  werden  daher 
versuchen  müssen,  uns  ein  Bild  zunächst  nur  aus  den  Dichtungen 
selbst  zu  gestalten,  und  uns  vorbehalten,  dasselbe  erst  später  aus  den 
anderweitigen  uns  zu  Gebote  stehenden  Quellen  zu  ergänzen  und  zu 
vervollständigen. 

5 


66 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


Der  Mauern  homerischer  Städte  ist  schon  bei  den  Erörterungen 
über  die  kyklopische  Bauweise  gedacht  worden.  Da  diese  letztere 
sich  bis  in  die  historische  Zeit  verfolgen  lässt,  so  ist  es  wohl  zu  ge- 
wagt, aus  ihrer  geringen  Berücksichtigung  bei  Homer  zu  folgern, 
dass  sie  damals  überhaupt  ausser  Uebung  gekommen  sei.  Allerdings 
herrschte  sie  keineswegs  ausschliesslich,  da  ja  ihrer  Natur  nach  ihre 
Anwendung  überhaupt  durch  locale  Verhältnisse  bedingt  war.  Ilios 
selbst  gehörte  nicht  zu  den  kyklopisch  befestigten  Städten,  und  noch 
weniger  konnten  bei  dem  von  Wall  und  Graben  geschützten  Lager 
der  Griechen  solide  wSteinconstructionen  in  Betracht  kommen.  — 
Ungewiss  muss  es  bleiben,  ob  der  Brunnen  auf  Ithaka  (Od.  XVII,  205) 
als  ein  den  früher  (s.  o.  S.  14)  erwähnten  verwandter  Bau  zu  betrachten 
ist :  jedenfalls  bietet  er  mit  seinem  Hain  und  Nymphenaltar  ein  Vorbild 
für  manche  spätere  Anlagen.  —  Bei  der  Aufschüttung  runder  Grab- 
hügel wird  der  Steineinfassung  an  der  Basis,  die  gerade  an  höchst 
alterthümlichen  noch  erhaltenen  Grabmonumenten  vorkommt,  nicht 
ausdrücklich  gedacht.  Dagegen  erscheint  die  Grabsäule  (Stele)  auf 
den  Hügeln  schon  als  fast  typisch,  und  ihr  gesellt  sich  auf  dem  Grabe 
des  Elpenor  (Od.  XII,  14)  noch  das  Ruder  als  besonderes  Zeichen.  — 
Von  Tempeln  ist  verhältnissmässig  so  selten  die  Rede,  dass  dieselben 
noch  auf  wenige  Hauptcultusstätten ,  gewissermaassen  die  Stammsitze 
der  Götter,  beschränkt  gewesen  zu  sein  scheinen.  Von  baulichen 
Theilen  derselben  aber  wird  einzig  die  steinerne  Schwelle  des  delphi- 
schen Tempels  erwähnt. 

Mannigfaltiger  sind  die  Nachrichten  über  die  Behausungen  der 
Menschen,  besonders  die  Wohnsitze  der  Herrscher;  und  deutlich  lässt 
sich  aus  den  verschiedenen  Aeusserungen  zunächst  das  Gesammtbild 
einer  solchen  Anlage  erkennen.  Es  sondert  sich  ein  vorderer,  mit 
Zaun  oder  Mauer  umschlossener  Wirthschaftshof  von  einem  zweiten 
inneren  Hofe,  der,  mit  einer  Halle  umgeben,  an  das  Atrium  der  Römer 
erinnert.  An  diesen  schliessen  sich  die  Wohngemächer,  und  zwar  die 
der  Frauen  von  denen  der  Männer  bestimmt  geschieden.  Den  vor- 
nehmsten Raum  bildet  der  durch  eine  Art  Flur  zugängliche  grosse 
Männersaal,  dessen  weitgespannte  Decke  der  Stütze  bedurfte.  Auch 
Gemächer  eines  oberen  Stockwerkes  werden  genannt,  sowie  Keller- 
räume und  ein  wahrscheinlich  als  Vorrathshaus  dienender  kuppelartiger 
Bau  in  einem  der  Höfe.  Der  Versuch,  die  Wohnung  des  Odysseus 
noch  heute  an  Ort  und  Stelle  nachzuweisen,  muss  freilich  auf  Rechnung 
einer  zu  stark  angeregten  Phantasie  gesetzt  werden  (vgl.  Hercher  im 


Allgemeines. 


67 


Hermes  I,  263).  Dagegen  hat  die  Ueberzeugung,  dass  Homer  in  seinen 
Schilderungen  ein  der  Wahrheit  entsprechendes  Bild  eines  Herrscher- 
hauses seiner  Zeit  biete,  die  glänzendste  Bestätigung  durch  die  Frei- 
legung der  Burg  von  Tirynth  erfahren,  die  wir  dem  unermüdlichen 
Eifer  Schliemanns  verdanken  (Tirynth  S.  217;  Plan  Nr.  125):  die  ganze 
Plananlage  entspricht  in  allen  wesentlichen  Theilen  so  sehr  den  An- 
gaben Homers,  dass  wir  uns  mit  Hülfe  derselben  sofort  in  ihr  zurecht 
finden,  während  umgekehrt  in  den  Ruinen  uns  das  homerische  Bild 
in  voller  Anschaulichkeit  vor  Augen  tritt. 

Ueber  das  Constructive  des  Aufbaues  fehlt  bei  Homer  fast  jede 
Andeutung.  Wir  erfahren  nur,  dass  die  Decken  und  die  sie  stützenden 
Säulen  aus  hölzernem  Balkenwerk  bestanden,  dass  die  Thürschwellen 
und  Pfosten  aus  Stein,  aus  Holz,  aber  auch  aus  Metall  gebildet  waren. 
Reichlicher  sind  die  Andeutungen  über  die  innere  Decoration,  wenn 
auch  die  Schilderung  hier  ebenfalls  mehr  das  Material,  als  die  be- 
sondere Art  der  Verwendung  ins  Auge  fasst.  Wir  hören  von  einer 
wohlgeschnitzten  cypressenen  Pfoste  auf  eschener  Schwelle  (Od.  17,  339), 
von  einer  cedernen,  wohl  mit  Cedernholz  getäfelten  Kammer  (II.  24,  192), 
Im  Hause  des  Menelaos  aber  ruft  Telemach  (Od.  4,  72): 

Schaue  das  Eiz  ringsum,  wie  es  schallt  in  der  glänzenden  Wohnung, 

Auch  das  Gold  und  Elektron,  das  Elfenbein  und  das  Silber. 

Also  glänzet  wohl  Zeus  dem  Olympier  drinnen  der  Vorhof!  * 

Welch  ein  unendlicher  Schatz!    Mit  Staunen  erfüllt  mich  der  Anblick! 

Noch  glänzender  erscheint  die  Behausung  des  Alkinoos  (Od.  7,  85): 

Wänd'  aus  gediegenem  Erz  erstreckten  sich  hierhin  und  dorthin. 
Tief  hinein  von  der  Schwelle,  gesimst  mit  der  Bläue  des  Stahles. 
Eine  goldene  Pforte  verschloss  inwendig  die  Wohnung; 
Silbern  waren  die  Pfosten,  gepflanzt  auf  eherner  Schwelle, 

Silbern  war  auch  oben  der  Kranz,  und  golden  der  Thürring  

Sessel  entlang  an  der  Wand  auch  reihten  sich  hierhin  und  dorthin. 
Tief  hinein  von  der  Schwelle  des  Saals ;  und  Teppiche  ringsum. 
Fein  und  künstlich  gewirkt,  bedeckten  sie,  Werke  der  Weiber. 

Hieran  schliessen  sich  die  flüchtigen  Erwähnungen  von  den 
ehernen  Mauern  des  Aeolos  (Od.  10,  3),  vom  ehernen  Hause  des 
Hephaestos,  dem  goldglänzenden  des  Poseidon,  von  dem  ehernen  und 
goldenen  Fussboden  des  Zeus  (II.  i,  426;  4,  2;  13,  21;  18,  369).  Wenn 
sodann  (II.  5,  387)  von  Ares  erzählt  wird,  dass  er  von  den  Aloiden 
in  einem  ehernen  Fasse  gefangen  gehalten  wird,  so  erinnern  wir  uns 
sofort  an  die  Sage  von  Eurystheus,  der  sich  vor  Herakles  in  ein 

5* 


68 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


ehernes  Fass  flüchtet,  oder  an  Danae,  welche  Akrisios  in  ein  ehernes 
Gemach  einsperrt.  Wir  gedenken  auch  des  „ehernen  Tempels",  des 
dritten  in  der  mythischen  Reihe  der  Tempel  zu  Delphi,  und  endlich 
des  ehernen  Hauses  der  Athene  Chalkioikos  zu  Sparta,  welches 
Pausanias  noch  sah  (X,  5,  11).  Auch  bei  Hesiod  finden  wir,  von  den 
ehernen  Häusern  des  ehernen  Zeitalters  abgesehen  (Op.  150),  silberne 
Säulen  im  Hause  der  Styx  (Theog.  771). 

In  allen  diesen  Schilderungen  war  man  früher  nicht  viel  mehr 
als  poetische  Ausschmückung  oder  geradezu  Erdichtung  zu  sehen 
geneigt.  Aber  wenn  auch  die  häufige  Verwendung  von  Gold  und 
Silber  anstatt  weniger  edler  Metalle  zum  Theil  auf  Rechnung  der 
dichterischen  Phantasie  gesetzt  werden  mag,  so  weist  doch  der  ein- 
heitliche Grundcharakter  aller  dieser  Schilderungen  auf  Thatsächliches 
hin.  Solche  positive  Thatsachen  aber  haben  Avir  bereits  früher  in  den 
Resten  der  Thesauren  kennen  gelernt.  Die  Behausungen  der  Todten 
waren  eherne  Gemächer,  so  gut  wie  die  Wohnungen  der  Lebendigen; 
sie  konnten  in  mythologischer  Sprache  zu  ehernen  Tonnen  werden. 
Wie  wir  aber  in  dem  Schmucke  des  Portals  und  der  Säulen  am 
Schatzhause  des  Atreus  und  der  Steindecke  von  Orchomenos  (s.  o. 
S.  24)  ein  „in  Stein  metamorphosirtes  Sphyrelaton"  erkannten,  so 
müssen  wir  die  silbernen  Pfosten  und  Säulen  der  Königshäuser  für 
wirkliche  Sphyrelata  halten,  und  dürfen  uns  getriebenes  Gold,  Silber, 
Elektron,  Stahl  und  Erz  in  reichem  Wechsel  zum  Schmucke  der 
Thüren,  der  Gesimse  verwendet  vorstellen.  Eine  wesentliche  Er- 
Aveiterung  unserer  Anschauung  auch  nach  dieser  Seite  gewähren  wiederum 
die  Ueberreste  auf  der  Burg  von  Tirynth.  Besondere  Beachtung  ver- 
dient hier  der  Alabasterfries  mit  eingelegten  Glaspasten  (s.  o.  S.  23), 
indem  er  uns  ein  lehrreiches  Beispiel  für  die  Ausführung  der  kostbaren 
Metalldecorationen  in  minderwerthigem  Stoffe  bietet,  während  man 
die  ornamentalen  Wandmalereien  als  eine  weitere  Metamorphose,  als 
eine  weitere  Ueberführung  der  plastischen  Formen  in  eine  malerische 
Behandlung  bezeichnen  könnte. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  recht  lebendig  diesen  Glanz  der  Heroen- 
zeit, so  wird  sich  hier  ein  schon  mehr  als  einmal  hervorgehobener 
Eindruck  wiederholen,  nemlich  dass  diese  ganze  materielle  Pracht  dem 
eigentlich  hellenischen  Wesen,  wie  es  sich  später  entwickelt  hat,  durch- 
aus fremd  ist.  Dadurch  aber  lenkt  sich  unser  Blick  wiederum  nach  Asien 
als  der  Heimat  dieser  ganzen  Art  der  Decoration.  Dort  finden  wir 
gewissermaassen  auf  dem  Wege  nach  dem  Innern,  nemlich  in  Jerusalem, 


Allgemeines. 


69 


den  Tempel  Salomons  von  Stein  errichtet,  überdeckt  mit  goldüber- 
zog-enem  sculpirtem  Cedernholz  und  mit  kostbaren  Steinen  incrustirt. 
Thürpfosten,  Thüren,  Fussboden,  Decke,  Alles  prangte  im  reichsten 
Goldschmuck,  so  dass,  wie  Josephus  sagt,  kein  Theil  des  Tempels 
weder  innerlich  noch  äusserlich  übrig  blieb,  der  nicht  golden  war. 
Aber  auch  Jerusalem  hatte  seine  Vorbilder  in  Mesopotamien,  wo  dieser 
Styl  nicht  nur  principiell  seit  alten  Zeiten  herrschte,  sondern  auch 
länger  als  anderswo  in  Uebung  blieb.  Zeugniss  dafür  liefert  der  um 
700  V.  Chr.  erbaute  Palast  von  Ekbatana,  von  dem  unter  Anderem 
Polybius  X,  27  berichtet:  „obgleich  alles  Holzwerk  aus  Gedern-  und 
Cypressenholz  besteht^  so  wurde  doch  nichts  nackt  gelassen,  sondern 
die  Balken,  die  getäfelten  Decken,  die  Säulen  der  Hallen  und  Um- 
gänge waren  mit  goldenen  und  silbernen  Platten  bekleidet,  und  alle 
Ziegel  waren  silbern".  (Vgl.  Semper,  Stil  I,  .395  u.  402;  ausführlicher 
Heibig  107  u.  433).  Die  Schilderungen  Homers  aber  fallen  der  Zeit 
nach  etwa  in  die  Mitte  zwischen  die  Bauten  von  Jerusalem  und 
Ekbatana. 

Die  gleichen  Beziehungen  zu  Asien  offenbaren  sich  nicht  minder 
auf  anderen  Gebieten:  so  bei  den  Teppichen,  mit  denen  Sessel  und 
Betten  bedeckt  werden,  so  überhaupt  in  den  gewebten  Kleiderstoffen. 
Silberglänzend  mit  goldenem  Gürtel  sind  die  Gewänder  der  Kalypso 
und  Kirke  (Od.  V,  230;  X,  543).  Purpur,  bunte  Farben,  die  oft  er- 
wähnt werden,  Blumenmuster,  welche  Andromache  webt  (II.  XXII, 
441),  die  mancherlei  Wunderbilder  in  dem  von  Athene  gewebten 
Gewände  (XIV,  179)  beweisen  allerdings  nicht  nothwendig  und  direct 
einen  asiatischen  Einfluss,  um  so  mehr  aber  die  sidonischen  Gewänder, 
welche  Paris  nach  Troia  gebracht  hatte  (VI,  690).  Doch  zeigt  sich 
auch  bereits  eine  Begrenzung  des  fremden  Einflusses:  Helena  webt 
in  ein  Gewand  Thaten  der  Troer  und  Achäer  (III,  126),  also  eine 
wenigstens  dem  Gegenstande  nach  selbständige  Darstellung. 

Auf  dem  Gebiete  der  plastischen  Künste  werden  zunächst  die  ein- 
zelnen Thatsachen  zu  prüfen  und  dadurch  der  Umfang  festzustellen  sein, 
in  welchem  dieselben  geübt  wurden.  Ich  sage:  die  plastischen  Künste; 
denn  die  Plastik  im  gewöhnlichen  Sinne  der  eigentlichen  statuarischen 
Kunst  existirte  noch  nicht.  Zwar  erwähnt  Homer  einmal  (II.  VI,  92 
u.  303)  ein  Götterbild,  das  der  Athene  auf  der  Burg  von  Ilion;  aber 
er  nennt  es  nicht  einmal  Bild,  sondern  der  Göttin  selbst  soll  ein  kost- 
bares Gewand  auf  den  Schooss  gelegt  werden  wie  zu  wirklichem 
Gebrauche.    Die  naive  Frömmigkeit  der  alten  Zeit  fühlt  das  Bedürfniss, 


70 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


ihr  Götterbild  menschengleich  zu  schmücken  und  zu  putzen;  aber 
künstlerische  Anforderungen  lagen  ihr  dabei  noch  gänzlich  fern.  Unter 
einem  veränderten  Gesichtspunkte  sind  verschiedene  andere  Rundwerke 
zu  betrachten.  Die  goldenen  und  silbernen  Hunde  als  Thürhüter  im 
Palaste  des  Alkinoos  (Od.  VII,  gi)  erinnern  an  die  Löwen  des  Thores 
von  Mykenae  und  noch  mehr  an  die  Löwen  vor  den  Thüren  und  in 
der  Umgebung  alter  griechischer  und  etruscischer  Gräber.  Sie  sind 
nicht  integrirende  Theile  der  Architektur,  aber  sie  stehen  zu  ihr  in 
nächster  Beziehung  und  tragen  daher  einen  decorativen  Charakter. 
Dasselbe  gilt  von  den  Jünglingen,  die  als  Fackelhalter  auf  gesonderten 
Basen  standen,  und  nach  Analogie  dieser  Werke  wird  endlich  über 
die  goldenen  Mägde  des  Hephaestos  (II.  XVIII,  418)  zu  urtheilen 
sein,  bei  denen  natürlich  Leben  und  Bewegung  auf  Rechnung  des 
Dichters  zu  setzen  sind.  Immerhin  darf  hier  an  die  Männer  als 
Teppichhalter  in  assyrischen  Reliefs  erinnert  werden,  die  bis  heute  an 
lebendigen  Teppichträgern  indischer  Fürsten  ihre  Parallele  finden  (vgl. 
Kemper  I,  255).  Ueberhaupt  aber  darf  zugegeben  werden,  dass  der 
Dichter  in  der  Schilderung  derartiger  Rundbilder  über  seine  nähere 
griechische  Umgebung  hinausgegriffen  und  eine  glänzendere  Färbung 
aus  seiner  Kenntniss  der  vorgeschrittenen  und  üppigeren  Culturzustände 
des  Orients  entlehnt  habe. 

Von  diesen  gewissermassen  architektonischen  Sculpturen  ab- 
gesehen, bleibt  als  das  eigenthümliche  Gebiet,  auf  welchem  sich  die 
damalige  Kunstübung  bewegte,  die  Ausschmückung  des  für  den  Bedarf 
des  Lebens  bestimmten  Geräthes,  der  Waffen  und  der  Kleidung.  Sie 
übt  sich  daher  an  allem  dem  Material,  welches  für  diese  Zwecke  in 
Betracht  kommt,  am  Holz,  welches  theils  für  sich,  theils  in  Verbindung 
mit  andern  Stoffen,  wie  Metall  und  Elfenbein,  gearbeitet  wird,  an  ver- 
schiedenen Metallen:  Gold,  Silber,  Elektron,  Erz,  Stahl,  Zinn,  Blei. 
Sie  verarbeitet  den  Thon  zu  Geschirren  und  bedient  sich  dabei  der 
Töpferscheibe.  Nur  Stein  und  Marmor,  der  in  Architektur  und  Sculptur 
später  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  w^rd  noch  nicht  berücksichtigt. 
Allerdings  bezeichnete  man  im  späteren  Alterthum  (Paus.  IX,  40,  3) 
ein  Marmorrelief  in  Knosos  als  den  dädalischen  »Chor  der  Ariadne<s 
dessen  Homer  in  der  Beschreibung  des  Schildes  des  Achill  gedenke. 
Doch  haben  schon  die  sprachlichen  Schwierigkeiten,  welche  die  beiden 
Verse  des  Ilias  (XVIII,  591  —  2)  dem  Verständniss  darbieten,  genügen- 
den Anlass  geboten,  um  dieselben  für  eine  ungeschickte  Interpolation 
zu  erklären  (vgl.  Heibig  447).  —  Holz  und  Elfenbein  werden  geschnitzt. 


Allgemeines. 


71 


gedrechselt,  mit  Meissel  und  Bohrer  bearbeitet,  geleimt,  eingelegt,  ge- 
färbt, mit  Nägeln  und  Buckeln  beschlagen.  Das  Metall  verstand  man 
natürlich  zu  schmelzen,  aber  noch  nicht  in  künstlerische  F'orm  zu 
giessen;  es  wurde  gehämmert,  im  Feuer  gehärtet,  getrieben,  genietet, 
in  getriebenen  dünnen  Platten  und  Streifen,  auch  fast  fadenartig  ver- 
wendet und  geflochten.  Selbst  eigentliches  Vergolden,  nicht  blos 
Belegen  mit  Gold  scheint  man  verstanden  und  durch  Wechsel  und 
Mischung  der  Metalle,  sowie  durch  eine  Art  Emaillirung  verschiedene 
Farbentöne  erreicht  zu  haben.  Die  Zweifel,  die  man  früher  gegen  eine 
so  vorgeschrittene  Technik  hegen  mochte,  sind  jetzt  durch  die  Funde 
der  mykenischen  Gräber  beseitigt.  Es  genügt  daher,  zunächst  auf  die 
früheren.  Bemerkungen  über  dieselben  (s.  o.  S.  33  ff.)  zu  verweisen, 
während  Einzelnes  erst  später  durch  die  Erörterungen  über  jüngere 
Kunstproducte  seine  Erläuterung  finden  wird. 

Der  künstlerische  Schmuck  bestand  in  Pflanzenornamenten,  Thieren 
und  menschlichen  Figuren  (Overbeck  SQ  202  ff.).  Mit  Blumen  ge- 
ziert waren  besonders  die  Mischkrüge.  Goldene  Tauben  schmückten 
den  Becher  des  Nestor  an  den  Henkeln  und  am  Fusse.  Am  Wehr- 
gehenk  des  Herakles  (Od.  XI,  611)  prangten 

Bären  und  Eber  in  Wuth  und  wildanfunkelnde  Löwen, 
Kriegsschlacht  und  Gefecht  und  Mord  und  Männervertilgung. 

Ebenso  werden  von  Hesiod  (Theog.  578)  Thiere  des  Landes  und 
Meeres  als  Schmuck  der  Krone  der  Pandora  angeführt.  An  das  Ge- 
wand des  Odysseus  (Od.  XIX,  226)  war  die  goldene  Spange  geheftet: 

Schliessend  mit  doppelten  Röhren ;  und  vorn  war  prangendes  Stückwerk. 
Zwischen  den  Vorderklauen  des  wild  anstarrenden  Hundes 
Zappelt  ein  fleckiges  Rehchen,  und  jeder  schaute  bewundernd, 
Wie,  aus  Golde  gebildet,  der  Hund  anstarrend  das  Rehkalb 
Würgete,  aber  das  Reh  zu  entfliehn  mit  den  Füssen  sich  abrang. 

Am  Panzer  des  Agamemnon  (II.  XI,  24): 

Ringsum  wechselten  zehn  blauschimmernde  Streifen  des  Stahles, 
Zwölf  aus  funkelndem  Gold,  und  zwanzig  andre  des  Zinnes  ; 
Auch  drei  bläuliche  Drachen  erhoben  sich  gegen  den  Hals  ihm. 
Beiderseits  voll  Glanz,  wie  Regenbogen  .  .  . 

Um  den  kunstreichen  Schild 

.  .  .  ihm  liefen  umher  zehn  eherne  Kreise, 
Auch  umblickten  ihn  zwanzig  von  Zinn  anschwellende  Nabel, 
Weiss,  und  der  mittlere  war  von  dunkeler  Bläue  des  Stahles. 
Auch  die  Schreckengestalt  der  Gorgo  drohete  schlängelnd 


72 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


Mit  wuthfunkelndem  Blick,  und  umher  war  Graun  und  Entsetzen. 
Silbern  war  des  Schildes  Gehenk ;  und  grässlich  auf  diesem 
Wand  ein  bläulicher  Drache  den  Leib;  drei  Häupter  des  Scheusals 
Waren  umhergekrümmt,  aus  seinem  Halse  sich  windend. 

Das  kunstreichste  Gebilde  endlich,  der  Schild  des  Achilles,  ist 
mit  dem  verwandten  des  Herakles  bei  Hesiod  einer  gesonderten  Be- 
trachtung vorzubehalten. 

So  tritt  uns  hier  ein  lebendiger,  eng  mit  dem  Leben  verwachsener 
Kunstbetrieb  entgegen,  und  zu  dem  Reichthum  und  der  Kostbarkeit 
des  Materials  tritt  die  Schätzung  der  Kunstfertigkeit  und  Vollendung 
der  Arbeit  hinzu,  so  dass  das  Schönste  geradezu  als  Werk  der  Götter, 
des  Hephaestos  und  der  Athene,  gepriesen  wird.  Doch  werden  auch 
einzelne  kunstreiche  Männer,  wie  Tychios,  Ikmalios,  Laerkes,  Harmonides 
der  Erwähnung  gewürdigt,  während  es  durchaus  den  patriarchalischen 
Zuständen  dieser  früheren  Zeit  entspricht,  dass,  wie  edle  Frauen  kunst- 
reiche Gewebe  verfertigen,  so  auch  Odysseus  sein  Schlafgemach  baut 
und  sein  kunstreiches  Bett  mit  eigener  Hand  zimmert.  Neben  diesen 
auf  einheimischen  Kunstbetrieb  hinweisenden  Angaben  steht  nun  aber 
eine  Reihe  von  andern  Erwähnungen,  die  wieder  einen  lebendigen 
Wechsel  verkehr  mit  andern  Völkern  voraussetzen.  Der  Panzer  des 
Agamemnon  ist  ein  Geschenk  des  Königs  Kinyras  von  Kypros.  Ein 
Krater  des  Menelaos  ist  zwar  ein  Werk  des  Hephaestos,  aber  ein 
Geschenk  des  Phaedimos,  Königs  von  Sidon;  einen  andern  im  Besitze 
des  Menelaos  hatten  kunstfertige  Sidonier  gearbeitet  und  Phönicier 
über  das  Meer  gebracht.  Sidonische  Gewänder  brachte  Paris  nach 
Ilion.  Aus  dem  ägyptischen  Theben  erhalten  Menelaos  und  Helena 
silberne  Wannen,  Dreifüsse,  Spindel  und  Spinnkorb.  Für  die  that- 
sächliche  Grundlage  aller  dieser  Angaben  bieten  diese  selbst  eine  innere 
Gewähr;  denn  die  Blumenornamente,  die  wilden  und  phantastischen 
Thiergestalten  und  Kämpfe  weisen  auf  den  Orient  hin,  und  dass  vor 
allem  Kypros  und  Phoenicien,  nicht  das  innere  Asien  genannt  wird, 
darf  uns  um  so  weniger  irre  machen,  als  wir  die  Bedeutung  dieser 
Localitäten  als  Mittelstationen  bald  noch  besonders  zu  betonen  haben 
werden.  Es  kann  demnach  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  in 
homerischer  Zeit  eine  Menge  von  kostbaren  Gewändern  und  Geräthen 
wirkHch  von  dort  durch  den  Handel  zu  den  Griechen  gebracht  wurde, 
aber  eben  so  wenig,  dass  zu  gleicher  Zeit  AehnHches  von  den  Griechen 
producirt  wurde.  Homer  erwähnt  das  Eine  und  das  Andere  mit  der 
grössten  Unbefangenheit,  ohne  hinsichtlich  des  künstlerischen  oder 


Allgemeines.  - —  Homerischer  Schild. 


73 


stylistischen  Charakters  einen  Unterschied  zu  machen,  etwa  davon  ab- 
gesehen, dass  das  Ausländische  noch  höher  als  das  Einheimische  im 
Werthe  zu  stehen  scheint.  Trotzdem  aber  würde  es  ein  grosser  Irr- 
thum sein,  wenn  wir  daraus  eine  vollkommene  Gleichheit  der  Kunst- 
übung folgern  und  die  griechische  Kunst  geradezu  für  eine  Tochter 
der  asiatischen  erklären  wollten.  Auch  diese  Verhältnisse  werden  uns 
durch  die  mykenischen  Funde  veranschaulicht.  Wir  begegneten  dort 
einer  ähnlichen  Mischung  sehr  verschiedenartiger  Elemente;  keines 
zeigte  sich  in  ursprünglicher  Reinheit,  sondern  in  einer  Umbildung, 
aber  keineswegs  überall  auf  einer  und  derselben  Stufe  begriffen.  Um 
so  mehr  drängt  sich  jetzt  die  Frage  in  den  Vordergrund,  welche 
Stellung,  welchen  Antheil  wir  in  dieser  Vermischung  dem  Griechischen 
anzuweisen  haben.  Um  hier  für  die  weiteren  Untersuchungen  eine 
bestimmte  Richtung  zu  gewinnen,  ist  vielleicht  nichts  lehrreicher,  als 
eine  kurze  Hinweisung  auf  ein  anderes  Gebiet  des  Geisteslebens,  auf 
dem  verwandte  Verhältnisse  schon  längst  eine  klare  Scheidung  gestattet 
haben.  Die  Griechen  erhielten  von  den  Phöniciern  das  Alphabet; 
aber  selbst  diese  einfachen  conventioneilen  Zeichen  bildeten  sie  um ; 
theils  modificirten  sie  die  lautliche  Bedeutungj  theils  stylisirten  sie  die 
Form  nach  ihrer  eigenen  Weise.  Von  einem  dadurch  bedingten  Ein- 
flüsse der  semitischen  Sprache  auf  die  griechische  wird  aber  selbst 
der  eifrigste  Vertreter  des  Semitismus  nicht  zu  sprechen  wagen. 
Gerade  ebenso  entlehnten  die  Griechen  von  den  Asiaten  die  Schrift 
der  Kunst;  aber  auch  in  der  Kunst  redeten  sie  von  Anfang  an  ihre 
eigene  Sprache. 

Der  homerische  Schild.  Die  Richtigkeit  dieser  Vergleichung 
wird  sich  später  durch  die  Prüfung  noch  erhaltener  Kunstproducte  in 
das  hellste  und  augenfälligste  Licht  setzen  lassen.  Aber  auch  Homer 
selbst  liefert  uns  dafür  ein  unschätzbares  Document  in  der  Beschreibung 
des  achilleischen  Schildes.  Denn  dieser  Schild  ist  nach  der  Idee 
und  Gliederung  seines  bildnerischen  Schmuckes  griechisch;  in  der 
Darstellung  und  Behandlung  der  einzelnen  Scenen  dagegen  ist  er  noch 
von  asiatischen  Vorbildern  abhängig. 

Freilich  hat  man  wegen  des  Reichthums  und  der  Fülle  der  ge- 
schilderten Scenen  und  Figuren  die  Möglichkeit  der  Existenz  eines 
solchen  Schildes  leugnen  wollen.  (Es  mag  genügen,  hier  auf  die  letzte 
ausführliche  Behandlung  bei  Heibig  395  ff.  zu  verweisen.)  Allein  wie 
sollte  ein  Dichter  in  so  alter  Zeit  im  Stande  gewesen  sein,  etwas  zu 


74 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


schildern,  wofür  ihm  noch  gar  keine  Analogien  vorgelegen  hätten? 
Prüfen  wir  nur  diese  Schilderungen,  so  werden  wir  zwar  finden,  dass 
Homer  als  Dichter  weniger  beschreibt  als  schildert,  dass  er  den  zeit- 
lichen Moment  der  Darstellung  in  eine  Erzählung,  in  eine  Auf- 
einanderfolge von  Handlungen  auflöst,  dass  er  dem  Hörer  nicht  ein 
plastisches,  sondern  ein  poetisches  Bild  geben  will.  Versuchen  wir 
aber,  seine  Schilderungen  auf  einen  bestimmten  Raum  zu  übertragen, 


ein  rundes  Feld  zu  denken,  um  welches  sich,  den  verschiedenen  Lagen 
entsprechend,  vier  concentrische  Ringe  oder  Streifen  legten.  Für  die 
Entfaltung  künstlerischen  Schmuckes  ist  damit  sofort  ein  weites,  reich 
gegliedertes  Feld  gegeben.  Die  Mitte  enthielt  ein  allgemeines  Bild 
der  Erde,  des  Meeres  und  des  Himmels  mit  Helios ,  Selene  und  den 
Sternen.  Zwei  Städte,  die  eine  im  Frieden,  die  andere  im  Kriege, 
nehmen  den  zunächst  folgenden  Kreis  ein.  Aber  auch  innerhalb 
dieser  Theilung  in  zwei  Hälften  sondern  sich  noch  deutlich  einzelne 
(je  drei)  Scenen  :  in  der  friedlichen  Stadt  Festschmaus ,  Hochzeits- 
reigen und  Rechtsstreit  auf  dem  Markte;  auf  der  kriegerischen  Seite 
die  Mauern  mit  Frauen,  Kindern  und  Greisen,  dazu  dem  Auszuge  unter 
Führung  von  Ares  und  Athene,  sodann  die  Mordung  der  Heerden 
und  endlich  der  Kampf  der  beiden  feindlichen  Heere  unter  Betheiligung 
der  Dämonen  des  Krieges  und  Todes.  Wiederum  scheiden  sich  im 
folgenden  Kreise  die  vier  Jahreszeiten  zu  zwei  und  zwei.  Aber  auch 
hier  schliesst  sich  an  die  Bestellung  des  Ackers  im  Frühjahr  und 
die  Getreideernte  im  Sommer  als  dritte  Scene  das  Erntefest  unter 


so  werden  sich  alsbald  die  nöthigen 
Anhaltspunkte  darbieten,  um  auch 
dieses  plastische  Bild  in  seinen  künst- 
lerischen Grundlagen  zu  recon- 
struiren. 


58.    Schema  des  Homerischen  Schildes. 


Der  Schild  (Abb.  58)  war  rund 
und  in  seinem  Durchschnitte  aus  fünf 
Lagen  von  ungleichem  Durchmesser 
gebildet.  Wie  nach  dem  Vergleiche 
eines  späteren  Rhetors  (Aristides, 
Panath.  I,  p.  15g  Dind.)  in  der  Mitte 
der  Erde  Hellas  lag,  in  Hellas  Attika, 
in  Attika  Athen  und  in  dessen 
Centrum  die  Akropolis,  so  haben 
wir  uns  in  der  Mitte  des  Schildes 


Homerischer  Schild. 


75 


dem  Bilde  eines  Stieropfers  und  neben  der  Weinlese  des  Herbstes  er- 
scheint das  Hirtenleben  des  Winters  in  der  Doppeltheilung  der  von 
Löwen  Überfallenen  Rinder-  und  der  friedlichen  Schafheerden 
mit  Zelten  und  Ställen.  EinheitUcher  dem  Gedanken  nach  gestaltet 
sich  der  Reigen  im  vierten  Kreise;  doch  Wechselchöre,  Zuschauer, 
ein  Sänger,  ein  ausgesuchtes  Tänzerpaar  deuten  darauf  hin,  dass  räum- 
lich wenigstens  einige  der  bisherigen  Hauptgliederungen  festgehalten 
gewesen  sein  werden.  Endlich  wird  im  fünften  Kreise  das  Ganze  von 
den  Wogen  des  Okeanos  rings  umschlossen. 

So  fügen  sich  die  einzelnen  Scenen  ungezwungen  in  den  ge- 
gebenen Raum,  und  der  einfache  Versuch,  die  Schilderungen  des 
Dichters  uns  innerhalb  des  Raumes  vorzustellen,  lässt  uns  bereits  ein 
bestimmtes  künstlerisches  Gesetz,  das  der  strengen  Entsprechung  im 
Räume,  erkennen,  ein  Gesetz,  dessen  Erscheinung  an  dieser  Stelle  um 
so  schärfer  betont  werden  muss,  als  es  nicht  nur  für  die  nächste  Zeit, 
sondern  für  die  gesammte  Entwicklung  der  griechischen  Kunst  von 
der  weitgreifendsten  Bedeutung  ist.  Aus  der  räumlichen  Gliederung 
aber  tritt  uns  in  eben  so  un  gesuchter  Weise  der  geistige  Inhalt  als 
ein  in  sich  abgeschlossenes,  wohlgegliedertes  Ganzes  entgegen.  Den 
Schauplatz,  auf  dem  sich  die  verschiedenen  Aeusserungen  des  mensch- 
lichen Daseins  bewegen,  bildet  die  in  der  Mitte  dargestellte  Erde, 
unter  dem  Himmelsgewölbe  mit  seinen  in  ewigem  Wechsel  kreisenden 
Gestirnen  und  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  bis  zu  den  Grenzen  des 
Okeanos.  Auf  ihr  entbrennt  zunächst  der  Streit,  der  Kampf  um  den 
Besitz,  bis  dieser  Besitz  durch  die  sittlichen  und  rechtlichen  Ordnungen 
des  ehelichen  und  Familienlebens  und  rechtmässiger  Rechtsprechung 
gesichert  wird.  Nun  erst  gedeihen  die  Werke  des  Friedens  in  den 
regelmässigen  Arbeiten  des  Jahres.  Aber  auch  diese  Arbeiten  sind 
nicht  das  letzte  Ziel  des  Daseins ;  sie  finden  ihren  Abschluss,  ihren 
Lohn  in  der  Vereinigung  fröhlicher  Feste. 

So  entwickelt  sich  aus  der  Schilderung  der  einzelnen  Theile 
ganz  ungesucht  das  Bild  einer  künstlerischen  und  poetischen  Einheit; 
und  diese  Einheit  müssen  wir  mit  besonderm  Nachdruck  betonen,  da- 
mit wir  uns  zur  Vorsicht  mahnen  lassen,  an  das  Ganze  der  Be- 
schreibung nicht  unbegrenzte  und  unberechtigte  Ansprüche  zu  stellen. 
Hat  man  es  doch  auffällig  finden  wollen,  dass  sich  nirgends  eine  Hin- 
deutung auf  Seeleben  finde  und  „den  Dichter"  dadurch  zu  entschuldigen 
gemeint,  dass  man  seinen  Zeitgenossen  eine  Art  Wasserscheu  an- 
dichtete ! 


76 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


Wenn  es  die  Aufgabe  gewesen  wäre,  eine  Schilderung  des 
Menschenlebens  nach  den  verschiedenartigsten  Aeusserungen  seiner 
Thätigkeit  in  einer  gewissen  Vollständigkeit  vor  unsere  Augen  zu 
führen,  warum  fehlen  dann  die  Handwerksthätigkeiten  der  Männer, 
das  Spinnen  und  Weben  der  Frauen,  der  Fischfang,  warum  die  Be- 
ziehungen auf  Geburt  und  Tod  ?  Gerade  dieses  Fehlen  zeigt  uns,  dass 
es  sich  nicht  um  eine  materielle  Vollständigkeit  handelt,  sondern  um 
eine  Auswahl  bestimmter  Scenen,  um  eine  Unterordnung  derselben 
unter  eine  einheitliche  Idee  und  um  die  Gliederung  derselben  in  einem 
bestimmten  gegebenen  Räume.  Das  sind  aber  überwiegend  künst- 
lerische Gesichtspunkte,  und  wenn  es  dafür  noch  eines  besonderen 
Beweises  bedürfte,  so  liefert  ihn  niemand  besser,  als  Homer  selbst,  indem 
er  durch  seine  Beschreibung  zeigt,  dass  er  zu  einem  Verständnis  dieses 
künstlerischen  Zusammenhanges  nicht  durchgedrungen  ist.  Von  einer 
geistigen  Beziehung  der  verschiedenen  Kreise  zu  einander  ist  mit  keinem 
Worte  die  Rede.  In  den  einzelnen  Kreisen  sucht  er  da  und  dort  einen  Zu- 
sammenhang einzelner  Gruppen,  und  er  legt  darum  den  Schilderungen  z.  B. 
der  Stadt  im  Kriege,  der  Gerichtsverhandlung  eine  Erzählung  unter,  die 
aber  als  eine  subjective  Zuthat  das  Verständniss  des  wirklich  Dar- 
gestellten eher  verdunkelt  als  fördert,  während  dagegen  eine  andere, 
im  künstlerischen  Zusammenhange  wesentliche  Scene,  die  Festgelage 
{elkamvai),  nur  mit  diesem  einzigen  Worte  erwähnt  wird,  weil  sie 
ihm  in  seiner  Erzählung  nicht  weiter  passte.  Endlich  aber  im  dritten 
Streifen  schildert  er  in  richtiger  Aufeinanderfolge  die  Arbeiten  des 
Jahres;  aber  deutet  er  auch  nur  mit  einem  Worte  an,  dass  diese 
Scenen  durch  das  einheitliche  Band  des  jährlichen  Kreislaufes  verbunden 
sind?  Giebt  er  überhaupt  eine  Andeutung  über  den  Zusammenhang 
dieser  Scenen  mit  den  vorhergehenden  und  folgenden?  Würde  er  es 
dem  Hörer  überlassen  haben,  die  poetische  Gesammtidee,  welche  alles 
Einzelne  zusammenhält,  sich  zu  reconstruiren,  wenn  er  selbst  sich  dieser 
Gesammtidee  bewusst  gewesen  wäre?  Er  löst  die  Beschreibung  in 
einzelne  Scenen  auf,  oder  richtiger:  er  schildert  das  Einzelne,  wie  es 
in  räumlicher  Theilung  sich  seinem  Auge  darstellt.  Damit  ist  aber 
ein  Beweis  für  die  Realität  des  vSchildes  gegeben,  wie  er  zwingender 
kaum  gedacht  werden  kann. 

Doch,  wendet  man  ein,  widerspricht  nicht  der  gesammte,  dem 
gewöhnlichen  Leben  entnommene  Inhalt  der  Darstellungen  der  über- 
wiegenden Bevorzugung  des  religiösen  und  mythologischen  Stoffes  in 
der  griechischen  Kunst?    Es  Hesse  sich  zunächst  erwidern,  dass  auch 


r 


Homerischer  Schild:  Vergleichung  mit  assyrischer  Kunst. 


77 


an  den  übrigen  bei  Homer  erwähnten  kunstreichen  Arbeiten  sich  keine 
einzige  mythologische  Scene  findet.  Denn  auch  die  Kämpfe  der  Troer 
und  Achäer,  welche  Helena  in  Geweben  darstellt,  sind  nicht  der  Sage, 
sondern  aus  der  vor  den  Augen  der  Helena  liegenden  Wirklichkeit 
entnommen;  und  wenn  auf  dem  Schilde  Ares,  Athene  und  die  Dämonen 
des  Krieges  auftreten,  so  erscheinen  auch  sie  mitten  im  Leben,  wie 
sie  auch  in  den  homerischen  Gedichten  sich  in  den  Streit  der  Sterb- 
lichen mischen.  Der  Satz,  dass  Homer  den  Griechen  ihre  Götter  ge- 
schaffen, gilt  gewiss  nicht  weniger  von  der  Gestaltung  ihrer  Sagen- 
welt, und  eben  darum  konnte  dieselbe  in  der  Kunst  seiner  Zeit  noch 
keine  Stelle  finden.  Zu  einer  richtigen  Beurtheilung  werden  wir  uns 
aber  ausserdem  auf  den  historischen  Standpunkt  stellen,  werden  fragen 
müssen,  auf  welchen  Voraussetzungen  die  Kunst  jener  Zeit  beruht 
oder  überhaupt  beruhen  konnte. 

Vergleichung  des  Schildes  mit  assyrischer  Kunst.  Schon 
öfter  hat  sich  unser  Blick  nach  dem  inneren  Asien  gewendet,  und  es 
ist  dadurch  gewiss  gerechtfertigt,  wenn  wir  auch  jetzt  von  Kleinasien, 
der  Heimat  der  homerischen  Poesie,  unsere  Aufmerksamkeit  zunächst 
wieder  dorthin  lenken.  Die  zur  Bekleidung  ausgedehnter  Wandflächen 
bestimmten  assyrischen  Reliefs  sind  aber  ihrem  künstlerischen  Princip 
nach  eigentlich  nichts  anderes,  als  in  Stein  übersetzte  Teppiche,  an 
denen  sogar  das  flache  Relief  fast  nur  die  Erhabenheit  der  Stickerei 
wiedergiebt.  Wir  werden  daher  auch  die  Existenz  wirklicher  Teppiche 
von  entsprechendem  Charakter  zugeben  müssen,  die,  durch  den  Handels- 
verkehr nach  Kleinasien  eingeführt,  dort  die  Kenntniss  assyrischer 
Kunstweise  in  directester  Weise  zu  vermitteln  vermochten.  Den  Inhalt 
dieser  Reliefdarstellungen  bilden  die  Thaten  und  die  Regierungs- 
geschichten der  Herrscher,  welche  darin  mit  einer  ins  Einzelnste 
gehenden  Ausführlichkeit  illustrirt  werden.  Aber  so  reich  sie  an 
Figuren  sind,  so  arm  sind  sie  an  eigentlich  künstlerischer  Erfindung.  Die 
Figuren  haben  im  Grunde  ihre  Individualität,  alles  rein  Persönliche 
völlig  eingebüsst,  sind  Schemata  geworden,  so  zu  sagen  Buchstaben, 
aus  denen  die  Worte  und  Sätze  der  Bildertafel  zusammengesetzt  sind. 
Hier  nun  finden  sich  leicht  die  Formeln,  um  uns  die  Beschreibung 
des  homerischen  Schildes  in  Figuren  zu  übersetzen.  Am  lehrreichsten 
sind  für  diesen  Zweck  die  von  Layard  in  der  „zweiten  Serie"  publi- 
cirten  Reliefs  aus  dem  Palaste  des  Sanherib,  jetzt  im  britischen  Museum, 
welche  zwar  nicht  über  das  Jahr  700  v.  Chr.  zurückgehen,  also  jünger 


7  8  Zweites  Capitel.     Homerische  Kunst. 

sind  als  die  Schildbeschreibung,  aber  sich  doch  in  ihrem  Gesammt- 
charakter  nicht  wesentlich  von  älteren  Arbeiten  unterscheiden. 

Unter  den  so  häufigen  kriegerischen  Scenen  bieten  T.  i8  u.  50 
Bilder  von  Städten  mit  ihren  Vertheidigern  auf  den  Mauern,  wie  sie 
mit  geringen  Modificationen  für  den  zweiten  Kreis  des  Schildes  ver- 
wendbar sind  (Abb.  59).  Der  Ausmarsch,  der  Ueberfall  der  Heerden,  der 
Kampf  der  beiden  Heere  lassen  sich  aus  T.  31,  37,  38,  46  vortrefflich 
reconstruiren.  Für  den  Hochzeitszug,  Chor  und  Musik  liefern  T.  48  u.  49 
genügende  Analogieen.  Für  die  Darstellungen  der  Jahreszeiten  lassen 
sich  weniger  Scenen  im  Ganzen  benützen ;  aber  z.  B.  Männer,  welche 
Trauben  in  Gefässen  tragen:  T.  8,  oder  andere,  welche  Thiere 
schlachten:  T.  36,  geben  Motive  für  die  Weinlese,  das  Ernteopfer; 
andere  Scenen,  wie  das  Trinken  aus  Schläuchen  T.  35,  das  Holzfällen 
T.  40,  das  Wasserziehen  T.  15,  das  Treiben  der  Heerden  T.  29  u.  35 
zeigen  uns  Züge  aus  dem  wirklichen  Leben,  die  den  von  Homer  ge- 
schilderten völlig  parallel  stehen.  Auch  die  Bezeichnung  des  Terrains, 
die  Bildung  von  Bäumen  und  Weinstöcken,  Zelte  und  andere  Baulich- 
keiten lassen  sich  passend  verwerthen.  Selbst  zu  dem  im  Charakter 
wesentlich  abweichenden  Mittelbilde  können  für  die  Darstellung  der 
Erde  zwar  nicht  die  Steinreliefs,  aber  doch  die  Bronzeschalen  T.  61  u.  66 
einen  ungefähren  Vergleichungspunkt  abgeben,  während  sich  Sonne, 
Mond  und  Siebengestirn  in  babylonischen  und  assyrischen  Cylindern 
wiederfinden. 

Die  Schilderung  der  Wirklichkeit  in  den  Kunstwerken  bei  Homer 
findet  also  in  den  Denkmalen  Assyriens  ihr  unzweideutiges  Vorbild; 
das  Schematische  der  ganzen  Darstellungs weise  aber,  welches  den 
letzteren  eigen  ist,  musste  die  Nachahmung  nur  erleichtern ;  denn  das 
noch  nicht  entwickelte  Fassungsvermögen  bedarf  zuerst  allgemeiner 
Formeln,  ehe  es  auf  das  Specielle  des  Ausdruckes  einzugehen  vermag. 
Es  darf  daher  zunächst  auch  die  Frage  noch  unberücksichtigt  bleiben, 
wie  weit  die  Nachahmung  in  der  Durchführung  des  Einzelnen  gehen 
mochte.  Das  erste  Ziel  konnte  damals  gewiss  noch  nicht  formale 
Vollendung  sein,  sondern  die  Figuren  sollten  etwas  bedeuten,  sollten 
einen  Gedanken,  eine  Handlung  ausdrücken.  Die  Kunst  ist  im  Wesent- 
lichen noch  Bilderschrift.  In  der  Art  aber,  wie  sie  sich  der  Gestalten 
bedient,  welche  Gedanken  sie  darzustellen  unternimmt,  tritt  bereits 
eine  Scheidung  zwischen  asiatischer  und  griechischer  Kunst  in  voller 
gegensätzlicher  Schärfe  ein.  Jene  mit  Reliefs  überdeckten  ausgedehnten 
Wandflächen  von  Niniveh  sind  nichts  anderes  als  in  Figuren  ge- 


Vergleichung  mit  assyrischer  Kunst. 


79 


schriebene  Chroniken,  geschrieben  in  vollster  Ausführlichkeit,  aber 
wie  es  der  Styl  einer  Chronik  verlangt,  in  nüchternster  Prosa  oder  in 
dem  Styl  des  officiellen  steifen  Hofceremoniells.  Der  griechische 
Künstler  des  homerischen  Schildes  entnimmt  daraus  die  Formeln  für 
die  Bewegung,  die  Action  einer  Figur,  aber  mit  der  gegebenen 
Terminologie  schafft  er  sofort  ein  Gedicht.  Nicht  um  eine  Aufzählung 
einzelner  Scenen  handelt  es  sich  für  ihn,  wie  sie  sich  etwa  in  Wirklichkeit 
im  Raum  neben  einander,  in  der  Zeit  nach  einander  ereignet  haben 
oder  ereignet  haben  könnten.  Seine  Schöpfung  beruht  auf  einem 
einheitlichen  Gedanken,  dem  sich  jedes  Einzelne  unterordnen  muss. 
Das  Umfassende  der  Idee  aber  im  Verhältniss  zum  gegebenen  Räume 
zwingt  ihn  sofort,  die  Breite  und  Nüchternheit  des  Chronikstyls  auf- 
zugeben und  das  Bedeutsame  aufzusuchen:  er  muss  sich  mit  Andeu- 
tungen begnügen,  muss  einzelne  Momente  auswählen,  die  fruchtbar 
genug  sind,  um  die  Phantasie  anzuregen  und  das  Fehlende  zu  ergänzen. 
Das  Bedeutsame  wächst  durch  die  Stelle,  die  dem  Einzelnen  im  Ganzen 
angewiesen  wird,  durch  die  Gesammtanlage  und  Gliederung  des  Ganzen. 


8o  Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 

Und  hier  zeigt  sich  der  zweite  fundamentale  Gegensatz  zwischen  dem 
asiatischen  und  dem  griechischen  Künstler.  Auch  in  den  assyrischen 
Reliefs  findet  sich  die  Eintheilung  in  verschiedene  Streifen;  der  Dar- 
steller will  Raum  gewinnen,  um  seine  ausgedehnten  Figurenreihen  zu 
placiren,  das  Neben-  und  Uebereinander  der  Scenen  auch  im  Raum 
sichtbar  zu  machen ;  aber  er  benützt  den  Raum  ohne  irgendwelche 
Rücksicht  auf  ein  mathematisch-künstlerisches  Gesetz  ganz  nach  Art 
einer  Landkarte.  Beim  homerischen  Schilde  erwächst  die  Gliederung 
des  Raumes  gewissermaassen  organisch  aus  der  Form  und  Fügung  des 
Schildes  selbst,  und  ebenso  erwächst  aus  den  so  gewonnenen  räum- 
lichen Abtheilungen   die   poetische   künstlerische  Idee   des  Ganzen. 

Das  Eine  ist  ohne  das  Andere  nicht 
denkbar,  und  niemand  möchte  wohl 
die  Frage  zu  beantworten  wagen,  was 
früher  war,  der  gegebene  Raum  oder 
die  Idee,  die  ihn  künstlerisch  erfüllte. 
Hier  also  erscheint  der  griechische 
Geist  in  voller  Selbständigkeit,  und 
gewiss  lässt  sich  jetzt  mit  Recht  be- 
haupten, wovon  wir  ausgingen,  dass, 
wenn  auch  die  Griechen  von  Asien  die 
Schrift  der  Kunst  entlehnten,  sie  doch 
trotzdem  darin  ihre  eigene  Sprache 
redeten. 

Die  Ansichten  über  das  Verhältniss 
der  Darstellungen  des  Schildes  zu  assy- 
rischen Vorbildern,  welche  hier,  wie  schon  vor  Jahren,  von  mir  darge- 
legt worden  sind,  haben  erst  kürzlich  die  erwünschte  Bestätigung  durch 
das  Fragment  eines  Silbergefässes  gefunden,  welches  schon  von  Schlie- 
mann in  dem  vierten  seiner  Königsgräber  entdeckt,  sich  bei  seiner 
nachträglichen  Reinigung  als  mit  flachem  Relief  geschmückt  erwiesen 
hat  {'EcpTjju.  oiQx-  1891,  T.  2)  (Abb.  60).  Wir  erblicken  auf  demselben  im 
oberen  Theile  wie  im  Mittelgrunde  eine  Stadt  und  auf  deren  Mauern 
eine  Versammlung  verzweifelter  Weiber  mit  erhobenen  Armen;  vor 
den  Thoren  im  freien  Felde  verschiedene  an  die  Oelbäume  der  Gold- 
becher von  Vafio  erinnernde  Bäume,  und  auf  dem  vorderen  bergigen 
Terrain  das  Stück  einer  Kampfscene:  stehende  Schleuderer,  knieende 
Bogenschützen  und  mit  Schilden  gerüstete  Krieger.  Die  Abhängigkeit 
von  assyrischen  Vorbildern  tritt  uns  hier  in  der  Gesammtauffassung 


60.    Silberscherbe  aus  Mykenae. 


Vergleichung  mit  assyrischer  Kunst.  —  Die  norditalischen  Sitiilae.  g  j 

und  Anordnung-,  in  der  Vertheilung  im  Räume,  der  Vortragsweise, 
der  »Schrift«  der  Kunst  in  augenfälligster  Weise  entgegen.  Zugleich 
aber  erkennen  wir,  wie  in  dem  inneren  Leben  der  menschlichen  Ge- 
stalten und  der  Darstellung  ihres  Handelns  ein  durchaus  verschiedener 
Geist  waltet,  der  sich  vielmehr  den  Arbeiten  der  mykenischen  Dolch- 
klingen entschieden  annähert.  —  Dass  das  Silbergefäss  der  vorhome- 
rischen Zeit  angehört,  kann  nicht  wohl  zweifelhaft  sein;  und  so  lehrreich 
es  also  für  uns  ist,  die  Wege  kennen  zu  lernen,  auf  denen  der  grie- 
chische Geist  sich  zur  vollen  Selbständigkeit  zu  entwickeln  bestrebt  war, 
so  lässt  sich  doch  der  Wunsch  nicht  unterdrücken,  nun  auch  ein  an- 
schauliches Bild  zu  gewinnen,  wie  sich  der  von  Homer  beschriebene 
Schild  in  Wirklichkeit  dem  Auge  dargestellt  habe,  um  danach  zu  be- 
urtheilen,  bis  zu  welchem  Grade  auch  in  der  Auffassung  und  Aus- 
führung des  Einzelnen  sich  griechischer  Geist  offenbart  habe.  Zunächst 
müssen  wir  doch  wohl  voraussetzen,  dass  gegenüber  einer  so  alten 
Cultur,  wie  die  innerasiatische  war,  den  Anfängen  eigener  Kunstübung 
je  nach  den  Umständen  hier  mehr,  dort  weniger  der  Charakter  kind- 
licher Versuche  anhaften  müsste.  Nun  werden  wir  allerdings  später 
noch  manche  Mittelstufen  kennen  lernen,  in  denen  uns  einerseits  der 
bedeutende  Einfluss  des  Fremden,  aber  auch  andererseits  die  successive 
Befreiung  des  Griechischen  von  fremden  Vorbildern  deutlich  entgegen- 
tritt. Doch  führen  uns  dieselben  schon  vielfach  über  die  homerische 
Zeit  auf  jüngere  Culturzustände.  Wollen  wir  dagegen  eine  Vorstellung 
von  der  früheren  Zeit  gewinnen,  so  werden  wir  schon  einmal  einen 
Sprung  wagen  müssen,  der  uns  von  dem  Schauplatze  der  homerischen 
Dichtungen  zunächst  weit  abführt. 

Die  norditalischen  Situlae.  Zuerst  in  Bologna,  dann  aber 
weiter  nördlich  in  Krain  sind  in  den  letzten  Jahren  einige  Bronzeeimer 
(situlae)  mit  Reliefs  von  höchst  alterthümlichem  Charakter  gefunden 
worden,  die  allerdings,  wenn  wir  alle  Umstände  ihrer  Entdeckung 
berücksichtigen,  vielleicht  erst  ein  halbes  Jahrtausend  nach  der  Zeit 
Homers  ausgeführt  sein  mögen  (s.  meinen  Aufsatz  über  die  Aus- 
grabungen der  Certosa,  in  den  Abh.  d.  bayer.  Akad.  XVIII,  S.  i68). 
Sie  haben  mit  den  Arbeiten  etruscischer  Kunst  nichts  gemein.  Auch 
mit  den  früher  in  Bologna,  aber  schwerlich  in  Krain  ansässigen  Umbrern 
lassen  sie  sich  nicht  wohl  in  Beziehung  setzen.  Man  hat  daher  auf 
illyrische  Volksstämme  hingewiesen,  die  sich  von  den  Balkanländern 
nach  Nordwesten  ausgedehnt  haben  und  mit  den  Ländern  im  Gebiete 

6 


82 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


des  Po  in  Berührung  getreten  sein  möchten,  in  ihrer  geistigen  Cultur 
Griechenland  gegenüber  aber  auf  einer  sehr  frühen  Stufe  stehen 
gebheben  sein  dürften.  So  kühn  eine  solche  Annahme  erscheint,  so 
brauchen  wir  doch  vor  ihr  nicht  zurückzuschrecken.  Noch  heute  hat 
in  Russland  und  den  Gebieten  der  griechisch-orientalischen  Kunst  der 
Byzantinismus  seine  Herrschaft  bewahrt,  ohne  von  dem  vor  einem 
halben  Jahrtausend  beginnenden  Wiederaufleben  der  italienischen 
Kunst  berührt  zu  werden.  Es  soll  nun  hier  zunächst  nicht  untersucht 
werden,  wie  weit  die  Zurückführung  dieser  „illyrischen"  auf  die  älteste 
griechische  Kunst  durch  Vergleichungen,  wie  etwa  die  der  Gravierungen 
eines  bei  Olympia  gefundenen  Panzers  (Bull,  de  corr.  hell.  VII,  i — 3; 
Olympial  V,  die  Bronzen,  T.  59)  unterstützt  werden  kann  (vgl.  unten): 
versuchen  wir  vielmehr,  uns  direct  unserem  Ziele  zu  nähern. 

Die  Technik  dieser  Situlae  ist  einfacher  als  die  des  Schildes,  für 
dessen  Ausführung  uns  jetzt  die  mykenischen  Dolchklingen  mancherlei 
Fingerzeige  gewähren.  An  den  Situlae  sind  die  Figuren  einfach  in 
flachem  Relief  von  der  Rückseite  des  Metallbleches  aus  getrieben  und 
von  vorn  nur  wenig  mit  einem  spitzen,  nicht  schneidenden  Instrumente 
nachgearbeitet.  Mit  dem  Schilde  übereinstimmend  aber  finden  wir  die 
Streifenabtheilung.  Auf  dem  bedeutenderen  der  beiden  Bologneser  Ge- 
fässe,  auf  dessen  Betrachtung  wir  uns  hier  beschränken  wollen  (Zannoni, 
scavi  della  Certosa  t.  35)  (Abb.  61),  bewegen  sich  im  obersten  Streifen 
Krieger  zu  Fuss  und  zu  Pferde,  durch  Verschiedenheit  der  Bewaffnung 
in  mehrere  Abtheilungen  gegliedert,  in  geregeltem  Aufmarsche  nach 
links.  In  entgegengesetzter  Richtung  schreitet  auf  dem  zweiten  eine 
Procession  von  Männern  und  Frauen,  welche  Opferthiere  führen,  Holz- 
bündel, Körbe,  verschiedene  Arten  von  Geräthen,  Bratspiesse  u.  A. 
in  den  Händen  und  auf  den  Köpfen  tragen :  offenbar  die  Vorbereitungen 
für  ein  feierliches  Opfer,  eine  Art  von  Prototyp  des  Parthenonfrieses. 
In  dem  dritten  Streifen  wechselt  die  Richtung  mehrmals:  links  treibt 
ein  Bauer  zwei  Ochsen  auf  das  Feld,  um  dasselbe  mit  dem  Pfluge 
zu  bestellen,  den  er  auf  seiner  Schulter  trägt.  Nach  der  Mitte  zu 
wird  ein  Schwein  wohl 'zum  Schlachten  geschleift,  während  von  der 
anderen  Seite  ein  getödteter  Hirsch  an  einer  Stange  herbeigetragen 
wird.  Gegen  das  rechte  Ende  zu  wird  ein  im  Gebüsch  versteckter 
Hase  gejagt.  In  der  Mitte  aber  finden  wir  auf  einem  Ruhebette 
sitzend  einen  Syrinxbläser  und  einen  Lautenspieler,  doch  wohl  zur 
Andeutung  festlicher  Freude.  Im  unteren  Streifen  endlich  schliesst 
sich  die  Composition  durch  verschiedene,  nach  einer  Richtung  schreitende 


83 

Thiere ,  zahme  und 
wilde,  geflügelte  und 
ungeflügelte ,  wieder 
zu  einem  einheitlichen 
Bande  zusammen,  an 
dem  wir  ausserdem  er- 
kennen, wie  die  Kunst 
der  Situlae  von  Ein- 
flüssen des  Orients 
nicht  unberührt  ge- 
blieben ist. 

Die  Verwandtschaft 
mit  den  Darstellungen 

des  homerischen 
Schildes  springt  in  die 
Augen ;  und  zu  unserer 

Ueberraschung  er- 
kennen wir  jetzt,  wie 
geringer  Mittel  es  in 

den  Anfängen  der 
Kunst  zum  Ausdrucke 
grösserer  Gedanken- 
reihen bedarf.    Da  ist 
von  einer  Nachahmung 
der    Wirklichkeit  im 
Einzelnen   ihrer  äus- 
seren Erscheinung 
nicht  die  Rede.  Waffen, 
Kopf  und  schreitende 
Beine  bilden  den 
Krieger  auf  dem 
Marsche.  Einzelne 
Gestalten  erscheinen 
ganz  ein  gewickelt  ohne 
Andeutung  der  Arme. 
Diese  werden  nur  sicht- 
bar, wo  sie  etwas  zu 
thun  haben :  einer  ge- 
nügt, um  eine  Last  auf 
6* 


84 


Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 


dem  Kopfe  im  Gleichgewicht  zu  halten,  um  die  Tragstange  zu  fassen, 
beide  sind  nöthig,  um  das  Schwein  an  den  Hinterbeinen  zu  schleppen, 
oder  einer,  um  die  Peitsche  zu  halten,  der  andere,  um  den  Pflug  zu 
tragen.  Nur  gerade  so  viel  ist  gegeben,  als  nöthig  ist,  dass  die  Figur 
etwas  aussage,  etwas  bedeute,  und  je  nur  so  viele  Figuren  treten  auf, 
als  zur  Bezeichnung  einer  Handlung  oder  Function  eben  nothwendig 
sind.  Die  Krieger  bilden  nicht  eine  ungezählte  Masse:  zwei  sind  zu 
Pferde,  fünf  sind  mit  länglich  ovalen,  drei  mit  viereckig  abgerundeten,  vier 
mit  ganz  runden  Schilden  bewaffnet,  andere  vier  tragen  Aexte,  so  dass 
wir  die  Vorstellung  gewinnen,  ein  in  verschiedenen  Abtheilungen  ge- 
gliedertes Heer  an  uns  vorüberziehen  zu  sehen. 

Blicken  wir  jetzt  auf  die  homerischen  Schilderungen  zurück ,  so 
wird  sich  nicht  leugnen  lassen,  dass  ihr  richtiges  Verständniss  vielfach 
dadurch  erschwert  worden  ist,  dass  wir  gar  zu  leicht  geneigt  sind,  uns 
die  Bildwerke  des  Schildes  in  einer  allen  Mitteln  der  heutigen  Kunst 
entsprechenden  Ausführung  vorstellen  zu  wollen.  Eine  solche  Durch- 
bildung aber  birgt  jedenfalls  die  Gefahr  in  sich,  die  Einfachheit,  Klar- 
heit und  Uebersichtlichkeit  wesentlich  zu  beeinträchtigen,  indem  sie  es 
erschwert,  sich  in  der  Fülle  von  Einzelheiten  zurecht  zu  finden.  Den 
vollsten  Gegensatz  dazu  bildet  gerade  durch  die  naive  Kindlichkeit 
der  gesammten  Auffassung  die  Bildersprache  der  Situla,  und  an  ihr 
gewinnen  wir  den  richtigen  Maassstab  für  die  Anforderungen ,  die  wir 
an  die  Ausführbarkeit  des  homerischen  Schildes  zu  stellen  berechtigt 
sind.  —  Wir  gingen  bei  seiner  Betrachtung  von  der  strengen  Gliederung 
des  Raumes  als  einer  für  den  hellenischen  Geist  charakteristischen 
Eigenschaft  aus.  Wir  mussten  weiter  dieselbe  Strenge  in  der  all- 
gemeinen Gliederung  des  geistigen  Inhalts  betonen.  Wollen  wir  uns 
jetzt  klar  machen,  in  welcher  Weise  die  gleichen  Eigenschaften  in 
Auffassung  und  Ausführung  des  Einzelnen  zum  Ausdruck  zu  gelangen 
vermögen,  so  bieten  uns  dafür  die  Bilder  der  Situla  die  lebendigste 
Anschauung,  wobei  es  zunächst  wenig  verschlägt ,  ob  wir  in  der  be- 
sonderen (stylistischen)  Vortragsweise  volle  Uebereinstimmung  oder 
mehr  oder  minder  starke  „dialektische"  Abweichungen  vorauszusetzen 
haben. 

So  tritt  uns  der  Schild  als  eine  durchaus  einheitliche,  künstlerisch 
in  sich  abgeschlossene  Schöpfung  entgegen.  Sind  wir  aber  den 
Spuren  der  in  ihr  so  schroff  ausgeprägten  Geistesrichtung  nicht  schon 
früher  begegnet?  Erinnern  wir  uns  nur  der  Vasen  des  Dipylon- 
styls!     Schon  an  ihnen  macht  sich   die  gleiche  einheitliche  Grund- 


Die  norditalischen  Silulae.  —  Der  hesiodische  Schild. 


85 


anschauung  geltend,  welche  ausging  von  der  mathematischen  Gliederung 
des  Raumes,  aus  dieser  die  Gliederung  des  Inhaltes  herauswachsen 
Hess  und  endlich  ebenso  die  Darstellung  der  Figuren  dem  gleichen 
tektonischen  Principe  unterordnete.  Sie  trat  auf  in  einem  bestimmten 
Gegensatze  zu  der  mehr  äusserlichen  Flächendecoration  der  „mykenischen" 
Vasen,  und  wir  konnten  nicht  umhin,  in  ihr  eines  der  wichtigsten, 
wenn  nicht  überhaupt  das  Grundprincip  der  im  engeren  Sinne  helle- 
nischen Kunst  zu  erkennen.  Wir  sehen  jetzt,  dass  es  der  gleiche 
Geist  ist,  von  dem  sich  die  Schöpfung  des  Schildes  nach  allen  Seiten 
durchdrungen  erweist.  Damit  aber  hört  dieselbe  auf,  als  eine  ver- 
einzelte und  dadurch  schwer  verständliche  Erscheinung  am  Anfange 
der  Kunstgeschichte  zu  stehen ,  sondern  sie  fügt  sich  bereits  in  eine 
bestimmte  historische  Entwiklung  ein,  indem  sie  uns  jenes  hellenische 
Princip  als  bereits  gekräftigt  und  auf  eine  höhere  Stufe  der  Durch- 
bildung erhoben  erkennen  lässt. 

Der  hesiodische  Schild  (Abb.  62).  Aber  nicht  blos  rückwärts, 
auch  vorwärts  müssen  wir  blicken,  und  wenn  ja  die  gesammte  hier  dar- 
gelegte Auffassung  noch  einer  weiteren  Bestätigung  bedürfen  sollte, 
so  wird  dieselbe  in  erwünschtester  Weise  durch  den  hesiodischen 
Schild  des  Herakles  geboten.  Es  kann  nicht  überraschen,  dass  man 
ihn  als  blosse  Nachahmung  des  homerischen  und  also  gleich  diesem 
als  eine  dichterische  Fiction  hat  betrachten  wollen.  Es  darf  zunächst 
zugegeben  werden,  dass  die  Beschreibung  so  wenig  von  Hesiod  her- 
rühren mag,  wie  die  homerische  Episode  von  Homer,  ferner  dass  sie 
durch  Interpolationen  entstellt  und  im  Einzelnen  durch  bedeutende 
Einschiebsel  erweitert  ist,  sowie  auch,  dass  der  Dichter  in  der  Art  der 
Beschreibung  sich  eng  an  Homer  anschliesst.  Für  die  archäologische 
Betrachtung  hängt  indessen  Alles  davon  ab,  ob  sich  eben  so  wie  bei 
Homer  auch  aus  der  hesiodischen  Schilderung  ein  künstlerischer  Ge- 
danke, eine  künstlerische  Einheit  entwickeln  lässt.  Die  Prüfung  wird 
zeigen,  dass  diese  Einheit  wirklich  vorhanden  ist  und  dass  sie  in  ihren 
Grundlagen  der  des  homerischen  Schildes  im  Allgemeinen  entspricht. 
Aber  noch  bedeutsamer  als  diese  Uebereinstimmung  wird  eine  Reihe 
von  Verschiedenheiten  hervortreten,  insofern  dieselben  ihrem  Wesen 
nach  keineswegs  als  Neuerungen  eines  den  Homer  nachahmenden 
Dichters,  sondern  nur  als  Erfindungen  eines  in  der  Entwicklung 
fortschreitenden  Künstlers  betrachtet  werden  können. 

Schon  in  dem  Grundschema  tritt  diese  Weiterbildung  bestimmt 


86  Zweites  Capitel.    Homerische  Kunst. 

hervor.  Die  fünf  Lagen  sind  beibehalten.  Aber  die  durch  sie  gebildeten 
fünf  Hauptstreifen  werden  jedesmal  durch  ein  schmaleres  Band,  wie 
durch  eine  Einfassung,  von  einander  geschieden,  so  dass  sich  der  Raum 
in  fünf  Haupt-  und  vier  Nebenfelder  gliedert.  In  dem  Mittelbilde, 
dessen  Beschreibung  am  meisten  durch  Interpolationen  verwirrt  ist, 
scheint  nur  das  Gesicht  des  Phobos,  medusenartig  umkränzt  von  zwölf 
Schlangen,  dargestellt  gewesen  zu  sein.  Züge  von  Ebern  und  Löwen, 
wie  sie  oft  genug  auf  alten  Kunstwerken  wiederkehren,  trennen  dieses 
Centrum  von  dem  zweiten  Hauptkreise,  in  welchem  sich  sofort  eine 
kriegerische  und  eine  friedliche  Scene  scheiden :  der  Kampf  der  Lapithen 

und  Kentauren  unter  Dazwischen- 
kunft  des  Ares  und  der  Athene,  und 
als  Gegenbild  der  Unsterblichen 
Chor  mit  Apollo  und  den  Musen. 
Beide  Scenen  umschliesst  der  Hafen 
mit  Fischen  und  einem  Fischer. 
Noch  einmal  folgt  Krieg  und  Frieden: 
die  Mauern  einer  Stadt  mit  ver- 
zweifelnden Frauen,  betende  Greise, 
dcmn  das  Kriegsgetümmel  und  end- 
lich die  Dämonen  der  Schlacht 
und  des  Todes;  als  Gegenbild  ein 
Hochzeitszug  und  Jubel  unter  Be- 
gleitung von  Syrinx,  von  Leier  und 
von  Flöte  in  gesonderten  Gruppen. 
Wieder  umschliesst  beide  Bilder 
in  schmalem  Kreise  ein  Rennen  zu  Pferde.  Nun  folgen  die  vier 
Jahreszeiten,  das  Frühjahr  nur  durch  Pflüger,  der  Winter  durch  eine 
Hasenjagd  angedeutet,  ausführlicher  der  Sommer  und  der  Herbst. 
Es  ist  wohl  vorauszusetzen,  dass,  wie  bei  Homer  im  zweiten  und 
dritten,  so  hier  im  dritten  und  vierten  Kreise  die  Unterabtheilungen 
in  bestimmter  Gliederung  hervorgetreten  sein  werden.  Doch  ist  die 
Beschreibung  zu  wenig  präcis,  um  diese  im  Einzelnen  bestimmt  aus- 
zuscheiden. Die  Mannigfaltigkeit  dieser  Scenen  wird  nun  in  dem 
schmalen  Kreise  wiederum  einheitlich  durch  ein  Wettrennen  zu  Wagen 
umschlossen.  Endlich  umfasst  das  Ganze  des  Okeanos  Strömung, 
durch  Fische  und  Schwäne  belebt.  —  Nur  eine  Scene  ist  in  der  vor- 
stehenden Aufzählung  übergangen  worden:  die  Darstellung  des  von 
den  Gorgonen  verfolgten  Perseus,  welche  in  der  Beschreibung  zwischen 


Der  hesiodische  Schild. 


87 


dem  zweiten  Neben-  und  dem  dritten  Hauptkreise  steht.  Welchem 
derselben  sie  zuzutheilen  sei,  ergiebt  sich  jetzt  erst  durch  einen  Blick 
auf  die  künstlerische  Gliederung  des  Ganzen.  Der  Hafen  mit  Fischen 
und  einem  einzigen  Fischer  erscheint  den  übrigen  Kreisen  gegenüber 
etwas  zu  dürftig  ausgestattet.  In  anderen  Bildwerken  aber  finden  wir 
Perseus,  wie  er,  von  den  Gorgonen  verfolgt,  mit  gewaltigen  Schritten 
über  das  Meer  eilt.  Diese  wenigen  Figuren  mit  ihren  gedehnten  Be- 
wegungen füllen  also  sehr  wohl  einen  grossen  Theil  des  Rundes  aus 
und  bilden  im  Grunde  mit  dem  Bilde  des  Hafens  zusammen  eine 
Einheit,  welche  nur  von  dem  beschreibenden  Dichter  nicht  als  solche 
erkannt  wurde.  Zugleich  aber  sind  sie  das  mythische  Bild  eines  Wett- 
laufens zu  Fuss,  mit  dem  sich  im  folgenden  Kreise  das  Rennen  zu 
Pferde,  im  zweitfolgenden  das  Rennen  zu  Wagen  in  klar  abgewogener 
Steigerung  verbindet.  —  Damit  aber  wird  zugleich  die  Bedeutung 
der  schmaleren  Streifen  in  einer  Weise  klar,  dass  in  ihnen  ein  künst- 
lerischer Fortschritt  über  das  homerische  Schema  hinaus  anerkannt 
werden  muss.  Die  zahlreichen  Figuren  der  grösseren  Streifen,  in  drei 
Reihen  ohne  augenfällige  Scheidung  über  einander  gestellt,  konnten 
das  Auge  leicht  verwirren,  und  indem  sie  für  dasselbe  sämmtlich 
die  Bedeutung  von  Radien  zwischen  Centrum  und  Peripherie  hatten, 
musste  fast  nothwendig  eine  gewisse  Einförmigkeit  entstehen.  In  dem 
hesiodischen  Schilde  tritt  durch  die  schmalen  Streifen  nicht  nur  eine 
bestimmte  Scheidung  ein,  sondern  in  den  nicht  aufrecht  wie  Menschen 
einherschreitenden  Ebern  und  Löwen,  in  dem  gedehnten  Laufe  des 
Perseus  und  der  Gorgonen,  in  dem  gestreckten  Carriere  der  Renner 
und  der  Gespanne  erhält  auch  so  zu  sagen  jeder  Strahlenkranz  von 
Radien  seine  eigene  ihn  umschliessende  Peripherie,  und  das  so  vor- 
treffHch  ineinander  gefügte  Doppelsystem  von  Linien  verbindet  nun  mit 
reicher  Abwechselung  zugleich  das  Verdienst  übersichtlicher  Klarheit. 

Die  Art  der  Ausfuhrung  wird  im  Ganzen  der  des  homerischen 
Schildes  entsprechend  zu  denken  sein.  Einzelnes,  wie  z.  B.  die  anderen 
Fischen  nachjagenden  Delphine  im  Hafenbilde,  erinnert  an  die  Schilde- 
rung der  Wirklichkeit  in  assyrischen  Reliefs,  wo  in  ganz  entsprechender 
Weise  Taschenkrebse  Fische  fangen  (Layard  II,  pl.  12;  42;  43).  Die 
Behandlung  der  schmalen  Streifen  findet  ihre  Analogie  in  so  manchem 
Vasenbilde,  und  selbst  ein  Werk  wie  der  berühmte  Leuchter  von 
Cortona  (Mon.  d.  Inst.  III,  42)  darf  wohl  zur  Vergleichung  citirt  werden, 
insofern  als  das  von  Schlangen  umgebene  Gesicht  des  Phobos  in  der 
Mitte,  der  schmale  dasselbe  umschliessende  Kreis  von  kämpfenden 


88 


Zweites  Capitel,    Homerische  Kunst. 


Thieren,  endlich  die  Wellen  des  Meeres  mit  Delphinen  darüber, 
wenigstens  in  der  Wahl  und  Ordnung  lebhaft  an  den  Schild  erinnern. 

Ueberhaupt  darf  die  Auswahl  der  Scenen  nicht  unbeachtet  bleiben. 
Das  Thema  von  Kampf  und  Streit  und  seinem  Gegensatze,  friedlicher 
Arbeit  und  frohem  Lebensgenüsse,  gewiss  passend  gewählt  für  die 
Ausschmückung  einer  Schutzwaffe,  ist  allerdings  im  Allgemeinen 
beiden  Schilden  gemeinsam.  Wie  aber  der  zweite  in  der  Gliederung 
des  Raumes  nach  grösserer  Abwechselung  strebt,  so  zeigt  sich  die 
gleiche  Tendenz  auch  hinsichtlich  des  Inhalts.  Von  der  Entwicklung 
der  Sagenpoesie  konnte  auch  die  Kunst  nicht  unberührt  bleiben;  und 
wenn  der  Künstler  des  ersten  Schildes  den  Gegensatz  von  Krieg  und 
Frieden  in  dem  Bilde  der  beiden  Städte  darzustellen  sich  begnügt,  so 
glaubt  der  Künstler  des  zweiten  denselben  Gedanken  ausser  in  der 
allgemeinen  Fassung  auch  noch  in  dem  poetischen  Reflexe  der  Sage, 
durch  den  Kampf  der  Lapithen  und  Kentauren  und  den  friedlichen 
Chor  der  Musen  wiederholen  zu  müssen.  Auf  ähnlicher  Anschauung 
beruht  es,  wenn  er  in  den  schmäleren  Kreisen  dem  Wettlaufen  zu  Fuss 
das  mythologische  Bild  des  Perseus  substituirt,  und  endlich  wenn  das 
etwas  zu  universelle  Mittelbild  des  homerischen  Schildes  durch  ein 
sprechendes  Symbol  von  Krieg  und  Streit,  das  Gesicht  des  Phobos, 
ersetzt  wird. 

So  tritt  die  Sage,  wenn  auch  zunächst  in  beschränkter  Weise, 
in  den  Kreis  der  Darstellungen,  Es  sind  noch  wenige  altberühmte, 
auch  sonst  in  der  älteren  Kunst  hochgefeierte  Mythen,  unter  denen 
wohl  nicht  zufäUig  der  später  so  vielfach  ausgebeutete  Sagenstoff  des 
troischen  Krieges  noch  unberücksichtigt  bleibt.  Es  mag  sogar  fast 
auffälhg  erscheinen,  die  Darstellungen  des  Menschenlebens  im  All- 
gemeinen mit  Bildern  aus  der  Sage  so  wie  hier  gemischt  zu  finden. 
Aber  eben  darin  liegt  die  specifische  Bedeutung  des  hesiodischen 
Schildes.  Denn  gerade  diese  scheinbare  Anomalie  bildet  das  noth- 
wendige  Uebergangsstadium,  durch  welches  wir  von  dem  homerischen 
Schilde  zu  der  Bilderfülle  eines  Werkes  wie  des  Kypseloskastens  über- 
geleitet werden,  der  indessen  einer  späteren  Betrachtung  vorbehalten 
bleiben  muss. 

Zum  Schluss  mag  hier  noch  kurz  angedeutet  werden,  dass  nach 
dem  Vorbilde  Homers  auch  die  kyklischen  Dichter  die  Hinweisung  , 
auf  künstlerische  Arbeiten  gern  als  einen  Schmuck  der  Dichtung  ver- 
werthet  zu  haben  scheinen  (S  Q  220 — 23).    So  lassen  sich  die  gold- 
farbigen Fische,  die  im  AVasser  spielen,  von  denen  in  einigen  Versen 


Der  hesiodische  Schild. 


89 


der  Titanomachie  die  Rede  ist,  sehr  wohl  als  Teil  einer  Schild- 
beschreibung fassen.  Ein  goldener  Weinstock,  ein  Werk  des  Hephae- 
stos,  welchen  Zeus  dem  Laomedon  als  Entgelt  für  den  Raub  des 
Ganymedes  schenkte,  wird  in  der  kleinen  Ilias  erwähnt.  In  der  Tele- 
gonie  schenkt  Polyxenos  dem  Odysseus  einen  Krater,  auf  dem  die 
Geschichte  des  Trophonios,  Agamedes  und  Augeas  dargestellt  war. 
Fraglicher  erscheint,  ob  auch  eine  Nachricht  aus  den  Kyprien  hierher 
zu  ziehen  ist.  In  dieser  erzählte  Nestor  in  episodischer  Weise  jtaQExßdoei) 
dem  Menelaos,  wie  die  Stadt  des  Epopeus,  der  des  Lykurgos  Tochter 
verführt  hatte,  zerstört  wurde,  ferner  die  Geschichten  von  Oedipus, 
vom  Wahnsinn  des  Herakles  und  von  Theseus  und  Ariadne.  Hier 
möchte  Welcker  (Ep.  Cycl.  II,  98)  annehmen ,  dass  diese  Sagen  an 
einem  Kunstwerke,  etwa  einem  Krater,  dargestellt  gewesen  seien,  und 
dass  Nestor  diese  Bildwerke  nur  benutze,  um  Menelaos  über  den  Raub 
der  Helena  zu  trösten  und  durch  den  Vergleich  verwandter  Schicksals- 
wendungen auf  die  Hofifnuug  gerechter  Vergeltung  hinzuweisen. 
Allein,  wäre  das  Letztere  wirklich  der  Fall,  so  würde  gerade  darin 
der  Beweis  liegen,  dass  der  Dichter  nicht  ein  wirkliches  Kunstwerk 
beschreibe.  Nur  zu  deutlich  würden  wir  empfinden,  dass  die  ver- 
schiedenen Sagen  nicht  von  einem  Künstler  unter  einem  künstlerischen 
Gesichtspunkte,  sondern  von  dem  Dichter  für  die  besonderen  Zwecke 
seiner  Dichtung  ausgewählt  wären.  Das  Umgekehrte  gilt  von  Homer 
und  Hesiod ;  indem  bei  ihnen  die  beschriebenen  Bildwerke  in  keiner 
bestimmten  Beziehung  zu  dem  Inhalte  der  epischen  Erzählung  stehen, 
wohl  aber  in  sich  selbst  eine  von  derselben  losgelöste  künstlerische 
Einheit  bilden,  befestigt  sich  bei  uns  nur  immer  mehr  die  Ueber- 
zeugung,  dass  wir  es  mit  der  Schilderung  einst  wirklich  existierender 
Bildwerke  zu  thun  haben. 


D  ritte  s  Capitel. 

Die  Stellung  des  hellenischen  Geistes  gegenüber  fremden 

Einflüssen. 

Die  Poesien  Homers  gewähren  ein  lebendiges  Bild  der  Kunst- 
zustände der  Zeit  des  Dichters,  immer  aber  doch  mehr  ein  Bild  für 
die  Phantasie,  als  für  die  lebendige  Anschauung;  denn  selbst  bei  den 
zur  Vergleichung  herangezogenen  Denkmälern  fremder  Länder  musste 
die  gebotene  Anschauung  gewissermaassen  in  eine  andere  Sprache 
übersetzt  werden.  Es  frägt  -sich  aber,  ob  sich  nicht  Mittel  bieten,  die 
sich  für  ein  Bild  der  homerischen  Zeit  in  ähnlichem  Umfange  ver- 
werthen  liessen,  wie  die  Gruppe  der  mykenischen  Funde  für  eine  noch 
ältere  Culturperiode. 

Die  Zeusgrotte  auf  dem  Ida.  Bei  einem  Umblicke  lenkt  sich 
unser  Auge  zunächst  nach  der  Stelle,  wo  zufolge  der  Sage  das  Zeus- 
kind von  Nymphen  gepflegt  und  von  den  Kureten  beschützt  wurde, 
nach  der  Grotte  auf  dem  kretischen  Ida,  die,  ein  Sitz  seiner  Verehrung, 
schon  in  alter  Zeit  mit  AVeihgeschenken  verschiedener  Art  geschmückt 
wurde.  Ein  Teil  derselben  hat  sich  unter  dem  Schutt  erhalten  und 
ist  in  den  letzten  Jahren  ans  Licht  gezogen  worden :  Halbherr  ed  Orsi, 
antichitä  delF  antro  di  Zeus  Ideo  in  Greta  1888  (bei  Comparetti:  Museo 
di  antichitä  classica  IT).  Für  uns  kommen  hier  zunächst  verschiedene 
Schilde  und  Schalen  aus  getriebenem  Bronzeblech  in  Betracht.  Unter 
ihnen  finden  sich  zwei  (t.  VI),  welche  im  Innern  um  das  mit  leichten 
concentrischen  Ornamenten  geschmückte  Mittelfeld  herum  einen  Streifen 
von  Figuren  in  Flachrelief  zeigen:  Sphinxe  und  Apisstiere  in  regel- 
mässiger Abwechslung  auf  der  einen,  Sphinxe,  Uräusschlangen  und 
Scarabäen  auf  der  andern.  Darstellung  und  Styl  scheinen  beim  ersten 
Anblick  ägyptisch,  erweisen  sich  aber  als  nachgeahmt  und  mit  fremden. 


Zeusgrotte  auf  dem  Ida. 


asiatischen  Elementen  gemischt.    Einen  entgegengesetzten  Eindruck 
macht  das  Relief  eines  Schildes  (t.  I)  (Abb.  63):  eine  herkulische  bärtige 
Gestalt  mit  enganliegender  kurzer 
Gewandung  setzt  weit  ausschreitend 
den  linken  Fuss  auf  den  Nacken 

eines  laufenden  Stiers  und  schwingt  ,      .  ,  ^ 

mit  beiden  erhobenen  Armen  einen  ■         <  v  v       f  \ 

an  den  Beinen   gepackten   Löwen      ff^%....  ^     -     ^  \ 

über  seinem  Haupte.  Zu  jeder  Seite 
steht,  etwas  weniger  gross,  ein  bär- 
tiger viergeflügelter  Dämon,  je  auf 
zwei  im  Felde  vertheilte  Tambourins 
schlagend.  Der  erste  Eindruck  ist 
der  eines  assyrischen  Werkes;  und 
doch  ist  auch  hier  nicht  nur  die  ,  (  'y^ 

Ausführung  eine  weit  laxere,  weit  /:  

weniger  streng  stylisirte,   sondern  63.  Bronzeschiid  aus  Kreta, 

auch  die  Bewegung  der  Hauptfigur, 

wie  die  des  Stiers,   ist  eine  weit  bewegtere,   lebendigere  und  ener- 
gischere.   Einen  orientalisirenden  Charakter  tragen  auch  die  übrigen 
Stücke.    An  den  Schilden  tritt  in  der  Mitte  als  stark  erhabener  Buckel 
meist  ein  Eöwenkopf  in  getriebener  Arbeit  hervor,  um  den  sich  zu- 
nächst  ein  grösseres 
rundes  Feld  legt.  Nur 
einmal  (t.  IV)  (Abb.  64) 
.  ,      ,  tritt  an  seine  Stelle  der 

'<     ,  (fast    ganz  zerstörte) 

,  -  .  Kopf  eines  gewaltigen 

Vogels ,  wohl  eines 
Adlers,  der  von  oben 
nach  unten  schwebend 
mit  seinem  Körper  und 
seinen  nach  rechts  und 
nach  links  ausgebrei- 
teten Flügeln  sich  über 
das  gesammte  Rund 
ausspannt,  das  auf  dem 
von  concentrischen 
Bronzeschild  aus  Kreta.  Omamentstrclfen  um- 


92 


Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


Bronzeschild  aus  Kreta. 


gebenen  Mittelfelde,  so  weit  es  unbedeckt  bleibt,  mit  einer  Sphinx, 
Schlangen  und  einigen  anderen  Thieren  in  Relief  geschmückt  ist.  Bei 

anderen  finden  wir  auf  dem  den 
Löwenkopf  umgebenden  Felde 
gleichfalls  Sphinxe,  Löwen,  die 
geflügelte  Sonnenscheibe  u.  A., 
auch  menschliche  Gestalten,  ein- 
mal (t.  II)  die  nackte  Astartege- 
stalt (Abb.  65).  Nach  aussen  zu 
wechseln  nicht  nur  glatte  und 
ornamentirte  Streifen,  sondern 
treten  auch  schon  Friese  von 
Thieren  auf:  Löwen,  Rinder, 
Pferde,  Rehe,  Hirsche,  Böcke, 
die  besonders  auf  den  Schalen, 
wo  der  Schildbuckel  durch  ein 
Flachornament  ersetzt  wird,  in 
öfterer,  zwei-  und  dreifacher 
Wiederholung  wiederkehren.  Auf  zwei  Schalenfragmenten  (t.  IX) 
endlich  begegnen  wir  auch  Darstellungen  aus  dem  Menschenleben,  wie 
es  scheint  rituellen  Scenen,  Reigen,  Processionen  (Abb.  66).  Hinsicht- 
lich der  Anordnnng  ist  besonders  zu  bemerken,  dass  namentlich  an 
den  Schilden  auf  den  kreisförmigen  Streifen  die  lebenden  Wesen  nicht 
durchweg  radial  mit  den  Beinen  nach  dem  Mittelpunkt  gerichtet  sind, 
vielmehr  nicht  blos  in 
der  oberen,  sondern  eben- 
so in  der  unteren  Kreis- 
hälfte dem  Beschauer  in 
aufrechter  Stellung  er- 
scheinen. 

Es  braucht  hier  nicht 
im  Einzelnen  dargelegt  zu 
werden,  wie  manche  Be- 
rührungspunkte sich  in 
der  Gliederung  und  sonst 
mit  dem  homerischen 
Schilde  ergeben,  nament- 
lich wenn  wir  in  Betracht  ziehen,  dass  wir  es  hier  mit  im  Einzelnen 
keineswegs  hochwerthigen  Weihgeschenken  zu  thun  haben,  während  es 


66.    Bronzefragment  aus  Kreta. 


Zeusgrotte  auf  dem  Ida.  —  Regulini-Galassi'sches  Grab  in  Caere. 


93 


sich  beim  homerischen  Schilde  um  ein  Prunkstück  handelt,  wie  es  gewiss 
nur  ausnahmsweise  mit  allem  Aufwände  der  zu  Gebote  stehenden  künst- 
lerischen Mittel,  etwa  als  kostbares  Geschenk  eines  Königs,  ausgeführt 
wurde.  Die  Bedeutung  solcher  Vergleichungen  aber  wächst,  wenn  wir 
bedenken,  dass  die  Arbeiten  aus  der  Zeusgrotte  nach  ungefähren  Zeit- 
bestimmungen, welche  sich  aus  der  Vergleichung  mit  assyrischen  Funden 
ergeben,  von  der  homerischen  Schildbeschreibung  sich  nicht  allzuweit 
entfernen,  sondern  nur  als  etwa  ein  bis  zwei  Jahrhunderte  jünger  betrachtet 
werden  dürfen.  Und  doch  nicht  minder  gross  als  die  Aehnlichkeiten 
empfinden  wir  die  Verschiedenheiten  dieser  Arbeiten:  sie  berühren  uns 
fremdartig  und,  obwohl  an  der  Wiege  des  höchsten  hellenischen  Gottes 
gefunden,  können  sie  doch  keineswegs  als  die  Erzeugnisse  einer  ein- 
heimischen Kunst  betrachtet  werden.  Leicht  beantwortet  sich  der 
eine  Theil  der  Frage,  woher  sie  stammen:  nach  Allem,  was  wir  über 
die  Culturzustände  jener  Zeit  wissen,  kann  es  keinem  Zweifel  unter- 
worfen sein,  dass  sie  durch  den  Handelsverkehr  der  Phönicier  nach 
Kreta  gelangten.  Aber  es  ist  nur  ein  Gebot  der  Vorsicht,  wenn  wir 
die  Frage,  ob  wir  in  diesem  Gemisch  von  ägyptischen,  assyrischen  und 
einem  dritten  Elemente  das  Product  eines  specifisch  phönicischen 
Geistes,  einer  specifisch  phönicischen  Kunst  anerkennen  sollen,  nicht 
ohne  Weiteres  bejahen.  Jedenfalls  erscheint  es  rathsam,  dass  wir  Um- 
schau halten,  ob  sich  nicht  die  Mittel  bieten,  für  unsere  Beurtheilung 
einen  weiteren,  umfassenderen  Standpunkt  zu  gewinnen. 

Das  Regulini-Galassi'sche  Grab  in  Caere.  Schon  früher 
begegneten  wir  der  Thatsache,  dass  in  der  ältesten  Zeit  Griechenland 
und  Italien  in  den  sogenannten  pelasgischen  Bauten  noch  das  Bild 
einer  einheitlichen  Cultur  darboten.  Es  darf  aber  schon  hier  der 
weitere  Satz  ausgesprochen  werden,  dass,  wie  der  vollen  Herrschaft 
specifisch  hellenischen  Geistes  in  der  Kunst  der  bei  Homer  geschilderte 
Zustand  in  bestimmter  Scheidung  gegenübertritt,  ebenso  das  echte 
Etruskerthum  in  der  Kunst  seinen  Vorläufer  in  gewissen  Verhältnissen 
hat,  die  ihre  Analogie  vielmehr  bei  Homer,  als  in  Italien  selbst  finden. 
Es  ist  dadurch  gerechtfertigt,  ohne  Rücksicht  auf  den  historischen 
Schematismus  der  späteren  Darstellung  der  etruskischen  Kunst  vor- 
zugreifen und  hier  von  den  ältesten  Denkmälern  dieses  Landes  das- 
jenige heranzuziehen,  was  zur  Veranschaulichung  der  homerischen 
Zustände  nicht  durch  Anderes  ersetzt  werden  kann. 

Unter  allen  Gräbern  von  Caere  zeichnet  sich   das  nach  seinen 


94 


Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


Entdeckern  sogenannte  Regulini- Galassi'sche  anerkannter  Maassen 
durch  hochaltertümlichen  Charakter  aus.  Die  Form  ist  die  eines  runden 
Tumulus  mit  regulärer  Steinumkränzung  an  der  Basis.  In  das  Innere 
ist  ein  in  der  Mitte  getheilter  und  in  der  hinteren 
Hälfte  etwas  schmalerer  Gang  hineingetrieben,  dem 
sich  zur  Seite  zwei  fast  runde  Räume  anschliessen. 
Die  Wände  des  Hauptganges  sind  in  annähernd 
quadratischer  Schichtung  aufgeführt;  die  Ueber- 
deckung  nach  Art  der  alten  Thore  durch  Vorkragung 
der  oberen  Steinlagen,  wenn  auch  nicht  bis  zum 
Zusammentreffen  in  einer  Spitze  hergestellt.  Dieser 
alten  Construction  entspricht  durchaus  der  bewegliche 
Inhalt  des  Grabes,  der,  völlig  intact  erhalten,  jetzt 
einen  Hauptbestandtheil  des  etruscischen  Museums 
im  Vatican  bildet  (Mus,  Gregor.  I,  ii;  15 — 20; 
62 — 67;  75 — 77;  82 — 85;  107.  Uebersichtlicher  bei 
Grifi,  Mon.  di  Cere  antica).  Von  einer  Reihe  kleiner 
Idole  aus  schwarzem  Thon  und  einigen  unbedeutenden 
irdenen  Gefässen  abgesehen  herrscht  als  Material, 
67.  Bronzegefäss  aus  Caere,  wie  iu  dcr  homerischcn  Zeit,  durchaus  das  Metall 
vor.  Aus  Bronze  sind  mehrere,  zum  Theil  auf 
eisernen  Dreifüssen  aufgestellte  Kessel,  eine  Reihe  von  Schalen,  ein 
hohes  candelaberartiges  Gefäss  oder  Thymiaterion  (Abb.  67),  eine  Weih- 
rauchpfanne auf  Rädern,  Bratspiesse,  ferner  einzelne  Stücke  eines 
Wagens,  eine  bettartige  aus  Metallstreifen  gebildete  Bahre,  endlich 
Pfeile  und  Schilde  (Abb.  68).  Golden  war  der  Schmuck  der  am  Ende 
des  Ganges  aufgestellten  Leiche :  ein  reicher  Haarputz,  ein  grosses 
herzförmiges  Brustschild,  Arm-  und  Halsbänder  mit  Kettchen  und 
einigen  amuletartig  gefassten  Stückchen  Bernstein,  Spangen ;  selbst  das 
Gewand  war  mit  dünnem  Gold  überzogen  und  besetzt.  Eine  dritte 
Gruppe  bildet  eine  Reihe  kleinerer  Gefässe  und  Schalen  aus  theilweise 
vergoldetem  Silber  mit  Figurenschmuck  in  Relief.  Ihrem  künstlerischen 
Charakter  nach  sind  alle  diese  Gegenstände  nicht  nur  höchst  alter- 
thümlich,  sondern  es  zeigt  sich  an  ihnen  gerade  wie  bei  Homer  ein 
eigenthümliches  Schwanken  verschiedener  Einflüsse  und  Styl gattun gen. 
Die  kleinen  Idole,  theilweise  mit  dünnem  Blattgold  überzogen,  sind 
äusserst  roh  und  styllos,  so  dass  bei  ihnen  von  einem  Einflüsse  fremder 
Kunst  nicht  w^ohl  die  Rede  sein  kann.  Die  Bronzen  sind  sämmthch 
Sphyrelata,  d.  h.  mit  dem  Hammer  getrieben,  sogar   die  an  einigen 


Regulini-Galassi'sches  Grab  in  Caere. 


95 


Kesseln  henkelartig  weit  hervortretenden  rund  gearbeiteten  Löwen- 
köpfe; manches,  wie  z.B.  die  Schilde,  so  dünn,  dass  sie  nicht  zu  wirk- 
lichem Gebrauche,  sondern  nur  als  Grabesschmuck  gearbeitet  sein  können. 
In  der  Ornamentirung  finden  sich  ausser  der  gedrehten  Schnur  als 
Elemente  aus  der  Pflanzenwelt  die  orientaHsche  Palmette  und  lotusartige 
Blüthe,  sodann  aber  aus  dem  Thierreiche  die  ebenfalls  orientalisirenden 
Löwen,  Stiere,  Greife  und  Sphinxe,  theils  geflügelt,  theils  ungeflügelt, 
ganz  vereinzelt  auch  eine  einfach  bekleidete  menschliche  Figur.  In  der 
stylistischen  Ausführung  sind  sie  allerdings  von  dem  directen  Zusammen- 
hange mit  orientalischen  Vorbildern  bereits  losgelöst,  aber  immer  noch 
in  einem  von  dort  abgeleiteten  durchaus  ornamentalen  Schematismus 
behandelt.  Nur  in  den  Schilden  tritt  neben  flüchtig  behandelten 
Reihen  von  Thieren  und  Blüthen  das  lineare  Element  des  geometrischen 
Vasenstyls  hervor,  jedoch  mit  dem  Unterschiede,  dass  es  in  seinen 
Schachbrett-,  schuppenartigen  und  Zickzackeintheilungen  schon  bestimmt 
einem  regelmässigen  architek- 
tonischen Gesetz  unterge- 
ordnet ist.  Ganz  wie  in  den 
Schilden  bei  Homer  und 
Hesiod  herrscht  hier  die 
Einteilung  in  concentrische 
Kreise,  in  welchen  radiale 
und  peripherische  Linien  in 
mannigfaltigem  Wechsel  mit 
einander  verbunden  sind.  — 
Auch  das  Gold  ist  als  getrie- 
benes Metall,  theils  als  Blech, 
theils  geradezu  als  Blatt- 
gold verarbeitet.  Die  silbernen 
Gewänder  Homers  finden 
hier  ihre  vollständigste  Pa- 
rallele. Denn  das  Gewand 
der  Toten  war  ganz  mit 
feinem  Golde  überzogen  und  an  den  Säumen  mit  etwas  solideren 
Ornamentstreifen  besetzt.  Letztere  aber,  allerlei  Mäander  und  Kreise, 
sind  ebenso  wie  die  vielen  kleinen,  von  zahllosen  Figuren  bedeckten 
Streifen  des  Brustschildes,  einige  Armbänder  und  Anderes,  offenbar 
mit  Hülfe  von  Stempeln  in  das  dünne  Metall  gepresst ;  ja  selbst 
mehrere  Reihen  kleiner  Vögel,  die  in  runder  Arbeit  auf  den  Kopf- 


96 


Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


schmuck  aufgesetzt  sind,  scheinen  aus  zwei  Stücken  gepressten  Gold- 
blechs zusammengesetzt  zu  sein.  Ausserdem  finden  sich  an  ver- 
schiedenen Stücken  die  Ornamente  theils  gravirt,  theils  aus  feinen  Gold- 
körnchen auf  den  glatten  Grund  in  höchst  sauberer  Technik  aufgesetzt 
und  gelötet.  Merkwürdiger  Weise  zeigen  nun  gerade  diese  Ornamente 
das  System  von  linearen  Zusammenstellungen  und  Mustern  des  geo- 
metrischen Styls  und  treten  dadurch,  einige  Male  sogar  an  einem  und 
demselben  Schmuckgegenstande,  in  einen  bestimmten  Gegensatz  zu 
dem  orientalisirenden  Charakter,  der  im  Uebrigen  hier  wie  an  den 

Bronzen  vorherrscht  Denn 
auch  hier  finden  sich  wieder 
Löwen,  Chimären,  Böcke, 
Hirsche,  Greife,  Menschen- 
gestalten mit  zwei  und  vier 
Flügeln ,    endlich  Männer 

zwischen  anspringenden 
Löwen  oder  im  Kampfe  mit 
ihnen.  Im  Styl  unterscheiden 
sich  diese  gepressten  Ar- 
beiten durch  eine  grosse 
Weichlichkeit,  die  sich  nur 
aus  einer  Abschwächung 
durch  langen ,  routinirten 
und  fabrikmässigen  Betrieb 
erklärt. 

Von   w^esentlich  ver- 
69.  Silberschale  aus  Caere.  schicdcnem  Charakter  sind 

die  mit  Reliefs  gezierten 
Silbergefässe,  die  unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  die  schla- 
gendsten Analogieen  mit  den  Schilden  bei  Homer  und  Hesiod  darbieten. 
Grosse  Uebereinstimmung  findet  sich  namentlich  bei  den  flachen 
Schalen  in  der  Zoneneintheilung  (Abb.  69).  Wenn  diese  bei  den  Schilden 
durch  die  Anwendung  verschiedener  Metalle  den  Eindruck  grösserer 
Mannigfaltigkeit  dargeboten  haben  mag,  so  ist  doch  auch  hier  durch 
theilweise  Vergoldung  eine  gewisse  Abwechslung  erreicht.  Wir  sehen 
daraus  zugleich,  wie  innerhalb  derselben  Zone  auf  diesem  Wege  ein 
Wechsel  des  Farbentones  ermöglicht  war,  wobei  noch  bemerkt  werden 
mag,  dass  anderwärts  anstatt  eigentlicher  Vergoldung  zuweilen  das 
Gold  einfach  aufgelegt  wurde  (vgl.  Millingen,  anc.  uned.  mon.  II,  pl.  14), 


Regulini-Galassi'sches  Grab  in  Caere. 


97 


und  dass  auch  dieser  alten  Zeit  die  Anwendung  des  Email  z.  B.  für 
die  Augen  nicht  fremd  war.  — •  Nicht  minder  lehrreich  ist  die  Ver- 
gleichung  des  Inhaltes  der  Darstellungen.  Unter  vollständigem  Aus- 
schlüsse mythologischer  Bilder  finden  sich:  eine  Kuh  mit  säugendem 
Kalbe,  ein  Stier  von  Löwen  angefallen,  dann  aber  eine  Jagd  auf  Löwen 
und  Steinböcke,  Züge  von  Kriegern  zu  Fuss,  zu  Pferde,  zu  Wagen, 
begleitet  von  Vögeln,  eine  Cultus-  oder  Opferscene;  dabei  ist  auch  die 
Angabe  von  Pflanzen,  Bäumen,  von  felsigem  Terrain  nicht  aus- 
geschlossen. Alles  ist  aus  dem  relativ  starken  Metall  nur  leicht  und 
in  allgemeinen  Formen  mit  dem  Hammer  getrieben  und  die  weitere 
Ausführung  durch  gravirte  Linien  gegeben.  Wenn  wir  aber  auch  hier 
an  asiatische  Vorbilder  gemahnt  werden,  so  lässt  sich  doch  ebenso  in 
vielen  Einzelnheiten,  in  der  Zeichnung  der  Haare,  der  Gewänder,  der 
Flügel  der  Vögel  und  mancher  Pflanzen  ein  Einfluss  ägyptischer  Muster 
nicht  verkennen.  So  entsteht  ein  eigenthümlicher  Mischstyl.  In  der 
Anlage  ist  das  Schematische  eines  älteren  Vorbildes  noch  festgehalten, 
aber  in  der  Durchführung  zeigt  sich  ein  Streben  nach  Vereinfachung 
des  Details,  verbunden  mit  einem  gewissen  Schwanken,  einer  Laxheit 
in  der  Formenbezeichnung,  wie  sie  der  Entwickelung  einer  neuen 
Kunstsprache,  eines  neuen  klar  ausgeprägten  Styls  vorauszugehen 
pflegt.  Alles  bietet  demnach  hier  die  vollständigste  Parallele  zu  den 
Zuständen  der  Zeit  Homers,  in  welcher  wir  gleichfalls  eine  Mischung 
fremder  und  einheimischer  Elemente  ohne  die  Möglichkeit  scharfer 
Scheidung  im  Einzelnen  anerkennen  mussten.  Wenn  nun  auch  die 
Caeretaner  Funde  keineswegs  in  die  Zeit  Homers  selbst  hinaufgerückt 
werden  sollen  —  man  pflegt  sie  jetzt  um  die  Wende  des  VIL  bis 
VI.  Jahrh.  anzusetzen  — ,  so  giebt  es  doch  kaum  etwas  unter  den  er- 
haltenen Monumenten,  was  der  homerischen  Kunst  dem  allgemeinen 
Charakter  nach  so  nahe  stände,  wenigstens  nicht  einen  Complex  so 
verschiedenartiger  Objecte,  der  uns  eine  so  vielseitige  Anschauung 
jener  früheren  Zeit  zu  vermitteln  vermöchte.  Auch  neuere  Funde  aus 
Caere,  Clusium  und  namentlich  aus  Praeneste  (Mon.  d.  Inst.  IX,  44; 
X,  31 — 33;  39a)  haben  diese  Bedeutung  nicht  zu  schmälern  vermocht. 
Sie  erweitern  allerdings  da  und  dort  unseren  Gesichtskreis,  indem  sie 
z.  B.  mehrfach  den  Einfluss  Aegyptens  stärker  hervortreten  lassen, 
legen  aber  im  Uebrigen  nur  Zeugnis  ab  für  die  weitere  Verbreitung 
dieser  besonderen  Gattung  von  Kunstproducten. 

Die  bisherigen  Resultate  lassen  sich  aber  noch  unter  einem  anderen 
Gesichtspunkte  weiter   begründen.    Von  dem  Inhalte  des  caeretaner 

7 


98 


Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


Grabes  trägt  eigentlich  nichts  ein  ausgesprochenes  etruscisches  Ge- 
präge, womit  nicht  gesagt  werden  soll,  dass  nicht  wenigstens  ein  Theil 
von  etruscischer  Hand  herrühre.  Aber  das  Kunsthandwerk  entwickelt 
sich  vielfach  zuerst  an  einer  Art  Fälschung:  es  unternimmt,  durch 
Nachahmung  fremder  Waare  die  fremde  Concurrenz  zu  bestehen,  oder 
auch  es  verarbeitet  das  theil  weise  vorbereitete  Material  (Halbfabricate) 
für  die  besonderen  landesüblichen  Bedürfnisse.  So  mögen  theilweise 
die  getriebenen  Bronzen,  namentlich  aber  die  mit  dem  Stempel  ge- 
pressten  Goldbleche  aus  der  Fremde  nach  Etrurien  importirt  worden 
sein  und  dort  ihre  weitere  Verwendung  gefunden  haben.  Am  wenigsten 
aber  lassen  sich  die  silbernen  Reliefgefässe  mit  allem,  was  wir  von 
etruscischer  Kunst  wissen,  in  einen  annehmbaren  inneren  Zusammen- 
hang bringen.  Da  ist  es  nun 
eine  Thatsache  von  höchster  Be- 
deutung, dass  sich  schon  seit 
längerer  Zeit  im  Louvre  ein 
Silbergefäss  befindet,  welches  mit 
denen  italischen  Fundortes  in  so 
auffallender  Weise  übereinstimmt, 
dass  es  als  aus  den  gleichen  Fa- 
briken hervorgegangen  betrachtet 
werden  muss.  Dieses  Gefäss  aber 
70.  Kyprische  Silberschale.  Stammt  aus  Kitiou  auf  Cypcm ; 

und  aus  anderen  Städten  dieser 
Insel,  aus  Amathus  (Abb.  70)  und  Kurion,  sind  durch  die  neueren 
Ausgrabungen  weitere  Beispiele  von  Schalen  durchaus  übereinstim- 
menden Charakters  bekannt  geworden  (Cesnola,  Cyprus  p.  276,  329; 
vgl.  316  u.  337).  Dorthin  waren  diese  Gefässe  gewiss  nicht  aus 
Etrurien  gebracht,  sondern,  sofern  nicht  gewichtige  Gründe  entgegen- 
stehen, werden  wir  annehmen  müssen,  dass  vielmehr  die  caeretaner 
Gefässe  aus  Cypern  stammen :  aus  Cypern,  auf  welches  es  auch  bei 
Homer  nicht  an  Hinweisungen  fehlt.  Es  ist  dadurch  geboten,  die 
Verhältnisse  dieser  Insel  etwas  schärfer  ins  Auge  zu  fassen. 

Kypros  und  die  Phönicier.  Kypros  nimmt  durch  seine 
Lage  in  dem  Völkerverkehr  der  alten  Welt  eine  Stellung  ein,  deren 
hervorragende  Bedeutung  erst  in  neuester  Zeit  durch  umfangreiche 
Entdeckungen  in  ein  helleres  Licht  zu  treten  anfängt.  In  dem 
Winkel  zwischen  dem  Süden  Kleinasiens  und  der  syro-phönikischen 


Kypros  und  die  Phönicier. 


99 


Küste  gelegen,  ist  es  die  dem  eigentlichen  Asien  am  nächsten  zuge- 
wandte Insel,  und  beherrscht  von  der  Seeseite  nicht  nur  die  genannten 
Länder,  sondern,  wenn  auch  in  geringerem  Grade,  die  Mündungen 
des  Nils  und  Aegypten,  während  es  in  der  vierten  Richtung  auf 
die  Vermittlung  des  Verkehrs  mit  Griechenland  und  dem  ferneren 
Westen  hingewiesen  ist.  Bei  einer  Grösse  von  300 — 400  Ouadrat- 
meilen  zu  gross,  um,  wie  später  Rhodos,  als  neutrales  Gebiet  oder 
Freihafen  Duldung  zu  finden,  und  nicht  gross  genug,  um  in  grossen 
Völkerconflicten  auf  die  Dauer  eine  selbständige  beherrschende 
Stellung  einzunehmen,  mussten  sich  dort  bei  Entwicklung  lebendigeren 
Seeverkehrs  die  Völkerströmungen  in  der  verschiedenartigsten  Weise 
kreuzen.  Ueber  die  ältesten  Bewohner  fehlen  uns  sichere  Nachrichten ; 
es  mögen  den  Griechen  halb  verwandte ,  halbbarbarische  Stämme, 
Phrygier,  Karier,  Cilicier  gewesen  sein.  Natürlich  mussten  schon 
in  sehr  früher  Zeit  die  Phönicier  auf  dem  gewissermaassen  vor  ihrer 
eigenen  Thüre  gelegenen  Eiland  festen  Fuss  zu  fassen  suchen.  Doch 
lag  wohl  in  ihrem  Sinne  weniger  eine  eigentliche  Colonisation  des 
Landes,  als  die  Gründung  von  Handelsfactoreien  und  die  Gewinnung 
einer  Oberhoheit,  welche  eine  Ausbeutung  der  reichen  Schätze  des 
Bodens  für  Handel  und  Industrie  gestatteten.  Mögen  sodann  die 
vSagen,  welche  sich  an  das  Ende  des  troianischen  Krieges  knüpfen, 
im  Einzelnen  nur  geringen  historischen  Werth  haben,  so  ist  doch  ge- 
wiss, dass  von  den  Wanderungen  griechischer  Stämme  nach  Asien 
in  der  Zeit,  in  welcher  das  eigentliche  Hellenenthum  sich  schärfer 
auszuprägen  begann,  auch  Cypern  nicht  am  wenigsten  berührt  und 
dass  namentlich  der  nördliche  Teil  der  Insel  von  hellenischen  Colonien 
besetzt  wurde.  Als  ferner  die  assyrische  Macht  im  neunten  Jahr- 
hundert bis  zu  den  Küsten  des  Mittelmeeres  vordrang  und  noch  später 
die  verschiedenen  asiatischen  Reiche  und  Aegypten  mit  wechselndem 
Erfolge  um  die  Herrschaft  an  den  Grenzen  Asiens  und  Africa's  rangen, 
musste  wiederum  Cypern  stark  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden ; 
und  Aehnliches  wiederholte  sich  auch  noch  später  unter  veränderten 
Verhältnissen  in  den  Kämpfen  der  Hellenen  mit  dem  Perserreiche. 

Alle  diese  wechselnden  Strömungen  haben  ihre  deutlichen  Spuren 
in  den  Erzeugnissen  der  Kunst  und  des  Handwerkes  hinterlassen, 
welche  durch  die  Ausgrabungen  der  letzten  Jahrzehnte  in  reicher  Fülle 
an  das  Tageslicht  gezogen  worden  sind;  und  Vieles  mag*  hier  noch 
im  Einzelnen  eines  eingehenden  Studiums  bedürfen.  Aber  auch  eine 
flüchtige  Betrachtung  gestattet  schon,  gewisse  Hauptgesichtspunkte 

7* 


lOO  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


deutlich  zu  unterscheiden.  Es  fehlt  nicht  an  einer  einheimischen  Kunst, 
die  in  ihrem  weiteren  Verlaufe  sich  allerdings  der  griechischen  stark 
annähert,  aber  doch  stets  als  eine  halbbarbarische  Mischung  erscheint. 
Daneben  stellen  sich  schon  in  relativ  früher  Zeit  griechische  Erzeug- 
nisse, die  sich  kaum  von  denen  anderer  griechischer  Schulen  unter- 
scheiden lassen.  Andere  Arbeiten  dagegen  lassen  in  der  unzweifel- 
haftesten Weise  den  Einfluss  Assyriens,  wieder  andere  eben  so  ent- 
schieden den  Einfluss  Aegyptens  erkennen.  Unter  ihnen  mögen  ein- 
zelne Stücke  ächt  assyrischen  oder  ägyptischen  Ursprungs  sein.  Der 
Mehrzahl  nach  jedoch  wollen  sie  zwar  assyrisch  oder  ägyptisch  sein, 
sind  es  aber  nicht.  Die  Nachahmung  beschränkt  sich  auf  das  Aeusser- 
liche  der  Erscheinung,  aber  im  Innern  Kern  wirkt  ein  anderer  Geist. 
Dieser  auffälligen  Erscheinung  gegenüber  drängt  sich  die  Frage  auf, 
welchen  Händen  diese  pseudoasiatischen  und  -ägyptischen  Arbeiten 
ihren  Ursprung  verdanken  mögen. 

Der  erste  Gedanke  wird  sich  auf  die  Phönikier  richten,  in  deren 
Händen  damals  trotz  mancher  kriegerischer  Bedrängnis  noch  vorzugs- 
weise der  Handelsverkehr  ruhte.  Und  ihnen  hat  man  in  der  That 
diese  Arbeiten  zuweisen  wollen,  mit  der  weiteren  Einschränkung,  dass 
die  in  Italien  gefundenen  Stücke  nicht  eigentlich  phönikischen,  sondern 
karthagischen  Werkstätten  zuzuschreiben  sein  möchten.  Diese  letztere 
Beschränkung  aber  verwickelt  uns  sofort  in  eine  neue  Schwierigkeit: 
dass  wir  nämlich  die  Gesammtmassen  der  gleichartigen  Funde  in 
zwei  getrennte,  eine  phönikische  und  eine  karthagische  Gruppe  sondern 
müssten;  denn  schwerlich  werden  wir  geheigt  sein  anzunehmen,  dass 
die  in  Cypern  gefundenen  Stücke  dorthin  von  Karthago  aus  gelangt 
seien,  während  umgekehrt  nichts  der  Annahme  entgegensteht,  dass 
cyprische  Producte  durch  Vermittlung  karthagischen  Handels  sehr 
wohl  nach  Etrurien  gelangen  konnten.  Gegen  diese  Anschauung 
vermag  auch  eine  phönikisch-„karthagische"  Inschrift  auf  einer  in 
Praeneste  gefundenen  Silberschale  (Mon.  d.  Inst.  X,  32)  nichts  zu 
beweisen.  Denn  da  dieselbe  nicht  in  nothwendiger  Verbindung  mit 
dem  Bilderschmuck  steht,  und  daher  sehr  wohl  nachträglich  auf  die 
fertige  Arbeit  gesetzt  sein  konnte,  so  wird  dadurch  die  Schale  selbst 
so  wenig  zu  einer  karthagischen,  wie  etwa  ein  griechisches  Werk 
durch  Hinzufügung  einer  etruscischen  Inschrift  zu  einem  etruscischen. 
Eben  so  wenig  dürften  einige  Affen  auf  einer  anderen  pränestischen 
Schale  (vgl.  Ann.  d.  Inst.  1876,  p.  227)  ein  vollgiltiges  Zeugnis  für 
karthagische  Fabrication  ablegen.    Denn  wenn  dieselben  nach  einigen 


Kypros  und  die  Phönicier. 


lOI 


wesentlichen,  aber  keineswegs  allen  Merkmalen  einer  Race  angehören 
sollen,  die  nicht  etwa  in  Karthago,  sondern  an  der  Westküste  Africa's, 
in  Guinea,  heimisch  ist,  so  konnten  eben  so  gut  wie  die  Karthager 
auch  die  Phönikier  auf  ihren  weiten  Seefahrten  von  denselben  Kunde 
erlangt  haben. 

Alles  kommt  vielmehr  darauf  an,  wie  sich  der  künstlerische 
Charakter  dieser  Arbeiten  zu  dem  Gesammtbilde  verhält,  welches  uns 
die  Cultur  und  Stellung  der  Phönikier  überhaupt  darbietet. 

Phönicien  war  nie  eine  politische  Macht  in  dem  Sinne,  wie 
etwa  die  ägyptischen  und  mesopotamischen  Reiche,  schon  darum  nicht, 
weil  es  kein  einheitliches  Staatswesen  bildete.  Wir  wissen  sogar,  dass 
es  in  den  Jahrhunderten,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  theilweise  der 
vollen  politischen  Unabhängigkeit  entbehrte  und  vielmehr  zufrieden 
sein  musste,  durch  Tributleistungen  sich  seine  Freiheit  im  Handels- 
und Verkehrsleben  zu  wahren.  In  erster  Linie  waren  und  blieben  die 
Phönicier  ein  Handelsvolk;  und  die  Kräfte  der  an  sich  keineswegs 
sehr  zahlreichen  Bevölkerung  waren  gewiss  zu  einem  nicht  geringen 
Theile  durch  die  Schifffahrt  nach  entfernten  Meeren  und  die  Thätigkeit 
in  den  überall  gegründeten  Handelsfactoreien  in  Anspruch  genommen. 
Als  Kaufleute  aber  begnügten  sie  sich  keineswegs,  die  eigenen 
Producte  auf  den  Markt  zu  bringen,  sondern  mussten  noch  weit  mehr 
bestrebt  sein,  den  Austausch  der  an  einem  Orte  überschüssigen,  an 
dem  andern  mangelnden  Erzeugnisse  zwischen  den  verschiedenen 
Völkern  zu  vermitteln.  In  einer  solchen  Stellung  muss  der  Kaufmann 
bemüht  sein,  allen  in  dieser  Richtung  an  ihn  gestellten  Forderungen 
zu  genügen,  und  um  sich  eine  ausgedehnte  Kundschaft  zu  bewahren, 
muss  sein  Streben  darauf  gerichtet  sein,  sich  in  der  Beschaffung  der 
Waaren,  die  nicht  einfach  Naturproduct,  sondern  durch  menschliche 
Arbeit  herzustellen  sind,  von  fremden  Producenten  unabhängig  zu 
machen.  Er  wird  mit  denselben  in  Concurrenz  treten,  aber  keineswegs 
die  dazu  nöthige  Arbeit  immer  selbst,  mit  eigener  Hand  verrichten, 
sondern  in  eigenen  Fabriken  unter  seiner  Leitung  verrichten  lassen. 
Denken  wir  nur,  wenn  auch  der  Vergleich  nur  theilweise  berechtigt 
sein  mag,  an  die  nächsten  Stammverwandten  der  Phönicier,  die  Juden, 
und  ihre  Stellung  noch  in  der  heutigen  Handelswelt:  wir  werden  sie 
vielfach  als  Fabrikherren,  aber  nur  in  verschwindender  Zahl  als  Fabrik- 
arbeiter finden. 

Ein  solcher  Fabrikbetrieb,  so  sehr  er  materiell  gedeihen  mag, 
braucht  deshalb  noch  keineswegs  zu  einer  kunstgewerblichen  Blüthe, 


I02  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


zur  Entwicklung  eines  eigenthümlichen,  durch  dieselbe  hervorgerufenen 
Kunststyls  zu  führen.  Wo  wir  einen  solchen  finden,  an  der  Grenze 
des  Mittelalters  in  Italien  und  in  Deutschland,  später  in  Frankreich, 
beruht  derselbe  auf  wesentlich  verschiedenen  Voraussetzungen :  auf  der 
Blüthe  des  Städtewesens  und  dem  durch  diese  hervorgerufenen  Wohl- 
stand, auf  dem  Luxus  und  der  Prachtliebe  des  Königthums.  Anders, 
wo  in  erster  Linie  der  Exporthandel  in  Betracht  kommt.  In  England 
werden  noch  heute  die  kleinen  buddhistischen  Götterbilder  für  den 
ostindischen  Hausbedarf  von  europäischem  Kunststyl  ganz  unabhängig 
fabricirt;  aber  trotz  seiner  Weltherrschaft  in  Handel  und  Fabrik- 
thätigkeit  hat  es  in  denjenigen  gewerblichen  Betriebsarten,  die  eine 
bestimmte  künstlerische  Ausdrucksweise  voraussetzen,  nie  eine  führende 
und  leitende  Rolle  zu  erringen  vermocht.  Wir  sind  daher  in  keiner 
Weise  zu  der  Annahme  genöthigt,  dass  and  en  durch  den  Handel  der 
Phönicier  verbreiteten  kunstindustriellen  Producten  nun  auch  nothw endig 
ein  phönicischer  Kunststyl  zu  Tage  treten  müsse.  Im  Gegentheil:  in 
den  älteren  Erzeugnissen,  und  zwar  je  älter  desto  mehr,  treten  auf  den 
ersten  Blick  Aegyptisches  und  Assyrisches  ganz  überwiegend  als  zwei 
Grundbestandtheile  entgegen,  mit  denen  sich  zuerst  in  schwachen  An- 
fängen, dann  in  immer  steigendem  Maasse  ein  drittes  Element  mischt. 
Aber  ist  dieses  phönicisch? 

Schon  vor  Jahren  habe  ich  bei  wenig  umfassender  Anschauung 
die  Unselbständigkeit  der  phönicischen  Kunst  mehr  behauptet  als  be- 
wiesen. Jetzt  hat  dieselbe  im  dritten  Bande  des  grossen  kunstgeschicht- 
lichen Werkes  von  Perrot,  auf  Grund  eines  wesentlich  erweiterten 
Materials  und  unter  Verwerthung  eingehender  Detailstudien  von  Heuzey, 
eine  ausführliche  und  durchaus  klare  und  verständige  Behandlung  ge- 
funden. Das  Schlusswort  (p.  621)  aber  lautet:  sie  hat  nie  ihre  volle 
Unabhängigkeit  gewonnen,  sie  lebt  von  der  Nachahmung  fremder 
Muster. 

Was  erfahren  wir  zunächst  über  Funde  des  phönicischen  Stamm- 
landes und  über  Darstellungen  der  Menschengestalt,  an  denen  sich  die 
Besonderheit  künstlerischer  Auffassung  am  Deutlichsten  auszusprechen 
pflegt?  Ziehen  wir  ab,  was  den  Stempel  reiner  Nachahmung  trägt, 
so  bleibt  neben  dem  zwerghaften  Bes  als  eigenthümlichstes  Product 
die  nackte  Frauengestalt  der  Astarte  —  ein  Muster  rohester  Natur- 
nachahmung und  Styllosigkeit.  Nun:  eine  solche  Astarte  finden  wir 
in  unverkennbarster  Deutlichkeit  auf  einem  der  kretischen  Schilde 
(t.  II),  womit  denn  doch  wohl  der  phönicische  Ursprung  dieser  Arbeit 


Kypros  und  die  Phönicier. 


103 


in  unzweifelhaftester  Weise  dargethan  ist  ?  Mit  Nichten :  bhcken 
wir  auf  den  übrigen  weit  umfangreicheren  und  bedeutenderen  Bilder- 
schmuck dieses  Schildes,  so  erscheint  die  weibliche  Figur  als  eine 
Anomalie,  etwa  wie  ein  fremdartiges,  von  anderswo  herübergenommenes 
Symbol  mitten  zwischen  Darstellungen,  die,  wenn  auch  nicht  einen 
ursprünglichen,  in  sich  festen  und  durchgebildeten  Styl,  doch  ganz 
entgegengesetzte  Styltendenzen  verrathen.  Vor  allem  macht  sich  hier, 
wie  in  den  übrigen  verwandten  Arbeiten  der  Zeusgrotte,  die  Bedeutung 
des  Raumes  geltend  als  der  festen  Grundlage,  von  der  die  ganze 
Gliederung  des  bildlichen  Schmuckes  ausgeht.  Selbst  auf  dem  noch 
ganz  in  der  Nachahmung  des  Assyrischen  befangenen  Schilde  I,  auf 
dem  die  Figurengruppen  nur  durch  einen  Knospenkranz  umschlossen 
sind,  wird  das  Auge  durch  die  von  oben  gerade  aus  der  Mitte  herab- 
steigende Palmette  nach  unten  gerade  durch  die  Mittellinie  geführt, 
auf  der  uns  der  weitausschreitende  Kämpfer  in  lebendiger  Bewegung 
entgegentritt,  während  die  höher  gestellten  geflügelten  Dämonen  ge- 
wissermaassen  als  Seitenflügel  das  Centrum  im  Gleichgewicht  halten 
und  durch  die  vier  Tambourins  mit  demselben  künstlerisch  einheitlich 
verknüpft  werden.  Wie  sich  aber  das  Ganze  der  Composition  von 
schematischer  Erstarrung  frei  erhält,  so  lässt  sich  auch  in  den  einzelnen 
Gestalten,  in  der  Stellung  der  Schulter,  in  der  Bewegung  der  Arme 
eine  leise  Lockerung  der  typischen  Verknöcherung  assyrischer  Vor- 
bilder nicht  verkennen,  während  noch  weit  mehr  die  Bildung  jeder 
Einzelheit  sich  von  diesen  entfernt.  In  ähnlicher  Weise  beherrscht 
auf  dem  Schilde  IV  der  herabschwebende  Vogel  die  verticale  Gliederung, 
die  in  den  ausgebreiteten  Gliedern  im  wörtlichen  Sinne  ihre  Seiten- 
flügel erhält.  Um  das  runde  Mittelfeld,  das  auf  seinen  unbedeckten 
vStellen  mit  einer  Sphinx  und  verschiedenen  Thieren  in  nicht  peinlicher 
Symmetrie  geschmückt  ist,  schlingt  sich  ein  wohl  gegliederter  Rand, 
gebildet  aus  einem  breiten  friesartigen,  mit  Schilden  besetzten  Streifen, 
der  nach  innen  und  nach  aussen  von  mehreren  schmaleren  Ornament- 
bändern umsäumt  wird.  An  den  anderen  Beispielen  gewinnt  der 
Löwenkopf  als  wSchildbuckel  eine  bestimmt  ausgeprägte  tektonische 
Bedeutung  als  Ausdruck  der  in  der  Mitte  concentrirten  Kraft  und 
Stärke,  die  gegen  den  Rand  zu  in  der  Abfolge  von  einem  belebten 
Figurenfelde  durch  mehr  schematische  Thierfriese  zu  reinen  Ornament- 
streifen von  lebendiger  Energie  zu  dem  Charakter  eines  nur  tektonischen 
Gefüges  überleitet.  Umgekehrt  wird  an  Schalen,  bei  denen  dem 
flachen    Boden  jene    Bedeutung  fehlt,    das   organische   Leben  der 


I04  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


Thierfriese  mehr  in  die  aufwärts  g-erichteten  Seitenwandungen  gelegt. 
Herrschen  nun  endUch  in  der  Decoration  die  symboHschen  Gestalten 
des  Orients  und  weiter  die  einfachen  Thierreihen  vor,  so  fehlen  doch 
auch  nicht  ganz  die  zu  einem  Chor  oder  sonstigen  Handlungen  ver- 
einigten Menschengestalten,  bei  denen  wir  des  Orients  vergessen  und 
uns  eher,  wenn  auch  in  entfernter  Weise,  an  Gestalten  und  Scenen 
der  norditalischen  Situlae  erinnern  lassen.  Es  fehlen  uns  bestimmte 
Anhaltspunkte,  um  die  Fabricationsorte  dieser  Arbeiten  genauer  zu  be- 
stimmen. Ihre  Betrachtung  führt  uns  aber  wieder  zu  der  zweiten 
Denkmäler gruppe  zurück,  die,  noch  weiter  nach  dem  Westen  bis  nach 
Etrurien  verbreitet,  durch  die  verwandten  cyprischen  Funde  uns  diese 
Insel  als  Erzeugungsgebiet  mit  hinlänglicher  Sicherheit  erkennen  Hessen. 
Auch  an  diesen  cyprischen  Silberschalen  und  Gefässen  verleugnet  sich 
in  der  Erfindung  und  Zeichnung  des  Figurenschmuckes  nirgends  der 
Einfluss  und  der  Zusammenhang  mit  Aegypten  und  dem  Orient.  Aber 
die  Decorirung  in  concentrischen  Streifen  ist  hier  bereits  zu  einem 
gewissen  systematischen  Abschlüsse  gelangt.  Gerade  für  diese  Raum- 
gliederung fehlen  uns  aber  in  der  ägyptischen  wie  in  der  assyrischen 
Kunst  nicht  etwa  die  farbigen  Vorbilder,  sondern  selbst  die  Vorstufen. 
Sie  beruht  auf  einer  durchaus  verschiedenen  tektonischen  Grund- 
anschauung. Wo  aber  findet  sich  für  eine  solche  in  echt  phönicischer 
Kunst  auch  nur  der  geringste  Anhaltspunkt?  Wir  finden  vielmehr 
das  Gegentheil,  eine  Abschwächung  und  eine  Auflösung  der  strengen 
Stylprincipien ,  welche  die  Aegypter  und  Asiaten  in  verschiedenen, 
wenn  auch  einseitigen  Richtungen  entwickelt  hatten.  Selbst  der  Schrift, 
so  hoch  wir  das  Verdienst  der  Phönicier  um  ihre  Erfindung  veran- 
schlagen wollen,  fehlt  in  der  Form  der  Buchstaben  der  künstlerische 
Styl.  Dagegen  treten  uns  die  Vorstufen  einer  streng  tektonischen 
Raumgliederung  deutlich  entgegen  in  den  Vasen  des  geometrischen 
Styls,  besonders  den  Dipylonvasen.  Wahre  Vorbilder  aber  bieten  uns 
der  homerische  und  hesiodische  Schild,  der  Sache  nach  und  —  was 
hier  keineswegs  zu  übersehen  ist  —  im  Hinblick  auf  die  Zeit  der  Ent- 
stehung. 

Blicken  wir  jetzt  auf  die  Verhältnisse  Phöniciens  und  Cyperns 
zurück,  so  wird  wohl  niemand  behaupten,  dass  es  vor  dem  Jahre  i  ooo 
V.  Chr.  eine  Entwicklung  gebe,  welche  auf  den  Namen  einer  eigen- 
thümlichen  und  selbständigen  „phönicischen"  Kunst  Anspruch  erheben 
dürfte.  Sollen  wir  annehmen,  dass  der  Werdeprocess  einer  solchen 
sich  in  den  nächstfolgenden  Jahrhunderten  vollzogen  habe,  in  denen 


Kypros  und  die  Phönicier. 


die  Expansionskraft  der  Phönicier  bereits  ihren  Höhepunkt  überschritten 
hatte  und  ihr  eigenes  Heimatsland  sich  vielfach  dem  wechselnden 
Einflüsse  Aegyptens  und  Assyriens  zu  unterwerfen  genöthigt  war? 
Phönicien  beherrschte  noch  die  Handelsverbindungen,  und  materiell 
oder  quantitativ  mochte  der  Bedarf  an  Handelswaaren  noch  ein  unge- 
schmälerter, wenn  nicht  sogar  ein  steigender  sein,  der  einem  Fabrik- 
betriebe in  dem  oben  angedeuteten  Sinne  nur  förderlich  sein  konnte. 
Ein  Hauptsitz  dieser  Thätigkeit  muss  aber  offen-bar  das  von  der  Natur 
reich  gesegnete  und  durch  seine  Lage  für  einen  solchen  Zweck  wie 
geschaffene  Cypern  gewesen  sein,  wo  die  Fabriketablissements  den 
vorübergehenden  Kriegs-  und  anderen  Gefahren  weit  mehr  als  auf 
dem  Festlande  entzogen  waren.  Hier  aber  herrschten  die  Phönicier 
nicht  ausschliesslich  und  nur  über  rohe  Barbaren,  sondern  sie  befanden 
sich  in  enger  Berührung  mit  Griechen,  die  bereits  eine  bedeutende 
Entwicklung  auf  geistigen  Gebieten  durchgemacht  hatten.  Wir  kennen 
jetzt  ein  griechisches  Schriftsystem  auf  Cypern,  das  sich  direct  oder 
indirect  an  das  System  der  Keilschrift  anlehnt  uud  sich  schwerlich  so 
lange  dort  erhalten  haben  w^ürde,  wenn  es  nicht  älteren  Ursprunges 
wäre,  als  das  allgemeine  von  den  Phöniciern  entlehnte  griechische 
Alphabet.  Wir  hören  ferner  von  den  zahlreichen  griechischen  Ein- 
wanderungen, mögen  nun  dieselben  mit  den  Folgen  des  troischen 
Krieges  in  Zusammenhang  gebracht  werden  oder  in  den  etwas  später 
erfolgenden  Völkerverschiebungen  ihren  Grund  haben.  vSicher  aber 
wanderte  mit  den  griechischen  Stämmen  in  ihre  neuen  Wohnsitze  ein 
geistiges  Besitzthum :  ihre  Poesie.  Das  in  engem  Anschluss  an  die  Ilias 
gedichtete  Epos  der  Kyprien  hat  von  der  Insel  seinen  Namen,  ist  das 
Werk  eines  kyprischen  Dichters,  und  bietet  also  das  schwerwiegendste 
Zeugnis  für  eine  hohe  griechische  Culturentwicklung  auf  Cypern,  und 
zwar  vor  der  Zeit,  der  die  Producte  kyprischer  Kunstindustrie  zuge- 
schrieben werden  dürfen,  um  deren  Ursprung  es  sich  hier  handelt. 
Sollten  wir  annehmen,  dass  bei  einem  solchen  Stande  der  Poesie  der 
Sinn  für  bildende  Kunst  noch  nirgends  zu  einer  Bethätigung  gelangt 
seij  wo  es  doch  an  künstlerischer  Anlage  sicherlich  nicht  gebrach  ? 
Nichts  erscheint  natürlicher,  als  dass  die  Phönicier  diese  Anlagen  für 
die  Zwecke  ihres  Handels  verwertheten  und  mit  ihrer  Hilfe  eine  Kunst- 
industrie schufen,  durch  die  sie  wieder  für  längere  Zeit  und  auf  .weiten 
Gebieten  den  Markt  beherrschten.  Dem  angeborenen,  aber  noch  nicht 
selbständig  ausgebildeten  Kunstbetrieb  der  kyprischen  Hellenen  aber 
bot  sich  hier  eine  günstige  Gelegenheit,  ihre  Kräfte  zunächst  bei  der 


Io6  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


Ausführung  dieser  Arbeiten  für  phönicische  Bestellung  in  der  Nach- 
ahmung fremder  Muster  zu  bcthätigen  und  daran  eine  erste  Schulung 
durchzumachen.  In  der  Entfernung  von  den  Stammsitzen  jener  im 
nationalen  Gefühl  begründeten  Stylarten  Asiens  und  Aegyptens  musste 
die  Strenge  der  Nachahmung,  zumal  den  fremden  Käufern  die  For- 
derung stylistischer  Treue  gewiss  fern  lag,  je  länger  desto  mehr  Ein- 
busse  erleiden.  Wie  von  selbst  musste  sich  vielmehr  bei  künstlerisch 
begabten  Arbeitern  die  eigene  Individualität  immer  mehr  geltend 
machen ;  und  so  entsteht  nach  den  pseudo-ägyptischen  und  -assyrischen 
Arbeiten  jene  stylistische  Mischgattung,  welche  zwar  den  Zusammen- 
hang mit  dem  Orient  noch  nicht  verläugnen  kann  und  will,  aber  die 
gegebenen  Grundlagen  doch  nach  neuen  und  selbständigen  Principien 
zu  verarbeiten  anfängt.  Je  mehr  sich  aber  diese  Arbeiten  von  ein- 
facher Nachahmüng  entfernen,  um  so  mehr  tritt  ein  griechisches  Ele- 
ment in  den  Vordergrund,  ohne  dass  wir  im  Stande  wären,  den  Punkt 
zu  bestimmen,  wo  die  frühere  Nachahmung  aufhört  und  das  Neue  zur 
Geltung  gelangt.  Ja,  bei  genauerer  Betrachtung  werden  wir  zuge- 
stehen müssen,  dass  im  ganzen  Verlaufe  der  Entwicklung  für  die 
Vermittlung  zwischen  Anfang  und  Ende  durch  eine  weitere  gesonderte 
Volksindividualität,  wie  die  der  Phönicier,  eigentlich  der  nothwendige 
Raum  fehlt. 

Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  über  die  Zeit  zweier  altberühmter 
Teppichweber,  Akesas  und  Helikon,  aus  dem  kyprischen  Salamis 
(SQ  385  ff.),  keine  genaueren  Angaben  vorliegen;  aber  es  ist  jedenfalls 
bezeichnend,  dass  wir  den  einzigen  uns  bekannten  kyprischen  Künstlern 
aus  älterer  Zeit  auf  einem  Gebiete  der  Kunstübung  begegnen,  auf  dem 
selbst  heute  noch  der  Orient  seinen  alten  Ruhm,  ja  seine  Vormacht- 
stellung unbestritten  bewahrt  hat,  dem  der  Teppichweberei.  Dass  sie 
darin  ausnahmsweise  zu  hohem  Ansehen  gelangten,  wird  sich  kaum 
anders  als  dadurch  erklären  lassen,  dass  sie  als  hellenische  Meister  die 
Concurrenz  mit  dem  Stammsitze  der  Fabrication  aufgenommen  und 
mit  gutem  Erfolge  bestanden  hatten.  Darin  aber  dürfen  wir  wohl 
eine  weitere  Bestätigung  für  unsere  Ansicht  finden,  dass  es  auch  auf 
den  anderen  Gebieten  der  ausgedehnten  cyprischen  Kunstthätigkeit 
nicht  Phönicier,  sondern  Hellenen  waren,  auf  welche  wir  die  von 
uns  beobachtete  besondere  Entwicklungsphase  der  Kunst  zurück- 
zuführen haben. 

Dadurch  ist  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  nicht  auch  das  Ver- 
hältnis zu  den  Phöniciern  nach  manchen  Richtungen  hin  einen  be- 


Kypros  und  die  Phönicier.  —  Rückwirkung  aiif  Assyrien. 


107 


stimmenden  Einfluss  ausübte;  ja  es  ist  wohl  dieser  Einfluss,  welcher 
der  ganzen  cyprischen  Kunstübung  eine  ganz  besondere,  sei  es  provin- 
cielle  oder  dialectische  Färbung  verlieh  und  für  lange  Zeit  bewahrte. 
So  lange  die  Phönicier  die  Herren  des  Handels  waren,  blieben  die 
für  sie  beschäftigten  Griechen  von  ihnen  in  hohem  Maasse  abhängig. 
Sie  blieben  zunächst  gebunden  an  die  Muster,  deren  Vervielfältigung 
ihnen  aufgetragen  wurde.  Sie  durften  dieselben  nicht  durch  etwas 
ganz  Neues  und  Eigenes  ersetzen,  und  so  erklärt  es  sich  aus  der  Fort- 
dauer dieser  Einflüsse,  dass  die  Keime  des  Griechenthums  gerade  in 
der  cyprischen  Kunst  sich  nicht  zu  voller  Selbständigkeit  zu  ent- 
wickeln vermochten.  Es  blieb  ihm  zunächst  nur  die  Aufgabe,  auf  die 
älteren,  fremden  Kunstweisen  zersetzend  zu  wirken  und  dadurch  den 
Boden  für  die  volle  Unabhängigkeit  befruchtend  vorzubereiten. 

Rückwirkung  auf  Assyrien.  Schon  damals  aber  scheint 
der  jugendlich  frische  Geist  des  Hellenenthums  die  Kraft  besessen  zu 
haben,  einen  andern  Erfolg  zu  erringen,  nemlich  als  geistiges  Ferment 
gewissermaassen  rückwärts  zu  wirken  und  die  erstarrenden  Formen 
der  alten  Kunstweisen  des  Orients  in  ihrer  eigenen  Heimat  vor  ihrem 
Absterben  noch  einmal  mit  neuem  Lebenssafte  zu  durchdringen  und 
auf  diesem  Wege  das,  was  er  von  aussen  empfangen,  sofort  mit  reichem 
Zins  wieder  zu  erstatten.  Wir  werden  nicht  umhin  können,  die  letzte 
Phase  der  assyrischen  Kunst  von  680 — 650,  wie  sie  in  den  Sculpturen 
des  Nordpalastes  von  Kujundschik  sich  darstellt,  als  bereits  unter  einer 
Rückwirkung  griechischen  Geistes  stehend  zu  betrachten. 

Es  ist  schon  früher  erwähnt  worden. 


dass  der  Styl  der  assyrischen  Sculpturen 
sich  aus  der  Teppichweberei  entwickelt  hat, 
dass  ihre  Reliefs  eigentlich  nichts  als  in 
Stein  übersetzte  Teppiche  sind.  Man  acco- 
modirte  nicht  den  Styl  der  Figuren  dem 
Stoffe,  dem  Material,  sondern  das  Material 
musste  sich  dem  Styl  fügen.  Der  sogenannte 
Lebensbaum  ist  ein  für  die  Teppichweberei 
vortrefflich  stylisirtes  Pflanzengeflecht ;  aber 
in  Stein  übertragen  erscheint  er  als  ein  Faden- 


geflecht ohne  Leben  (Abb.  71).  Das  Wachsthum  der  Pflanze  ist  ge- 
schwunden, und  in  der  Zeichnung  der  Blätter,  in  ihren  Umsäumungen 
tritt  deutlich  der  Charakter  der  Stickerei  hervor.    Dasselbe  gilt  von 


Io8  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


anderen  Bäumen  in  der  Landschaft,  aber  auch  von  den  Gewändern,  den 
Fransen  und  Troddeln,  und  nicht  minder  von  der  Bildung  der  Haare, 
der  Locken,  der  Federn.    Ja  selbst  die  Formen  des  thierischen  und 


menschlichen  Körpers  mussten  sich  diesem  Grundcharakter  fügen:  sie 
zeigen  keine  freie  Modellirung,  keine  frische  lebensvolle  Schwellung, 
sondern  die  Muskeln,  die  Adern  u.  a.  erscheinen  wie  für  Reliefstickerei 
aufgetragen  und  abgesteppt. 

Mit  dieser  Einseitigkeit  des  fundamentalen  Charakters,  in  Folge 
deren  die  Kunst  der  Assyrier  nur  die  Bedeutung  einer  partiellen 
Entwicklungsphase  in  Anspruch  nehmen  kann,  steht  ein  anderer 
Mangel  in  engem  Zusammenhange.  Wir  pflegen  uns  den  Decorations- 
styl,  dem  doch  ihre  Arbeiten  unzweifelhaft  angehören,  unwillkürlich 
als  aus  einem  architektonischen  Grundprincip  heraus  erwachsen  vor- 
zustellen und  können  uns  das  Decorative  schwer  ausser  Beziehung  zu 
dem  gegebenen  Räume  denken.  Dieses  Princip  ist  bei  den  Assyriern 
noch  nicht  entwickelt.  In  ihren  reich  gestickten  Gewändern  findet 
sich  allerdings  in  der  Zusammenstellung  einzelner  Elemente  aus  der 
Pflanzen-,  der  Thier-  und  Menschenwelt  eine  gewisse  Gesetzmässigkeit. 


Rückwirkung  auf  Assyrien. 


Aber  in  der  Verwendung  der  Theile  zum  Ganzen  der  Gewandung  fehlt 
die  Beziehung  zu  der  Gestalt  des  Körpers,  der  mit  dem  Gewände 
bekleidet  werden  soll :  wie  bei  modernen  Uniformen  und  Priester- 
gewändern finden  wir  nur  Borten  als  Besatz  der  Ränder  und  selbst  im 
reichsten  Brustschmuck  nur  ein  Flickwerk  von  einzelnen  Borten,  Stücken 
und  Nähten  (Layard,  I.  Serie,  pl.  6;  9;  10;  44  ff.)  (Abb.  72).  Ebenso  sind 
Dolchgriffe,  Köcher,  Wagenornamente  (pl.  10;  14;  15)  mit  verschieden- 
artigem Besatz  ausgeputzt,  aber  durchaus  nicht  aus  der  Natur  ihrer 
Formen  heraus  decorirt.  Selbst  in  der  Architektur  und  noch  an  dem 
jüngsten  Palast  begegnen  wir  einem  solchen  aus  Borten  zusammen- 
gesetzten Friese,  aus  welchem  der  Halbkreis  des  Thorbogens  wie  mit 
der  Scheere  aus  einem  Stück  gemusterten  Zeuges  herausgeschnitten 
ist  (Rawlinson,  anc.  monarchies  I,  p.  417).  So  erklärt  sich  denn  auch 
der  schon  früher  hervorgehobene  Mangel  an  Raumvertheilung  in  den 
Reliefs.  Der  ursprüngliche  Teppich  ist  unabhängig  von  einem  be- 
stimmten (tektonischen)  Räume  gedacht,  und  wir  gestatten  ihm  daher 
noch  heute  eine  freiere  Behandlung.  Aber  indem  die  Assyrier  den 
beweglichen  Teppich  in  Stein,  in  einen  festen  Stoff  und  in  einen 
architektonisch  festbestimmten  Raum  übertragen,  ohne  dem  Stoffe  und 
dem  Räume  Rechnung  zu  tragen,  verrathen  sie  deutlich  die  Beschränkt- 
heit ihrer  Auffassung  und  ihrer  künstlerischen  Befähigung. 

Im  Gegensatz  hierzu  begegnen  wir  in 
dem  jüngsten  Palast  von  Kujundschik  nach 
zwei  Richtungen  hin  ganz  neuen  Erschei- 
nungen. Einige  jetzt  im  britischen  Museum 
befindliche  Fussbodenplatten  (Place,  Niniveh 
pl.  49;  Rawlinson  I,  350)  zeigen  in  Flach- 
relief ausgeführt  ein  Teppichmuster,  das 
zwar  in  seinen  Elementen  von  Rosetten, 
Palmetten  und  Blumenkelchen  asiatisch 
ist,  aber  diese  im  asiatischen  Webe-  und 
Stickereistyl  zu  Fadengeflechten  vertrock- 

,  .   1  ^  .         -r^.         1  73-  Fussbodenornament  aus  Kujundschik. 

neten  Elemente  nicht  nur  im  Einzelnen 

mit  organischem  Leben  erfüllt,  sondern  in  ihrer  Verbindung  zu  einem 
Ganzen,  namentlich  in  der  Anordnung  der  Ecken,  einem  Princip  streng 
architektonischer  Raumgliederung  unterordnet,  welches,  wie  wir  sahen, 
dem  asiatischen  Webestyl  bisher  fremd  war  (Abb.  73).  —  In  den 
Reliefs  desselben  Palastes  überraschen  uns  ferner  bei  den  zahlreichen 
Jagddarstellungen  die  verschiedenen  Thiere  durch  eine  Staunens werthe 


I  lO 


Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


Lebendigkeit  und  Naturwahrheit  (Place  T.  50  ff.;  RawHnson  I,  444  fF. 
und  öfter).  Wenn  sich  auch  dieselben  in  der  formalen  Ausführung 
nicht  wesentlich  von  den  früheren  Darstellungen  ähnlicher  Art  unter- 
scheiden und  im  Verständnis  des  Einzelnen  noch  manche  Mängel 
zeigen,  so  überragen  sie  doch  alles  Frühere  bei  weitem  dadurch,  dass 
sie  in  den  Motiven  und  Bewegungen  das  Schematische  aufgeben  und 
mit  kindlicher  Unbefangenheit  und  offenem  Blicke  aus  dem  Quell 
directer  Naturbeobachtung  schöpfen  (Abb.  74 — 76). 


74.    Jagdhunde.   Assyrisches  Relief. 


Es  ist  nicht  glaublich,  dass  eine  Jahrhunderte  lange  Kunstübung 
kurz  vor  ihrem  Ende  aus  eigener  Kraft  ihre  bisherigen  Principien  ver- 
leugnet und  neue,  damit  fast  in  Widerspruch  stehende  Bahnen  ein- 
geschlagen haben  sollte.  Da  jedoch  der  angedeutete  Wechsel  einem 
etwaigen  Einfluss  ägyptischer  Kunst  diametral  widerspricht ,  so  bleibt 
nur  die  Annahme  einer  Befruchtung  der  asiatischen,  mehr  vegetirenden 
als  lebendigen  Thätigkeit  durch  den  eben  erwachenden  griechischen 
Geist  übrig. 


Rückwirkung  auf  Assyrien. 


I  I  I 


Ein  Rückblick  auf  die  Resultate  unserer  Erörterungen  über  die 
Kunst  bei  Homer  kann  uns  in  dieser  Annahme  nur  bestärken.  Zwei 
Punkte  treten  in  denselben  besonders  hervor:  zuerst  die  strenge 
Gliederung  des  Raumes,  in  welcher  sich  ein  bestimmtes  mathematisch- 
tektonisches  Princip  aussprach,  welches  mit  dem  Räume  zugleich  auch 
die  Gliederung  des  geistigen  Inhalts  durchdringt.  Sodann  die  Auf- 
fassung eben  dieses  Inhalts :  an  die  Stelle  des  Formelwesens  chroniken- 
artiger Darstellung  trat  eine  poetische  Auffassung  des  menschlichen 
Lebens,   die  nothw^endig  den  Blick  für  eine  naive  Beobachtung  der 


75.    Verwundete  Löwin.    Assyrisches  Relief. 


Wirklichkeit  und  den  reichen  Wechsel  ihrer  Erscheinung  öffnen  musste. 
So  finden  wir  also  in  der  homerischen  Kunst  gerade  die  beiden 
Elemente,  die  uns  in  der  letzten  Periode  der  assyrischen  als  neu  und 
ihrer  eigensten  Entwickelung  fremd  entgegentreten,  und  die  wir 
daher  auf  den  Einfluss  griechischen  Geistes  zurückzuführen  wohl  be- 
rechtigt sind. 

Die  historischen  und  chronologischen  Verhältnisse  stehen  damit 
im  besten  Einklänge  (vgl.  Rawlinson,  anc.  monarch.  II,  343;  365;  421;- 
463;  468;  483;  487).  Schon  Assur-idanni-pal  (884 — 859)  drang  sieg- 
reich bis  an  die  phönicische  Küste  und  führte  reiche  Beute  von  dort 
weg.    Seinem  Nachfolger  Salmanassar  II  (859 — 824)  entrichteten  unter 


I  I  2  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


76.    Verwundeter  Löwe.   Assyrisches  Relief. 


anderen  Völkern  auch  die  Israeliten  Tribut:  Gold  und  Silber  in  rohem 
und  verarbeitetem  Zustande,  und  Aehnliches  wiederholt  sich  unter  den 
folgenden  Herrschern.  Allerdings  erst  ein  Jahrhundert  später,  708 
oder  707,  gelingt  es  Sargon,  sich  Cypern  selbst  tributpflichtig  zu 
machen,  von  wo  ihm  edle  Metalle,  Vasen,  Ebenholz  und  Manufactur- 
waaren  gesendet  werden.  Sein  Sohn  Sanherib  (704 — 680)  kämpft 
siegreich  gegen  cilicische  Griechen,  und  gefangene  Cilicier  werden  unter 
denen  genannt,  die  an  seinen  Bauten  Zwangsarbeit  verrichten.  Assar- 
haddon,  sein  Sohn  (680 — 667)  erringt  nicht  nur  neue  Siege  und  führt 
neue  Gefangene  weg,  sondern  22  Könige  von  Syrien,  Phönicien  und 
Cypern  liefern  ihm  das  Material  für  seine  Bauten:  Gedern,  Cypressen, 
Ebenholz,  Statuen  und  verschiedene  Arten  von  Metallarbeiten.  Wenn 
endlich  dessen  Sohn  Assur-bani-pal  (667 — 647),  der  Erbauer  des  Palastes 
von  Kujundschik,  eine  cilicische  Königstochter  heirathet,  noch  tiefer  in 
Kleinasien  eindringt  und  mit  Gyges  von  Lydien  in  Beziehung  tritt, 
dessen  Vorgänger  Kandaules  das  Schlachtgemälde  eines  Griechen 
Bularchos  bereits  mit  Gold  aufwog,  ist  es  da  zu  verwundern,  dass  sich 
damals  auch  in  der  Kunst  Assyriens  ein  occidentalischer  Einfluss  in 
sichtbarer  Weise  geltend  macht?  eine  Einwirkung  griechischen  Geistes, 
vermittelt  theils  durch  den  lebendigen  Verkehr  der  Menschen,  theils 
durch  die  Arbeiten  ihrer  Hände,  von  denen  Einiges  sich  sogar  bis 
auf  unsere  Tage  erhalten  hat  ?    Denn  aus  jenen  Tributen  stammt 


Rückwirkung  auf  Assyrien. 


offenbar  eine  Reihe  von  Bronzeschalen,  die,  im  Nordwestpalast  von 
Nimrud  gefunden  (Layard,  II.  ser.  pl.  57  ff.),  uns  schliesslich  auf  die 
italischen  und  cyprischen  Funde  zurückführen,  mit  denen  sie  zwar 
nicht  ganz  übereinstimmen,  aber  doch  mehrfache  Analogieen  darbieten. 
Gemeinsam  mit  den  Schilden  und  Silberschalen  ist  ihnen  die  Eintheilung 
in  concentrische  Kreise  und  Zonen.  In  den  punktirten  und  gravirten 
Ornamenten  mischen  sich  orientalische  Pflanzenornamente  mit  den  noch 
ältern  Linearornamenten  bereits  in  sehr  geschmackvoller  und  sauberer 
Durchbildung  und  Ausführung.  In  den  flach  getriebenen  und  con- 
tourirten  Thier-  und  Menschenfiguren  tritt  ausser  den  Beziehungen  zum 
Orient  auch  der  Einfluss  Aegyptens  zuweilen  in  sehr  entschiedener 
Weise  hervor.  Aber  auch  hier  zeigt  sich  das  Streben  nach  Durch- 
dringung der  Formen  -mit  einem  neuen  Geiste  und  nach  Gewinnung 
eines  neuen  selbständigen  Styls. 

Durch  die  Tributleistungen  wird  sich  endlich  ein  Einwand  be- 
seitigen lassen,  der  gegen  griechischen  Einfluss  auf  die  letzte  Phase  der 
assyrischen  Kunst  dadurch  begründet  werden  könnte,  dass  bereits  in 
den  Reliefs  aus  dem  Palast  Sargons  zu  Khorsabad  Schilde  mit  Rosetten 
und  Linearornamenten  in  concentrischen  Zonen  sich  finden,  die  in 
ihrer  streng  tektonischen  Gliederung  jenen  Fussbodenplatten  in  keiner 
Weise  nachstehen  (Rawlinson  II,  p.  50;  Botta,  Niniveh  I  49;  55;  59; 
60;  65;  II,  86;  160).  Allein  sie  erscheinen  vereinzelt  nur  zur  Deckung 
vornehmer  Bogenschützen  verw^endet  und  verschwinden  als  Ausnahmen 
gegen  die  gewöhnlichen  quadrirten  und  geflochtenen,  die  als  nationale 
Waffen  auch  noch  unter  den  späteren  Königen  vorwiegend  in  Ge- 
brauch bleiben.  Wie  aber  Agamemnon  bei  Homer  als  besonders  aus- 
gezeichnetes Wafifenstück  einen  Panzer  trägt,  den  ihm  König  Kinyras 
von  Cypern  zum  Geschenk  gemacht,  so  mochten  in  Sargons  Zeiten 
einzelne  Stücke  aus  phönicischen  und  cyprischen  Tributen  die  Aus- 
rüstung assyrischer  Grossen  verherrlichen.  Es  waren  noch  fremde 
Seltenheiten,  aber  gewissermaassen  die  Vorläufer,  welche  das  Eindringen 
fremden  Einflusses  vorbereiteten  und  einleiteten. 

Der  Hypothese  einer  Rückwirkung  des  griechischen  Geistes  auf 
Assyrien  wird  nach  den  dargelegten  Gründen  eine  innere  Wahr- 
scheinhchkeit  nicht  abgesprochen  werden  können.  Es  muss  indessen 
als  ein  besonders  glückliches  Zusammentreffen  betrachtet  werden, 
dass  dieselbe  noch  eine  thatsächliche  Bestätigung  durch  ein  auf  dem 
Boden  Cyperns  entdecktes  Monument  erhalten  hat.  Es  ist  ein  aus 
den  Ruinen  von  Golgoi  stammendes  Relief,  welches  ausserdem  als  die 

8 


11^  Drittes  Capitel.    Der  hellenische  Geist  gegenüber  fremden  Einflüssen. 


77.    Kyprisches  Relief. 


erste  Darstellung  aus  der  griechischen  Sagenwelt,  der  wir  begegnen, 
unsere  besondere  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nehmen  muss:  Cesnola 
p.  136,  Taf.  XXIV;  Brunn-Bruckmann  Taf.  207  (Abb.  77).  Von  der  links 
auf  erhöhtem  Grunde  stehenden  Figur  ist  gerade  genug  erhalten,  um  in 
ihr  Herakles  mit  dem  Löwenfell  zu  erkennen,  wie  er  in  der  vor- 
gestreckten Linken  den  Bogen  hält  und  mit  der  erhobenen  Rechten 
rückwärts  nach  dem  Köcher  greift.  Schon  hat  ein  erster  Pfeil 
einen  dreiköpfigen  Hund  getroffen ,  der  in  einiger  Entfernung  ihm 
gegenüber  auf  einer  Linie  steht,  welche  das  Relief  in  eine  obere 
und  eine  untere  Hälfte  theilt.  In  der  letzteren  wird  eine  zahlreiche 
Rinderheerde  von  einem  bärtigen,  nur  mit  der  Chlamys  bekleideten 
Manne  weggetrieben,  der  im  linken  Arme  einen  Baum  trägt  und 
rückwärts  gewendet  mit  der  Rechten  einen  Stein  nach  Herakles 
werfen  zu  wollen  scheint.  Es  sind  die  Rinder  des  Geryon  mit 
ihrem  Hirten  Eurytion  und  dem  Hunde  Orthros.  Geryon  selbst 
wird  etwa  in  einer  Fortsetzung  des  Reliefs  zur  Rechten  auf  einer  ge- 
sonderten Platte  dargestellt  gewesen  sein.  Es  ist  unzweifelhaft,  dass 
der  Künstler  in  der  äusseren  Anlage,  so  wie  in  der  Behandlung  des 
Flachreliefs  auf  der  Grundlage  assyrischer  Anschauung  steht.  Der 
Baum  scheint  geradezu  nach  assyrischen  Mustern  copirt,  und  auch  im 
Bart  und  Haar  des  Eurytion  ist  die  Nachahmung  offenbar.  Dagegen 


Rückwirkung  auf  Assyrien. 


herrscht  in  Zeichnung  und  Form  der  menschlichen  Körper  griechischer 
Geist,  und  noch  mehr  überrascht  die  Fülle  von  Leben  in  der  Heerde. 
Die  Verwirrung  der  sich  in  Eile  durcheinander  drängenden  Rinder 
zeigt  eine  ungewöhnliche  Frische  der  Auffassung,  und  es  ist  ein 
künstlerisch  glücklicher  Gedanke,  dass  die  schwächste  Partie,  die  un- 
entwirrten  und  unverstandenen  Beine  der  Rinder,  durch  die  in  vorderster 
Reihe  springenden  munteren  Kälber  zum  Theil  verdeckt  wird.  Hier  be- 
gegnen wir  also  denselben  Eigenschaften,  welche  in  den  Thierbildungen 
der  letzten  assyrischen  Periode  als  auffallende  Neuerungen  plötzlich 
hervortreten.  Sollen  wir  annehmen,  dass  der  cyprische  Künstler  auch 
hierin  fremden  Vorbildern  folgte  ?  Aber  ähnliche  Verdienste  wie  in 
den  Thieren,  nämlich  lebensvolleres  Verständniss,  zeigen  sich  bei  ihm 
auch  in  den  menschlichen  Gestalten;  und  dafür  vermochten  ihm  die 
assyrischen  R.eliefs  wegen  ihres  Festhaltens  an  der  bisherigen  typischen 
Behandlung  keine  Vorbilder  zu  bieten.  Weiter  aber  bleibt  dort  selbst 
in  den  Thiergestalten  die  formale  Vortragsweise  unverändert:  jenes 
Leben  ist  ein  in  die  alten  Formen  hineingetragenes  neues  und  fremdes 
Element.  In  Cypern  verbreitet  sich  der  neue  Geist  auch  bei  noch 
mangelhafter  Ausführung  des  Einzelnen  sofort  über  das  Ganze  und 
bewährt  sich  dadurch  als  ursprünglich  und  original.  Gerade  diese 
Eigenschaften  verliehen  ihm  die  Kraft,  bei  den  Wechselbeziehungen 
zwischen  Cypern  und  Asien  eine  belebende  Rückwirkung  auf  die 
Kunst  jener  Gegenden  zu  äussern,  von  denen  Cypern  selbst  die  Grund- 
lagen seiner  Kunst  empfangen  hatte.  Dass  diese  Wirkung  eine  par- 
tielle blieb,  erklärt  sich  aus  inneren  Gründen:  die  menschliche  Gestalt 
betrachtet  jedes  Volk  mit  den  Augen  seiner  eigenen  Individualität 
und  ist  darin  fremden  Einflüssen  am  wenigsten  zugänghch. 


8* 


Viertes  Capitel. 

Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


Historische  Nachrichten.  Die  letzten,  schon  unter  dem 
Einflüsse  griechischen  Geistes  gearbeiteten  assyrischen  Sculpturen  ge- 
hören bereits  in  die  Zeit  von  Ol.  25—30.  Ungefähr  ein  Menschenalter 
später,  Ol.  37,  stellten  nach  Herodot  IV,  152  die  Samier  aus  dem 
Zehnten  einer  glücklichen  Seefahrt  nach  Tartessos  unter  Führung  des 
Kolaeos  ein  ehernes  Weihgeschenk  im  Heiligthum  der  Hera  auf  Es 
war  ein  argolischer  Krater,  aus  dem  rings  herum  Greifenköpfe  hervor- 
ragten, wohl  wie  die  Löwenköpfe  an  den  caeretaner  Kesseln.  Drei 
eherne  Colosse  von  sieben  Ellen,  mit  den  Knieen  auf  die  Erde  ge- 
stützt, dienten  ihm  als  Träger.  Man  wird  hier  unwillkürlich  an  das 
auf  zwölf  Rindern  ruhende  Meer  im  Hause  des  Salomen  erinnert : 
also  auch  hier  wieder  an  ein  asiatisches  Vorbild.  Zur  Beurtheilung  der 
Technik  und  des  Styls  der  Colosse  fehlt  uns  leider  jeder  Anhalt;  nur 
aus  der  Verwendung  dürfen  wir  schliessen,  dass  sie  einem  architek- 
tonisch-decorativen  Zweck  bestimmt  untergeordnet  waren.  Dass  aber 
gerade  für  Greifenköpfe  eine  streng  stylisirte  Typik  sehr  früh  aus- 
gebildet und  lange  unverändert  festgehalten  wurde,  lehren  z.  B.  die 
sehr  alten  Münzen  von  Teos,  einzelne  Bronzeexemplare  aus  Olympia 
(Ausgrabungen  III,  24  und  IV,  20)  (Abb.  78)  und  Perugia  (im  Anti- 
quarium  zu  München),  sowie  die  Frangoisvase  (M.  d.  J.  IV,  56). 

Nicht  minder  berühmt  war  im  Alterthum  eine  andere  Reihe  von 
Weihgeschenken,  welche  drei  lydische  Könige  nach  Delphi  sandten. 
Schon  vor  ihnen  hatte  der  Phrygier  Midas,  des  Gordias  Sohn,  seinen 
Königsthron  dorthin  geweiht.  Gyges  aber,  der  erste  der  Lydier  um 
Ol.  20,  schickte  unter  anderen  kostbaren  Geschenken  sechs  goldene 
Mischkrüge  (Herod.  I,  14);  sein  Urenkel  Alyattes  um  die  43.  Olympiade 
einen  grossen  silbernen  Mischkrug  mit  einem  eisernen  Untergestell, 
an  welches  sich  die  Erwähnung  eines  der  ersten  wirklich  historischen 
Künstler,  des  Glaukos  von  Chios,  knüpfte  (SQ  263  ff.).    Sein  Ruhm 


Historische  Nachrichten. 


Bronzener 
Greifenkopf  aus 
Olympia. 


beruht  auf  der  Erfindung  der  Löthung  des  Eisens  (vgl.  Michaelis:  A.  Z. 
1876,  S.  156),  die  gegen  das  frühere  Verfahren  des  Nietens  mit  Nägeln 
und  Bolzen  und  selbst  des  Schweissens  allerdings  einen  bedeutenden 
Fortschritt  bezeichnet,  überhaupt  aber  als  selbständige 
technische  Erfindung  auf  den  erwachenden  neuen  Geist 
hindeutet,  der  sich  bald  auch  auf  anderen  Gebieten 
offenbaren  sollte.  Mit  Hülfe  dieser  Technik  war  der 
Untersatz  gearbeitet,  den  schon  Herodot  I,  25  rühmend 
erwähnt,  Pausanias  X,  16,  i  aber  genauer  beschreibt. 
Er  glich  einem  nach  oben  sich  verjüngenden  Thurme, 
dessen  Seiten  jedoch  nicht  volle  Flächen  darboten, 
sondern  aus  eisernen,  leiterartig  geordneten  Querstäben 
gebildet  waren.  Die  aufrecht  stehenden  Eckstäbe  waren 
oben  nach  aussen  gebogen,  um  den  Krater  aufzu- 
nehmen. Alle  die  einzelnen  Theile  nun  waren  nicht 
durch  Stifte  und  Nägel,  sondern  nur  durch  Löthung 
miteinander  verbunden.  Aus  Athenaeus  V,  201  erfahren 
wir  endlich  noch,  dass  das  Ganze  mit  Thierfiguren  und 
Pflanzenwerk  reich  geschmückt  war:  das  System  der  Decoration  war 
also  auch  hier  noch  das  alte. 

Auf  Alyattes  folgt  Kroesus,  der  seinen  Vorgänger  an  Reichthum 
der  Gaben  noch  weit  überbietet  (Herod.  I,  51).  Ausser  goldenen  Waffen 
an  das  Orakel  des  Amphiaraos  sandte  er  nach  Delphi  eine  Reihe 
goldener  und  silberner  Gefässe,  Mischkrüge,  Weihwasser-  und  Giess- 
gefässe,  den  goldenen  Schmuck  seiner  Frau;  sodann  einen  goldenen 
Löwen  von  zehn  Talenten  Gewicht,  ursprünglich  auf  goldenen  Ziegeln 
aufgestellt,  den  wir  uns  nach  Art  der  assyrischen,  zu  Gewichten  be- 
stimmten bronzenen  Löwen  vorstellen  mögen  (Perrot  II,  pl.  XI)  (Abb.  79). 
Ausserdem  wird  das  goldene,  drei  Ellen  hohe  Bild  einer  Frau  erwähnt, 
das  Portrait  der  Brotbäckerin  des  Kroesus,  wie  die  Delphier  sagten, 
welches,  da  es  unter  den  geringeren  Gaben  aufgezählt  wird,  wohl  nicht 
massiv  gearbeitet,  sondern  nur  aus  Goldblech  getrieben  war  (Abb.  80). 
(Mitten  unter  diesen  Gaben  erwähnt  Herodot  ein  allerdings  wohl 
etwas  jüngeres  Weihgeschenk  der  Lakedaemonier,  einen  Knaben,  „durch 
dessen  Hand  das  Wasser  fliesst",  bei  dem  wir  wohl  weniger  an  spätere 
Genrebilder,  als  etwa  an  Gestalten  von  der  Art  der  homerischen  Fackel- 
träger im  Palaste  des  Alkinoos  zu  denken  haben.)  —  Wie  Kroesus  nach 
Delphi,  so  wollten  umgekehrt  die  Lakedaemonier  dem  Kroesus  einen 
ehernen,  300  Amphoren  haltenden  und  um  den  äusseren  Rand  herum 


ii8 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


79.    Löwe.    Assyrische  Bronze. 


mit  Thierfiguren  reich  geschmückten  Krater  schenken,  der  aber  nicht 
an  ihn,  sondern  in  das  Heraeon  von  Samos  gelangte:  Herod.  I,  70. 

Wir  sehen  aus  dieser  Aufzählung,  dass  sich  die  Zeit  des  Kroesus 
noch  keineswegs  in  ihren  Anschauungen  von  denen  der  Heroenzeit 

völlig  losgelöst  hatte.  Die  Schil- 
derung Herodots  könnte,  ohne 
Anstoss  zu  erregen,  ziemlich  un- 
verändert bei  Homer  eine  Stelle 
finden.  Aber  wenigstens  nach 
einer  Seite  hat  sich  ein  gründ- 
licher Wechsel  vollzogen :  wäh- 
rend Homer  bei  ausgezeichneten 
Werken  öfter  auf  fremden,  asia- 
tischen Ursprung  hinweist,  sind 
wir  berechtigt,  die  Gaben  der  ly- 
dischen  Könige  in  ihren  wich- 
tigsten Bestandtheilen  als  Werke 
der  griechischen  Kunst  in  Anspruch  zu  nehmen.  Wie  der  Untersatz 
des  Alyattes  ein  Werk  des  Glaukos,  so  war  unter  den  Gaben  des 
Kroesus  nach  Angaben  der  Delphier  das  600  Amphoren  haltende 
silberne  Mischgefäss  ein  Werk  des  Theodoros,  Sohnes  des  Telekles, 
aus  Samos,  und  Herodot  stimmt  ihnen  bei,  da  es  „keine  gemeine 
Arbeit"  sei.  Ein  Werk  dieses  Künstlers,  über  den  später  noch  weiter 
zu  handeln  sein  wird,  war  ausser  dem  Ringe  des  Polykrates  auch  die 
berühmte  goldene  Platane  und  der,  Trauben  von  Ru- 
binen und  Smaragden  tragende,  goldene  Weinstock, 
die  aus  dem  Besitze  eines  Lydiers  Pythios,  eben  so 
wie  ein  goldener  Krater  desselben  Theodoros,  in  die 
Paläste  der  Perserkönige  in  Susa  gelangt  waren  (SQ 
284  ff.).  So  vielbewundert  diese  Werke  im  Alterthum 
waren,  so  darf  doch  nicht  vergessen  werden,  dass  der 
Gedanke  ihrer  Erfindung  in  eine  frühere  Zeit  hinauf- 
reicht. Denn  abgesehen  von  einer  durch  Kypselos 
nach  Delphi  geweihten  Palme,  an  deren  Wurzeln 
Frösche  und  Schlangen  dargestellt  waren  (Plut.  de 
Pyth.  orac.  12),  spricht  schon  der  Dichter  der  kleinen 
IHas  (Schol.  Eurip.  Troad.  822;  SQ  223)  von  einem 
Weinstock  mit  goldenen  Blättern  und  Trauben,  einem  Werke  des 
Hephaestos,  welchen  Zeus  dem  Laomedon  als  Entschädigung  für  den 


80.    Terracotta  einer 
ßrotbäckerin  aus 
Tiryns. 


Historische  Nachrichten.  —  Alle  Bronzearbeiten. 


119 


Raub  des  Ganymedes  zum  Geschenk  machte.  Diesem  Festhalten  am  Alten 
gegenüber  soll  allerdings  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  dass  gerade 
etwa  in  der  Zeit  des  Kroesus,  ja  theilweise  schon  früher,  ein  bedeutender 
Wechsel  sich  vollzieht,  dass  an  die  Stelle  materiell  kostbarer  Weih- 
geschenke, an  denen  die  Kunst  nur  zum  Schmucke  dient,  immer  mehr 
eigentliche  Kunstwerke  und  zwar  statuarische  Kunstwerke  treten, 
unter  denen  hier  der  Zeuskoloss  aus  getriebenem  Golde,  welchen  die 
Kypseliden  nach  Olympia  weiheten  (SQ  295  ff.),  genannt  werden  mag. 
Doch  fehlt  es  bis  in  die  Blüthezeit  der  Kunst  nicht  an  Nachklängen 
der  früheren  Sitte:  es  genügt  an  Werke  zu  erinnern,  wie  die  bekannte 
delphische  Schlangensäule  mit  dem  goldenen  Dreifusse  zum  Andenken 
des  Sieges  bei  Plataeae  oder  die  eherne  Platane,  welche,  von  Nikias 
auf  Delos  aufgestellt  (Flut.  Nicias  c.  3),  vom  Sturme  umgerissen  eine 
grosse  Statue  der  Naxier  umstürzte. 

Alte  Bronzearbeiten.  Es  darf  mit  Sicherheit  angenommen 
werden,  dass  die  Werke  der  decorativen  Kunst,  von  denen  wir  durch 
die  eben  betrachteten  Nachrichten  der  Alten  Kunde  erhalten,  in  ihrer 
stylistischen  Ausführung  nicht  auf  einer  und  derselben  Stufe  stehen 
geblieben  sind.  Doch  fehlt  uns  bis  jetzt  ein  umfassendes  und  einiger- 
maassen  in  sich  zusammenhängendes  Material,  um  das  allmähliche 
Fortschreiten  in  strenger  Folge  nachzuw^eisen.    Was  wir  von  Arbeiten 


81.    Bronzerelief  aus  Kreta. 


verwandter  Art  besitzen,  genügt  nur,  um  von  dem  Gange  der  Ent- 
wicklung eine  allgemeine  Vorstellung  zu  gewinnen. 

Wir  wenden  zuerst  unsern  Blick  nach  der  Zeusgrotte  auf  Kreta 


I20 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


82.    Theil  eines  Diadems  aus  Theben. 


zurück  (s.  o.  S.  go  fF.).  In  derselben  hat  sich  eine  Reihe  gegossener  Bronze- 
frag-mente  gefunden,  welche  die  Bestimmung  hatten,  als  Reliefschmuck 
auf  eine  Lade  oder  ein  ähnliches  Geräth  aufgesetzt  zu  werden,  und 
zwar  in  der  Weise,  dass  die  durch  netzartig  ausgespannte  Stäbe  ge- 
bildeten Felder  durch  Figurendarstellungen  eine  gitterartige  (ä  jour) 
gearbeitete  Füllung  erhielten  (T.  XI).  Wir  finden  darunter  ein  Schiff  mit 
Ruderern  und  einem  Krieger  (Abb.  81),  einen  Wagen  mit  zwei  Kriegern, 
eine  Kuh,  welche  gemolken  wird,  mehrere  Hunde  u.  a.  m.  Auffassung 
und  Ausführung  sind  von  der  höchsten  kindlichen  Einfalt  und  zeigen 
nirgends  die  geringste  Verwandtschaft  mit  dem  Mischstyl  der  zugleich 
gefundenen  Schilde  und  Schalen.  Vielmehr  werden  wir  durch  den 
linearen  Charakter  der  gesammten  Anlage,  wie  durch  das  Mathematisch- 
Schematische  der  einzelnen  Gestalten  sofort  an  die  Figurendarstellungen 
der  Dipylonvasen  erinnert,  die  wir  als  die  ältesten  Erzeugnisse  eines 
ursprünglichen  und  unverfälschten  hellenischen  Geistes  zu  betrachten 
gelernt  haben.  Ist  es  richtig,  was  wir  annahmen,  dass  dieser  Geist 
durch  die  von  Norden  her  wandernden  hellenischen  Stämme  in  Griechen- 
land zur  Herrschaft  gelangte,  so  würden  diese  Bronzen  dafür  Zeugniss 
ablegen,  wie  nun  diese  Strömung  auch  nach  Kreta  gelangte,  womit 
sich  auch  die  historische  Sage  trefflich  vereinigen  Hesse,  dass  nicht 
lange  nach  dem  Heraklidenzuge  Dorier  vom  Peloponnes  nach  Kreta 
hinübergeführt  wurden. 

Weniger  einheitlich  wirken  einige  -  ^^'^-^^ , 

aus  boeotischen  Funden  stammende 
Bronzearbeiten  (A.  d.  I.  1880,  t.  G — I). 
In  ihnen  mischen  sich  nicht  nur  fremde 
Einflüsse  mit  einheimischen  Elementen, 
sondern  wir  erkennen  auch  an  ihnen, 
wie  die  Verschiedenheit  des  technischen 
Verfahrens  bei  der  Herstellung  mehr- 
fach die  gesammte  Ausdrucksweise  und  den  künstlerischen  Charakter 
bedingen.  Auf  einem  Bronzeblechstreifen  und  einer  Fibula  aus  Theben 
(G)  sind  die  Darstellungen:  ein  Henkelkreuz,  ein  Schiff,  Vierfüssler, 


83.    Bronzefragment  aus  Boeotien. 


Alle  Bronzearbeiten, 


1  2  I 


Vögel,  Fische,  auch  menschliche  Gestalten  in  gravirter  Zeichnung  her- 
gestellt (Abb.  82).  Wenn  nun  diese  in  ihrer  linearen  Behandlungs- 
weise,  wenn  namentlich  die  für  die  Innenzeichnung  verwendeten  Zickzack- 
linien äusserhch  an  den  Dipylonstyl  erinnern,  so  verleugnet  sich  nicht 
nur  in  dem  Mangel  an  innerem  Ver- 
ständniss  der  einzelnen  Figuren,  besonders 
in  der  Charakteristik  ihrer  Bewegung, 
sondern  auch  in  der  Zusammenordnung 
der  Figuren  im  Räume  völlig  das  für 
diesen  Styl  so  entscheidende  geometrisch- 
tektonische  Princip,  während  ausserdem 
unter  den  Thierfiguren  der  dem  orientali- 
sirenden  Styl  angehörige  Löwe  als 
fremdes  Element  auftritt.  An  einigen 
anderen  Fragmenten  (I  und  H  unten) 
führte  die  Relieftechnik  des  Heraus- 
treibens aus  dem  Metallblech  zu  einer 
ruhigeren  und  fliessenderen  Behandlung 
der  Umrisse,  wie  wir  sie  in  asiatisirenden 
Arbeiten  zu  beobachten  gewohnt  sind, 
und  weist  schon  das  organischere  Ver- 
ständniss  in  der  Gesammtauffassung  der 
Thiere,  noch  mehr  aber  die  Haltung  des 
Wagenlenkers  und  besonders  das  lebendig 
bewegte  Schema  eines  knieenden  Bogen- 
schützen (Abb.  83)  wieder  auf  die  Selb- 
ständigkeit und  Unabhängigkeit  des  grie- 
chischen Geistes  hin. 

Ein  mannigfaltigeres  Bild  gewähren 
die  Funde  von  Olympia.  Aus  der  ältesten 
Zeit  sind  in  rein  Ornamentalem  der  geome- 
trische, wie  der  asiatisirende  Styl  vertreten,  theils  gesondert,  theils  bereits 
in  mehrfacher  Vermischung  (Furtwängler,  Bronzefunde  von  Olympia, 
Abh.  d.  Berk  Akad.  1879;  A.  d.  I.  1880,  t.  F).  Unter  den  von  Curtius 
(das  archaische  Bronzerelief  aus  Olympia,  Abh.  d.  Berl.  Akad.  1879) 
publicirten  Stücken  verräth  das  Relief  eines  Bronzestreifens  (S.  11),  eine 
Reihe  von  Rindern,  deren  vorderstes  unter  dem  Schlage  eines  Opferers 
bereits  ins  Knie  gesunken  ist,  kaum  eine  Anlehnung  an  fremde  Muster, 
wenn  auch  die  Selbständigkeit  der  Erfindung  bei  der  Unbeholfenheit 


84.    Bronzeplatte  aus  Olympia. 


122 


Viertes  Capitel.     Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


der  Ausführung  noch  nicht  zu  einem  festen  Ausdrucke  gelangt  ist.  Eine 
Silberplatte  mit  gestanzter  Arbeit  (S.  12):  ein  geflochtenes  Band,  ein 
Palmettenstreif,  Löwen,  Sphinxe,  mag,  wenn  auch  etwas  ungeschickter 
in  der  Ausführung,  an  die  Goldarbeiten  des  Regulini-Galassi'schen 
Grabes  in  Caere  erinnern.  Besonders  lehrreich  ist  aber  eine  Bronzeplatte 
mit  getriebenem  Flachrelief  (T.  I  u.  II)  (Abb.  84):  von  viereckiger  Gestalt, 
mag  sie  zur  Bekleidung  eines  drei-  oder  vierseitigen  Geräthes  gedient 
haben  und  erinnert  durch  ihre  nach  oben  sich  verjüngende  Gestalt 
an  den  berühmten  Untersatz  des  Glaukos.  Das  Ganze  ist  nach  seiner 
Höhe  in  vier  Felder  getheilt.  In  dem  obersten  stehen  drei  Vögel, 
wohl  Adler,  in  abwechselnder  Wendung,  in  dem  folgenden  zwei 
Greife  einander  gegenüber;  im  dritten  verfolgt  Herakles  in  halb 
laufender,  halb  knieender  Stellung  einen  nach  ihm  zurückblickenden 
Kentauren  mit  seinen  Pfeilschüssen.  Das  letzte,  fast  die  halbe  Höhe 
des  Ganzen  ausmachende  Feld  nimmt  das  Bild  der  viergeflügelten  sog. 
persischen  Artemis  ein,  welche  mit  jeder  ihrer  seitlich  ausgestreckten 
Hände  einen  am  Hinterbein  gepackten  Löwen  schwebend  emporhält. 

Niemand  wird  daran  zweifeln,  dass  diese  auf  einer  einzigen  Platte 
vereinigten  Darstellungen  auch  von  einer  und  derselben  Hand  ge- 
arbeitet sind;  und  doch  zeigt  sich  in  ihnen  kein  übereinstimmender 
einheitlicher  Styl.  Die  beiden  Greife  und  die  Artemis  sind  innerhalb 
der  Grenzen  einer  bestimmten  Vortragsweise  in  sich  abgeschlossen 
und  abgerundet;  die  Ausführung  verräth  sogar  eine  gewisse  Eleganz, 
wie  sie  sich  aus  einer  sicheren  Handhabung  der  zu  Gebote  stehenden 
Mittel  ergiebt.  Diesen  Vorzügen  gegenüber  lässt  sich  in  den  beiden 
anderen  Feldern,  an  den  Adlern  und  dem  Kentaurenkampfe,  eine  ge- 
wisse Eckigkeit  und  Unbehülflichkeit,  ein  Mangel  an  Rhythmus  in 
der  Linienführung  nicht  ableugnen.  Die  Erklärung  für  diese  Ver- 
schiedenheit ist  leicht  zu  finden.  Die  Darstellungen  der  beiden  ersten 
Felder  sind  den  Vorbildern  einer  fremden,  der  asiatischen  Kunst  ent- 
nommen, die  beiden  andern  sind  eigene  Erfindung. 

Die  Vereinigung  dieser  Gegensätze  in  dem  Rahmen  eines  und 
desselben  Werkes  muss  uns  aber  zu  w^eiterem  Nachdenken  über 
die  tiefere  Bedeutung  derselben  anregen.  Wo  dem  Künstler,  wie 
in  den  Greifen  und  der  Artemis,  sein  Thema  bereits  in  bestimmter 
schematischer  Gestaltung  gegeben  war,  da  blieb  ihm  über  den 
ersten  Theil  seiner  Aufgabe,  über  Inhalt  und  Gedanken,  nichts  zu 
denken  übrig.  Er  sah  sich  auf  eine  Aufgabe  zweiter  Ordnung  zurück- 
gewiesen: das  Gegebene  in  Allem,  was  die  Ausführung  im  weitesten 


Alte  Bionzearbeiten. 


123 


Sinne  anlangt,  in  das  Feinere  durchzubilden.  Hierbei  durfte  er  es 
allerdings  wagen,  die  Schranken  früherer  Vortragsweisen  zu  über- 
schreiten und  die  Formen  derselben  in  gewissem  Sinne  neu  zu  beleben, 
indem  er  die  decorativ- schematische  Behandlung  durch  Einführung 
strengerer  tektonischer  Principien  zu  läutern  und  auf  eine  höhere  Stufe 
künstlerischen  Styls  zu  erheben  unternahm.  Das  hat  er  in  diesen 
Arbeiten  erreicht:  sie  bezeichnen  sogar  einen  Grenz-  oder  Endpunkt, 
den  diese  Entwicklung  aus  sich  selbst  und  durch  innere  Kraft  nicht 
zu  überschreiten  vermocht  haben  würde,  ohne  mit  ihrem  eigenen 
Princip  in  Widerspruch  zu  gerathen.  Ja,  als  nun  der  Künstler  an  die 
Darstellung  des  Kentaurenkampfes  Hand  anlegte,  da  musste  er  sogar 
zu  einem  grossen  Theile  auf  die  Verwendung  des  bereits  erworbenen 
formal-technischen  Besitzes  verzichten.  An  die  Stelle  der  Aufgabe,  ein 
gegebenes  Thema  im  Sinne  desselben  weiter  durchzubilden,  war  eine 
andere  getreten:  nicht  etwa  nur  ein  neues  Schema  aufzustellen,  sondern 
für  neue  Vorstellungen  und  Ideen,  für  eine  bewegte  Handlung  den 
künstlerischen  Ausdruck  zu  finden.  Hier  aber  versagt  das  Schematisch- 
Abgerundete  den  Dienst;  es  würde  der  Freiheit  in  der  Entfaltung 
dieser  Gedanken  Fesseln  angelegt  haben.  Es  galt  vielmehr,  neue 
Formen  zu  suchen,  die  nicht  zunächst  für  sich  selbst  einen  künstle- 
rischen Werth  in  Anspruch  nahmen,  sondern  nur  als  das  Mittel,  um 
einen  Gedanken  auszusprechen,  dienen  sollten.  Mochten  dabei  die 
ersten  Versuche  noch  an  Ungelenkigkeit  leiden,  mochte  das  Streben 
nach  Klarheit  und  Schärfe  der  Bezeichnung  noch  zu  Uebertreibungen 
führen,  so  w^ar  doch  ein  neuer  Ausgangs- 
punkt gegeben,  von  dem  aus  der  Geist 
der  Freiheit  in  voller  Unabhängigkeit 
und  aus  eigener  Kraft  die  Vermittlung 
zwischen  Inhalt  und  F'orm  bis  zu  voll- 
ständiger rhythmischer  Ausgleichung 
durchzuführen  vermochte. 

Durch  diese  Scheidung  zwischen 
einer  von  fremden  Mustern  abhängigen 
und  einer  selbständigen  Kunst  haben  wir 
uns  den  Weg  gebahnt  zur  Betrachtung 
einer  weiteren  Reihe  olympischer  Bronzen 

(Ausgrab.  IV,  T.  18  u.  19;  Curtius  a.  a.  O.).  Es  sind  kleine  Bronze- 
bleche mit  getriebener  oder  gepresster  Arbeit,  von  sehr  gleichartigem 
Charakter,  wenn  nicht  überhaupt  zusammengehörig,  deren  umrahmte 


85.    Bronzerelief  aus  Olympia. 


124 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


86. 


Relief  eines  griechischen 
Spiegelgriffes. 


Felder  von  etwa  fünf  Centimeter  im  Geviert  mit  Figurendarstellungen 
gefüllt  sind.  Von  der  ersten  ist  nur  ein  Knappe  zu  Ross  theilweise 
erhalten.  Auf  einem  zweiten  Fragment  mit 
zwei  zusammenhängenden,  übereinand.ergeord- 
neten  Feldern  sehen  wir  links  oben  den 
unteren  Theil  einer  am  Boden  sitzenden  unbe- 
kleideten Figur;  unten  Herakles,  der  die  Keule 
gegen  einen  hässlichen  Dämon  mit  struppigem 
Haare  schwingt;  rechts  oben  eine  laufende 
Flügelgestalt  und  unten  Herakles  mit  einem 
fischleibigen  greisen  Meerdämon  ringend 
(Abb.  85).  Ein  drittes  endlich,  nur  zur  linken 
Hälfte  erhalten,  lässt  sich  mit  Hilfe  der  sachlich, 
wenn  auch  nicht  mechanisch  übereinstimmenden 
Wiederholung  an  der  Handhabe  eines  Spiegels 

vollständig  ergänzen  (Furtwängler  in  der  Festgabe  an  E.  Curtius 
S.  179,  T.  IV)  (Abb.  86):   der  greise  Priamos,   von  Hermes  gefolgt, 

berührt  flehend  das  Kinn  des  Achilles,  um 
den  am  Boden  liegenden  Leichnam  des 
Hektor  zu  erbitten.  —  Nur  das  gedrehte 
Band  und  etwa  das  Schematische  der  lau- 
fenden Gestalt  und  ihrer  Beflügelung  mahnen 
noch  an  fremde  Vorbilder.  In  den  Figuren 
selbst  herrscht  durchaus  griechischer  Geist, 
der  Geist  der  griechischen  Sage,  der  nament- 
lich in  der  Lösung  des  Hektor  zum.  ein- 
fachsten und  klarsten  Ausdruck  gelangt  und 
gerade  darin  sich  zeigt,  dass  er  sich  nicht 
sclavisch  an  die  Einzelnheiten  der  home- 
rischen Erzählung  hält.  Da  ist  Hermes 
gegenwärtig,  um  die  Bitte  des  Priamos  zu 
unterstützen;  Achilles  liegt  nicht  beim  Mahle, 
sondern  steht.  Die  Geschenke  fehlen  ganz: 
es  genügt  das  Flehen  des  Priamos,  das  Zu- 
reden des  Hermes,  die  gegen  Hektor  deu- 
tende Rechte  des  Achilles,  um  uns  die  Ge- 
währung der  Lösung  verstehen  zu  lassen. 
Nur  für  den  greisen  König  geziemt  sich  die  lange  Bekleidung  und  der 
stützende  Stab;  die  anderen  sind  nackt,  der  Krieger  durch  die  Lanze,  der 


J 


J 


Bronzerelief  aus  Kreta 


Alte  Bronzearbeiten. 


Gott  durch  den  Heroldstab  bezeichnet.  Im  Formalen  ist  der  Reinigungs- 
process  bereits  zu  einer  bestimmt  ausgeprägten  Formensprache  fort- 
geschritten, so  dass  schon  die  Vergleichung  späterer  Erscheinungen, 
die  uns  natürhch  hier  noch  fern  liegt,  gestatten  wird,  auf  die  pelo- 
ponnesische  Herkunft  dieser  kleinen  Arbeiten  zu  schliessen,  auch  wenn 
wir  nicht  durch  den  Schriftcharakter  des  dem  Meerdämon  beige- 
schriebenen ahog  yegcov  auf  das  Gebiet  von  Argos  hingewiesen  würden. 

Vor  der  Betrachtung  eines  grösseren  olympischen  Fragmentes 
empfiehlt  es  sich,  eines  Bronzereliefs  (von  0,185  m  Höhe)  kretischer 
Herkunft  zu  gedenken  (A.  d.  I.  1880,  t.  T.),  in  dessen  Darstellung 
wohl  sicher  Apollo  zu  erkennen  ist,  wie  er  dem  Herakles  gegenüber- 
tritt, um  diesem  den  von  ihm  auf  den  Schultern 
fortgetragenen    Hirsch    wieder  abzunehmen 

(Abb.  87).  Die  Figuren,  nur  ganz  schwach  -| 
über  die  Grundfläche  herausgehoben,  auf  die  '-^  '      |  1 

sie  aufgesetzt  zu  werden  bestimmt  waren,  und  ^>--^.^  '  i  | 


an  ihren  Umrissen  aus  dem  Bronzeblech  heraus-       ^  1 
geschnitten,  wirken  auch  in  ihrer  Innenbildung    ;  | 
nicht  durch   die   Rundung  der  Modellirung,       ^  , 
sondern   als    entschiedenes    Flachrelief,    man    |  1  j  \  \ 
möchte    sagen,    als    Reliefzeichnung,    deren     ,  i  1  _ 
Scharfkantigkeit  uns  wieder  auf  den  geome-  . 
trischen  Styl  der  Dipylonvasen  als  Ausgangs- 
punkt zurückweist.   Noch  sind  die  Verhältnisse  r  ■ 

^  88.    Bronzereliei  aus  <)lympia. 

und  Einzelnheiten  nicht  correct;  das  Ganze  ist 

zu  knapp  und  gestreckt;  aber  es  herrscht  eine  richtige  Vorstellung  von 
den  Gestalten  in  ihrer  Gesammterscheinung,  und  die  Handlung  spricht 
sich  in  dem  Zugreifen  des  Apollo  in  naiver  Unbefangenheit  aus.  Leicht 
können  wir  uns  im  Geiste  vergegenwärtigen,  wie  die  Kunst  von  den 
bezeichneten  Grundlagen  aus  durch  verschiedene  Mittelstufen  hieher 
gelangt  ist,  durch  eigene  Kraft  und  ohne  jede  Anlehnung  an  fremde 
Vorbilder,  an  denen  es  doch  in  Kreta  durch  die  Einfuhr  vom  Osten 
her  nicht  gefehlt  haben  wird. 

Das  grössere  olympische  Fragment  (Ausgrab.  IV,  T.  XX)  (Abb.  88) 
enthält  in  einer  Umrahmung  nur  eine  knieende  Figur,  wahrscheinlich 
Herakles,  der  auch  in  dieser  Stellung  über  eine  Höhe  von  40  cm.  hinaus- 
ging. In  dem  technischen  Verfahren,  dass  die  Gestalt  in  ihren  Umrissen 
aus  dem  Metallblech  herausgeschnitten  ist,  stimmt  dieses  Flachrelief  mit 
dem  kretischen  überein,  und  bietet  auch  sonst  in  der  künstlerischen 


126 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


Behandlung  manche  Vergleichspunkte  dar.  Es  mag  zum  Theil  durch 
die  Grössen  Verhältnisse  bedingt  sein,  dass  der  Künstler  etwas  mehr 
nach  Rundung  und  Fülle  der  Körperformen  strebt;  anderen  Theils 
scheint  er  in  der  künstlerischen  Entwicklung  etwas  weiter  fortge- 
schritten. Doch  lässt  sich  über  den  stylistischen  Charakter  im  engeren 
Sinn  an  dieser  Stelle  noch  nicht  urtheilen.  Hier  galt  es  zunächst,  so 
weit  es  ein  lückenhaftes  Material  überhaupt  gestattete,  den  Nachweis 
zu  liefern,  wie  in  den  Bestrebungen  dieser  Zeit  bei  allem  Wechsel  der 
Erscheinungen  doch  Alles  nur  auf  ein  Ziel  hinarbeitete,  auf  die  fort- 
schreitende Erstarkung  des  hellenischen  Geistes  nicht  weniger  nach 
der  Seite  der  künstlerischen  Eorm,  wie  des  ganzen  Inhaltes. 

Indessen  besitzen  wir  zur  Ergänzung  unserer  Anschauungen  noch 
eine  Denkmälerklasse,  die  einer  besonderen  Betrachtung  vorbehalten 
bleiben  musste,  nemlich  die  bemalten  Thongefässe. 

Die  Vasenmalerei. 
Die  kyprische  Keramik.    Ehe  wir  unsere  Erörterungen  von 
der  Stelle  aus  weiter  verfolgen,  w^o  wir  dieselben  früher  verlassen 


89—91.    Kyprische  Gefässe. 


haben,  empfiehlt  es  sich,  einen  Blick  nach  einem  Punkte  im  Osten  zu 
werfen,  nach  Cypern,  um  uns  darüber  klar  zu  werden,  ob  diese  Insel 
diejenige  Bedeutung,  die  wir  ihr  auf  gewissen  Gebieten  der  Kunst- 
industrie zuerkennen  mussten,  auch  auf  dem  der  Keramik  bewahrt. 

Die  kyprische  Keramik  geht  in  ihrer  Decoration  aus  von  linearen 
Ornamenten,  die  eingeritzt  oder  aufgemalt  sind  (Perrot  III,  Fig.  485  ff.), 
von  einfachen  Mustern,  schmalen,   geraden  und  Zickzackbändern,  mit 


Vasenmalerei:  Kyprische  Keramik. 


127 


Schraffierung  ausgefüllten  Drei-  und  Vierecken,  die  sich  der  Form  der 
Gefässe  in  einer  gewissen  Ordnung  anzupassen  suchen,  aber  nicht  aus 
den  Grundbedingungen  der  Form  herauswachsen  (Abb.  90  u.  91).  Es 


92.  u.  93.    Kyprische  Vasen. 


fehlt  anfangs  sogar  die  aus  der  Bewegung  der  Drehscheibe  mit  einer 
gewissen  Nothwendigkeit  sich  ergebende  horizontale  Gliederung.  Wie 
wenig  Verständniss  für  dieselbe  vorhanden  ist,  verräth  sich  recht  deutlich 
in  der  Einführung  der  Kreislinie  für  senkrechte  Verwendung,  die  bei 
gewissen  fassartigen  Gefässen  (Perrot  496)  in  der  Art  von  Reifen  noch 
gerechtfertigt  erscheint,  aber  bei  der  Kugelform  (497)  (Abb.  89)  den 
Raum  nicht  sowohl  gliedert  als  zerschneidet,  und  daher  auch  nirgends 
Nachfolge  gefunden  hat.  Weiter  finden  sich  mehrfach  horizontale 
Streifen  und  Gliederung  in 
quadratische  oder  rhomboidale 
Felder  (507)  (Abb.  92),  welche 
wohl  unverkennbar  auf  den 
geometrischen  Styl  hinweisen; 
was  uns  nicht  gerade  Wunder 
nehmen  wird,  insofern  wir  unter 
kyprischen  Funden  wenigstens 
einem  Musterstücke  des 
echten  Dipylonstyles  (517)  be- 
gegnen, das  doch  nur  der  Heimat  desselben  entstammen  kann.  Doch 
wird  ein  solcher  Import  weder  massenhaft  noch  andauernd  genug  ge- 
wesen sein,  um  vollständig  umgestaltend  zu  wirken.    Weit  eher  musste 


94.    Ornamentmotiv  einer  kyprischen  Schale. 


128 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


die  Nähe  Asiens  einen  bestimmenden  Einfluss  ausüben.  Wir  begegnen 
ihm  in  den  Pflanzenornamenten,  den  Rosetten,  Palmetten,  in  voluten- 
artigen Verbindungen.  Aber  finden  wir  z.  B.  für  das  säulenartige  Schema 
(518;  Cesnola,  Cyprus  p.  55;  t.  XLII,  2)  (Abb.  93)  irgendwo  ein  so  weit 
entsprechendes  Vorbild,  dass  wir  sagen  könnten,  es  sei  von  demselben 
geradezu  abgeschrieben?  Dann  sehen  wir  die  Lotosblüte  (508)  zur 
Füllung  quadratischer  Felder  verwendet,  die  Rosette  in  geometrische 
Decoration  eingeführt  (507)  und  neben  diese  wieder  ein  Anthemienband 
(507,  Cesnola  S.  181)  als  selbständiges  Glied  hingesetzt.  Weiter  ver- 
binden sich  wieder  Lotosblumen  mit  mehr  naturalisirenden  Pflanzen- 
gebilden (521 ;  Herrmann,  Gräberfeld  von  Marion,  48  tes  Winckelmanns- 


95.    Flügelgestalt  auf  einer 

kyprischen  Vase.  96.    Streitwagen.   Bild  einer  kyprischen  Vase. 


Programm  1888,  Fig.  29 — 31),  die  sich  nicht  wohl  als  Ueberbleibsel 
oder  Weiterbildungen  mykenischen  Styls  auffassen  lassen,  um  so 
weniger,  als  ein  Hauptbestandtheil  desselben,  das  Ueberwiegen  der 
Geschöpfe  des  Meeres,  hier  nirgends  eine  Nachfolge  gefunden  hat. 
Eigenthümlichen  Widersprüchen  begegnen  wir  in  den  Darstellungen 
lebender  Wesen :  Vierfüsslern  ganz  problematischer  Natur,  Vögeln,  einem 
Fische,  mit  rundlichen  Körpern  und  eckigen,  man  möchte  sagen^ 
stachligen  Aussentheilen ,  deren  Innenzeichnung  mit  schematischen 
Linien  in  einer  Weise  ausgeführt  ist,  welche  an  die  sogenannte  Feder- 
stickerei (Semper,  Stil  I,  194)  erinnert  (P.  509 — 11;  517  — 19;  Cesnola 
pl.  44 — 46)  (Abb.  94  u.  95).  In  einigen  Menschengestalten  und  Pferdege- 
spannen (525 — 26)  (Abb.  97)  glaubt  man  eine  äusserliche,  aber  im  Princip 
völlig  missverstandene,  verweichlichte  Nachahmung  des  Dipylonstyles 
zu  erkennen,  während  ein  Gespann  mit  Lenker  und  Bogenschützen 
(527 — 28)  (Abb.  96)  in  gleicher  Weise  auf  ein  eben  so  missverstandenes 


Vasenmalerei :  Kyprische  Keramik. 


129 


Vorbild  eines  assyrischen  Reliefs  hinweist.  Wo  solche  Anklänge 
fehlen  (520 — 23;  531;  Jahrb.  d.  Inst.  I,  T.  8),  da  handelt  es  sich  bei 
menschlichen  Fig-uren  um  eine 
unsichere  und  schwankende  j 
Wiedergabe  der  äusseren  Er- 
scheinung ohne  einen  be- 
stimmten stylistischen  Cha-  I 
rakter,  während  z.  B.  die  Dar- 
stellung einfachen  Sitzens  voll-  1 
ständig  missrathen  ist,  die  Ge-  i 
stalten  vielmehr  quer  über  den 
Stuhl  gelegt  oder  gehängt 
scheinen  (523)  (Abb.  98).  —  Launenhafte  Willkür  verräth  sich  in  allerlei 
Gefässformen  (4g  i  ff.) ;  und  auch  in  einer  eigenthümlichen  Gattung  von 
Thonkrügen  mit  plastischer  Verzierung  (Herrmann  S.  46  ff.),  die  noch 
in  weit  jüngere  Zeiten  herabreicht,  hat  sich  zwar  eine  Art  Typus  fest- 
g"estellt,  nicht  aber  eine  tektonisch  durchgebildete  Stylistik. 

Lassen  sich  diese  Wider- 
.sprüche  der  einzelnen  Erschei- 
nungen einigermaassen  unter 
einem  einheitlichen  Gesichts- 
punkte vereinigen?  Aegypten 
und  Asien  besassen  keine  Kera- 
mik, wenigstens  keine  Art  ge- 
malter Keramik,  welche  als  eine 
Vorstufe  zu  der  griechischen 
hätte  überleiten  können.  Der  kyp- 
rische Töpfer  fand  also  keine 
Vorbilder,  an  die  er  sich  un- 
mittelbar hätte  anlehnen,  auf 
deren  Grundlage  er  sofort  hätte 
weiter  bauen  können.  Noch  fehlte 
ihm  die  Kraft,  die  Anregungen, 
die  er  etwa  durch  andere  Pro- 

98.    Kyprische  Vase. 

ducte  der  Teppichweberei,  der 
Metallarbeit  erhielt,  in  der  nothwendigen  Umbildung  auf  das  Gebiet  der 
Keramik  zu  übertragen.  Der  Einfluss  des  geometrischen  Styls,  der  sich 
da  und  dort  nicht  verkennen  lässt,  war  nicht  stark  und  andauernd  genug, 
um  sich  nachhaltig  und  innerlich  wirksam  zu  erwei§en.  Dazu  gesellt  sich 

9 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


noch  der  weitere  Umstand,  dass  kyprische  Thonwaaren  niemals  Aus- 
fuhrartikel geworden  zu  sein  scheinen.  So  ging  die  kyprische  Töpferei 
über  den  gewöhnlichen  Handwerksbetrieb  nicht  hinaus,  dem  ein  Streben 
nach  einer  fortschreitenden,  eigentlich  künstlerischen  Entwicklung 
fremd  blieb.  In  den  einzelnen  Töpfereien  beschied  man  sich,  dem  all- 
gemeinen menschlichen  Triebe  nach  allerlei  Ausschmückung  auch  des 
gewöhnlichen  Geräthes  Genüge  zu  leisten,  indem  man  dazu  die  ver- 
schiedenartigsten Elemente  entnahm,  wo  und  wie  man  sie  gerade  fand. 
Ob  daran  phönikische  oder  griechische  Arbeiter  den  überwiegenden 
Antheil  hatten,  ist  fast  eine  müssige  Frage.  Selbst  das  Vorkommen 
semitischer  Typen  (z.  B.  P.  519)  genügt  noch  nicht  zum  Beweise  für 
phönikische  Herkunft,  da  gerade  der  ausgeprägte  Charakter  derselben 
einen  nicht  stammverwandten  Maler  zur  Nachahmung  anreizen  konnte 
(vgl.  Jahrb.  d.i.  II,  S.  46 — 47).  Ein  bestimmtes  Ziel  einer  Entwicklung 
ist  kaum  erstrebt,  jedenfalls  nicht  erreicht  worden;  und  auf  die 
griechische  Keramik  bleibt  dieser  locale  kyprische  Betrieb  ohne  sicht- 
baren Einfluss. 

Wollen  wir  daher  den  Fortschritt  auf  griechischem  Boden  weiter 
verfolgen,  so  werden  wir  am  besten  da  wieder  anknüpfen,  wo  wir 
früher  die  Anfänge  einer  selbständigen  Entwicklung  gefunden  haben. 

Die  Fortsetzung  des  Dipylonstyls.  In  den  früheren 
Erörterungen  über  die  Vasenmalerei  (s.  o.  S.  52  ff.)  handelte  es  sich  um 
die  zwei  Hauptgruppen  des  mykenischen  einerseits,  des  geometrischen  und 
Dipylonstyls  andrerseits,  die,  ursprünglich  von  einander  unabhängig,  nur  in 
den  jüngsten  Stufen  der  in  Mykenae  und  Tirynth  vertretenen  Funde  sich 
berührten  und  einigermaassen  zu  beeinflussen  begannen.  Die  mykenische 
scheint,  vielleicht  in  Folge  der  grösseren  politischen  Veränderungen, 
die  wir  mit  den  Wanderungen  hellenischer  Stämme  von  Norden  her 
in  Verbindung  brachten,  die  Fähigkeit  verloren  zu  haben,  sich  aus 
eigener  Kraft  oder  mit  Hülfe  fremder  Elemente  weiter  fortzubilden, 
wie  sie  umgekehrt  auch  nur  in  geringem  Umfange  durch  einzelne 
decorative  Elemente  auf  andere  Richtungen  befruchtend  einzuwirken 
vermochte.  Anders  der  Dipylonstyl,  der,  ohne  seine  ursprüngliche 
Natur  zu  verleugnen,  sich  in  einer  fortwährenden  Umbildung  verfolgen 
lässt.  Schon  in  zwei  athenischen  Fragmenten  (A.  Z.  1885,  S.  13  i  u.  139) 
(Abb.  100)  tritt  uns  in  äusseren  Dingen,  den  runden  Schilden  und  Helmen 
der  Krieger,  in  der  Einführung  eines  Viergespannes  an  Stelle  der  Zwei- 
gespanne, ein  merkbarer  Wechsel  entgegen.  In  zwei  anderen  Dipylon- 


Vasenmalerei:  Fortsetzung  des  Dipylonstyles. 


Von  einer  Vase  des  Dipylonstyles  aus  Athen. 


vasen    (ebd.  T.  8,  in  Kopenhagen)   (Abb.  gg)    sind  die  Thier-  und 
menschHchen  Gestalten  die  richtigen  Nachkommen  der  früheren.  Aber 
wenn  sie  auch  noch  auf  das  Kernschema  des  Körpers  den  Haupt- 
nachdruck legten  und  noch  nicht 
zu    einer    eigentlich  fleischigen 
Behandlung    der    Körper  fort- 
schritten,  so  tritt  doch  das  Be- 
streben hervor,  die  äusseren  Be- 
grenzungen   mehr   zu  gliedern, 
besonders  aber  die  Gebundenheit 
in   der  Stellung  der  Beine  und 
namentlich  in  der  Haltung  der 

Arme  in  eine  Bev^egung  zur  Darstellung  gewisser  Handlungen  über- 
zuleiten, freilich  nur  in  der  engen  Begrenzung,  die  wir  als  den  ersten 
Schritt  des  Heraustretens  aus  dem  Schema  der  Ruhe  bezeichnen  dürfen. 
Denn  z.  B.  bei  der  Darstellung  eines  im  Kampfe  (schräg)  fallenden 
Kriegers  fehlt  die  Kenntnis  der  Mechanik  des  Körpers  noch  ebenso 
wie  früher;  und  eben  so  wenig  gelungen  ist  die  Gestalt  eines  in  dem 
Rachen  zweier  Löwen  schwebenden  Mannes.  In  dieser  Gruppe  tritt 
uns  aber  zugleich  das  Eintreten  eines  fremden  Elementes  entgegen 
durch  die  Einführung  der  dem  Dipylonstyl  früher  gänzlich  fremden 
Löwen,  und  hier  zwar  in  besonders  lehrreicher  Weise.  Denn  wenn 
v^ir  an  den  übrigen  Thieren,  Pferden,  Hirschen,  Vögeln,  trotz  ihrer 
Unvollkommenheit  immer  noch  erkennen,  dass  der  Maler  von  eigener 
Beobachtung  der  Natur  ausging,  so  lassen  uns  seine  Löwen  kaum 
einen  Zweifel  übrig,  dass  er  nie  einen  wirklichen  Löwen  gesehen, 

sondern  dass  er  von  einem  gege- 
benen Bilde  eines  Löwen  ausging, 
welches  er  in  den  Schematismus  der 
ihm  geläufigen  Thierwelt  gewisser- 
maassen  zurückübersetzte.  Auch  in 
der  Ornamentik  überwiegen  noch  die 
früheren  Elemente,  und  die  auf  dem 
Grunde  zerstreuten  rosettenartigen 
Gebilde  sind  nicht  genaue  Nach- 
ahmungen fremder  Muster;  sie  zeigen  aber,  dass  der  Maler  solche  Muster, 
etwa  orientalische  Teppiche,  gesehen  und  in  seinem  Sinne  verwerthet  hat. 

An  einer  dreihenkeligen  Kanne  aus  der  Nähe  von  Athen  (Jahrb. 
d.  I.  II,  T.  3)  bewahrt  der  Dipylonstyl,  wie  in  dem  unteren  Streifen 

9* 


100.    Von  einer  Vase  de 
in  Athen. 


Dipylonstyles 


Viertes  Capite].    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


von  Vögeln  und  weidenden  Rehen,  so  auch  in  dem  Figurenschmuck 
des  schlanken  Halses  seine  Geltung  in  fast  unvermischter  Reinheit. 
Ein  zweifacher  Chor  von  nackten,  sich  anfassenden  und  Zweige  haltenden 
Männern  und  eben  solchen  bekleideten  Frauen  und  einem  Leierspieler 
zwischen  ihnen,  das  Ganze  in  ruhiger  gemessener  Haltung,  boten  zur 
Weiterbildung  der  menschlichen  Gestalt  nur  mässigen  Anlass.  Dagegen 
machen  sich  in  dem  mittleren,  den  Körper  des  Gefässes  einnehmenden 
Streifen  entschieden  fremde  Einflüsse  geltend.   Da  sind  es  zuerst  wieder 


loi.    Bild  einer  Vase  aus  Atiika. 


I02.    Bild  einer  Vase  aus  Attika  (A.  vgl.  Abb.  103.) 


zwei  Löwen  (Abb.  loi),  die  zwar  noch  immer  keine  eigentliche  Natur- 
beobachtung verrathen  (man  beachte  nur  die  Zeichnung  der  Klauen),  aber 
doch  im  Ganzen  einen  Fortschritt  namentlich  in  der  Richtung  bezeichnen, 
dass  hier  das  ,, heraldische"  Schema  der  mit  erhobenen  Vorderbeinen  ein- 
ander gegenüberstehenden  Thiere  den  Principien  des  geometrischen  Styls 
mehr  assimilirt  ist,  während  dieselben  z.  B.  an  dem  storchähnlichen 
Vogel  in  der  Charakteristik  der  Beine  und  des  Halses  wieder  ungetrübt 
hervortreten.  Ebenso  überwiegt  das  Fremde  in  der  übrigen  Ornamentik. 
Mögen  sich  in  dieselbe  einige  Elemente  des  mykenischen  Styls  verirrt 
haben,  so  weisen  doch  die  Pflanzen-,  insbesondere  die  Palmettenbil- 


Vasenmalerei:  Fortsetzung  des  Dipylonstyles. 


I 


düngen  überwiegend  auf  den  Orient.  Und 
doch  werden  sich  für  die  einzelnen  Gebilde, 
so  wie  sie  sich  uns  darbieten,  keine  directen 
Vorbilder  nachweisen  lassen,  die  der  Maler 
geradezu  copirt  hätte.  Vielmehr  werden  wir 
auch  hier  annehmen  müssen,  dass  er  aller- 
dings fremde  Muster  vor  Augen  gehabt  und 
sich  durch  sie  hat  anregen  lassen,  ohne  darauf 
zu  verzichten,  dieselben  seinen  Anschau- 
ungen anzupassen  und  zu  versuchen,  das 
Gebiet  des  linearen  Systems  über  seinen 
einseitigen  eckigen  Charakter  hinaus  durch 
die  Einführung  der  geschwungenen  und 
Bogenlinien  zu  erweitern.  —  Unter  gleichen 
Gesichtspunkten  ist  ein  zweihenkeliger  Napf 
aus  Theben  (ebd.  T.  4)  (Abb.  102  u.  103)  zu 
betrachten.  Denn  so  erklärt  es  sich,  wie  der 
Maler  dieses  Gefässes,  obwohl  er  die  Pflanzen- 
ornamente dem  gleichen  Stylgebiet  entnahm, 
wie  der  vorige,  doch  aus  ihm  wieder  ganz 
abweichende  Formen  entwickelte.  Wenn 
er  sodann  bei  der  Zeichnung  der  Löwen, 
besonders  der  Köpfe  und  der  Klauen,  in 
der  Nachahmung  seiner  Muster  offenbar 
Fortschritte  gemacht  hat,  so  finden  wir  da- 
gegen in  den  Rehen  den  echten  Dipylon- 
styl  wieder.  Ja,  mag  selbst  die  Kentauren- 
gestalt in  der  Erfindung  fremden  Mustern 
entlehnt  sein,  so  ist  doch  die  Ausführung 
auf  das  Vollständigste  in  die  ihm  geläufige 
Vortragsweise  übertragen. 

Einen  eigenthümlich  abweichenden  Cha- 
rakter zeigt  eine  kleine  Gruppe  von  Ge- 
fässen,  meistens  Kannen,  die  wegen  ihres 
hauptsächlicjisten  Fundortes  in  der  Nähe  von 
Athen  als  Phaleronvasen  bezeichnet  werden 
(Böhlau  im  Jahrb.  d.  I.  II,  S.  44  ff.) 
Die  Ausführung  ist  von  mehr  derber  als 
sauberer  Ausführung.  Auch  an  ihnen  sind  die 


134 


Viertes  Capitel.    Erstarkimg  des  hellenischen  Geistes. 


fremden  Einflüsse  unverkennbar.  Sie  mahnen  aber  noch  mehr  als  die 
bisher  betrachteten  Beispiele  zur  Vorsicht  gegen  ein  übereifriges  Be^ 
streben,  nun  auch  jedes  Element  eines  Ornamentes  auf  bestimmte  Vor- 
bilder zurückzuführen.  Gerade  die  am  wenigsten  ent- 
wickelten Beispiele  (Böhlau  Fig.  3  ff.)  zeigen ,  wie  der 
Maler  verschiedene  Motive  durcheinander  mischt  und  sich 
aus  ihnen  etwas  Eigenes  zurecht  macht;  ja  wie  er  selbst 
bei  Thierfiguren,  z.  B.  Fig.  20,  das  Dipylon-Pferd  ge- 
wissermaassen  in  den  Styl  eines  asiatischen  Greifen 
übersetzt,  dann  Fig.  14  einen  Löwenkopf  in  vortreff- 
licher Charakteristik  malt,  bis  endlich  in  einigen  Kannen 
(Fig.  8;  München  221;  Lau,  griechische  Vasen  VIT,  i) 
(Abb.  104)  das  Ganze  zu  einer  gewissen  Einheitlichkeit 
verarbeitet  ist,  aber  durchaus  auf  der  Grundlage  des 
geometrischen  Styles. 
104.  Sogenannte  D^-S  Ictztc  Glicd  lu  dcu  bisherigen  Gruppirungen 

Phaieron-vase.  bildet  ciuc  am  Hymcttos  gefundene  Amphora  von 
ausserge wohnlicher  Grösse,  1,10  m  hoch:  Böhlau,  Tafel  5  (Abb.  105). 
Wenn  schon  bisher  das  Streben  hervorgetreten  war,  keinen  Theil  des 
Gefässes  von  malerischer  Ausschmückung  unbedeckt  zu  lassen,  so 
tritt  doch  hier  ein  weiterer  Wechsel  in  der  Richtung  ein,  dass  die 
Pflanzenornamentik  bereits  wieder  anfängt,  sich  zurückzuziehen.  Sie 
wird  spärlicher  als  Füllwerk  des  Grundes  und  tritt  als  zusammen- 
hängendes Band  nur  einmal  zwischen  Schulterbild  und  Körper  auf, 
und  zwar  schon  in  starker  Umbildung  zu  rein  tektonischer  Formulirung. 
Eben  so  findet  sich  ein  Thierstreifen  schreitender  Löwen  nur  in  unterster 
Reihe.  Die  menschliche  Gestalt  gewinnt  das  Uebergewicht:  je  ein 
Kämpferpaar  vorn  und  hinten  am  Halse;  fünf  in  ununterbrochener 
Folge  im  Hauptbilde  um  den  Körper  herum;  je  ein  Zweigespann 
und  ein  Reiter  auf  beiden  Schulterflächen.  Die  menschlichen  Körper 
bewahren  noch  immer  ihre  übermässige  magere  Schlankheit;  aber 
die  Glieder  sondern  sich  bestimmter;  die  Bewaffnung,  Beinschienen, 
Helme  und  Schilde  werden  mehr  im  Einzelnen  durchgebildet;  nur 
gering  ist  der  Fortschritt  in  der  Zeichnung  der  Köpfe.  Die  Handlung 
ist  noch  immer  kindlich  schematisch,  und  der  bedeutende  Schritt,  sie 
in  irgend  einer  Weise  individuell  zu  gestalten,  bleibt  noch  zu  thun 
übrig.  Dieser  aber  bildet  einen  neuen  Ausgangspunkt,  der  hier  noch 
nicht  in  Betracht  gezogen  werden  kann. 

Bhcken  wir  vielmehr  jetzt  nochmajls  auf  die  bisherigen  Erörte- 


Vasenmalerei :  Fortsetzung  des  Dipylonstyles.  —  Melos ;  Thera. 


rungen  zurück,  so  werden  wir  nicht  wohl  von  einem  „Zurückweichen 
(des  Dipylonstyls)  vor  den  zahlreich  und  mächtig  eindringenden  fremden 
Elementen"  (Böhlau,  S.  49)  reden  dürfen,  sondern  von  dem  Bestreben, 
PVemdes  sich  anzueignen,  dieses  durch  eigene  Kraft  umzubilden  und 
dem  eigenen  Besitz  einzuverleiben.  Und  eben  so  lässt  sich  an  der 
Richtigkeit  der  Ansicht  zweifeln,  dass  sich  „lange  der  geometrische 
Styl  in  aller  Strenge  neben  dem  immer  mächtiger  einströmenden 
Import  aus  dem  Osten  gehalten,  bis  es  diesem  gelang,  die  Herrschaft 
jenes  allmählich  zu  untergraben  und  endlich  zu 
stürzen"  (S.  60).  Denn  welches  sind  die  beson- 
deren Muster,  und  haben  sich  solche  überhaupt 
auf  dem  Boden  Attika's  gefunden,  die  wir  als 
directe  Vorlagen  betrachten  dürften  ?  Dass  Cypern 
sie  nicht  geliefert,  haben  wir  bereits  gesehen. 
Ueberhaupt  aber  würde  ein  unmittelbares  Ent- 
lehnen von  den  Malereien  fremder  Thongefässe 
der  Nachahmung  sicher  weit  mehr  den  Charakter 
eigentlicher  Copieen  aufgeprägt  haben.  Das  an- 
fängliche Ungeschick,  in  dem  sich  trotzdem  die 
eigene  Selbständigkeit  nicht  verkennen  lässt, 
weist  vielmehr  darauf  hin,  dass  die  fremden  An- 
regungen wenigstens  nicht  ausschliesslich,  ja  über- 
haupt wohl  weniger  durch  importirtes  gemaltes 
Geschirr,  als  durch  andere  Erzeugnisse  orien- 
talischer Industrie  erfolgten,  vor  allem  durch  die 

Muster  der  textilen  Künste,  welche  den  Bedingungen  und  Voraus 
Setzungen  der  Keramik  erst  anzupassen  waren. 


05.    Attische  Amphora  in 
Berlin. 


Melos;  Thera.  Die  fremden  Einflüsse,  welche  auf  dem  Boden 
Attikas  in  der  Weiterbildung  des  Dipylonstyles  hervortreten,  wiesen 
nach  Asien;  und  es  fragt  sich  jetzt,  ob  und  in  welcher  Richtung  sich 
dieselben  auch  an  anderen  Orten  geltend  gemacht  haben. 

Der  Weg  nach  dem  Osten  führt  über  die  Inseln  des  ägäischen 
Meeres.  Dass  dort  der  ältere  geometrische  Styl  nicht  fremd  war, 
zeigt  in  einem  ausgewählten  Beispiele  eine  Amphora  aus  Thera:  Conze, 
Anfänge  griech.  Kunst,  T.  9,  2.  Leider  ist  es  nicht  nachweisbar,  wenn 
auch  nicht  unwahrscheinlich,  dass  dem  Inselgebiet  zwei  andere  Gefässe 
(T.  1 1)  entstammen,  auf  denen  zur  Füllung  geometrischer  Feldertheilung 
als  ein  neues  Element,  aber  ohne  weitere  stylistische  Vermittlung,  je 


136 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


ein  Löwe  gelagert  ist.  Theräisch  ist  dagegen  wieder  eine  Kanne 
von  eigenthümlicher  Stylmischung  (M.  d.  I.  IX,  5,  i)  (Abb.  106).  Der  Hals 
und  die  Mündung  haben  die  Gestalt  eines  Greifenkopfes  von  jener  scharf 
charakterisirten  Bildung,  die  wir  schon  früher  (s.  o.  S.  11 6)  in  alten  Bronze- 
arbeiten kennen  gelernt  haben.  Das  Schulterbild  ist  in  drei  Felder 
gegliedert:  in  dem  mittleren  würgt  ein  Panther  einen  Hirsch,  zur 
vSeite  weidet  je  ein  friedliches  Pferd.  In  der  übrigen  Ornamentik 
wechseln  rautenförmige  und  mäanderartige  Muster  mit  dem  gewundenen 
Bande  und  einem  eigenthümlich  stylisirten,  an  Palmetten  nur  erinnernden 
Anthemienbande.  Aus  der  ganzen  Vortragsweise  leuchtet  noch  überall 
der  lineare  Charakter  des  geometrischen  Styls  deutlich  hervor.  Wie 
sich  aber  aus  den  Dipylonvasen  die  Phaleronkannen  als  eine  kleine 
Gruppe  aussondern,  die  sich  durch  eine  gewisse  derbe  Unbefangenheit 
auch  in  der  Ausführung  charakterisirt,  so  tritt  uns  auch  der  Maler 
des  theräischen  Gefässes  als  eine  gesunde  und  kräftige  Natur  entgegen, 
die  in  ihrer  Eigenart  eine  gesonderte  Stellung  genommen  hat  neben 
der  allgemeineren  Strömung  einer  Entwicklung,  wie  wir  sie  durch 

mehrere  Amphoren 
kennen  lernen,   die  wir 
wegen    ihres    fast  aus- 
schliesslichen Fundortes, 

der  Insel  Melos,  als 
melische   zu  bezeichnen 
pflegen:  Conze,  Melische 
Thongefässe  1862.  Inder 
Form   weichen   sie  von 

der  oben  erwähnten 
theräischen  des  geome- 
trischen Styls  nur  in  so 
weit  ab,  dass  sie  auf 
einem  höheren  Fusse  von 
der   Form    eines  abge- 

106.    Vase  aus  Thera.  StumpftCn   Kcgcls  ruhcn. 

Dagegen  hat  die  Orna- 
mentation,  wie  bei  den  jüngeren  Dipylonvasen,  bereits  von  der  ganzen 
Oberfläche  Besitz  genommen,  wobei  in  der  Mitte  des  Körpers  ein  höheres 
Feld  für  Figurenschmuck  hervorgehoben  wird.  Auf  der  ersten  (bei  Conze 
C,  Titelvignette;  Taf.  I,  2;  V,  i)  ist  dasselbe  vorn  und  hinten  je  durch 
zwei  einander  gegenüberstehende  Pferde  eingenommen  (Abb.  107).  In  den 


Vasenmalerei:  Melos;  Thera. 


umgürtenden  Streifen  sind  die  viereckigen  Gliederungen  durch  Runde 
ersetzt,  die  aus  concentrischen  Kreisen  oder  aus  grossen  linearen  oder 


107.  u.  108.    Vasen  aus  Melos. 


rankenartigen  Spiralen  gebildet  und  unter  einander  durch  nur  halb- 
entwickelte blumenkelchartige  Ornamente  zu  einem  Bande  verknüpft 
sind,  während  am  Halse  diese  Spiralen  in  doppelter  Reihung  je  zu  vier 
verbunden  wieder  an  die  quadratische  Felderth eilung  erinnern.  Im 
Hauptfelde  erscheinen  zwischen  den  Pferden  und  unter  den  Henkeln 
schon  reichere  und  strenger  entwickelte  Voluten-  und  Palmetten- 
schemata, dazu  auf  dem  Grunde  zerstreut  kleinere  Voluten  und  Rosetten 
und  nur  nebenbei  geringe  Reste  linearer  und  Zickzackornamente.  wSo 
entschieden  sich  also  asiatische  Elemente  in  den  Vordergrund  drängen; 
so  müssen  wir  doch  fragen,  ob  der  Wechsel,  welcher  sich  vollzogen, 
ein  fundamentaler  ist,  und  ob  die  Principien  des  geometrischen  Styles 
gänzlich  aufgegeben  sind.  Die  Hauptgliederungen  sind  geblieben.  Die 
Gürtungen  würden  sich  leicht  in  Vierecke  zerlegen  lassen,  denen  die 
Runde  nur  rein  zur  Füllung  dienten.  Wie  man  in  den  zusammen- 
geschobenen Bändern  an  den  Umrahmungen  der  mykenischen  Stelen 
und  in  dem  ausgebildeten  Mäander  das  gleiche  Grundschema  erkannt 
hat,  das  sich  nur  in  der  Ausführung  durch  gewundene  und  eckige 
Linien  unterscheidet  (s.  oben  S.  32,  Fig.  26),  so  liegt  auch  hier  der 
Unterschied  in  der  Uebertragung  aus  dem  gradlinigen  und  eckigen 
Schema  in  die  Kreis-  und  Spirallinie. 


■38 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


In  einer  zweiten  Vase  (bei  Conze  B,  Taf.  T,  i;4;5;  II)  (Abb.  io8) 
überwiegen  äusserlich  durchaus  die  orientalisirenden  Elemente;  aber  nicht 
nur,  dass  sich  daneben  die  Linearornamente  fast  noch  mehr  als  in  der 
vorigen  Vase  erhalten,  auch  die  neuen  Elemente  haben  sich  von  ihren 
ursprünglichen  Vorbildern  schon  so  weit  entfernt,  dass  sie  denselben 
im  Einzelnen  keineswegs  mehr  entsprechen;  sie  haben  bereits  einen 
tektonischen  Umbildungsprocess  erfahren,  haben  sich  aus  der  textilen 
Vertrocknung  befreit  und  mit  neuem  Lebenssaft  erfüllt.  Vor  allem 
aber  waltet  in  der  Gliederung  des  Ganzen,  in  der  horizontalen  des 
Körpers,  der  verticalen  des  Halses  ein  Geist  strenger  Ordnung,  des 
Zusammenhanges  zwischen  bildlichem  Schmucke  und  Körper,  der 
keineswegs  von  asiatischen  Vorbildern  übertragen  sein  kann,  sondern 
aus  den  Wurzeln  des  geometrischen  Styls  herausgewachsen  ist  und 
aus  diesen  heraus  sich  weiter  gebildet  hat.  Noch  deutlicher  spricht 
sich  dieses  Verhältnis  aus  in  der  Darstellung  der  Thiere  und  mensch- 
lichen Figuren.  Statt  einfacher  Rosse  finden  wir  hier  je  zwei,  von 
denen  das  vordere  von  einem  kurzbekleideten  Knappen  geritten  wird. 
Reicher  ist  der  Figurenschmuck  auf  dem  dritten  Gefässe  ( A,  Taf  III ;  IV; 
und  I,  3).  Von  einem  menschlichen  Kopfe  am  Fusse  abgesehen,  stehen 
auf  der  Vorderseite  des  Halses  zw^ei  unbärtige,  schwergerüstete  Krieger 
mit  erhobener  Lanze  einander  gegenüber;  zwischen  ihnen  am  Boden 
eine  Rüstung;  hinter  ihnen,  durch  einen  Ornamentstreifen  von 
ihnen  getrennt,  je  eine  weibliche  Gestalt.  Ob  dabei  der  Maler  an 
Thetis  und  Eos  und  ihre  Söhne  Achilles  und  Memnon  gedacht  hat, 
muss  unentschieden  bleiben.  Das  Hauptfeld  der  Vorderseite  (Abb.  109) 
nimmt  ein  von  vier  geflügelten  Rossen  gezogener  Wagen  ein,  welcher 
drei  stehende  Gestalten  trägt:  einen  kurzbärtigen,  leierspielenden  Mann 
und  hinter  ihm  zwei  PVauen;  dem  Rosse  gegenüber  steht  Artemis, 
durch  Bogen  und  Köcher  auf  der  Schulter  und  einen  Pfeil  in  der  Linken 
charakterisirt,  und  einen  Hirsch  mit  der  Rechten  am  Geweihe  empor- 
hebend. Im  Hinblick  auf  sie  ist  man  versucht,  in  dem  leierspielenden 
Manne  Apollo  zu  erkennen;  aber  wer  sind  die  beiden  Begleiterinnen? 
An  Artemis  und  Leto  zu  denken,  verbietet  gerade  die  deutliche  Artemis. 
Ohne  mit  leicht  irre  führender  Gelehrsamkeit  eine  neue  Deutung  zu 
versuchen,  halten  wir  uns  daran,  dass  Artemis  und  die  Beflügelung 
der  Rosse  die  Darstellung  über  den  Kreis  des  Alltagslebens  hinaus- 
heben. —  Mehr  lässt  sich  zunächst  auch  nicht  von  dem  Fragment 
einer  vierten  Vase  sagen,  von  deren  Hauptbilde  nur  die  Reste  eines 
geflügelten  Gespannes  und  einer  männlichen  und  weiblichen  Gestalt 


Vasenmalerei ;  Melos  ;  Thera. 


109     Bild  einer  Vase  aus  Melos 


erhalten  sind,  während  am  Halse  eine  weibliche  geflügelte  Göttin,  die 
sog.  persische  Artemis,  einen  Löwen  an  Ohr  und  Schweif  gefasst 
neben  sich  führt:  A.  Z.  1854,  T.  61 — 62;  Conze,  Vignette  über  dem  Text 
Eine  w^eitere  Bedeutmig  hat  dieses  Fragment  allerdings  durch  seine 
Herkunft,  indem  es  uns  den  unveränderten  „melischen"  Styl  auf  einem 
der  Insel  Thera  entstammenden  Fundstücke  kennen  lehrt.  —  Endlich 
ist  noch  ein  fünftes  wohl  erhaltenes  Gefäss,  wieder  aus  Melos  selbst, 
bekannt  geworden  (Jahrb.  d.  Inst.  II.  Taf.  i  2),  das  in  Form  und  Decorations- 
system mit  den  vorhergehenden  übereinstimmt.  Dagegen  zeigt  ein 
weiblicher  Kopf  am  Halse  in  der  Zeichnung  bereits  eine  grössere  Ab- 
rundung,  während  eine  schreitende  Sphinx  im  Hauptbilde  sich  uns 
später  als  ein  Verbindungsglied  mit  rhodischer  Kunst  nützlich  er- 
weisen wird. 

Betrachten  wir  jetzt  diese  Malereien  von  der  künstlerischen  Seite, 
so  möchten  die  Rosse  trotz  eines  nicht  geringen  Abstandes  doch  als 
die  Nachkommen  derer  des  Dipylonstyls  zu  bezeichnen  sein.  Die 
menschlichen  Gestalten  aber  sind  ebenso  fern  von  asiatischer  Schemati- 
sirung,  wie  von  einer  blossen  Nachahmung  der  äusseren  Erscheinung 
in  ihren  Einzelnheiten,  wie  sie  uns  in  den  Kriegern  einiger  myke- 
nischer  Fragmente  entgegentrat.  Allerdings  geht  der  Künstler  aus 
von  unmittelbarer  Betrachtung  der  Natur;  er  bildet  sich  einen  Begriff 


140 


Viertes  Capital.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


z.  B.  von  der  Gewandung,  von  dem  Untergewand,  ob  es  glatt,  ob  es 
gewürfelt,  von  dem  Obergewand,  wie  es  über  das  untere  fällt,  von 
der  Gestalt  der  Waffen,  und  giebt  die  allgemeinen  Züge  unbefangen, 
oft  ungeschickt  wieder,  ohne  sich  um  das  Einzelnste  viel  zu  kümmern. 
Ebenso  an  den  Gestalten  selbst;  ja  gerade  der  Umstand,  dass  auf  das 
Gesammtbild  mehr  Werth  gelegt  wird,  als  auf  Einzelnheiten,  wie 
Hände,  Füsse  oder  Haar,  zeugt  von  einem  richtigen  Gefühle,  und  gern 
lassen  wir  uns  die  scharfkantigen  Linien  selbst  im  Profil  des  Gesichts, 
an  den  Nüstern  der  Pferde,  die  in  hohem  Bogen  geöffneten  Augen, 
das  Eckige  im  Schritt  oder  in  der  Armhaltung  gefallen,  weil  sich  in 
ihnen  das  Streben  nach  bestimmter  Charakteristik  ausspricht;  ja 
wir  betrachten  sie  sogar  mit  einem  gewissen  Wohlgefallen,  sobald 
wir  uns,  gegenüber  der  missverstandenen  Weichlichkeit  und  Flauheit 
eines  auf  etruscischem  Boden,  in  Caere,  gefundenen,  wenn  auch 
mit  einem  griechischen  Künstlernamen  bezeichneten  Gefässes  (M.  d.  I. 
IX,  4),  der  naiven  Ursprünglichkeit  nur  um  so  deutlicher  bewusst 
werden. 

Für  eine  annähernde  Zeitbestimmung  bietet  höchstens  das  Vor- 
kommen einer  siebensaitigen  Leier  im  Arm  des  angeblichen  Apollo 
einen  schwachen  Anhaltspunkt.  Denn  wenn  auch  in  der  Angabe  der 
Saiten  auf  Vasenbildern  mancherlei  Willkür  herrscht,  so  konnte  doch 
eine  siebensaitige  Leier  nicht  wohl  gemalt  werden,  ehe  sie  durch 
Terpander  erfunden  und  in  Gebrauch  gekommen  war;  wonach  das 
Bild  nicht  wohl  vor  der  30.  Olympiade  entstanden  sein  könnte.  Wenn 
es  nun  also  in  der  Derbheit  und  Unbeholfenheit  seiner  Ausführung 
nicht  der  Vorstellung  von  relativer  Vortrefflichkeit  entspricht,  welche 
wir  uns  von  der  Kunst  bei  Homer  zu  machen  pflegen,  so  dürfen  wir 
doch  nicht  vergessen,  dass  auch  dort  gerade  die  Ausführung  im 
Einzelnen  nur  den  bescheidenen  Ansprüchen  einer  kindlichen  An- 
schauung genügt  haben  wird,  und  dass  Homer  mit  dichterischem 
Schwünge  das  Höchste  schildert,  was  überhaupt  seine  Zeit  zu  leisten 
vermochte,  während  an  den  jedes  materiellen  Werthes  baaren  Thon- 
gefässen  sich  zunächst  nur  das  gewöhnliche  Handwerk  übte.  Auch 
der  Blick  auf  die  cyprischen  Metallarbeiten  darf  uns  nicht  verwirren; 
denn  die  auf  langer,  ursprünglich  fremder  Kunstübung  beruhende 
Routine  lässt  sich  nicht  ohne  Weiteres  auf  entferntere  Orte  übertragen, 
welche  dagegen  bei  anfänglichem  Ungeschick  sich  das  Verdienst 
grösserer  Ursprünglichkeit  w^ahren. 


Vasenmalerei:  Rhodos. 


141 


Rhodos.  Noch  weiter  ostwärts  gelangen  wir  nach  Rhodos,  wo  uns 
der  Wechsel  verschiedenartiger  Erscheinungen  zunächst  mehr  verwirrt 
als  aufklärt.  Betrachten  v/ir  das  Fragment  vom  Halse  eines  grossen 
Gefässes  (Salzmann,  necropole  de  Camirus  39)  (Abb.  iio):  ein  Kentaur 
fasst  mit  beiden  Händen  nach  einem  Baume,  ein  zweiter  folgt.  Dürfen 
wir  es  wagen,  aus  einer  so  kindlich  rohen  Pinselei  überhaupt  Schlüsse 
zu  ziehen?  Und  doch:  sie  zeugt  von  grösserer  Selbständigkeit,  als  die 
Nachahmungen  des  Dipylon-  oder  des  assyrischen  Styls  auf  ky prischen 
Gefässen.  Auf  einem  Teller  (Journ.  of  hell.  st.  1885,  pl.  59)  (Abb.  112) 
erscheint  eine  viergeflügelte  Medusa,  bekleidet  mit  langem,  geschlitztem 
Chiton,  aus  dem  das  zum  Vorschreiten  vorgesetzte  Bein  nackt  heraus- 
tritt, mit  jeder  Hand  einen  grossen  Vogel  am  Halse  gepackt  haltend. 
Das  gewaltige  übergrosse  Haupt  ist  flach  maskenartig  in  Vorderansicht 
gezeichnet;  in  abstracter,  schematischer,  von  einer  Nachahmung  der 
Wirklichkeit  gänzlich  absehender  Auffassung.  In  den  auf  dem  Grunde 
zerstreuten  Elementen  macht  sich 
überwiegend  orientalischer  Ein- 
fluss  geltend;  und  nicht  weniger 
ist  das  ganze  Schema  der  Gestalt, 
die  Beflügelung,  das  Halten  der 
Vögel,  orientalisch;  orientalisch 
auch  die  Art,  wie  die  Nase,  das 
Kinn  und  die  Ohren  in  voluten- 
artige Ornamente  übertragen  sind.  „o     Bild  einer  Vase  aus  Kameiros. 

Und  doch  tritt  wieder  in  der  An- 
gabe der  Gewandfalten  und  eben  so  in  der  Zeichnung  der  Arme  und 
Beine  ein  griechischer,  nicht  schematisirender,  sondern  individueller 
Charakter  hervor.  —  Auf  einem  anderen  Teller  (Salzmann  55)  (Abb.  1 1 1) 
läuft  eiligen  Schrittes  ein  mit  Stiefeln  und  kurzem  Rock  bekleideter 
junger  Mann,  in  der  linken  Hand  eine  Tasche  haltend,  wohl  nicht  ein 
Hermes  oder  Perseus,  sondern,  weil  von  einem  Hunde  begleitet,  etwa 
ein  Jäger.  Die  in  ihrer  Gliederung,  wie  in  ihrer  Bewegung  nicht  übel 
gerathene  Gestalt  zeigt  nichts  von  fremdartigen  Einflüssen,  und  auch  unter 
den  auf  dem  Grunde  zerstreuten  Ornamenten  tritt  ein  blumenartiges 
Gebilde  zurück  gegen  die  linearen  Elemente,  die  allerdings  in  ihren  ein- 
zelnen Combinationen,  wie  in  der  geringen  Ordnung  ihrer  Vertheilung 
im  Räume  uns  etwas  fremdartig  anmuthen,  nicht  etwa  wie  das  Glied 
einer  bestimmten  Entwicklungsreihe,  sondern  mehr  wie  die  abweichende 
Ausdrucksweise  einer  eigenartigen  Individualität. 


142 


Viertes  Capitel,    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


aus 


Rhodischer  Teller. 


Dagegen  lenkt  uns  zu  einer  allgemeineren  Strömung  ein  Teller 
Kameiros  zurück,  auf  dem  der  Kampf  zweier  vollständig  ge- 
rüsteter Krieger  über  einem  dritten  ge- 
fallenen dargestellt  ist  (Conze:  2  3.  Philo! .- 
Versamml.  in  Hannover  1864;  Salz- 
mann T.  53)  (Abb.  114).  Hier  hat  uns 
der  Maler  über  die  Namen  der  Käm- 
pfenden nicht  im  Unklaren  lassen 
wollen.  Er  bezeichnet  sie  durch  die 
Inschriften  als  Menelaos  und  Hektor  im 
Kampfe  um  die  Leiche  des  Euphorbos. 
Freilich  entspricht  die  Darstellung,  so 
wenig  wie  die  Lösung  Hektors  auf  der 
olympischen  Bronze  (s.  o.  S.  124),  der 
Schilderung  Homers  (II.  XVII,  70  ff.): 
sie  giebt  nur  das  Schema  des  Kampfes 
um  einen  Gefallenen.  Aber  der  Schritt  ist  gewagt,  dem  bildlichen 
Schmucke  einen  neuen  Inhalt  aus  der  hellenischen  Sagenwelt  zu  geben, 
und  die  Darstellung  der  Figuren  selbst  ist  rein  hellenisch.  Und  w^enn 
auch  in  der  eingestreuten  Ornamentik  die  orientalischen  Elemente  über- 
wiegen, so  machen  sich  doch  in  ihrer  Anordnung  und  lebendigeren 
Behandlung  die  Spuren  helle- 
nischen Geistes  immer  mehr 
fühlbar.  Ja  wenn  w^ir  von  dem 
fortgeschrittensten  Dipylonstyl 
ausgehen,  so  dürfen  wir  w^ohl 
sagen,  dass  der  Teller  von  Ka- 
meiros über  die  Entwicklung 
der  melischen  Gefässe  hinaus- 
geht und  einen  neuen  Schritt 
nach  der  Richtung  bezeichnet, 
dass  Schärfen  und  Einseitig- 
keiten gemildert,  das  Ganze  in 
Anordnung  und  Ausführung 
mehr  abgerundet  erscheint. 

An  dem  Euphorbosteller 
ist,  um  für  das  Figurenbild  eine 

gerade  Grundlinie  zu  gewinnen,  von  dem  untern  Theile  des  Kreisrundes 
ein  mit  einem  Stabornament  gefülltes  Segment  abgeschnitten.  An  dieses 


sehe  Artemis.    Teller  aus  Rhodos. 


Vasenmalerei:  Rhodos 


Beispiel  schliessen  sich  durch  die  gleiche  räumliche  Gliederung  einige 
andere  rhodische  Teller  an,  denen  als  künstlerischer  Schmuck  die 
Darstellung  einer  einzelnen  Thierfigur 
eigenthümlich  ist.  Als  Beispiele  mögen 
dienen:  ein  Stier  (Salzmann,  Camirus, 
T.  50);  eine  schreitende  Sphinx  nach 
rechts  (T.  54);  eine  ähnliche  nach  links 
(A.  Z.  1872,  S.  38);  ein  Widder  (Salz- 
mann, T.  51)  (Abb.  113);  eine  Chimäre, 
unter  der  im  unteren  Abschnitte  ausser 
Ornamenten  auch  ein  grosser  Fisch  ge- 
malt ist  (T.  49).  Unverkennbar  rho- 
discher  Herkunft,  wenn  auch  in  Nau- 
kratis  gefunden,  ist  eine  kauernde 
Sphinx  (Gardener,  NaukratisII,  T.  12). 
Die  Füllornamente  der  Hauptbilder,  etwas  vereinfacht,  weichen  sonst  von 
denen  des  Euphorbostellers  kaum  ab.  Einige  Voluten  und  Palmetten  im 
Abschnitt  verrathen  dagegen  einen  schon  mehr  tektonisch  geläuterten 
Geschmack.  Eben  so  ist  in  den  Gestalten  der  Thiere  in  der  Art  der 
Ausführung  ein  Verfahren,  das  schon  in  den  melischen  Gefässen  zum 

grossen  Theile  vorgebildet  war, 
in  mehr  systematischer  Weise 
zur  Anwendung  gelangt:  die 
Körper  sind  mit  breiter  Fläche 
des  Pinsels  vollfarbig  gemalt; 
dagegen  die  Köpfe  und  mehr- 
fach auch  die  Beine  und  Klauen 
mit  der  Spitze  des  Pinsels  in 
Umriss-  und  Innenzeichnung  auf 
dem  hellen  Grunde  ausgeführt. 
Mit  diesen  Hilfsmitteln  haben 
es  die  Künstler  verstanden,  in 
der  Zeichnung  des  Kopfes  und 

der  Extremitäten   zu  einer 
schärferen  Charakteristik  vorzu- 

114.    Teller  von  Kameiros. 

schreiten  und  eben  so  der  Linien- 
führung in  den  allgemeinen  Umrissen  einen  mehr  harmonischen  Fluss 
zu  verleihen.  Jedenfalls  entfernen  sich  diese  Thiere  mehr  als  bisher 
vom  Schematischen  der  Behandlung,  während  an  ihnen  in  weit  höherem 


144 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes, 


Maasse  das  Streben  hervortritt,  die  Gattung  zu  individualisiren.  Dazu 
haben  wir  das  Gefühl,  dass  wir  es  hier  nicht  mit  einer  Uebertragung 
fremder  Muster  zu  thun  haben,  sondern  mit  der  eigenen  Auffassung 
des  ausführenden  Malers. 

Resultate.  Blicken  wir  jetzt  zurück,  so  bildeten  unseren  Aus- 
gangspunkt die  Vasen  des  einfach  geometrischen  und  des  älteren 
Dipylonstyles.  Wir  mussten  an  ihnen  eine  volle  Ursprünglichkeit  der 
Auffassung  anerkennen,  die  auf  einem  bestimmten  mathematischen 
Princip  beruhte,  einem  Princip,  das  wir  als  den  eigentlich  hellenischen 
Stämmen  eigenthümlich  zu  bezeichnen  uns  berechtigt  hielten.  Bei 
seiner  anfänglichen  Ausschliesslichkeit  bedurfte  dasselbe  zu  weiterer 
Entwicklung  einer  Ergänzung  durch  neue  Elemente,  die  ohne  An- 
regung von  aussen  sich  nur  schwer  aus  sich  selbst  herausgebildet  haben 
würden.  Die  Berührung  mit  der  „mykenischen"  Keramik  erwies  sich 
hierbei  wenig  fruchtbar.  Das  Laxe  in  der  blossen  Nachahmung  der 
Natur  in  ihrer  äusseren  Erscheinung  steht  in  einem  zu  scharfen  Gegen- 
satz mit  dem  mathematischen  Grundprincip  und  ordnet  sich  strengen 
Stylisirungsprincipien  schwer  unter.  Anders  der  sogenannte  asiati- 
sirende  Styl,  der  sich  neben  den  geometrischen  stellt.  Der  letztere, 
für  den  die  gewählte  Bezeichnung  in  der  That  eine  zu  umfassende  ist, 
beschränkt  sich  auf  die  Anwendung  gerader,  eckiger  und  gekreuzter 
Linien;  selbst  der  reine  Kreis,  der  sich  ihnen  beigesellt,  ist  in  einer 
gewissen  idealen  Auffassung  eine  bei  gleichmässiger  Krümmung  von 
der  einmal  eingeschlagenen  Bahn  niemals  abweichende,  in  ihren  Aus- 
gangspunkt zurücklaufende  „gerade"  oder  wenigstens  der  geraden  am 
nächsten  verwandte  Linie,  wie  sie  ja  auch  thatsächhch  z.  B.  am  Körper 
einer  runden  Vase  mit  Hülfe  der  Drehscheibe  sich  von  selbst  erzeugt. 
Auch  der  asiatisirende  Styl  lässt  sich  unter  einer  anders  gearteten 
Beschränkung  als  ein  geometrischer  bezeichnen.  In  ihm  herrscht, 
wenn  auch  weniger  ausschliesslich,  die  gebogene,  gekrümmte,  gewundene 
Linie,  man  möchte  sagen  ein  System  von  Linien  zweiter  Ordnung  oder 
zweiten  Grades.  Wie  aber  die  Geraden  und  geradlinigen  Verbin- 
dungen in  der  unbelebten  Natur  sich  an  den  krystalHnischen  Bildungen 
finden,  so  weist  uns  das  zweite  System  auf  die  Pflanzenwelt,  die,  wie 
sie  dem  geometrischen  Styl  fremd  ist,  eben  so  charakteristisch  für  den 
asiatisirenden  ist.  In  dem  belebten  Organismus  der  Thier-  und  Menschen- 
welt endlich  verbindet  sich  beides  und  erhebt  sich  gewissermaassen  zu 
einer  dritten  Ordnung.    Auf  der  festen,  sagen  wir  linearen  Grundlage 


Vasenmalerei:  Resultate.  —  Rhodos  und  Naukratis. 


des  Knochengerüstes  entwickelt  sich  vermöge  der  vegetativen  Um- 
hüllung der  Muskeln,  der  Haut  u.  s.  w.  das  lebendige  Wachsthum, 
das  schliesslich  zum  Ausdruck  eines  noch  höheren,  animalischen  und 
geistigen  Lebens  aufsteigt. 

Nach  dieser  Auffassung  hört  die  zweite  Stufe  auf,  einen  bestimmten 
Gegensatz  zur  ersten  zu  bilden;  sie  müsste  vielmehr  ergänzend  zu  der 
ersten  hinzutreten.  Obwohl  in  sich  bereits  weiter  entwickelt,  konnte 
sie  doch  in  weiter  Entfernung  von  ihrer  Heimat  nicht  sofort  die 
erstere  unterdrücken  und  sich  an  ihre  Stelle  setzen,  um  so  weniger, 
als  es  sich  nicht  um  eine  directe,  persönliche  Uebertragung  verschiedener 
Kunstprincipien  handelte,  sondern  nur  um  Anregungen,  welche  Gegen- 
stände des  Handelsverkehrs  auf  eine  Verfeinerung  des  Lebens  und 
eine  Veredelung  des  Kunstgeschmackes  auszuüben  vermochten.  Der 
fremde  Einfluss  konnte  daher  nicht  sofort  und  durchschlagend,  sondern 
nur  in  dem  Maasse  wirken,  als  die  einheimische  Kunstübung  die  Kraft 
und  den  Willen  hatte,  sich  das  Fremde  zu  eigenem  Nutz  und  Frommen 
anzueignen  und  selbständig  zu  verarbeiten.  So  erklärt  es  sich  zugleich, 
dass  mehr  nach  dem  Osten,  zunächst  also  auf  Thera  und  Melos,  wo 
die  Berührung  mit  dem  Orient  eine  häufigere  war,  sich  der  Einfluss 
stärker  äusserte,  als  auf  dem  griechischen  Festlande ;  stärker  aber  noch 
auf  Rhodus.  Wenn  hier  die  Entwicklung  zuerst  zu  einem,  wenn  auch 
nur  vorläufigen  Abschlüsse,  zu  einer  gewissen  grösseren  Abrundung 
des  ganzen  technischen  Gebahrens  gelangte,  so  hat  dazu  die  Nähe 
Kleinasiens  und  die  Wechselbeziehung  zu  der  älteren,  höheren  Cultur- 
stufe  dieser  Länder  sicherlich  mitgewirkt.  —  Dass  es  an  einer  Rück- 
wirkung dieser  besonderen  Richtung  auf  das  eigentliche  Hellas  nicht 
gefehlt  haben  mag,  lässt  sich  nach  zwei  Fragmenten  aus  Aegina  und 
Phaleron  (Benndorf,  gr.  Vas.  T.  54)  wohl  vermuthen,  aber  nicht  im 
Einzelnen  nachweisen. 

Rhodos  und  Naukratis.  An  die  bisher  betrachteten  rho- 
dischen  Gefässe  reihen  sich  zunächst  mehr  äusserlich  einige  Teller  und 
Näpfe  an,  deren  malerischer  Schmuck  aus  Elementen  gebildet  ist,  die 
ausschliesslich  der  Pflanzenwelt  entlehnt  sind  (Salzm.  T.  33;  34;  52; 
Jahrb.  d.  Inst.  I.,  S.  143.)  Allerdings  mögen  sie  in  ihrer  schon  sehr 
gereinigten  tektonischen  Durchbildung  einer  verhältnissmässig  jüngeren 
Zeit  als  jene  Thierteller  angehören;  aber  sie  können  uns  überleiten 
zur  Betrachtung  einer  anderen  bedeutenderen  Gruppe  von  Gefässen, 
in  denen  die  gleichen  Elemente,  aber  in  mannigfacher  Verbindung,  sowie 

10 


146 


Viertes  Capitel.     Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


andere  von  verschiedener  Art  auftreten.  Es  sind  bauchige  Formen, 
aber  auch  napf-  und  amphoraartige  Gefässe,  deren  Oberfläche  wie  die 
der  mehschen  in  horizontale  Streifen  geghedert  ist  und  die  noch  mehr 
als  diese  den  Eindruck  machen,  als  seien  sie  mit  ornamentirten  Borten 
überzogen,  besonders  wenn  sie  in  doppelter  oder  verdreifachter  Reihe 
den  Haupttheil  des  Körpers  bedecken.  Die  auf  dem  Grunde  zerstreuten 
Zierrathen  unterscheiden  sich  kaum  von  den  meli- 


schen.  Dagegen  ruht  gewissermaassen  der  untere 
Theil  des  Gefässes,  das  Sitz-Ende,  in  einem  nach 
oben  gerichteten  Anthemienbande  aus  lotosartigen 
Blüthen,  Knospen  und  Blättern  (Salzm.  T.  32;  37; 
43 ;  44),  das  einmal  (44)  in  umgekehrter  Richtung 
auch  die  Schulterfläche  ziert,  während  anderwärts 
die  Mitte  dieser  letzteren  durch  ein  noch  kunst- 
volleres Blumengeflecht  eingenommen  wird  (32  ;  37 ; 
Jahrb.  d.  Inst.  I,  S.  138)  (Abb.  1 15).  Diese  Gattung 
von  Ornamenten  berührt  sich  mit  denen  der  vorhin 
erwähnten  Teller,  entfernt  sich  aber  schon  bedeutend 
z.  B.  von  denen  der  Thierteller.  Zu  diesem  Pflanzen- 


schmuck gesellen  sich  aber  weiter  die  in  kürzerer 
oder  längerer  Reihe  aufmarschierenden  Thiere,  unter  denen  Löwen, 
Greife,  Sphinxe  nicht  fehlen,  aber  weit  mehr  Hirsche,  Steinböcke,  Gänse 
überwiegen.  Sie  haben  mit  den  Einzelgestalten  der  oben  betrachteten 
Teller  noch  gemein,  dass  die  Köpfe  und  einzelne  Aussentheile  nicht 
mit  der  Breite  des  Pinsels  aufgemalt,  sondern  mit  der  Spitze  gezeichnet 
sind;  sonst  aber  fehlt  ihnen  die  Fülle  und  Breite  der  Formen,  die 
Weichheit  oder  Rundlichkeit  der  Linie;  in  der  Zeichnung  der  Körper, 
namentlich  aber  der  Beine  tritt  eine  grosse  Schlankheit  und  Magerkeit 
hervor,  wie  überhaupt  in  der  Gesammtanlage  der  Knochenbau  stärker 
betont  ist.  Die  Grundanschauung,  von  der  der  Künstler  ausgeht,  ist 
eine  durchaus  andere. 

So  treten  hier  also  neue  Elemente,  veränderte  principielle  An- 
schauungen auf,  die  sich  nicht  einfach  als  eine  Weiterentwicklung  der 
vorhergegangenen  Stufe  erklären,  ja  deren  Entstehung  an  einem  und 
demselben  Orte  neben  oder  nach  der  früheren  Art  sogar  der  Wahr- 
scheinlichkeit entbehrt ;  es  drängt  sich  vielmehr  die  Frage  auf,  ob  wir 
nicht  mindestens  bestimmte  Anregungen  von  aussen  her  anzunehmen 
haben.  Eine  sichere  Antwort  scheint  noch  nicht  möglich.  Aber  nahe 
liegt  der  Gedanke,  sich  fragend  einem  Orte  zuzuwenden,  der  erst  in 


Vasenmalerei:  Rhodos  und  Naukratis. 


neuester  Zeit  als  eine  alte  Stätte  griechischer  Cultur  bekannt  geworden 
ist :  Naukratis  an  den  Mündungen  des  Nils,  das,  nicht  erst  unter  Amasis 
gegründet,  gewiss  schon  früher  vielfältige  Beziehungen  zum  griechischen 
Handel  hatte.  Die  nächste  der  gegenüber  liegenden  griechischen 
Inseln  ist  Rhodos.  Von  dort  stammte  offenbar  der  eine  der  oben- 
erwähnten Sphinxteller.  Aber  weit  häufiger  sind  in  Naukratis  Gefässe 
und  Fragmente,  welche  mit  den  hier  in  Betracht  kommenden  rhodischen 
die  grösste  Verwandtschaft,  ja  fast,  wenn  auch  nicht  völlige,  Ueber- 
einstimmung  zeigen.  {Naukratis  I  [Petrie]  T.  4ff. ;  II  [Gardener]  T.  4  ff.). 
Sind  auch  diese  aus  Rhodos  importirt?  Aber  viele  Anzeichen 
weisen  darauf  hin,  dass  Naukratis  seine  eigenen  Töpfereien  hatte.  Nun 
finden  wir  auf  dortigen  Fragmenten  eine  Reihe  von  Anthemien- 
elementen,  die  nicht  im  Einzelnen,  aber  der  Gattung  nach  denen  der 
rhodischen  Gefässe  weit  näher  stehen,  als  die  früheren  Arten,  anderer- 
seits aber  mit  ägyptischen  Ornamenten  sich  mindestens  eben  so  nahe 
berühren,  wie  mit  asiatischen  (Perrot  I,  S.  541,  312;  543,  317;  808 — 9, 
338 — 41  ;  822,  551;  834,  569).  Für  die  Thiergestalten  vermag  ich  aller- 
dings aus  ägyptischen  Monumenten  keine  directen  Vorbilder  nachzu- 
weisen. Aber  wir  haben  bereits  öfter  bemerkt,  dass  der  hellenische 
Geist  schon  von  früh  an  Fremdes  nicht  unvermittelt  annahm,  sondern 
sofort  mit  einer  gewissen  Selbständigkeit  umarbeitete  und  sich  zu  eigen 
machte.    Sollte  sich  da  nicht  ein  in  seinen  natürlichen  Anlagen  den 

Dipylonmalern  ver- 
wandter Künstlerkreis  in 
Naukratis  durch  den  An- 
blick ägyptischer  Ar- 
beiten, in  deren  knappen, 
nicht  fleischigen  Formen 
die  Betonung  des 

Knochengerüstes  als 
herrschendes  Princip  sich 
zu  erkennen  giebt,  zu  einer  Thierbehandlung  wie  in  den  Vasen  von 
Naukratis  und  Rhodos  haben  anregen  lassen,  leichter  wenigstens 
als  durch  die  breiteren  und  reichlicheren  asiatischen  Muster?  Ein 
zwingender  äusserer  Beweis  lässt  sich  allerdings  für  diese  Auffassung 
nicht  beibringen,  immerhin  aber  wird  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen 
sein,  dass  die  Berührung  mit  Aegypten  der  Kunst  von  Naukratis  be- 
stijnmte  Anregungen  gegeben,  die  zunächst  auf  Rhodus  wirkten:  ob 
auch  auf  weitere  Entfernungen,  lässt  sich  vorläufig  nicht  nachweisen. 

10* 


116.    Bild  einer  Vase  aus  Vulci. 


148 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


Denn  weder  eine  Kanne,  die  in  neuer  Zeit  „aus  Griechenland"  nach 
Italien  gelangt  ist,  noch  zwei  Gefässe,  die  schon  im  Alterthum  sich 
nach  Vulci  verirrt  haben,  können  etwas  für  eine  Fabrication  ausserhalb 
der  genannten  Orte  beweisen  (M.  d.  I.  IX,  5,  i ;  UrHchs,  zwei  Vasen 
ält.  Styls,  1873)  (Abb.  116). 

Korinth.  Es  scheint,  dass  diese  besondere  Richtung  durch 
eine  neue  Strömung  gekreuzt  und  theilweise  in  den  Hintergrund  ge- 
drängt wurde,  die,  scheinbar  nahe  verwandt,  sich  doch  durch  wesent- 
liche Abweichungen  bestimmt  von  ihr  scheidet:  die  gewöhnlich  als 
die  korinthische  bezeichnete  Gattung.  Die  Bortengliederung,  wie 
überhaupt  der  „textile"  Charakter  bleibt,  ja  steigert  sich.  Bei  den 
Füllornamenten  verschwinden  die  Reste  linearer  Decoration  gänzlich; 
es  bleiben  nur  die  rundliche  Rosette  und  kleine  Blumen.  Es  ver- 
schwindet ferner  die  zeichnerische  Behandlung  der  Köpfe  und  Extremitäten 
an  den  Thiergestalten  auf  dem  hellen  Grunde.  Diese  werden,  wie 
jetzt  auch  die  Füllornamente,  voll  mit  dem  Pinsel  gemalt.  Dagegen 
wird  auf  diese  Unterlage  zur  Scheidung  gewisser  Theile  weit  häufiger 

und  consequenter  ein  dunkles 
Roth  aufgesetzt  und  die  weitere 
Durchbildung  der  Zeichnung 
durch  die  früher  nur  ausnahms- 
weise angewendete  Gravirung 
mit  einem  spitzen  Instrumente 
gegeben.  Endlich  gewinnen  ge- 
genüber den  Hirschen,  Stein- 
böcken, und  Gänsen  wieder  die 
Löwen,  dazu  die  Panther,  sowie 
die  Mischbildungen,  Sirenen  und 
Sphinxe,  mehr  das  Ueberge- 
wicht.  Hierzu  kommt  noch  etwas 
Anderes:  indem,  wie  bemerkt, 
mehr  mit  der  Fläche  des  Pinsels 
gemalt,  als  mit  der  Spitze  des- 
selben gezeichnet  wird,  bildet  sich  eine  der  fabrikmässigen  Production 
sehr  günstige  Routine  aus,  welche  sich  das  Schablonenhafte  der  Typen 
leicht  aneignet,  ohne  auf  eine  individuelle  Charakterisirung  derselben 
weiter  zu  achten.  Vielmehr  führt  die  Routine  der  Wiederholung  zu 
Laxheit,  Verschwommenheit  bis  zur  handwerksmässigsten  Rohheit. 


117.    Deckel  der  sog.  Dodwellvase. 


Vasenmalerei:  Korinth. 


149 


Obwohl  wir  für  diese  Gattung  fremde  Vorbilder  im  Einzelnen 
nicht  nachzuweisen  vermögen,  so  werden  wir  doch  der  allgemeinen 
Annahme  zu  widersprechen  keinen  Anlass  haben,  dass  hier  der  Orient 


118.  u.  119.    Korinthisches  Salbgefäss  in  Berlin  (vgl.  Abb.  120 — 122). 


nochmals  und  zwar  noch  einmal  in  verstärktem  Maasse  seinen  Einfluss 
ausgeübt,  der  durch  die  vermehrten  Handelsbeziehungen  Korinths 
etwa  in  der  Zeit  der  Kypselidenherrschaft  besonders  gefördert  werden 
mochte.  Je  ausgeprägter  es  aber  der  reine  Teppichstyl  war,  der  hier 
auf  die  Keramik  übertragen  wurde,  um  so  leichter  lässt  es  sich  ver- 
stehen, dass  eine  eigentliche  Umbildung  und  eine  Assimilirung  an  die 
Stylbedingungen  der  letzteren  sich  nicht  vollzog,  sondern  ein  Stillstand 
eintrat.  Diese  ganzen  Teppichmuster  blieben  in  der  Keramik  nur  im 
Gebrauch  als  die  äussere  Marke  einer  bestimmten  Waarengattung, 
wobei  wir  uns  zur  Vergleichung  aus  neuerer  Zeit  etwa  der  blauen, 


120.  — 122.    Korinthisches  Salbgefäss  in  Berlin  (vgl.  Abb.  118  u.  119). 


sogenannten  Zwiebelmuster  erinnern  mögen,  die  an  dem  Meissener 
Porzellan  im  vorigen  Jahrhundert  zur  Geltung  gelangt,  seitdem  nie 
ganz  verschwunden,  in  unseren  Tagen  wiederum  eine  weite  Verbreitung 


150  Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 

gefunden  haben,  ohne  vom  sonstigen  Kunstgeschmacke  berührt  zu 
werden. 

Für  die  Geschichte  der  Kunst  würde  also  die  ganze  Gattung 
kaum  weiter  in  Betracht  kommen,  wenn  nicht  nach  der  gewöhnlichen 


123   u.  124.    Korinthische  Vase  des  Chares. 


Annahme  an  sie  eine  weitere  Entwicklung  anknüpfte,  indem  zwischen 
die  schematischen  Thierreihen  nun  auch  freie  Darstellungen  aus  dem 
Menschenleben  und  aus  der  Sagengeschichte  eingeführt  wurden.  Es 
handelt  sich  zunächst  um  eine  Reihe  kleiner  Gefässe  aus  Korinth 
und  benachbarten  Orten,  wie  Kleonae,  Argos,  aber  auch  aus  Aegina 
und  Karystos  aufEuboea.  Es  sind  kleine  kugelförmige  oder  längliche 
Lekythoi,  Dosen  von  rundlicher,  etwas  gedrückter  Form,  und  Tassen, 
in  Thon  und  Farbe  der  vorigen  Klasse  noch  nahe  verwandt,  aber, 
ihrer  Kleinheit  entsprechend,  in  der  Technik  der  Töpferei  sorgfältiger 
behandelt  und  sauber  abgedreht,  harmonisch  in  dem  gemässigten  Thon 
von  Farbe  und  Firniss,  die  nur  leider  beim  Brennen  sich  nicht  immer 
genügend  mit  dem  Thon  verbunden  und  daher  häufig  abgesprungen 
sind.  Das  am  längsten  bekannte  Beispiel  ist  die  sogenannte  Dodwell- 
vase  in  München  (Nr.  211;  Lau,  griech.  Vas.  T.  3 — 4)  (Abb.  117),  an 
welcher  der  Körper  ganz  von  zwei  Thierborten  überzogen  und  auch 
der  Deckel  zum  grössten  Theil  von  der  Darstellung  einer  Eberjagd 
eingenommen  ist.  Wenn  nun  auch  die  auf  dem  Grunde  zerstreuten 
Blumen  noch  einigemale  anderwärts  erscheinen  (z.  B.  bei  R.  Rochette, 
choix  de  peint.  de  Pompei,  zu  T.  5,  und  zwischen  den  Figuren  eines 
Kentaurenkampfes:  A.  Z.  1883,  10)  (Abb.  118 — 122),  so  tritt  doch  eine 
grössere  Zahl  zu  dieser  Decorationsweise  sogar  in  einen  bestimmten 
Gegensatz,  indem  sich  an  ihnen  das  Bestreben  offenbart,  sich  von  dem 


Vasenmalerei:  Korinth. 


Einflüsse  des  weichlichen  orientahschen  Teppichstyls  überhaupt  frei  zu 
halten  oder  wieder  frei  zu  machen  oder  nur  bestimmte  Elemente  nach  der 
durch  die  Arbeiten  von  Naukratis  und  Rhodos  bezeichneten  Richtung 
in  echt  hellenischem  Sinne  zu  verwerthen.  So  finden  wir  auf  einem 
kugelförmigen  Lekythos  (A.  d.  I.  1862,  A)  fast  den  ganzen  Körper 
mit  einem  Anthemiengeflecht  überzogen,  das,  reich  an  vortrefflichen 
Elementen,  noch  der  Klarheit  in  der  Unterordnung  derselben  unter 
einen  einheitlichen  tektonischen  Gedanken  entbehrt.  An  dem  schon 
erwähnten  Lekythos,  der  im  Kentaurenbilde  den  Blumenschmuck 
bewahrt,  verräth  das  Plechtwerk  an  der  Schulterfläche  und  am  Henkel 
schon  eine  systematisch-tektonische  Durchbildung,  eben  so  an  einem 
anderen,  der  in  den  Bildscenen  einer  Schlacht,  eines  Pferderennens 
und  einer  Hasenjagd  den  Blumenschmuck  bereits  völlig  unterdrückt 
(Journ.  of  hell.  stud.  1889,  T.  5).  Von  der  sehr  einfachen  Ornamentik 
eines  Salbgefässes  in  Breslau  (Herakles  und  die  Hydra:  O.  Rossbach, 
Antiken  in  Breslau,  S.  5)  ausgehend  finden  wir  dann,  dass  die  An- 
ordnung der  mehr  linearen  Elemente  in  der  Dose  des  Chares  (Helden 
des  troischen  Krieges:  A.  Z.  1864,  184)  (Abb.  123  u.  124)  und  der  Flasche 
des  Timonidas  (AchiUes  und  Troilos,  ebd.  1863,  175)  (Abb.  125)  weit  mehr 
auf  die  Principien  des  geometrischen  Styls  hinweist,  und  das  auch  da 
noch,  wo,  wie  bei  einer  Tasse  mit  dem  Bilde  eines  Kentaurenkampfes 
(Herakles  bei  Pholos :  Journ.  of  hell.  stud.  T,  pl.  I),  sich  diesem  ein  An- 
themienband  beigesellt.  Wo  dieses  allein  den  oberen  Rand  bildet,  wie  an 


125.    Korinthische  Vase  des  Timonidas. 


einer  Tasse  mit  den  Kämpfen  des  Herakles  gegen  Hydra  und  Kerberos 
(A.  Z.  1859,  125),  ist  dasselbe  bereits  ganz  in  ein  griechisches  Ornament 
umgewandelt.  Endlich  an  dem  Salbgefässe  von  Karystos  (Krieger  und 
Knappe:  Benndorf,  gr.  u.  sie.  Vas.,  T.  30)  und  der  Tasse  mit  troischen 
Kampfscenen  (A.  d.  I.  1862,  B)  (Abb.  126)  ist  die  BlumenornamentiK 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


Überhaupt  und  damit  natürlich  auch  der  orientaHsche  Einfluss  völHg 
zurückgedrängt.  So  genügt  schon  die  Betrachtung  der  Ornamentik  zur 
weiteren  Bestätigung  der  Auffassung,  dass  diese  ganze  Klasse  von  Vasen 
weniger  von  einer  Unterjochung  unter  asiatischen  Einfluss,  als  von 
dem  Bestreben  Zeugniss  ablegt,  denselben  zu  bekämpfen  und  das  echt 
Hellenische  immer  mehr  zur  Geltung  zu  bringen.  Noch  weit  mehr 
aber  offenbart  sich  dieses  Streben  in  der  Aufnahme  der  Figuren- 
compositionen,  die  immer  mehr  an  Bedeutung  gewinnen,  wenn  wir 
natürlich  auch  den  Fortschritt  nicht  im  Einzelnen  und  in  streng 
stufenweiser  Entwicklung,  sondern  nur  in  allgemeinen  Zügen  zu  ver- 
folgen vermögen.  Während  ein  weiblicher  Kopf  auf  der  Henkelfläche 
des  mit  Anthemien  bedeckten  Lekythos  noch  ganz  an  die  melischen 
Vasen  erinnert,  zeigen  einige  weitere  Beispiele  eine  gewisse  Ungleich- 
artigkeit,  indem  nicht  überall  das  Können  dem  Wollen  entspricht  und 
Einiges  gelingt.  Anderes  missräth.  Erst  in  den  letzten  ist  ein  gewisser 
Grad  von  Correctheit  in  den  Haupt  Verhältnissen  und  in  dem  Schema 
verschiedener  Stellungen  erreicht.  Ueberhaupt  aber  ist  formale  styli- 
stische Durchbildung  noch  keineswegs  ein  Hauptziel.  Die  Figuren 
sollen  noch  nicht  im  vollen  Sinne  etwas  darstellen,  sondern  nur  be- 
deuten; und  gerade  darin  beruht  der  Zauber  dieser  einfachen  Bilder, 
dass  wir  in  ihnen  das  Ringen  erkennen,  eine  bestimmte  Handlung  oder 
That  klar  zu  entwickeln.  Einige  bringen  es  allerdings  nur  erst  zu 
einfachen  Nebeneinander-  oder  Gegenüberstellungen  von  Figuren, 
deren  Bedeutung  ohne  Inschriften  unmöglich  erkannt  werden  könnte. 
Da  marschieren  auf  der  Dose  des  Chares  auf:  Achilleus  auf  dem 
Xanthos,  Patroklos  auf  dem  Balios,  Protesilaos  auf  dem  Podargos,  ferner: 
Nestor  und  Palamedes,  und  ihnen  gegenüber  Hektor  auf  dem  Orion, 
und  Memnon,  alle  zu  Pferde,  einer  wie  der  andere  ohne  irgend  welche 
Unterscheidung;  und  doch  bietet  das  Ganze  für  ein  kindliches  Gemüth 
ein  Gesammtbild  des  troischen  Krieges  in  den  Hauptvertretern  seiner 
Helden.  Da  wagt  es  der  Maler,  noch  kaum  im  Stande,  einen  Pferde- 
und  einen  menschlichen  Körper  nothdürftig  mit  einander  zu  verbinden, 
die  Kentauren  im  wilden  Kampfe  laufend,  verwundet  und  zusammen- 
stürzend, uns  vor  Augen  zu  führen.  In  anderen  Bildern  aber  erfreuen 
wir  uns  an  der  Frische  der  Gedanken  und  an  einer  Reihe  einzelner 
dem  Leben  abgelauschter  Züge.  Da  sehen  wir  Pluton,  wie  er  erschreckt 
wegläuft,  als  Herakles  ihn  mit  einem  Steine  bedroht,  oder  Herakles, 
wie  er  seine  Pferde  ausgespannt  und  an  einen  Baum  gebunden  hat, 
während  er  mit  lolaos  die  schwere  Arbeit  des  Kopfabschneidens  an 


Vasenmalerei :  Korinth.  —  Korinthische  Pinakes. 


der  Hydra  vollzieht;  da  sehen  wir  bei  der  Eberjagd  einen  der  Genossen 
elendiglich  von  dem  wüthenden  Thiere  überrannt,  während  ein  anderer 
demselben  eine  Reihe  von  Pfeilen  nachsendet,  deren  mehrere  gleich- 
zeitig in  der  Luft  schweben.  Da  sehen  wir  in  dem  Troilosbilde 
Brunnen  und  Baum,  hinter  denen  Achilleus  als  gewaltiger  Krieger 
kauert,  in  fast  landschaftlicher  Ausführung.  Nirgends  tritt  uns  etwas 
Conventionelles  entgegen,  sondern  wir  sehen,  wie  der  eigenste  Gedanke 
des  Künstlers  nach  einem  entsprechenden  Ausdrucke  sucht;  wir  erkennen 
in  der  kindlichen  Freude  am  Schafifen  den  Pulsschlag  frischesten 
Lebens.  Was  kümmert  es  uns,  dass  der  Gefallene  unter  dem  Eber 
eigentlich  kein  Gefallener  ist,  sondern  eine  in  der  Querlage  gemalte  aufrecht 
stehende  Gestalt?  Fast  bedauern  wir,  dass  auf  der  Tasse  mit  troischen 
Kampfscenen  einer  solchen  Unbefangenheit  der  Auffassung  durch  das 
Streben  nach  einer  mehr  typischen  Durchbildung  und  nach  grösserer 
Reinigung  der  Form  ein  hemmender  Zügel  angelegt  ist. 

Die  korinthischen  Pinakes.  Was  uns  diese  korinthischen 
Thongefässe  lehren,  das  findet  eine  willkommene  Ergänzung  durch  die 
Täfelchen  (Pinakes),  welche,  187g  in  der  Nähe  von  Akrokorinth  gefunden, 
jetzt  im  Berliner  Museum  aufbewahrt  werden  (Furtwaengler,  Berl.  Vasen- 
samml.  I,  347 — 955;  Ant.  Denkm.  d.  Inst.  I,  T.  7 — 8)  (Abb.  127 — 134). 
Es  sind  Thontäfelchen,  auf  einer  oder  auf  beiden  Seiten  bemalt,  in  einer 
Technik,  welche  durchaus  derjenigen  der  bemalten  Vasen  entspricht,  ur- 
sprünglich bestimmt,  als  Weihgeschenke  in  einem,  nach  den  Inschriften 
dem  Poseidon  geweihten  Heiligthum  aufgehängt  zu  werden,  aber  schon  im 
Alterthum  wohl  als  werthlos  auf  einen  Haufen  geworfen.  So  bilden  einen 
Hauptbestandtheil  die  Darstellungen  des  Gottes:  stehend,  schreitend,  ruhig 


154 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


oder  bewegt,  auf  einem  Wagen,  zu  Pferde  (nicht  aber  sitzend) ;  allein  oder 
in  Verbindung  mit  Amphitrite  (Abb.  1 27),  zu  denen  sich  auch  andere  Gott- 
heiten, wie  Hermes,  Zeus  (?),  Melikertes  ge- 


sellen. Eine  andere  Gruppe:  Reiter  zu  Fusse 
oder  neben  ihren  Rossen,  Krieger  zu  Ross 
und  zu  Fuss  oder  im  Kampfe,  Eberjagden, 
leitet  über  zu  dem  mythologischen  Gebiete,  zu 
Darstellungen  der  Kentauren,  des  Herakles 
und  der  Kerkopen,  denen  sich  auch  eine 
leider  sehr  fragmentirte  troische  Scene  an- 
schUesst  (Diomedes,  Sthenelos,  Teukros, 
Pandaros;  II.  V.  17)  (Abb.  128).  Ueber- 
raschender  sind  die  Bilder  aus  dem  Alltags- 


127.  Korinthischer  Pinax.  ^^^^  richtiger  Handwerkslebcn.  Da  finden 
wir  Arbeiter  beim  Bergbau  (Abb.  131),  bei 
Schmelzöfen  beschäftigt  (Abb.  129  u.  130),  Töpfer  an  der  Drehscheibe; 
die  Gefässe  im  Brennofen  oder  etwa  auch  zum  Verkaufe  fertig;  Arbeiter 
bei  der  Weinernte,  einen  Bildhauer  (?)  (Abb.  133),  Faustkämpfer  (?), 
Schiffe,  Thiere;  wie  es  scheint,  auch  eine  auf  die  Thierfabel  vom  Fuchs 
und  vom  Raben  bezügliche  Darstellung  (Abb.  132). 

Richten  wir  den  Blick  auf  die  künstlerische  Ausführung,  so 
begegnen  wir  nur  noch  selten  den  im  Felde  zerstreuten  Blumen, 
während  unter  den  Figuren  nur  einmal  die  sogenannte  persische 
Artemis  an  orientalischen  Einfluss  erinnert,  der  sonst  vollständig  ver- 
schwunden ist.    Die  Zeichnung  ist  ungleichartig.    Bei  den  öfter  wieder- 


kehrenden Gestalten,  wie  bei  denen  des  Poseidon,  bei  ruhig  schreitenden 
Rossen  bilden  sich  gewisse  typische  Vortragsweisen  aus.  Timonidas,  der 
sich  einmal  als  Maler  eines  Täfelchens  bezeichnet  hat  und  hier  eine  männ- 


Vasenmalerei :  korinthische  Pinakes. 


liehe  Gestalt  mit  einem  Hunde  (Abb.  134)  in  einem  grösseren  Maassstabe 
zu  malen  hatte,  als  die  Figur  seiner  oben  erwähnten  Troilosvase,  be- 
müht sich,  von  seinem  Formenverständniss  innerhalb  eines  noch  etwas 
breiten  und  derben  Archaismus  Zeugniss  abzulegen,  während  in  dem 


[30.  u.  131 


Korinthische  Pinakes 


offenbar  jüngeren  Bilde  der  fragmentirten  troischen  Scene  dieser  Styl 
bereits  zu  einer  Stufe  weit  grösserer  Verfeinerung  gelangt  ist.  Ueber- 
haupt  werden  nicht  alle  diese  Täfelchen  einer  und  derselben  Zeit  an- 
gehören, wenn  sie  auch  die  Grenzen  der  hier  zu  behandelnden  Periode 
nur  selten  und  nicht  stark  überschreiten.  Eine  streng  chronologische 
Reihenfolge  herzustellen  dürfen  wir  aber  nicht  wagen,  da  die  einzelnen 
Stücke,  offenbar  von  verschiedenen,  mehr  oder  weniger  geschickten 
Töpfern  gearbeitet,  für  geringeren  oder  höheren  Preis  bei  ihnen  bestellt 
oder  gekauft  wurden.  Wichtig  sind  sie  gerade  als  eine  grössere,  im 
Ganzen  zusammengehörige  Masse,  die  als  solche  Zeugniss  ablegt  von 
dem  künstlerischen  Betrieb  jener  alten  Zeit  und  uns  einen  Einblick 
gewährt  in  seine  Freiheit  und  Vielseitigkeit. 

Es  ist  in  unseren  Tagen  Sitte  geworden,  bis  zum  Ueberdruss 
von  einem  Formen-,  einem  Typenschatz  der  ältesten  griechischen 
Kunst  zu  reden.  Wie  man  früher  —  es  ist  noch  gar 
nicht  lange  her  —  in  unseren  Schulen  zuerst  die  ein- 
zelnen Buchstaben  der  Reihe  nach,  dann  einzelne  Silben, 
Worte  lesen  lernte,  so,  meint  man,  hätten  auch  die 
Griechen  ein  sozusagen  künstlerisches  Alphabet,  ein- 
zelne Formen  oder  Motive  zeichnen  gelernt,  und  z.  B. 
erst  als  man  auf  solchem  Wege  ein  laufendes  Pferd 
zu  Stande  gebracht,  sich  dazu  aufgeschwungen, 
einen  von  Achilleus  verfolgten  Troilos  zu  malen. 
Diese  Auffassung  erleidet  an  den  korinthischen  Pinakes  den  kläg- 
lichsten Schiftbruch.    Das  Kind,   oder,   was  so  ziemlich  dasselbe  ist 


132.  Korinthischer 
Pinax. 


156 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenisehen  Geistes. 


133.    Korinthischer  Pinax. 


der  Künstler  in  der  Kindheit  der  Kunst  beginnt  nicht  damit,  einen 
Gegenstand  der  WirkUchkeit  in  seinen  einzelnen  Theilen  abzuschreiben 
oder  genau  zu  copiren.  Es  will  einem  Gedanken, 
einer  Vorstellung  künstlerischen  Ausdruck  ver- 
leihen, und  indem  es  dabei  die  Eindrücke  zu 
Hülfe  ruft,  die  es  von  der  Wirklichkeit  erhalten, 
zeichnet  es,  wie  in  zutreffender  Weise  gesagt 
worden  ist,  nicht  was  es  sieht,  sondern  was  es 
weiss.  Es  weiss,  dass  beim  Gehen,  beim  Laufen 
der  Mensch  die  Beine  enger  oder  weiter  aus- 
einanderstellt, dass  er  beim  Arbeiten  die  Arme  im 
Gelenk  biegt,  dass  der  Gefallene  nicht  aufrecht 
steht,  sondern  quer,  der  Länge  nach  auf  dem 
Boden  liegt.  Wie  weit  die  Wiedergabe  dieser 
Eindrücke  und  Vorstellungen  als  correct,  mit  der 
Wirklichkeit  im  Einzelnen  übereinstimmend  bezeichnet  werden  kann, 
kommt  weniger  in  Betracht,  als  dass  die  Form,  mag  sie  an  sich  noch 
so  unvollkommen  sein,  dem  Verständniss  entspreche,  das  dem  Kinde, 
dem  kindlichen  Sinne  gegeben  ist.  Man  beachte  namentlich  die  Hand- 
werksdarstellungen, die  Arbeiter  im  Bergwerk,  an  den  Schmelzöfen, 
an  der  Töpferscheibe:  überall,  so  oft  auch  Einzelnes  misslungen,  offen- 
bart sich  das  naive  Streben  nach  dem  einfachsten  Ausdruck  des  Ge- 
dankens, in  vollster  Freiheit,  ohne  jede 
schematische  Nachahmung.  Natürlich  sucht 
der  Nachfolger  das  Misslungene  des  Vor- 
gängers zu  vermeiden,  das  Gelungene  fest- 
zuhalten, die  frühere  Erfahrung  nicht  noch 
einmal  zu  machen,  sondern  zu  verwerthen, 
ja  zu  überbieten,  ohne  dadurch  seine  eigene 
Freiheit  einzuschränken,  die  vielmehr  durch 
Uebung  erstarkt.  Erst  das  zunftmässige 
Handwerk  und  noch  später  der  eigentlich 
fabrikmässige  Betrieb  bedarf  eines  „Typen- 
schatzes", der  auf  Selbständigkeit  verzichtet, 
während  allerdings  schon  in  früheren  Zeiten 
z.  B.  bei  den  wegen  Massenverbrauchs  oft 
wiederholten  Göttergestalten  oder  -gruppen  der  Votivbilder  wohl 
eine  gewisse  Nachlässigkeit  und  Flüchtigkeit  die  Frische  beeinträchtigt, 
weil    der  Künstler    über    die    Erfindung   nicht  nachzudenken  hat; 


[34.    Korinthischer  Pinax. 


Vasenmalerei:  korinthische  Pinakes.  - —  Sarkophage  von  Klazomenae,  j^y 

immer  aber  wird  das  eigentlich  ^lechanische  in  der  Reproduction 
vermieden. 

Die  Sarkophage  von  Klazomenae.  Die  korinthischen 
Vasen  in  Verbindung  mit  den  Pinakes  gewähren  uns  ein  frisches  und 
lebendiges  Bild  von  dem  Betriebe  der  keramischen  Malerei  in  ziemlich 
enger  zeitlicher  und  örtlicher  Begrenzung,  dem  aber  eine  zu  allgemeine 
Geltung  zuzuerkennen  wir  eben  deshalb  uns  hüten  müssen.  Halten 
wir  daher  Umschau  in  weiteren  Kreisen, 

Da  begegnen  wir  sofort  der  auffälligen  Erscheinung,  dass  der 
Osten  des  hellenischen  Culturgebietes,  die  Küsten  des  kleinasiatischen 
Festlandes,  sich  bisher  an  Vasenfunden  durchaus  unergiebig  gezeigt 
haben.  Vereinzelte  Stücke,  die  leicht  von  anderen  Orten  her  ver- 
schleppt sein  können,  bieten  keine  Gewähr  für  einen  selbständigen 
localen  Betrieb.  Erst  in  neuester  Zeit  ist  wenigstens  an  einem  Orte, 
Klazomenae,  ein  gewisser  Ersatz  durch  eine  Reihe  von  Terracotta- 
Sarkophagen  geboten  worden,  welche  in  einer  der  Gefässmalerei 
durchaus  verwandten  Technik  künstlerisch  geschmückt  sind.  (Journ. 
of  hell.  stud.  1883,  p.  I,  pl.  31;  Mon.  d.  I.  XI,  53 — 54-  Ant.  Denkm. 
d.  Inst.  T.  44 — 46)  (Abb.  135).  Am  oberen  Rande  der  Aussenseiten  nur 
mit  einem  schmalen  Ornamentstreifen  verziert,  zeigen  sie  die  obere 
Kante  zu  einem  Rahmen  verbreitert,  der  am  Kopf  und  Fussende 
grössere  Bildflächen  darbietet,  die  auf  den  Langseiten  nur  durch  ein 
Ornamentband  tektonisch  mit  einander  verbunden  sind. 

Die  ganze  Art  der  Ausschmückung  ist  schwerlich  in  Klazomenae 
zuerst  erfunden  worden.  Schon  länger  ist  ein  Exemplar  aus  Kameiros 
auf  Rhodos  in  das  britische  Museum  gelangt,  das  leider  kaum  genau 
beschrieben  und  nur  theilweise  (bei  Salzmann  T.  28)  veröffentlicht 
ist.  Die  Thierfiguren,  neben  denen  nur  erst  zwei  Köpfe  behelmter 
Krieger  auftreten,  schliessen  sich  künstlerisch  noch  ganz  den  rhodischen 
Thiertellern  an.  Die  Funde  von  Klazomenae  scheinen  einer  etwas 
jüngeren  Stufe  anzugehören;  und  wenn  auch  an  ihnen  gewisse  zeitliche 
Verschiedenheiten  hervortreten,  so  bilden  sie  doch  eine  eng  zusammen- 
gehörige Gruppe. 

Der  asiatische  Einfluss  ist  bereits  stark  im  Zurückweichen  be- 
griffen. Es  finden  sich  noch  theilweise  die  mehr  schematisirten  Thiere 
und  die  eingestreuten  Blumen  des  Teppichstyls.  Dagegen  haben  die 
architektonischen  Ornamente,  Palmetten,  das  gewundene  Band,  bereits 
den  vollständigen  Läuterungsprocess  in  rein  griechischem  Geiste  durch- 


1^8  Viertes  Capitel,    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


gemacht.  Ebenso  ist  in  den  menschlichen  Gestalten  der  fremde  Ein- 
fluss  vollkommen  abgestreift.  Dargestellt  sind  behelmte  Köpfe,  wie 
in  Rhodos,  dann  Reiter,  Wagenrennen,  Krieger,  einfache  und  grössere 
Kampfgruppen,  abgeschlossen  durch  Reiter  oder  Viergespanne,  als 
Lenkerinnen  derselben  einmal  beflügelte  Frauengestalten.  Ganz  vereinzelt 
erscheint  ein  pferdebeiniger  bärtiger  Satyr.  Die  Compositionen  haben 
mit  dem  chronikenartig  erzählenden  Charakter  asiatischer  Reliefs  nichts 
gemein,  aber  ebensowenig  mit  demjenigen  poetischen  Geist,  der  es 
unternimmt,  bestimmte  Scenen  aus  der  Heroensage  in  individueller 
Auffassung  bestimmt  zu  gestalten.  Man  hat  allerdings  die  künstlerisch 
entwickeltsten  Kampfscenen  (A.  D.  I.  44)  mit  der  Doloneia  in  Ver- 
bindung setzen  wollen.  Aber  was  dieselbe  in  der  Dichtung  charakterisirt, 
fehlt  im  Bilde;  und  was  in  dem  Bilde  über  die  Mittelgruppe  hinaus 
künstlerisch  weiter  entwickelt  ist,  widerspricht  der  Dichtung.  Gerade 
in  dem  Mangel  einer  bestimmten  Individualisirung  der  Handlung 
offenbart  sich  ein  Gegensatz  zur  Kunst  der  kleinen  korinthischen  Ge- 
mälde und  der  Pinakes.  Das  ganze  Streben  richtet  sich  zuerst  darauf, 
die  einzelnen  Gestalten  innerhalb  der  Grenzen  des  Silhouettenstyls 
correcter  durchzuarbeiten,    gewisse  Grundschemata  für  dieselben  in 


Vasenmalerei:  Sarkophage  von  Klazomenae.  —  Grössere  Vasenbilder.  i^q 


Haltung  und  Bewegung  festzustellen  und  sie  ebenso  nach  bestimmten 
künstlerisch-tektonischen  Gesetzen  zu  Gruppen  zusammenzuordnen. 
Die  Frische  der  poetischen  Auffassung  fehlt.  Das  Verdienst  liegt  auf 
der  Seite  der  formalen  Durchbildung,  die  über  ein  unsicheres  Tasten 
hinaus  mit  Bewusstsein  eine  bestimmte  Vortragsweise  erstrebt  und 
auf  dem  Wege  zu  diesem  Ziele  bereits  die  ersten  Schritte  mit  gutem 
Erfolge  zurückgelegt  hat. 

Grössere  Vasenbilder.  Wir  müssen  uns  mit  der  Feststellung 
dieser  Thatsache  begnügen,  ohne  bis  jetzt  im  Stande  zu  sein,  dieselbe 
in  einen  weiteren  Zusammenhang  fest  einzureihen.  In  einer  ähnlichen 
Lage  befinden  wir  uns  indessen  gegenüber  den  korinthischen  Malereien. 
Namentlich  die  Darstellungen  aus  der  Heroenmythologie  und  aus  dem 
Handwerksleben  sind  in  sehr  kleinem  Maassstabe  ausgeführt,  und  die 


136.    Chalkidisches  Vasenbild. 


formale  Durchbildung  tritt  hier  umgekehrt  zurück  gegen  den  Aus- 
druck des  Gedankens.  Um  unsere  Anschauung  durch  Figuren  in 
grösserer  Ausführung  zu  ergänzen,  hat  man  geglaubt,  auf  zwei 
Amphoren  hinweisen  zu  dürfen,  die,  in  Vulci  gefunden,  durch  die  An- 
wendung des  chalkidischen  Alphabets  auf  einen  anderen  Entstehungs- 
ort als  Korinth  hindeuten.  Dargestellt  sind  auf  ihnen  der  Kampf  um 
die  Leiche  des  Achilleus  (M.  d.  I.  I,  51)  (Abb.  136)  und  der  Kampf  des 
Herakles  gegen  Geryon  (Luynes,  Vases  8 ;  Baumeister,  Denkm.  III , 
S.  1966).  Beide  erwecken  den  Schein  hoher  Alterthümlichkeit.  Athene, 
die  in  beiden  Bildern  als  schützende  Göttin  auftritt,  erscheint  in  ihrer 
Darstellung  als  steifes  alterthümliches  Xoanon  wie  eine  Vorstufe  der 
Athene  im  äginetischen  Westgiebel.  Auch  in  der  Scene,  in  welcher 
Sthenelos  dem  im  Kampfe  verwundeten  Diomedes  den  Finger  ver- 
bindet, mögen  wir  gern  ein  Zeugniss  für  grosse  Ursprünglichkeit 
kindlicher  Auffassung  erkennen.  Aber  schon  die  Gestalten  des  todten 
Achilleus,  des  Eurytion  und  des  Hundes  sind  von  der  Naivetät  des 


l6o  Viertes  Capitel.     Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 

Gefallenen  unter  dem  Eber  der  Dodwellvase  weit  entfernt  und  ver- 
rathen  ein  etwas  gesuchtes  Ungeschick,  das  auch  in  den  Wendungen 
des  Glaukos  und  Leodokos  sich  nicht  ganz  verleugnet.  Dabei  aber 
verräth  die  Gesammtcomposition ,  die  Ghederung,  die  räumliche  und 
geistige  Abwägung  der  Massen,  wie  z.  B.  Aias  trotz  der  Verwundung 
des  Diomedes  durch  die,  man  möchte  sagen,  nur  geistige  Gegenwart 
der  Göttin  ganz  allein  im  Stande  ist,  der  ganzen  Schlachtreihe  der 
Troer  erfolgreichen  Widerstand  zu  leisten,  ein  weit  über  die  Stufe 
des  »korinthischen  Styls«  hinausgehendes  allgemein  künstlerisches 
Verständniss.  Endlich  aber  sprechen  der  Herzog  von  Luynes  und 
de  Witte,  beide  in  einer  Zeit,  in  welcher  die  heutigen  Discussionen 
über  eine  weitgreifende  späte  Nachahmung  alterthümlicher  Vasen  noch 
gar  nicht  begonnen  hatten,  sich  übereinstimmend  in  bestimmter  Weise 
dahin  aus,  dass  das  Technische  der  Fabrication,  Thon,  Farbe,  Firniss, 
auf  eine  Entstehung  der  beiden  Bilder  in  einer  verhältnissmässig  weit 
jüngeren  Zeit  hinweise.^) 

Bei  der  Frage  über  spätere  Nachahmungen  wird  allerdings 
schärfer,  als  es  bisher  geschehen,  zu  unterscheiden  sein,  ob  wir  es  mit 
eigentlichen  Copien  älterer  Werke  oder  mit  späteren  Erfindungen  im 
Sinne  und  im  Anschluss  an  eine  frühere  Zeit  zu  thun  haben;  aber 
wenn  auch  gerne  zuzugeben  ist,  dass  die  beiden  Vasen  mehr  den 
Copien  als  den  freien  Reproductionen  zuzuzählen  sind,  so  werden  wir 
sie  doch  nicht  als  vollgültige  Zeugen  für  die  hier  behandelte  Zeit, 
wenigstens  nicht  als  »originale  Handschriften«  aus  derselben  be- 
trachten dürfen. 

Wohl  aber  verdient  hier  ein  anderes  Gefäss  berücksichtigt  zu  werden, 
die  sogenannte  Arkesilasschale  (M.  d.  I.  I,  47)  (Abb.  137),  auf  welcher 
Arkesilas,  wahrscheinlich  der  zweite  kyrenaeische  König  dieses  Namens, 
dargestellt  ist ,  wie  er  das  Abwägen  des  Silphion ,  des  kostbaren 
Productes  seines  Landes  überwacht.  Das  Beiwerk,  das  Tauwerk^  die 
Wage,  allerlei  Thiere,  ein  Panther,  eine  Eidechse,  Vögel  und  ein  Affe, 


^)  De  Witte  in  den  Etudes  sur  las  vases  peints  1865,  p.  48  bemerkt  darüber:  la 
qualite  de  l'argile ,  la  beaute  de  l'email  et  la  perfection  des  couleurs  employees  et  aussi 
certaines  hardiesses  dans  le  dessin,  trahissent  une  main  habile  et  exercee,  und  deshalb  seien 
diese  beiden  Vasen  d' un  äge  plus  recent,  als  die  Minotaurosvase  M.  d.  I,  VI,  13  und  die 
Hebevase  A.  Z.  1856,  T.  209.  Aus  eigener  Anschauung  kann  ich  wenigstens  bestätigen, 
dass  an  der  jetzt  im  Pariser  Münzcabinet  befindlichen  Geryonvase  Farbe  und  Firniss  von 
einem  Glänze  sind,  wie  er  an  den  auf  griechischem  Boden  gefundenen  schwarzfigurigen 
Gefässen  wohl  nirgends  vorkommt. 


Vasenmalerei:  Grössere  Vasenbilder. 


i6i 


alle  in  ihren  Formen  und  ihren  Bewegungen  von  sorgfältiger  Natur- 
beobachtung zeugend,  verleihen  dem  Bilde  einen  durchaus  eigenartigen 
Charakter.  Die  gleiche  Sorgfalt  zeigt  sich  sowohl  in  den  menschlichen 
Körperformen,  in  der  Angabe  der  Ellenbogen,  der  Kniee,  der  Muskeln, 
wie  in  den  verschiedenen  Bewegungen  und  Geberden,  während  es  bei 
den  auffällig  von  den  gewöhnlichen  abweichenden  Gesichtstypen  schwer 
zu  sagen  ist,  ob  der  Maler  etwa  in  spöttischer  Absicht  eine  caricatur- 
artige  Bildung  versuchte  oder  den  fremdartigen  Typus  einer  africanischen 
Race  wiederzugeben  die  Absicht  hatte.  Jedenfalls  trägt  hier  Alles  ein 
originelles,  selbständiges  Ge- 


präge und  ist  mit  liebevoller 
Sorgfalt  durchgeführt ,  die 
sich  auch  in  der  reichge- 
gliederten und  doch  nicht 
überladenen  Ornamentik  ver- 

räth,  welche  die  ganze 
Aussenseite  bedeckt.  Thon 
endlich,  Farbe  und  Firniss 
sind  von  der  echtesten,  un- 
zweifelhaftesten Alterthüm- 
lichkeit. 

Der  Fundort  Vulci  giebt 
uns  über  den  Ort  der  Ent- 
stehung des  Bildes  keinen 
Aufschluss,  und  so  hat  man 


den    Namen    des  Arkesilas 

zum  Anlass  genommen,  um  nicht  nur  für  diese  Schale,  sondern  für 
eine  ganze  Gruppe  von  Gefässen  eines  einigermaassen  verwandten, 
aber  keineswegs  gleich  originalen  Charakters  Kyrene  als  Fabrications- 
ort  anzunehmen  (A.  Z.  1881,  S.  215),  obwohl  von  dortigen  Funden 
gleicher  Art  bisher  noch  nicht  das  Mindeste  bekannt  geworden  ist. 
Und  sollte  man  gerade  in  Kyrene  den  König  des  Landes  als  Kauf- 
herrn dargestellt  haben,  der,  wie  man  angenommen  hat,  als  Unter- 
drücker seiner  Unterthanen  den  Silphionhandel  in  seinen  Händen 
monopolisirt?  Man  hat  al^er  ausserdem  versäumt,  das  Bild  selbst 
genauer  anzusehen,  wenn  man  gesagt  hat,  der  König  lasse  das  ab- 
gewogene Silphion  in  einen  Vorrathskeller  schaffen  und  aufschichten. 
Der  König  sitzt  vielmehr  auf  einem  Schiffe.  Der  Balken,  an  dem  die 
Waage  hängt,  ist  eine  Rae,  die  Stricke  sind  nicht  die  Andeutungen 


l52  Viertes  Capitel.    Erstaikung  des  hellenischen  Geistes. 

eines  Zeltdaches,  sondern  die  Takelage,  der  untere  Abschnitt  des 
Bildes  ist  der  Raum  unter  Deck.  Das  weist  auf  Ausfuhrhandel  hin. 
Nun  hat  Puchstein  schon  in  der  A.  Z.  1880,  S.  184  auf  die  Verwandt- 
schaft der  ganzen  Scene  mit  den  häufigen  ägyptischen  Darstellungen 
hingewiesen,  in  denen  einem  Herrn  durch  seine  Untergebenen  Tribute 
oder  Erträgnisse  seiner  Besitzungen  dargebracht  und  vorgewogen 
werden,  und  in  denen  z.  B.  auch  der  in  einem  altgriechischen  Vasen- 
gemälde so  auffälHge  Affe  seine  Stelle  hat.  Seitdem  sind  die  Funde 
von  Naukratis  bekannt  geworden,  durch  welche  Naukratis  selbst  als 
Fabricationsort  von  Vasen  nachgewiesen  worden  ist.  Dort,  in  einem 
Mittelpunkte  sich  kreuzenden  Handelsverkehrs,  nicht  weit  ab  von 
Kyrene,  mochte  der  königliche  Kaufherr,  in  dessen  Händen  sich  der 
gesammte  Ausfuhrhandel  in  einem  werthvollen  Artikel  vereinigte,  eine 
allbekannte,  wohl  oder  übel  beleumundete  Persönlichkeit  sein,  die  im 
Bilde  darzustellen  sich  mehr  als  ein  Anlass  bieten  mochte.  Betrachten 
wir  also  Naukratis  als  den  Entstehungsort  des  Bildes,  so  finden  wir 
für  die  von  der  gewöhnlichen  abweichende  Ornamentik  die  nächsten 
Vergleichungen  in  verschiedenen  Fragmenten  aus  Naukratis  (Petrie 
I,  T.  7),  und  noch  auffälliger  ist  die  Verwandtschaft  mit  einer  leider 
fragmentirten  und  im  Einzelnen  kaum  sicher  zu  deutenden  Trinkschale 
(T.  8  u.  9;  Studniczka,  Kyrene  S.  18)  (Abb.  138),  wenn  auch  dieselbe 
in  der  stylistischen  Entwicklung  der  Zeichnung  um  ein  nicht  Geringes 
fortgeschritten  ist.  Hier  finden  wir  die  gleiche  Schalenform  mit  Kelch- 
rand, die  gleiche  technische  Ausführung  auf  weissem  Grunde,  die  fast 
den  ganzen  Innenraum  füllende  Grösse  des  Bildes,  die  verwandten 
Ornamente,  das  ungewöhnlich  Zerstreute  der  Dinge  im  Räume,  dazu 
die  Liebhaberei  an  der  Ausführung  von  Nebendingen,  wie  der  Vögel, 
endlich  die  Fremdartigkeit  der  Gesichtstypen.  Selten  dürften  sich  in 
unserem  gesammten  Vasenvorrath  zwei  Gefässe  finden,  welche  in 
Allem,  was  von  dem  gewöhnlichen  Durschschnitt  abweicht,  sich  unter 
einander  näher  berühren. 

So  sind  wir  von  Korinth  wieder  nach  Naukratis  gelangt,  von 
wo,  wie  von  Rhodos  aus,  wir  früher  nach  Korinth  geführt  worden 
waren.  Dass  an  den  verschiedenen  Orten  uns  verschiedene  Eigen- 
thümlichkeiten  entgegentraten,  lässt  sich  nicht  leugnen,  aber  eben  so 
wenig,  dass  in  den  allgemeinen  Grundzügen  der  Entwicklung  auch 
wieder  ein  einheitlicher  Charakter,  eine  Erstarkung  hellenischen  Geistes, 
hervortritt.  Die  Forschung  wird,  wenn  einmal  ein  reicheres  Material 
vorliegt,  den  Versuch  machen  müssen,  das  Gemeinsame  und  das  Unter- 


Vasenmalerei :  Grössere  Vasenbüder. 


163 


scheidende  bestimmter  auseinanderzuhalten.  Für  jetzt  fällt  es  noch 
schwer,  zu  bestimmen,  was  etwa  als  eine  individuelle  Eigenthümlichkeit, 
was  als  die  Gepflogenheit  einer  einzelnen  Werkstatt,  oder  was  etwa 
als  das  Charakteristische  einer  mit  Bewusstsein  arbeitenden  Schule  zu 
betrachten,  eben  so  was  als  alterthümliches  Ungeschick,  was  als  blosse 


138.    Schale  aus  Naukratis. 


Flüchtigkeit  oder  umgekehrt  als  blosse  Sauberkeit  der  Ausführung 
oder  als  Zeichen  einer  fortgeschritteneren  Entwicklung  anzusehen 
ist.  Ohne  Nachrichten  über  die  Fundorte,  ohne  die  paläographischen 
oder  dialektischen  Formen  der  Inschriften  würden  wir  kaum  wagen 
dürfen,  ein  Viergespann  mit  Lenker  (Mitt.  d.  ath.  Inst.  1879,  T.  18)  für 
korinthisch,  ein  grosses,  auf  Aegina  gefundenes  Gefäss  mit  Bildern 
der  Harpyien  und  des  Perseus  (A.  Z.  1882,  T.  9)  (Abb.  139  u.  140)  oder 
einen  Teller  aus  Marathon  mit  der  Darstellung  des  Dionysos  und  der 
Ariadne  (Mitt.  d.  ath.  Inst.  1882,  T.  3)  für  attisch  zu  erklären.  Auch  im 

II* 


1 64  Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes, 


139.    Schüssel  aus  Aegina  (A.  vergl.  Abb.  140). 


Technischen,  ob  z.  B.  das  Weiss  schwarz  untermalt  oder  einfach  auf  den 
gelben  Grund  aufgetragen,  ob  das  Weiss  nur  für  den  weiblichen  oder 
auch  für  den  männlichen  Körper  verwendet,  ob  das  Auge  rund  oder 
mandelförmig  gezeichnet  wird  u.  A.  m.,  zeigt  sich  noch  ein  mehrfaches 
Schwanken.  Man  strebt  überall  nach  einer  Ausgleichung  verschiedener 
Praktiken  und  Auffassungen,  aber  man  ist  noch  nicht  zu  einem,  wenn 
auch  nur  vorläufigen  Abschluss  typischer  Fixirungen  gelangt. 

Auch  zeitlich  ist  eine  strenge  Begrenzung  der  bisher  beobachteten 
Erscheinungen  kaum  möglich.  Die  Inschriften  mögen  der  Mehrzahl 
nach  noch  der  ersten  Hälfte  des  sechsten  Jahrhunderts  angehören, 
theilweise  aber  auch  noch  weiter  herabreichen,  und  wir  sind  dadurch 
schon  mitten  in  eine  Zeit  geführt,  in  w^elcher  die  griechische  Kunst 
auf  anderen  Gebieten  einen  von  der  bisherigen  Uebung  durchaus  ver- 
schiedenen Aufschwung  nahm.  Trotzdem  empfiehlt  es  sich,  auch 
diese  Grenze  noch  um  etwas  zu  überschreiten  und  die  Vasenmalerei 
weniger  im  Hinblick  auf  ihre  formale  Stylistik,  als  auf  den  Inhalt  ihrer 
Darstellungen  etwas  näher  ins  Auge  zu  fassen. 

Die  Fran^oisvase.  Wir  haben  bereits  beobachtet,  wie  die 
Sagenpoesie  immer  mehr  in  den  Bereich  der  Vasendarstellungen  ein- 
bezogen wurde.  Auf  den  korinthischen  Gefässen  waren  es  meist 
einzelne  Scenen ;  nur  selten  fanden  sich  deren  zwei  verbunden :  Herakles 


Vasenmalerei :  Frangoisvase. 


«65 


140.    Schüssel  aus  Aegina  (B.  vergl.  Abb.  139^. 


mit  der  Hydra  und  mit  dem  Kerberos,  der  Zweikampf  des  Achilleus 
und  Hektor,  des  Aias  und  Aeneas,  die  also  durch  die  Person  des 
Hauptkämpfers  oder  durch  den  Kreis  der  Sage  einheitlich  verbunden 
waren.  Einen  Zusammenhang  allgemeinerer  Art  vermutheten  wir 
allerdings  schon  für  eine  weit  frühere  Zeit  in  den  auf  den  Grabescult, 
die  Thaten  und  Ehrungen  der  Verstorbenen  bezüglichen  Darstellungen 
einer  grossen  Dipylonvase.  Ohne  nun  hier  einen  besonderen  Werth 
auf  die  Hymettosamphora  (s.  o.  S.  134)  zu  legen,  auf  der  verschieden- 
artige Kampfscenen,  aber  ohne  Namen  vereinigt  sind,  oder  auf  ein 
noch  unpublicirtes  attisches  Gefäss  schon  entwickelten  vStyls  in  München, 
das  eine  Eberjagd  und  eine  Kampfscene  zwischen  Viergespannen  mit 
einander  vereinigt,  muss  dagegen  hier  betont  werden,  dass  auf  dem 
vorhin  erwähnten  in  Aegina  gefundenen  attischen  Gefässe  zwei  Scenen 
(Phineus  und)  die  Harpyien  undPerseus  (und  die  Gorgonen)  mit  einander 
verbunden  sind,  die  sich  künstlerisch  vortrefflich  zu  Seitenstücken  eignen, 
aber  zwei  ganz  getrennten  Mythenkreisen  angehören.  Leider  sind  von 
einem  grossen  Gefässe  des  Malers  Sophilos  (Mitth.  d.  ath.  Inst.  1889,  T.  i), 
auf  dem  sicher  verschiedene  Bilder  vereinigt  waren,  im  Schutte  der 
Akropolis  von  Athen  nur  geringe  Reste  aufgefunden  worden:  Hermes, 
hinter  ihm  Hestia  und  Demeter,  Leto  und  Chariklo,  weiter  eine  Gruppe 
nysäischer  Nymphen,  und  (auf  einem  noch  unpublicierten  Fragment)  der 
Rest  eines  Gespannes  mit  Zeus  und  Hera.  Aber  diese  Fragmente  leiten 
uns  durch  ihre  enge  und  unverkennbare  künstlerische  Verwandtschaft 


i66 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes, 


Über  zu  dem  berühmtesten  Werke  der  ältesten  Vasenmalerei,  der  in 
Chiusi  entdeckten,  jetzt  im  Museum  von  Florenz  befindlichen,  nach  ihrem 
Entdecker  benannten  Frangoisvase  (Mon.  d.  Inst.  IV,  54 — 56;  Wiener 
Uebungsbl.  1888,  2 — 4)  (Abb.  141  u.  142).  Sie  bildet  unter  verschiedenen 
Gesichtspunkten  den  Abschluss  der  bisherigen  Entwicklungen.  An 
Reich thum  ihres  Bilderschmuckes  übertrifft  sie  alle  bis  jetzt  bekannten 
Vasen:  selbst  die  Henkel  entbehren  desselben  nicht.  Der  Körper  aber 
ist  mit  fünf,  ausserdem  der  Fuss  mit  einem  Streifen  von  Figuren  über- 
deckt, von  denen  nur  einer,  der  unterste  am  Körper,  im  Anschluss  an  die 


141.    Fran^oisvase  fA.  vergl.  Abb.  142^ 


alte  Decorationsweise  kämpfende  Thiere :  Löwen,  Panther,  Stiere,  Eber, 
Hirsche  und  je  im  Centrum  der  Vorder-  und  der  Rückseite  ein  streng 
stylisirtes  Pflanzenornament,  umgeben  von  zwei  Sphinxen  und  zwei 
Greifen,  enthält,  die  übrigens  als  Einfassung  eines  der  oberen  Streifen 
nochmals  wiederkehren.  Alle  übrigen  Streifen  füllen  Darstellungen 
aus  der  Heroen-  und  der  Göttersage,  die  mit  einer  epischen  Aus- 
führlichkeit geschildert,  man  kann  sagen,  erzählt  sind,  dass  sie  mehrfach 
geradezu  als  Ersatz  verlorener  Dichtungen  gelten  können.  Aber  so 
wichtig  für  uns  jede  einzelne  Scene  ist,  so  drängt  sich  doch  die  Frage 
auf,  ob  in  ihrer  Wahl  und  Zusammenstellung  nur  der  Zufall,  die 
Willkür,  oder  ein  künstlerisches  und  poetisches  Princip  walten.  Der 
Versuch  ihrer  Beantwortung  ist  bisher  kaum  gemacht  worden ;  doch 


Vasenmalerei :  Frangoisvase. 


167 


ist  es  endlich  Zeit,  ihn  zu  wagen.  Dabei  werden  die  künstlerischen 
und  poetischen  Grundmotive  zunächst  gesondert  zu  betrachten  sein. 
Die  räumliche  Mitte,  den  mittleren  Streifen,  nimmt,  auch  durch 
•\  grössere  Höhe  ausgezeichnet,  die  Hauptdarstellung  ein:  Die  Hochzeits- 
feier des  Peleus  und  der  Thetis,  welche  einheitlich  den  ganzen  Körper 
der  Vase  umschliesst.  Darunter  auf  der  Vorderseite  eilt  Troilos  zu 
Ross  von  Achilleus  verfolgt  dem  unter  den  Mauern  Troias  sitzenden 
Priamos    entgegen.     Ihm  entspricht   auf  der  Rückseite  Hephaestos 


142.    Frangoisvase  (B.  vergl.  Abb.  141.) 


auf  einem'  Maulthiere  reitend,  der  von  Dionysos  nach  dem  Olymp,  zu 
dem  Thron  des  Zeus,  geführt  wird.  Ueber  dem  mittleren  Streifen 
werden  vorn  die  Leichenspiele  des  Patroklos  durch  das  Wettrennen 
der  Wagen  gefeiert.  Den  Rossen,  welche  künstlerisch  in  den  Vorder- 
grund treten,  entsprechen  auf  der  Rückseite  die  rosseleibigen  Kentauren 
im  wilden  Streite  mit  den  Lapithen.  Wiederum  kämpfen  vorn  am 
oberen  Rande  griechische  .Helden  in  paarweiser  Aufstellung  gegen  den 
gewaltigen  kaly donischen  Eber ;  und  auf  der  Rückseite  tanzen  Paare  von 
Jünglingen  und  Mädchen  den  Reigen  zur  Feier  des  Sieges  des  Theseus 
über  den  Minotauros.  Während  aber  oben  die  Rundung  der  Vase 
durch  die  beiden  Henkel  in  zwei  Hälften  getheilt  wird,  das  mittlere 
Bild  aber  rings  herumläuft,  umfasst  unten  der  Streifen  der  Thiere  den 
Körper  der  Vase  wie  mit  einem  Bande,  welches  vorn  und  hinten  durch 


i68 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


die  Sphinxe  und  Greife  wie  durch  die  Schlösser  eines  Gürtels  zusammen- 
gehalten wird.  Um  den  Fuss  endlich,  der  das  Ganze  trägt,  läuft 
wiederum  einheitlich  eine  belebte  Schlacht  herum,  in  welcher  die 
Pygmäen,  zum  Theil  auf  Ziegenböcken,  ihre  Feinde,  die  Kraniche, 
bekämpfen. 

Dieser  räumlichen  Disposition  kann  aber  dem  stofflichen  Inhalte 
nach  schwerlich  die  geistige  entsprechen.  Denn  welche  Beziehungen 
finden  sich  wohl  zwischen  Troilos  und  des  Hephaestos  Rückführung, 
zwischen  den  Leichenspielen  des  Patroklos  und  dem  Kampfe  der 
Kentauren?  Eben  so  schwierig  möchte  es  sein,  die  Mannigfaltigkeit 
der  verschiedenen  Scenen  unter  einen  mythologischen  Gesichtspunkt  zu 
vereinigen.  Das  Band,  welches  sie  zusammenhält,  kann  nur  ein  poetisches, 
ein  Band  der  poetischen  Analogie  sein.  Mehr  als  einmal  wiederholt 
sich  das  Thema  von  Streit  und  Kampf,  im  Bilde  des  Troilos,  der 
Kentauren,  der  Eberjagd  und  der  Pygmäen,  mehr  als  einmal  das 
Thema  von  Versöhnung  und  Frieden,  in  der  Rückführung  des  Hephaestos, 
in  den  Leichenspielen,  die  eine  Sühnung  der  Manen  bedeuten,  im 
Siegesreigen  des  Theseus,  endlich  in  der  feierlichen  Hochzeit  des 
Peleus  und  der  Thetis,  dem  versöhnenden  Abschlüsse  nach  heftigem 
Widerstreite.  In  diesem  Gegensatze  wird  also  das  allgemeine  Grund- 
thema zu  erkennen  sein,  das  aber  in  seiner  Allgemeinheit  zum  Behufe 
künstlerischer  Darstellung  in  bestimmter,  concreter  Weise  begrenzt 
werden  muss.  Dies  geschieht,  indem  der  Künstler  zwar  von  einem 
bestimmten,  in  der  Sage  gegebenen  Stoffe  ausgeht,  aber  seine  Ideen 
nicht  an  diesem  ausschliesslich  durchführt,  sondern  ihn  in  seinen  ver- 
schiedenen Theilen  durch  die  poetische  Analogie  anderer  verwandter 
Mythen  oder  Thatsachen  veranschaulicht  und  erläutert. 

Die  Flochzeit  des  Peleus  und  der  Thetis  ist  der  Anfangs-  und 
Ausgangspunkt  gewaltigen  Streites  auf  Erden.  Dieser  hohen  Be- 
deutung entspricht  die  Solennität  der  Feier.  In  glänzendem  Festzuge 
erscheinen  auf  Viergespannen  die  olympischen  Götterpaare,  begleitet 
von  den  Göttern  der  elementaren  Natur,  wie  Demeter,  Hestia,  Dionysos, 
und  von  anderen  Wesen  der  göttlichen  Weltordnung,  wie  Hören,  Musen 
und  Moiren.  An  der  Spitze  des  Zuges  aber  schreitet  neben  Iris  Chiron, 
der  väterliche  Freund  und  Erzieher  des  Peleus,  welcher  diesem,  der 
ihn  vor  der  Thür  des  Hauses  erwartet,  sei  es  den  ersten  Willkommen 
bietet,  sei  es  ein  Gelöbniss  abnimmt.  Dem  Stamm  der  Kentauren  ent- 
sprossen ist  er  doch  ungleich  ihnen  in  Wesen  und  Sitte.  Jene  freilich 
lassen  sich  nur  treiben  von  wilder,  sinnlicher  Lust;  uneingedenk  des 


Vasenmalerei:  Frangoisvase. 


169 


Gastrechtes  stören  sie  friedliche  Vereinigungen  und  entzünden  mörde- 
rischen Streit  und  Kampf.  Chiron  hingegen  vermittelt,  versöhnt. 
Gleich  dem  Dionysos,  der  den  Zorn  des  vielverspotteten,  auch  bei  der 
Hochzeit  des  Peleus  auf  seinem  Esel  an  letzter  Stelle  erscheinenden 
Hephaestos  zu  besänftigen  und  ihn  mit  listigem  Anschlag  nach  dem 
Olymp  in  die  Gemeinschaft  der  Götter  zurückzuführen  weiss,  ist  er 
es  hier,  durch  dessen  weisen  Beistand  es  dem  Peleus  gelungen  ist, 
den  Widerstand  zu  brechen,  den  die  widerwillige  Göttin  dem  sterb- 
lichen Manne  entgegensetzt.  So  wird  auf  göttlichen  Rathschluss  die 
Ehe  vollzogen,  aus  der  Achilleus  als  vornehmstes  Werkzeug  des  Zeus 
in  dem  bevorstehenden  Kampfe  um  Troia  entspringen  soll.  An  ihn 
ist  Troias  Geschick  geknüpft;  an  Troias  Geschick  sein  eigenes.  Wohl 
hätte  der  Künstler  diesen  Gedanken  durch  Rektors  und  Achilleus'  Tod 
zur  Anschauung  bringen  können.  Er  zog  es  vor,  in  beziehungsreichen 
Andeutungen  sich  auszudrücken.  Er  wählt  zunächst  zwar  nicht  die 
erste,  aber  die  erste  bedeutungsvolle  That  des  Achilleus  auf  troischem 
Boden.  Auch  des  Troilos  Tod  ist  nach  dem  Orakel  verhängnissvoll 
für  Troia,  verhängnissvoll  aber  auch  für  Achilleus;  denn  durch  die 
Befleckung  des  thymbräischen  Heiligthums  reizt  er  den  Zorn  des 
Apollon,  der  ihm  später  durch  die  Hand  des  Paris  den  Tod  sendet. 
Nicht  aber  diesen  Tod  selbst,  sondern  die  Leichenspiele  des  Patroklos 
stellt  der  Künstler  dar;  denn  dem  Freunde  folgt  der  Freund,  und  die 
Todtenfeier  des  einen  ist  in  der  Idee  das  Vorbild  der  des  anderen. 
Mit  dem  Geschicke  des  Achilleus  sind  indessen  noch  nicht  alle  Folgen 
jener  verhängnissvollen  Hochzeit  erfüllt.  Noch  ist  der  Entscheidungs- 
kampf nicht  geschlagen.  Doch  würde  eine  Iliupersis  mit  ihren  zahl- 
reichen tragischen  Episoden  die  Aufmerksamkeit  vielleicht  zu  sehr 
vom  Mittelpunkte  abgezogen,  zu  sehr  den  Charakter  blosser  Illustration 
angenommen  haben.  Nicht  einem  Helden  erlag  schliesslich  Troia, 
sondern  wie  gegen  den  gewaltigen  Eber  von  Kalydon  die  vereinigte 
Heldenjugend  Griechenlands  auszog,  so  fiel  auch  Ilion  nur  durch  die 
Anstrengungen  des  gesammten  Heeres  der  Achäer.  Die  Verherrlichung 
des  Sieges  endlich  tritt  uns  entgegen  unter  dem  Bilde  eines  Reigen- 
tanzes, welcher  den  nicht  nur  in  Attika,  sondern  überhaupt  in  alter 
Poesie  und  Kunst  hochberühmten  Sieg  des  Theseus  feierte. 

Wie,  allerdings  in  etwas  vorgeschrittenerer  Zeit,  der  Tragödie  das 
Satyrspiel  folgte,  so  dient  auch  hier  das  humoristische  Bild  des  Kampfes 
der  Pygmäen  und  Kraniche  wie  zur  Erholung  von  dem  Ernst  der 
übrigen  Darstellungen.    Gönnen  wir  aber  überhaupt  dem  Humor  eine 


lyO  Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 

Stelle,  so  dürfen  wir  vielleicht  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und 
an  die  Möglichkeit  denken,  dass  zur  Wahl  gerade  dieses  Gegenstandes 
an  untergeordneter  Stelle  in  leichtem  Scherze  ein  Wortspiel  den  Anlass 
geboten  habe:  Die  Delier  nannten  den  noch  in  späteren  Zeiten  bei 
ihnen  wiederholt  aufgeführten  Siegesreigen  des  Theseus  den  Kranichs- 
tanz (Plutarch,  Thes.  21).  —  Noch  in  den  Bildern  der  Henkel  klingt  das 
Hauptthema  nach:  im  Allgemeinen  durch  die  Gestalt  eines  Kriegs- 
dämons, sei  es  Deimos  oder  Phobos,  im  Besonderen  durch  die  Rettung 
der  Leiche  des  Achilleus  auf  den  Schultern  des  Aias.  Wie  aber  am 
Körper  der  Vase  im  untersten  Streifen  der  kämpfenden  Thiere  sich 
ein  Rest  des  alten  Decorationssystems  erhalten  hat,  so  erinnert  hier 
die  sogenannte  persische  Artemis  mit  ihren  Löwen,  Panthern  und 
Hirschen  nochmals  an  die  alten,  nun  bereits  ganz  in  den  Hintergrund 
gedrängten  Beziehungen  zum  Orient. 

Bhcken  wir  zurück,  so  ist  das  allgemeine  Thema  von  Streit  und 
Versöhnung  im  Grunde  noch  dasselbe,  wie  in  den  Schilddarstellungen 
bei  Homer  und  Hesiod;  nur  wird  es  in  der  Ausführung  dem  Kreise 
des  allgemeinen  Menschenlebens  entrückt  und  an  einer  Reihe  bestimmt 
charakterisirter  Thaten  aus  dem  Sagenkreise  der  Heroenzeit  zur  An- 
schauung gebracht.  Die  epische  Poesie  hat  hier  eine  bereits  ent- 
wickelte künstlerische  Gestaltung  erfahren.  Auch  verleugnet  die 
Kunst  in  der  Behandlung  der  einzelnen  Scenen  keineswegs  ihre  Quelle, 
so  beispielsweise  in  der  Troilosscene.  Die  Verfolgung  durch  Achilleus 
unter  dem  Beistand  der  Athene,  des  Hermes  und  der  Thetis,  die 
Flucht  der  Polyxena,  die  Meldung  des  Antenor  an  Priamos,  das 
Ausrücken  des  Hektor  und  Polites  aus  dem  halbgeöffneten  Thore 
der  zur  Vertheidigung  bereiten  Stadt,  auf  der  anderen  Seite  die 
Gegenwart  des  Apollo  in  der  Nähe  des  ausführlich  geschilderten 
Brunnenhauses  gewähren  uns  einen  Einblick  in  den  ganzen  Verlauf 
und  die  Folgen  der  Handlung,  wie  sie  gewiss  nicht  erst  vom  Künstler, 
sondern  vor  ihm,  wenn  auch  nicht  durch  ein  einzelnes  bestimmtes 
Epos ,  aber  durch  das  Epos ,  die  Sagenpoesie  in  einer  dieser  eigenen 
Ausführlichkeit  entwickelt  worden  war.  Dagegen  waltet  in  der  Wahl 
und  der  künstlerischen  Verknüpfung  der  Scenen  ein  durchaus  ver- 
schiedenes Princip.  Der  räumlichen  Gliederung,  welche  der  Kunst 
allerdings  von  Alters  her  eigen  ist,  entspricht  in  der  Poesie  der 
strophische  Bau  der  chorischen  Lyrik.  Wie  aber  in  dieser  die  poetische 
Gesammtidee  weit  mehr  das  persönliche  Eigenthum  des  Dichters  ist, 
als  im  Epos,  wie  die  Lyrik  ihren   einheitlichen  Gedanken  nicht  an 


Vasenmalerei:  Frangoisvase.  —  Kasten  des  Kypselos. 


dem  sachlichen  Faden  eines  und  desselben  Mythus  entwickelt,  sondern 
aus  dem  gesammten  Mythenstoff  nach  dem  Princip  der  Analogie  das 
Einzelne  auswählt,  insofern  und  insoweit  es  dient,  die  Grundideen  in 
ihren  verschiedenen  Theilen  dichterisch  zu  gestalten,  so  thut  es  auch 
der  Künstler ;  ja  der  ganze  Versuch  einer  poetischen  Analyse  der 
Frangoisvase,  der  ja  zunächst  nichts  weiter  sein  kann,  als  ein  Versuch, 
vermag  seine  Berechtigung  nur  zu  finden  —  wird  sie  aber  hoffentlich 
auch  finden  —  in  dem  Hinweise  auf  die  Siegeslieder  eines  Pindar  und 
die  Chorgesänge  der  tragischen  Dichter. 

Wir  sind  bei  der  Betrachtung  der  Frangoisvase  über  die  Grenzen 
hinausgegangen,  innerhalb  welcher  wir  uns  bei  den  Erörterungen  über 
die  ältere  decorative  Kunst  bisher  bewegt  haben.  Doch  schien  ein 
solches  Vorgreifen  nothwendig,  um  den  Weg  zu  bereiten  zur  richtigen 
Würdigung  zweier  für  die  ältere  Zeit  hochwichtiger  Werke,  die  nur 
deshalb  nicht  in  den  Vordergrund  gestellt  werden  konnten,  weil  wir 
über  dieselben  nicht  aus  eigener  Anschauung  zu  urtheilen  vermögen, 
sondern  von  ihnen  nur  durch  die  ausführlichen  Beschreibungen  des 
Pausanias  genauere  Kunde  besitzen.  Es  sind  dies  der  Kasten  des 
Kypselos  und  der  Thron  des  amykläischen  Apollon. 

Der  Kasten  des  Kypselos. 

Das  Alter  des  Kypseloskastens ,/  dessen  Beschreibung  Pausanias 
fast  drei  Capitel  widmet  (V,  17,5 — 19),  lässt  sich  leider  nicht  sicher 
bestimmen.  Man  soll  Kypselos  als  Kind  darin  versteckt  haben,  um 
ihn  den  Nachstellungen  der  Bakchiaden  zu  entziehen.  Hiernach  musste 
er  längere  Zeit  vor  der  30.  Olympiade,  in  welcher  Kypselos  zur  Herr- 
schaft gelangte,  gearbeitet  sein.  Doch  leidet  die  ganze  Sage  an  zu 
vielen  Unwahrscheinlichkeiten,  als  dass  sie,  so  wie  sie  berichtet  wird, 
Glauben  verdienen  könnte  (vgl.  Schubring,  de  Cypselo  Corinthiorum 
tyranno,  Gotting.  1862);  und  wollen  wir  sie  nicht  gänzlich  verwerfen, 
so  werden  wir  uns  an  den  Ausdruck  des  Pausanias  halten  dürfen,  dem 
zufolge  nicht  Kypselos,  sondern  „das  nach  ihm  genannte  Geschlecht 
der  Kypseliden"  den  Kasten  in  das  Heräon  zu  Olympia  weihete. 
Wurde  er  nun  erst  in  ihrem  Auftrage  gefertigt,  so  gehört  er  in  die 
Zeit  zwischen  Ol.  38  und  48.  Dass  damit  der  Charakter  des  Werkes 
keineswegs  in  W^iderspruch  steht,  wird  sich  erst  nach  der  Betrachtung 
desselben  im  Einzelnen  behaupten  lassen. 

Der  Kasten,  im  Allgemeinen  w^ohl  den  reich  mit  Schnitz  werk 
verzierten  mittelalterlichen  Laden  oder  Truhen  vergleichbar,  war  aus 


172 


Viertes  Capitel.    Erslarkung  des  hellenischen  Geistes. 


Cedernholz  gearbeitet  und  mit  weit  über  hundert  Figuren  in  Relief 
aus  Elfenbein,  Gold  oder  auch  aus  dem  Holze  selbst  geziert,  also  in 
einer  Technik,  für  welche  es  in  der  älteren  Zeit  nicht  an  Vor- 
bildern fehlte.  Die  Figuren,  zum  Theil  mit  Namen  bezeichnet  oder 
durch  metrische  Inschriften  erklärt,  waren  in  fünf  Felder  vertheilt,  welche 
Pausanias  vom  untersten  beginnend  bis  zum  obersten  durchgeht.  Um 
sich  in  der  reichen  Fülle  der  Darstellungen  zu  orientiren,  ist  es  nöthig, 
zunächst  den  Inhalt  derselben  kurz  zu  registriren.  Ich  glaube,  dabei 
im  Ganzen  an  der  Gliederung  festhalten  zu  müssen,  die  ich  in  einem 
Aufsatze  „über  den  Parallelismus  in  der  Composition  altgriechischer 
Bildwerke"  (Rhein.  Mus.,  N.  F.,  Band  5)  versucht  habe.  Zugleich  ver- 
weise ich  auf  den,  in  Einzelnheiten  abweichenden,  aber  im  Princip  über- 
einstimmenden bildlichen  Reconstructionsversuch  von  Overbeck:  über 
die  Lade  des  Kypselos,  in  den  Abhandl.  d.  sächs.  Ges.  d.  Wiss., 
IV.  Band. 

I.  unterstes  Feld  von  rechts  nach  links: 

1.  Wettrennen  des  Pelops  und  Oinomaos. 

2.  Des  Amphiaraos  Auszug. 

3.  Die  Leichenspiele  des  Pelias,  und  zwar: 

a)  Herakles  sitzend  und  hinter  ihm  eine  FJötenspielerin. 

b)  Wettrennen  von  vier  Zweigespannen. 

c)  Faustkampf   des   Admetos    und   Mopsos    nebst  einem 
Flötenspieler. 

d)  Ringkampf  des  lason  und  Peleus,  dabei  ein  Diskoswerfer. 

e)  Fünf  Wettläufer  zu  Fuss. 

f)  Akastos,  die  Töchter  des  Pelias  und  die  Siegespreise. 

4.  Des  Herakles   Kampf  gegen   die  Hydra  im  Beisein  der 
Athene  und  des  lolaos  mit  dem  Viergespann. 

5.  Phineus,  durch  die  Boreaden  von  den  Harpyien  befreit. 

II.  Feld,  von  links  nach  rechts: 

1.  a)  Die  Nacht  mit  einem   weissen   und   einem  schwarzen 

Knaben,  dem  Schlafe  und  dem  Tode,  in  den  Armen. 

b)  Dike  straft  Adikia. 

c)  Zwei  Frauen,  welche  Zaubermittel  in  einem  Mörser  stossen. 

2.  Marpessa  folgt  willig  dem  Idas. 

3.  Zeus  unter  Amphitryons  Gestalt  und  Alkmene. 

4.  MeneloS;  die  Helena  verfolgend. 


Kasten  des  Kypselos. 


5.  a)  Medea  auf  einem  Throne,  mit  lason  zur  Rechten  und 

Aphrodite  zur  Linken,  nach  der  Inschrift :    die  Hochzeit 
des  lason  und  der  Medea. 
b)  Apollo  und  die  Musen  singend. 

6.  Atlas  mit  der  Himmelskugel  und  den  Hesperidenäpfeln  von 
Herakles  bedroht. 

7.  Ares  führt  Aphrodite. 

8.  Peleus  mit  Thetis  ringend. 

9.  Perseus  von  den  Schwestern  der  Medusa  verfolgt. 

III.  Feld: 

Grosse  Schlacht,  über  welche  Pausanias  verschiedene  Deutungs- 
versuche mittheilt. 

IV.  Feld,  von  links  nach  rechts: 

1.  Der  schlangenfüssige  Boreas  mit  der  geraubten  Oreithyia. 

2.  Des  Herakles  Kampf  gegen  den  dreileibigen  Geryon. 

3.  Theseus  mit  der  Leier  und  Ariadne. 

4.  Kampf  des  Achilleus  und  Memnon  im  Beisein  der  Mutter. 

5.  Melanien  und  Atalante  mit  einem  Hirschkalbe. 

6.  Zweikampf  des  Aias  und  Hektor ;  zwischen  ihnen  die 
hässliche  Eris, 

7.  Die  Dioskuren  und  zwischen  ihnen  Helena,  welche  die 
Aethra  mit  Füssen  tritt. 

8.  Koon  kämpft  mit  Agamemnon  wegen  der  Leiche  des 
Amphidamas ;  auf  dem  Schilde  des  Agamemnon  der  löwen- 
köpfige  Phobos. 

9.  10.  Hermes  führt  die  drei  Göttinnen  zu  Paris;  Artemis  geflügelt, 
einen  Panther  und  einen  Löwen  mit  den  Händen  fassend. 
Pausanias  betrachtete  die  Artemis  wahrscheinlich  als  Neben- 
figur zur  Parisscene  und  nennt  sie  zuletzt,  statt  sie  ab- 
gesondert voranzustellen. 

1 1 .  Aias  reisst  Kassandra  vom  Bilde  der  Athene  weg. 

12.  Der  Brudermord  des  Eteokles  und  Polyneikes  im  Beisein 
der  scheusslichen  Ker. 

13.  Der  bärtige  Dionysos  in  einer  Höhle   gelagert;   um  ihn 
herum  Weinstöcke,  Apfel-  und  Granatbäume. 

V.  Feld,  von  rechts  nach  links: 

I .  Odysseus  und  Kirke,  auf  einem  Ruhebett  gelagert,  und  vier 
Dienerinnenin  den  von  Homer  beschriebenen  Beschäftigungen. 


174 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


2.  a)  Chiron. 

b)  Nereiden  auf  geflügelten  Zweigespannen. 

c)  Hephaestos  von  einem  Diener  begleitet   übergiebt  der 
Thetis  die  Waffen. 

3.  Nausikaa  und  eine  Dienerin  auf  einem  Maulthiergespann. 

4.  Herakles  im  Kampfe  gegen  die  Kentauren. 

In  dem  oberen  Felde  fehlten  die  erläuternden  Inschriften;  und 
Irrthümer  in  der  Deutung  des  Dargestellten  sind  daher  weniger  als 
sonst  ausgeschlossen.  In  der  That  hat  Loeschcke  (Dorpater  Programm 
1880)  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  die  Beziehung  der  ersten 
Scene  auf  Odysseus  und  Kirke  durch  die  Hinweisung  auf  die  Schilderung 
der  Dienerinnen  bei  Homer  nur  schwach  unterstützt  wird,  sowie  ferner, 
dass  die  Gegenwart  des  Chiron  bei  der  Ueberbringung  der  Waffen  an 
den  übrigens  gar  nicht  dargestellten  Achilleus  keine  genügende  Er- 
klärung findet.  Er  glaubt  daher  in  der  ersten  Scene  anstatt  Odysseus 
und  Kirke  vielmehr  Peleus  und  Thetis  zu  erkennen,  bei  deren  Hochzeits- 
feier die  Nymphen  des  Gebirges  durchaus  passend  als  Dienerinnen 
beim  Mahle  erscheinen,  während  die  Grotte  und  die  Gegenwart  des 
Chiron  in  dieser  Scene  ihre  natürliche,  ja  noth wendige  Stellung  finden. 
Aber  auch  das  Ueberbringen  der  Waffen  fügt  sich  dieser  Deutung, 
insofern  schon  bei  Elomer  (II.  XVII,  195)  die  Waffen  des  Achilleus, 
nicht  diejenigen,  die  er  im  Kampfe  gegen  Hektor  trug,  sondern  die, 
welche  Hektor  beim  Tode  des  Patroklos  erbeutete,  als  ein  Geschenk 
der  Himmlischen  an  Peleus  bezeichnet  werden.  Der  Deutung  Löschcke's 
möchte  daher  gegenüber  der  des  Pausanias  ein  nicht  geringer  Grad 
von  Wahrscheinlichkeit  kaum  abzusprechen  sein. 

Im  Uebrigen  dürfte  es  sich  empfehlen,  an  den  Beschreibungen 
des  Pausanias  nicht  grundlos  herumzudeuten.  So  will  Pernice  (Jahrb. 
d.  Inst.  III,  366)  an  dem  untersten  Felde  die  Figuren  des  Herakles 
und  einer  Flötenspielerin  gegen  das  ausdrückliche  Zeugniss  des  Pau- 
sanias von  den  Leichenspielen  des  Pelias  loslösen  und  dem  Abschiede 
des  Amphiaraos  zutheilen.  Das  würde  voraussetzen,  dass  Herakles 
den  Leichenspielen  ab-  und  dem  Amphiaraos  zugewandt  dargestellt 
gewesen  wäre.  In  diesem  Falle  aber  würde  ein  Missverständniss  des 
Pausanias  geradezu  unbegreiflich  sein.  Weiter  aber  sind  wir  durchaus 
nicht  berechtigt,  an  Pausanias  den  Anspruch  zu  stellen,  dass  er  die 
Figuren  in  strenger  Reihenfolge  eine  nach  der  andern  aufzähle:  es 
ist  weit  natürlicher,  dass  er  zuweilen  mehrere,  eine  kleine  Gruppe,  oder 
eine  ganze  Scene  in  der  sprachlichen  Darstellung  zusammenfasst  und 


Kasten  des  Kypselos. 


dabei  die  Hauptfigur  in  den  Vordergrund  stellt.  So  folgt  die  Flöten- 
spielerin nicht  von  rechts  nach  links  auf  den  Herakles,  sondern  sie 
steht  hinter  ihm:  omodev  avrou.  Eben  so  dürfen  wir  aus  der  Beschreibung 
des  Pausanias  nicht  schliessen,  dass  die  Gespanne  bei  den  Leichen- 
spielen sich  von  rechts  nach  links  folgten.  Pausanias  erwähnt  zuerst 
die  Mehrzahl  der  Bewerber  nur  kurz,  um  den  Nachdruck  auf  den 
fünften,  den  Sieger,  zu  legen,  der  natürlich  den  anderen  voran  rechts 
vor  Herakles  dargestellt  sein  müsste.  Dagegen  werden  unter  den 
Läufern  zu  Fuss,  die  sich  in  umgekehrter  Richtung  bewegen,  Argeios 
als  der  vierte,  und  Iphiklos,  der  Sieger,  als  der  fünfte  bezeichnet,  dem 
Akastos  den  Kranz  reicht. 

Richten  wir  jetzt  unser  Auge  auf  die  Fülle  einzelner  Scenen,  so 
werden  wir  uns  schwerlich  dem  Glauben  hingeben,  dass  dieselben 
nur  wie  zufällig  durcheinander  gewürfelt  seien.  Suchen  wir  aber 
Ordnung  zu  schaffen,  so  werden  wir  uns  erinnern,  dass  uns  in  der 
ältesten  Kunst  als  eines  der  Grundprincipien  künstlerischer  Composition 
die  strenge  Entsprechung  der  einzelnen  Glieder  untereinander  entgegen- 
trat. Den  Spuren  des  gleichen  Princips  begegnen  wir  auch  hier  schon 
mehrfach  bei  einem  bloss  äusserlichen  Abzählen  der  Figuren  und  Scenen. 
Da  und  dort  weist  uns  auch  wohl  ein  Wort  in  der  Beschreibung  des 
Pausanias  auf  die  Entsprechung  einzelner  Scenen  hin.  Freilich  geschieht 
dies  ohne  Kenntniss  des  Princips,  und  oft  genug  lässt  uns  der  Perieget 
über  die  künstlerische  Auffassung  einer  Scene  völlig  im  Dunkeln. 
Ueberhaupt  aber  brauchte  das  Princip  keineswegs  überall  sklavisch 
in  streng  mathematischer  Regelmässigkeit  durchgeführt  zu  sein:  oft 
mochten  eine  gewisse  Gleichartigkeit  der  Massen,  einzelne  augenfällige 
Analogieen  zur  Herstellung  des  Gleichgewichtes  vollkommen  ausreichen, 
während  anderwärts  vielleicht  nur  der  Mangel  genügender  monumentaler 
Vergleichungen  uns  nicht  sofort  die  Entsprechung  erkennen  lässt.  Die 
Existenz  des  Principes  wird  trotzdem  leicht  nachzuweisen  sein. 

Besonders  deutlich  tritt  es  sofort  beim  ersten  Felde  innerhalb 
der  Leichenspiele  des  Pelias  hervor,  und  die  scheinbare  Ungleichartig- 
keit  auf  Seiten  des  Akastos  bietet  in  Wirklichkeit  eine  vortreffliche 
Ausgleichung  zwischen  den  Wettläufern  zu  Fuss  und  dem  materiell 
massenhafteren  Rennen  zu  Wagen.  In  der  2.  und  4.  Scene  gewähren 
die  Gespanne  des  Baton  und  des  lolaos  dem  Auge  einen  bestimmteren 
Halt,  während  die  vielköpfige  Hydra  in  der  zahlreichen  Familie  des 
Amphiaraos  ihr  Gegengewicht  erhält.  Bei  i  und  5  liegt  die  Entscheidung 
in  der  Schnelligkeit,  welche  den  geflügelten  Boreaden  und  Harpyien 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


gegenüber  auch  in  den  Flügelrossen  des  Pelops  ihren  Nachdruck 
erhält.  Im  zweiten  Felde  treten  2  und  8:  die  freiwillige  Liebe  der 
Marpessa  und  die  gezwungene  der  Thetis ;  3  und  7 :  die  Liebesbe- 
gegnungen des  Zeus  und  der  Alkmene,  des  Ares  und  der  Aphrodite; 
4  und  6 :  die  friedlich  sich  lösenden  Angriffe  des  Menelaos  auf  Helena, 
des  Herakles  auf  Atlas  in  der  ungezwungensten  Weise  einander 
gegenüber.  Hiernach  vereinigt  sich,  was  zwischen  4  und  6  liegt: 
die  Hochzeit  Jasons  und  Apollo  mit  dem  Chor  der  Musen,  zu  einem 
grösseren  Mittelbilde.  Denn  die  beiden  Scenen  wegen  der  doppelten 
Inschrift  zu  trennen,  ist  keineswegs,  wie  Overbeck  annimmt,  unbedingt 
geboten:  im  vierten  Felde  (8)  hat  sogar  eine  Gruppe  von  nur  drei 
Figuren  eine  doppelte  Inschrift.  Bei  lason  und  Medea  handelt  es 
sich  nicht  um  eine  blosse  ,, Liebesvereinigung",  sondern  die  Scene  wird 
durch  die  Inschrift  als  Hochzeit  (ya/uhi)  bezeichnet,  bei  welcher  ein 
festlicher  Chor  wohl  an  der  Stelle  ist.  —  Am  wenigsten  scheinen  sich 
die  Eckgruppen  i  —  6  dem  bisherigen  Princip  zu  fügen.  Nehmen  wir 
indessen  an ,  dass  der  Nacht  mit  den  beiden  Kindern  auf  den  Armen 
etwa  ein  Bild  der  Medusa  entsprach,  aus  deren  Halse  Chrysaor  und 
Pegasos  hervorsprangen,  so  ist  gerade  an  den  Ecken  wenigstens 
ein  fester  Punkt  gewonnen,  an  dem  das  Auge  eine  Stütze  fand. 

Im  vierten  Felde  sondert  sich  die  siebente  Scene  als  Mittelpunkt 
bestimmt  aus,  sobald  wir  uns  zu  den  Dioskuren  neben  Helena  und 
Aethra  noch  ihre  Rosse  hinzudenken.  6  und  8  schliessen  sich  namentlich 
durch  die  Gegenüberstellung  der  Erls  und  des  Phobos  in  hinlänglicher 
Strenge  an.  Ausserdem  bildet  bei  Nr.  12  das  Hinzutreten  der  Ker 
zu  dem  fallenden  Polyneikes  ein  passendes  Gegengewicht  zu  dem  drei- 
leibigen  Geryon  in  Nr.  2.  Weniger  streng  ist  die  Entsprechung  in 
den  Zwischengruppen  3 — 5  und  9 — 11,  jedoch  in  dem  Zahlen verhältniss 
der  Figuren  und  Gruppen  immer  noch  ziemlich  genügend.  In  den 
Eckgruppen  wird  die  scheinbare  Ungleichheit  bedeutend  gemildert, 
wenn  der  schlangenfüssige  Boreas  nicht  die  fliehende  Oreithyia  verfolgt, 
sondern  die  geraubte  vor  sich  in  den  Armen  hält,  während  wir  für 
sein  wildes  Aussehen  in  einem  bärtigen  Dionysos  von  der  Art  des 
bei  der  Hochzeit  des  Peleus  auf  der  Frangoisvase  erscheinenden  Gottes 
eine  durchaus  passende  Analogie  finden. 

Etwas  lockerer  ist  die  Fügung  im  obersten  Felde.  Um  die 
Uebergabe  der  Waffen  durch  Hephästos  gruppiren  sich  die  Zweige- 
spanne der  Nereiden  und  der  wohl  vierrädrigen  Maulthierwagen  der 
Nausikaa.     Die  figurenreichen  Eckgruppen  endlich  mochten  in  der 


Kasten  des  Kypselos. 


Grotte  der  Kirke  (oder  des  Chiron)  und  der  mit  Wahrscheinlichkeit 
vorauszusetzenden  des  Kentauren  Pholos  einen  entsprechenden  räum- 
lichen Abschluss  finden. 

Bhcken  wir  jetzt  zurück,  so  gewährt  das  unterste  Feld  den  ein- 
heitlich abgeschlossensten  Eindruck.  Im  zweiten  lösen  sich  die  Eck- 
gruppen von  den  übrigen  durch  einen  etwas  fremdartigen  Charakter 
los;  ebenso  im  vierten,  wo  ausserdem  in  der  Mitte  der  Flügel  sich 
eine  Lockerung  zeigt.  Noch  freier  ist  die  Behandlung  im  obersten 
Felde,  dessen  Composition  sich  nur  mit  Mühe  zu  der  Länge  der 
übrigen  ausdehnen  lässt.  Es  scheint  also  auch  hier  ein  bestimmtes 
Princip  obzuwalten.  Unten  in  der  Breite,  gewissermaassen  der  Basis 
des  Ganzen,  und  in  der  Höhe,  d.  h.  in  der  Mitte  von  unten  bis  oben, 
herrscht  die  grössere  Strenge,  die  aber,  überall  gleichmässig  durchge- 
führt, leicht  ermüdend  gewirkt  haben  würde.  Da  nun  das  Ganze 
schwerlich  ohne  ornamentale  Begrenzung  oder  Umrahmung  an  den 
Seiten  zu  denken  ist,  so  mochten  die  freieren  und  zum  Theil  phantas- 
tischen Figuren  der  Eckgruppen  gewissermaassen  zum  Ornament 
überleiten ,  welches  eben  in  das  Feld  selbst  weit  eingriff  und  dadurch 
diesem  Felde  den  Charakter  einer  leichten,  nicht  belastenden  Bekrönung 
verlieh.  Auch  in  der  Fran^oisvase  zeigen  nicht  alle  Streifen  die  gleiche 
Compositionsweise,  wenn  auch  dort  der  Natur  des  Gefässes  entsprechend 
die  grössere  Freiheit  sich  gerade  umgekehrt  am  Fusse  in  der  Pygmäen- 
schlacht geltend  macht. 

Es  wird  hiernach  nicht  nothwendig  sein,  auf  eine  Erörterung  der 
Annahme  einzugehen,  der  zufolge  die  einzelnen  Bildstreifen  nicht  nur 
die  vordere,  sondern  noch  dazu  die  beiden  schmaleren  Nebenseiten 
der  Lade  eingenommen  haben  sollen.  Sie  widerlegt  sich  übrigens 
auch  direct  durch  eine  einfache  Bemerkung:  Pausanias  zieht  irrthümlich 
I,  3 — 4  das  Gespann  des  lolaos  zu  den  Leichenspielen  des  Pelias  statt 
zu  dem  Kampfe  mit  der  Hydra.  Dieser  Irrthum  würde  nicht  möglich 
gewesen  sein,  wenn  die  Beschreibung  gerade  bei  dieser  Gruppe  um 
die  Ecke  hätte  umbiegen  müssen. 

Den  geistigen  Zusammenhang  der  reichen  Mannigfaltigkeit  dieser 
verschiedenen  Bilder  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Fran9oisvase  im 
Einzelnen  nachzuweisen,  wird  wohl  schwerlich  jemals  vollständig  ge- 
lingen. Bei  einem  Blick  auf  die  räumliche  Mitte  der  Felder  treten  uns 
indessen  einige  einfache  Gedanken  ganz  ungesucht  entgegen.  Die 
Uebergabe  der  Waffen  V,  2,  die  grosse  Schlacht  III  und  die  Leichen- 
spiele des  Pelias  I,  3    verhalten  sich  in  der  Idee  wie  Anfang,  Mitte 

12 


178 


Viertes  Capitel.     Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


und  Ende.  Die  einzelnen  Scenen  von  Streit,  Kampf,  Frevel  und  Strafe 
im  vierten  Felde  (dem  zweiten  von  oben)  erscheinen  danach  als  die 
Einleitung  zu  der  Hauptschlacht.  Wenn  aber  Pausanias  von  dieser  sagt: 
man  könne  es  den  Kämpfenden  ansehen,  dass  sie  sich  miteinander 
versöhnen  und  gegenseitig  anerkennen  werden,  so  spricht  sich  die 
Erfüllung  dieses  Gedankens  in  den  verschiedenen  Liebes-  und  Ver- 
söhnungsscenen  des  zweiten  (unteren)  Feldes  aus,  in  welchem  vielleicht 
durch  den  Tod  der  Medusa  auf  die  Besiegung  dunkler  elementarer 
Naturmächte,  durch  die  Strafe  der  Adikia  auf  die  ethische  Begründung 
des  Rechts  hingewiesen  werden  soll  (vgl.  Memorie  dell'  Inst.  II,  p.  383). 
Mit  diesen  wenigen  Andeutungen  sich  zu  begnügen,  erscheint  gerathener, 
als  sich  in  weitgehenden  Vermuthungen  über  Einzelnes  zu  verbreiten, 
solange  sich  denselben  nicht  durch  eine  Begründung  auf  allgemeine 
Principien  wenigstens  die  Gewähr  einer  inneren  Wahrscheinlichkeit 
verleihen  lässt. 

Ueber  die  kunsthistorische  Bedeutung  des  Ganzen  wird  erst  im 
Zusammenhange  mit  dem  zunächst  im  Einzelnen  zu  betrachtenden 
amykläischen  Throne  zu  handeln  sein. 

Der  amykläische  Thron. 
Der  Thron  des  Apollo  zu  Amyklae  in  der  Nähe  von  Sparta, 
welchen  Pausanias  (III,  18,  9 — 19,  5)  in  sehr  knapper  Fassung  be- 
schreibt, war  ein  Werk  des  Bathykles  aus  Magnesia  und  seiner  Genossen. 
»Wessen  Schüler  dieser  Bathykles  war  und  unter  welchem  Könige 
er  den  Thron  verfertigte,  das  übergehe  ich«,  sagt  leider  Pausanias, 
und  nur  die  allgemeinen  Nachrichten  über  die  Beziehungen  Spartas 
zu  Kroesos  machen  es  einigermaassen  wahrscheinlich,  dass  der  Künstler 
zur  Zeit  dieses  Königs  gelebt  habe  (vgl.  meine  Künstlergesch.  I,  52). 
Unklar  sind  ferner  die  Angaben  über  die  Anlage  des  nur  sehr  un- 
eigentlich als  Thron  bezeichneten  Werkes.  Statt  eines  zusammen- 
hängenden Sitzbrettes  fanden  sich  daran  mehrere  von  einander  ge- 
trennte Sitze  und  in  ihrer  Mitte  stand  auf  gesonderter  Basis  das  aus 
älterer  Zeit  stammende  30  Ellen  hohe  Bild  des  Gottes,  einer  ehernen 
Säule  gleich,  an  welcher  nur  der  mit  einem  Helme  bedeckte  Kopf, 
die  Hände  mit  Speer  und  Lanze  und  die  Füsse  menschliche  Gestalt 
hatten.  Vorn  und  hinten  trugen  den  Thron  je  zwei  Chariten  und 
zwei  Hören.  Links  (etwa  in  Verbindung  mit  den  Armlehnen)  Standen 
Echidna  und  Typhos,  rechts  Tritonen.  An  dem  oberen  Ende  des 
Thrones,  also  wohl  auf  den  Ecken  der  Rücklehne,  befanden  sich  die 


Amykläischer  Thron. 


Dioskuren  zu  Ross  und  unter  den  Pferden  derselben  Sphinxe  und 
aufwärts  laufende  (anspringende?)  Thiere:  bei  Kastor  ein  Panther,  bei 
Polydeukes  eine  Löwin;  ganz  oben  der  Chor  der  Magneter,  welche 
dem  Bathykles  bei  der  Arbeit  geholfen.  Die  Versuche,  nach  diesen 
Angaben  das  Ganze  zu  reconstruiren ,  sind  wenig  befriedigend  aus- 
gefallen (vgl.  Arch.  Zeit.  1852,  S.  465;  1853,  137;  1854,  257);  und 
wir  müssen  uns  daher  mit  der  Betrachtung  der  zahlreichen  Reliefs 
begnügen,  welche  den  Thron  an  der  Aussen-  und  Innenseite  und 
ausserdem  die  als  Grab  des  Hyakinthos  dienende  Basis  der  Statue 
schmückten.  Weitere  Gliederungen  giebt  Pausanias  nicht  an,  so  dass 
wir  bei  ihrer  Anordnung  nur  auf  innere  Gründe  angewiesen  sind. 
Welcker  (Ztschr.  f.  alte  Kunst,  S.  284)  zählte  auf  den  Aussenseiten  28 
Scenen,  die  ihn  an  eine  Viertheilung  nach  der  Siebenzahl  (4  X  7)  denken 
Hessen,  deren  Bedeutung  auch  noch  an  andern  Theilen  des  Thrones  her- 
vortreten sollte.  Wenn  aber  sogleich  am  Anfange  der  Beschreibung  die 
Figur  des  Atlas  nicht  wohl  für  sich  bestehen  kann,  sondern  mit  der 
Scene  des  Raubes  seiner  Töchter  verbunden  werden  muss,  so  ist  die 
Möglichkeit  gegeben,  die  nach  diesem  Abzug  übrig  bleibenden  27  Bilder 
je  zu  neun  auf  drei  Seiten  des  Thrones  zu  vertheilen. 

I.  Seite : 

1.  Poseidon  und  Zeus  rauben  die  Töchter  des  Atlas,  welcher 
selbst  gegenwärtig  ist. 

2.  Kampf  des  Herakles  gegen  Kyknos. 

3.  Schlacht  des  Herakles  gegen  die  Kentauren  bei  Pholos. 

4.  Theseus  führt  den  gefesselten  Minotauros  lebendig  fort. 

5.  Chor  der  Phäaken  und  der  Sänger  Demodokos. 

6.  Perseus  und  die  Medusa. 

7.  Kampf  des  Herakles  gegen  den  Giganten  Thurios. 

8.  Tyndareus  kämpft  gegen  Eurytos. 

9.  Raub  der  Leukippiden  (wahrscheinlich  in  Gegenwart  ihres 
Vaters  nach  Analogie  von  Scene  i.^) 

II.  Seite: 

I.  Dionysos  als  Kind  von  Hermes  in  den  Himmel  getragen 
(dabei  wahrscheinlich  die  Nymphen  als  seine  Erzieherinnen). 

^)  Pernice  (Jahrb.  d.  I.  III,  369)  möchte  den  Tyndareus  der  vorangehenden  Gruppe 
als  den  Vater  der  raubenden  Dioskuren  mit  dieser  Scene  verbinden.  Aber  nicht  der  Vater 
der  raubenden  Jünglinge  ist  hier  an  seiner  Stelle ,  sondern  nur  der  Vater  der  geraubten 
Mädchen.    Noch  dazu  aber  bildete  Tyndareus  den  Theil  einer  Kampfgruppe. 

12* 


i8o 


Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 


2.  Herakles  von  Athene  in  den  Himmel  geführt. 

3.  Peleus  übergibt  den  Achilleus  dem  Chiron  zur  Erziehung. 

4.  Kephalos  von  Hemera  geraubt. 

5.  Die  Götter  bringen  Geschenke  zur  Hochzeit  der  Harmonia. 

6.  Kampf  des  Achilleus  gegen  Memnon. 

7.  Des  Herakles  Kampf  gegen  Diomedes. 

8.  Herakles  rächt  sich  an  Nessos. 

9.  Hermes  führt  die  Göttinnen  zu  Paris. 
III.  Seite: 

1.  Adrastos  und  Tydeus  trennen  den  Kampf  des  Amphiaraos 
und  Lykurgos. 

2.  Hera  blickt  auf  die  in  eine  Kuh  verwandelte  lo  herab. 

3.  Athene  flieht  Vor  Hephaestos. 

4.  Kampf  des  Herakles  gegen  die  Hydra. 

[5.  Darstellung  des  Hades  (s.  u.),  von  welcher  sich  als  besondere 
Scene  loslöst:] 

6.  Herakles,  den  Kerberos  wegführend. 

7.  Anaxis  und  Mnasinus,  jeder  auf  einem  Pferde,  Megapenthes 
und  Nikostratos,  beide  zusammen  auf  einem  Pferde. 

8.  Bellerophon  und  die  Chimaera. 

9.  Herakles  führt  die  Rinder  des  Geryon  weg. 

An  der  Innenseite  des  Thrones  („wenn  man  unter  den  Thron 
tritt")  fanden  sich,  von  der  Seite  der  Tritonen  beginnend : 

1.  Die  kalydonische  Jagd. 

2.  Herakles  tödtet  die  Söhne  des  Aktor. 

3.  Kaiais  und  Zetes  treiben  die  Harpyien  von  Phineus  weg. 

4.  Peirithoos  und  Theseus  rauben  die  Helena. 

5.  Herakles  erwürgt  den  Töwen. 

6.  Apollo  und  Artemis  erschiessen  den  Tityos. 

7.  Herakles  kämpft  gegen  den  Kentauren  Orion. 

8.  Theseus  kämpft  gegen  den  Minotauros. 
g.  Herakles  ringt  mit  Acheloos. 

10.  Die  Fesselung  der  Hera  durch  Hephaestos. 

11.  Die  Leichenspiele  des  Pelias. 

12.  Menelaos  und  Proteus. 

13.  Admetos,  einen  Eber  und  einen  Löwen  zusammenspannend. 

14.  Die  Todtenfeier  des  Hektor. 

Die   Bildwerke    an    der    Basis   der   Statue,    dem   Grabe  des 
Hyakinthos,  vertheilten  sich  (nach  Trendelenburg  im  Bull.  d.  Inst.  187  i, 


vielleicht  umzustellen. 


Amykläischer  Thron. 


i8i 


p.  124)  auf  die  vier  Seiten  derselben.  An  ihrer  linken  Seite  befand 
sich  eine  eherne  Thür,  um  im  Innern  dem  Hyakinthos  Todtenspenden 
bringen  zu  können,  woraus  sich  zu  erklären  scheint,  dass  die  Zahl 
der  Figuren  geringer  war,  als  auf  den  andern  drei  Seiten. 

L  Iris,  Amphitrite,  Poseidon ;  Zeus  mit  Hermes  redend ;  Dionysos, 
Semele  und  Ino,  wahrscheinlich  auf  die  Aufnahme  des  Dionysos  in 
den  Olymp  bezüglich. 

II.  Demeter,  Kore  und  Pluto;  die  Moiren  und  Hören;  Aphrodite, 
Athene  und  Artemis,  den  Hyakinthos  und  seine  Schwester  Polyboia 
(aus  dem  Hades)  in  den  Himmel  einführend. 

III.  Herakles  von  Athene  und  den  andern  Göttern  in  den  Olymp 
eingeführt. 

IV.  Die  Töchter  des  Thestios  und  die  Musen  (die  Hören  scheinen 
nur  aus  Versehen  in  den  Handschriften  des  Pausanias  wiederholt.) 

Diese  kurze  Aufzählung  wird  genügen,  um  in  der  räumlichen 
Gliederung  auch  hier  das  Princip  einer  strengen  Entsprechung  leicht 
erkennen  zu  lassen.  Ueber  Einzelnes  vgl.  den  oben  citirten  Aufsatz 
im  Rhein.  Mus.,  N.  F.,  V,  S.  325  ff.  Auf  den  Aussenseiten  schliessen 
sich  an  ein  grösseres  Mittelbild  kleinere  Gruppen  meist  nur  von 
wenigen  Figuren  an,  welche  an  den  Ecken  wiederum  durch  figuren- 
reichere Scenen  zusammengehalten  werden.  Hierbei  war  nur  an  einer 
Stelle  (III,  5 — 6)  eine  freiere  Deutung  des  nach  seinem  eigenen  Ge- 
ständniss  sehr  kurzen  Pausanias  nöthig,  indem  zu  der  Scene  des 
Herakles,  ,;Wie  er  den  Hund  des  Hades  wegführte",  eine  gesonderte 
Darstellung  der  Unterwelt  vorausgesetzt  wurde,  etwa  mit  dem  Palaste 
des  Hades  als  Mittelpunkt,  wenn  auch  dafür  zunächst  nur  die  Analögieen 
späterer  Vasen  vorliegen.  An  den  Innenseiten  scheiden  sich  nach  dem 
Wortlaut  des  Pausanias  zuerst  zweimal  je  drei  Gruppen  aus.  Die 
weitere  Theilung  von  zweimal  je  vier  wird  sich  durch  die  strenge 
Entsprechung  zwischen  12:13  und  11:14  rechtfertigen.  Schwerlich 
aber  konnte  bei  Berücksichtigung  dieses  Zahlenverhältnisses  Pausanias 
diese  Bilder  in  einer  Folge  vom  Anfang  bis  zum  Ende  beschreiben, 
sondern  er  sprang  wahrscheinlich  von  einer  Seite  (i — 3)  zur  gegen- 
überstehenden (4 — 6)  über,  und  schloss  daran  die  Rückseite,  an  welcher 
die  übrigen  acht  Darstellungen  etwa  in  zwei  Reihen  übereinander  an- 
gebracht sein  mochten. 

Wenn  nun  schon  in  der  räumlichen  Gliederung  manches  Einzelne 
dunkel  bleiben  muss,  so  ist  es  natürlich  noch  weit  schwieriger,  einen 


l82  Viertes  Capitel.    Erstarkung  des  hellenischen  Geistes. 

einheitlichen  Ideenzusammenhang  in  der  bunten  Mannigfaltigkeit 
dieser  Darstellungen  aufzufinden.  Die  religiöse  Bestimmung  des  Werkes 
musste  natürlich  auf  ganz  andere  Ideenkreise,  als  in  den  bisher  be- 
trachteten Monumenten,  hinleiten,  und  die  engen  Beziehungen  des 
amykläischen  Gottes  zu  Hyakinthos,  dem  von  ihm  geliebten  sterblichen 
Jünglinge,  konnten  dabei  nicht  ohne  Einfluss  bleiben.  Vielleicht  findet 
darin  die  Aufnahme  so  vieler  Scenen  ihre  Erklärung,  in  welchen  sich 
Wechselverhältnisse  verschiedenster  Art  zwischen  Göttern  und  Sterb- 
lichen deutlich  aussprechen;  und  selbst  die  starke  Bevorzugung  des 
zur  Unsterblichkeit  bestimmten  Herakles  gegenüber  z.  B.  den  troischen 
Mythen  möchte  in  diesen  Anschauungen  ihren  Grund  haben.  Am 
unzweifelhaftesten  treten  diese  Ideen  an  der  Basis  der  Statue  hervor, 
wo  drei  von  sterblichen  Frauen  Geborene:  Dionysos,  Herakles  und 
Hyakinthos,  zu  den  Ehren  der  Unsterblichkeit  gelangen,  und  auch  auf 
der  vierten  Seite  unter  den  Thestiaden  die  der  Gemeinsamkeit  des 
Zeus  gewürdigte  und  in  ihren  Kindern,  den  Dioskuren  und  der  Helena, 
hochgefeierte  Leda  vielleicht  den  Mittelpunkt  bildete.  Wenn  nun 
endlich  am  Feste  der  Hyakinthien  als  Hauptmomente  einer  Todtenfeier 
die  Darbringung  eines  Gewandes  und  festliche  Chöre  hervortraten,  so 
möchten  darin  wenigstens  die  drei  Mittelbilder  der  Aussenseiten :  das 
Bild  der  Unterwelt,  die  Darbringung  der  Geschenke  bei  der  Hochzeit 
der  Harmonia  und  der  Chor  der  Phäaken,  ihre  Analogie  finden. 

Schlusswort. 

Blicken  wir  jetzt  auf  die  bisherigen  Erörterungen  zurück,  so 
tritt  uns  die  Kunst  von  Homer  bis  auf  die  Francoisvase  als  ein 
durchaus  einheitliches  Bild  entgegen,  das  zwar  in  sich  selbst  eine 
mannigfaltige  Entwicklung  zeigt ,  aber  nirgends  über  die  Grenzen 
eines  bestimmten,  in  sich  abgeschlossenen  Grundcharakters  hinaus- 
geht. Diese  Einheit  offenbart  sich  zuerst  in  dem  Princip  der  räum- 
lichen Gliederung,  welches,  von  Anfang  an  klar  in  seiner  funda- 
mentalen Bedeutung  erkannt,  eine  fast  unbedingte  Herrschaft  ausübt 
und,  wenn  auch  in  höherer  und  feinerer  Durchbildung,  im  weiteren 
Verfolg  der  griechischen  Kunst  auszuüben  eigentUch  nie  aufhört. 
Nicht  minder  zeigt  sich  diese  Einheit  in  der  Entwicklung  des  Stoff- 
lichen der  Darstellung.  Zuerst  musste  sich  der  Bhck  auf  die  Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungen  des  wirkUchen  Lebens  richten,  in  dessen 
Mitte  sich  der  Mensch  bewegt,  ehe  der  Künstler  es  wagen  konnte, 
Scenen  aus  der  Vergangenheit  in  bestimmter,  wenn  auch  immer  noch 


Schlusswort. 


183 


sehr  äusserlicher  Charakteristik  aus  der  Phantasie  zu  reproduciren. 
Hier  bildet  der  hesiodische  Schild  einen  vortrefflichen  Uebergang  zum 
Kasten  des  Kypselos,  an  welchem  das  gesammte  Gebiet  der  Mythen- 
welt dem  Künstler  nicht  nur  bereits  erschlossen  ist,  sondern  ihn 
geradezu  überwältigt.  Der  Bilderreichthum  des  homerischen  Schildes, 
aus  dem  man  einen  Hauptgrund  gegen  die  Realität  des  Kunst- 
werkes hat  ableiten  wollen,  erscheint  sogar  einfach  gegen  die  Fülle 
des  Kastens,  welche  ihrerseits  unbegreiflich  sein  würde,  wenn  ihr 
nicht  eine  Kunstübung,  wie  sie  eben  jene  Schildbilder  bieten,  voran- 
gegangen wäre.  Trotzdem  werden  wir  den  Kypseloskasten  und 
ebenso  den  amykläischen  Thron  von  Ueberladung  nicht  freisprechen 
können :  rastlos  werden  wir  von  einer  Scene  zur  andern  getrieben, 
und  selbst  die  etwas  grösseren  Mittel-  und  Eckbilder  gewähren  dem 
Auge  nicht  eigentliche  Ruhe-,  sondern  nur  Stützpunkte,  um  sich  in 
der  Fülle  des  Einzelnen  nicht  zu  verirren  und  die  Uebersicht  nicht 
zu  verlieren.  Erst  in  der  Fran^oisvase  beginnt  der  Process  der  Ab- 
klärung oder,  fast  möchte  man  sagen,  der  Rückkehr  zu  der  früheren 
Einfachheit.  Die  einzelnen ,  der  Zahl  nach  geringeren  Scenen  gelangen 
mehr  zu  ihrem  Rechte ;  sie  haben  nicht  mehr  blos  den  Werth  eines 
Wortes  oder  kurzen  Satzes,  sondern  sie  bilden  eine  Strophe,  die  in 
sich  selbst  eine  breitere  und  reichere  Entwicklung  hat. 

Einheitlich  ist  aber  auch  der  Geist,  der  sich  durch  alle  diese 
Arbeiten  hindurch  in  der  Auffassung  und  Verwerthung  des  Stoff"es 
offenbart.  Schon  in  den  ältesten  Darstellungen  der  Wirklichkeit 
herrscht  überall  die  poetische  Auffassung  des  Hellenenthums,  die 
über  die  Schilderung  des  Einzelnen  hinaus  das  Ganze  einer  höheren 
Idee  unterordnet;  und  wenn  nun  bald  der  Künstler  seinen  Stoff  dem 
in  der  Poesie  reich  entwickelten  und  vorgebildeten  Schatze  der  Sage 
entlehnt,  so  ist  es  hier  von  hoher  Bedeutung,  dass  selbst  in  einem 
Werke,  wie  es  der  geweihte  Thron  eines  Gottes  ist,  die  Religion, 
der  Cultus  doch  die  poetische  Freiheit  des  Künstlers  nicht  zu  beein- 
trächtigen vermögen.  Selbst  der  theologische  und  dogmatische  Gedanke 
muss  es  sich  gefallen  lassen,  in  eine  poetisch-künstlerische  Form  um- 
gegossen zu  werden,  und  wir  werden  uns  später  daran  zu  erinnern 
haben,  dass,  was  ein  Bathykles  wagen  durfte ,  auch  einem  Phidias  ge- 
stattet gewesen  sein  wird.  So  sehr  aber  die  bildende  Kunst  hinsichtlich 
des  Inhalts  ihrer  Darstellungen  von  der  Dichtkunst  abhängig  sein  mag, 
so  erscheint  sie  doch  keineswegs  als  deren  Dienerin,  sondern  indem 
sie  den  gebotenen  Stoff  mit  dem  künstlerisch  bildenden  Princip  durch- 


i84 


Viertes  Capitel.    Erstarkimg  des  hellenischen  Geistes. 


dringt,  gewinnt  sie  ein  neues  selbständiges  Leben  und  stellt  sich  der 
Poesie  als  ebenbürtige  Schwester  an  die  Seite. 

Solchen  Vorzügen  gegenüber  nimmt  allerdings  die  formale  Durch- 
bildung noch  eine  sehr  untergeordnete  Stellung  ein.  Denn  die  Frangois- 
vase  kann  trotz  ihres  streng  archaischen  Charakters  doch  für  die  Aus- 
führung der  älteren  Werke,  wie  des  Kypseloskastens  und  des  Throns, 
nicht  maassgebend  sein.  Vielmehr  werden  wir  uns  dieselbe  nach  Art 
der  kleinen  korinthischen  Gefässe  vorzustellen  haben,  welche  in  neuester 
Zeit  durch  die  Pinakes  eine  sehr  erwünschte  Ergänzung  erfahren  haben  ; 
und  noch  directere  Vergleichungen  für  unsere  Anschauungen  bieten  die 
olympischen  Bronzefragmente. 

Dazu  müssen  wir  uns  auch  nach  dieser  Seite  den  Gang  der 
Entwicklung  gegenwärtig  halten.  Es  ist  in  der  Natur  der  decorativen 
Kunst  begründet,  dass  sie  von  dem  gegebenen  Räume  ausgeht;  sie 
theilt,  sie  gliedert  und  schmückt  ihn  zuerst  durch  mathematisch-schema- 
tisirende  Linien,  dann  durch  Pflanzen  und  Thiergebilde.  Wenn  nun 
schon  diese  letzteren  von  dem  rein  ornamentalen  Schema  und  der 
blossen  Formel  zu  Leben  und  Bewegung  überleiten,  so  drängt  dazu 
noch  mehr  die  menschliche  Gestalt,  freilich  noch  nicht  an  und  für 
sich  selbst  betrachtet,  sondern  nur  erst  als  Mittel  zur  Schilderung 
menschlichen  Lebens  und  Treibens  überhaupt.  Von  den  Darstellungen 
allgemeiner  Art  schreitet  dann  die  Kunst  fort  zu  bestimmten  Hand- 
lungen, die  unter  bestimmten  Voraussetzungen  und  Verhältnissen  sich 
wirklich  und  nur  einmal  zugetragen  haben,  oder,  was  hier  dasselbe  ist, 
zugetragen  haben  können  oder  sollen.  Obwohl  hier  bestimmte  Per- 
sönlichkeiten die  Träger  der  Handlung  sind,  so  wird  doch  noch  keines- 
wegs eine  eingehende  Schilderung  ihrer  individuellen  Besonderheiten 
beabsichtigt.  Sie  mögen  äusserlich  durch  gewisse  Kennzeichen  und 
Merkmale  charakterisirt  werden,  etwa  wie  eine  bestimmte  Person  durch 
ihren  Namen;  aber  in  erter  Linie  sollen  sie  handeln,  und  der  Künstler 
hat  seine  nächste  Aufgabe  erfüllt,  sobald  er  den  besonderen  Antheil 
an  der  Handlung  klar  zur  Anschauung  zu  bringen  verstanden  hat. 
Um  es  kurz  zu  sagen:  wir  haben  es  im  Grund  noch  mit  einer  Bilder- 
schrift zu  thun,  in  welcher  der  Gedanke  durchaus  überwiegt  und 
die  Form  nur  das  Mittel  zum  Ausdrucke  des  Gedankens  ist,  so  dass 
sie  für  sich  selbst  nur  erst  einen  untergeordneten  Werth  beansprucht. 

Dass  die  decorative  Kunst  auf  dieser  Stufe  stehen  bleiben  kann, 
lehrt  z.  B.  Assyrien,  wo  die  hier  bezeichneten  Grenzen  in  manchen 
Beziehungen  nicht  einmal  erreicht,  nach  keiner  Richtung  aber  über- 


Schlusswort. 


185 


schritten  worden  sind.  In  Griechenland  zeigt  sich  nirgends  ein  solcher 
Stillstand;  aber  auch  hier  geht  der  weitere  Fortschritt  weniger  aus 
einer  selbständigen  inneren  Entwicklung  der  decorativen  Kunst  hervor, 
als  dass  er  durch  eine  auf  wesentlich  neuen  Grundlagen  erwachsende 
Richtung  bedingt  wird,  welche  die  decorative  Kunst  theils  in  ihrem 
inneren  Wesen  umgestaltet  und  in  sich  aufnimmt ,  theils  dieselbe 
aus  ihrer  bisherigen  bevorzugten  Geltung  in  die  zweite  vStelle  zurück- 
drängt.