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Full text of "Die grosse politik der europäischen kabinette, 1871-1914. Sammlung der diplomatischen akten des Auswärtigen amtes, im auftrage des Auswärtigen amtes"

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THE  LIBRARY 

OF 

THE  UNIVERSITY 

OF  CALIFORNIA 

RIVERSIDE 


Die 

Diplomatischen  Akten 

des  Auswärtigen  Amtes 

1871-1914 


Herausgegeben 
im  Auftrage  des  Auswärtigen  Amtes 


Die 

Grosse  Politik  der 
Europäischen  Kabinette 

1871-1914 

Sammlung  der  Diplomatischen 
Akten  des  Auswärtigen  Amtes 

Im  Auftrage  des  Auswärtigen  Amtes 
herausgegeben  von 

Johannes  Lepsius  *j* 

Albrecht  Mendelssohn  Bartholdy 

Friedrich  Thimme 


1 


DEUTSCHE  VERLAOSQESELLSCHAFT   FÜR  POLITIK 
UND  GESCHICHTE  M.B.H.  IN  BERLIN  W  8 


38.  Band 

V 

Neue  Gefahrenzonen 
im  Orient 
1913—1914 


i 


DEUTSCHE  VERLAGSGESELLSCHAFT   FÜR   POLITIK 
UND  GESCHICHTE  M.B.H.  IN  BERLIN  W  8 


^394 
3? 


1.  Auflage 

Alle  Rechte,  besonders  das  der  Obersetzung, 
vorbehalten  /  Für  Rußland  auf  Grund  der 
deutsch-russischen  Obereinkunft  /  Amerikanisches 
Copyright  1926  by  Deutsche  Verlagsgesell- 
schaft für  Politik  und  Geschichte  m.  b.  H.  in 
Berlin  W  8  I  Unter  den  Linden  17/18  / 
Gesetzt  und  gedruckt  in  der  Buchdruckerei 
F.   E.   Haag   in   Melle   i.  H. 


Inhaltsübersicht  des  achtunddreißigsten  Bandes 

KAPITEL  CCLXXXIX 
Die  Frage  der  Armenischen  Reformen.  Januar  191 3  bis  April  1914        1 

KAPITEL  CCXC 
Die  Liman  Sanders-Affäre.   Januar  1913  bis  Juni  1914 191 

KAPITEL  CCXCI 

Rußland,   die   Vereinigung  Serbiens   und  Montenegros   und   die 
Großserbische  Agitation.    Januar  bis  Juli  1914 319 

Ein    Namenverzeichnis    für    die    Bände    XXVI— XXXIX    erscheint    als 
Band  XL,  ein  ausführliches  Namen-  und  Sachverzeichnis  zum  Schlüsse 

des  gesamten  Werkes 


Kapitel  CCLXXXIX 

Die  Frage  der  Armenischen  Reformen 
Januar  1913  bis  April  1914 


1    Die  Groß«  Politik.    38.  Bd. 


Nr.  15  282 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  1  Pera,  den  2.  Januar  1913 

Aus  armenischen  Kreisen  erfahre  ich  zuverlässig  folgendes: 
Die  russische  Regierung  hat  vor  einiger  Zeit  den  armenischen 
Katholikos  in  Etschmjadsin  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  durch 
die  gegenwärtige  Weltlage  die  Gelegenheit  geboten  sei,  eine  Bewegung 
zur  Besserung  des  Loses  der  in  der  Türkei  lebenden  Armenier  herbeizu- 
führen, und  daß  es  sich  empfehlen  würde,  zu  dem  gedachten  Zwecke 
ein  Komitee  in  Paris  einzusetzen  *.  Hier  in  Konstantinopel  ist  der 
frühere  armenische  Patriarch  Ormanian  an  die  Spitze  der  Bewegung 


*  Die  Initiative  der  russischen  Regierung  in  der  armenischen  Frage,  die  sich 
keineswegs  auf  den  dem  armenischen  Katholikos  gegebenen  Wink  beschränkte, 
war  nach  dem  im  Jahre  1915  ausgegebenen  Orangebuch  über  die  armenischen 
Reformen  (Les  Reformes  en  Armenie.  26  Novembre  1912 — 10  Mai  1914) 
veranlaßt  durch  einen  Bericht  des  russischen  Botschafters  in  Konstantinopel 
von  Giers  an  den  russischen  Außenminister  vom  9.  Dezember  1912.  Dieser  Be- 
richt wies  auf  die  wachsende  Gärung  in  der  armenischen  Bevölkerung  hin,  welche 
immer  ungestümer  die  Durchführung  ernstlicher  Reformen  unter  russischer  Kon- 
trolle, oder  lieber  noch  die  russische  Okkupation  verlange.  Der  Bericht  schloß 
mit  den  Worten:  „Vu  l'etat  d'anarchie  oü  se  trouve  la  Turquie,  il  faut  compter 
avec  l'eventualite  que  les  reformes  n'apporteront  pas  l'apaisement  attendu  et  se 
preparer  ä  la  necessite  de  l'entree  de  nos  troupes  dans  ces  regions."  Am 
13.  Dezember  erteilte  Sasonow  darauf  dem  Botschafter  Giers  den  Auftrag,  bei 
der  Pforte  unter  Hinweis  auf  die  sonst  drohende  Zuspitzung  der  russisch-tür- 
kischen Beziehungen  und  auf  die  Möglichkeit  einer  europäischen  Intervention 
wegen  der  armenischen  Reformen  vorstellig  zu  werden.  Kurz  darauf  leitete 
er  einen  Meinungsaustausch  mit  den  Kabinetten  von  Paris  und  London,  unter 
geflissentlicher  Umgehung  des  Berliner  Kabinetts,  über  die  armenische  Frage 
ein,  der  dahin  gerichtet  war,  der  russischen  Regierung  mit  Hilfe  ihrer  Entente- 
genossen den  vorwiegenden  Einfluß  bei  einer  Lösung  der  armenischen  Frage 
zu  sichern.  Vgl.  dazu  Andre  Mandelstam,  Le  Sort  de  l'Empire  Ottoman,  Paris 
1917,  p.  206  ss.  und  Djemal  Pascha,  Erinnerungen  eines  türkischen  Staats- 
mannes, S.  337  ff.  Bei  Mandelstam,  der  im  Jahre  1913  erster  Dragoman  bei 
der  russischen  Botschaft  in  Konstantinopel  war  und  einen  lebhaften  Anteil 
an  den  Reformprojekten  nahm  (vgl.  Nr.  15  338  ff.),  eine  eingehende  Analyse 
der  in  dem  Orangebuch  über  die  armenische  Frage  enthaltenen  Schriftstücke,  die 
größtenteils  nur  in   russischer  Sprache  veröffentlicht   sind. 


getreten.  Dieser  hat  sich  zunächst  an  einige  hiesige  Botschafter  und 
auch  an  verschiedene  Vertreter  der  Großmächte  in  fremden  Haupt- 
städten, so  zum  Beispiel  an  den  französischen  Botschafter  in  London, 
Herrn  Cambon,  und  an  Marquis  Imperiali,  mit  der  Bitte  um  Unterstüt- 
zung seiner  Pläne  gewandt. 

Französischerseits  ist  ihm  ausweichend,  italienischerseits  gar  nicht 
geantwortet  worden.  Dagegen  hat  er  von  dem  hiesigen  englischen 
Botschafter  durch  Herrn  Fitzmaurice*  den  Bescheid  erhalten,  daß  das 
armenische  Vorgehen  durchaus  zeitgemäß  sei,  Und  daß  England  sich 
voraussichtlich  allen  Schritten,  die  Rußland  etwa  in  der  Sache  unter- 
nähme, anschließen  würde. 

Wangenheim 

Nr.  15  283 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  den  Botschafter  In  Konstantinopel 
Freiherrn  von  Wangenhelm 

Konzept 

Nr.  34  Berlin,  den  10.  Januar  1913 

[abgegangen  am  11.  Januar] 

Auf  den  Bericht  vom  2.  d.  Mts.  Nr.  1  •*. 

Zu   Ew.  pp.   gefälliger   Information   und   Regelung   Ihrer  Sprache. 

Als  Mitunterzeichner  des  Berliner  Vertrages  (Artikel  61)  und 
in  Anbetracht  unserer  bedeutenden  Interessen  in  der  asiatischen  Türkei 
beabsichtigen  wir  nicht,  der  Tripelentente  allein  die  Sorge  für  das 
Schicksal  der  Armenier  zu  überlassen.  Vielmehr  werden  wir  und  ver- 
mutlich auch  unsere  Verbündeten  Wert  darauf  legen,  zu  etwaigen  Ver- 
handlungen und  Beschlüssen  der  Mächte  über  armenische  Verhält- 
nisse hinzugezogen  zu  werden. 

Z  im  m  erra ann 

Nr.  15  284 

Der  Botschafter  In  Petersburg  Graf  von  Pourtales 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.   25  St.   Petersburg,   den   23.   Januar  1913 

Bei  meinen  letzten  Unterredungen  mit  Herrn  Sasonow  fiel  mir 
auf,   daß    der   Minister  bei    Besprechung   der   für  den   Fall   der   Fort- 


*  Chefdragoman  bei  der  englischen   Botschaft  in    Konstantinopel. 
*•  Siehe   Nr.    15  282. 


dauer  des  Balkankrieges  drohenden  Gefahren  wiederholt  auf  Armenien 
zu  sprechen  kam l  und  die  Befürchtung  äußerte,  daß  es  dort  zu  Christen- 
metzeleien kommen  könnte2.  „Unruhen  in  der  unmittelbaren  Nähe 
unserer  Grenzen",  bemerkte  der  Minister,  „können  uns  aber  nicht 
gleichgültig  lassen,  und  wir  würden  eintretendenfalls  nicht  umhin 
können    einzuschreiten." 

Wie  ich  von  vertrauenswürdiger  Seite  höre,  stehen  in  dieser  Frage 
in  hiesigen  maßgebenden  Kreisen  zwei  Strömungen  einander  gegen- 
über. Während  die  einen  ein  Vorgehen  in  Armenien  befürworten, 
damit  Rußland  bei  der  jetzigen  Neuregelung  der  Verhältnisse  im  nahen 
Orient  nicht  ganz  leer  ausgeht3,  "wird  eine  solche  Politik  von  anderer 
Seite  bekämpft. 

Vielfach  wird  behauptet,  daß  das  Ministerium  des  Äußern  den 
ersteren  Standpunkt  vertritt4.  Bei  der  maßvollen  Zurückhaltung,  die 
Herr  Sasonow  bisher  während  der  Balkankrisis  beobachtet  hat,  vermag 
ich  daran  noch  nicht  recht  zu  glauben.  Immerhin  ist  nicht  zu  bestreiten, 
daß  mehrere  Zeitungen,  deren  Beziehungen  zu  der  Sängerbrücke  be- 
kannt sind,  offenkundig  bestrebt  sind,  das  Interesse  für  Armenien  zu 
erwecken  und  auf  die  eventuelle  Notwendigkeit  eines  russischen  Ein- 
schreitens zum  Schutze  der  dortigen  Christen  hinzuweisen5. 

Zu  den  Gegnern  einer  aktiven  russischen  Politik  in  Armenien 
scheint  nach  meinen  Informationen  der  Generalgouverneur  des  Kau- 
kasus zu  gehören.  Graf  Woronzow-Daschkow  hat,  wie  ein  gut  unter- 
richteter hiesiger  Diplomat  in  Erfahrung  gebracht  haben  will,  als  er 
um  seine  Ansicht  befragt  wurde,  auf  die  Gefahren  hingewiesen,  welche 
eine  Aktion  Rußlands  in  Armenien  für  das  Kaukasusgebiet  im  Gefolge 
haben  könnte.  Der  Statthalter  hat  dabei  folgenden  Standpunkt  ver- 
treten: 

Eine  solche  Aktion  würde  naturgemäß  zunächst  die  Gewährung 
von  Reformen  und  von  Autonomie  zum  Ziele  haben  müssen.  Sobald 
aber  die  zahlreichen  im  Kaukasus  lebenden  Armenier  von  den  für  ihre 
Konnationalen  auf  türkischem  Gebiet  gewährten  'Vorrechten  hören 
würden,  sei  zu  erwarten,  daß  sie  für  sich  die  gleichen  Rechte  bean- 
spruchen,  und  daß   dann   im   Kaukasus   Unruhen   ausbrechen  würden. 

Herr  Sasonow  hat  gestern  dem  österreichisch-ungarischen  Bot- 
schaftsrat* gesagt,  er  habe,  um  zu  verhindern,  daß  es  in  Armenien 
zu  Ruhestörungen  kommt,  dem  hiesigen  türkischen  Botschafter  drin- 
gend geraten,  seiner  Regierung  die  'Einführung  von  Reformen  in 
Armenien  zu  empfehlen 6.  Turkhan  Pascha  hat  mir  von  diesem  rus- 
sischen Rat  nichts  mitgeteilt,  sich  aber  bezüglich  der  russischen  Ab- 
sichten in  Armenien  mir  gegenüber  äußerst  mißtrauisch  gezeigt7. 
Während  der  Botschafter  noch  vor  einigen  Wochen  die  maßvolle  und 
loyale  Haltung  der  russischen  Politik  voll  anerkannte,  sprach  er  mir 


*  Graf  Czernin. 


gestern  von  einer  entschieden  veränderten  Haltung  des  Ministers  ihm 
gegenüber8,  die  ihn  mit  großem  Mißtrauen  erfülle.  Er  könne  die  Be- 
fürchtung nicht  loswerden,  daß  Rußland  sich  mit  irgendwelchen  Plänen 
trägt,  mit  denen  es  noch  nicht  heraustreten  wolle 9.  Turkhan  Pascha 
erklärte  auf  das  entschiedenste,  daß  die  Behauptung,  die  Lage  der 
Christen  in  Armenien  sei  eine  gefährliche,  völlig  haltlos  sei;  dagegen 
bestehe  nicht  der  geringste  Zweifel,  daß  die  Russen  es  vollkommen 
in  der  Hand  hätten,  wenn  es  ihnen  passe,  vom  Kaukasus  aus  in 
Armenien  Unruhen  anzuzetteln  10. 

Auffällig  war  mir,  daß  der  sonst  ausgesprochen  russophile  italie- 
nische Geschäftsträger*,  der  bis  jetzt  das  größte  Vertrauen  in  die 
Uneigennützigkeit  der  russischen  Politik  zeigte11,  mir  ebenfalls  Besorg- 
nisse wegen  der  russischen  Absichten  in  Kleinasien  äußerte.  Auf 
meine  Bemerkung,  daß  Rußland  immerhin  bei  etwaigen  Expansions- 
bestrebungen in  Kleinasien  auf  England  würde  Rücksicht  nehmen 
müssen12,  erwiderte  Marquis  Torretia:  „Warum  sollten  sich  die  Mächte 
der  Tripelentente  nicht  über  diese  Frage  geeinigt  haben13?"  Der  Ge- 
schäftsträger wies  dabei  auf  das  bemerkenswerte  Interesse  hin,  das 
Frankreich  neuerdings  für  Syrien  zeige14**,  und  hielt  es  als  nicht  aus- 
geschlossen, daß  England  sein  Auge  'auf  die  arabische  Küste  des  Roten 
Meeres  geworfen  habe15. 

Bestimmte  Anhaltspunkte  für  solche  Abmachungen  der  Mitglieder 
der  Tripelentente  unter  sich  versicherte  Marquis  Torretta  allerdings 
nicht  zu  besitzen,  und  auch  ich  vermag  keine  Tatsachen  anzuführen. 


*  Tommasi  della  Torretta. 

**  Auch  der  italienische  Botschafter  in  London  Marquis  Imperiali  brachte  um 
die  Mitte  Januar  gegenüber  Sir  E.  Grey  zur  Sprache,  daß  Frankreich  Absichten 
auf  Syrien  habe.  Der  italienische  Argwohn,  der  in  England  geteilt  (vgl. 
dazu  Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXVIII),  französischerseits  aber  für  unbegründet 
erklärt  wurde,  begreift  sich  aus  der  in  Rom  gehegten  Besorgnis  um  die  Auf- 
rechterhaltung des  Oleichgewichts  im  Ägäischen  Meer.  Vgl.  das  Geheimtelegramm 
des  russischen  Geschäftsträgers  in  Paris  Sewastopulo  Nr.  14  vom  16.  Januar  1913, 
Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911 — 1914,  ed.  Fr.  Sieve,  III,  31.  Um 
die  gleiche  Zeit  beargwöhnte  die  italienische  Politik  den  österreichischen  Bundes- 
genossen, aus  egoistischen  Motiven  die  kleinasiatische  Frage  auf  der  Londoner 
Konferenz  aufrollen  zu  wollen.  Graf  Berchtold  stellte  eine  solche  Absicht  ent- 
schieden in  Abrede;  er  befürwortete  lediglich,  daß  die  Dreibundmächte  sich, 
wenn  die  kleinasiatische  Frage  von  anderer  Seite  angeschnitten  werden  sollte, 
daran  nicht  desinteressieren,  d.  h.  nicht  zulassen  sollten,  daß  die  asiatische 
Frage  einseitig  von  anderen  Mächten  in  Angriff  genommen  würde.  Deutscher- 
seits sprach  man  sich  nachdrücklich  dagegen  aus,  daß  die  asiatische  Frage  vor 
die  Botschaf terreunion  gebracht  werde:  „Stellen  wir  die  asiatische  Frage  erst 
zur  Diskussion  und  geben  wir  scheinbar  damit  zu,  daß  es  sich  um  ein  akutes 
Problem  handelt,  so  ermuntern  wir  Rußland  und  Frankreich,  mit  verborgenen 
Wünschen  hervorzutreten,  regen  die  Ententemächte  zu  einer  entsprechenden 
vertraulichen  Verständigung  untereinander  förmlich  an  und  laufen  daher  Gefahr, 
das  Gegenteil  des  beabsichtigten  Effekts  zu  erreichen."  Siehe  Bd.  XXXIV, 
Kap.   CCLXVIII,    Nr.    12  701,    12  706,    12  714. 


die  auf  Abmachungen  dieser  oder  ähnlicher  Art  schließen  ließen;  ich 
habe  aber  doch  geglaubt,  das  Mißtrauen,  welches  sich  in  hiesigen  diplo- 
matischen Kreisen  gegen  die  russischen  Pläne  zu  regen  beginnt16,  in 
meiner  Berichterstattung  nicht  unerwähnt  lassen  zu  dürfen. 

F.  Pourtales 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Das  ist  doch  schon   eine  alte  Geschichte! 

2  d[as]  h[eißt]  sie  werden  von  Rußland  organisirt,  um  Grund  zum  Eingreifen 
und  damit  zur  Annexion  zu  haben!  Dazu  sollte  die  Flottendemonstration 
dienen! 

3  i 

4  das  kann  er  gar  nicht  anders! 

5  mit  Speck  fängt  man  Mäuse! 

6  wie  in  Mazedonien?  also  gerade  das  was  Woronzow  befürchtet! 
'  mit  Recht 

8  natürlich!   Weil  es  in  Stambul  so  bunt  aussieht 

9  seit  Wochen  für  alle  nichtdiplomaten  mit  Händen  zu  greifen 

10  richtig  werden  sie  auch! 

11  CameelU 

12  umgekehrt  ist  es  der  Fall  brauchen  sie  nicht!  London  thut  was  Benken- 
dorf f  will! 

13  richtig! 

14  Schlag  gegen  die  Bagdadbahn! 
16  richtig 

16  kommt  reichlich  spät!  Ich  habe  es  schon  lange!  Aber  mir  glaubt  man  niemals! 
Endlich  kommt  Petersb[ur]g  in  die  Position  des  Störenfrieds  der  All- 
gemeines Mißtrauen  erweckt! 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
sehr  richtig 

Nr.  15  285 

Der  Botschafter  in  Paris  Freiherr  von  Schoen  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Mollweg 

Ausfertigung 
Nr.  42  Paris,  den  6.  Februar  1913 

Aus  einer  in  der  Regel  gut  unterrichteten  und  vertrauenswürdigen 
Quelle  höre  ich,  daß  die  englische  Regierung  kürzlich,  als  von  rus- 
sischen Absichten  des  Einschreitens  in  Armenien  verlautete*,  hier 
nahegelegt  habe,  abmahnend  auf  den  russischen  Verbündeten  mit  dem 
Hinweise  darauf  einzuwirken,  daß  England  durch  den  Zypernvertrag 
vom  4.  Juni  1878  verpflichtet  ist,  etwaiger  russischer  Besitzergreifung 
türkischer  Landesteile  in  Asien  mit  bewaffneter  Hand  entgegenzu- 
treten. Aus  dieser  englischen  Warnung  erkläre  sich  die  hiesige  Be- 
tonung einer  Politik  strengster  Neutralität  gegenüber  der  durch  das 
Wiederaufkommen  der  Jungtürken  geschaffenen  Lage. 


•  Vgl.  darüber  Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXVIII. 


Der  Zypernvertrag  enthält  allerdings  die  Bestimmung,  „que  si 
aucune  tentative  serait  faite  ä  une  epoque  quelconque  par  la  Russie 
de  s'emparer  d'aucune  autre  portion  des  territoires  de  Sa  Majeste  Impe- 
riale le  Sultan  en  Asie,  fixes  par  le  traite  definitif  de  paix,  l'Angleterre 
s'engage  ä  s'unir  ä  Sa  Majeste  Imperiale  le  Sultan  pour  la  defense  des 
territoires  en  question  par  force  d'armes".  Damit  ist  zweifellos  eine  eng- 
lische Garantie  des  türkischen  Besitzstandes  in  Asien  gegenüber  russi- 
schen Eroberungsgelüsten  ausgesprochen.  Es  dürfte  aber  namentlich  mit 
Rücksicht  auf  das  heutige  Verhältnis  zwischen  England  und  Rußland 
fraglich  erscheinen,  ob  England  ein  russisches  Vorgehen  bezüglich  Ar- 
meniens, das  sich  unterhalb  der  Linie  einer  Besitzergreifung  halten 
würde,  als  dem  Geiste  jenes  Vertrages  widersprechend  ansehen  würde. 


v.  Schoen 


Nr.  15  286 


Der  Botschafter  in  Paris  Freiherr  von  Schoen  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  48  Paris,  den  8.  Februar  1913 

Boghos  Pascha  Nubar,  ein  Sohn  des  bekannten  ägyptischen  Staats- 
mannes Nubar  Pascha*,  hat  mich  aufgesucht  und  sich  mir  als  der 
Mann  vorgestellt,  der  von  dem  armenischen  Katholikos  und  dem  frühe- 
ren Patriarchen  Ormanian  beauftragt  sei,  bei  den  Großmächten  zu- 
gunsten schleuniger  Verwirklichung  der  Reformen  für  Armenien  zu 
wirken. 

Boghos  Pascha  führte  mir  aus,  seine  armenischen  Auftraggeber 
und  Landsleute  seien  sich  vollkommen  klar  darüber,  daß  das  zu  er- 
strebende Ziel  nicht  etwa  Lostrennung  von  der  Türkei,  auch  nicht 
Autonomie  sein  dürfe,  sondern  lediglich  Verbesserung  der  Lebens- 
bedingungen für  das  armenische  Volk.  Die  jetzige  Lage  der  Armenier, 
die  unter  türkischer  Willkürherrschaft  und  Halbbarbarei  litten,  sei 
unerträglich  und  bringe  unausgesetzt  die  Gefahr  von  Unruhen  und 
Massakers  mit  sich,  die  nur  zu  leicht  den  Russen  einen  Vorwand  zum 
Eingreifen  bieten  würden.  Die  führenden  Geister  der  Armenier  wollten 
aber  von  russischer  Bevormundung  oder  Herrschaft  nichts  wissen,  sie 
wünschten  unter  türkischer  Herrschaft  zu  bleiben,  aber  der  Fürsorge 
der  Großmächte  teilhaftig  zu  werden,  die  allein  ihnen  Sicherheit  von 
Gut  und  Blut  und  Wohlfahrt  verbürgen  könnten.  Die  im  Berliner 
Vertrag  feierlich  zugesagten  und  seitdem  auch  in  Angriff  genommenen, 
aber  nie  zur  Ausführung  gelangten  Reformen  müßten  nun  endlich  zur 


*  Der  langjährige   und  wiederholte  Vorsitzende  des   ägyptischen   Ministeriums; 
er  entstammte  einer  armenischen   Familie. 


Verwirklichung  kommen.  Der  Augenblick  scheine  um  so  günstiger,  als 
die  Großmächte  offenbar  in  dem  Grundsatze  der  Aufrechterhaltung  des 
Status  quo  der  asiatischen  Türkei  einig  seien,  die  Reformen  aber  eine 
wesentliche  Stütze  des  Status  quo  sein  würden. 

Die  Pforte  sei  endlich  von  der  Nützlichkeit  armenischer  Reformen 
überzeugt,  schon  deshalb,  weil  sie  den  Vorwand  zu  Interventionen  be- 
seitigen und  den  Status  quo  stützen  würden.  Allerdings  sträube  sich 
die  Pforte  gegen  europäische  Kontrolle,  werde  aber  wohl  auch  hierin, 
durch  die  bitteren  Erfahrungen  in  der  europäischen  Türkei  belehrt, 
nachgeben. 

Was  die  Stellung  der  Mächte  betreffe,  so  seien  in  Rußland  wohl 
Neigungen  zur  Annexion  Armeniens  aufgetaucht,  die  russische  Regierung 
wisse  aber  zu  genau,  daß  dem  die  Verpflichtung,  die  sie  im  Artikel  61  des 
Berliner  Vertrages  mitunterschrieben,  sowie  der  englisch-türkische  Zy- 
pernvertrag entgegenstehe.  Sie  sei  daher  der  armenischen  Reform- 
bewegung im  Prinzip  günstig  gestimmt,  habe  aber  dem  Katholikos 
bedeutet,  daß  sie  den  gegenwärtigen  Augenblick  für  ihre  Unterstützung 
nicht  für  geeignet  halte.  Hinter  dieser  Zurückhaltung  verberge  sich 
offenbar  die  Annahme,  daß  einzelne  Mächte,  vor  allen  Deutschland, 
ihre  Mitwirkung  versagen  würden.  Den  gleichen  zurückhaltenden 
Standpunkt  nehme  auch  die  französische  Regierung  ein.  Über  die 
Stellungnahme  des  englischen  Kabinetts  sei  er  nicht  unterrichtet,  nehme 
aber  an,  daß  sie  eine  ähnliche  wie  die  der  anderen,  Ententemächte  sein 
werde. 

Boghos  Pascha  meint  nun,  daß  die  Reformbewegung  nur  in 
Fluß  kommen  könne,  wenn  sich  Deutschland  an  ihr  tätig  beteilige. 
Deutschland  habe  an  den  Reformen  in  Großarmenien,  das  heißt  in  den 
sechs  armenischen  Wilajets,  allerdings  kein  direktes  Interesse,  wohl 
aber  daran,  daß  die  Reformen  auch  in  dem  stark  von  armenischejn 
Elementen  durchsetzten  Cilicien  eingeführt  würden,  und  zwar  hier 
unter  deutscher  Kontrolle.  Deutschland,  das  dort  durch  die  Bagdad- 
bahn und  industrielle  Unternehmungen  schon  bedeutende  Interessen 
besitze,  würde  sich  auf  diese  Weise  in  jenen  zukunftsreichen  Ge- 
genden einen  erheblichen  wirtschaftlichen  und  moralischen  Einfluß 
sichern  und  mit  seiner  Kulturkraft  unendlich  viel  für  Entwickelung 
von  Land  und  Leuten  tun  können. 

Boghos  Pascha  hat  mir  zur  Erläuterung  seiner  Ausführungen  die 
beiliegende  „note  sur  Particle  61  du  Traite  de  Berlin"  und  ein 
Exemplar  des  nach  seiner  Aussage  von  der  Kaiserlichen  Regierung 
seinerzeit  gutgeheißenen  Memorandum  vom  11.  Mai  1895  über  ein 
Reformprogramm  übergeben,  ferner  noch  eine  Karte,  auf  welcher  das 
eigentliche  Armenien  und  das  armenische  Cilicien  kenntlich  ge- 
macht ist*. 


Die  Anlagen  gelangen  hier  nicht  zum   Abdruck. 


Ich  habe  Boghos  Pascha  gesagt,  ich  könne  nur  mit  Befriedigung 
davon  Akt  nehmen,  daß  er  von  dem  Gedanken  ausgehe,  daß  die 
armenische  Frage  nicht  etwa  von  einer  Mächtegruppe  gelöst  werden 
könne,  sondern  nur  von  allen  Kongreßmächten  gemeinsam.  Im  übri- 
gen könne  ich  der  Stellungnahme  meiner  Regierung  nicht  vorgreifen 
und  beschränke  mich  auf  die  rein  persönliche  Meinungsäußerung,  daß 
die  Kabinette  zurzeit  bereits  so  überreichlich  mit  schwierigen  Fragen 
belastet  seien,  daß  es  sich  schon  aus  diesem  Grunde  empfehle,  die 
armenische  Reformfrage  nicht  zu  überstürzen.  Dabei  sei  auch  zu  be- 
denken, daß  eine  Reformaktion,  so  sehr  sie  auch  durch  die  tat- 
sächlichen Mißstände  gerechtfertigt  sein  würde,  wie  die  Erfahrungen 
bezüglich  Mazedoniens  lehrten,  eine  zweischneidige  Sache  sei,  die 
auf  der  einen  Seite  Gutes  scharfen  wolle,  auf  der  anderen  aber 
Schlimmes  wirke.  Reformen  im  Einvernehmen  mit  der  Pforte  hielte 
ich  für  nützlich,  Reformen  gegen  tlen  Willen  der  türkischen  Regierung 
für  schädlich. 

Boghos  Pascha  ist  jederzeit  bereit,  Euerer  Exzellenz  seine  Auf- 
wartung zu  machen,  wenn  dies  genehm  sein  würde1. 

v.  Schoen 

Randbemerkung  Zimmermanns: 

1   Der  Standpunkt  des  Botschafters  erscheint  mir  zutreffend.    Auf  den  Besuch 
von  Boghos  Pascha  werden  wir  gern  verzichten*.  Z.  1 1./2. 


Nr.  15  287 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  58  Pera,  den  24.  Februar  1913 

Kaum  ist  die  Nationalitätenfrage  auf  dem  Balkan  zum  Nachteil  der 
Türkei  entschieden  worden,  da  erwächst  dem  asiatischen  Besitzstand  des 
Reiches  eine  neue  und  kaum  weniger  schwere  Gefahr  durch  das  Akut- 


•  In  diesem  Sinne  wurde  Freiherr  von  Schoen  durch  Erlaß  Nr.  215  vom 
14.  Februar  verständigt.  Auch  von  russischer  Seite  erhielt  Boghos  Nubar  Pascha 
um  die  gleiche  Zeit  einen  Wink,  zunächst  noch  zu  warten  und  von  einer  Reise 
nach  London,  um  dort  vor  der  Botschafterkonferenz  die  Frage  der  armenischen 
Reformen  zur  Sprache  zu  bringen,  Abstand  zu  nehmen.  Um  die  Mitte  März 
wandte  sich  Boghos  Nubar  von  neuem  an  Iswolsky  mit  der  Anfrage,  ob  der 
günstige  Moment  nicht  gekommen  sei,  um  die  Mächte  an  die  Not  des  armenischen 
Volkes  zu  erinnern.  Nach  einem  Brief  Iswolskys  an  Sasonow  vom  13.  März  (Der 
Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  91  f.) 
erklärte  ihm  der  armenische  Sachwalter,  daß  die  Armenier  ihre  ganze  Hoff- 
nung auf  die  mächtige  Hilfe  Rußlands  setzten  und  die  feste  Absicht  hätten, 
in  allem  den  Anweisungen  der  russischen   Regierung  zu  folgen. 

10 


werden  der  armenischen  Frage.  Die  Armenier  können  sich  zwar  in 
ihren  Sonderbestrebungen  nicht  wie  Südslawen  und  Griechen  auf  die 
Hilfe  eines  unabhängigen  Staates  eigener  Nationalität  stützen;  aber 
sie  haben  an  dem  benachbarten  Rußland  einen  ebenso  rührigen  und 
zielbewußten  Bundesgenossen  gefunden  wie  jene. 

Die  Motive,  welche  zum  Zusammenschluß  zweier  so  heterogener 
Elemente  führten,  liegen,  soweit  Rußland  in  Frage  kommt,  natürlich 
klar  zu  Tage.  Die  über  ganz  Kleinasien  und  Nordpersien  verbreiteten 
Armenier,  welche  aus  religiösen  und  ethnographischen  Gründen  in 
einem  natürlichen  Gegensatz  zu  ihren  mohammedanischen  Herren 
stehen,  sind  das  gegebene  Element  zum  Aufbau  einer  engmaschigen 
politischen  Propaganda  in  Vorderasien.  In  dem  Augenblick,  wo  die 
Liquidation  der  asiatischen  Türkei  in  greifbare  Nähe  rückte,  mußte 
es  von  großem  Werte  sein,  über  ein  solches  Agitationsinstrument  ver- 
fügen zu  können.  Darum  brach  man  neuerdings  mit  dem  seit  1878 
betriebenen  Russifizierungssystem  und  begann  das  gestern  noch  unter- 
drückte armenische  Volk  zu  verhätscheln. 

An  Organen  zur  Anknüpfung  von  Beziehungen  fehlte  es  den 
Russen  nicht.  Schon  durch  den  Umstand,  daß  das  Haupt  der  ortho- 
doxen (schismatischen)  armenischen  Kirche  seinen  Sitz  in  Etschmjadsin 
auf  russischem  Gebiet  hat,  sind  manche  Fäden  hinüber  und  herüber 
geknüpft.  Rußland  unterhält  aber  ferner  in  Anatolien  und  Nordwest- 
persien nicht  weniger  als  15  Konsulate  und  Konsularagenturen.  Das 
bedeutet  ebenso  viele  russische  Propagandaherde,  von  denen  aus  den 
Armeniern  durch  Geld  und  gute  Worte  die  Idee  suggeriert  werden 
soll,  daß  ihre  Stammesgenossen  unter  dem  Szepter  des  Zaren  alle 
Wohltaten  eines  geordneten  Rechtsstaates  genössen,  und  daß  daher 
die  Aufnahme  der  ganzen  armenischen  Nation  in  den  russischen  Unter- 
tanenverband ein  erstrebenswertes  Ziel  sei.  Nach  den  Angaben  von 
ziemlich  glaubwürdiger  armenischer  Seite  hat  Rußland  im  letzten  Jahre 
nicht  weniger  als  zweieinhalb  Millionen  Rubel  für  Propagandazwecke 
allein  in  Ostanatolien  verausgabt.  Die  gesamte  armenische  Bevölke- 
rung soll  dort  mit  modernen  Waffen  versehen  und  jederzeit  bereit 
sein,  auf  einen  Wink  Rußlands  gegen  die  Türken  loszuschlagen.  Wenn 
man  sich  vergegenwärtigt,  welche  Schwierigkeiten  der  türkischen  Re- 
gierung die  Niederwerfung  der  im  Jahre  1904  aus  Rußland  herüber- 
gekommenen armenischen  Banden  machte,  so  kann  man  ermessen, 
welche  Gefahr  dem  Besitzstande  des  Reiches  hier  droht. 

Die  Armenier  wissen  zwar  ganz  genau,  welchen  Motiven  die  ihnen 
von  Rußland  gezeigten  Aufmerksamkeiten  entspringen.  Was  sie  unter 
russischer  Herrschaft  erwartet,  haben  sie  im  Jahre  1903  gesehen,  als 
die  armenischen  Kirchengüter  eingezogen  und  durch  die  planmäßige 
Russifizierungsarbeit  Pobjedonoszews  die  armenische  Revolutionspartei 
ins  Leben  gerufen  wurde.  Der  Armenier  will  ebensowenig  Russe 
werden,    wie     er    sich     jahrhundertelang    gewehrt     hat,      Byzantiner, 

11 


Araber,  Perser  oder  Türke  zu  werden.  Wenn  er  trotz  der  früheren 
schlechten  Erfahrung  dem  russischen  Lockruf  gefolgt  ist,  so  geschah 
das  lediglich  deshalb,  weil  die  russische  Regierung  bisher  die  einzige  ist, 
welche  für  ihn  mehr  übrig  gehabt  hat  als  rein  platonische  Ratschläge 
und  Versprechungen.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  der 
Armenier  auf  türkischem  Boden  gegen  Willkür  und  Unterdrückung 
nicht  genügend  geschützt  ist.  Wer  ihm  diesen  Schutz  in  Aussicht 
stellt,  der  ist  heute  sein  Mann,  ganz  gleich,  welche  Nebenabsichten  er 
außerdem  verfolgt.  (Ein  Armenier  verglich  mir  gegenüber  die  heutige 
Lage  seines  Volkes  mit  der  eines  Ertrinkenden.  Dieser  ergriffe  un- 
willkürlich die  Hand  eines  jeden,  der  ihm  zu  Hilfe  komme,  selbst 
wenn  der  Retter  ihm  nur  in  der  Absicht  beispringe,  ihn  nachher  ge- 
fangen zu  nehmen.) 

Bei  uns  in  Deutschland  hat  man  sich  daran  gewöhnt,  in  den 
periodisch  wiederkehrenden  Armeniermassakers  nur  die  natürliche  Re- 
aktion auf  das  Aussaugesystem  der  armenischen  Geschäftsleute  zu 
sehen.  Man  nannte  die  Armenier  die  Juden  des  Orients  und  vergaß 
darüber,  daß  es  in  Anatolien  auch  einen  starken  armenischen  Bauern- 
stamm gibt,  der  alle  guten  Eigenschaften  einer  gesunden  Landbevölkerung 
besitzt,  und  dessen  ganzes  Unrecht  darin  besteht,  daß  er  seine  Religion, 
seine  Sprache  und  seinen  Besitz  zähe  gegen  die  ihn  umgebenden 
Fremdvölker  verteidigt. 

Der  Mangel  an  organisatorischem  Talent,  die  Unfähigkeit  zu  einer 
wirklich  durchgreifenden  Reformarbeit  im  modernen  Sinne  ist  bei  den 
Türken  in  den  letzten  Monaten  so  klar  zu  Tage  getreten,  daß  das  Ver- 
hältnis zwischen  Türken  und  Armeniern  dadurch  beeinflußt  werden 
muß.  Die  Schaffung  eines  großen  selbständigen  Armenien  bleibt  natür- 
lich auch  unter  den  heutigen  Verhältnissen  eine  Utopie.  Das  arme- 
nische Element  verfügt  fast  nirgends  über  einheitlich  geschlossene 
Sprachgebiete,  sondern  lebt  der  Mehrzahl  nach  zerstreut  unter  fremden 
Volksstämmen.  Es  würde  also  völlig  unmöglich  sein,  auf  ethno- 
graphischer oder  historischer  Basis  die  Grenzen  für  ein  autonomes 
Armenien  zu  bestimmen.  Sogar  die  Einrichtung  einer  lokalen  Selbst- 
verwaltung in  Gebieten,  wo  das  armenische  Element  überwiegt,  würde 
heute  auf  Schwierigkeiten  stoßen.  Besonnene  Armenier  geben  frei- 
mütig zu,  daß  es  unter  ihren  Volksgenossen  an  einem  Stamm  ver- 
waltungstechnisch geschulter  Personen  völlig  mangelt,  daß  also  die 
Gewährung  der  Selbstverwaltung  an  die  Armenier  nur  zu  einem  un- 
erwünschten Fiasko  führen  kann.  Andererseits  ist  es  aber  undenkbar, 
daß  die  Türken  in  ihrem  buntscheckigen  Reich  fortfahren  können, 
die  Rolle  der  kraft  Erobererrecht  allein  herrschenden  Nation  zu  spielen. 
Wie  immer  sich  auch  das  Schicksal  der  Türkei  nach  dem  Friedens- 
schluß gestalten  mag,  so  viel  ist  sicher,  daß  das  numerisch  starke  und 
wirtschaftlich  tüchtige  armenische  Element  sich  mehr  und  mehr  eman- 
zipieren   wird.     Jeder,    der    wirtschaftliche    «oder    politische    Ziele    in 

12 


Anatolien  verfolgt,  wird  nicht  umhin  können,  mit  dieser  Tatsache  zu 
rechnen. 

Solche  Erwägungen  müssen  uns  dazu  führen,  unsere  bisher  den 
Armeniern  gegenüber  eingenommene  Haltung  zu  ändern.  Die  radi- 
kalen Elemente,  welche  utopische  Ziele  verfolgen  und  mit  nihilistischen 
Mitteln  arbeiten,  werden  wir  selbstverständlich  nach  wie  vor  von  uns 
fernhalten  müssen.  Unser  Ziel  muß  es  vielmehr  sein,  das  Vertrauen 
der  armenischen  Bauern  und  Kaufleute  zu  gewinnen,  indem  wir  die 
erreichbaren  Wünsche  der  ruhig  denkenden  armenischen  Kreise  — 
und  dazu  rechnet  noch  immer  die  große  Mehrzahl  des  Volkes  — 
fördern.   Diese  Wünsche  kann  man  \n  zwei  Punkten  zusammenfassen: 

1)  Wirksame  Garantien  für  die  Sicherheit  von  Leben,  Eigentum 
und  Religion. 

2)  Anteil  an  der  lokalen  Verwaltung  entsprechend  der  Kopfzahl 
und  dem  Bildungsgrade  des  armenischen  Elements. 

Das  sind  Forderungen,  denen  sich  die  Türkei  nicht  mehr  wird 
entziehen  können.  Die  jetzt  am  Ruder  befindliche  Regierung  ist  sich 
darüber  auch  vollkommen  klar.  Mahmud  Schewket  brachte  neulich 
selbst  das  Gespräch  auf  die  armenische  Frage  und  sprach  mir  gegen- 
über den  Wunsch  aus,  die  deutsche  Regierung  möchte  ihm  bei  der 
Lösung  der  hier  bestehenden  Schwierigkeiten  behilflich  sein.  Dem 
Großwesir  schwebt  ohne  Zweifel  der  Gedanke  vor,  durch  eine  An- 
näherung der  Armenier  an  die  loyalen  deutschen  Vertretungen  der  de- 
struktiven russischen  Propaganda  das  Wasser  abzugraben  und  da- 
durch das  armenische  Element  zur  praktischen  Mitarbeit  am  Wieder- 
aufbau des  zerrütteten  Staates  zu  gewinnen.  Ihm  darin  behilflich  zu 
sein,  ist  meines  Erachtens  eine  ebenso  ehrenhafte  wie  unseren  Inter- 
essen förderliche  Aufgabe. 

Die  praktische  Ausführung  denke  ich  mir  im  einzelnen  folgender- 
maßen: 

1)  Die  türkische  Regierung  arbeitet  —  nötigenfalls  unter  Ein- 
holung unseres  Rates  —  ein  Reformprojekt  aus,  welches  den  oben 
angeführten  Forderungen  der  Armenier  entgegenkommt.  Damit  das 
Projekt  nicht  wie  so  viele  seiner  Vorgänger  auf  dem  Papier  stehen 
bleibt  oder  gar  von  übelwollenden  und  verständnislosen  Unterbeamten 
in  sein  Gegenteil  verkehrt  wird,  ergeht  an  alle  deutschen  Vertretungen 
in  der  Türkei  die  Anweisung,  Interesse  für  die  armenischen  Angelegen- 
heiten zu  zeigen,  nötigenfalls  auf  ein  friedliches  Zusammenleben  zwi- 
schen Türken  und  Armeniern  hinzuarbeiten  und,  wenn  sie  von  offen- 
baren Verletzungen  der  Reformgesetze  hören,  die  betreffenden  Fälle 
zu  untersuchen  und  über  das  Ergebnis  an  die  Botschaft  zu  berichten, 
damit  diese  zwecks  Abstellung  der  Mißstände  intervenieren  kann. 
Diese  beratende  Tätigkeit  der  Konsuln  müßte  natürlich  in  sehr  takt- 
voller Form  und  in  voller  Übereinstimmung  mit  der  türkischen  Zentral- 
regierung, aber  doch  mit  so  viel  Nachdruck  ausgeübt  werden,  daß  die 

13 


Armenier  die  deutschen   Behörden   als  unparteiische,  im   Notfall  aber 
auch  wirklich  wirksame  Beschützer  kennen  lernen. 

2)  Zur  wirksamen  Durchführung  dieses  Planes  ist  eine  Vermehrung 
der  deutschen  Vertretungen  in  Anatolien  anzustreben.  Vielleicht  läßt 
sich  das  ohne  Vermehrung  der  deutschen  Konsulate  erreichen,  wenn 
nämlich  der  Friedensschluß  die  wohl  nicht  zu  umgehende  Erweiterung 
der  Finanzkontrolle  bringt  und  es  auf  diesem  Wege  gelingt,  einige 
geeignete  deutsche  Persönlichkeiten  als  Angestellte  der  türkischen  Re- 
gierung nach  Anatolien  hereinzubringen.  Sollte  sich  das  nicht  erreichen 
lassen,  so  möchte  ich  auf  die  Notwendigkeit  hinweisen,  wenigstens  in 
Erserum  eine  deutsche  Vertretung  zu  unterhalten,  da  diese  Stadt  als 
Beobachtungspunkt  und  handelspolitischer  Vorposten  gleich  wichtig 
ist.  Das  nächste  deutsche  Konsulat  in  Trapezunt  ist  reichlich  weit  von 
Erzerum  entfernt  und  außerdem  während  der  Wintermonate  fast  völlig 
von  der  armenischen  Hochebene  abgeschlossen. 

3)  Uns  wird  mit  Recht  der  Vorwurf  gemacht,  daß  unser  Schulwesen 
in  Anatolien  in  keiner  Weise  mit  der  Entwickelung  unserer  dortigen 
Interessen  Schritt  gehalten  hat.  Vermutlich  wird  es  uns  bei  unseren 
knappen  Mitteln  auch  ferner  nicht  möglich  sein,  gegen  die  Franzosen 
in  deren  eigener  Interessensphäre  anzukämpfen.  Dort  aber,  wo  die 
Brennpunkte  unserer  eigenen  Interessen  liegen,  müssen  wir  unbedingt 
künftig  energischer  vorgehen.  Es  ist  ein  großes  Manko,  daß  noch 
immer  keine  deutsche  Schule  in  Adana  besteht.  Mit  Errichtung  einer 
solchen  würden  wir  zwei  Zwecken  zugleich  dienen.  Einmal  brauchen 
wir  deutsche  Erziehungsanstalten  im  Bereich  der  Bagdadbahn,  um  das 
eingeborene  Personal  für  unsere  großen  wirtschaftlichen  Unter- 
nehmungen heranbilden  zu  können.  Da  ferner  der  Schwerpunkt  des 
armenischen  Volkes  heute  mehr  in  Adana  als  in  Hocharmenien  liegt 
und  eine  dort  entstehende  deutsche  Schule  auf  zahlreichen  Besuch 
seitens  dieses  bildungsfähigen  und  lerneifrigen  Elements  mit  Sicherheit 
rechnen  kann,  so  bekämen  wir  durch  das  Mittel  einer  deutschen  Er- 
ziehungsanstalt Einfluß  auf  die  maßgebenden  armenischen  Kreise  oder, 
was  dasselbe  bedeutet,  auf  die  Mehrzahl  der  dortigen  Kaufleute  und 
Gewerbetreibenden.  Die  Unkosten  der  Schule  würden  sich  bald  nicht 
nur  durch  das  Wachsen  des  deutschen  Prestiges,  sondern  auch  durch 
eine  Steigerung  der  deutschen  Einfuhr  bezahlt  machen. 

4)  Die  deutsche  Presse  müßte  ihre  bisherige  ablehnende  Haltung 
gegen  alles  Armenische  aufgeben  und  durch  maßvolle  und  verständnis- 
volle Stellungnahme  ihr  Interesse  an  den  Wünschen  der  Armenier  be- 
kunden. Das  würde  einen  großen  Eindruck  auf  die  zahlreichen  euro- 
päisch gebildeten  Armenier  machen,  die  in  Frankreich,  England  und 
Amerika  leben  und  dort  über  eigene  Preßorgane  verfügen. 

Die  armenische  Frage  steht  heute  entschieden  an  einem  Scheide- 
wege. Stoßen  die  Armenier  mit  ihren  berechtigten  Wünschen  auch 
künftig  bei  uns  auf  verschlossene  Türen,  so  werden  sie  sich  nolens 

14 


volens  den  Russen  gänzlich  in  die  Arme  werfen.  Geschieht  das,  so  ist 
wenig  Hoffnung  für  eine  friedliche  Lösung  des  kleinasiatischen  Pro- 
blems oder  gar  für  eine  Regeneration  der  Türkei  vorhanden.  Bekommen 
wir  andererseits  auf  dem  oben  skizzierten  Wege  Einfluß  auf  die 
armenische  Bewegung,  so  haben  wir  ein  wirksames  Mittel  in  der 
Hand,  um  unter  Wahrung  und  Erweiterung  unserer  eigenen  Interessen 
die  Türken  in  ihrer  Reformarbeit  zu  unterstützen  und  die  im  geheimen 
an  der  Zersetzung  des  osmanisches  Reiches  arbeitenden  Kräfte  lahm- 
zulegen. Sollte  es  sich  aber  in  Zukunft  herausstellen,  daß  der  Auf- 
lösungsprozeß der  Türkei  nicht  mehr  aufzuhalten  ist,  so  wird  es  für 
uns  von  großem  Werte  sein,  bei  der  Geltendmachung  unserer  Rechte 
in  Kleinasien  das  einheimische  armenische  Element  hinter  uns  zu  haben. 

Wa  ngenh  ei  m 

Nr.  15  288 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  75  Pera,  den  13.  März  1913 

Kelikian  Effendi,  der  Redakteur  des  „Sabah",  eine  der  führenden 
Persönlichkeiten  der  ottomanischen  Armenier,  suchte  mich  heute 
auf  und  sprach  mir  von  der  Lage  seiner  Stammesgenossen  in  Klein- 
asien. 

Im  Laufe  der  Unterhaltung  klagte  er  über  die  fortgesetzte  Wühl- 
arbeit der  russischen  Agitatoren,  die  überall  Unfrieden  stiften,  um 
armenische  Unruhen  zu  veranlassen.  Die  Zahl  dieser  Agitatoren  habe 
sich  in  letzter  Zeit  verdreifacht. 

Die  Reformaktion,  so  wie  sie  jetzt  geplant  sei,  habe  wenig  Wert. 
Sie  würde  die  Armenier  nicht  abhalten,  in  Rußland  ihre  einzige  Ret- 
tung zu  erblicken.  Er  selbst  aber  wie  viele  der  einflußreichsten  seiner 
Stammesgenossen  hätten  die  Hoffnung  nicht  aufgegeben,  daß  Deutsch- 
land endlich  zur  Überzeugung  käme,  daß  es  die  armenische  Frage 
nicht  zu  einer  russischen  werden  lassen  könne. 

Hinsichtlich  des  Reformprogramms  von  1895  meinte  Kelikian, 
dieses  sei  nichts  weiter  als  ein  russisches  Aktionsprogramm.  Es  sollte 
nicht  den  armenischen  Interessen,  sondern  der  russischen  Politik 
dienen.  Unter  den  heutigen  Verhältnissen  könne  die  Kontrollkom- 
mission von  1895  nicht  funktionieren.  Wollte  man  ihre  Unabhängig- 
keit sicherstellen  und  ihr  Einfluß  verschaffen,  so  müßten  ihr  unbe- 
dingt zwei   Mitglieder  der   Dette   Publique   angehören. 

Ich  habe  Kelikian  im  Sinne  der  von  uns  in  letzter  Zeit  zur  arme- 
nischen Frage  eingenommenen  Haltung  geantwortet. 

15 


Ein  einflußreiches  Mitglied  des  armenischen  Komitees,  Aknounie, 
hat  sich  ferner  einem  Mitglied  der  Botschaft  gegenüber  folgender- 
maßen geäußert:  Nach  Einführung  der  Verfassung  hätten  die  Führer 
der  armenischen  Organisation  mit  dem  jungtürkischen  Komitee  ein 
Abkommen  unterzeichnet,  durch  das  sich  beide  Teile  zur  Aufgabe 
der  Feindseligkeiten  und  zur  gemeinsamen  Mitarbeit  verpflichteten. 
Von  diesem  Augenblicke  an  hätten  die  Armenier  ihre  Propaganda  der 
Tat  völlig  aufgegeben.  Zwar  habe  man  auch  nach  diesem  Bruch  des 
Vertrages  sich  gescheut,  zu  terroristischen  Mitteln  zurückzukehren, 
wie  denn  überhaupt  seine  Landsleute  ihrer  großen  Mehrzahl  nach 
trotz  aller  Enttäuschungen  für  die  Erhaltung  des  türkischen  Reiches 
einträten.  Dazu  seien  aber  unbedingt  wirksame  Reformen  nötig.  Irgend- 
eine Macht  oder  eine  Gruppe  von  Mächten  müsse  dafür  eintreten, 
daß  die  dauernden  Ausschreitungen  gegen  die  Armenier  aufhörten. 
Mit  Vorstellungen  bei  der  Pforte  sei  es  nicht  getan,  denn  diese  habe 
selbst  nicht  genügend  Machtmittel,  um  ihre  unruhigen  Elemente  in 
den  entfernten  Winkeln  des  Reiches  im  Zaum  zu  halten.  Nur  mit 
genügenden  Machtmitteln  ausgestattete  europäische  Beamte  wären  dazu 
imstande.  Wenn  es  auch  dieses  Mal  nicht  zur  Einführung  solcher 
Reformen  komme,  so  bleibe  nur  noch  die  Hilfe  Rußlands  übrig.  Zwar 
habe  die  russische  Regierung  vor  zirka  zehn  Jahren  mit  Abdul  Hamid 
ein  Abkommen  zur  gegenseitigen  Unterstützung  gegen  die  armenische  Be- 
wegung getroffen.  Seitdem  aber  habe  Rußland  seinen  Standpunkt 
völlig  geändert  und  im  Oktober  v.  Js.  mit  dem  armenischem  Katholikos 
in  Etschmjadsin  die  „Befreiung"  Armeniens  in  aller  Form  verabredet. 
Vor  kurzem  sei  der  Katholikos  dahin  verständigt  worden,  daß  die  Be- 
freiung noch  nicht  stattfinden  könne,  es  würden  aber  Reformen  in 
Armenien  eingeführt  werden.  Die  gleiche  Versicherung  habe  die 
russische  Regierung  einer  armenischen  Deputation  in  Petersburg  ge- 
geben. In  Paris  sei  diese  Deputation  auf  die  Zeit  nach  dem  Frieden 
vertröstet  worden;  in  Berlin  habe  man  in  ziemlich  unbestimmter  Form 
Inangriffnahme  von  Reformen  im  Einverständnis  mit  England  in  Aus- 
sicht gestellt. 

Aknounie  bestätigte  dann  meine  schon  früher  gemachten  Angaben 
über  die  russischen  Umtriebe  in  Armenien,  behauptete  aber  außerdem, 
daß  Rußland  neuerdings  auch  die  Kurden  zum  Abfall  von  der  Türkei 
aufreize  und  unter  anderem  kürzlich  mehrere  einflußreiche  Kurden- 
häuptlinge zu  einer  Besprechung  nach  Tiflis  geladen  habe. 

Ferner  meinte  Aknounie,  daß  nach  dem  Friedensschluß  Armenier- 
massakers im  Wilajet  Wan  mit  Sicherheit  zu  erwarten  seien.  Dort  sei 
kürzlich  ein  Kurde  Izzet  Bey  zum  Wali  ernannt  worden.  Auch1  habe 
man  Briefe  von  einem  auf  dem  Kriegsschauplatz  befindlichen  hoch- 
gestellten Kurden  abgefangen,  in  denen  ganz  offen  von  Armenier- 
massakers  nach   Rückkehr  in   die   Heimat  gesprochen   wurde. 

Wangenheim 

16 


Nr.  15  289 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 
Nr.  215  Berlin,  den  6.  April  1913 

Chef  der  englischen  Mittelmeerflotte  hat  Admiral  Trummler  ge- 
raten, Augenmerk  auf  Vorgänge  in  Syrien  zu  richten  und  Schiffe  dort- 
hin zu  beordern*. 

Wir  wären  bereit,  nötigenfalls  zwei  weitere  Kleine  Kreuzer  ins 
östliche  Mittelmeer  zu  entsenden.  Ew.  pp.  wollen  jedoch  Sir  E.  Grey 
zunächst  vertraulich  fragen,  worauf  sich  englische  Besorgnisse  gründen. 

J  ago  w 


*  Der  Chef  der  englischen  Mittelmeerflotte  Admiral  Sir  Berkeley  Milne,  in  dem 
die  englischen  Besorgnisse  wegen  französischer  Absichten  auf  Syrien  (vgl. 
Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXVII)  nachwirkten,  mochte  fürchten,  daß  die  zunehmende 
Gärung  in  dem  Libanongebiete,  die  durch  die  Reformfrage  hervorgerufen  wurde, 
den  Franzosen  Anlaß  bieten  könnte,  zur  Verwirklichung  ihrer  Absichten  zu 
schreiten,  und  glaubte  dieser  Gefahr  am  ehesten  durch  einen  Wink  an  die 
deutsche  Adresse  zu  begegnen.  So  wandte  er  sich  gelegentlich  der  Beisetzungs- 
feierlichkeiten für  König  Georg  von  Griechenland  Anfang  April  an  den  Kom- 
mandanten von  S.  M.  S.  „Goeben"  und  Chef  der  mit  der  Entsendung  dieses 
Großen  Kreuzers  sowie  des  Kleinen  Kreuzers  S.  M.  S.  „Breslau"  nach  den  tür- 
kischen Gewässern  —  Anfang  November  1912  —  gebildeten  Mittelmeerdivision, 
Admiral  Trummler.  Näheres  darüber  bietet  eine  vom  4.  April  datierte  Auf- 
zeichnung Trummlers,  die  der  zu  den  Beisetzungsfeierlichkeiten  nach  Athen  ent- 
sandte Prinz  Heinrich  von  Preußen  nach  erfolgter  Rückkehr  dem  Kaiser  am 
7.  April  in  Homburg  v.  d.  H.  übergab,  und  die  von  diesem  abschriftlich  dem 
Auswärtigen  Amt  zugestellt  wurde.  Sie  lautet:  „Am  1.  April  beim  Dienstbesuch 
auf  .Inflexible*  sowie  am  2.  April  während  der  Beisetzungsfeierlichkeiten  in 
Athen  hatte  ich  Gelegenheit,  mich  längere  Zeit  eingehend  mit  Admiral  Sir 
Berkeley  Milne  zu  unterhalten.  — 

Wir  besprachen  die  bisherigen  Ereignisse  im  nahen  Osten  sowie  die  gegen- 
wärtige Lage,  streiften  auch  die  Aussichten  für  die  Zukunft.  — 
Admiral  Milne  sprach  über  alles  sehr  cffen  mit  mir  und  riet  mir  im  Laufe  der 
Unterhaltung  wiederholt  in  eindringlichster  Weise,  dafür  zu  sorgen,  daß  wir 
Kriegsschiffe  nach  Alexandretta  und  Mersina  schicken  möchten.  — 
Da  Admiral  Milne  an  beiden  Tagen  wiederholt  auf  diese  Frage  zurückkam, 
suchte  ich  seine  Gründe  für  diesen  Wink  zu  erforschen,  er  wich  jedoch  geschickt 
aus,  äußerte  sich  indessen  dahin,  daß  nach  seiner  Meinung  in  nächster  Zeit  sich 
Dinge  ereignen  könnten,  bei  denen  es  für  uns  höchst  wünschenswert  sein  müsse, 
an  der  syrischen  Küste  genügend  vertreten  zu  sein.  — 

Dieser  Vorgang  hat  mich  angesichts  der  augenblicklichen  Lage,  die  die  Anwesen- 
heit von  Kriegsschiffen  in  der  Adria  und  in  Konstantinopel  bedingt,  veranlaßt, 
die  Entsendung  von  zwei  Kleinen  Kreuzern  in  das  Mittelmeer  zu  veranlassen." 


2    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  17 


Nr.  15  290 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  208  Konstantinopel,  den  9.  April  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  116*. 

Nach  Meldung  der  Konsuln  hat  sich  die  Lage  in  Syrien  neuerdings 
eher  gebessert.  Separatistische  Tendenzen  treten  nur  in  Palästina 
schärfer  hervor.  Beirut  betont  größere  Zurückhaltung  französischen 
Konsulats,  macht  aber  darauf  aufmerksam,  daß  Reformbewegung 
ernster  werden  könne,  wenn  Türkei  weiter  geschwächt  wird.  In  Haifa 
ist  Redakteur  des  „Temps"  erschienen  und  vermehrter  Verkehr  zwi- 
schen den  russischen  Konsulaten  bemerkbar. 

Die  Demarche  des  englischen  Admirals  **,  über  welche  Seine 
Königliche  Hoheit  Prinz  Heinrich  wohl  inzwischen  Seiner  Majestät 
dem  Kaiser  Vortrag  gehalten  hat,  entspricht  der  unter  dem  Eindruck 
des  slawischen  Vorgehens  hier  sich  kundgebenden  Deutschfreundlich- 
keit der  englischen  Marine.  Admiral  hat  Herrn  Trummler  In  kamerad- 
schaftlicher Weise  andeuten  wollen,  Deutschland  möge  rechtzeitig  seine 
kleinasiatischen  Ansprüche  anmelden  und  äußerlich  dokumentieren. 
Bezeichnend  Hinweis  auf  Mersina  und  Alexandretta,  was  eher  ein 
„hands  off"  bezüglich  Syriens  und  Palästinas  bedeuten  könnte,  wo 
englische  Interessen  mit  französischen  streiten. 

Daß  der  englischen  Anregung  schleunigst  und  mit  Nachdruck 
Folge  gegeben  wird,  ist  um  so  erwünschter,  da  nach  Meldung  des  Kon- 
sulats Adana  vom  4.  d.  Mts.  plötzlich  zwei  französische  Kreuzer 
in  Mersina  eingetroffen  sind.  Dauer  ihres  Aufenthalts  unbekannt. 
Grund:  angebliche  Berichte  französischen  Konsuls  über  bevorstehende 
Unruhen. 

Weniger  opportun  erscheint  demonstratives  Auftreten  unserer 
Schiffe  in  den  eigentlichen  syrischen  Häfen,  was  Reibungen  mit  Frank- 
reich und  falsche  Vorstellungen  bei  uns  und  der  Türkei  erwecken 
könnte. 

Nachdem  Nachrichten  aus  Sofia  über  Angriff  auf  Tschataldja  sich 
als  unrichtig  oder  wenigstens  verfrüht  erwiesen***,  genügt  für  hier 
zunächst  ein  Kreuzer.    Ich  darf  mir  vorbehalten,  Verstärkung  zu  er- 


*  Durch  Telegramm  Nr.  116  vom  8.  April  war  Freiherr  von  Wangenheim  von 
der   Absicht  des    Admiralstabes   verständigt  worden,  von   den   beiden   neu  aus- 
zusendenden Kreuzern  den  einen  nach  Konstantinopel  zu  dirigieren,  um  S.  M.  S. 
„Goeben"   abzulösen,   die   nach   Syrien  gehen   sollte. 
**  Siehe    Nr.    15  289. 
***  Vgl.   dazu   Bd.   XXXIV,    Kap.   CCLXIX. 

18 


bitten,  falls  Tschataldja  bedroht  ist.     Auch  für  letztere   Eventualität 
erwünscht,  daß  Geschwader  in  erreichbarer  Nähe  bleibt. 

Wangenh  e  i  m 

Nr.   15  291 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  171  London,  den  9.  April  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  215*. 

Sir  E.  Grey  hatte  über  angebliche  Vorgänge  in  Syrien  nichts  ge- 
hört, will  sich  aber  erkundigen.  Auf  kürzliche  Anfrage  bei  Herrn 
Lowther,  ob  er  britische  ....**  an  irgendeinem  besonderen  Punkt 
für  gefährdet  halte,  hatte  dieser  auf  Smyrna  hingewiesen,  wo  Unruhen 
möglich  schienen,  von  Syrien  aber  nichts  erwähnt. 

Lichnowsky 

Nr.   15  292 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  174  London,  den  12.  April  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  171  ***. 

Sir  E.  Grey  gab  mir  gestern  Bericht  der  Admiralität  über  Schiffs- 
bewegungen im  Mittelmeer  zu  lesen.  Danach  soll  eine  Zeitlang  ein 
verdächtiges  Schiff  mit  etwa  300  Mann  an  Bord  vor  Alexandrerta 
gelegen  haben,  angeblich  im  Dienst  der  armenischen  Umsturzpartei. 
Die  Aufmerksamkeit  der  Admiralität  sei  auf  Umtriebe  der  Armenier 
in  Syrien  hingelenkt  worden  und  auf  etwa  bevorstehende  Unruhen  in 
Beirut  bei  Einsetzung  des  neuen  Walis.  Diese  Umstände  schienen 
Admiral  Milne  vorgeschwebt  zu  haben,  weil  etwas  anderes  hier  nicht 
in  Erfahrung  gebracht  wurde.  Ich  unterließ,  nochmals  etwaige  fran- 
zösische Absichten  auf  Syrien  zu  berühren,  da  Sir  E.  Grey  mir  hier- 
über erst  vor  kurzem  bestimmte  Erklärungen  gegeben  hatte,  und  um 
nicht  den  Anschein   zu  erwecken,   als  hätten  wir  Verdacht. 

Lichnowsky 

*  Siehe  Nr.    15  289. 
**  Zifferngruppe  fehlt. 
***  Siehe  Nr.    15  291. 

2*  19 


Nr.   15  293 

Der  Botschafter  in  /(onstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Privatbrief.     Ausfertigung 

Ganz  geheim  Pera,  den  10.  April  1913 

[pr.  15.  April] 

Admiral  Trummler  ist  nach  seiner  Begegnung  mit  dem  Prinzen 
Heinrich  und  der  Aussprache  mit  dem  englischen  Admiral,  die  zur 
Entsendung  zweier  weiterer  Kreuzer  nach  der  Levante  Veranlassung 
gegeben  hat,  hierher  mit  weittragenden  und  nach  meiner  Ansicht 
recht  gefährlichen  Ideen  zurückgekehrt.  Er  glaubt,  daß  es  demnächst 
in  Syrien  losgehen  werde,  und  daß  er  bei  einer  daraus  sich  ent- 
wickelnden größeren  maritimen  Aktion  Deutschlands  sich  auszeichnen 
könne*. 


*  Am  26.  April  empfahl  Admiral  Trummler  in  einem  ,,ganz  geheimen"  Immediat- 
bericht,  die  jeweiligen  Mittelmeerstreitkräfte,  die  zunächst  nur  vorübergehend  zu 
einer  Division  vereinigt  waren,  ständig  in  einem  Divisionskommando  zu  ver- 
einigen. Kaiser  Wilhelm  nahm  den  Gedanken,  die  deutsche  Flagge  fortan  ständig 
und  in  größerem  Rahmen  im  Mittelmeer  zu  zeigen,  eifrig  auf.  In  einer  Schluß- 
bemerkung zu  dem  Trummlerschen  Immediatbericht  erklärte  er  sich  am  8.  Mai 
mit  den  Vorschlägen  des  Admirals  vollkommen  einverstanden:  „Reichsmarineamt 
hat  sich  mit  Herrn  von  Jagow  in  Verbindung  zu  setzen  und  das  Auswärtige  Amt 
zu  veranlassen,  in  dieser  Hinsicht  beim  Reichstag  zu  wirken,  um  für  die  Etats- 
vorbereitung im  Herbst  mir  die  nötigen  Vorschläge  zu  machen.  Wir  müssen 
unbedingt  den  günstigen  Umstand  ausnutzen,  daß  eine  deutsche  Mittelmeer- 
division, unbeanstandet,  unbestritten,  ja  sogar  gern  gesehen,  sechs  Monate  bereits 
dort  anwesend  ist,  um  diese  Einrichtung  zu  einer  ständigen  werden  zu  lassen. 
Die  Türkei  wird  darin  eine  Stärkung  und  Stütze  für  ihre  Sanierung  erblicken 
und  das  deutsche  Element  (Bagdadbahn  pp.)  wieder  festes  Vertrauen  in  die 
Zukunft  fassen.  Charakteristisch  für  die  Verhältnisse  ist  es,  daß  die 
Formation  der  eigentlichen  Division  durch  Hinaussendung  der  Verstär- 
kung auf  Anregung  des  englischen  Admirals  erfolgte,  also  von  England 
gewünscht.  Nun  wir  mal  auf  englische  Anregung  hin  im  Mittelmeer  sind, 
bleiben  wir  auch  dort.  Dadurch  wird  auch  Englands  hypnotisches  Stieren 
auf  die  Nordsee  wesentlich  eingeschränkt  und  ihre  Aufmerksamkeit  auf  andere 
Gewässer  abgelenkt.  Selbstverständlich  lehnt  sich  in  ernsten  Zeiten  die  Division 
an  die  Dreibundsmächteflotte  an.  Eine  Kreuzerdivision  im  Mittelmeer  muß  nun- 
mehr als  zu  den  Imponderabilien  unserer  Marine  wie  unserer  auswärtigen 
Orientpolitik  gehören.  Das  Reichsmarineamt  hat  mir  baldmöglichst  darüber  zu 
berichten."  Am  15.  Mai  berichtete  darauf  Großadmiral  von  Tirpitz  an  den 
Kaiser:  ,,Wenn  Euere  Majestät  die  Bildung  einer  ständigen  Mittelmeerdivision 
allergnädigst  befehlen  wollen,  dürfte  diese  meines  alleruntertänigsten  Erachtens 
am  zweckmäßigsten  dadurch  erfolgen,  daß  die  zurzeit  bestehende  Dislozierung 
einfach  weiter  bestehen  bleibt,  solange  es  Euerer  Majestät  wünschenswert 
erscheint.  Besondere  formelle  Maßnahmen  vorzunehmen,  würde  leicht  zu  Miß- 
verständnissen und  Mißdeutungen  Anlaß  geben  können.  Auch  läßt  es  sich  jetzt 
noch  nicht  übersehen,  in  welcher  Weise  die  Herbstablösungen  geregelt  werden 

20 


Ich  persönlich  begrüße  es  mit  Freuden,  daß  wir  durch  die  Ver- 
mehrung unserer  Schiffe  ein  erhöhtes  Interesse  an  Kleinasien  bekunden. 
Wenn  wir  uns  bei  der  dereinstigen  Aufteilung  Kleinasiens  beteiligen 
wollen,  so  ist  es  nützlich,  wenn  die  Miterben  schon  jetzt  erfahren,  daß 
wir  uns  nicht  beiseite  schieben  lassen.  Nur  müßten  sich  diese  navalen 
Demonstrationen  auf  solche  Punkte  beschränken,  die  unzweifelhaft 
zu  unserer  zukünftigen  Interessensphäre,  wenn  ich  diesen  verpönten 
Ausdruck  gebrauchen  darf,  gehören.  Niemand  weiß  zwar  bis  heute 
genau,  was  wir  eigentlich  von  Kleinasien  einmal  beanspruchen  sollen. 
Eine  Ausnahme  machen  nur  Alexandretta  und  Mersina,  und  dorthin 
vor  allem  sollte  Herr  Trummler  mit  seinen  Schiffen  gehen.  Auch  ein 
Besuch  des  Admirals  in  Adana  und  eine  Anknüpfung  mit  dem  dortigen 
armenischen  Metropoliten  scheint  mir  ganz  opportun,  vorausgesetzt, 
daß  dabei  nicht  das  türkische  Gefühl  verletzt  wird.  Ein  Erscheinen  des  Ge- 
schwaders in  Syrien,  zum  Beispiel  in  Beirut,  wäre  dagegen  bedenklich. 
Höchstens  könnte  dorthin  ein  einzelnes  Schiff  gelegentlich  geschickt 
werden.  Ich  habe  dem  Admiral  meine  Ansichten  eingehend  ausein- 
andergesetzt, befürchte  aber,  daß  derselbe  eine  zu  weitgehende 
Unternehmungslust  entwickelt,  wenn  ich  ihn  hier  nicht  mehr  an  der 
Leine  habe.  Es  wäre  daher  dringend  wünschenswert,  wenn  ihm  auch 
von  der  ihm  vorgesetzten  Marinebehörde,  in  letzter  Linie  von  Seiner 
Majestät  dem  Kaiser  selbst,  zur  größten  Vorsicht  geraten  und  ihm 
nahegelegt  würde,  seine  Bewegungen  nicht  ohne  vorheriges  Befragen 
der  Botschaft  vorzunehmen.  Meines  Erachtens  sind  in  Syrien  vorläufig 
keine  Umwälzungen  zu  erwarten,  wenn  nicht  Frankreich  oder  Eng- 
land eine  Initiative  dazu  ergreifen.  Der  Rat  des  englischen  Admirals 
bezieht  sich  wohl  auch  mehr  auf  die  Zukunft  und  nicht  auf  aktuelle 
Notwendigkeiten.  Er  meint  —  und  darin  hat  er  recht  — ,  daß  wir  mit 
der  „Loreley"  allein  von  jetzt  ab  in  der  Levante  nicht  mehr  auskommen 
werden,  und  daß  unsere  Mittelmeerstation  verstärkt  werden  muß. 
Auch  ich  glaube,  daß  wir  von  jetzt  ab  mindestens  einen  zweiten 
Stationär  (Kreuzer)  in  Konstantinopel  brauchen,  der  gegebenenfalls 
in  der  Levante  verwendet  werden  könnte.  Die  Behandlungen  dieser 
und  ähnlicher  Fragen  habe  ich  mir  bis  nach  dem  Friedensschluß  auf- 
gespart,   pp.  * 

Wangenheim 


können.  Mit  dem  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amts  werde  ich  nach  dessen 
Rückkehr  aus  Wien  über  die  Angelegenheit  Rücksprache  nehmen."  Mit  dieser 
Abschwächung  seiner  Wünsche  erklärte  sich  der  Monarch  durch  ein  „ja!"  am 
Rande  des  Tirpitzschen   Berichts  einverstanden. 

*  Der  Schluß  des  Briefes  betrifft  die  Frage  der  türkischen  Kriegsentschädigung 
und  die   der   ägäischen   Inseln.   Vgl.   dazu   Bd.  XXXIV,    Kap.   CCLXVIII. 


21 


Nr.   15  294 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  106  Pera,  den  12.  April  1913 

Je  mehr  die  Türkei  durch  das  lange  Hinziehen  des  Krieges  in 
ihrem  politischen  Ansehen  und  ihrer  Finanzkraft  geschwächt  wird, 
um  so  mehr  regen  sich  die  Kräfte,  welche  auf  den  Zerfall  der  asiatischen 
Türkei  hinarbeiten.  Hier  und  da  ist  der  Ursprung  dieser  Bewegungen 
auf  die  Selbständigkeitsbestrebungen  einzelner  Nationalitäten  zurück- 
zuführen, in  der  Hauptsache  aber  wohl  auf  die  Propaganda  der  am 
türkischen  Erbe  interessierten  Mächte,  welche  geschickt  die  Unzu- 
friedenheit der  Bevölkerung  ihren  Zwecken  dienstbar  machen.  Wie 
in  ganz  Asien  ist  es  auch  hier  Rußland,  das  am  offensten  und  am  rück- 
sichtslosesten zugreift.  Bei  dem  Fehlen  von  konsularischen  Vertre- 
tungen in  der  russischen  Interessensphäre  der  Türkei  ist  es  zwar  außer- 
ordentlich schwer,  wirklich  zuverlässige  Nachrichten  zu  erhalten  oder 
die  über  die  russische  Propaganda  umlaufenden  Gerüchte  auf  ihre 
Glaubwürdigkeit  zu  prüfen.  Immerhin  steht  aber  so  viel  fest,  daß  dort 
dem  Fortbestehen  der  Türkei  eine  schwere  Gefahr  erwächst.  Über  die 
Unterstützung,  welche  die  armenische  Bewegung  von  russischer  Seite 
findet,  habe  ich  bereits  früher  berichtet*.  Neuerdings  mehren  sich  nun 
die  Zeichen,  daß  auch  die  Kurden  für  die  russischen  Pläne  ge- 
wonnen worden  sind.  Von  der  praktisch  zur  russischen  Provinz  ge- 
wordenen persischen  Landschaft  Aserbeidjan  aus  können  die  Fühler 
leicht  bis  ins  Herz  von  Türkisch-Kurdistan  ausgestreckt  werden.  Die 
noch  immer  ungelöste  türkisch-persische  Grenzfrage  bietet  hier  tausend 
Vorwände  zum  Einmischen  in  die  Angelegenheiten  der  zwischen  türki- 
schem und  persischem  Gebiet  hin  und  her  ziehenden  Kurden. 

In  den  Gegenden  südlich  des  Wansees  bestand  bisher  ein  Gegen- 
satz zwischen  zwei  großen  Häuptlingsfamilien,  der  Familie  Beder 
Chan  Sadehs,  die  stets  antitürkische  Tendenzen  hatte,  und  der  Familie 
des  als  Senator  in  Konstantinopel  weilenden  Abdul  Kader.  Letzterer 
gilt  hier  als  eine  Art  Souverän  der  türkischen  Kurden  und  genießt 
wegen  seiner  politischen  Bedeutung  und  seiner  angeblich  loyalen  Ge- 
sinnung eine  bevorzugte  Stellung.  Neuerdings  soll  nun  sein  Neffe  und 
Stellvertreter  —  wie  man  sagt,  gegen  den  Willen  seines  Onkels  —  mit 
dem  Vertreter  der  Familie  Beder  Chans  Abdul  Risak  unter  russischer 
Ägide  ein  Übereinkommen  geschlossen  haben,  durch  das  die  be- 
stehenden Zwistigkeiten  ausgeglichen  und  ein  gemeinsames  Zusammen- 

*  Vgl.  Nr.    15  282. 

22 


arbeiten  zur  Lostrennung  Kurdistans  von  der  Türkei  beschlossen  wurde. 
Eine  solche  Lostrennung  kann  natürlich  nur  den  Anschluß  an  Ruß- 
land bedeuten. 

Andererseits  sollen  die  russischen  Agenten  alle  Annäherungs- 
versuche zwischen  Kurden  und  Armeniern  zu  verhindern  suchen.  Der 
Zweck  ist,  die  Kurden  zu  Armeniermassakers  zu  veranlassen,  damit  ein 
Grund  zum  russischen  Einschreiten  gegeben  wird.  Ich  kann,  wie  ge- 
sagt, nicht  nachprüfen,  was  an  diesen  Nachrichten  wahr,  was  über- 
trieben oder  erfunden  ist.  Immerhin  deuten  die  sich  häufig  wieder- 
holenden —  offenbar  aus  russischer  Quelle  stammenden  —  Gerüchte 
über  Armeniermassakers  darauf  hin,  daß  bei  den  Urhebern  dieser  Ge- 
rüchte der  Wunsch  der  Vater  des  Gedankens  ist,  und  daß  vielleicht 
über  kurz  oder  lang  das  so  oft  vorher  verkündete  Ereignis  mit  seinen 
nicht  übersehbaren  Folgen  eintreten  wird. 

Das  stimmt  zwar  nicht  ganz  mit  den  friedlichen  Versicherungen 
überein,  die  man  uns  in  Petersburg  gibt.  In  der  Praxis  kommt  es 
aber  auf  dasselbe  heraus,  ob  eine  Maßregel  von  der  russischen  Re- 
gierung unternommen  wird  oder  von  ehrgeizigen  Unterorganen,  welche 
hoffen,  die  Regierung  selbst  gegen  ihren  Willen  mit  sich  fortreißeni 
zu  können.  Die  schönen  Erfolge,  welche  diese  politischen  Speku- 
lanten stets  in  Russisch-Asien  und  zum  Beispiel  in  letzter  Zeit  in 
Nordpersien  erzielten,  werden  den  Appetit  auf  weitere  fette  Bissen 
nicht  gerade  vermindert  haben. 

Ich  habe  nicht  verfehlt,  Mahmud  Schewket  gelegentlich  auf  die  hier 
drohende  Gefahr  aufmerksam  zu  machen  und  ihm  vorbeugende  Maß- 
regeln, besonders  betreffs  der  Armeniermassakers,  ans  Herz  zu  legen. 
Der  Großwesir  gab  mir  zu,  daß  zurzeit  eine  militärische  Expedition 
gegen  Midijat  (nordöstlich  Mardin)  im  Gange  wäre,  wo  eine  im 
russischen  Solde  stehende  Persönlichkeit  im  Verein  mit  Angehörigen 
der  Familie  Beder  Chans  Unruhen  stiftet.  Der  Großwesir  fügte 
hinzu,  er  wäre  in  der  Lage,  erforderlichenfalls  auch  mehr  Truppen 
dorthin  zu  schicken.  Er  sei  dort  allen  Eventualitäten  gewachsen.  Ich 
habe  den  Eindruck,  daß  Mahmud  Schewket,  wenn  er  auch  bisher  mir 
gegenüber  stets  offen  gewesen  ist,  sich  scheut,  mir  alle  seine  Sorgen 
zu  enthüllen,  und  daher  bemüht  ist,  die  Lage  an  der  Ostgrenze  harm- 
loser darzustellen,  als  sie  tatsächlich  ist.  Mehr  denn  je  endet  heute 
die  Macht  der  Türken  an  den  kurdischen  Bergen.  Ob  und  wann  dort 
das  Pulverfaß  auffliegt,  das  entzieht  sich  der  Willensbestimmung  der 
Konstantinopler  Regierung. 

Ich  habe  den  Dragoman  Holstein,  welcher  am  11.  d.  Mts.  von 
hier  nach  Mosul  abgereist  ist,  besonders  angewiesen,  unterwegs  sorg- 
fältige Beobachtungen  über  die  Stimmung  unter  Kurden  und  Arme- 
niern anzustellen  und  zu  diesem  Zweck  auf  der  Strecke  Aleppo— Mosul 
den  etwas  weiteren  Weg  über  Diarbekr  zu  nehmen.  Ich  darf  wohl  auf 
Genehmigung  der  hieraus  erwachsenden  Mehrkosten  rechnen.   Ebenso 

23 


bitte  ich  um  die  Ermächtigung,  Dragoman  Holstein  mit  Beobachtungs- 
touren innerhalb  seines  Bezirks  beauftragen  zu  dürfen  *.  Diese  ließen 
sich  unauffällig  mit  der  Reise  nach  dem  Sommersitz  des  Konsulats  in 
Wan  verbinden.  Ich  hoffe,  auf  diese  Weise  wenigstens  zum  Teil  die 
zwischen  Trapezunt,  Mosul  und  Täbris  klaffende  Beobachtungslücke 
schließen  zu  können. 

Auf  die  politischen  Strömungen  in  Westanatolien  möchte  ich  hier 
nicht  näher  eingehen.  Diese  hängen  eng  mit  der  griechischen  Frage 
zusammen,  und  ihre  Weiterentwickelung  wird  wesentlich  dadurch  be- 
stimmt werden,  welche  Lösung  die  Inselfrage  beim  Friedensschluß 
finden  wird. 

Unsere  aufmerksame  Beobachtung  verdient  dagegen  die  separa- 
tistische Bewegung  in  dem  ganzen  großen  Gebiet,  in  welchem  das 
arabische  Element  vorherrscht.  Der  Umfang  und  die  Ziele  der  dortigen 
sich  zum  Teil  widerstreitenden  englischen  und  französischen  Propa- 
ganda sind  ja  in  ihren  großen  Linien  zu  bekannt,  als  daß  ich  hier 
besonders  darauf  eingehen  müßte.  Einige  ergänzende  Nachrichten 
sind  mir  in  letzter  Zeit  aus  anscheinend  zuverlässiger  Quelle  zu- 
gegangen. 

Danach  könne  man  von  den  etwa  25  000  Maroniten  sagen,  daß 
sie  unbeeinflußt  Frankreich  anhängen.  Die  nördlich  Beirut  lebenden 
60  000  orthodoxen  Griechen  würden  hauptsächlich  für  englische  Inter- 
essen zu  gewinnen  gesucht;  sie  hielten  viel  weniger  fest  an  den  Fran- 
zosen als  die  Maroniten.  Eine  große  Anzahl  dieser  Orthodoxen,  nament- 
lich südlich  von  Beirut,  neige  beeinflußt  durch  die  Schulen 
des  deutsch-katholischen  Palästinavereins  dazu,  in 
Deutschland    ihre    Zukunft    zu    sehen. 

Die  Drusen  (zirka  60  000)  seien  vollständig  unter  englischem 
Einfluß. 

Die  übrigen  Christen  (zirka  40  000)  hätten  keine  bestimmte 
Richtung. 

Die  Mohammedaner,  worunter  die  Metawile  den  größten  Einfluß 
besitzen,  seien  in  letzter  Zeit  durch  englische  Agenten  ganz  bedeutend 
beeinflußt  worden. 

Frankreich  suche  in  letzter  Zeit  hauptsächlich  Einfluß  im  süd- 
lichen Teil  Syriens  zu  gewinnen  und  habe  eine  große  Zahl  der  an- 
gesehensten Metawile  der  Provinz  nach  Beirut  zu  geheimen  Be- 
sprechungen eingeladen.  Der  Zufall  habe  es  gewollt,  daß  einige  dieser 
Leute,  die  ganz  besonders  fanatisch  seien  und  streng  an  den  mohamme- 
danischen Sitten  festhielten,  Zeugen  von  Auftritten  auf  der  Straße  von 
Beirut  wurden,  bei  welchen  Matrosen  eines  französischen  Kriegs- 
schiffes verschleierte  mohammedanische  Frauen  angriffen  und  be- 
lästigten, nachdem  sie  ihnen  die  Schleier  abgerissen  hatten.  Die 
Metawile  sagten  nun  mit  Recht:  Wenn  die  Franzosen  sich  jetzt  schon 
so  benehmen,   wie   wird   es    erst   werden,   wenn   wir  ihnen   die   Tore 

24 


öffnen?  und  brachen  alle  Beziehungen  zum  französischen  Konsulat 
ab.  Auch  erhoffen  sie  von  den  Engländern  eine  viel  größere  Gewähr 
für  die  freie  Ausübung  ihrer  Religion.  Der  englische  Konsul  habe 
hieraus  Nutzen  gezogen  und  eine  Anzahl  der  angesehensten  Männer 
der  mohammedanischen  Bevölkerung  der  Provinz  nach  Beirut  kommen 
lassen  und  verabredet,  eine  Bittschrift  an  die  englische  Regierung  zu 
senden,  in  der  die  Okkupierung  des  Landes  verlangt  wird.  Eine 
gleiche  Eingabe  soll  ohne  Wissen  des  englischen  Konsuls  nach  Berlin 
gegangen  sein. 

Eine  schärfere  Note  ist  in  letzter  Zeit  dadurch  in  die  Bewegung 
hineingekommen,  daß  die  Bevölkerung,  welche  sich  früher  wenig  um 
politische  Ideen  kümmerte,  immer  weiter  für  die  separatistische 
Bewegung  gewonnen  wird.  Ein  gewisses  Licht  auf  die  Leiter  und  die 
Ziele  dieser  Bewegung  wirft  der  beiliegende  Artikel,  der  auf  speziellen 
Wunsch  des  Verfassers  und  mit  der  ausgesprochenen  Absicht,  die  ge- 
heimen Drahtzieher  zu  kompromittieren,  im  „Osmanischen  Lloyd" 
veröffentlicht  wurde*.  (Mohammed  Farid  Bey  gehört  zur  Partei  der 
ägyptischen  Nationalisten.  Diese  betrachtet  den  Khediven  wegen  seiner 
Abhängigkeit  von  England  als  unwürdig  des  Kalifats  und  wünscht  dem 
Hause  Osman  diese  Würde  zu  erhalten.) 

Die  anliegenden  Telegramme  aus  Beirut,  Jerusalem,  Haifa  und 
Adana  **  geben  ein  ungefähres  Bild  über  den  jetzigen  Stand  und  die 
Ausdehnung  der  Bewegung.  Beirut  ist  danach  als  Zentrum  der  Agi- 
tation zu  betrachten.  Als  praktisch  greifbares  Resultat  ist  dort  bereits 
das  Reformprogramm  zutage  gekommen,  welches  Euerer  Exzellenz 
vom  Konsulat  Beirut  in  der  Anlage  des  Berichts  vom  20.  v.  Mts.  zu- 
gegangen ist***. 

Die  Türkei  befindet  sich  diesen  von  allen  Seiten  an  sie  heran- 
tretenden Forderungen  gegenüber  in  einer  schwierigen  Lage.  So  weit- 
gehende Konzessionen  wie  sie  zum  Beispiel  das  Reformprogramm  for- 
dert, kann  sie  nie  bewilligen,  ohne  sich  selbst  aufzugeben.  Anderer- 
seits ist  sie  gezwungen  zu  handeln  und  schnell  zu  handeln,  will  sie 
nicht  allzuviele  ihrer  unzufriedenen  Untertanen  in  das  feindliche  Lager 
treiben.  Den  ersten  Schritt  in  dieser  Richtung  hat  sie  durch  Erlaß  des 
provisorischen  Wilajetgesetzes  getan.  Dasselbe  ist  noch  nicht  vollständig 
zur  Veröffentlichung  gelangt,  so  daß  ein  abschließendes  Urteil  noch 
nicht  gefällt  werden  kann.    Es  steht  aber  bereits  jetzt  fest,  daß  das 

*  „Osmanischer  Lloyd"   vom   9.   April    1913:    „Die   Umtriebe  des   Scheichs   Ali 
Jussuf",  von  Mohammed  Farid  Bey.  Es  ist  darin  von  einem  Geheimkomitee  in 
Kairo  die  Rede,  das  angeblich  den  Zweck  verfolge,  Syrien  und  andere  arabische 
Provinzen  von  der  Türkei  loszureißen  und  an  Ägypten  anzugliedern. 
**  Hier  nicht  abgedruckt. 

***  Dem  Bericht  des  Konsuls  in  Beirut  von  Mutius  vom  20.  März  lag  der  von  den 
Vertretungen  der  verschiedenen  religiösen  Gemeinden  in  Beirut  verfaßte  Entwurf 
eines  Reformprojekts  für  das  Wilajet  Beirut  bei,  das  wesentlich  weiter  ging  als 
ein  amtlicher  Entwurf. 

25 


neue  Gesetz  die  Erwartungen  der  Armenier  sowohl  wie  der  Araber 
schwer  enttäuscht  hat  und  eigentlich  niemand  befriedigt.  Ein  Vertreter 
des  armenischen  Komitees  hat  es  einem  Botschaftsmitglied  gegenüber 
offen  ausgesprochen,  man  wäre  sehr  unzufrieden  über  das  Gesetz. 
Man  habe  die  interessierten  Kreise  bei  der  Abfassung  nicht,  wie 
versprochen,  zu  Rate  gezogen.  Die  türkischen  Regierungskreise  gäben 
jetzt  schon  selbst  zu,  daß  sie  damit  einen  Fehler  begangen  hätten, 
und  stellten  baldige  Änderung  in  Aussicht. 

Ich  behalte  mir  einen  weiteren  Bericht  in  der  Angelegenheit  vor, 
sobald  sich  ein  klares  Bild  gewinnen  läßt.  Mein  Gesamteindruck  ist 
jedenfalls,  daß  die  Aussichten  für  die  Konsolidierung  der  Türkei  nach 
Friedensschluß  keineswegs  rosig  sind,  und  daß  jede  weitere  politische 
oder  finanzielle  Schwächung  die  Schwierigkeiten  vergrößern  wird. 

Wangenheim 

Randbemerkung  Zimmermanns: 
1  Ja 

Nr.   15  295 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  109  Pera,  den  15.  April  1913 

Über  die  Beiruter  Reformbewegung  und  die  gegen  das  Reform- 
komitee vom  Generalgouverneur  getroffenen  Maßregeln  sprach  sich 
der  Minister  des  Innern*  gestern  einem  Mitglied  der  Botschaft  gegen- 
über eingehend  und  in  durchaus  zuversichtlicher  Weise  aus.  Der  Wali 
stehe  bei  seinem  Vorgehen  unbedingt  auf  dem  Boden  der  Gesetz- 
lichkeit, da  das  Reformkomitee  sich  'den  Vorschriften  des  Vereins- 
gesetzes nicht  habe  unterwerfen  wollen.  Der  Minister  glaubt  nicht, 
daß  die  von  der  Regierung  bewiesene  Energie  weitere  Ruhestörungen 
zur  Folge  haben  werde.  Der  über  Beirut  verhängte  Belagerungs- 
zustand erleichtere  die  schnelle  Verfolgung  und  Bestrafung  aller  Un- 
ruhestifter. 

In  diesem  Zusammenhang  ist  nicht  ohne  Interesse,  daß  der  eng- 
lische Generalkonsul  in  Beirut**  bei  Sir  Gerard  Lowther  eine  diplo- 
matische Verwendung  bei  der  Pforte  angeregt  hat,  um  eine  mildere 
Behandlung  des  Reformkomitees  zu  erwirken.  Ob  Sir  Gerard  diesem 
Vorschlage  Folge  leisten  und  damit  auch  das  wohlwollende  Interesse 
Englands  an  den  syrischen  Sonderbestrebungen  dokumentieren  wird, 
bleibt  noch  abzuwarten. 


Talaat  Bey. 
'  Cumberbatch. 


26 


Daß  die  Regierung  aufs  schärfste  gegen  eine  Bewegung  Front 
macht,  die  tatsächlich  nur  die  Erlangung  autonomer  Verwaltung  zum 
Ziele  hat,  erscheint  verständlich.  Worauf  die  „Reform"  in  Wirklichkeit 
hinausläuft,  geht  aus  dem  vom  Kaiserlichen  Konsul  in  Beirut*  seiner- 
zeit eingereichten  „Projet  de  Reformes"  klar  hervor  und  wurde  auch 
vom  Minister  des  Innern  im  Laufe  des  erwähnten  Gespräches  nicht 
verkannt.  Nach  diesem  Entwurf  würde  die  Regierungsgewalt  den 
Händen  des  Wali  tatsächlich  entzogen  sein;  der  Provinziallandtag 
(Conseil  General)  würde  mit  Befugnissen  ausgestattet  sein,  die  es  ihm 
ermöglichen,  seine  Entscheidungen  auch  gegen  den  Willen  des  Wali 
zur  Geltung  zu  bringen  und  diesen  unter  Umständen  sogar  abzusetzen 1. 
Sein  ausführendes  Organ  ist  der  aus  den  Landtagsmitgliedern  hervor- 
gehende ständige  Ausschuß  (Commission  departementale),  in  dem 
bezeichnenderweise  der  dem  Landtag  beigegebene  ausländische 
Berater  von  Rechts  wegen  den  Vorsitz  führen  soll. 

Der  Minister  hob  in  diesem  Zusammenhang  hervor,  daß  das 
neue  provisorische  Wilajetsgesetz  vom  13./26.  März  d.  Js.  einen  sehr 
erheblichen  Fortschritt  im  Wege  der  Selbstverwaltung  darstellt  und 
allen  Anforderungen  genügen  müßte,  die  man  unter  den  heutigen 
Verhältnissen  in  der  Türkei  an  eine  gesunde  Dezentralisationspolitik 
stellen  darf. 

So  sieht  in  der  Tat  auch  das  neue  Gesetz  die  Schaffung  eines 
Provinziallandtages  vor,  dem  ein  aus  dessen  Mitte  gewählter  ständiger 
Ausschuß  zur  Seite  stehen  soll.  Doch  sind  die  Rechte  der  Regierung 
gegenüber  der  berufenen  Vertretung  der  Provinzeingesessenen  hier 
wirksam  gewahrt.  Der  Wali  hat  die  oberste  Leitung  und  Aufsicht 
über  die  Geschäfte  des  Landtages  und  führt  in  den  Sitzungen  den 
Vorsitz.  Die  Beschlüsse  bedürfen  seiner  Bestätigung;  doch  ist  er  ge- 
halten, etwaigen  Widerspruch  binnen  kurzer  Frist  zu  formulieren,  und 
diesbezügliche  Streitfragen  werden  erforderlichenfalls  der  Entscheidung 
des  Staatsrates  unterworfen.  Dem  Wali  steht  das  Recht,  die  Sitzungen 
des  Landtages  auf  kurze  Zeit  zu  vertagen,  der  Zentralregierung  das 
Recht  zur  Auflösung  zu.  Der  ständige  Ausschuß,  der  im  wesentlichen 
die  Ausführung  der  Beschlüsse  der  letzten  Sitzungsperiode  zu  über- 
wachen und  die  Vorlagen  für  die  kommende  Sitzungsperiode  vor- 
zubereiten hat,  arbeitet  unter  der  unmittelbaren  Leitung  des  Wali. 

Das  Gesetz  stellt  weiter  ausführlich  fest,  daß  die  Wilajetsregierung 
als  solche  ein  selbständiges  Rechtssubjekt  ist,  als  dessen  Organe  Wali, 
Landtag  und  Ausschuß  gelten;  die  Exekutivgewalt  steht  ersterem  allein 
zu.  Mit  der  rechtlichen  Unabhängigkeit  erlangt  die  Provinz  auch  weit- 
gehende Befugnisse  in  inneren  Verwaltungsangelegenheiten.  Sie  führt 
ein  besonderes  Budget  und  darf  innerhalb  gewisser  Grenzen  Anleihen 


*  von  Mutius. 

27 


aufnehmen.    Sie  hat  unter  gewissen  Beschränkungen  das  Recht,  Kon- 
zessionen zu  erteilen. 

Schon  diese  kurzen  Andeutungen  lassen  erkennen,  daß  sich  die 
heutige  Komiteeregierung  zu  weitgehenden  Zugeständnissen  an  die  von 
der  liberalen  Partei  so  lebhaft  verfochtene  Dezentralisationspolitik 
entschlossen  hat.  Hiernach  wird  in  Zukunft  die  wirtschaftliche  Ent- 
wickelung  des  Landes  in  weit  größerem  Maße,  als  es  bisher  der  Fall 
war,  von  der  Initiative  und  der  Tatkraft  der  einzelnen  General- 
gouverneure abhängen.  Tüchtige  Verwaltungsbeamte  haben  aber  auch 
bisher,  auch  ohne  ähnliche  gesetzliche  Befugnisse  zu  besitzen,  oft 
immerhin  Ersprießliches  für  ihre  Provinz  leisten  können.  Die  Frage 
liegt  daher  nahe,  ob  mit  Verwaltungsreformen  allein  der  Erfolg  schon 
gesichert  sei.  Auch  darüber  wird  ein  Zweifel  gestattet  sein,  ob  das 
ausländische  Kapital,  auf  dessen  Hilfe  die  Provinzen  zur  Verwirklichung 
der  ihnen  gestellten  Aufgaben  in  erster  Linie  angewiesen  sein  werden, 
den  Neuerungen  das  nötige  Vertrauen  ohne  weiteres  entgegenbringen 
wird.  Allerdings  besteht  auch  andererseits  die  Befürchtung,  daß  die 
wirtschaftliche  Selbständigkeit  der  einzelnen  Provinzen  bei  geschickt 
geleiteter  Beteiligung  des  fremden  Kapitals  dazu  ausgenutzt  werden 
könnte,  um  noch  intensivere  wirtschaftliche  Interessen  einzelner  Mächte 
zu  schaffen  und  damit  auch  den  auf  die  künftige  Aufteilung  der 
asiatischen  Türkei  gerichteten  Bestrebungen  die  Wege  zu  ebnen. 

Man  wird  unter  diesen  Umständen  der  Ansicht  des  Ministers  nur 
beipflichten  können,  daß  das  neue  Gesetz  nach  Lage  der  Dinge  das 
Äußerste  darstellt,  was  ohne  Gefährdung  höherer  politischer  Staats- 
interessen zugestanden  werden  konnte. 

Wangenheim 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms   IL: 
1   I 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Daher  sind   dort   Schiffe   nöthig 

Nr.   15  296 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  224  Konstantinopel,  den  17.  April  1913 

Konsul  Adana  telegraphiert: 

„Ich  erfahre,  daß  französischer1  Dragoman,  welcher  kürzlich  ge- 
schäftlich in  London  war,  von  Sir  E.  Grey  empfangen  wurde.  Sir 
E.  Grey  soll  abgelehnt  haben,  armenische  Frage  aufzurollen 2.  Die 
hier  seit  gestern  bestehende  Panik  dürfte  auf  armenischen  Einflüssen 3 
basieren,   welche  Intervention   Mächte  herbeiführen   wollen. 

28 


Auffallend  ist,  daß  Demarche  bei  fremden  Konsuln  nicht  vom 
Hauptinteressenten,  gregorianischen  Katholikos,  sondern  vom  katholi- 
schen Bischof  ausging." 

Ich  habe  erwidert: 

„Warnen  Sie  ohne  Berufung  auf  Auftrag  betreffende  armenische 
Stelle  vor  Treibereien,  die  nur  geeignet  wären,  Sache  der  Armenier 
zu  schaden.  Ihres  Wissens  bestände  keine  Möglichkeit,  armenische 
Frage  vor  Friedensschluß  zu  behandeln.  Unbedachte  Schritte  könnten 
nur  die  Mächte  verstimmen,  welche  selbstloses  Interesse  an  Sache 
der  Armenier  nähmen.  Incidenter  erwähnen  Sie,  daß  demnächst 
,Goeben'  in  Mersina  erscheinen  wird." 

Wangen  heim 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  ; 

2  Ist  also  von   Frankreich  vorgeschl[a]gen  hinter  unserem   Rücken!   Daher  die 
Warnung  Milne's!* 

3  von   Russland  und  Frankreich  angestiftet! 

Nr.  15  297 
Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  108  Rom,  den  17.  April  1913 

Nach  Meldung  italienischen  Botschafters  in  Konstantinopel**  hat 
Großwesir  geäußert,  bei  Fortdauer  der  Unruhen  in  Syrien  werde  er 
gezwungen  sein,  Kriegsschiffe  der  Mächte  im  Mittelmeer  herbeizu- 
rufen. Marquis  di  San  Giuliano  fürchtet,  daß  Frankreich  dabei  mit 
Rücksicht  auf  „bevorzugte  Stellung"  in  Syrien  Komplikationen  hervor- 
rufen könne. 

Flotow 

Nr.   15  298 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  vonW  angenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  229  Konstantinopel,  den  20.  April  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  134***. 

Meldung  Marquis  Garronis  in  dieser  Form  unrichtig.  Großwesir 
hatte  nur  vertraulich  Wunsch  geäußert,  daß  zur  Kontrolle  der  Fran- 


*  Vgl.  Nr.  15  289. 

**  Marquis  Garroni. 

***  Durch  Telegramm  Nr.  134  vom  18.  April  war  das  Telegramm  aus  Rom  vom 

17.  April   (siehe  Nr.   15  297)   nach   Konstantinopel  mitgeteilt  worden. 

29 


zosen  gelegentlich  Schiff  Dreibunds  in  Syrien  erscheine.  Verhalten 
Italiens  verdient  einige  Aufmerksamkeit.  Marquis  Garroni  hatte  mir 
kürzlich  gesagt,  Italien  müßte,  um  Kleinasien  schützen  zu  können, 
sich  irgendwo  an  der  kleinasiatischen  Küste  solidere  Interessen 
schaffen. 

Wangenheim 


Nr.   15  299 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Konzept  * 
Nr.  369  Berlin,  den  22.  April  1913 

Auf  den  Bericht  Nr.  58  vom  24.  Februar  d.  Js.** 

Ew.  pp.  und  dem  Großwesir  kann  ich  nur  darin  beipflichten, 
daß  es  nach  dem  Zusammenbruch  der  europäischen  Türkei  eine 
wichtige  Aufgabe  der  türkischen  Regierung  sein  wird,  das  arme- 
nische Element  durch  wirksame  Reformen  und  Heranziehung  zur 
lokalen  Verwaltung  für  die  praktische  Mitarbeit  am  Wiederaufbau 
des  Reiches  in  Asien  zu  gewinnen.  Da  uns  die  Erhaltung  und  Kon- 
solidierung der  asiatischen  Türkei  ebenso  am  Herzen  liegt  wie  den 
Machthabern  am  Goldenen  Hörn,  erheischt  es  unser  eigenstes  In- 
teresse, der  Pforte  bei  der  Erfüllung  dieser  Aufgabe  behilflich  zu 
sein.  Das  Recht  und  die  Pflicht  hierzu  gibt  uns  Artikel  61  des  Ber- 
liner Vertrags,  der  die  Pforte  zur  Einführung  von  Reformen  in  den 
armenischen  Provinzen  anhält  und  den  Mächten  ein  Überwachungsrecht 
einräumt. 

Getreu  unserer  bisherigen  Politik  werden  wir  es  uns  indessen 
versagen  müssen,  in  der  armenischen  Frage  die  Führung  zu  er- 
greifen. Wir  würden  hierdurch  das  Mißtrauen  der  Ententemächte 
erregen  und  uns  in  Gegensatz  zu  Rußland  bringen,  ohne  der  arme- 
nischen Sache  zu  nützen.  Gemeinsam  mit  den  übrigen  Mäch- 
ten*** werden  wir  der  türkischen  Regierung  bei  der  Ausarbeitung  des 


*  Das  Konzept  beruhte  auf  einer  bereits  am  5.  März  niedergeschriebenen  Auf- 
zeichnung des  Unterstaatssekretärs   Zimmermann. 
**  Siehe  Nr.   15  287. 

***  Man  wäre  deutscherseits  gern  bereit  gewesen,  in  der  armenischen  Frage 
gerade  auch  mit  Frankreich  zusammenzugehen.  Als  Anfang  April  der  Außen- 
minister Pichon  den  Wunsch  zu  erkennen  gab,  mit  Botschafter  Freiherrn  von 
Schoen  über  die  Balkanfragen  eingehend  zu  sprechen,  wurde  er  bezüglich  der 
armenischen  Frage  am  2.  April  durch  Telegramm  Nr.  98  dahin  instruiert: 
„Sollte   Herr   Pichon    armenische    Frage   anschneiden,    bitte   zu    sagen,    daß   wir 

30 


Reformprojekts  gern  mit  Rat  und  Tat  zur  Seite  stehen,  auf  eine  be- 
sondere Beraterrolle  werden  wir  im  allgemeinen  besser  verzichten. 

Mit  Ew.  pp.  halte  ich  es  für  erwünscht,  daß  die  Kaiserlichen 
Vertretungen  in  der  Türkei  den  armenischen  Angelegenheiten  dauernd 
ihre  Aufmerksamkeit  schenken  und  der  Kaiserlichen  Botschaft  über 
alle  Wahrnehmungen  fortlaufend  berichten.  Dagegen  würde  es  mir 
bedenklich  erscheinen,  unsere  Konsuln  mit  der  Wahrnehmung  und 
dem  Schutz  armenischer  Interessen  zu  betrauen.  Denn  die  Übernahme 
eines  derartigen  Patronats  birgt  die  Gefahr,  daß  wir  uns  zwischen 
zwei  Stühle  setzen  und  das  Gegenteil  der  beabsichtigten  Wirkung  er- 
zielen: die  Türkei  würde  sich  versucht  fühlen,  uns  für  die  Sünden  der 
radikalen  armenischen  Elemente  verantwortlich  zu  machen,  während 
unsere  Schutzbefohlenen  geneigt  sein  würden,  es  uns  entgelten  zu 
lassen,  wenn  wir  in  Konstantinopel  ihre  oft  utopischen  Prätentionen 
nicht  durchsetzen. 

Auch  bei  der  Beeinflussung  unserer  Presse  zugunsten  der  arme- 
nischen Bewegung  dürfte  Vorsicht  geboten  sein. 

Der  Ausbau  des  deutschen  Schulwesens  in  Anatolien  und  die 
Vermehrung  unserer  Konsulate  daselbst  erscheint  dagegen  auch  mir 
erwünscht.  Von  meiner  Bereitwilligkeit,  der  Gründung  einer  Schule 
in  Adana  näherzutreten,  sind  Ew.  pp.  anderweit  unterrichtet.  Vor- 
schlägen über  eventuelle  weitere  Schulgründungen  werde  ich  gern  ent- 
gegensehen. Hierbei  wird  bei  der  Beschränktheit  unserer  Mittel  die 
Bedürfnis-  und  Kostenfrage  natürlich  eine  sorgfältige  Prüfung  und  Be- 
rücksichtigung erfordern.  Mit  der  Einrichtung  einer  konsularischen  Ver- 
tretung in  Erserum  bin  ich  grundsätzlich  gleichfalls  einverstanden.  Auch 
wäre  ich  nicht  abgeneigt,  die  Neuschaffung  eines  weiteren  Konsulats  in 
Anatolien  ins  Auge  zu  fassen.  Wegen  des  dafür  in  Aussicht  zu  nehmen- 
den Ortes  darf  ich  einem  baldgefälligen  Vorschlage  Euerer  Exzellenz 
ergebenst  entgegensehen. 

J  agow 


keine  Interessen  in  Armenien  hätten,  eventuelles  einseitiges  Vorgehen  Rußlands 
aber  nicht  dulden  könnten,  da  hierdurch  Frage  der  asiatischen  Türkei  aufgerollt 
werden  könnte.  Statut  für  Armenien  dürfte  nur  international  geregelt  werden.  — 
Wir  hoffen,  daß  Frankreich  ebenso  wie  wir  allen  Einfluß  aufbietet,  um  asia- 
tischen Bestand  der  Türkei  zu  erhalten,  und  sind  auf  Basis  obiger  Gesichtspunkte 
zu  Zusammenwirken  mit  Pariser  Kabinett  stets  gern  bereit."  Vgl.  Bd.  XXXIV, 
Kap.  CCLXXI,  Nr.  13  064.  Nach  Freiherrn  von  Schoens  Antwort  vom  gleichen 
Tage  (daselbst  Nr.  13  072)  war  Pichon  ebenso  wie  die  deutsche  Regierung 
gegen  die  Anschneidung  der  armenischen  Frage.  Pichons  Vorgänger  Jonnart 
hatte  sich  allerdings  erst  wenige  Wochen  vorher  zu  Iswolski  im  gegenteiligen 
Sinne  geäußert:  die  Mächte  müßten  unbedingt,  wenn  sie  gefährlichen  Verwick- 
lungen in  Kleinasien  zuvorkommen  wollten,  die  augenblickliche  Lage  ausnutzen, 
um  die  Bestimmungen  des  Berliner  Vertrags  und  die  Pläne  von  1895  zu  ver- 
wirklichen. Iswolsky  an  Sasonow,  13.  März  1913,  Der  Diplomatische  Schrift- 
wechsel  Iswolskis    1911—1914,    ed.    Fr.    Stieve,    III,    92. 

31 


Nr.  15  300 

Der Botschafter  in  Konstantino pcl  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  233  Konstantinopel,    den    21.  April    1913 

[pr.  22.  April] 

Großwesir  teilte  mir  streng  vertraulich  mit,  daß  er  die  englische 
Regierung  um  Überlassung  von  Gendarmerieoffizieren  für  Ostana- 
tolien,  von  acht  Beiräten  für  die  demnächst  einzurichtenden,  aus  ver- 
schiedenen Wilajets  bestehenden  Verwaltungsbezirke  in  Ost-  und  Nord- 
anatolien  ersucht  habe.  Aus  der  Antwort  der  englischen  Regierung 
sei  zu  erkennen,  daß  diese  geneigt  sei,  auf  das  türkische  Anliegen 
einzugehen.  Hauptsache  ist,  meinte  der  Großwesir,  daß  Rußland 
nichts  erfährt. 

Wangenheim 

Nr.  15  301 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 
Nr.  138  Berlin,  den  23.  April  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  233*. 

Gegen  englische  Gendarmerieoffiziere  und  Beiräte  in  Ost-  und 
Nordanatolien  haben  wir  nichts  einzuwenden.  Für  Fall  Verwirk- 
lichung des  Plans  würden  wir  aber  erwarten,  daß  uns  in  West- 
anatolien  analoge  Vertrauensstellung  eingeräumt  wird.  Euerer  Exzel- 
lenz stelle   ich    entsprechende   Andeutung  bei   Großwesir   anheim. 

Jagow 

Nr.  15  302 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  255  Konstantinopel,   den   7.  Mai   1913 

Armenischer  Patriarch  ließ  mir  durch  Beamten  Dank  aussprechen 
für  Entsendung  deutscher  Kriegsschiffe  nach  Cilicien**,  wodurch  wahr- 


*  Siehe  Nr.    15  300. 

**  Am   4.   Mai  war  S.  M.   S.   „Goeben"   mit   dem   Chef  der  Mittelmeerdivision 

Konteradmiral  Trummler  an  Bord  auf  einer  ihrer  wiederholten  Rundfahrten  in 

32 


scheinlich  ernstere  Ruhestörungen  in  Adana  verhütet  worden  seien. 
Er  hoffe,  daß  auch  späterhin  recht  häufig  deutsche  Schiffe  in  Mersina 
und  Alexandretta  erscheinen  würden,  und  daß  Deutschland  in  irgend- 
einer Weise  an  dem  Reformwerk  in  Cilicien  beteiligt  werde. 

Wangenheim 

Nr.  15  303 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  269  Konstantinopel,  den  17.  Mai  1913 

Vertraulich 

Unter  Bezugnahme  auf  Erlasse  Nr.  437  und  438*. 

Nachdem  ich  Großwesir  die  Entwicklung  der  Inselfrage  und 
unseren  Standpunkt  dazu**  auseinandergesetzt  hatte,  zeigte  mir  Mah- 
mud Schewket  ein  vorgestriges  Telegramm  Nabi  Beys  ***  etwa  fol- 
genden Wortlauts: 

„Obwohl  Marquis  di  San  Giuliano  mir  fortwährend  versichert, 
daß  Italien  mit  seinen  Bundesgenossen  für  das  Verbleiben  der  Inseln 
bei  der  Türkei  eintreten  werde,  fällt  es  mir  auf,  daß  der  Minister  immer 
wieder  betont,  daß  England  die  Inseln  an  Griechenland  geben  wolle. 
Aus  anderen  sicheren  Quellen  und  von  meinen  Kollegen  erfahre  ich 
vertraulich,  daß  Italien  die  Inseln  als  Kompensation  für  eine  Aus- 
dehnung der  albanischen  Grenze  nach  Süden  Griechenland  überlassen 
will.  Infolgedessen  ist  anzunehmen,  daß  der  Dreibund  seine  türken- 
freundliche Haltung  in  der  Frage  ändern  wird  oder  schon  geändert 
hat.   England  allein  kann  uns  die  Inseln  noch  retten." 

Auf  dieses  Telegramm  hin  hat  Großwesir  Tewfik  Pascha  tele- 
graphisch ersucht,  unter  Berufung  auf  den  Zypernvertrag  die  eng- 
lische Regierung  um  Instrukteure,  wie  sie  bereits  für  Ost-  und  Nord- 
anatolien  von  England  bewilligt  seien,  auch  für  Westen  und  Süden 
zu  bitten.  Seinen  Entschluß  motivierte  Mahmud  Schewket  folgender- 
maßen: England  gebe  als  Grund  seiner  Abneigung  gegen  die  Rück- 
gabe der  Inseln  an  die  Türkei  die  Besorgnis  .  .  .  f  daß  die  Türken  an 


Mersina  angelangt,  wo  sie  bis  10.  Mai  vor  Anker  ging.   Zu  gleicher  Zeit  weilten 
dort  die  beiden   Kleinen  Kreuzer  S.  M.  S.  „Straßburg"   und  S.  M.  S.  „Geier". 
*  Erlaß  Nr.  437  vom   12.  Mai  gab  den  Erlaß  nach  Rom  Nr.  607  vom  gleichen 
Tage    (siehe    Bd.   XXXIV,    Kap.   CCLXXII,   Nr.    13  293   nebst    Fußnote*)    nach 
Konstantinopel;    den    Erlaß    Nr.    438    vom    12.    Mai   siehe    Bd.    XXXIV,    Kap. 
CCLXXII,    Nr.    13  294.    Beide   Erlasse    betreffen    das    Schicksal   der    Ägäischen 
Inseln,  die   sogenannte   Inselfrage. 
*•  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXXII. 
***  Türkischer  Botschafter  in  Rom. 
f  Zifferngruppe  fehlt. 

3    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  33 


den  Insulanern  Rache  nehmen  könnten.  In  Wirklichkeit  aber  rechne 
...  *  mit  dem  Untergang  der  asiatischen  Türkei  und  wolle  die  Inseln 
unter  griechischer  Obhut  wissen,  damit  sie  nicht  später  von  einer 
Großmacht  reklamiert  würden. 

Die  Inseln  gehörten  administrativ  zu  Anatolien.  Wenn  England 
dort  überall  und  also  auch  auf  den  Inseln  Verwaltungsbeamte  und 
Gendarmen  unterhalte,  so  könne  es  nicht  nur  Massakers  verhindern, 
sondern  werde  sich  auch  sehr  bald  von  der  Ehrlichkeit  der  türkischen 
Reformbestrebungen  überzeugen.  Es  werde  dann  den  Untergang  der 
Türkei  aus  seinen  Berechnungen  streichen  und  sich  demgemäß  auch 
mit  der  Fortdauer  der  türkischen  Herrschaft  auf  den  Inseln  abfinden. 

England  soll  also  durch  das  Anerbieten  einer  Kontrolle  über 
unser  anatolisches  Arbeitsfeld  zu  einer  Schwenkung  in  der  Inselfrage 
gebracht  werden.  Wenn  der  Großwesir  auch  hinzufügte,  daß  die 
Engländer  hauptsächlich  dahin  geschickt  werden  würden,  wo  Reibungen 
mit  griechischen  Armeniern  zu  erwarten  seien,  so  bezeichnete  er 
andererseits  Konia,  Adana  und  Mersina  als  solche  bedrohten  Örtlich- 
keiten. 

Ich  habe  Mahmud  Schewket  erwidert,  sein  Ersuchen  an  England 
überrasche  mich,  nachdem  ich  ihm  erst  kürzlich  mitgeteilt,  die  Kaiser- 
liche Regierung  erwarte,  daß  in  Westanatolien  Deutschland  mit  den 
Verwaltungsreformen  betraut  werde.  Die  Berufung  von  Engländern 
in  das  Gebiet  der  Bagdadbahn  werde  bei  uns  den  allerschlechtesten 
Eindruck  machen  und  als  ein  Sieg  Englands  über  Deutschland  gedeutet 
werden.  Damit  wäre  der  Ausgleich  zwischen  England  und  Deutsch- 
land, als  dessen  Vermittler  er  sich  bisher  bekannt  und  betätigt  habe, 
in  Frage  gestellt,  wenn  nicht  ganz  vereitelt.  Eine  Verschärfung  des 
deutsch-englischen  Gegensatzes  müsse,  wie  er  ja  selbst  erkannt  habe, 
die  Türkei  zugrunde  richten.  Ganz  undenkbar  sei  es,  die  deutsche 
Bahnverwaltung  in  allen  administrativen  Fragen  an  englische  Beamte 
zu  verweisen. 

Mahmud  Schewket  entgegnete,  er  halte  an  dem  Gedanken  fest, 
daß  die  Türkei  nur  durch  ein  harmonisches  Zusammenarbeiten  Eng- 
lands, Deutschlands  Erfolg  .  .  .  *  könne.  Er  sei  jetzt  fest  entschlossen, 
alle  anderen  Mächte  von  dem  Reformwerk  auszuschließen.  Nur  die 
französischen  Reformer  im  Finanzministerium  sollten  bleiben.  Uns  sei 
die  Reform  der  Armee  unter  der  fast  diktatorischen  Oberleitung  eines 
deutschen  Generals  zugedacht  und  ebenso  die  Reorganisation  des 
gesamten  Unterrichtswesens**.  Der  Einfluß,  der  uns  dadurch  ein- 
geräumt werde,  sei  bedeutend  größer  als  der  etwaige  englische.  Er 
werde  mit  Detailanträgen  an  uns  herantreten,  sobald  die  Demobili- 
sierung vollendet  sei. 

*  Zifferngruppe    fehlt. 
**  Vgl.  dazu  Kap.  CCXC. 

34 


Großwesir  sagte  mir  schließlich  zu,  daß  das  Resultat  der  Ver- 
handlungen mit  England  über  die  Reformer  nicht  eher  veröffentlicht 
werden  würde  als  die  Abmachung  mit  uns  wegen  Armee  und  Unter- 
richt. 

Euerer  Exzellenz  Entscheidung  darf  ich  anheimstellen,  ob  ich 
gegen  die  Bevorzugung  Englands  zum  Nachteil  der  Bagdadbahn  hier 
formell  Protest  einlegen  soll. 

Mahmud  Schewket  bat  mich,  sich  über  die  militärische  NeutraÜ- 
sierung  der  Inseln  erst  nach  Eintreffen  der  englischen  Antwort  äußern 
zu  dürfen. 

Wangenheim 

Nr.  15  304 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept 
Nr.  159  Berlin,  den   19.  Mai   1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  269*. 

Spekulation  der  Pforte  auf  englischen  Beistand  in  Inselfrage  er- 
scheint illusorisch,  da  England  nicht  nur  Ententefreunden,  sondern  auch 
Dreibund  gegenüber  bereits  Absicht  zu  erkennen  gegeben  hat,  sämt- 
liche Inseln  Griechenland  zu  überlassen.  England  würde  Angebot 
wegen  Instrukteuren  wohl  annehmen,  Großwesir  dagegen  durch  Be- 
rufung englischer  Instrukteure  auch  für  West-  und  Südanatolien 
schwerlich  seinen  Zweck  in  London  erreichen,  durch  Maßnahme  aber 
zweifellos  Sturm  der  Entrüstung  in  Deutschland  hervorrufen  und  uns 
Fortführung  bisheriger  türkenfreundlicher  Politik  unmöglich  machen. 
Bitte  Großwesir  entsprechend  verständigen  und  Antwort  drahten. 

J  ago  w 

Nr.  15  305 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  274  Konstantinopel,   den    20.  Mai    1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  159**. 

Auf  meine  Vorhaltung  erwiderte  mir  Großwesir,  der  Entschluß, 

*  Siehe  Nr.   15  303. 
**  Siehe  Nr.   15  304. 

3*  35 


Engländer  für  Westen  und  Süden  zu  berufen,  sei  durch  Inselfrage 
zwar  aktuell  geworden,  beruhe  aber  auf  einer  allgemeinen  Entschei- 
dung, welche  der  Ministerrat  aus  Gründen  der  höheren  Politik  schon 
vor  längerer  Zeit  gefaßt  habe.  Ursprünglich  seien  die  Meinungen  der 
Minister  geteilt  gewesen.  Die  einen  hätten  überhaupt  keine  fremden 
Reformer  mehr  haben  wollen,  während  die  anderen  eine  regionali- 
stische  Verteilung  des  Reformwerks  an  sämtliche  Großmächte  ge- 
wünscht hätten.  Licht  in  die  Frage  sei  erst  durch  einen  Bericht  Tewfik 
Paschas  gebracht  worden,  der  vor  der  Schaffung  von  Interessen- 
sphären gewarnt  und  den  Grundsatz  aufgestellt  habe,  daß  das  Reform- 
werk nur  durch  England  und  Deutschland  geleitet  werden  dürfe. 
Diese  Mächte  seien  die  einzigen,  welche  an  dem  Fortbestehen  der 
Türkei  ein  eigenes  Interesse  hätten.  Durch  die  gemeinsame  Arbeit 
würden  England  und  Deutschland  zusammengeführt,  was  die  Türkei 
vor  allen  späteren  Gefahren  schützen  werde.  England  müsse  mit 
den  Reformen  des  Zivildienstes,  Deutschland  mit  denen  des  Heeres 
betraut  werden.  Er,  der  Großwesir,  habe  sich  die  Gedanken  Tewfiks 
zu  eigen  gemacht  und  auch  seine  Kollegen  dafür  gewonnen.  Letztere 
hätten  sofort  englische  Instrukteure  für  die  gesamte  Türkei  verlangt. 
Er  habe  aber  nur  langsam  vorgehen  wollen  und  deshalb  zunächst;  nur 
für  Ostanatolien  Reformer  beantragt.  Die  englische  Regierung  sei 
auf  seinen  Wunsch  nur  zögernd  eingegangen.  Zu  dem  jetzt  gestellten 
Antrag  wegen  des  Westens  und  des  Südens  habe  Sir  E.  Grey  sich  da- 
gegen sehr  erfreut  geäußert  und  bemerkt,  das  frühere  Ersuchen 
habe  ihn  in  Verlegenheit  Rußland  gegenüber  versetzt.  Die  Ausdeh- 
nung des  Mandats  auf  andere  Gebiete  Kleinasiens  erleichtere  ihm 
seine  Aufgabe  und  beweise  gleichzeitig,  daß  die  Türkei  nicht  einen 
politischen  Schachzug,  sondern  wirkliche  Reformen  beabsichtige.  Groß- 
wesir glaubt  nicht,  daß  die  Engländer  besonderen  Wert  auf  die  Kon- 
trolle des  Bagdadgebiets  legen.  Er  habe  nicht  an  die  Möglichkeit  ge- 
glaubt, daß  die  deutsche  öffentliche  Meinung  über  Zivilreformer  sich 
aufregen  könne,  wenn  überall  an  der  Seite  der  Engländer  Deutsche 
als  Reformer  erschienen.  Nach  türkischer  Auffassung  sei  die  Armee  der 
ausschlaggebende  Faktor  im  Staat.  Er  bedaure  jetzt,  mich  nicht  früher 
zu  Rate  gezogen  zu  haben.  Er  werde  selbstverständlich  unserem  Be- 
denken so  weit  als  nur  irgend  möglich  Rechnung  tragen  und  sofort 
an  Tewfik  telegraphieren,  damit  dieser  anstatt  für  Angora,  Konia 
und  Adana  Reformer  für  Smyrna,  Brussa,  Konstantinopel  und  Ka- 
stamuni  beantrage,  wo  eine  Kollision  zwischen  englischer  Kontrolle 
und  deutschen  Interessen  vollständig  ausgeschlossen  sei. 

Die  von  mir  geäußerte  Besorgnis,  daß  er  sich  etwas  zu  weit 
mit  den  Engländern  zum  Nachteil  Deutschlands  eingelassen  habe,  wies 
Mahmud  Schewket  lebhaft  von  sich.  Er  werde  immer  mehr  deutsch 
als  englisch  fühlen.  Deutschland  allein  könne  aber  der  Türkei  ebenso- 
wenig helfen  wie  England  allein. 

36 


Großwesir  berührte  im  Gespräch  die  Inselfrage  nur  obenhin.  Viel- 
leicht ist  ihm  von  London  aus  schon  abgewinkt  worden. 

Wangenheim 

Nr.  15  306 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  275  Konstantinopel,  den  20.  Mai  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  274*. 

Es  werden  im  Osten  zwei,  im  Westen  eine  Generalinspektion  ge- 
bildet. Diesen  sind  je  vier  Inspektionen  untergeordnet  für  Justiz,  Gen- 
darmerie, öffentliche  Arbeiten  und  Inneres.  Generalinspekteuren  und 
Inspekteuren  wird  je  ein  englischer  Berater  beigegeben.  Infolge 
unseres  Einspruchs  muß  die  Pforte  es  unterlassen,  in  gewisse  Zentren 
der  armenischen  Bewegung  zum  Beispiel  nach  Adana,  Reformer  zu 
schicken,  worüber  Armenier  sich  beklagen  werden.  Nichtenglische 
Zivilreformer  kann  die  Regierung  nicht  verwenden,  weil  sonst  sofort 
Rußland  für  Ostanatolien  und  Frankreich  für  Syrien  eigene  Instruk- 
teure beantragen  würden. 

Wangen  heim 

Nr.  15  307 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.     Konzept   von    der    Hand   des    Vortragenden    Rats   von    Rosenberg 
Nr.  163  Berlin,  den  22.  Mai  1913 

Antwort  auf  Telegramme  Nr.  274,  275  **. 

Zur  Verwertung  bei  Großwesir. 

Dadurch,  daß  unser  Arbeitsfeld  überhaupt  keine  Reformer  erhält, 
ist  weder  deutschen  noch  türkischen  Interessen  gedient.  Natürliche 
Lösung  wäre,  daß  uns  im  Gebiet  der  Bagdadbahn  gleiche  Stellung 
eingeräumt  wird  wie  Engländern  in  übrigen  Wilajets.  Erscheint  dies 
Pforte  nicht  durchführbar,  so  müßten  wir  neben  bereits  zugesagter 
Mitwirkung  in  Armee  und  Unterrichtswesen  mindestens  noch  Be- 
teiligung bei  öffentlichen  Arbeiten  verlangen.  Dementsprechend  würden 


*  Siehe   Nr.    15  305. 

•*  Siehe  Nr.   15  305  und   15  306. 


37 


allen  Inspektionen  englische  Berater  für  Justiz,  Gendarmerie  und 
Inneres,  deutsche  Berater  für  Armee,  Unterricht  und  öffentliche  Arbeiten 
beizugeben  —  also  je  drei  —  und  Beraterstellen  bei  General- 
inspektionen unter  Deutschland  und  England  zu  teilen  sein. 

Jagow 

Nr.  15  308 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  157  Pera,   den  20.  Mai  1913 

[pr.  23.  Mai] 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  in  der  Anlage  ein  Telegramm 
des   Kaiserlichen  Vizekonsulats   in  Mosul  vorzulegen  *. 

Die  darin  angegebene  Zahl  von  150  000  bewaffneten  Kurden  ist 
natürlich  eine  der  üblichen,  ins  Vielfache  gehenden  orientalischen 
Übertreibungen. 

Beachtung  verdient  die  Nachricht  aber  doch,  da  frühere  Erfah- 
rungen lehren,  daß  die  Kurdenhäuptlinge  häufig  sehr  offen  und  naiv 
ihre  Pläne  ausplaudern.  Wir  müßten  also  damit  rechnen,  daß  trotz 
der  loyalen  Versicherungen,  welche  uns  aus  Petersburg  zugehen,  die 
russischen  Behörden  im  Kaukasus  und  Nordwestpersien  planmäßig 
an  einer  Lostrennung  Ostanatoliens  von  der  Türkei  arbeiten.  Eine  Be- 
stätigung dieser  Auffassung  erhielt  ich  durch  ein  Mitglied  des  Ver- 
waltungsrats des  armenischen  Patriarchats,  welcher  mir  vor  einigen 
Tagen  mitteilte,  Rußland  arbeite  in  Ostanatolien  an  einer  Versöhnung 
der  Armenier  und  Kurden  analog  der  unter  russischer  Ägide  erfolgten 
Verständigung  zwischen  Griechen,  Serben  und  Bulgaren  über  Maze- 
donien. Eine  von  Rußland  protegierte  Versöhnung  zwischen  Kurden 
und  Armeniern  könne  natürlich  nur  gegen  die  Türkei  gerichtet  sein. 
Sobald  sie  zustande  gekommen  wäre,  solle  die  Autonomie  Ost- 
anatoliens erklärt  werden. 

Die  Kurden  verständen  die  Sache  aber  vorläufig  falsch  und  sähen 
in  den  russischen  Bemühungen  mehr  eine  Ermunterung  zu  Armenier- 
massakers, ohne  die  ihnen  eine  politische  oder  kriegerische  Aktion  un- 
denkbar erscheine. 

Wangenh  eim 


*  In  dem  Telegramm  vom  17.  Mai  berichtete  der  Konsul  Holstein  über  ein 
Gespräch  mit  Hassan  Bey,  einem  einflußreichen  Mitgliede  der  Familie  Bederhan, 
wonach  Rußland  die  Autonomiebestrebungen  der  Bederhans  durch  Waffen- 
schmuggel und  Geldmittel  gegen  Zusicherung  wirtschaftlicher  Vorteile  in  dem 
zu  separierenden  Gebiet  unterstützt  habe,  so  daß  der  Aufstand  der  Botan- 
Kurden  in  spätestens  einem  Monat  ausbrechen  könne. 

38 


Nr.  15  309 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  284  Konstantinopel,  den  23.  Mai  1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  163*. 

Mandat  an  England  beruht  auf  Zypernvertrag**.  Eintreten 
Deutschlands  in  dieses  Mandat  würde  dessen  Charakter  verändern 
und  Forderung  russischer  und  französischer  Beteiligung  zur  Folge 
haben,  wodurch  Interessensphären  entständen  und  Untergang  der 
Türkei  vorbereitet  würde.  Hier  erscheint  als  möglicher  Ausweg,  daß 
Pforte  sich  an  England  und  Deutschland  als  die  auf  Grund  Zypern- 
vertrags und  militärischen  Traditionen  am  meisten  an  dem  Fort- 
bestehen der  Türkei  interessierten  Mächte  mit  der  Bitte  wendet,  die 
Reformen  gemeinschaftlich  in  die  Hand  zu  nehmen  und  sich  über  die 
Teilung  der  Arbeiten  zu  verständigen. 

Wangenheim 


Nr.  15  310 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 
Nr.  168  Berlin,  den  25.  Mai  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  284  ***. 

Zypernvertrag  hindert  Pforte  nicht,  uns  Armee  und  Unterricht, 
Frankreich  Finanzwesen  anzubieten.  Prinzipiell  dürfte  daher  Zuwen- 
dung öffentlicher  Arbeiten  an  Deutschland  nichts  entgegenstehen.  Wir 
wären  jedoch  mit  von  Ew.  pp.  angedeutetem  Ausweg  einverstanden, 
wenn  Pforte  entsprechende  Anregung  gibt. 

Jagow 


*  Siehe  Nr.   15  307. 

**  Der  Zypernvertrag  vom  Jahre  1878  enthielt  unter  anderem  die  Bestimmung: 
„S.  M.  I.  le  Sultan  promet  ä  PAngleterre  d'introduire  les  reformes  necessaires 
(ä  etre   arretees   plus   tard  par    les   deux   Puissances)    ayant  trait   ä   la   bonne 
administration  et  ä  la  protection  des  sujets  chretiens."  Vgl.  Nr.   15  318. 
•*•  Siehe  Nr.  15  309. 


39 


Nr.  15  311 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  286  Konstantinopel,  den  25.  Mai  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  284*. 

Zu  der  Anregung  in  Telegramm  Nr.  163**  meinte  Großwesir, 
aus  der  Tatsache,  daß  England  wider  alles  Erwarten  zur  Entsendung 
von  Instrukteuren  nach  Ostanatolien  sich  bereit  erklärt  habe,  gehe 
hervor,  daß  die  russisch-englische  Entente  sich  nicht  auf  die  Türkei 
erstrecke,  und  daß  England  noch  heute  auf  dem  Boden  des  Zypern- 
vertrags stehe.  Dies  sei  um  so  interessanter,  als  England  nach  wie 
vor  mit  Frankreich  hier  zusammengehen  wolle.  Sir  E.  Grey  habe, 
als  er  Tewfik  Pascha  die  Reformer  zusagte,  hinzugefügt,  daß  in  jedem 
Falle  die  Anzahl  der  französischen  Instrukteure  im  Finanzministerium 
um  zwei  bis  drei  vermehrt  werden  müsse.  Wenn  nunmehr  die  Pforte 
dem  Foreign  Office  eine  deutsche  Beteiligung  an  der  England  über- 
tragenen Aufgabe  vorschlage,  sei  zu  befürchten,  daß  England  miß- 
trauisch werde  und  sich  wieder  zurückziehe,  oder  daß  Rußland  und 
Frankreich    die    gleiche    Beteiligung    verlangten    wie    Deutschland  ***. 


*  Siehe  Nr.    15  309. 
•*  Siehe   Nr.    15  307. 

**•  Tatsächlich  setzten  eben  damals  Erörterungen  und  Verhandlungen  unter  den 
Ententemächten  ein,  die  darauf  abzielten,  die  Dreibundmächte  von  der  Heran- 
ziehung zu  der  Reformtätigkeit  auszuschließen.  Zunächst  verständigten  sich 
Rußland  und  Frankreich  darüber,  daß  die  Ausarbeitung  bestimmter  Vorschläge 
zu  Reformen  in  Kleinasien  den  Botschaftern  von  Rußland,  Frankreich  und  Eng- 
land reserviert  werden  solle.  Geheimtelegramm  Iswolskys  an  Sasonow  vom 
22.  Mai  1913,  Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr. 
Stieve,  III,  160.  Dann  erhob  Rußland,  das  sich  schon  durch  den  türkischen  Vor- 
schlag der  Entsendung  englischer  Instrukteure  nach  dem  kleinasiatischen  Ar- 
menien in  der  von  ihm  beanspruchten  Präponderanz  beeinträchtigt  fühlte,  den  An- 
spruch, bei  den  Reformen  allein,  mindestens  aber  in  erster  Linie  unter  den  Mächten 
der  Tripelentente  berücksichtigt  zu  werden.  In  einem  Telegramm  Sasonows  an  Graf 
Benckendorff  vom  25.  Mai  (a.  a.  O.,  III,  165  f.)  hieß  es:  „Mit  Rücksicht  auf 
die  Stimmung  der  Armenier  stellen  Reformen,  von  Rußland  allein  oder  zusammen 
mit  Frankreich  gewährleistet,  das  einzige  Mittel  dar,  diese  Gegenden  zu  be- 
ruhigen und  die  Gefahr  eines  allgemeinen  Aufstandes  zu  beschwören."  Der  von 
England  aus  geäußerten  Besorgnis,  daß  die  Türkei  sich  wegen  der  Reformen 
an  Deutschland  wenden  könne,  glaubte  Sasonow  durch  einen  gemeinsamen 
Schritt  der  Tripelententemächte  bei  der  Pforte  begegnen  zu  können:  „Was  die 
Besorgnis  anbetrifft,  die  Türkei  könne  sich  an  Deutschland  wenden,  so  scheint 
es  uns,  daß  eine  freimütige  und  herzliche  Aussprache  mit  der  Pforte  ihr  klar- 
machen sollte,  daß  sie  nur  die  Wahl  zwischen  einer  Zusammenarbeit  mit  uns 
auf  Grund  der  Gemeinsamkeit  der  Interessen  oder  einem  Rußland  hätte,  das 
frei  jeglicher  Verpflichtung  und  nur  darauf  bedacht  wäre,  seine  Interessen  in 
dem  den  Umständen  angepaßten  Maße  zu  wahren."    Eine  deutsche  Beteiligung 

40 


Sein  Ideal  sei  die  englisch-deutsche  Kooperation.  Falls  England  und 
Deutschland  sich  über  ein  Reformprogramm  verständigten,  so  werde 
er  dasselbe  freudig  annehmen.  Nur  könne  er  aus  den  erwähnten 
Gründen  keine  Initiative  nach  dieser  Richtung  hin  ergreifen.  Im 
übrigen  verstehe  er,  daß  die  deutsche  öffentliche  Meinung  die  Be- 
rufung der  Engländer  mißverstehen  und  die  Bedeutung  der  Deutsch- 
land übertragenen  ...  *  unterschätzen  könne.  Um  uns  entgegen- 
zukommen, schlage  ich  vor,  vorläufig  erstens,  daß  für  die  Gebiete  der 
Bagdadbahn  keine  englischen  Instrukteure  für  öffentliche  Arbeiten 
berufen  würden,  und  zweitens,  daß  an  verschiedenen  Orten  mit  Aus- 
nahme der  russischen  Grenzgebiete  deutsche  Inspekteure  für  Schul- 
wesen angestellt  würden. 

Aus  den  Ausführungen  Mahmud  Schewkets  entnehme  ich,  daß 
Generalinspekteur  und  Inspekteure  keinen  türkischen  Beamten  neben 
sich  haben  werden  und  nur  als  Kontrolleure,  nicht  als  Exekutivbeamte 
gedacht   sind.    Im   ganzen  sollen    17   Engländer  kommen. 

Wangenheim 


Nr.  15  312 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  159  Pera,  den  21.  Mai  1913 

[pr.  26.  Mai] 

Durch  den  Balkankrieg  ist  die  orientalische  Frage  in  zwei  Teile 
zerlegt  worden,  einen  europäischen  und  einen  asiatischen.  Für  die 
bisherige  europäische  Türkei  lautet  die  Frage  jetzt:  „Wie  wird  sich 
das  Verhältnis  zwischen  den  der  Türkei  substituierten  Balkanstaaten 
gestalten,  und  welche  Rückwirkungen  wird  dieses  Verhältnis  auf  die 
Beziehungen  der  Balkanvölker  zu  den  Großmächten  und  auf  deren 
Beziehungen  untereinander  ausüben ?"  Die  orientalische  Frage,  soweit 
sie  Kleinasien  betrifft,  läßt  sich  in  die  Worte  kleiden:  „Ist  der  übrig- 
gebliebene Teil  der  Türkei  noch  lebensfähig  oder  dem  Untergange 
geweiht?" 


an  der  Reformertätigkeit  wollte  Sasonow  allenfalls  nur  „nach  vorhergehender 
Übereinkunft  mit  Frankreich  und  England"  zulassen,  um  „Widerstände  von 
deutscher  Seite  auszuschalten".  Geheimtelegramm  Sasonows  an  Graf  Bencken- 
dorff  vom  28.  Mai,  a.  a.  O.,  III,  170.  Diese  Haltung  Sasonows  veranlaßte  Sir 
E.  Grey,  die  bereits  ausgesprochene  Bereitwilligkeit  zur  Entsendung  englischer 
Instrukteure  nach  Ostanatolien  wieder  zurückzuziehen.  Vgl.  Nr.  15  314. 
•  Zifferngruppe  unverständlich. 

41 


Die  Welt  war  daran  gewöhnt,  die  asiatische  Türkei  als  ein  Annex 
der  europäischen  Türkei  zu  betrachten.  Da  man  die  Existenz  der 
letzteren  durch  den  österreichisch-russischen  Gegensatz  als  hinläng- 
lich gesichert  erachtete,  so  hielt  man  auch  die  asiatische  Türkei  für 
mehr  oder  weniger  unangreifbar.  Alle  diese  Theorien  sind  nun  durch 
die  Kriegsereignisse  vollkommen  über  den  Haufen  geworfen  worden. 
Die  europäische  Türkei  ist  verschwunden,  und  keine  Macht  wird  den 
zerrissenen  Berliner  Vertrag  wieder  aus  dem  Papierkorbe  hervor- 
holen wollen,  nur  um  behaupten  zu  können,  daß  der  Status  quo  nun 
wenigstens  für  Kleinasien  weiterbestehen  müsse.  Die  kleinasiatische 
Frage  erscheint  daher  als  jungfräuliches  Problem,  das,  losgelöst  von 
den  Traditionen  und  Dogmen  der  bisherigen  Orientpolitik  der  Mächte, 
behandelt  werden  muß.  Günstig  für  die  neue  Türkei  ist  es,  daß  sie 
nur  von  verhältnismäßig  wenigen  nach  Befreiung  von  der  osmanischen 
Herrschaft  strebenden  Angehörigen  fremder  Staaten  bewohnt  ist.  Von 
den  Balkanvölkern  haben  nur  noch  die  Griechen  ethnographische  In- 
teressen in  Kleinasien.  Dieselben  liegen  aber  hauptsächlich  an  der 
Peripherie  des  Landes  und  bedrohen  vielleicht  nicht  ganz  so  ernstlich, 
wie  Mahmud  Schewket  es  annimmt,  die  Existenz  des  türkischen 
Reiches,  besonders  da  die  auf  den  Besitz  Konstantinopels  gerichtete 
griechische  Propaganda  mit  dem  slawischen  Widerstand  zu  rechnen 
hat.  Als  Vorwand  für  Eroberungsgelüste  eines  Staates  dient  aber 
heutzutage  nicht  nur  das  ethnographische  Prinzip.  Eine  Intervention 
kann  schon  damit  begründet  werden,  daß  in  dem  fremden  Lande  Un- 
ruhen herrschen,  welche  die  Ordnung  im  eigenen  Lande  affizieren, 
oder  durch  welche  wirtschaftliche  Werte,  die  von  dem  einen  Lande 
in  dem  anderen  investiert  sind,  gefährdet  werden.  Die  Möglichkeit  der 
Einmischung  besteht  für  Rußland  in  Ostanatolien,  für  Frankreich  in 
Syrien  und  für  England  im  Gebiet  des  Persischen  Golfes  und  in 
Arabien.  Sie  würde  auch  für  uns  theoretisch  im  Gebiete  der  Bagdad- 
bahn bestehen.  Tatsächlich  sucht  Rußland  schon  heute  die  Armenier 
und  Kurden  aufzuwiegeln,  um  sich  den  Vorwand  für  eine  Intervention 
zu  schaffen.  In  Südarabien  benutzt  England  die  Streitereien  zwischen 
den  einzelnen  Stämmen,  um  seinen  Einfluß  langsam  in  der  Richtung 
auf  die  heiligen  Stätten  vorzuschieben.  Überall  zeigen  sich  unter  den 
von  den  Osmanen  beherrschten  Volksstämmen  autonome  und  separati- 
stische Tendenzen,  die  entweder  von  fremden  Mächten  ins  Leben  ge- 
rufen oder  aus  der  Hoffnung  der  Eingeborenen  entstanden  sind,  daß 
sich  irgendeine  fremde  Macht  ihrer  annehmen  möchte.  Ja  selbst 
unter  den  eigentlichen  Türken  gibt  es  heute  schon  viele,  die  an  der 
Zukunft  ihrer  Rasse  verzweifeln  und  eine  fremde  Okkupation  herbei- 
wünschen. Von  dem  türkischen  Volke  ist  der  intelligentere  Teil  von 
tiefer  Depression  erfaßt,  der  andere  in  stumpfe  Gleichgültigkeit  ver- 
sunken. Die  Finanzen  des  Landes  sind  schwer  erschüttert,  die  Steuer- 
lasten unerträglich  geworden.    Die  Armee  ist  demoralisiert,  das  Offi- 

42 


zierkorps  in  sich  politisch  gespalten.  Eine  Beamtenhierarchie  gibt  es 
nicht  mehr.  Seit  der  Einführung  der  Verfassung  halten  sich  alle  Be- 
amten für  gleichberechtigt  und  führen  die  Befehle  der  höheren  Stellen 
nicht  mehr  aus.  Es  gibt  keinen  Padischah  mehr,  welchem  die  Armee 
und  die  Beamten  blind  gehorchten.  Die  Vorzüge  des  hamidischen 
Systems  sind  verschwunden,  seine  Nachteile  dagegen  geblieben  und 
machen  sich  jetzt  doppelt  fühlbar.  An  der  Spitze  der  Regierung  be- 
findet sich  zwar  gegenwärtig  ein  starker  und  intelligenter  Mann.  Hinter 
ihm  steht  das  Komitee,  die  einzige  Partei,  welche  sich  seit  Einführung 
der  Verfassung  einigermaßen  regierungsfähig  erwiesen  hat.  Das  Ko- 
mitee ist  aber  fast  der  einzige  konservative  Faktor,  welchen  man 
gegenüber  den  im  ganzen  Reiche  tätigen  zersetzenden  Faktoren  in 
Berechnung  stellen  könnte.  Ein  einfaches  Subtraktionsexempel  genügt, 
um  das  Urteil  zu  begründen:  Die  asiatische  Türkei  kann  sich 
aus  eigener  Kraft  nicht  mehr  erhalten. 

Daß  die  Katastrophe  dort  wie  in  der  europäischen  Türkei  einige 
Hunderte  von  Jahren  auf  sich  warten  lassen  wird,  ist  kaum  anzu- 
nehmen, nachdem  die  Balkanstaaten  mit  dem  heiligen  Dogma  der 
Integrität  der  Türkei  aufgeräumt  haben.  Die  Dinge  werden  vielmehr, 
wenn  keine  Hilfe  von  außen  kommt,  in  Kleinasien  einen  weit  rascheren 
Lauf  nehmen.  Schon  wenn  Mahmud  Schewket  fallen  sollte,  dürfte 
in  Konstantinopel  eine  vollkommene  Anarchie  eintreten,  die  in  Klein- 
asien zur  Auflösung  führen  würde.  Mahmud  Schewket  aber  kann 
leicht  gestürzt  werden,  wenn  ihm  zugemutet  werden  sollte,  eine 
Kriegsentschädigung  oder  den  Verlust  der  Inseln  vor  dem  Volke  ver- 
treten zu  müssen. 

Bürgerkriege  und  Anarchie  in  der  Türkei  werden  unbedingt  zu 
einer  Intervention  der  Mächte  und  zur  Aufrollung  der  Teilungsfrage 
Veranlassung  geben.  Nun  liegt  es  aber,  wie  ich  bereits  in  einem 
früheren  Berichte  ausführlich  nachzuweisen  versucht  habe,  durchaus 
nicht  im  deutschen  Interesse,  wenn  das  Teilungsproblem  schon  in  der 
nächsten  Zeit  angeschnitten  würde.  Wir  haben  in  der  Türkei  zwar 
immer  nur  wirtschaftliche  Interessen  verfolgt.  Das  deutsche  Volk 
würde  es  aber  nicht  verstehen,  wenn  diese  Interessen  und  die  Werte, 
welche  wir  geschaffen  haben,  unter  die  Kontrolle  anderer,  uns  feindlich 
gesinnter  Mächte  übergingen.  Nicht  das  wirtschaftliche,  sondern  das 
politische  Prestige  Deutschlands  steht  bei  einer  Teilung  Kleinasiens 
auf  dem  Spiele.  Nun  würden  wir  aber  durch  eine  Festsetzung  in  Klein- 
asien zu  einer  Mittelmeermacht  werden.  Wir  müßten,  um  unseren 
neuen  Besitz  an  den  Weltverkehr  anzuschließen,  einen  Hafen  erwerben, 
der  mit  der  Zeit  zu  einem  Flottenstützpunkte  sich  entwickeln  würde. 
Bei  der  gegenwärtigen  Weltlage  wird  England  kaum  bereit  sein, 
uns  die  militärische  Etablierung  in  der  Nähe  Ägyptens  zu  konzedieren. 
Die  Teilung  der  Türkei  könnte  uns  daher  leicht  in  einen  schweren 

43 


Konflikt  mit  England  verwickeln,  den  wir  unter  für  uns  sehr  un- 
günstigen Verhältnissen  auszufechten  hätten.  Ferner  sind  wir  bisher 
nicht  im  geringsten  für  eine  Etablierung  in  Kleinasien  vorbereitet. 
Wir  wissen  noch  nicht  einmal  genau,  wo  wir  uns  eigentlich  festsetzen 
sollten.  Rußland,  Frankreich  und  England  haben  ausgesprochene  Inter- 
essensphären. Unsere  Interessen  laufen  längs  der  Bagdadbahn  und 
durchziehen  ganz  Kleinasien.  Sie  sind  aber  in  Wirklichkeit  mehr 
kapitalistischer  als  reeller  Natur.  Was  wir  an  Schulen,  Ordensnieder- 
lassungen etc.  in  der  Türkei  besitzen,  kann  sich  nicht  mit  dem  ver- 
gleichen, was  Frankreich,  Rußland  und  England  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte sich  hier  an  bodenständigen  Werten  geschaffen  haben,  und 
liegt  außerdem  in  Gebieten,  die  zum  großen  Teil  einmal  anderen 
Ländern  zufallen  müssen.  Unsererseits  ist  vieles  nachzuholen,  und 
dazu  brauchen  wir  eine  lange  Zeit  emsigster  Arbeit.  Das  Ziel  unserer 
Politik  kann  daher  nur  sein,  die  Auflösung  der  Türkei  so  lange  als  nur 
möglich,  wenigstens  aber  vorläufig  aufzuhalten. 

Hierzu  gibt  es  nur  ein  einziges  Mittel,  die  Reorganisation 
der  Türkei  durch  fremde  Mächte,  welche  gleichzeitig  eine 
Garantie  für  den  kleinasiatischen  Status  quo  für  einen  längeren  Zeit- 
raum, wenn  nicht  vertragsmäßig,  so  doch  durch  ihr  Prestige  über- 
nehmen. Die  bloße  Berufung  von  Reformern  mit  beratender  Stimme 
würde  in  keiner  Weise  ausreichen.  Es  handelt  sich  vielmehr  um  die 
Einführung  einer  wirklichen  Kontrolle  der  staatlichen  Funktionen  durch 
fremde  Beamte  und  Militärs,  deren  Anordnungen  verbindlich  sind  für 
die  nachstehenden  Stellen  und  Personen.  Je  mehr  sich  ein  solches 
Regime  dem  ägyptischen  nähern  würde,  um  so  besser  wäre  es  für  die 
Türkei.  Am  durchgreifendsten  würde  die  fremde  Kontrolle  sein,  wenn 
sie  von  einer  einzigen  Macht  ausgeübt  würde.  Es  gibt  hier  eine  ganze 
Gruppe  von  Leuten,  welche  die  Türkei  vollständig  unter  die  Leitung 
deutscher  Instrukteure  mit  weitgehendsten  Machtbefugnissen  stellen 
möchten.  Ein  großer  Teil  des  Offizierkorps,  einflußreiche  Männer  wie 
Munir  Pascha*  und  angeblich  auch  der  gegenwärtige  Minister  des 
Auswärtigen  **  sind  für  die  Idee  gewonnen.  Dieselbe  ist  natürlich 
unausführbar,  da  die  deutsche  Reformtätigkeit  auf  den  Widerstand 
sämtlicher  anderen  Mächte  stoßen  würde.  Ebensowenig  wie  Deutsch- 
land würden  Frankreich  oder  England  allein  die  Reorganisation  durch- 


*  Auf  Munir  Pascha,  den  ehemaligen  türkischen  Botschafter  in  Paris,  wäre 
nach  einem  Bericht  des  Österreich-ungarischen  Militärattaches  in  Konstantinopel 
Oberst  Pomiankowski  vom  28.  Januar  (Feldmarschall  Conrad,  Aus  meiner 
Dienstzeit,  III,  40)  der  grundlegende  Gedanke  zurückzuführen,  durch  die  Drei- 
bundmächte eine  Reorganisation  des  ganzen  türkischen  Staatswesens  in  die  Hand 
nehmen  zu  lassen  und  speziell  zur  Reorganisation  des  Heerwesens  einen  deut- 
schen Kommandierenden  General  mit  entsprechendem  Stab  nach  Konstantinopel 
zu  berufen.  Vgl.  dazu  Kap.  CCXC,  Nr.  15  435,  Fußnote*. 
**  Said  Halim  Pascha. 

44 


führen  können.  Die  Übertragung  des  Reformwerkes  an  sämtliche 
Mächte  aber  würde  der  Erneuerung  des  Berliner  Vertrages  gleich- 
kommen. Unter  dem  Schutze  der  neuen  Vereinbarung  würde  jede 
Macht  ihren  Sonderbestrebungen  nachhängen  und,  wenn  der  geeignete 
Zeitpunkt  gekommen  ist,  rücksichtslos  das  Prinzip  der  Integrität  der 
Türkei  zu  ihren  Gunsten  umwerfen  in  dem  sicheren  Gefühle,  daß  der 
Bruch  der  internationalen  Abmachungen  nach  modernen  völkerrecht- 
lichen Anschauungen  die  Mitkontrahenten  keineswegs  verpflichtet, 
ihrerseits  zum  Schwerte  zu  greifen.  Eine  Wiederbelebung  des  Berliner 
Vertrages  würde  aber  nicht  viel  mehr  bedeuten  als  die  internationale 
Besiegelung  der  Überzeugung,  daß  die  Türkei  zum  Untergange  ver- 
urteilt ist.  Das  Reformwerk  und  damit  die  vorläufige  Rettung  der 
Türkei  kann  deshalb  nur  durch  den  ehrlichen  Zusammenschluß  der- 
jenigen Mächte  erfolgen,  welche  an  dem  Fortbestehen  der  Türkei  ein 
wirkliches  Interesse  haben.  Rußland  scheidet  von  vornherein  aus,  da 
die  Eroberung  von  Konstantinopel  das  Endziel  seiner  Politik  ist. 
Frankreich  bezeichnet  sich  selbst  neuerdings  als  den  Sachwalter  Ruß- 
lands und  kann  seitdem  kaum  mehr  als  eine  konservative  Macht  in 
der  Türkei  gelten.  Österreich  und  Italien  haben  durch  ihr  Verhalten  in 
der  albanischen  Frage*  bewiesen,  daß  die  Türkei  nicht  auf  sie  zählen 
kann.  Als  Reorganisatoren  bleiben  daher  nur  Deutschland  und  England 
übrig.  England  mag  den  Untergang  der  Türkei  befürchten.  Ihn  wün- 
schen kann  es  ebensowenig  wie  Deutschland.  Denn  die  Teilung  würde 
die  Russen  nach  Konstantinopel  und  die  Deutschen  an  die  Küste  des 
Mittelländischen  Meeres  führen.  Es  könnte  der  einen  Macht  kaum  ver- 
bieten, was  es  der  anderen  gestattet.  Die  Aufteilung  würde  die  strate- 
gische Lage  Englands  im  Mittelmeer  in  jedem  Falle  schwächen  und 
damit  seine  Weltstellung  bedrohen.  Wohl  oder  übel  wird  also  England 
in  der  Frage  der  Zukunft  Kleinasiens  durch  seine  vitalen  Interessen  an 
die  Seite  Deutschlands  geführt.  Das  hat  auch  Mahmud  Schewket  richtig 
erkannt,  und  seine  kluge  Politik  ist  deshalb  darauf  gerichtet,  Deutsch- 
land und  England  in  der  Türkei  zu  versöhnen,  damit  diese  beiden 
Länder  die  Stützen  und  Leiter  der  Wiederaufrichtung  der  Türkei  werden 
können.  Bei  der  Verfolgung  seines  Planes  macht  der  Großwesir  neuer- 
dings Fehler,  die  ersten  seit  seinem  Regierungsantritt.  Ich  hoffe,  daß 
dieselben  noch  zu  korrigieren  sein  werden.  Es  kommt  darauf  an,  der 
Pforte  die  Überzeugung  beizubringen,  daß  nicht  die  Inselfrage,  sondern 
die  Harmonie  zwischen  Deutschland  und  England  die  für  die  Zukunft 
der  Türkei  entscheidende  Frage  ist.  Vom  hiesigen  deutschen  Arbeits- 
felde aus  betrachtet,  erscheint  die  englisch-deutsche  Kooperation  als 
die  ideale,  ja  als  die  allein  mögliche  Lösung  des  kleinasiatischen  Pro- 
blems.  Daß  England  nicht  abgeneigt  ist,  sich  der  Türkei  anzunehmen 


Vgl.  dazu  Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXVIII   u.  ff. 

45 


und  dabei  sogar  eine  Verletzung  russischer  Interessen  mit  in  den  Kauf 
zu  nehmen,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  es  die  Entsendung  englischer 
Instrukteure  in  die  russische  Interessensphäre  im  Osten  zugestanden 
hat.  Auch  die  Sprache  der  englischen  Blätter  gegen  die  französischen 
Bestrebungen  in  Syrien  ist  bezeichnend.  England  scheint  tatsächlich 
gewillt,  die  Türkei  zu  halten,  selbst  auf  die  Gefahr  eines  Kon- 
fliktes mit  denjenigen  Mächten  hin,  welche  die  Aufteilung  der  Türkei 
auf  ihr  Programm  geschrieben  haben.  Ob  die  politische  Notwendigkeit, 
die  Türkei  zu  erhalten,  welche  ebenso  für  Deutschland  wie  für  England 
besteht,  zu  einer  Verständigung  über  eine  gemeinsame  Reform  der 
Türkei  führen  wird  oder  kann,  ist  von  hier  aus  nicht  zu  beurteilen. 
Kommt  es  zu  einem  solchen  prinzipiellen  Einverständnis,  so  würde 
sofort  die  Inselfrage  und  auch  die  Frage  der  Kriegsentschädigung  an 
Bedeutung  für  die  Türkei  verlieren.  Der  Türke  würde  dann  ein  so 
starkes  Vertrauen  in  die  Leistungsfähigkeit  seiner  Protektoren  haben, 
daß  er  von  diesen  die  Heilung  aller  Schäden,  welche  der  Krieg  der 
Türkei  zugefügt  hat,  bestimmt  erwarten  würde.  Überhaupt  ist  die 
Stimmung  des  türkischen  Volkes  jetzt  eine  derartige,  daß  England  und 
Deutschland  das  Maß  des  Einflusses,  welches  sie  hier  gemeinsam 
auszuüben  wünschen,  selbst  bestimmen  könnten.  Selbst  eine  Kontrolle, 
welche  sich  allmählich  dem  Vorbilde  der  englischen  über  Ägypten 
näherte,  würde  von  der  Bevölkerung  hingenommen  werden. 

Der  Gedanke  an  eine  englisch-deutsche  Zusammenarbeit  auf  tür- 
kischem Boden,  die  der  Anfangspunkt  einer  definitiven  Versöhnung 
werden  könnte,  darf  für  den  praktischen  Politiker  selbstverständlich 
zunächst  nicht  mehr  sein  als  eine  Hoffnung  und  ein  erstrebenswertes 
Ziel.  Daß  Frankreich  und  Rußland  das  Äußerste  daran  setzen  werden, 
den  Plan  zu  verhindern,  geht  schon  aus  der  Nervosität  hervor,  welche 
auf  den  hiesigen  Botschaften  dieser  Länder  anläßlich  der  deutsch- 
englischen Verhandlungen  über  Bagdad  herrscht.  Der  langsame,  zähe 
und  mißtrauische  Engländer  wird  sich  schwer  aus  den  Maschen  loslösen 
lassen,  in  welche  ihn  die  langjährige  Interessengemeinschaft  mit  Frank- 
reich und  Rußland  verstrickt  hat.  Es  wäre  nun  gewagt,  unsere  Politik 
auf  den  günstigsten  Fall  einzustellen.  Wir  müssen  vielmehr  damit 
rechnen,  daß  noch  Jahre  vergehen  werden,  bevor  die  Abneigung 
Englands  gegen  eine  politische  Geschäftsverbindung  mit  uns  völlig 
geschwunden  ist.  Daraus  folgt,  daß  wir  uns  vorläufig  auf  die 
schlimmste  Eventualität  vorbereiten  müssen,  das  heißt  auf  die  Tei- 
lung der  Türkei,  die  unvermeidlich  wird,  wenn  England  und  Deutsch- 
land noch  lange  getrennt  marschieren. 

Wir  werden  gezwungen  sein  zu  prüfen,  welche  Gebiete  inner- 
halb der  kleinasiatischen  Türkei  eventuell  als  unsere  Interessensphäre 
in  Betracht  kommen.  Die  nachfolgenden  Ausführungen  sollen  einen 
ersten  Versuch  der  Orientierung  auf  diesem  Gebiete  darstellen. 

Unsere   wirtschaftlichen    Interessen    dehnen    sich    zwar   fast   über 

46 


die  gesamte  asiatische  Türkei  aus.  Als  unsere  eigentliche  Interessen- 
sphäre können  aber  naturgemäß  nur  solche  Gebiete  in  Betracht  kom- 
men, wo  noch  keine  wichtigen  Interessen  maßgebender  Konkurrenten 
bestehen.    Nach  dieser  Formel  scheidet  für  uns  von  vornherein  aus 

1)  das  Küstengebiet  des  Schwarzen  und  Marmara-Meeres,  wo  wir 
mit  Rußland  kollidieren  würden, 

2)  das  westliche  Küstenland  Anatoliens,  soweit  es  hauptsächlich 
von  Griechen  bewohnt  ist, 

3)  Syrien  und  Palästina,  wo  französischer  Einfluß  überwiegt, 

4)  das  Gebiet,  welches  England  mit  Rücksicht  auf  seinen  ägypti- 
schen und  indischen  Besitz  gegen  fremde  Einflüsse  verschließt,  also 
Arabien  und  die  Umgebung  des  Persischen  Golfes. 

Nach  Abzug  dieser  Gebiete  bliebe  für  uns  ein  Landstreifen, 
welcher  sich  von  der  Linie  Eski-Schehir — Adalia  in  ungefährer  Breite 
von  400  Kilometern  nach  Osten  bis  zur  persischen  Grenze  erstreckt, 
also  ausschließlich  solche  Gegenden,  welche  durch  Bahnbauten  unter 
deutscher  Führung  erschlossen  worden  sind  oder  demnächst  er- 
schlossen werden.  Sein  Kernpunkt  ist  das  nach  dem  Golf  von  Alexan- 
dretta  gravitierende  Gebiet.  Hier  haben  wir  schon  so  viel  Kulturarbeit 
geleistet,  so  viele  Werte  investiert,  daß  unsere  Interessen  stellenweise 
wie  in  Cilicien  und  der  Koniaebene  schon  einen  monopolähnlichen 
Charakter  annehmen.  Nach  Fertigstellung  der  Bagdadbahn  könnte  bei 
entsprechendem  Unternehmungsgeist  das  ganze  übrige  Hinterland  des 
Golfs  von  Alexandretta  ebenso  unter  den  deutschen  Einfluß  gebracht 
werden. 

Die  Grenzen  dieses  Hinterlandes  sind  offenbar  dort  zu  suchen,  wo 
der  Warenaustausch  seinen  Weg  nicht  mehr  über  Alexandretta,  son- 
dern bequemer  und  billiger  über  einen  anderen  Seehafen  nimmt. 
Diese  politische  Verkehrsscheide  liegt  im  Nordwesten  etwa  bei  Ak- 
schehir,  im  Südosten  bei  Kerkuk.  Alles  dazwischen  liegende  Gebiet  in 
der  Ausdehnung,  wie  es  durch  Zweiglinien  der  Bagdadbahn  erschlossen 
werden  wird,  muß  zum  Hinterland  von  Alexandretta  gerechnet  werden. 
Soll  der  Zukunftshafen  Alexandretta  die  seiner  glänzenden  geographi- 
schen Lage  entsprechende  Bedeutung  erlangen,  so  darf  dieses  sein 
Hinterland  nicht  durch  fremde  Interessensphären  eingeengt  werden 
und  muß  daher  uneingeschränkt  dem  deutschen  politischen  Einfluß 
vorbehalten  werden.  Die  Ausdehnung  dieses  Gebietes  ist  auf  der  an- 
liegenden Karte*  durch  rote  Schraffierung  kenntlich  gemacht.  An 
zwei  Punkten  streift  es  fremde  Interessen:  in  Aleppo,  wohin  fran- 
zösische Einflüsse  von  Süden  her  vorgedrungen  sind,  und  in  der  Ge- 
gend des  Wansees,  wo  die  Russen  schwer  abzugrenzende  politische 


•  Hier  nicht  reproduziert. 

47 


Ansprüche  geltend  machen  könnten.  Aleppo  kann  aber  für  Frankreich 
nur  sekundäres  Interesse  haben,  da  schon  Damaskus  und  das  als 
Kompensationsobjekt  überaus  wertvolle  Haifa  seiner  Einflußzone  zu- 
fallen. Für  die  Bagdadbahn  ist  dagegen  Aleppo  als  der  gegebene 
Zentralpunkt  für  die  Verwaltung  der  ganzen  mittleren  Bahnstrecke 
unentbehrlich. 

Ein  möglichst  weites  Vorschieben  unserer  Interessensphäre  nach 
Nordosten  ist  andererseits  aus  zwei  Gründen  geboten:  In  dem  Ge- 
birgsland  nördlich  der  mesopotamischen  Ebene  befinden  sich  überaus 
reiche  Erzlager.  Bei  Arghana  nordöstlich  Diarbekr  sind  Kupferlager 
gefunden  worden,  welche  wahrscheinlich  Rio  Tinto  und  Katanga  an 
Mächtigkeit  und  Gehalt  übertreffen.  Am  Großen  Zab  und  im  per- 
sischen Randgebirge  findet  sich  Petroleum  und  Holz,  zwei  Artikel, 
deren  Beschaffung  für  die  Bagdadbahn  geradezu  eine  Lebensfrage  ist. 

Nach  sorgfältiger  Prüfung  und  genauer  Besprechung  mit  sachver- 
ständigen Interessenten  bin  ich  daher  zu  dem  Resultat  gekommen, 
daß  das  auf  der  Karte  rot  schraffierte  Gebiet  als  unsere  engere  In- 
teressensphäre behauptet  werden  und  bei  einer  eventuellen  Liquidation 
der  Türkei  uns  zufallen  muß. 

Der  Rest  des  Landstreifens  —  auf  der  Karte  durch  blaue  Schraf- 
fierung kenntlich  gemacht  —  kann  als  unsere  weitere  Interessen- 
sphäre bezeichnet  werden.  Diese  umschließt  zwei  sehr  wertvolle  Ge- 
biete: das  für  europäische  Ansiedler  geeignete  westanatolische  Hoch- 
land und  das  als  Baumwolland  einer  glänzenden  Zukunft  entgegen- 
gehende mittlere  Mesopotamien.  Ob  und  wie  weit  wir  unsere  engere 
Interessensphäre  einmal  in  diese  Gegenden  vorschieben  können,  wird 
von  unserer  wirtschaftlichen  Expansionskraft  und  von  unserer  Stel- 
lung zu  unseren  Konkurrenten  abhängen. 

Endlich  gibt  es  in  Türkisch-Asien  noch  eine  Zone,  wo  wir  dank 
unseren  Bahnbauten  resp.  Konzessionen  zwar  wesentliche  wirtschaft- 
liche Interessen  besitzen,  wo  aber  vitale  fremde  Interessen  mit  den 
unsrigen  kollidieren,  so  daß  die  Ausdehnung  unseres  politischen 
Einflusses  auf  diese  Gebiete  unter  den  heutigen  Umständen  wohl  als 
ausgeschlossen  gelten  muß  (auf  der  Karte  rot  und  blau  punktiert). 
Ohne  Zweifel  bringen  wir  ein  schweres  Opfer,  wenn  wir  uns  sowohl 
für  die  Anfangs-  wie  für  die  Endstrecke  der  Bagdadbahn  politisch 
desinteressieren.  Wirksame  Garantien  gegen  jede  wirtschaftliche  Be- 
nachteiligung und  loyale  Unterstützung  unserer  anderweitigen  An- 
sprüche könnten  allein  als  annehmbare  Gegenleistung  für  diesen 
unseren  Verzicht  in  Betracht  kommen. 

Wangen  heim 


48 


Nr.  15  313 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  288  Therapia,  den  26.  Mai  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  168  vom  25.  d.  Mts.  * 

Da  Pforte  zu  Wünschen  Anregung  aus  den  in  Telegramm  Nr.  286** 
entwickelten  Gründen  nicht  geben  wird,  könnte  in  Frage  kommen,  ob 
unsererseits  in  London  auf  Notwendigkeit  deutsch-englischen  Zusam- 
menwirkens hingewiesen  werden  kann. 

Da  England  mit  Rücksicht  auf  seine  Verbündeten  kaum  zugeben 
wird,  daß  es  eine  durchgreifende  Reorganisation  der  ganzen  Türkei 
betreibt,  und  sich  immer  auf  Spezialmandat  nach  Zypernvertrag  be- 
rufen wird,  so  müßte  zwischen  uns  und  England  wie  zwischen  Auguren 
verhandelt  werden  unter  Zugrundelegung  etwa  folgenden  Gedanken- 
ganges: 

Verwaltung  und  Gendarmerie  brauchen  in  hiesigen  unentwickelten 
Verhältnissen  unbedingt  Rückhalt  an  Armee.  Daher  grundsätzliche 
deutsch-englische  Verständigung  über  Reformwerk  geboten. 

Es  ist  von  der  Pforte  in  London  bekanntgegeben  worden,  daß  Re- 
organisation  Armee  und   Unterricht  an   Deutschland  fallen  soll. 

Englischer  Botschaftsrat***  sagte  mir  vorgestern  spontan: 
„Deutschland  und  England  mögen  wollen  oder  nicht,  sie  werden 
durch  die  Notwendigkeit,  die  Türkei  zu  erhalten,  zusammengeführt." 

Wangenheim 


Nr.  15  314 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  289  Konstantinopel,  den  26.  Mai  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  288  f. 

Großwesir  sagte  mir  heute,  Hakki  Pascha  habe  telegraphiert,  daß 
Sir  E.  Grey  seine  Zusage  bezüglich  Entsendung  von  Reformern  für 
Süd-    bezw.    Westanatolien    gänzlich,     für   Osten     und     Norden    teil- 

*  Siehe  Nr.   15  310. 
**  Siehe  Nr.   15  311. 
**•  C.  M.  Marling. 
t  Siehe  Nr.   15  313. 

4    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  49 


weise  zurückgezogen  habe.  England  wolle  nunmehr  nur  noch  für  die 
Wilajets  im  Osten  und  Norden  je  einen  Gendarmerieoffizier  sowie 
zwei  Gendarmerieinspekteure  und  außerdem  einen  dem  Minister  des 
Innern  zu  unterstellenden  Generalinspekteur  zur  Verfügung  stellen, 
lehne  aber  die  erbetene  Entsendung  von  zwei  Generalinspekteuren 
für  Osten  und  Norden  sowie  von  je  zwei  Inspekteuren  für  Justiz, 
öffentliche  Arbeiten  und  Ackerbau  ab.  Seine  veränderte  Haltung  moti- 
viere Sir  E.  Grey  mit  der  Rücksicht  auf  die  Empfindlichkeit  anderer 
Nationen,  womit  nach  Mahmud  Schewkets  Ansicht  Frankreich  und 
Rußland  gemeint  sind*.  Außerdem  hat  Sir  E.  Grey  Hakki  Pascha  ge- 
sagt, daß  mit  den  Reformen  im  kleineren  und  zunächst  an  den  be- 
drohtesten Stellen  angefangen  werden  müsse.  Spätere  Ausdehnung 
sei  möglich. 

Mahmud  Schewket  ist  mit  diesem  Bescheid  insofern  nicht  zu- 
frieden, als  er  gehofft  hatte,  daß  namhafte  Persönlichkeiten  zu  Ge- 
neralinspekteuren ernannt  werden  und  als  Kronzeugen  gegen  russische 
Verleumdungen  der  türkischen  Verwaltung  in  den  armenischen  Gebieten 
dienen  würden.  Er  hat  nunmehr  nochmals  wenigstens  um  zwei  Justiz- 
reformer gebeten.  Andererseits  verkennt  Großwesir  nicht,  daß  der 
englische  Rückzug  die  deutschen  Bedenken  zum  Teil  hinfällig  macht 
und  uns  für  die  Verständigung  mit  England  einen  größeren  Zeit-  und 
Spielraum  läßt. 

Wangenheim 


Nr.  15  315 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Konzept 

Nr.  950  Berlin,  den  27.  Mai  1913 

[abgegangen  am  28.  Mai] 

Wie  Euerer  Durchlaucht  bekannt,  hatte  die  türkische  Regierung 
Sir  E.  Grey  kürzlich  unter  Berufung  auf  den  Zypernvertrag  um  In- 
strukteure, wie  sie  von  England  für  Ost-  und  Nordanatolien  bereits  be- 
willigt worden  waren,  auch  für  den  Westen  und  Süden  Anatoliens 
gebeten.  Die  Reform  des  gesamten  Zivildienstes  wurde  auf  diese 
Weise  in  die  Hände  Englands  gelegt.  Im  Osten  sollten  zwei,  im 
Westen  eine  Generalinspektion  gebildet  und  den  Generaünspektionen 
je  vier  Inspektionen  für  Justiz,  Gendarmerie,  öffentliche  Arbeiten 
und  Inneres  untergeordnet  werden.  Den  Generalinspekteuren  und 
Inspekteuren,   die  keinen   türkischen   Beamten   neben   sich   haben  und 


*  Vgl.   Nr.    15  311,   Fußnote*". 
50 


nur  als  Kontrolleure,  nicht  als  Exekutivbeamte  tätig  sein  sollten,  wollte 
man  je  einen  englischen  Berater  beigeben.  Im  ganzen  war  die  An- 
stellung von  siebzehn  Engländern  beabsichtigt. 

Nachdem  Sir  E.  Grey  sich  ursprünglich  zur  Annahme  des  türkischen 
Angebots  bereit  gezeigt  hatte,  hat  er  nach  einer  heute  eingegangenen  tele- 
graphischen Meldung  des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Konstantinopel* 
nunmehr  seine  Zusagen  wegen  Entsendung  von  Reformern  für  Süd- 
und  Westanatolien  ganz,  für  den  Osten  und  Norden  Anatoliens  teilweise 
zurückgezogen.  Wie  der  Großwesir  Baron  Wangenheim  mitteilt,  will 
England  jetzt  nur  noch  für  die  Wilajets  im  Osten  und  Norden  je  einen 
Gendarmerieoffizier  sowie  zwei  Gendarmerieinspekteure  und  außerdem 
einen  dem  Minister  des  Innern  zu  unterstellenden  Generalinspekteur 
zur  Verfügung  stellen.  Die  Entsendung  von  zwei  Generalinspekteuren 
für  den  Osten  und  Norden  sowie  von  je  zwei  Inspekteuren  für  Justiz, 
öffentliche  Arbeiten  und  Ackerbau  lehnt  das  englische  Kabinett  ab. 
Sir  E.  Grey  motiviert  seine  veränderte  Haltung  mit  der  Rücksicht  auf 
die  Empfindlichkeit  anderer  Nationen,  womit  in  erster  Linie  wohl 
Frankreich  und  Rußland  gemeint  sind.  Ferner  hat  Sir  E.  Grey  Hakki 
Pascha  gesagt,  daß  die  Reformen  in  kleinerem  Maßstabe  und  zunächst 
an  den  am  meisten  bedrohten  Stellen  in  Angriff  genommen  werden 
müßten;  später  könnten  sie  dann  ausgedehnt  werden.  Der  Großwesir 
hat  die  englische  Absage  hingenommen  und  nur  noch  um  die  Über- 
lassung von  zwei  Justizreformern  gebeten. 

Hiernach  dürften  sich  die  mit  Euerer  Durchlaucht  hier  mündlich 
verabredeten  förmlichen  Vorstellungen  bei  Sir  E.  Grey  erübrigen.  Ew. 
pp.  wollen  sich  statt  dessen  dem  englischen  Minister  gegenüber  mehr 
akademisch   etwa   im   nachstehenden   Sinne   aussprechen. 

Wir  hätten  aus  Konstantinopel  gehört,  daß  die  Pforte  der  eng- 
lischen Regierung  die  Reform  des  Zivildienstes  nicht  nur  in  Nord- 
und  Ostanatolien,  sondern  auch  im  Westen  und  Süden  des  Landes 
angeboten,  und  daß  England,  nachdem  es  anfänglich  geneigt  gewesen 
sei,  auf  dieses  Angebot  einzugehen,  sich  schließlich  für  Ablehnung 
entschlossen  habe.  Wir  könnten  diesen  Entschluß  nur  dankbar  be- 
grüßen; denn  nach  den  Vorschlägen  der  türkischen  Regierung  würde 
sich  das  englische  Reformwerk  auch  auf  solche  Gebiete  erstreckt 
haben,  wo  Deutschland  auf  Grund  der  von  ihm  geleisteten  Kulturarbeit 
begründeten  Anspruch  auf  eine  ausschlaggebende  Rolle  bei  den  Re- 
formen hätte  erheben  müssen.  Wären  diese  Gebiete  dem  englischen 
Einfluß  ohne  genügende  deutsche  Beteiligung  ausgeliefert  worden,  so 
würde  im  Volk  und  in  der  öffentliühen  Meinung  Deutschlands  ein 
Sturm  der  Entrüstung  entstanden  sein,  dem  gegenüber  die  Regierung 
machtlos  gewesen  wäre.  Eine  derartige  Entwicklung  der  Dinge  würde 
die   deutsch-englischen   Beziehungen   in  fataler  Weise   beeinflußt  und 

•  Vgl.   Nr.    15  314. 

4*  51 


die  geplanten  Abmachungen  über  Bagdad  in  Frage  gestellt  haben.  Wir 
wüßten  uns  mit  dem  englischen  Kabinett  eins  in  dem  Wunsche,  den 
asiatischen  Besitzstand  der  Türkei  zu  erhalten  und  zu  seiner  Konsoli- 
dierung nach  Kräften  beizutragen.  Dieses  Ziel  könne  aber  nur  durch 
ein  enges  und  loyales  Zusammenwirken  Deutschlands  und  Englands 
erreicht  werden.  Hierzu  gehöre,  daß  die  beiden  Mächte  sich  über 
die  Natur  der  etwa  erforderlichen  Reformen  und  die  Art  und  Weise 
ihrer  Durchführung  vorher  verständigten  und  auf  jedes  Sondervorgehen 
verzichteten,  das  auch  nur  den  Anschein  eines  Eingriffs  in  das  Arbeits- 
feld der  anderen  Macht  erwecke. 

König  Georg  hat  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  ebenfalls  mitgeteilt*, 
daß  die  Türkei  wegen  Gestellung  von  Reformern  sich  an  England 
gewandt  und  letzteres  den  türkischen  Wünschen  zwar  nicht  voll  ent- 
sprochen, aber  die  Stellung  von  Gendarmerieoffizieren  in  Aussicht 
gestellt  habe.  Seine  Majestät  der  Kaiser  hat  hierauf  dem  König  ge- 
sagt, daß  die  Türkei  von  uns  Armeereformer  erbeten  und  allerhöchster 
dies  zugesagt  habe. 

J  ago  w 

Nr.  15  316 

Der  Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  341  London,  den  28.  Mai  1913 

Die  Frage  nach  der  Zukunft  des  türkischen  Reiches,  das  von  nun 
an  seinen  Schwerpunkt  in  Asien  haben  wird,  wirft  ihre  Schatten  schon 
in  die  schwebenden  Besprechungen  über  den  Friedensschluß.  Von 
allen  Gefahren,  die  der  asiatischen  Türkei  drohen,  ist  die  aus  den 
armenischen  Verhältnissen  entspringende  bei  weitem  die  dringendste. 

Die  Armenier,  ein  hochbegabtes,  aber  unruhiges  Volk,  das  nicht 
unähnlich  den  Juden  handeltreibend  sich  über  den  größten  Teil  der 
bewohnten  Erde  ausgebreitet  hat,  lebten  ursprünglich  mit  den  kriege- 
rischen und  grausamen  Kurden  in  einer  Art  Lehen- und  Schutzverhältnis, 
bei  dem  relative  Sicherheit  für  Leben  und  Eigentum  durch  ständige 
Abgaben  erkauft  wurde.  Die  rege,  insbesondere  von  Amerikanern 
geleitete  Missionstätigkeit,  welche  durch  zahlreiche  Schulen  und  An- 
stalten eine  junge,  mit  westlichen  Ideen  und  Bestrebungen  erfüllte 
Jugend  herangezogen  hatte,  ist  sicher  für  die  bedrohliche  Unrast  der 
heutigen    Armenier    mitverantwortlich,    wenn    auch    nicht    zu    leugnen 


*  Gelegentlich  der  Anwesenheit  des  englischen  Königspaares  bei  der  Vermählung 
der  Prinzessin  Viktoria  Luise  von  Preußen  mit  Herzog  Ernst  August  zu  Braun- 
schweig und  Lüneburg   (24.  Mai). 

52 


ist,  daß  die  Armenier  von  den  Kurden  häufig  schweres  Ungemach  zu 
erdulden  haben.  Die  große  Schwierigkeit  des  armenischen  Problems 
liegt  vor  allem  in  der  Geographie  und  der  Verteilung  des  armenischen 
Volkes.  Schon  jetzt  sind  die  Gebiete,  die  man  als  armenisch  bezeichnen 
kann,  zwischen  drei  Reichen  geteilt:  der  Türkei,  Persien  und  dem 
russischen  Kaukasus.  In  der  öffentlichen  Diskussion  wird  immer  nur 
von  den  türkischen  Armeniern  gesprochen.  Es  wäre  aber  durchaus 
falsch,  daraus  den  Schluß  zu  ziehen,  daß  es  mit  den  russischen 
Armeniern  sehr  glatt  gehe.  Jeder,  der  die  Verhältnisse  in  den  kauka- 
sischen Gouvernements  auch  nur  einigermaßen  studiert  hat,  weiß, 
daß  das  armenische  Element  sich  dort  in  ständiger  Gärung  befindet, 
die  besten  Kerntruppen  zu  allen  räuberischen  und  revolutionären  Unter- 
nehmungen liefert  und  nur  mit  eiserner  Faust  niedergehalten  wird. 
Ein  großer  Teil  der  an  der  persischen  Revolution  beteiligten  Frei- 
schärler waren  solche  kaukasischen  Armenier. 

All  die  unzähligen  Pläne  für  die  Verbesserung  des  Loses  der 
türkischen  Armenier  scheitern  daran,  daß  nirgends  in  Türkisch-Asien, 
selbst  nicht  in  den  gewöhnlich  als  armenisch  bezeichneten  Wilajets, 
sie  auch  nur  annähernd  die  Mehrheit  der  Bevölkerung  bilden.  Als 
armenisch  gelten  gewöhnlich  die  Wilajets  von  Wan,  Diarbekr,  Bitlis 
und  Mamuret.  In  diesen  kommen  in  Wan  auf  424  000  Muselmänner, 
Griechen  und  Christen  81  000  Armenier;  sie  bilden  ein  Fünftel  der  Be- 
völkerung. In  Diarbekr  bilden  sie  mit  79  000  unter  463  000  Angehörigen 
anderer  Stämme  ein  Sechstel,  in  Bitlis  mit  131  000  ein  Drittel  und  in 
Mamuret  mit  70  000  ein  Achtel  der  nichtarmenischen  Bevölkerung  (diese 
Ziffern  sind  armenischen  Quellen  entnommen  und  sicher  eher  zu  hoch 
als  zu  niedrig  gegriffen).  Auf  die  ungefähr  14  500  000  betragende  Ge- 
samteinwohnerzahl der  kleinasiatischen  und  syrischen  Wilajets  kommen 
im  ganzen  etwa  1  200  000  Armenier.  Es  ergibt  sich  also,  daß  selbst 
da,  wo  sie  am  dichtesten  wohnen,  sie  nicht  ein  Drittel  der  Bevölkerung 
ausmachen,  in  den  anderen  Bezirken  aber  nur  eine  relativ  kleine 
Minderheit.  Dies  läßt  den  Ausblick  für  erhebliche  Reformaktionen 
nicht  sehr  hoffnungsvoll   erscheinen. 

Herr  Paul  Cambon  hat,  als  er  noch  Botschafter  in  Konstantinopel 
war,  am  20.  Februar  1894  einen  noch  immer  in  hohem  Grade  lesens- 
werten zusammenfassenden  Bericht  über  die  gesamte  armenische  Frage 
verfaßt,  der  zu  der  melancholischen  Schlußfolgerung  gelangt:  es  gibt 
keine  Lösung  der  armenischen  Frage  (Gelbbuch:  Affaires  armeniennes 
1893/97,  Seite  11). 

Was  der  armenischen  Frage  eine  erhöhte  internationale  Bedeutung 
gibt,  ist  der  Umstand,  daß  die  Türkei  für  kleinasiatische  Wilajets,  vor 
allem  die  armenischen,  englische  Beamte  und  Reformer  erbeten  und 
—  gutem  Vernehmen  nach  —  auch  zugesagt  erhalten  hat.  Die  einzige 
Großmacht,  die  von  Unruhen  in  Armenien  unmittelbar  Nutzen  ziehen 
könnte,  ist  Rußland,  und  ein  russischer  Einmarsch  in  armenisches  Gebiet 

53 


unter  dem  Vorwande  gefährlicher  Unruhen  war  eine  Möglichkeit,  mit 
der  jederzeit  gerechnet  werden  mußte.  Niemand  weiß  dies  besser  als 
die  durchschnittlich  recht  gut  unterrichtete  englische  Regierung. 
Andererseits  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  mit  der  Entsendung  englischer 
Reformatoren  in  großem  Umfange  England  für  die  Erhaltung  der  asia- 
tischen Türkei  eine  große  moralische  Verantwortung  übernimmt,  die 
seinerzeit  auch  die  Möglichkeit  von  Konflikten  mit  Rußland  in  sich 
birgt.  Die  offizielle  russische  Politik  setzt  sich  ja  ebenso  wie  die  eng- 
lische für  die  Erhaltung  des  Status  quo  in  der  asiatischen  Türkei  ein, 
aber  die  gerade  in  der  russischen  Politik  besonders  häufigen  mächtigen 
Unterströmungen  werden  sicher  früher  oder  später  eine  Politik  der 
Ausdehnung  in  Türkisch-Armenien  befürworten.  Englische  Instruktoren, 
welche  sich  auch  auf  die  etwa  70  000  Seelen  betragenden,  englisch- 
amerikanisch erzogenen  armenischen  Protestanten  stützen  können, 
bilden  da  einen  starken  Wall  gegen  russisches  Vorgehen.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  hat  die  Entsendung  englischer  Reformer  in  die 
kleinasiatische  Verwaltung  der  Türkei  symptomatische  Bedeutung.  Es 
ist  sehr  gut  denkbar,  daß  neben  der  nur  zeitweise  ruhenden  persischen 
Frage  auch  die  armenische  zu  einer  englisch-russischen  Reibungsfläche 
werden  könnte.  Die  Zahl  der  Freunde  der  russischen  Entente  ist  nicht 
im  Zunehmen  begriffen.  Deshalb  verdient  jedes  Symptom  doppelte 
Beachtung,  das  darauf  hindeutet,  daß  die  Periode  des  bedingungslosen 
dauernden  Zurückweichens  vor  Rußland  in  Asien  sich  vielleicht  ihrem 
Ende  nähert. 

R.  v.  Kühlmann 


Nr.  15  317 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Privatbrief.    Konzept 

Berlin,  den  31.  Mai  1913 
[abgegangen  am  1.  Juni] 

Ich  erhalte  eben  den  abschriftlich  beigefügten  Brief  von  Sir 
E.  Goschen*.  Ich  werde,  sobald  ich  Goschen  sehe,  ihm  sagen,  daß  ein 
Mißverständnis  vorliegen  müsse,  da  wir  eine  derartige  „impression" 
keineswegs   hätten.    Denn,   nachdem   uns   Grey   im   Januar  versichert 


*  Der  vom  31.  Mai  datierte  Brief  des  englischen  Botschafters  lautete:  „Sir 
Edward  Orey  teils  me  that  he  has  been  given  to  understand  by  Prince  Lich- 
nowsky that  there  is  an  impression  in  Berlin  that  England,  Russia  and  France 
might  have  come  to  some  secret  agreement  for  the  partition  of  Asia  Minor. 
He  has  asked  me  to  teil  that  there  is  no  truth  whatever  in  this  rumour." 

54 


hat,  daß  kein  agreement  über  Asia  Minor  zwischen  den  Tripelentente- 
mächten  bestände,  können  wir  nicht  gut  an  der  Loyalität  dieser  Er- 
klärung zweifeln.  Ich  tue  es  auch  nicht,  sondern  bin  überzeugt,  daß 
ein  solches   agreement  nicht  besteht*. 

Andererseits  wäre  es  uns  natürlich  nicht  unerwünscht,  einmal 
mit  England  vertraulich  über  die  Zukunft  Kleinasiens  etc.  in  einen 
Gedankenaustausch  zu  treten,  mit  der  völlig  loyalen  und  ohne  reservatio 
verstandenen  Absicht,  die  Türkei  in  ihrem  jetzigen  Bestände  so  lange 
als  irgend  möglich  zu  erhalten.  Letzteres  ist  unser  eigenstes 
Interesse,  denn  eine  Liquidation  der  asiatischen  Türkei  würde  uns 
nur  in  unserer  Arbeit  stören  und  große  Verlegenheiten  bereiten.  Aber 
die  Sache  kann  bei  der  Morschheit  der  türkischen  Verhältnisse  ohne 
unseren  Willen  anders  kommen  und  der  Zerfall  schneller  eintreten, 
als  wir  wünschen.  Für  diesen  Fall  wäre  es  gut  zu  wissen,  woran  wir 
mit  England  sind.  Wir  haben  so  große  Interessen  in  Anatolien  und 
Mesopotamien,  daß  wir  dieselben  nicht  ohne  weiteres  anderen 
preisgeben  können.  Man  mag  über  Marschalls  Werk  der  Anatolischen 
und  Bagdadbahn  denken,  wie  man  will,  sie  wird  von  unserer  öffent- 
lichen Meinung  als  das  einzige  Fazit  unserer  Politik  der  letzten  De- 
zennien betrachtet.  Ein  Leerausgehen  würde  für  uns  ein  zweites 
Marokko  sein. 


*  Im  gleichen  Sinne  hatte  sich  Fürst  Lichnowsky  schon  am  30.  gegenüber  Sir 
E.  Grey  ausgelassen.  In  einem  Berichte  des  Botschafters  vom  30.  Mai  (Nr.  346) 
heißt  es  darüber:  „Ich  fand  Gelegenheit,  mich  dahin  auszusprechen,  daß  uns 
an  der  Erhaltung  der  asiatischen  Türkei  außerordentlich  viel  gelegen  sei,  und 
daß  wir  auch  in  dieser  Hinsicht  auf  die  britische  Mitwirkung  rechneten;  auch 
seien  wir  davon  überzeugt,  daß  über  eine  Einteilung  in  Interessensphären 
zwischen  Großbritannien  und  der  russischen  und  der  französischen  Regierung 
nicht  verhandelt  worden  sei,  da  wir  gegebenenfalls  auch  unsern  Anteil  in  An- 
spruch nehmen  müßten. 

Sir  Edward  bestätigte  vollkommen  meine  Auffassung  und  wiederholte  mir, 
daß  er  bestrebt  sei,  die  asiatische  Türkei  zu  erhalten,  und  daß  keinerlei 
geheime  Abmachungen  bestünden.  Reformen  müßten  eingeführt  werden,  doch 
sei  dies  Sache  aller  Regierungen. 

In  ähnlichem  Sinne  hat  sich  der  Minister  übrigens  gestern  auch  im  House  of 
Commons  ausgesprochen,  wo  er  sagte:  ,The  question  of  reforms  in  Asiatic 
Turkey  is  a  matter  which  concerns  all  the  European  Powers  who  have  interests 
in  Asiatic  Turkey.'  Von  anderer  Seite  höre  ich,  daß  die  hiesige  Regierung  durch 
entsprechende  Schritte  in  Konstantinopel,  die  von  der  Gesamtheit  aller  Mächte 
zu  erfolgen  hätten,  sich  die  Einführung  von  Reformen  für  das  gesamte  Klein- 
asien und  nicht  nur  für  Armenien  verspricht.  Die  Reform  des  türkischen  Zivil- 
dienstes aber  durch  englische  Beamte  sei  niemals  beabsichtigt  gewesen,  und  die 
britische  Betätigung  beschränke  sich  auf  einige  wenige  Gendarmerieoffiziere, 
deren  Entsendung  man  hier  mit  Rücksicht  auf  den  Zypernvertrag  nicht  gut 
habe  ablehnen  können. 

Ich  bin  nach  wie  vor  davon  überzeugt,  daß  Sir  Edward  auch  in  diesen  Fragen 
vollkommen  offen  und  aufrichtig  mit  uns  verfahren  wird,  und  daß  wir  keine 
unangenehmen  Überraschungen  zu  gewärtigen  haben." 

55 


Ich  schrieb  Ihnen,  daß  Cambon  mir  angedeutet  hat,  er  wünschte 
mit  mir  über  die  asiatischen  Interessen  zu  „causer",  und  daß  ich  ihn 
dilatorisch  behandelt  habe  und  weiter  zu  behandeln  gedenke*.  Ich 
habe  dabei  im  besonderen  das  Gefühl,  daß  England  wegen  seiner 
ägyptischen  Interessen  nicht  den  Wunsch  hat,  Syrien  und  Palästina 
einmal  an  Frankreich  zu  überlassen.  Ich  möchte  aber  in  der  asiatischen 
Türkei  mit  und  nicht  ohne   England  arbeiten. 

Ich  möchte  Sie  bitten,  von  Cambons  Anregung  Grey  gegenüber 
nichts  zu  verlautbaren;  denn  die  Kerls  sind  doch  zu  intim,  als 
daß  Grey  deswegen  nicht  in  Paris  anfragen  sollte,  und  dann  fände 
die  Explikation  voraussichtlich  auf  unsere  Kosten  statt. 

Einstweilen  haben  sich  Revoil  und  Helfferich  in  Paris  über  die 
Bagdadbahn  unterhalten**;  das  Resultat  werde  ich  von  Helfferich 
am  Montag  erfahren.  Eine  Unterhaltung  über  diese  Frage  ent- 
spricht aber  auch  den  Wünschen  Greys,  wie  er  neulich  an  Kühlmann 
gesagt  hat.  Und  es  ist  ein  großer  Unterschied,  ob  wir  mit  Frank- 
reich über  die  Bahn  reden  oder  uns  über  „Interessensphären"  mit 
späteren   Konsequenzen  verständigen. 

Jago  w 


Nr.  15  318 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  172  Therapia,  den  29.  Mai  1913 

[pr.  1.  Juni] 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  über  die  türkischen  Pläne 
einer  Verwaltungsreform  für  die  asiatischen  Provinzen,  wie  sich  die 
Frage  nach  meinen  verschiedenen  Besprechungen  mit  dem  Großwesir 
darstellt,  noch  einmal  im  Zusammenhang  folgendes  zu  berichten.  Es 
wird  hierbei  von  wenn  auch  nur  noch  retrospektivem  Interesse  sein, 
auf  die  Rolle,  die  hierbei  England  zugedacht  war,  näher  einzugehen. 

Zum  richtigen  Verständnis  ist  die  auf  den  ersten  Blick  vielleicht 
überflüssig  erscheinende  Feststellung  vorauszuschicken,  daß  es  der 
türkischen  Regierung  bei  ihrem  Vorgehen  in  erster  Linie  darauf  ankam, 
in  den  durch  fortwährende  innere  Unruhen  aufgewühlten  und  daher 
etwaigen  Begehrlichkeiten  gewisser  Großmächte  besonders  leicht  aus- 
gesetzten Teilen  des  Reiches  geordnete  Verwaltungszustände  zu 
schaffen  und  hierdurch  allen  unzufriedenen  Elementen  allen  weiteren 


♦Vgl.   Bd.   XXXVII,    Kap.   CCLXXXVI,   Nr.    14  917. 
••  Vgl.    Bd.    XXXVII,    Kap.    CCLXXXVIII. 

56 


Grund  zur  Beschwerde  zu  nehmen.    Die  Sorge  um  die  sogenannten 
armenischen  Wilajets  stand  hierbei  obenan. 

Was  nach  Ansicht  der  Regierung  zur  Herstellung  besserer  Ver- 
hältnisse in  den  von  Kurden  und  Armeniern  bewohnten  ostanatolischen 
Provinzen  aber  vor  allem  not  tut,  ist 

1)  Regelung  der  sogenannten  Agrarfrage  und  Versöhnung  der  hier- 
aus zwischen  Kurden  und  Armeniern  entstandenen  Gegensätze;  im 
Zusammenhang  damit  stehen  Sanierung  und  Hebung  der  Landwirtschaft 
im  allgemeinen. 

2)  Bau  guter  Verkehrswege. 

3)  Schaffung  einer  ausreichenden,  gut  disziplinierten  Gendarmerie. 

4)  Reform  des  Justizwesens. 

Die  Pforte  begann  ihre  diesbezügliche  Reformtätigkeit  bekannt- 
lich damit,  daß  sie  den  von  früheren  jungtürkischen  Kabinetten  aus- 
gearbeiteten und  der  Kammer  auch  bereits  zugegangenen  Entwurf 
zu  einem  Wilajetsgesetz  in  Form  eines  provisorischen,  also  noch  von 
der  Genehmigung  der  künftigen  Volksvertretung  abhängigen  Gesetzes 
in  Kraft  setzte.  Über  dessen  Hauptbestimmungen,  die  der  dezentralisti- 
schen  Richtung  nicht  unbedeutende  Konzessionen  machen,  habe  ich 
unter  dem  15.  v.  Mts.  Nr.  109*  kurz  zu  berichten  die  Ehre  gehabt. 
Um  bei  dem  Übergang  aus  dem  System  strenger  Zentralisation  in  ein 
solches  mit  erweiterten  Selbstverwaltungsrechten  der  einzelnen  Pro- 
vinzen alles  Sprunghafte  zu  vermeiden,  waren  dem  Wali  und  der 
Zentralregierung  gegenüber  dem  Provinziallandtag  noch  wesentliche 
Rechte  vorbehalten  worden.  Diese  an  sich  durchaus  gerechtfertigte 
Vorsicht  konnte  den  Vertretern  der  radikalen  Opposition  und  den 
auf  eine  versteckte  Autonomie  hinarbeitenden  Wühlern  nicht  passen; 
die  von  der  Regierungsmaßregel  erwartete  wohltuende  Wirkung 
blieb  daher  aus.  Weder  die  armenischen  Gravamina  noch  die  Be- 
wegung an  den  beiden  Unruhezentren  Syrien  und  Basra  wurden  zum 
Schweigen  gebracht.  Die  Armenier  insbesondere,  die  wiederholt  die 
Erfahrung  hatten  machen  müssen,  daß  ihnen  durch  Staatsgesetze 
und  internationale  Verträge  feierlich  zugesicherte  Reformen  immer 
wieder  toter  Buchstabe  blieben,  brachten  dem  neuen  Gesetze  von 
vornherein  wenig  Vertrauen  entgegen.  Immer  deutlicher  erklang  der 
Ruf  nach  einer  wirksamen,  das  heißt  europäischen  Garantie  für  die 
tatsächliche   Durchführung  der  versprochenen   Wohltaten. 

Unter  diesen  Umständen  entschloß  sich  Mahmud  Schewket  Pascha, 
aus  eigener  Initiative  zu  demjenigen  Mittel  zu  greifen,  welchem  er 
sich  im  weiteren  Verlauf  der  Dinge  auf  ausländischen  Druck  hin  ver- 
mutlich doch  wohl  hätte  anbequemen  müssen.  Die  Regierung  faßte 
den  Beschluß,  an  Stelle  der  anfangs  geplanten  Entsendung  einer 
Spezialkommission  unter  Leitung  eines  Ministers,  der  nur  eine  vorüber- 


•  Siehe   Nr.    15  295. 

57 


gehende  Aufgabe  zufallen  konnte,  eine  Reihe  ständiger  General- 
inspektionen mit  bestimmt  abgegrenzten  Amtsbezirken  ins  Leben  zu 
rufen  und  an  die  Spitze  einiger  dieser  Aufsichtsbehörden  ausländische 
Beamte  zu  berufen. 

Es  ist  zweifellos,  vom  türkischen  Standpunkt  aus  betrachtet,  ein 
politisch  kluger  Schachzug  gewesen,  daß  der  Großwesir  sich  hierbei 
zunächst  an  England  gewandt  hat.  Der  Zypernvertrag  bestimmt  be- 
kanntlich als  Gegenleistung  für  die  formelle  Erklärung  Englands,  den 
türkischen  Besitz  in  Ostanatolien  unter  Umständen  mit  Waffengewalt 
verteidigen  zu  wollen,  daß  „Sa  Majeste  Imperiale  le  Sultan  promet 
ä  l'Angleterre  d'introduire  les  reformes  necessaires  (ä  etre 
arretees  plus  tard  par  les  deux  Puissances)  ayant  trait, 
ä   la   bonne   administration    et   ä  la   protection    des   sujets    chretiens". 

Die  Anrufung  dieses  schon  vor  35  Jahren  geschaffenen  casus 
foederis  mußte  England  unbequem  sein.  Doch  ging  Sir  E.  Grey  zu- 
nächst, wenn  auch  anscheinend  widerwillig,  auf  den  Vorschlag  ein. 
Jede  Form,  die  die  englische  Aktion  ihrer  alten  antirussischen  Ten- 
denz entkleiden  könnte,  mußte  aber  der  englischen  Politik  willkommen 
sein.  Andererseits  sprachen  auf  türkischer  Seite  gewisse  Erwägungen 
dafür,  die  englische  Mitwirkung  bei  der  geplanten  Reform  nicht  nur 
auf  Nordostanatolien  zu  beschränken.  Das  von  einer  armenischen 
Bevölkerung  gleichfalls  reich  durchsetzte  Adana  ließ  sich  schwer  aus- 
schließen, ohne  dort  tiefe  Mißstimmung  zu  erregen.  Gleichzeitig  ver- 
sprach sich  der  Großwesir  wesentliche  politische  Vorteile  von  dem 
Gedanken,  Englands  Unterstützung  für  eine  Regelung  der  Inselfrage 
möglichst  nach  türkischen  Wünschen  dadurch  zu  gewinnen,  daß  ihm 
die  gleiche  Reformtätigkeit  auch  für  die  westanatolischen  Wilajets 
eingeräumt  würde.  Aus  einer  auf  Grund  des  Zypernvertrages  zunächst 
nur  für  Ostanatolien  in  Aussicht  genommenen  englischen  Mitwirkung 
entwickelte  sich  daher  erst  im  weiteren  Verlauf  der  Plan,  England 
ein  allgemeines  Mandat  zu  übertragen. 

Ausschließlich  war  dieses  England  zugedachte  Mandat  jedoch 
insofern  nicht,  als  nur  ein  Teil  (drei)  der  zu  gründenden  sieben  Ge- 
neralinspektionen von  englischen  Beamten  besetzt  werden  sollten.  Was 
die  Zahl  und  die  Aufgaben  der  dem  Generalinspekteur  beigegebenen 
fremden  Hilfsbeamten  betrifft,  so  ergeben  sie  sich  logisch  aus  dem  für 
die  armenischen  Provinzen  vorgezeichneten,  oben  angedeuteten  Ar- 
beitsprogramm; hierbei  ist  hervorzuheben,  daß  der  für  die  innere  Ver- 
waltung zu  berufende  Inspekteur  nach  türkischer  Auffassung  vorzugs- 
weise mit  der  Aufsicht  über  das  Landwirtschaftswesen  betraut  werden 
sollte. 

Der  Entschluß,  eine  Großmacht,  und  zwar  gerade  England  mit 
der  Reformaufgabe  zu  betrauen,  wird  Mahmud  Schewket  sicher  nicht 
leicht  gefallen  sein.  Er  ging  hierbei  von  der  meiner  Ansicht  nach 
richtigen  Erwägung  aus,  daß  die  Einräumung  entsprechender  Rechte 

58 


an  irgendeine  zweite  Macht  sofort  zur  Kollektivaktion  aller  Großmächte 
führen  müßte;  hiermit  wäre  aber  den  an  der  türkischen  Erbschaft  in 
erster  Linie  interessierten  Staaten  allzu  leicht  eine  Handhabe  zur 
Schaffung  besonderer  Einflußsphären  gegeben.  Wohlerworbene  Rechte 
sollten  jedoch  unangetastet  bleiben;  so  verblieb  die  Armeeorganisation 
deutsches,  das  Gebiet  der  Finanzreform  französisches  Arbeitsfeld.  Dar- 
über hinaus  war  er  noch  bereit,  uns  mit  der  Reform  des  Unterrichts- 
wesens zu  betrauen  und  auch  unseren  Sonderwünschen  hinsichtlich  der 
Bagdadbahngebiete  insofern  entgegenzukommen,  als  dort  von  der  An- 
stellung englischer  Inspekteure  für  öffentliche  Arbeiten  abgesehen 
werden  sollte.  Das  deutsche  und  französische  Reformwerk  auf  den 
ihnen  besonders  zugewiesenen  Gebieten  sollte  neben  und  unabhängig 
von  der  englischen  Aktion  einhergehen. 

Durch  die  in  letzter  Stunde  erfolgte  englische  Absage  werden 
Mahmud  Schewkets  Pläne  durchkreuzt.  Welches  die  wahren  Beweg- 
gründe für  die  unerwartete  Schwenkung  Sir  E.  Greys  gewesen  sind, 
vermag  ich  von  hier  aus  nur  zu  vermuten.  Es  liegt  meiner  Ansicht 
nach  in  der  jetzigen  Situation  die  nicht  zu  unterschätzende  Gefahr,  daß 
das  namentlich  von  armenischer  Seite  formulierte  Verlangen  nach  einer 
europäischen  Garantie  für  eine  wirksame  Inangriffnahme  der 
Reformen  schließlich  doch  noch  den  Vorwand  abgeben  wird,  euro- 
päische Beamte,  diesmal  aber  in  neuer  Form  und  unter  Be- 
teiligung anderer  Großmächte,  namentlich  Rußlands, 
der  Pforte  aufzudrängen. 

Mit  der  vorgeschlagenen  Heranziehung  englischer  Reformer  unter 
den  angedeuteten  Bedingungen  hätten  wir  uns  meines  gehorsamsten 
Dafürhaltens  zur  Not  abfinden  können.  Da,  wie  ich  bereits  in  meinem 
Bericht  Nr.  159  vom  21.  d.  Mts.  *  hervorhob,  Deutschland  für  die 
England  zugedacht  gewesene  Rolle  nicht  ernstlich  in  Betracht  kommen 
konnte,  erschien  die  von  Mahmud  Schewket  gewählte  Lösung  immerhin 
als  das  geringere  Übel.  Sie  bot  jedenfalls  den  Vorteil,  daß  ähnlichen 
Bestrebungen  anderer  Mächte  und  in  weiterer  Linie  auch  den  auf 
Beschleunigung  des  Zersetzungsprozesses  hinarbeitenden  Kräften  tun- 
lichst vorgebeugt  wurde.  Sie  eröffnete  uns  außerdem  Aussichten  auf 
eine  Verständigung  mit  England  oder  wenigstens  die  Möglichkeit  zu 
einer  gemeinsamen,  auf  die  Erhaltung  des  türkischen  Reiches  ge- 
richteten Arbeit.  Andererseits  hätte  England,  falls  es  sich  einem  solchen 
Zusammenwirken  mit  uns  entziehen  wollte,  denjenigen  Einfluß  nicht 
ignorieren  können,  den  wir  durch  unsere  maßgebende  Stellung  in 
militärischen  Dingen  und  auf  dem  Gebiete  der  Jugenderziehung  erlangt 
hätten.  Wir  würden  immer  in  der  Lage  gewesen  sein,  durch  geschickte 
Verwendung  der  deutschen  Militärreformer  etwaige  englische  Sonder- 
bestrebungen zu  kontrollieren  und  zu  paralysieren. 


•  Siehe  Nr.   15  312. 

59 


Mahmud  Schewket  Pascha  wird  nunmehr  darauf  angewiesen  sein, 
das  von  ihm  geplante  Reformwerk  im  wesentlichen  ohne  ausländische 
Beihilfe  auszuführen.  Türkische  Beamte  werden  jetzt,  wenn  nicht  noch 
Unvorhergesehenes  eintrifft,  auch  die  den  englischen  Instrukteuren  zu- 
gewiesenen Aufgaben  allein  zu  erfüllen  haben.  Nach  den  Absichten, 
die  die  türkische  Regierung  mit  der  Schaffung  der  gedachten  General- 
inspektionen verfolgt,  und  der  Art  und  Weise  zu  urteilen,  wie  deren 
Tätigkeit  sich  zu  entfalten  haben  wird,  sollte  man  zunächst  wohl  zur 
Hoffnung  berechtigt  sein,  daß  auch  der  allein  gelassenen  Türkei 
wenigstens  ein  gewisser  Erfolg  nicht  ganz  versagt  bleiben  wird. 

Die  Regierung  ist  durch  die  Neuorganisation  einen  Schritt  weiter 
auf  dem  Wege  der  Dezentralisation  gegangen.  Zwar  nicht  in  dem  von 
gegnerischer  Seite  angeregten  Sinne,  daß  die  Befugnisse  der  provin- 
zialen  Wahlkörperschaften  eine  Erweiterung  erfahren,  in  dieser  Hinsicht 
bleiben  die  Bestimmungen  des  Wilajetsgesetzes  unberührt.  Aber  sie 
schafft  zwischen  Provinzialverwaltung  und  Zentralregierung  eine  Zwi- 
scheninstanz, der  ein  Teil  der  früher  der  Pforte  allein  zustehenden 
Regierungsgewalt  übertragen  wird.  Der  Generalinspekteur  wird  künftig 
an  Ort  und  Stelle,  ohne  an  zeitraubende  Korrespondenz  mit  der  Zentral- 
instanz unbedingt  gebunden  zu  sein,  auf  Grund  seiner  Kenntnis  der 
örtlichen  Verhältnisse  direkt  eingreifen  und  entscheiden  können.  In 
der  richtigen  Erkenntnis,  daß  die  verschiedenen  Reichsteile  nach  ihrer 
nationalen  Eigenart  sowie  nach  ihrer  ganzen  kulturellen  und  poli- 
tischen Entwickelung  erhebliche  Unterschiede  aufweisen,  hat  die  Re- 
gierung ferner  die  Absicht,  die  einzelnen  Inspektionszonen  in  erster 
Linie  nach  obigen  Gesichtspunkten  abzugrenzen  und  die  einzelnen 
Generalinspekteure  je  nach  den  Umständen  mit  weiteren  oder  ge- 
ringeren  Machtvollkommenheiten   auszustatten. 

Der  Entschluß  der  Komiteepartei,  den  früher  begangenen  Weg 
zu  verlassen  und  an  Stelle  der  bisher  beliebten  Methode,  sämtliche 
Bewohner  des  Reiches  als  gleichberechtigte  „Osmanen"  nach  gleichen 
Grundsätzen  und  Gesetzen  regieren  zu  wollen,  eine  vernünftige  Dif- 
ferenzierung der  verschiedenartigen  Bevölkerung  eintreten  zu  lassen, 
ist  ein  wesentlicher  Schritt  zur  Besserung  auf  Grund  voraufgegangener 
trauriger  Erfahrungen. 

Trotzdem  wird  man  der  weiteren  Entwickelung  nicht  ohne  Be- 
sorgnis entgegensehen  müssen.  An  Gesetzen  und  Reformprogrammen 
hat  es  der  Türkei  von  jeher  viel  weniger  gefehlt  als  an  den  Männern, 
die  an  richtiger  Stelle  das  Richtige  zu  leisten  imstande  waren.  Daß 
mit  der  Einrichtung  einer  Reihe  von  Inspektionsbehörden  diesem 
Kardinalfehler  ohne  weiteres  abgeholfen  sein  wird,  daran  glaubt  im 
Ernste  niemand.  Von  einigen  hervorragenden  Persönlichkeiten  abge- 
sehen —  ich  denke  beispielsweise  an  Hussein  Hilmi  Pascha,  der  an- 
geblich für  das  syrische  Generalinspektorat  gewonnen  sein  soll  — 
dürften   die   türkischen    Inspekteure    mit   dem    neuen    Amt   schwerlich 

60 


auch  diejenige  Unabhängigkeit  des  Urteils,  die  Arbeitskraft  und  Ent- 
schlossenheit sowie  dasjenige  Verantwortlichkeitsgefühl  verliehen  er- 
halten, welche  einen  vollen  Erfolg  allein  sichern  könnten.  Schlägt  aber 
auch  dieser  Versuch  einer  Verwaltungsreform  fehl,  so  sind  die  Folgen 
für  die  Türkei  nicht  abzusehen. 

Wangen  heim 

Nr.  15  319 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  den 
Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Privatbrief.    Ausfertigung 

London,  den  2.  Juni  1913 

Den  Ausführungen  Ihres  Briefes  vom  29.  v.  Mts.  *  vermag  ich 
vollkommen  zuzustimmen.  Auch  ich  würde  es  für  äußerst  bedenk- 
lich halten,  mit  Cambon  oder  Pichon  sich  in  Unterhaltungen  einzu- 
lassen, die  eine  Einteilung  Kleinasiens  in  Interessensphären  zum  Ziele 
hätten,  oder  bei  denen  wir  gar  durchblicken  ließen,  daß  wir  dem  Ge- 
danken einer  späteren  Aufteilung  des  türkischen  Besitzstandes  näher 
treten  wollten.  Daß  die  Franzosen  Absichten  auf  Syrien  haben,  ist 
ebenso  bekannt,  als  daß  von  englischer  Seite  diesen  Absichten  ent- 
gegengetreten worden  ist.  Wenn  Kitchener  von  Ägypten  aus  ver- 
sucht hat,  englische  Propaganda  in  Syrien  zu  machen  und  die  dort 
vorhandenen  starken  britischen  Sympathien  zu  beleben,  so  ist  das 
sicherlich  in  Paris  übel  vermerkt  worden.  Aber  auch  von  hier  aus  hat 
man  ihm  bedeutet,  daß  die  britische  Regierung  derartigen  Plänen 
ablehnend  gegenübersteht  und  wünscht,  wie  ich  wiederholt  fest- 
gestellt habe,  in  Gemeinschaft  mit  uns  an  der  Erhaltung  der 
asiatischen  Türkei  zu  arbeiten.  Der  Zerfall  der  letzteren  würde  den 
britischen  Wünschen  schon  deshalb  nicht  entsprechen,  weil  sie  unsere 
Festsetzung  als  Mittelmeermacht  ungern  sehen  würde  und  es  auch 
schon  aus  geographischen  Gründen  schwer  fiele,  ein  für  Großbritan- 
nien geeignetes  Stück  herauszuschälen.  Nachdem  wir  nun  immerfort 
hier  betont  haben,  daß  die  Erhaltung  des  türkischen  Besitzstandes 
in  Kleinasien  uns  unbedingt  erforderlich  erscheint,  würde  es  den 
allerungünstigsten  Eindruck  machen,  wenn  es  bekannt  würde,  daß 
wir  hinter  dem  Rücken  der  Engländer  mit  Frankreich  in  Unterhand- 
lungen uns  einlassen,  die  die  Teilung  Kleinasiews  bezweckten.  Bei 
dem  Abhängigkeitsverhältnis,  in  dem  Frankreich  sich  zu  England  be- 
findet, ist,  wie  Sie  auch  sagen,  kaum  anzunehmen,  daß  derartige  Be- 


*  Bei  dem  Briefe  Staatssekretärs  v.  Jagow  vom  29.  Mai  handelte  es  sich  um 
eine  Abschrift  seines  am  gleichen  Tage  an  den  Botschafter  in  Paris  Freiherrn 
von  Schoen  gerichteten  Briefes.  Siehe  dessen  Wortlaut  in  Bd.  XXXVII,  Kap. 
CCLXXXVI,  Nr.   14  917. 

61 


sprechungen  geheim  bleiben.  Grey  ist  gerade  im  Begriff,  sich  mit 
uns  über  die  Bagdadbahnfrage  zu  verständigen  und  unseren  Wünschen 
ein  weitgehendes  Entgegenkommen  zu  zeigen  *,  und  würde  es  als 
unfair  betrachten,  wenn  wir  gleichzeitig  geheime  Unterhandlungen 
hinter  seinem  Rücken  mit  Frankreich  führten. 

Wenn  wir  also  mit  Frankreich  in  Besprechungen  eintreten,  so 
können  dieselben  nur  allgemein  wirtschaftliche  Fragen,  namentlich 
aber  die  Bagdadbahn  und  deren  Finanzierung  betreffen.  Hier  wünscht 
Grey,  daß  wir  uns  mit  Paris  einigen,  und  hat  auch  in  diestem  Sinne 
sich  Cambon  gegenüber  ausgesprochen  **.  Jedenfalls  dürfte  der  Augen- 
blick hierfür  sehr  günstig  sein,  da  die  Franzosen  wohl  teils  auf  die 
englische  Anregung  hin,  teils  aber  vielleicht  auch  aus  Furcht,  daß 
wir  uns  allein  mit  England  verständigen,  einer  Einigung  nicht  abgeneigt 
zu  sein  scheinen.  Was  Sie  aber  auch  tun  mögen,  vermeiden  Sie  vor 
allem,  sich  auf  Dinge  einzulassen,  die  angeblich  hinter  dem  Rücken 
der  Engländer  verhandelt  werden  sollen.  Damit  würden  wir  bestimmt 
hereinfallen,  denn  es  ist  doch  ganz  klar,  daß  man  in  Paris,  ganz  ab- 
gesehen von  der  von  Ihnen  erwähnten  Unzuverlässigkeit  der  dortigen 
Machthaber,  nur  auf  eine  Gelegenheit  lauert,  um  wieder  Mißtrauen 
zwischen  uns  und  den  Engländern  zu  säen.  Greys  Natur  liegt  die 
Intrige  vollkommen  fern,  aber  gerade  deshalb  würde  er  sie  auch 
uns  besonders  verübeln. 

Lichnowsky 
Nachschrift 

Eben  kommt  Ihr  zweiter  Brief***.  Ich  habe  Grey  nur  gesagt,  die 
Franzosen  scheinen  sich  mit  uns  seinen  Wünschen  entsprechend  über 
Bagdadbahn  und  Finanzfragen  verständigen  zu  wollen.  Es  liegt  ihm 
dies  sehr  am  Herzen. 

Nr.  15  320 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept 

Nr.  175  Berlin,  den  4.  Juni  1913 

Zur  schleunigen  Verwertung: 

Fürst  Lichnowsky  ist  beauftragt!,  in  nächster  Botschaftersitzung 


•  Vgl.  dazu   Bd.  XXXVII,   Kap.  CCLXXXV. 

••  Vgl.   dazu    Bd.   XXXVII,   Kap.   CCLXXXVI. 

***  Hier   handelt    es    sich    um    den    Privatbrief    Staatssekretärs   v.    Jagow    vom 

31.   Mai;  siehe   Nr.    15  317. 

f  Es  war  durch  Telegramm   Nr.  314  vom   3.   Juni   geschehen,  nachdem  Fürst 

62 


zu  beantragen,  daß  angesichts  ihrer  Dringlichkeit  armenische  Reform- 
frage auf  Programm  der  Versammlung  gesetzt  wird.  Wir  haben  uns  zu 
diesem  Schritt  entschlossen,  weil  wir  Grund  zur  Annahme  haben,  daß 
sonst  andere,  nicht  türkenfreundliche  Mächte  armenische  Frage  in 
die  Hand  nehmen  wollen*,  und  wir  es  im  türkischen  Interesse  für 
notwendig  halten,  das  Prävenire  zu  spielen.  Wir  hoffen,  daß  Groß- 
wesir einverstanden  ist. 

Jagow 


Lichnowsky  mittels  Bericht  Nr.  350  vom  31.  Mai  (siehe  Bd.  XXXIV,  Kap. 
CCLXX1I,  Nr.  13  354),  das  weitere  Programm  der  Botschaf terreunion  mitgeteilt 
hatte. 

*  Ursprünglich  scheint  Sir  E.  Grey  selbst  die  Absicht  gehabt  zu  haben,  die 
armenische  Frage  auf  der  Londoner  Botschaf  terreunion  vorzubringen;  er  fügte 
sich  aber  dem  Einspruch  der  russischen  Regierung,  die  sich  mehr  von  Be- 
sprechungen der  Frage  durch  die  Konstantinopeler  Botschafter  versprach.  Vgl. 
das  Geheimtelegramm  Sasonows  an  Graf  Benckendorff  vom  25.  Mai  1913,  Der 
Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  166.  Es  heißt 
darin:  „Wie  wir  hoffen,  wird  er  —  Sir  E.  Grey  —  verstehen,  daß,  obwohl  wir 
gern  seinem  Wunsche  nach  der  Wahl  Londons  als  Ort  der  Besprechungen  statt- 
geben möchten,  Gründe  politischer  und  praktischer  Art  uns  zwingen,  auf  Kon- 
stantinopel zu  bestehen,  wo  die  Botschafter  besser  unterrichtet  und  in  Fühlung 
mit  der  Pforte  und  den  Armeniern  eher  in  der  Lage  sind,  die  ihnen  zu  über- 
tragende Aufgabe  zu  erledigen."  Ein  zweites  Geheimtelegramm  Sasonows  an 
Benckendorff  vom  28.  Mai  (a.  a.  O.,  III,  170)  beweist,  daß  die  russische 
Regierung  gar  nicht  an  allgemeine  Botschafterbesprechungen,  sondern  an 
Besprechungen  der  Ententebotschafter  unter  Ausschluß  vor  allem  Deutschlands 
dachte:  „Bitte  fragen  Sie  Grey,  ob  er  keine  Bedenken  dagegen  hat,  daß  unser 
Botschafter  in  Konstantinopel  sich  mit  der  Pforte  in  freundlichem,  aber  be- 
stimmtem Ton  ausspricht,  ohne  England  zu  nennen,  indem  er  aber  auf  jede 
Macht  Bezug  nimmt,  die  von  der  Türkei  unter  Ausschluß  von  uns  eingeladen 
werden  könnte.  Ein  derartiger  Schritt  würde  das  beste  Mittel  sein,  um  der 
Gefahr  der  Einladung  deutscher  Offiziere  durch  die  türkische  Regierung  vor- 
zubeugen. Eine  Auseinandersetzung  mit  dem  Berliner  Kabinett  erscheint  uns 
verfrüht.  Denn  es  würde  unmöglich  sein,  Deutschland  an  der  Initiative,  die  wir 
den  Dreiverbandsmächten  vorbehalten  möchten,  nicht  zu  beteiligen."  Tatsäch- 
lich traten  in  Konstantinopel  zunächst  die  Botschafter  der  Tripelentente  zu  Vor- 
besprechungen zusammen.  Am  7.  Juni  meldete  Botschafter  von  Giers  anSasonow: 
„Mir  wäre  es  sehr  erwünscht,  wenn  vor  der  Erörterung  der  Frage  auf  einer 
Sitzung  aller  Botschafter  zwischen  uns  dreien  ein  volles  Einverständnis  erzielt 
wäre,  und  zwar  um  so  mehr,  als  ich  einen  starken  Widerstand  von  seiten  der 
Botschafter  Österreichs  und  Italiens  voraussehe,  namentlich  von  seiten  des 
ersteren,  obwohl  es  keinerlei  österreichische  und  italienische  Interessen  in 
Armenien  gibt,  aber  weil  beide  der  Türkei  gefällig  sein  wollen."  A.  a.  O.,  III, 
172.  Kurz  darauf  entschloß  sich  die  russische  Regierung  wohl  auf  englisches 
Andringen  doch,  die  Mächte  zu  Botschafterbesprechungen  in  Konstantinopel 
einzuladen.  Vgl.  Nr.   15  331. 


63 


Nr.  15  321 
Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  153  Rom,  den  4.  Juni  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  193*. 

Marquis  di  San  Giuliano,  lebhaft  überrascht  durch  Absicht  Kaiser- 
licher Regierung,  armenische  Reformfrage  auf  Programm  Botschafter- 
reunion  zu  setzen,  bittet  zunächst  um  einige  Aufklärung  über  Motive. 
Anschneiden  armenischer  Reformfrage  bedeute  Aufrollen  aller  asiati- 
schen Fragen  und  sei  von  unübersehbarer  Tragweite. 

Flotow 


Nr.  15  322 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Rom  von  Flotow 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  194  Berlin,  den  4.  Juni  1913 

Bitte  Marquis  di  San  Giuliano  streng  vertraulich  mitteilen,  daß  wir 
uns  der  Gefahr  des  Anschneidens  armenischer  Reformfrage  wohl  be- 
wußt sind,  aber  Grund  zur  Annahme  haben,  daß  sonst  Rußland  Frage 
allein  bezw.  mit  Entente  ohne  Dreibund  zu  lösen  sucht,  wir  daher 
für  besser  halten,  unverzüglich  Prävenire  zu  spielen.  Hiesiger  tür- 
kischer Botschafter  ist  gleicher  Ansicht.  Bitte  Marquis  di  San  Giuliano, 
diese  Motive  geheimzuhalten. 

Jagow 


Nr.  15  323 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  139  Wien,  den  4.  Juni  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  229**. 

Graf  Berchtold  wird  österreichisch-ungarischen  Vertreter  in  Lon- 
don entsprechend  instruieren. 

Tsch  irs  chky 


*  Durch  Telegramm  Nr.  193  vom  3.  Juni  war  Flotow  von  der  Absicht  in 
Kenntnis  gesetzt,  die  armenische  Reformfrage  auf  das  Programm  der  Bot- 
schafterreunion  zu  setzen,  und  angewiesen,  die  italienische  Regierung  um  Unter- 
stützung dieses  Vorhabens  anzugehen.  Ein  Gleiches  geschah  durch  Telegramm 
Nr.  229  nach  Wien. 
••  Vgl.   Nr.    15  321,    Fußnote*. 

64 


Nr.  15  324 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  354  London,  den  2.  Juni  1913 

[pr.  5.  Juni] 

Bei  meinem  heutigen  Besuch  bei  Sir  Edward  Grey  brachte  ich  die 
Sprache  nochmals  auf  die  Frage  der  anatolischen  Reformen  und  hob 
dabei  hervor,  wie  großen  Wert  wir  darauf  legten,  in  völliger  Über- 
einstimmung mit  der  britischen  Regierung  vorzugehen,  damit  auch 
jeder  Anschein  vermieden  werde,  als  wolle  eine  der  Mächte  der  anderen 
gegenüber  eine  Vorzugsstellung  einnehmen.  Wir  hätten  es  daher 
dankbar  begrüßt,  daß  der  Minister  es  abgelehnt  habe,  der  Türkei 
ein  zahlreiches  Reformerpersonal  zur  Verfügung  zu  stellen,  welches 
auch  die  Zivilverwaltung  erhalten  sollte.  Eine  derartige  Ausdehnung 
des  britischen  Einflusses  würde  bei  uns  mißverstanden  werden  und 
könnte  der  öffentlichen  Meinung  Anlaß  zu  Beunruhigungen  geben. 
Wir  stünden  nach  wie  vor  auf  dem  Standpunkt,  daß  die  europäische* 
Türkei  erhalten  werden  müsse,  und  ich  hätte  Euerer  Exzellenz  ver- 
sichert, daß  die  britische  Regierung  dieselben  Absichten  verfolge  und 
ihr  jeder  Plan  einer  Aufteilung  Kleinasiens  vollkommen  fernläge.  So- 
lange auch  Großbritannien  diesen  Gedanken  verträte,  würden  wir 
die  bisherige  Zurückhaltung  bewahren  und  uns  auf  unsere  wirtschaft- 
lichen Interessen  beschränken,  sollte  aber  jemals,  was  wir  nicht 
wünschten,  eine  Teilung  der  Türkei  eintreten,  so  würden  auch  wir 
unseren  Anteil  beanspruchen  und  könnten  nicht  leer  ausgehen. 

Was  die  Frage  der  Reformen  beträfe,  so  seien  auch  wir  von  der 
Notwendigkeit  derselben  überzeugt;  namentlich  müsse  etwas,  und  zwar 
möglichst  schleunigst,  in  Armenien  geschehen,  da  dort  unhaltbare  Zu- 
stände herrschten.  Wir  seien  bereit,  uns  hierüber  wie  in  der  Frage 
der  Allgemeinreformen  mit  Großbritannien  zu  verständigen.  Auch 
hätten  wir  aus  seiner  Rede  mit  Genugtuung  ersehen,  daß  er  diese 
Frage  als  eine  Angelegenheit  aller  Mächte  betrachte,  mithin  keine 
Vorzugsstellung  einer  einzelnen  anstrebe. 

Sir  Edward  erwiderte,  daß  die  Türkei  ihn  mit  der  Bitte  um  Ge- 
währung eines  zahlreichen  Stabes  von  Beamten  und  Offizieren  an- 
gegangen habe.  Mit  Rücksicht  auf  die  Empfindlichkeit  und  die  Rechte 
anderer  Mächte,  namentlich  auch  auf  uns,  habe  er  es  abgelehnt,  den 
türkischen  Wünschen  zu  willfahren.  Er  habe  sich  darauf  beschränkt, 
einige  wenige  Offiziere  für  die  Gendarmerie  in  Aussicht  zu  stellen, 


*  Wohl   verschrieben    für    „kleinasiatische". 

5    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  65 


die  aber  nur  provisorisch  hingeschickt  werden  sollten  und  vielleicht 
in  den  Rahmen  eines  späteren  größeren  Reformwerks  hineingepaßt 
werden  könnten.  Auch  sollten  diese  nicht  für  die  ganze  Türkei,  son- 
dern nur  für  einige  Provinzen  Verwendung  finden.  Er  habe  diese  Bitte 
schon  deshalb  nicht  ablehnen  können,  weil  er  sonst  die  Verantwortung 
für  etwaige  Massakers  auf  sich  genommen  hätte.  Reformen  müßten 
von  den  Mächten  gemeinsam  ausgehen  und  könnten  vielleicht  in 
Armenien  ihren  Anfang  nehmen.  Vielleicht  ließe  sich  das  armenische 
Statut  nach  den  Vorschlägen  der  Botschafter  des  Jahres  1895  als 
Grundlage  verwenden  auch  für  die  anderen  Provinzen.  Er  frug  mich, 
ob  wir  hinsichtlich  der  Reformen  irgendwelche  Vorschläge  zu  machen 
hätten.  Ich  verneinte  dies  und  forderte  ihn  auf,  seinerseits  mit  An- 
regungen hervorzutreten.  Er  wiederholte,  daß  er  die  Türkei  erhalten 
wolle  und  keine  Teilungspläne  hege. 

Sir  Edward  scheint  sich  noch  nicht  ganz  im  klaren  zu  sein,  nach 
welchen  Grundsätzen  die  Mächte  zu  Reformen  ihre  Hand  bieten  sollen, 
ob  nach  Verwaltungszweigen  oder  Interessensphären.  Ich  warnte  vor 
letzterer  Lösung  und  hob  hervor,  daß  die  Abgrenzung  von  Interessen- 
sphären auf  erhebliche  Schwierigkeiten  stoßen  und  leicht  zu  uner- 
wünschten Folgen  führen  könne.  Jedenfalls  beschäftigt  ihn  der  Ge- 
danke der  Interessensphären  und  ist  es  auch  bezeichnend  für  seinen 
guten  Willen,  daß  er  mit  uns  davon  spricht,  unter  Umständen  also 
bereit  ist,  unsere  Interessensphären  anzuerkennen. 

Li  ch  no  ws  ky 

Nr.  15  325 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  226  London,  den  5.  Juni  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  317*. 

Habe  gestern  Sir  E.  Grey,  der  hier  speiste,  vertraulich  von  unseren 
Wünschen  in  Kenntnis  gesetzt.  Der  Minister  schien  Verhandlung 
armenischer  oder  anatolischer  Reformen  hier  nicht  zu  wünschen,  da 
sonst  der  ganze  Sommer  darüber  hingehen  werde.  Er  bezeichnete 
Botschafter  in  Konstantinopel  als  geeignetes  Forum,  wollte  mich  aber 
noch  heute  vor  Sitzung  darüber  sprechen. 

Li  ch  no  ws  ky 


•  Durch  Telegramm  Nr.  317  vom  4.  Juni  war  Fürst  Lichnowsky  im  An- 
schluß an  Telegramm  Nr.  314  (siehe  Nr.  15  320,  Fußnote  f)  angewiesen 
worden:  „Bitte  vor  Anschneiden  armenischer  Reformfrage  weitere  Instruktion 
abwarten,  da   wir  noch   Antwort  aus   Konstantinopel   erwarten." 

66 


Nr.  15  326 
Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  154  Rom,  der*  5.  Juni  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  194*. 

Sehr  ungern  und  nach  längerem  Drängen  hat  Marquis  di  San 
Giuliano  seinen  Widerstand  gegen  Aufnahme  armenischer  Reform- 
frage in  London  fallen  lassen.  Er  argwöhnte,  daß  Kaiserliche  Regierung 
zu  Vorgehen  nur  durch  türkischen  Botschafter  Berlin  bewogen  worden 
sei.  Aktion  sei  gefährlich  und  zweischneidig.  Jedenfalls  müsse  man 
in  London  so  vorgehen,  daß  Empfindlichkeit  der  Türkei  geschont  und 
Dinge  so  dargestellt  würden,  als  handle  es  sich  um  Schutz  der 
Türkei.  Habe  ihn  darauf  hingewiesen,  daß  unsere  ganze  Politik  auf 
Erhaltung  und  Schutz  der  Türkei  gehe.  Minister  meinte,  nach  seinen 
Informationen  sei  Lage  in  Armenien  zurzeit  weniger  schlecht. 

Flotow 

Nr.  15  327 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  300  Therapia,  den  5.  Juni  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  175**. 

Oroßwesir  erwiderte  sichtlich  betreten,  nach  seinen  bisherigen 
Informationen  läge  bei  anderen  Mächten  keine  Absicht  vor,  Armenier- 
frage auf  Programm  Botschafterversammlung  zu  setzen.  Er  werde 
Tewfik  Pascha  telegraphisch  um  seine  Ansicht  bitten  und  morgen 
nachmittag   mir  näher   Rede  stehen. 

Wenn  unsere  Anregung  auch  dringend  geboten  erscheint,  sobald 
Anschneidung  der  Frage  von  türkenfeindlicher  Seite  feststeht  —  was 
ich  Mahmud  Schewket  gegenüber  vertreten  habe  — ,  so  hängt  ihr  Er- 
folg doch  ausschließlich  von  der  Form  ab,  in  welche  sie  von  Fürst 
Lichnowsky  gekleidet  wird.  Enthält  sie  eine  Kritik  der  Türkei  und 
eine  Anerkennung  der  maßlos  übertriebenen  armenischen  Ansprüche, 
so  würde  dies  das  Selbstgefühl  der  Armenier  steigern  und  könnte  leicht 
zu  Provokationen  führen,  die,  wie  seinerzeit  in  Adana,  mit  Massakers 
enden  würden.  Die  armenischen  Provinzen  sind  gegenwärtig  von 
Truppen  fast  gänzlich  entblößt. 

Wangenh  eim 

*  Siehe  Nr.   15  322. 
•*  Siehe  Nr.  15  320. 

5*  67 


Nr.  15  328 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  177  Berlin,  den  6.  Juni  1913 

Unsere  Anregung  ausgeht  nur  von  dem  Wunsch,  eine  unvermeid- 
liche Frage  möglichst  schonend  für  Türkei  zu  gestalten.  Sir  Edward 
Grey  scheint  wenig  geneigt,  Frage  in  London  zu  verhandeln,  um  Aus- 
dehnung dortiger  Konferenz  zu  vermeiden,  und  würde  voraussicht- 
lich Konstantinopel  vorschlagen. 

Falls  dies  Wünschen  des  Oroßwesirs  entspricht,  würden  wir  dies- 
bezüglichen Antrag  stellen.  Bitte  Großwesir  nach  seinen  Wünschen 
betreffend  Form  fragen,  da  wir  uns  möglichst  danach  richten  wollen. 

J  ago  w 
Nr.  15  329 
Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  326  Berlin,  den  7.  Juni  1913 

Im  Anschluß   an  Telegramm  Nr.  324*. 

Baron  Wangenheim  telegraphiert**: 

„Großwesir  sagte  mir,  er  habe  wegen  Anregung  der  armenischen 
Frage  durch  uns  mit  verschiedenen  politischen  Freunden  gesprochen. 
Letztere  hätten  übereinstimmend  die  Meinung  geäußert,  daß  Deutsch- 
land sich  von  den  Mohammedanern  ab-  und  den  Armeniern  zuwende, 
worauf  auch  schon  der  Flottenbesuch  in  Mersina  und  Alexandretta  *** 
hingedeutet  hätte.  Er  persönlich  wisse  ja,  daß  es  uns  nur  darauf  an- 
komme, die  Armenier  nicht  ganz  unter  russischen  Einfluß  fallen  zu 
lassen.  Die  Feinheit  einer  solchen  Politik  könne  er  aber  kaum  einem 
Kollegen,  geschweige  denn  dem  Volk  verständlich  machen.  Ihm  schiene 
es  mehr  im  deutschen  und  türkischen  Interesse  zu  liegen,  wenn  die 
Frage  von  türkenfeindlicher  Seite  angeschnitten  würde.  In  einem 
solchen  Falle  würde  er  sofort  durch  amtliche  Kundgebung  darauf  hin- 
weisen können,  daß  die  armenischen  Schwierigkeiten  lediglich  durch 
die  Weigerung  Rußlands  hervorgerufen  seien,  Straßen  und  Eisenbahnen 


*  Durch  Telegramm   Nr.   324  waren  das   Konstantinopeler  Telegramm  Nr.   300 
(siehe  Nr.    15  327)   und  der  Erlaß   Jagows  nach  Konstantinopel   Nr.   177  (siehe 
Nr.    15  328)    dem    Fürsten    Lichnowsky    mitgeteilt    worden. 
•*  Telegramm    Nr.    302    vom    6.    Juni. 

***  Vgl.  Nr.  15  289,  15  302.  Vom  12.  April  ab  war  durch  die  Kreuzer  „Straß- 
burg" und  „Dresden"  ein  regelmäßiger  stationärer  Dienst  vor  Alexandretta 
und  Mersina  aufgenommen  worden. 

68 


in  den  bedrohten  Gebieten  bauen  zu  lassen.  Zu  einer  deutschen 
Initiative  müsse  die  Türkei  schweigen.  Welche  Wirkung  unser  Vor- 
gehen auf  die  Armenier  ausüben  werde,  brauche  er  mir  nicht  zu  sagen." 
Unter  diesen  Umständen  bitte  von  Anregung  der  Frage  auf  Kon- 
ferenz absehen,  da  wir  wegen  unserer  vielfachen  Interessen  in  der 
Türkei  auf  deren  Wohlwollen  angewiesen  sind.  Sollte  Frage  von 
anderer,  das  heißt  Tripelentente-Seite  angeregt  werden,  bitte  zu  erklären, 
daß  armenische  Reformen  Mitwirkung  aller  Großmächte  erfordern. 
Bitte  ferner  Sir  Edward  Grey  vertraulich  sagen,  daß  wir  von  Anregung 
armenischer  Reformfrage  auf  dringende  Warnung  des  Kaiserlichen 
Botschafters  in  Konstantinopel  Abstand  nähmen,  der  von  solcher  An- 
regung eine  Ermutigung  der  Armenier  zu  erneuter  Agitation  und  Ver- 
schlechterung der  Zustände  in  Armenien,  wo  jetzt  relative  Ruhe 
herrsche,  befürchtet.  Sollte  aber  Anregung  der  Reformfrage  von  anderer 
Seite  nicht  zu  vermeiden  sein,  so  müßten  wir  selbstverständlich  Teil- 
nahme an  Beratungen  und  Beschlüssen  verlangen. 

Jagow 

Nr.  15  330 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  178  Berlin,  den  7.  Juni  1913 

Auf  Telegramm  Nr.  302*. 

Bitte  Großwesir  folgendes  sagen:  Obwohl  wir  glaubten,  daß  eine 
von  uns  ausgehende  Anregung  der  armenischen  Reformfrage  für  Türkei 
nur  vorteilhaft  gewesen  wäre,  wollten  wir  doch  davon  Abstand  nehmen, 
um  Wünschen  des  Großwesirs  zu  entsprechen. 

Jagow 

Nr.  15  331 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.   Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  182  Berlin,  den   8.  Juni   1913 

[abgegangen  am  9.  Juni] 

Russischer  Botschafter  mitteilte  mir  heute  **,  da  Nachrichten  über 
Zustände  in  armenischen  Wilajets  immer  bedrohlicher  lauteten,  fordere 


•  Vgl.  Nr.   15  329  nebst  Fußnote**. 

**  Der  mündlichen   Mitteilung  vom   8.   Juni   folgte   am    11.   die  Übergabe  eines 

schriftlichen    Aide-memoire.     Bei    dieser    Gelegenheit    hatte    Staatssekretär    von 

69 


Rußland,  welches  als  Grenzstaat  und  wegen  seiner  eigenen  armenischen 
Bevölkerung  am  meisten  an  Aufrechterhaltung  der  Ruhe  interessiert 
sei,  die  Großmächte  durch  Zirkularnote  auf,  ihre  Botschafter  in  Kon- 
stantinopel anzuweisen,  daß  sie  in  Beratungen  über  Reformen  träten. 
Grundlage  der  Beratungen  würde  am  zweckmäßigsten  Statut  von 
1895  sein. 

Da  Reformwerk  sonst  zweifellos  ohne  uns  nur  seitens  Tripelentente 
in  Angriff  genommen  würde,  habe  ich  zugesagt,  Euerer  Exzellenz  ent- 
sprechende Weisungen  zu  erteilen,  und  hinzugefügt,  daß  ich  als 
selbstverständlich  annehme,  daß  Pforte  zu  Botschafterberatungen  zu- 
gezogen wird. 

Euere  Exzellenz  wollen  mit  Ihren  Kollegen  ins  Benehmen  treten  und 
Großwesir  vertraulich  informieren. 

J  ago  w 

Nr.  15  332 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  307  Therapia,   den  9.  Juni    1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  178*. 

Großwesir  meinte,  unsere  Anregung  sei  durch  das  russische  Vor- 
gehen gegenstandslos  geworden.  Für  die  Türkei  wäre  die  deutsche 
Initiative,  deren  gute  Absicht  er  jetzt  erst  recht  erkenne,  vorteilhafter 
gewesen;  der  deutschen  Stellung  in  der  Türkei  werde  unsere  Zurück- 
haltung nur  nützlich  sein. 

Wangenh  eim 


Jagow  mit  dem  russischen  Botschafter  Sverwejew  eine  ernstliche  Aussprache, 
bezüglich  deren  es  in  einem  Telegramm  Sverwejews  an  Sasonow  vom  11.  Juni 
(Russisches  Orangebuch:  Les  Reformes  en  Armenie,  p.  45s.,  Mandelstam,  Le 
Sort  de  l'Empire  Ottoman,  p.  215  s.)  heißt:  „Le  secretaire  d'Etat  etait 
visiblement  contraria  de  ce  que  le  gouvernement  imperial,  en  prenant  l'initiative 
dans  cette  question,  avait  devance  Paction  que  se  proposait  l'Allemagne  .  .  . 
Cependant,  M.  von  Jagow  promit  d'autoriser  le  Baron  von  Wangenheim  ä  entrer 
en  Communications  avec  ses  collegues,  mais  il  fit  observer  en  meme  temps, 
que  l'areopage  des  ambassadeurs  ne  devrait  pas  prendre  vis-ä-vis  de  la  Porte 
la  forme  d'un  tribunal  sans  appel,  et  que  la  Turquie  devrait  etre  appelee  a 
prendre  une  certaine  part  ä  l'elaboration  des  reformes."  Am  12.  beantwortete 
Staatssekretär  von  Jagow  das  russische  Aide-memoire  auch  schriftlich:  „Je  vois 
que  nos  Allies"  —  gemeint  war  Italien  —  „ont  ou  vont  ajouter  ä  leur  reponse 
qu'il  faudra  eviter  tout  ce  qui  pourrait  porter  prejudice  ä  l'integrite  de  l'Empire 
Ottoman  et  ä  la  souverainete  du  Sultan.  —  J'ai  considere  cette  reserve  comme 
selbstverständlich'  —  d'autant  plus  qu'elle  me  semble  conforme  ä  l'esprit  de 
votre  proposition  — ,  je  n'hesite  toutefois  pas  ä  declarer  que  nous  partageons 
entierement  les  points  de  vue  de  cette  reserve." 
*  Siehe  Nr.   15  330. 

70 


Nr.  15  333 

Der  Botschaf  ter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Privatbrief.  Ausfertigung 

Therapia,  den  7.  Juni   1913 
[pr.  11.  Juni] 

Nach  Empfang  Ihrer  für  mich  hochinteressanten  Zeilen  vom 
2.  d.  Mts.  *  habe  ich  sofort  mein  Urlaubsgesuch  zurückgezogen.  Ich 
verstehe  vollkommen,  daß  Ihnen  aus  meiner  auch  nur  kurzen  Ab- 
wesenheit von  hier  Unbequemlichkeiten  entstehen  könnten,  besonders 
angesichts  der  jetzt  wieder  schärfer  einsetzenden  alldeutschen  Hetze- 
reien. Andererseits  hätte  ich  den  dringenden  Wunsch  gehabt,  Sie  auch 
nur  für  eine  Stunde  zu  sprechen.  Ich  bin  hier  gar  nicht  im  Bilde  unserer 
gegenwärtigen  Stellung  zu  England,  von  der  ja  unsere  Stellung  zur 
Orientfrage  gegenwärtig  in  erster  Linie  abhängt.  Ferner  fühle  ich  das 
dringende  Bedürfnis,  mit  Ihnen  die  wirkliche  Lage  der  Türkei  zu 
besprechen.  Ich  glaube,  daß  wir  dieselbe  zu  pessimistisch  beurteilen 
und  uns  zu  sehr  mit  dem  Gedanken  vertraut  gemacht  haben,  daß  die 
geschlagene  Türkei  ihren  Gegnern  gänzlich  wehrlos  gegenüberstehe. 
Ich  weiß,  daß  Giers,  Bompard  und  Lowther  etwa  in  diesem  Sinne  be- 
richten. Das  muß  auf  die  bei  der  Londoner  Konferenz  herrschende 
Stimmung  abfärben.  Ich  befürchte,  daß  dort  Beschlüsse  gefaßt  werden, 
die  ohne  Gewaltmaßregeln  nicht  durchzuführen  sind.  Sehr  zweifelhaft 
ist  es  mir,  ob  mein  Einfluß  ausreichen  wird,  Mahmud  Schewket  zum 
Verzicht  auf  die  Inseln  zu  bestimmen**.  Ich  fürchte  immer,  daß  er 
schließlich  der  Sache  müde  wird  und  sein  Amt  niederlegt***.  Dann 
kommt  es  hier  zur  Anarchie,  und  die  Katastrophe  ist  da.  Sind  wir 
auf  dieselbe  vorbereitet  und  sicher,  daß  England  uns  eine  zunächst 
administrative  Festsetzung  in  Cilicien  gestattet? 

Ihnen  steht  gegenwärtig  kein  Berater  zur  Seite,  der  die  Türkei 
aus  eigener  Anschauung  wirklich  kennt.  Da  ich  diesen  Mangel  durch 
meine  Berichterstattung  nur  unvollkommen  und  durch  einen  münd- 
lichen Vortrag  nicht  ersetzen  kann,  so  würde  ich  es  mit  Freuden  be- 
grüßen, wenn  einer  Ihrer  Herrn  wenigstens  für  ein  paar  Tage  mich 
hier  besuchen  wollte,  damit  ich  ihm  an  der  lebenden  Materie  meine 
Auffassung  erläutern  könnte.  Meine  Frau  bittet  heute  Mirbach  f ,  meine 
Schwiegermutter  hierher  zu  bringen.  Vielleicht  könnten  Sie  ihn  oder 
irgendeinen  anderen  für  kurze  Zeit  entbehren.  Selbstverständlich  würde 
der  Betreffende  hier  mein  Gast  sein. 


*  Nicht  bei  den  Akten. 

**  Vgl.  dazu  Bd.  XXXV,  Kap.  CCLXXV. 

***  Er  wurde  wenige  Tage  darauf  (11.  Juni)  ermordet. 

t  Graf  Mirbach,  Vortragender  Rat  im  Auswärtigen  Amt. 


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Besonders  erwünscht  wäre  mir  die  Rücksprache  wegen  der  arme- 
nischen Frage.  Ich  durfte  Ihnen  schon  schreiben,  daß  unsere  Initiative 
mir  geboten  scheint,  wenn  dieselbe  tatsächlich  der  gefährlicheren 
Initiative  anderer  Mächte  zuvorkommt.  Wir  leisten  dann  der  Türkei 
einen  Dienst  und  beweisen  gleichzeitig,  daß  wir  in  allen  kleinasiatischen 
Fragen  jetzt  mitreden  wollen.  Ich  vermutete,  daß  die  Armenierange- 
legenheit auf  der  Botschafterkonferenz  als  eine  unter  vielen  Fragen  ge- 
prüft werden  solle.  Nunmehr  will  aber  Sir  E.  Grey,  wie  es  scheint, 
eine  wirkliche  Armenierkonferenz  in  Konstantinopel  abhalten.  Ich  halte 
dies  für  einen  außerordentlich  gefährlichen  Gedanken.  Was  Ruß- 
land und  natürlich  auch  Frankreich  bezüglich  der  Armenier  anstreben, 
geht  aus  der  Druckschrift  (Programm  der  cilicischen  Armenier*)  her- 
vor, die  mir  mit  dem  gestrigen  Depeschenkasten  zugegangen  ist.  Die 
Schrift  ist  auf  dem  hiesigen  Patriarchat  verfaßt,  das  von  Rußland 
finanziell  unterstützt  wird.  Was  in  der  Schrift  steht,  sind  also  russische 
Wünsche.  Rußland  soll  das  Recht  bekommen,  die  Ostprovinzen  so 
lange  zu  annektieren,  bis  die  Reform  durchgeführt  ist.  Cilicien  aber 
soll  autonome  Provinz  werden,  also  nicht  nur  für  jetzt,  sondern  auch 
im  Hinblick  auf  spätere  Eventualitäten  unserm  Einfluß  gänzlich  ent- 
zogen werden.  Welche  Stellung  sollen  wir  nun  einnehmen,  wenn  Ruß- 
land unterstützt  von  Frankreich  auf  der  hiesigen  Konferenz  mit  der- 
artigen Gedanken  hervortritt?  Es  muß  dann  zu  einem  Konflikt  zwischen 
uns  und  dem  Zweibund  kommen,  wobei  England  lau  zur  Seite  stehen 
würde.  Danach  wäre  es  zu  vermeiden,  daß  unsere  Beratungen  sich  zu 
einer  die  ganze  Türkei  erschütternden  Vorbereitung  einer  Intervention 
auswachsen.  Ich  würde  meine  Aufgabe  darin  erblicken  müssen,  von 
vorneherein  das  Niveau  unseres  Konsiliums  herabzudrücken  und  die 
Verhandlungen  auf  ein  ungefährliches  Geleise  zu  schieben.  Zunächst 
würde  ich  beantragen,  daß  den  Botschaften  zum  gründlichen  Studium 
der  Frage  einige  Monate  Zeit  gelassen  werde.  Tatsächlich  wissen  wir 
ja  nichts  über  Ostanatolien  und  müßten  erst  einmal  einen  Konsul  dort- 
hin schicken,  damit  er  sich  genau  informiert.  Dann  würde  ich  be- 
antragen, daß  die  Beratungen  nicht  zwischen  den  Botschaftern, 
sondern  zwischen  den  Dragomans  stattfinden.  Im  Plenum  würde 
es  sicher  zu  harten  Zusammenstößen  kommen,  da  ja  Rußland 
von  Straßen-  und  Wegebau  nichts  wissen  will.  In  London,  wo  niemand 
außer  Cambon  sachverständig  ist,  würde  es  sich  wahrscheinlich  leichter 
verhandeln  lassen.  Hier  ständen  unsere  Besprechungen  unter  dem 
Drucke  der  Armenier.  Kommt  dabei  nichts  heraus,  so  wird  Rußland 
dafür  sorgen,  daß  seine  Forderungen  durch  Bomben  und  Massakers 
illustriert  werden.  Werden  dagegen  die  Armenier  befriedigt,  so  be- 
ginnen sofort  die  Syrier  und  Araber  sich  zu  rühren.  Die  Konferenz 
kann  also  sehr  leicht  zu  dem   Kataklysmus  führen,  der  durch  unsere 


*  Näheres  darüber  bei  A.  Mandelstara,  Le  Sort  de  l'Empire  Ottoman,  p.  212  s. 
72 


Anregung  gerade  vermieden  werden  soll.  Es  dürfte  demnach  in  unserem 
Interesse  liegen,  wenn  das  Programm  von  vorneherein  auf  das  äußerste 
beschränkt  wird.  Vielleicht  kommt  dabei  doch  etwas  für  die  Armenier 
heraus.  Eine  radikale  Lösung  der  Frage  ist  ohne  Zusammenbruch  der 
Türkei  ausgeschlossen. 

Wangenheim 


Nr.   15  334 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  182  Therapia,  den  10.  Juni  1913 

Niemand  wird  behaupten  können,  daß  es  den  Armeniern  im 
türkischen  Reiche  besonders  gut  geht.  Auf  der  anderen  Seite  aber 
wird  kaum  jemand  zu  beweisen  vermögen,  daß  es  den  übrigen  Be- 
wohnern der  Türkei  und  namentlich  den  Türken  selbst  besser  geht 
als  den  Armeniern,  oder  daß  die  Lage  der  Armenier  heute  schlechter 
sei  als  zu  irgendeinem  früheren  Zeitpunkte  der  türkischen  Geschichte. 
Es  unterliegt  gar  keinem  Zweifel,  daß  die  jetzige  türkische  Regierung 
von  der  Notwendigkeit,  etwas  für  die  Armenier  zu  tun,  vollkommen 
überzeugt  und  gewillt  ist,  den  armenischen  Wünschen  so  weit  ent- 
gegenzukommen, als  dies  ohne  Sprengung  des  Zusammenhangs  zwi- 
schen den  einzelnen  Teilen  des  Reiches  überhaupt  möglich  ist.  Die 
Armenier  sind  in  der  Türkei  heute  immer  noch  verhältnismäßig  besser 
daran  als  die  Juden,  Polen  und  Finnen  in  Rußland.  Trotzdem  ist 
heute  eine  mit  den  radikalsten  Mitteln  arbeitende  Propaganda  damit 
beschäftigt,  überall  auf  der  Welt  den  Eindruck  hervorzurufen,  als 
ob  die  Leiden  der  Armenier  sich  von  Tag  zu  Tag  steigerten  und  jetzt 
einen  Höhepunkt  erreicht  hätten,  der  das  Eingreifen  Europas  nötig 
machte.  Delegierte  der  Armenier  bereisen  wehklagend  die  europäischen 
Hauptstädte,  und  hier  ist  ein  Bureau  errichtet,  in  welchem  die  Be- 
schwerden der  Armenier  aus  allen  türkischen  Provinzen  zusammen- 
laufen, um  dann  geschickt  redigiert  in  Tausenden  von  Bulletins  über 
die  ganze  Welt  verbreitet  zu  werden.  Der  Kaiserlichen  Botschaft  gingen 
solche  gedruckte  Anklagen  früher  etwa  einmal  wöchentlich  zu.  Jetzt 
erhalte  ich  sie  ein-  bis  zweimal  täglich.  Es  ist  deutlich  eine  syste- 
matische Steigerung  der  Agitation  zu  bemerken,  ohne  daß  aus  anderen 
als  aus  armenischen  Quellen  irgend  etwas  über  eine  Zunahme  türki- 
scher Ausschreitungen  verlautete.  Die  Gründe  der  Hochspannung  der 
armenischen   Agitation    liegen   ziemlich    klar   zutage.     Die   christlichen 

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Stämme  in  der  europäischen  Türkei  sind  vom  Türkenjoche  befreit 
worden.  Nunmehr  wollen  auch  die  kleinasiatischen  Christen  befreit 
werden.  Speziell  den  Armeniern  aber  fehlt  es  an  dem  befreienden 
Bruderlande,  das  für  sie  zum  Schwerte  greifen  könnte.  Sie  sind  daher 
auf  den  guten  Willen  der  Großmächte  angewiesen.  Nach  ihrer  An- 
sicht darf  der  Moment,  wo  die  Kabinette  sich  mit  der  Liquidation  der 
europäischen  und  mit  der  Zukunft  der  asiatischen  Türkei  beschäftigen, 
nicht  unbenutzt  vorübergehen.  Wären  die  Armenier  vernünftig,  so  wäre 
eine  Einigung  zwischen  den  Mächten  und  der  Türkei  über  eine  Ver- 
besserung ihres  Loses  bei  den  heutigen  Verhältnissen  leicht  erzielbar. 
Nun  gehen  aber  die  armenischen  Forderungen  weit  über  das  Maß  des- 
jenigen hinaus,  was  die  Türkei,  ohne  ihre  eigene  Existenz  zu  gefähr- 
den, gewähren  kann.  Die  Macht,  welche  die  Ansprüche  der  Armenier 
in  die  Höhe  schraubt,  ist  Rußland.  Mit  Hilfe  des  Katholikos,  des  hiesigen 
armenischen  Patriarchen  und  zahlloser  Agenten  in  allen  armenischen 
Gebieten  sowie  unter  Aufwand  bedeutender  Geldmittel  schürt  Ruß- 
land seit  Jahren  die  Unzufriedenheit  der  Armenier.  Es  verhindert,  daß 
in  Ostanatolien  Wege  und  Eisenbahnen  gebaut  werden,  ohne  welche 
die  türkische  Regierung  gar  nicht  in  der  Lage  ist,  zwischen  Kurden 
und  Armeniern  Ruhe  zu  stiften.  Ja,  es  unterstützt  neben  den  Armeniern 
auch  die  Kurden  mit  Geld  und  Waffen,  damit  diese  ihr  Räuberleben 
auf  Kosten  der  Armenier  fortsetzen  können.  Auch  das  hiesige  arme- 
nische Zentralkomitee  empfängt  Geld  und  Ratschläge  von  der  russischen 
Botschaft.  Die  armenische  Bewegung  ist  das  Mittel,  durch  welches 
Rußland  die  asiatische  Türkei  in  steter  Aufregung  und  in  einem  Zu- 
stande erhält,  welcher  es  Rußland  in  dem  gegebenen  Augenblicke 
gestattet,  als  interessierter  Grenzstaat  für  sich  das  Recht  der  Inter- 
vention in  Anspruch  zu  nehmen.  Mit  Hilfe  der  armenischen  Frage 
will  Rußland  sich  den  Weg  nach  Konstantinopel  offen  halten.  Sie  ist 
der  Schlüssel,  der  dereinst  die  Meerengen  öffnen  soll.  Meerengen- 
und  armenische  Frage  hängen  für  Rußland  zusammen,  und  man 
kann  mit  Bestimmtheit  annehmen,  daß,  sobald  von  St.  Petersburg  aus 
über  die  Not  der  Armenier  geklagt  wird,  ein  neuer  russischer  Vorstoß 
in  der  Richtung  auf  Konstantinopel  bevorsteht.  Ich  vermag  daher  die 
Ansicht  mehrerer  meiner  Kollegen  nicht  zu  teilen,  welche  die  jetzige 
Anregung  Rußlands  auf  den  Wunsch  dieser  Macht  zurückführen,  das, 
was  ihr  mit  dem  Scheitern  des  Balkanbundes  an  Prestige  in  Europa 
verloren  gehen  könne,  in  Kleinasien  wieder  zu  erobern.  Es  handelt 
sich  zweifellos  nicht  um  eine  spontane  Regung  der  russischen  Politik, 
sondern  um  die  letzte  Etappe  einer  sorgfältig  vorbereiteten  Aktion 
größten  Stils.  Die  Armenier  wurden  von  Rußland  schon  mit  Hoch- 
druck bearbeitet,  als  die  Balkanvölker  noch  gemeinsame  Siegesorgien 
feierten. 

Russische   Vorstöße   auf   Konstantinopel   wiederholen   sich   neuer- 
dings in  immer  rascherer  Folge.    Der  letzte  war  derjenige  des  Herrn 

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Tscharykow,  den  wir  mit  Österreich  zum  Scheitern  gebracht  haben  *. 
Herr  Tscharykow  ist  daraufhin  entlassen  worden.  Vestigia  terrent. 
Herr  von  Giers  hat  den  Plan  seines  Vorgängers  in  großzügigerer 
Form  wieder  aufgenommen  und  versucht  nun  auf  dem  Landwege,  was 
vor  zwei  Jahren  auf  dem  Wasserwege  mißlungen  war. 

Die  Anregung  des  Petersburger  Kabinetts  kann  daher  zweifellos 
gar  nicht  ernst  genug  aufgefaßt  werden.  Wird  Rußland  freier  Lauf 
gelassen,  so  muß  sich  aus  dem  verhältnismäßig  anodinen  Programme, 
welches  es  für  die  Konferenz  aufstellt,  eine  große  Aktion  entwickeln, 
die  zur  Auflösung  der  Türkei  führen  kann.  In  den  Armeniern  hat 
Herr  von  Giers  ein  starkes  Druckmittel  auf  seine  Kollegen  in  der 
Hand.  Gehen  die  Verhandlungen  nicht  vorwärts,  so  werden  auf 
russischen  Wink  in  allen  Gebieten  Unruhen  ausbrechen,  die  auf  die 
Entscheidungen  der  Konferenz  nicht  ohne  Einfluß  bleiben  würden. 
Das  erste  Massaker  an  der  russischen  Grenze  könnte  Rußland  den 
Vorwand  zum  Einmarsch  bieten. 

Trotzdem  teile  ich  nicht  die  Ansicht  des  Markgrafen  Pallavicini, 
daß  die  Teilung  der  Türkei  von  der  Tripelentente  beschlossen  sei, 
und  daß  der  Vorhang  über  dem  Schlußakte  des  türkischen  Drama9  sich 
demnächst  heben  werde.  Daß  Rußland  und  Frankreich  mit  der  Türkei 
ein  Ende  machen  möchten,  ist  hier  allerdings  ziemlich  deutlich  zu  er- 
kennen. Erst  gestern  wiederholte  mir  Herr  von  Giers  die  Bitte,  ich 
möchte  Euerer  Exzellenz  nahelegen,  sich  schleunigst  mit  der  russischen 
Regierung  über  die  Abgrenzung  der  beiderseitigen  Interessenzonen  zu 
verständigen.  Es  sei  die  höchste  Zeit  dazu.  Auch  Herr  Bompard  be- 
zeichnete es  mir  kürzlich  als  wünschenswert,  daß  wir  uns  mit  Frank- 
reich über  eine  räumliche  Scheidung  unserer  Interessen  auseinander- 
setzten. Rußland  und  Frankreich  möchten  also  Kleinasien  teilen,  ohne 
darüber  mit  uns  in  Händel  zu  geraten.  Ob  indes  die  dunklen  Ab- 
sichten dieser  beiden  Mächte  zur  Ausführung  gelangen,  und  ob  die 
Konferenz  über  die  armenische  Frage  sich  schließlich  in  ein  Erb- 
schaftsgericht umwandeln  wird,  das  hängt  nicht  nur  von  Frankreich 
und  Rußland,  sondern  in  erster  Linie  von  England  ab.  Geht  die 
Tripelentente  solidarisch  vor,  so  steht  Deutschland  wie  in  der  Insel- 
frage mit  seinem  Wunsche,  die  Türkei  zu  erhalten,  so  gut  wie  allein. 
Auf  die  Unterstützung  seiner  Verbündeten  wird  es  nur  in  beschränktem 
Maße  zählen  können.  Das  scheint  mir  selbst  die  Ansicht  meines 
österreichischen  Kollegen  zu  sein.  Allein  kann  Deutschland  die 
Türkei  nicht  retten.  Soweit  ich  nun  aber  von  hier  aus  die  englische 
Politik  in  den  letzten  Monaten  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt 
habe,  möchte  ich  nicht  glauben,  daß  England  so  ohne  weiteres  Ruß- 
land und  Frankreich  bezüglich  der  Türkei  freie  Hand  lassen  wird.  Eng- 
land kann  nach  den  Erfahrungen,  die  es  in  Persien  gemacht  hat,  nicht 


'  Vgl.  dazu  Bd.  XXX,  Kap.  CCXXXVI. 

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wünschen,  mit  Rußland  ein  Teilungsgeschäft  zu  machen,  dessen  Vor- 
teile lediglich  auf  russischer  Seite  lägen.  Es  muß  mit  der  Möglichkeit 
rechnen,  daß  Deutschland  sich  bei  der  Teilung  nicht  ausschließen  läßt. 
Alles,  was  England  in  der  letzten  Zeit  getan  hat,  läßt  eher  darauf  schlie- 
ßen, daß  es,  „der  Not  gehorchend,  nicht  dem  eignen  Trieb",  sich  für 
die  Erhaltung  der  Türkei  einsetzen  will  und  nur  zu  diesem  Zwecke  eine 
gewisse  Annäherung  an  Deutschland  gesucht  hat.  Es  würde  sich 
kaum  entschlossen  haben,  der  Türkei  Reformer  für  Armenier  in  Aus- 
sicht zu  stellen,  wenn  es  mit  dem  Übergange  Ostanatoliens  in  rus- 
sischen Besitz  ernsthaft  rechnete. 

Ich  möchte  daher,  Euerer  Exzellenz  Einverständnis  vorausgesetzt, 
meine  Haltung  bei  der  bevorstehenden  Botschafterkonferenz  nach 
diesem  Gesichtspunkte  einrichten.  England  wird  voraussichtlich 
wünschen,  daß  Deutschland  sich  extremen  russischen  Wünschen  wider- 
setzt, damit  dieses  Geschäft  nicht  von  England  selbst  besorgt  werden 
muß.  Es  wäre  nun  zweifellos  ein  Fehler,  wenn  wir  die  Kastanien 
für  England  aus  dem  Feuer  holen  wollten.  Ich  möchte  mich  deshalb 
bei  den  Verhandlungen  in  Reservestellung  hinter  England  halten,  so- 
lange nicht  feststeht,  daß  letztere  Macht  sich  in  dem  Fahrwaser  extremer 
russischer  Wünsche  befindet.  Will  England  den  Untergang  der  Türkei, 
dann  bleibt  uns  allerdings  nichts  übrig,  als  unsere  Erbschaftsansprüche 
offiziell  anzumelden.  Vorläufig  dürfte  die  bisher  befolgte  Methode, 
durch  konkludente  Tatsachen  unser  Interesse  an  gewissen  Teilen  der 
Erbschaftsmasse  zu  bekunden,  genügen,  um  England  für  die  Erhal- 
tung der  Türkei  zu  interessieren. 

Wangenheim 


Nr.   15  335 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  178  St.  Petersburg,  den  12.  Juni  1913 

Bei  meiner  gestrigen  Unterredung  mit  Herrn  Sasonow  wurde  auch 
die  armenische  Frage  berührt.  Der  Minister  sprach  seine  Genugtuung 
darüber  aus,  daß  die  Kaiserliche  Regierung  sich  bereit  erklärt  habe, 
an  Schritten  in  Konstantinopel  teilzunehmen,  äußerte  aber  seine  Be- 
denken gegen  die  von  Euerer  Exzellenz  gewünschte  Teilnahme  der 
Pforte  an  den  Beratungen  über  die  einzuführenden  Reformen. 

Herr  Sasonow  betonte  dabei,  daß  er  die  Reformaktion  keines- 
wegs gegen  die  Türkei  durchgeführt  sehen  möchte,  sondern  im  Ge- 
genteil  mit    Zustimmung   der    türkischen    Regierung   und    unter   Mit- 

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Wirkung  derselben.  Er  fürchte  aber  nach  den  in  ähnlichen  Fällen  ge- 
machten Erfahrungen,  daß  die  Teilnahme  der  Pforte  an  den  Botschafter- 
beratungen nur  zu  einer  Verschleppung  derselben  führen  und  das 
Ergebnis  derselben  beeinträchtigen  werde.  Nach  Ansicht  des  Ministers 
sollten  zunächst  die  Mächte  unter  sich  über  die  einzuführenden  Re- 
formen einig  werden  und  dann  das  Resultat  ihrer  Beratungen  der 
Pforte  mitteilen.  Es  handele  sich  darum,  wirksame  Reformen  und  für 
die  Durchführung  derselben  eine  europäische  Kontrolle  einzuführen.  Dies 
liege  im  eigenen  Interesse  der  Türkei. 

Herr  Sasonow  legte  sichtlich  Wert  darauf,  mich  davon  zu  über- 
zeugen, daß  Rußland  bei  diesen  Reformvorschlägen  von  keinerlei 
Hintergedanken  geleitet  werde.  Die  Armenier  seien  weder  Slawen  noch 
Glaubensgenossen  der  Russen,  die  sentimentale  Seite  der  Frage,  welche 
bei  den  Reformen  in  Mazedonien  eine  bedeutende  Rolle  gespielt 
habe,  komme  daher  hier  nicht  in  Betracht.  Rußland  habe  nur  als 
Grenzstaat  und  im  Hinblick  auf  die  große  Zahl  seiner  eigenen  arme- 
nischen Untertanen  ein  sehr  reales  Interesse  daran,  daß  in  den  arme- 
nischen Wilajets  Ruhe  und  Ordnung  geschaffen  werde.  An  irgend- 
welche Expansion  in  jenen  Gegenden  auf  Kosten  der  Türkei  denke 
Rußland  nicht,  es  habe  vielmehr  den  aufrichtigen  Wunsch,  daß  die 
Türkei  in  ihrem  jetzigen  Besitzstande  erhalten  bleibe  und  sich  kon- 
solidiere. 

F.  Pourtales 

Nr.  15  336 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  350  Berlin,  den  23.  Juni  1913 

Herr  Sasonow  hat  Graf  Pourtales  gesagt,  daß  ihm  Zuziehung  der 
Türken  zu  Beratungen  über  armenische  Reformen  unmöglich  er- 
scheine*. Wir  möchten  vor  allem  alles  vermeiden,  was  Autorität  des 
Sultans  und  der  türkischen  Regierung  mindern  könnte,  weil  wir  Zu- 
sammenbruch der  Türkei  unter  allen  Umständen  zu  vermeiden  wün- 
schen. Ich  kann  daher  meinen  Standpunkt  vorderhand  noch  nicht 
aufgeben.   Wie  denkt  Sir  E.  Grey  über  Frage? 


*  Vgl.  Nr.  15  335.  Nach  einem  Telegramm  des  russischen  Botschafters  in  Ber- 
lin Sverwejew  an  das  russische  Außenministerium  vom  21.  Juni  (Russisches 
Orangebuch:  Les  Reformes  en  Armenie,  p.  69,  Mandelstam,  Le  Sort  de  l'Empire 
Ottoman,  p.  217)  hätte  Staatssekretär  von  Jagow  an  diesem  Tage  dem  russischen 
Botschafter  erklärt,  daß  Deutschland  nicht  weiter  auf  der  Teilnahme  eines 
türkischen  Delegierten  bei  den  Botschafterkonferenzen  über  die  armenische 
Frage  bestehe. 

77 


Aus  einer  Andeutung  hiesigen  russischen  Botschafters  glaube  ich 
entnehmen  zu  können,  daß  Sir  E.  Qrey  Vorschläge  betreffend  arme- 
nische Reformen  plant  oder  schon  gemacht  hat.  Dieselben  sind  mir 
unbekannt.  Es  wäre  mir  erwünscht,  Ansichten  des  englischen  Mi- 
nisters über  armenische  Frage  und  modus  procedendi  zu  kennen. 

J  ago  w 


Nr.  15  337 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  337  Therapia,  den  23.  Juni  1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  182*. 

Herr  von  Giers  hat  gestern  meinem  österreichischen  Kollegen  ge- 
sagt, er  habe  durch  Herrn  Mandelstam  **  ein  Projekt  ausarbeiten  lassen, 
nach  welchem  die  sechs  östlichen  Wilajets  nach  Vorbild  des  Libanon 
einem  Generalgouverneur  unterstellt  werden  sollten.  Dieses  Projekt 
werde  er  den  Botschaftern  als  Verhandlungsbasis  unterbreiten.  Mark- 
graf Pallavicini  hat  in  seiner  Antwort  zu  erkennen  gegeben,  daß  er  sich 
die  Führung  der  Verhandlungen  als  Doyen  nicht  aus  der  Hand  nehmen 
lassen  und  keinem  Plan  zustimmen  werde,  der  in  .  .  .***  Herr  von 
Giers  erwiderte  hierauf  verstimmt,  dann  werde  wohl  aus  der  ganzen 
Sache   nichts   werden. 

Die  Schaffung  eines  administrativ  selbständigen  Armeniergebiets 
unter  russischer  Kontrolle  im  Osten  würde  die  unter  direkter  türkischer 
Herrschaft  verbleibenden  Christenstämme  eifersüchtig  machen  und 
namentlich  die  separatistische  Bewegung  in  Syrien  fördern.  Auch  die 
längs  der  Bagdadbahn  lebenden  Armenier  würden  unruhig  werden,  was 
mit  Verkehrs-  und  Geschäftsstörungen  zum  Nachteil  unserer  In- 
teressen verbunden  wäre.  Letztere  dürften  es  erheischen,  daß  die 
Reform  auf  sämtliche  Armenier  und  besser  noch  auf  die  ganze 
Türkei   ausgedehnt   werde.     Eine   tatkräftige   Unterstützung   aller   von 


•  Siehe   Nr.    15  331. 

**  Erster  Dragoman  bei  der  russischen  Botschaft  in  Konstantinopel.  Siehe 
den  Wortlaut  des  Mandelstamschen  Projekts  im  Russischen  Orangebuch:  Les 
Reformes  en  Armenie,  p.  52  ss.  und  bei  Mandelstam,  Le  Sort  de  PEmpire 
Ottoman,  p.  218  ss.;  deutsche  Übersetzung  bei  Djemal  Pascha,  Erinnerungen 
eines  türkischen  Staatsmannes,  S.  340  ff.  Eine  eingehende  Kritik  des  Mandel- 
stamschen Projekts  findet  sich  in  Freiherrn  von  Wangenheims  Bericht  vom 
3.  Juli:  siehe  Nr.  15  347. 
*••  Zifferngruppen  fehlen. 

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der  Pforte  begonnenen  Reformen  würde  auch  die  Armenierfrage  lösen 
helfen. 

Wangenheim 

Nr.  15  338 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  249  London,  den  24.  Juni  1913 

Antwort  auf  Telegramm   Nr.   350*. 

Sir  E.  Grey  hat  für  bevorstehende  Botschafterberatungen  in  Kon- 
stantinopel über  armenische  Frage  kein  eignes  Programm,  möchte 
aber  Beschlüsse  der  Botschafter  vom  Jahre  1895  als  Grundlage  be- 
trachten. Da  er  außerdem  in  Erfahrung  gebracht,  daß  die  Pforte 
ihrerseits  Reformplan  ausgearbeitet,  halte  er  es  für  wünschenswert, 
die  Pforte  aufzufordern,  ihr  Programm  vorzulegen,  damit  es  von 
Botschaftern  mit  in  Betracht  gezogen  werde. 

Sofortige  Zuziehung  türkischen  Vertreters  hält  der  Minister  für 
unzweckmäßig,  weil  dadurch  leicht  ganze  Frage  der  Verschleppung 
anheimfallen  könnte.  Er  meint  vielmehr,  erst  sollten  Botschafter  sich 
über  Reformprogramm  einigen  und  dann  erst  die  Pforte  auffordern, 
Vertreter  zu  entsenden,  mit  dem  alsdann  Verständigung  zu  erzielen 
wäre.  Er  halte  diesen  Mittelweg  auch  für  geeignet,  um  türkische 
Empfindlichkeit  zu  schonen  und  Bedenken  des  Herrn  Sasonow  ge- 
recht zu  werden. 

Lichnowsky 

Nr.  15  339 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  193  St.  Petersburg,  den  26.  Juni  1913 

Zu  dem  mir  unter  Nr.  794  geneigtest  mitgeteilten  interessanten 
Bericht  des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Konstantinopel**  wollen  mir 
Euere  Exzellenz  gestatten  nachstehendes  auf  Grund  meiner  hiesigen 
Beobachtungen  anzuführen. 


•  Siehe   Nr.    15  336. 

*•  Es  handelt  sich  um  den  unter  Nr.  15  334  abgedruckten  Bericht  Freiherrn 
von  Wangenheims  vom  10.  Juni,  der  unter  Nr.  794  nach  Petersburg  über- 
mittelt und  auch  den  Botschaftern  in  London,  Paris,  Wien  und  Rom  zur  Kennt- 
nis gebracht  wurde. 

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Ich  teile  die  Ansicht  des  Freiherrn  von  Wangenheim,  daß  Ruß- 
land sich  der  armenischen  Frage  bedient,  um  die  asiatische  Türkei 
in  einem  Zustande  zu  erhalten,  welcher  gegebenenfalls  ein  Einschreiten 
Rußlands  als  interessierter  Qrenzstaat  rechtfertigen  würde.  Auch  die 
Sätze,  daß  Rußland  sich  mit  Hilfe  der  armenischen  Frage  den  Weg 
nach  Konstantinopel  offen  halten  will,  und  daß  diese  Frage  der 
Schlüssel  ist,  welcher  dereinst  die  Meerengen  öffnen  soll,  entspricht 
im  allgemeinen  meiner  Auffassung.  Die  einzige  dem  russischen  In- 
teresse wirklich  entsprechende  Lösung  der  Meerengenfrage  erscheint 
mir  die,  daß  Rußland  am  Südufer  des  Schwarzen  Meeres  bis  zum 
Bosporus  vordringt  und  das  Schwarze  Meer  auf  diese  Weise  zu  einem 
russischen  Binnenmeer  macht,  bezüglich  dessen  es  sich  nur  mit  den 
anderen  Uferstaaten  Rumänien  und  Bulgarien  zu  verständigen  braucht. 
Daß  mit  dem  Augenblick,  wo  Rußland  im  Besitz  des  Ostufers  des 
Bosporus  wäre,  der  letzte  Rest  der  türkischen  Herrschaft  in  Europa 
ein  Ende  haben  würde,  bedarf  kaum  der  Erwähnung.  Die  dereinstige 
Regelung  der  Meerengenfrage  auf  dem  angedeuteten  Wege  ist  daher 
auch  nach  meiner  Überzeugung  in  großen  Linien  das  der  russischen 
Politik  vorschwebende  Ziel,  und  ich  halte  es  für  höchst  wahrscheinlich, 
daß  die  Herstellung  der  Ordnung  in  den  armenischen  Wilajets  die 
erste  Etappe  auf  dem  Wege  sein  wird,  auf  welchem  die  Erreichung 
dieses  Zieles  erstrebt  werden  wird. 

Eine  andere  Frage  aber  erscheint  mir  die,  ob  Rußland  jetzt  schon 
den  Augenblick  für  gekommen  erachtet,  um  die  Verwirklichung  seiner 
Pläne  in  Kleinasien  zur  Ausführung  zu  bringen.  Was  Herr  SasonOfW 
bis  jetzt  getan  hat,  spricht  dafür,  daß  er  als  besonnener  Staatsmann 
im  Gegensatz  zu  vielen  seiner  Landsleute  der  russischen  Politik  nicht 
zu  viele  Ziele  auf  einmal  stecken  will.  Herr  Sasonow  ist  nach  meiner 
Überzeugung  bona  fide,  wenn  er  es  als  seinen  Wunsch  und  sein  Ziel  be- 
zeichnet, Rußland  zunächst  eine  Reihe  von  Jahren  ruhiger  und  fried- 
licher Entwickelung  zu  verschaffen.  Er  geht  von  der  Ansicht  aus,  daß 
es  eine  Anzahl  wichtiger  Fragen  für  Rußland  gibt,  die  nicht  überstürzt 
werden  dürfen,  und  die  Rußland  ruhig  heranreifen  lassen  kann,  ohne 
etwas  dabei  zu  verlieren.  Daß  der  Minister  zu  diesen  Fragen  die  Meer- 
engenfrage rechnet,  hat  er  mir  wiederholt  versichert.  Ich  möchte  auch 
daran  erinnern,  mit  welcher  Energie  der  Minister  vor  zwei  Jahren 
nach  seiner  Wiedergenesung  von  schwerer  Krankheit  von  Paris  aus 
den  Machenschaften  ein  Ende  machte,  welche  die  Meerengenfrage  auf- 
zurollen bestrebt  waren  *. 

Ich  kann  mich  daher  der  Ansicht  des  Freiherrn  von  Wangenheim 
nicht  anschließen,  welcher  glaubt,  daß,  weil  von  Petersburg  aus  neuer- 
dings in  erhöhtem  Maße  über  die  Not  der  Armenier  geklagt  wird,  ein 
neuer  russischer  Vorstoß  in   der  Richtung  auf  Konstantinopel  bevor- 


•  Vgl.  dazu  Bd.  XXX,  Kap.  CCXXXVI. 
80 


steht.  An  einen  solchen  Vorstoß  in  der  nächsten  Zeit  glaube  ich 
nicht.  Ich  möchte  vielmehr  annehmen,  daß  Rußland  jetzt  an  seiner 
Grenze  in  Kleinasien  Ruhe  haben  und  aus  diesem  Grunde  in  jenen 
Gegenden  Maßregeln  getroffen  sehen  möchte,  welche  die  Ruhe  für 
eine  Reihe  von  Jahren  möglichst  gewährleisten. 

Den  Hauptgrund,  weswegen  Rußland  nach  meinem  Dafürhalten 
den  Stein  jetzt  noch  nicht  ins  Rollen  bringen  möchte,  erblicke  ich  darin, 
daß,  wie  mein  Konstantinopeler  Kollege  im  weiteren  Verlauf  seines  Be- 
richts auch  selbst  hervorhebt,  England,  was  Herrn  Sasonow  nicht  ver- 
borgen sein  dürfte,  zurzeit  einer  Aufteilung  des  kleinasiatischen  Besitzes 
der  Türkei  nicht  geneigt  ist. 

Aber  auch  andere  Gründe,  die  teils  mit  dem  gegenwärtigen  Stand 
der  russischen  Rüstungen  zu  Lande  und  zu  Wasser,  teils  mit  den  inneren 
Zuständen  im  russischen  Reich  zusammenhängen,  halten  Herrn  Sasonow 
im  gegenwärtigen  Augenblick  davon  ab,  Fragen  anzuschneiden,  welche 
die  russische  Politik  immerhin  auf  eine  gefährliche  Bahn  bringen 
könnten. 

Allerdings  wird  man  auch  bei  der  vorliegenden  Frage  die  Rolle 
nicht  außer  acht  lassen  dürfen,  welche  inoffizielle  Kreise  erfahrungs- 
gemäß in  der  russischen  Politik  spielen.  Diese  Kreise,  welche  überall 
das  Tempo  der  russischen  Expansionspolitik  beschleunigt  sehen 
möchten  und  kein  Verständnis  dafür  besitzen,  daß  es  vorteilhafter  ist, 
die  Früchte  reif  werden  zu  lassen,  arbeiten  zweifellos  daran,  Rußland 
zu  einem  Vorgehen  in  Kleinasien  zu  veranlassen.  Daß  es  an  amtlichen 
Organen  der  russischen  Politik  nicht  fehlt,  welche  mit  jenen  Kreisen 
sympathisieren  und  ihnen  mehr  oder  minder  versteckt  ihre  Unter- 
stützung zuteil  werden  lassen,  beweist  die  Geschichte  aller  Balkankrisen 
der  Neuzeit.  Ich  halte  es  daher  für  durchaus  wahrscheinlich,  daß 
russische  Agenten,  die  mit  amtlichen  Stellen  Fühlung  haben,  in  den 
armenischen  Wilajets  wühlen,  um  womöglich  ein  Einschreiten  Ruß- 
lands herbeizuführen.  Daß  aber  diese  Wühlereien  auf  einen  bestimmten 
wohldurchdachten  Plan  der  gegenwärtigen  Leitung  der  auswärtigen 
russischen  Politik  zurückzuführen  sind,  vermag  ich  im  gegenwärtigen 
Augenblick  nicht  zu  glauben. 

F.  Pourtales 

Nr.  15  340 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  347  Therapia,  den  28.  Juni  1913 

Auf  Antrag  Herrn  von  Giers  wird  Markgraf  Pallavicini  die  Bot- 
schafter für  30.   d.   Mts.   zu   einer  vorläufigen   Besprechung  einladen. 

6    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  81 


Englischer  Botschafter  hat  gestern  Instruktionen  erhalten.  Markgraf 
Pallavicini  beabsichtigte  schon  Montag  zu  erklären,  daß  er  Projekte  wie 
das  Mandelstamsche*  a  limine  ablehnen  müsse.  Damit  würde  die 
Konferenz  wahrscheinlich  sofort  gesprengt  sein.  Nach  armenischen 
Erklärungen,  die  gestern  auf  der  Botschaft  abgegeben  wurden,  muß  ich 
indessen  befürchten,  daß  ein  Scheitern  der  Konferenz  Armenierunruhen 
zu  unmittelbarer  Folge  haben  würde.  Ich  habe  deshalb  meinen  öster- 
reichischen Kollegen  gebeten,  nicht  gleich  anfangs  zu  schroff  auf- 
zutreten. Wir  müßten  wenigstens  versuchen,  ob  nicht  eine  mit  unseren 
Instruktionen  vereinbare  Verständigung  zugunsten  der  Armenier  zu 
erreichen  sei.  Markgraf  Pallavicini  wird  demgemäß  vorschlagen,  das 
Projekt  Mandelstam  zusammen  mit  dem  Material,  welches  die  Pforte 
auf  meinen  vertraulichen  Rat  den  Botschaftern  noch  heute  zur  Ver- 
fügung stellen  wird  (Reformprojekt,  fremde  Instrukteure  etc.)  zunächst 
einer  Kommission  von  Delegierten  der  Botschaften  zur  Prüfung  zu 
überweisen  •*. 

Wangenh  eim 


Nr.  15  341 
Aide-memoire 

Reinschrift.    Von    der    türkischen    Botschaft    in    Berlin    dem   Auswärtigen    Amt 

übersandt 

Berlin,  le  28  Juin  1913 

L'Ambassade  Imperiale  Ottomane  a  Phonneur  d'exposer  au  De- 
partement Imperial  des  Affaires  Etrangeres  pour  son  orientation  les 
renseignements  suivants  au  sujet  des  reformes  qui  ont  ete  dejä  mises 
en  vigueur  par  le  cabinet  Mahmoud  Chevket  Pacha  dont  le  programme 
sera  aussi  suivi  par  le  cabinet  actuel: 

Le  cabinet  Mahmoud  Chevket  Pacha  qui,  ainsi  que  le  Departement 
Imperial  des  Affaires  Etrangeres  le  sait  sans  doute,  avait  assume  la 
responsabilite'  du  pouvoir  dans  les  circonstances  tres  critiques  que 
traversait  le  pays,  s'etait  efforce  de  donner  aux  Operations  de  guerre 
une  tournure  aussi  favorable  que  possible. 

En  meme  temps,  les  reformes  interieures  avaient  fait  Pobjet  de 
sa  constante  preoccupation. 

C'est  ainsi  que  conformement  ä  la  loi  provisoire  sur  l'administration 
generale  des  vilayets,  il  avait  ete  accorde  au  conseil  general  le  droit  de 
dccision   pour   les   affaires   d'interet   locaux,    les   budgets   des   vilayets 


*  Vgl.  Nr.  15  337  nebst  Fußnote  ••  und  Nr.  15  344. 

**  Durch  Telegramm   Nr.  210  vom  29.  Juni  sprach  das  Auswärtige  Amt  sein 

Einverständnis  mit  diesem  Modus  aus. 

82 


avaient  ete  separes,  les  attributions  et  les  devoirs  des  fonctionnaires 
elargis  et  precises;  la  loi  sur  les  justices  de  paix  ainsi  que  le  principe 
des  tribunaux  avait  ete  adoptee  en  vue  de  faciliter  le  jugement  des 
proces  de  moindre  importance  qui  surgissent  frequemment  entre  les 
habitants  d'une  meme  localite;  des  tribunaux  judiciaires  avaient  ete 
organises  dans  15  sandjaks  en  Anatolie  et  dans  100  cazas  dans  les 
provinces  orientales;  la  cour  d'appel  des  vilajets  de  Bagdad  et  de 
Beyrouth  avait  ete  divisee  en  deux;  la  nomination  et  la  promotion  des 
nai'bs,  des  juges  et  des  fonctionnaires  judiciaires  avaient  ete  regle- 
mentees  par  la  loi;  par  l'application  des  lois  sur  l'hypotheque  et  le 
transfert  des  immeubles  et  sur  la  suppression  des  „guedik",  la  circu- 
lation  de  la  richesse  immobiliere  avait  ete  assuree;  par  l'application 
de  la  loi  qui  confere  le  droit  de  propriete  aux  personnes  morales,  la 
formation  des  societes  qui  pourront  faire  des  transactions  sur  les 
immeubles,  avait  ete  autorisee;  la  loi  elargissant  le  droit  de  propriete 
sur  les  immeubles  avait  rendu  possible  le  payement  des  dettes  sur  les 
biens  vakoufs  et  miri;  par  cette  meme  loi  un  large  credit  pour  l'agri- 
culture  avait  ete  institue,  ce  qui  permettra  l'adoption  des  mesures  qui 
assureront  la  prosperite  des  villes  et  le  developpement  de  l'agriculture. 
En  outre,  des  corps  d'inspecteurs  de  gendarmerie  sous  la  presidence 
de  Boman  Pacha  avait  ete  envoyes  dans  chaque  vilayet  ä  l'effet 
d'etudier  sur  place  le  nombre  de  gendarmes  necessaires  ä  chaque  vilayet 
pour  y  assurer  l'ordre  et  la  tranquillite;  des  gendarmes  de  Roumelie 
avaient  ete  envoyes  dans  plusieurs  endroits  et  d'autres  seront  bientöt 
envoyes  pour  completer  les  cadres.  En  vue  d'assurer  la  parfaite  appli- 
cation  des  lois  et  reglements  ci-haut  mentionnes  1' Empire  avait  ete" 
divise  en  six  secteurs  d'inspection  generale.  Les  secteurs  importants 
comme  ceux  comprenant  les  vilayets  orientaux  devaient  avoir  ä  leur 
tete  des  inspecteurs  generaux  Prangers  qui  auraient  sous  leurs  ordres 
des  specialistes  etrangers  et  ottomans  pour  la  gendarmerie,  justice, 
travaux-publics  et  agriculture.  Pour  les  Ministeres,  un  conseiller  et  un 
inspecteur  etranger  devaient  etre  engag^s  et  pour  certains  departements 
des  fonctionnaires  etrangers  seraient  nommes.  Le  cabinet  Mahmoud  Chev- 
ket  Pacha  etait  en  correspondance  au  sujet  de  Tengagement  de  tous  ces 
fonctionnaires  etrangers.  Le  cabinet  actuel  ayant  adopte  les  memes  prin- 
cipes,  les  pourparlers  pour  Fengagement  des  commandants  de  gen- 
darmerie pour  les  sept  regiments  des  vilayets  orientaux  et  de  deux 
inspecteurs  de  gendarmerie  pour  leur  conferer  secteurs  comprenant 
ces  vilayets  etant  termines,  ces  fonctionnaires  pourront  bientot  prendre 
possession  de  leur  fonction.  Des  demarches  ont  ete  faites  en  vue 
d'assurer  l'engagement  des  inspecteurs  generaux  et  des  autres  fonc- 
tionnaires etrangers.  Le  nombre  des  membres  de  la  commission  finan- 
ciere  instituee  au  Ministere  des  Finances  a  ete  augmente  et  ses  attri- 
butions ont  ete  etendues  ä  l'elaboration  du  budget  et  ä  la  surveillance 
de  la  stricte  application  des  lois  et  reglements  financiers. 

6*  83 


Nr.  15  342 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Llchnowsky  an  den 
Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Privatbrief.  Ausfertigung 

London,  am  26.  Juni  1913 
{pr.  30.  Juni] 

Wie  ich  vertraulich  erfahre,  wird  heute  Sir  Edward  Grey  dem 
Präsidenten  Poincare  *  sagen,  daß  man  hier  nicht  willens  ist,  sich 
auf  irgendwelche  Teilungspläne  für  Kleinasien  einzulassen  und  den 
türkischen  Besitzstand  in  seiner  heutigen  Gestalt  unversehrt  zu  er- 
halten wünscht.  Man  rechnet  hierbei  auf  unsere  Unterstützung  und 
darauf,  daß  wir  den  gleichen  Standpunkt  einnehmen.  Ich  habe,  wie 
Sie  wissen,  im  Einverständnis  mit  Ihnen  und  dem  Herrn  Reichskanzler 
wiederholt  Sir  Edward  Grey  erklärt,  daß  wir,  solange  die  britische 
Regierung  in  gleichem  Sinne  vorgeht,  die  Türkei  als  Ganzes  erhalten 
wollen ;  daß  wir  aber,  falls  andere  Mächte  Ansprüche  an  die  türkische 
Erbschaft  stellen  sollten,  auch  verlangen  würden,  unsere  Interessen 
und  Rechte  zur  Geltung  zu  bringen. 

Leider  scheint  Herr  von  Gwinner  während  seines  hiesigen 
Aufenthalts**  Äußerungen  gemacht  zu  haben,  die  den  Eindruck  er- 
weckten, als  beabsichtigten  wir  schon  jetzt,  dem  Gedanken  der  Tei- 
lung Kleinasiens  näherzutreten.  Diese  Auslassungen  haben  hier  Auf- 
sehen erregt  und  zu  Beunruhigung  Anlaß  gegeben.  Ich  bin  seither 
von  verschiedenen  Seiten  (nicht  von  Sir  Edward  Grey)  auf  diese 
Tatsache  hingewiesen  worden,  und  ich  habe,  schon  um  zu  ver- 
hindern, daß  Sir  Edward  Grey  in  seiner  Aussprache  mit  den  fran- 
zösischen Staatsmännern  unter  dem  Einfluß  der  Meinung,  daß  unser 
Standpunkt  sich  verändert  habe,  den  französischen  Wünschen  Vor- 
schub leiste,  von  neuem  erklärt,  daß  eine  Wandlung  unserer  An- 
schauungen in  keiner  Weise  Platz  gegriffen  habe. 

Es  ist  von  großer  Wichtigkeit,  daß  hier  nicht  der  Verdacht  ent- 
steht, als  ob  wir  der  britischen  Regierung  gegenüber  es  an  der 
nötigen  Aufrichtigkeit  fehlen  ließen.  Meine  Stellung  zu  Sir  Edward 
Grey  würde  empfindlich  darunter  leiden,  wenn  er  zu  der  Meinung1 
käme,   daß   er  sich   nicht  auf  meine  Erklärungen  verlassen  kann.    Ich 


*  Am  23.  Juni  war  der  Präsident  der  französischen  Republik  Poincare  in  Be- 
gleitung des  Außenministers  Pichon  zu  mehrtägigem  offiziellen  Besuch  nach 
England  gefahren.  Über  die  Besprechungen  zwischen  den  französischen  und 
englischen  Staatsmännern  vgl.  Nr.  15  343,  ferner:  Diplomatische  Akten- 
stücke zur  Geschichte  der  Vorkriegsjahre,  ed.  B.  v.  Siebert,  S.  804  f.  und 
R.  Poincare,  Au  Service  de  la  France,  III,  253  ss. 

**  Der  Direktor  der  Deutschen  Bank  A.  von  Gwinner  hatte  im  Juni  in  London 
in  Sachen  der  Bagdadbahn  geweilt.  Vgl.  Kap.  CCLXXXV. 

84 


möchte  Sie  daher  bitten,  Gwinner  oder  anderen  Persönlichkeiten,  die 
hier  Fühlung  haben,  gelegentlich  zu  bedeuten,  daß  unsere  Haltung 
sich  in  keiner  Weise  verändert  hat,  und  daß  es  daher  bedenklich  wäre, 
entgegenstehende  Auffassungen  zu  begünstigen. 

Lichnowsky 

Nachschrift 

Ich  werde  zu  verhindern  suchen,  daß  man  mit  dem  naval  holiday* 
an  uns  herantritt,  verhindern  Sie  aber,  daß  in  Berlin  über  die  Sache 
allzu  viel  geredet  und  geschimpft  wird!  L. 


Nr.  15  343 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  388  London,  den  27.  Juni  1913 

[pr.  30.  Juni] 

Sir  Edward  Grey  ließ  mich  soeben  zu  sich  bitten,  um  mit  mir 
über  die  Ergebnisse  seiner  Besprechungen  mit  den  französischen 
Staatsmännern  zu  reden.  Er  bezeichnete  dieselben  als  durchaus  be- 
friedigend. Er  habe  feststellen  können,  daß  auf  französischer  Seite 
das  gleiche  Bestreben  bestehe  wie  hier  nach  Aufrechterhaltung  des 
Friedens  und  gemeinschaftlicher  Arbeit  für  möglichste  Beschränkung 
des  Krieges,  falls  dieser  wiederum  ausbrechen  sollte.  Alle  Unter- 
haltungen hätten  sich  auf  der  Grundlage  der  bekannt  gewordenen 
Tischreden  bewegt  und  nichts  enthalten,  was  die  Mitwirkung  anderer 
Mächte  ausschlösse.  Er  wies  hierbei  namentlich  auf  die  entsprechende 
Stelle  der  Rede  des  Herrn  Poincare  in  der  Guildhall  hin  und  deutete 
an,  daß  diese  Äußerung  in  gemeinsamem   Einverständnis  erfolgt  sei. 

Die  Besprechungen  mit  den  französischen  Staatsmännern  hätten 
sich  nicht  auf  das  allgemeine  Gebiet  des  Friedens  beschränkt,  sondern 
sich  auch  mit  der  Türkei  und  deren  Zukunft,  das  heißt  mit  der  klein- 
asiatischen Frage  befaßt.  Es  seien  hierbei  zwei  Wege  als  gangbar 
bezeichnet  worden:  Entweder  die  Mächte  einigten  sich,  die  Türkei 
wiederherzustellen,  sie  finanziell  möglichst  wenig  zu  belasten  bezw. 
sie  finanziell  zu  unterstützen  und  ihr  bei  der  Neuordnung  ihrer  Ver- 
waltung behilflich  zu  sein,  oder  aber  sie  verständigten  sich  über  In- 
teressensphären1, was  jedoch  der  Anfang  vom  Ende  der  Türkei  über- 
haupt sein  würde.  Er  sei  mit  Herrn  Poincare  und  Herrn  Pichon  über- 
eingekommen, daß  der  erstere  Weg  der  richtige  sei,  und  daß  man  die 


*  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCII. 

85 


Türkei  erhalten  und  wiederaufrichten  müsse  (retablir).  Von  Syrien 
sei  mit  keinem  Worte  die  Rede  gewesen.  Ich  benutzte  diesen  Anlaß, 
um  dem  Minister  zu  versichern,  daß  auch  wir  diese  Auffassung*  teilten 
und  teilen  würden,  solange  wir  uns  des  Einvernehmens  der  britischen 
Regierung  vergewissern  könnten.  Alle  entgegenstehenden  Meinungen 
entsprächen  vielleicht  privaten  oder  kaufmännischen  Interessen,  nicht 
aber  den  Auffassungen  der  maßgebenden  Stellen.  Die  Nachrichten 
über  die  Stimmung  in  Arabien,  Syrien  und  anderen  nichttürkischen 
Landesteilen  böten  zwar  keine  überaus  günstigen  Aussichten,  aber  wir 
glaubten,  daß  es  dem  Zusammenwirken  aller  Mächte  gelingen  werde, 
das  türkische  Reich  in  seiner  heutigen  Gestalt  am  Leben  zu  erhalten. 
Bei  dieser  Gelegenheit  wiederholte  Sir  Edward  von  neuem,  daß  unsere 
Interessen,  falls  es  jemals  zur  Zerlegung  Kleinasiens  kommen  sollte, 
jedenfalls   Berücksichtigung  finden  müßten2. 

Lichnowsky 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

i  D[as]   h[eißt]   Auftheilen 

2  natürlich!  werde  schon  dafür  sorgen 

Nr.  15  344 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheini 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  351  Therapia,  den  30.  Juni  1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  210*. 
Bei  heutiger  Vereinigung  der  Botschafter  erklärte  Herr  von  Giers, 

1)  daß  die  Anregung  zu  der  Konferenz  von  Rußland  ausgeht, 

2)  daß  Rußland  in  Ostanatolien  und  an  der  Armenierfrage  mehr 
als  andere  Mächte  interessiert  sei  und 

3)  daß  die  Verhandlungen  mit  möglichster  Beschleunigung  ge- 
führt werden  müßten. 

Sodann  unterbreitete  Herr  von  Giers  das  Projekt  Mandelstam.  Nach 
demselben  sollen  die  sechs  Wilajets  unter  einem  vom  Sultan  zu 
ernennenden  türkischen  oder  besser  noch  europäischen  Generalgou- 
verneur zu  einer  Provinz  zusammengeschlossen  werden.  Diese  Pro- 
vinz wird  vom  türkischen  Reich  administrativ  und  militärisch  so  gut 
wie  vollkommen  abgetrennt.  Beamte  und  Richter  werden  ausschließlich 
von  Generalgouverneur  ernannt.  Truppen  rekrutieren  sich  nur  aus 
Armenien  und   dürfen  in   Friedenszeiten   nur  dort  verwendet  werden. 

Das  Projekt  geht  weit  über  das  Programm  von  1895  und  selbst 
über  Libanonstatut**  hinaus.  Seine  Realisierung  würde  aus  der  Hälfte 
Anatoliens  ein  mit  der  Türkei  nur  noch  lose  durch  die  Souveränität  des 


*  Vgl.  Nr.   15  340,  S.  82,  Fußnote 
*•  Vgl.  dazu  Nr.   15  295. 

86 


Sultans  verbundenes  Armenien  scharfen,  auf  welches  Rußland  schon 
deshalb  den  ersten  Anspruch  hätte,  weil  die  andere  Hälfte  der  Armenier 
in  Rußland  lebt.  Es  wäre  der  Beginn  der  Aufteilung.  Frankreich  würde 
in  Syrien  folgen,  und  auch  wir  wären,  falls  wir  nicht  Kleinasien  auf- 
geben wollen,  genötigt,  ein  ähnliches  Regime  für  unsere  Interessen- 
sphäre zu  verlangen.  Das  russische  Projekt  nimmt  übrigens  das  teil- 
weise zu  unserer  Zone  gehörige  Wilajet  Diarbekr  für  Armenien  in 
Anspruch  *. 

Auf  Antrag  Doyens  wurde  das  Projekt  einer  Kommission  von  De- 
legierten der  Botschaften  zur  Prüfung  überwiesen.  Ich  beabsichtige, 
mich  durch  Dragoman  Schönberg  vertreten  zu  lassen.  Markgraf  Pal- 
lavicini  und  ich  werden  unsere  Vertreter  instruieren,  sich  auf  keinerlei 
Diskussion  der  Prinzipfrage  einzulassen,  dagegen  aber  auf  einer  ganz 
ausführlichen  Diskussion  der  einzelnen  Punkte  des  russischen  Pro- 
gramms und  einer  gründlichen  Prüfung  der  türkischen  Vorschläge** 
zu  bestehen.  Es  kommt  zunächst  darauf  an,  Zeit  zu  gewinnen,  damit 
die  auf  dem  Rückmarsch  begriffenen  Truppen  wieder  in  Armenien 
eintreffen  können,  und  damit  ein  Anhalt  gewonnen  wird  über  die  Hal- 
tung Englands.  Stimmt  letzteres  dem  russischen  Vorschlag  zu,  so  ist 
damit  bewiesen,  daß  es  die  Aufteilung  zu  verhindern  nicht  gewillt  ist. 

Wangenheim 

Nr.  15  345 
Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel 
Freiherrn  von  Wangenheim 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Grafen  Botho  von  Wedel 
Nr.  675  Berlin,   den   4.  Juli   1913 

Auf  Grund  Euerer  Exzellenz  Telegramm  351***  hatte  ich  den  Kaiser- 
lichen Botschafter  in  Paris  beauftragt  f,  Herrn  Pichon  vorsichtig  auf 
die  Gefahr  des  russischen  Vorschlags  hinzuweisen  und  zu  sondieren. 

•  Telegramm  Nr.  351   wurde  mittels  Telegrammen    164  bzw.  192  nach  Peters- 
burg und   Paris  mitgeteilt.    Staatssekretär  von   Jagow  bemerkte  dabei  in  Tele- 
gramm Nr.  164:  „Was  Armenien  eingeräumt  wird,  würde  bald  auch  für  andere 
türkische  Gebietsteile  verlangt  und  nicht  abgeschlagen  werden  können.    Damit 
würde  de  facto  Aufteilung  der  Türkei  eingeleitet,  die  wir  absolut  zu  vermeiden 
wünschen.    Bitte  Herrn  Sasonow  auf  diese   Gefahr  hinweisen  und  ihm  unseren 
Wunsch  mitteilen,  daß  auch  türkische  Vorschläge  berücksichtigt  werden."    Fürst 
Lichnowsky   erhielt   durch    Telegramm    Nr.    362   analoge   Weisung:    „Bitte   Sir 
E.  Grey  auf  Gefahren  dieses  Vorgehens  hinweisen  und  seine  Ansicht  erfragen. 
Gleiches    Regime  würde   voraussichtlich  bald  für  Syrien   und   andere  türkische 
Gebietsteile  verlangt  werden.    Damit  würde  de  facto  Aufteilung,  die  wir  nicht 
wünschen,  in  die  Wege  geleitet." 
"  Vgl.  Nr.    15  341. 
•*•  Siehe  Nr.  15  344. 
t  Vgl.  Nr.  15  344,  S.  87,  Fußnote*. 

87 


Herr  von  Schoen  telegraphiert  unter  dem  2.  d.  Mts.*: 
„Herr  Pichon  will  über  russischen  Vorschlag  noch  nicht  so  er- 
schöpfend unterrichtet  sein,  daß  er  Tragweite  voll  übersehen  könne. 
Ziel  müsse  Ausarbeitung  Reform programms  sein,  das  auch  für  die 
übrige  Türkei  maßgebende  Grundlage  böte.  An  Grundsatz  der  Inte- 
grität asiatischer  Türkei  halte  Frankreich  fest." 

Zimmermann 


Nr.  15  346 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhetm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  356  Konstantinopel,  den  3.  Juli  1913 

[pr.  4.  Juli] 

In  heutiger  Sitzung  der  Botschaftsdelegierten  **  beantragten  Öster- 
reicher, unterstützt  von  Schönberg  und  Italiener,  dem  neuen  Faktum 
des  Pfortezirkulars***  Rechnung  zu  tragen  und  Diskussion  mit  Prüfung 
der  soeben  von  der  türkischen  Regierung  veröffentlichten  Reformen 
zu  beginnen.  Russen,  Engländer  und  Franzosen  wollten  dagegen  von 
dem  russischen  Projekt  ausgehen.  Mangels  Einigung  wurde  beschlossen, 
Sitzung  zu  vertagen  und  Streitfragen  den  Chefs  zu  unterbreiten. 

Meines  Erachtens  verdient  schon  mit  Rücksicht  auf  Autorität 
Sultans  organische  Weiterentwickelung  des  türkischen  Reformplanes 
vor  Aufoktroyierung  des  gefährlichen  russischen  Projekts  den  Vorzug. 
Die  Lücken  des  ersteren  könnten  durch  Rückgriff  auf  Beschlüsse  und 
Dekret  von  1895  sowie  durch  Benutzung  russischen  Projekts  ausgefüllt 
werden.  Großwesir  ist  hiermit  einverstanden  und  erklärt,  er  werde 
selbst  europäische  Kontrollkommission  für  Armenien  in  annehmbarer 
Form  akzeptieren.  Auffallend  ist,  daß  Haltung  des  englischen  Dele- 
gierten Fitzmaurice  mit  den  Erklärungen  Sir  E.  Greys  an  Fürst  Lich- 
nowsky  nicht  harmoniert  f. 


•  Telegramm  Nr.  255. 

**  Mit  der  Sitzung  der  Botschaftsdelegierten  vom  3.  Juli  begannen  die  offi- 
ziellen Beratungen  der  ,,Commission  des  Reformes  Armeniennes".  Es  fanden 
im  ganzen  acht  Sitzungen,  die  letzte  am  24.  Juli  statt.  Die  Protokolle  der 
Kommissionssitzungen  befinden  sich  —  in  französischeer  Sprache  —  im  Rus- 
sischen Orangebuch:  Les  Reformes  en  Armenie,  p.  190  ss. 
••*  Identisch  mit  Nr.   15  341. 

t  Am  4.  Juli  fügte  Freiherr  von  Wangenheim  zu  diesem  Punkte  durch  Tele- 
gramm Nr.  358  nach:  „Englischer  Geschäftsträger  sagte  mir  zur  Erklärung  der 
englischen  Haltung  gestriger  Konferenz,  daß  seine  Instruktionen  ihn  nur  er- 
mächtigten, über  das  russische  Projekt  zu  verhandeln,  nicht  aber  über  die 
türkischen  Reformpläne." 

88 


Bericht  über  russische  und  türkische  Projekte  abgeht  Sonnabend 
mit  Feldjäger*. 

Wangenheim 


Nr.  15  347 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg** 

Ausfertigung 

Nr.  208  Therapia,  den  3.  Juli  1913 

[pr.  9.  Juli] 

Der  Mandelstamsche  Entwurf  faßt  in  Artikel  I  §  1  die  sechs 
Wilajets  Erserum,  Wan,  Bitlis,  Diarbekr,  Charput  und  Siwas  zu  einer 
Verwaltungszone,  einem  Wilajet  zusammen,  von  dem  indessen  die 
südlichen  Partien,  nämlich  die  Gegenden  von  Hakkiari  (Wilajet  Wan), 
die  südlichen  Teile  der  Distrikte  Sert,  Biredjik,  Malatia  sowie  der 
nordwestliche  Teil  des  Wilajets  Siwas  ausgeschlossen  sein  sollen. 

Dieser  Vorschlag  führt  in  die  Geschichte  der  armenischen  Reformen 
in  zweifacher  Hinsicht  ein  Novum  ein. 

Zunächst  hat  bisher  nie  die  Schaffung  eines  einzigen  großen  Ver- 
waltungskomplexes in  Armenien  zur  Erörterung  gestanden.  Das  eng- 
lisch-französisch-russische Memorandum  vom  März/April  1895  be- 
schränkte sich  in  Artikel  I  darauf,  die  Verringerung  der  Zahl  der  ge- 
nannten Provinzen  anzuregen:  „.  .  .  il  y  aurait  lieu  d'etudier  la  question 
de  la  reduction  du  nombre  de  ces  provinces."  Ais  Grund  wird  an- 
geführt, daß  eine  Neueinteilung  der  Wilajets 

1)  gewisse  Ersparnisse  in  den  allgemeinen  Verwaltungsausgaben 
ermöglichen, 

2)  die  Auswahl  der  Walis  durch  Verringerung  ihrer  Zahl  er- 
leichtern, 

3)  deren  Autorität  durch  Verbesserung  ihrer  materiellen  Lage 
stärken  würde. 

Die  beiden  letzten  Gründe  sind  so  vager  Natur,  daß  ein  näheres 
Eingehen  darauf  überflüssig  erscheint.  Hinsichtlich  des  ersten  dürfte 
es  zweifelhaft  sein,  ob  die  Ersparnis  an  Waligehältern  nicht  durch 
Entschädigung  für  die  ausgedehnteren  Dienstreisen  des  Walis  oder 
seines  Stellvertreters  aufgewogen  wird.  Auf  keinen  Fall  aber  dürften 
die  Ersparnisse  so  beträchtlich  sein,  daß  sie  allein  schon  als  genügender 
Grund  für  eine  so  einschneidende  Maßnahme  wie  die  Zusammen- 
legung zweier  oder  mehrerer  Provinzen  gelten  könnten. 


*  Siehe  das  folgende  Schriftstück. 

**  Hier  eingereiht  des  Zusammenhangs  halber. 


89 


Dem  gegenüber  stehen  zunächst  die  allgemeinen  Bedenken  gegen 
die  Schaffung  allzu  großer  Provinzen  in  Armenien;  die  außerordentlich 
geringe  Zahl  von  Wegen  würde  namentlich  im  Winter,  wo  die  tele- 
graphischen Verbindungen  fast  stets  unterbrochen  und  die  meisten 
Gebirgsübergänge  unpassierbar  sind,  mit  Notwendigkeit  dahin  führen, 
daß  ganze  Regierungsbezirke  Monate  hindurch  von  der  Verwaltungs- 
zentrale der  Provinz  abgeschnitten  werden.  Die  unausbleibliche  Folge 
wäre  ein  Stocken  der  Verwaltung,  das  gerade  in  Gebieten,  in  denen 
ein  neuer  Administrationsmodus  in  Einführung  begriffen  ist,  und  wo 
daher  das  dem  Kontinuitätsgesetz  entsprechende  automatische  Weiter- 
laufen der  gewohnten  Verwaltungsmaschinerie  wegfällt,  mit  Sicherheit 
zum  baldigen  Chaos  führen  müßte. 

Ein  weiteres  Argument  gegen  die  Schaffung  allzu  großer  Ver- 
waltungseinheiten liegt  in  dem  Umstände,  daß  zur  Herstellung  und 
Aufrechterhaltung  der  Ordnung  in  dem  von  Nationalitätenkämpfen 
durchwühlten  Lande  die  dauernde  Anwesenheit  verhältnismäßig  sehr 
starker  militärischer  Garnisonen  erforderlich  sein  wird.  Das  würde 
zur  Folge  haben,  daß  in  den  wichtigsten  Städten  des  Landes,  die  nicht 
der  Sitz  eines  Walis  wären,  der  Militärkommandant  in  höherem  Range 
stände  als  der  Chef  der  lokalen  Zivilbehörde,  ein  Zustand,  der  das 
zur  Beruhigung  des  Landes  unerläßliche  Zusammenarbeiten  beider 
Faktoren  wesentlich  erschweren  müßte. 

Wenn  diese  Gründe  schon  die  Zusammenlegung  zweier  arme- 
nischer Wilajets  als  ein  bedenkliches  Unternehmen  erscheinen  lassen, 
so  wirken  sie  mit  potenzierter  Kraft  gegenüber  dem  Mandelstamschen 
Vorschlage,  alle  sechs  genannten  Wilajets,  das  heißt  etwa  den  siebenten 
Teil  der  ganzen  Türkei,  zu  einer  Verwaltungseinheit  zusammenzu- 
fassen und  so  eine  Provinz  zu  schaffen,  die  an  Flächeninhalt  etwa  halb 
so  groß  wie  Deutschland  und  ebenso  groß  wäre  wie  Rumänien  und 
Bulgarien  zusammengenommen.  Berücksichtigt  man,  daß  dieses  Ge- 
biet zum  größten  Teil  aus  schwer  zugänglichem  Hochgebirge  be- 
steht, von  keiner  Eisenbahn  durchzogen  wird  und,  von  wenigen  Ver- 
kehrsstraßen abgesehen,  keine  nennenswerten  Kommunikationen  be- 
sitzt, so  wird  ohne  weiteres  klar,  daß  in  einem  derartigen  Länder- 
komplexe eine  einheitliche,  von  einer  einzigen  Stelle  ausgehende  Pro- 
vinzialverwaltung  zu  denjenigen  Dingen  gehört,  deren  Verwirklichung 
der  praktischen  Vernunft  als  unmöglich  erscheinen  muß.  Ein  Ver- 
such in  dieser  Richtung  würde  binnen  kurzem  dahin  führen,  daß  sich 
für  die  Sandschaks  in  praxi  eine  ähnliche  Selbständigkeit  heraus- 
bilden würde,  wie  sie  jetzt  für  die  Wilajets  besteht,  und  daß,  da  die 
Sandschakzahl  vermutlich  größer  als  sechs  sein  wird,  statt  der  be- 
absichtigten Verringerung  eine  Vermehrung  der  selbständigen  Ver- 
waltungsgebiete Platz  greifen  würde. 

Das  zweite  Novum  an  der  Mandelstamschen  Begrenzung  der  Re- 
formzone liegt  darin,  daß  von  dem  durch  die  sechs  Wilajets  gegebenen 

90 


Gebiete  der  südliche  und  der  nordwestliche  Teil  ausgeschlossen  werden 
sollen.  Aus  dem  Bestreben,  die  Lebensbedingungen  der  armenischen 
Nation  zu  erleichtern,  dürfte  sich  ein  plausibler  Grund  für  die  Be- 
schneidung der  Reformzone  nicht  herleiten  lassen;  denn  in  den  aus- 
geschlossenen Gebieten  sind  Armenier  gleichfalls  in  großer  Zahl  an- 
sässig. Seit  1895  hat  sogar  ein  Vordringen  der  von  den  im  Norden 
wohnenden  Kurden  gedrängten  armenischen  Nation  in  südlicher  und 
namentlich  südwestlicher  Richtung  eingesetzt,  und  es  ist  heute  eine 
nicht  zu  bestreitende  Tatsache,  daß  das  Wilajet  Adana,  die  nördlichen 
Distrikte  des  Wilajets  Aleppo  sowie  die  Gegend  von  Malatia  zu  den- 
jenigen Bezirken  gehören,  in  denen  das  armenische  Element  am  zahl- 
reichsten und  am  dichtesten  ansässig  ist.  Wäre  es  daher  dem  russi- 
schen Vorschlage  wirklich  nur  um  die  Besserstellung  der  Armenier 
zu  tun,  so  hätte  er  das  Gebiet  der  bereits  1895  berücksichtigten  Wila- 
jets nicht  verkleinern  dürfen,  sondern  hätte  ihm  im  Gegenteil  noch 
große  Teile  der  Wilajets  Aleppo,  Mosul,  Adana  und  Angora  hinzu- 
fügen müssen. 

Für  die  in  dem  Mandelstamschen  Entwürfe  ausgeschlossenen  Teile 
der  sechs  Wilajets  ist  charakteristisch,  daß  in  ihnen  neben  dem 
armenischen  auch  das  muhamedanische  Element  stark  vertreten  ist. 
Hieraus  läßt  sich  unschwer  erkennen,  daß  Rußland  mit  seinem  Vor- 
schlage auf  die  Schaffung  eines  Verwaltungsgebildes  mit  vorwiegend 
christlich-armenischer  Bevölkerung  abzielt,  offenbar  in  der  Erwartung, 
daß  ein  solches  an  dem  schnell  erreichbaren,  mit  ethnologisch  und 
religiös  verwandten  Völkerschaften  angrenzenden  Rußland  seinen  natür- 
lichen Rückhalt  wird  suchen  müssen. 

Hier  ist  nun  der  Punkt,  an  dem  das  deutsche  Interesse  dem 
russischen  diametral  zuwiderläuft.  Wie  ein  Blick  auf  die  meinem 
Bericht  Nr.  159  vom  21.  Mai*  beigefügte  Kartenskizze  zeigt,  liegt 
die  ganze  südliche  Hälfte  der  von  Rußland  vorgeschlagenen  Reform- 
zone in  dem  Gebiete,  das  sich  durch  die  vorgesehenen  Zweiglinien 
der  Bagdadbahn  als  unsere  Interessensphäre  charakterisiert.  Würde 
nun  der  Zusammenhang  dieses  Teiles  unserer  Interessensphäre  mit 
der  übrigen  Türkei  gelockert,  so  würde  sich  nach  Durchführung  der 
Reformen  innerhalb  der  von  Rußland  vorgeschlagenen  Zone  eine 
Differenzierung  des  dort  belegenen  Teils  unserer  Interessensphäre  zu 
Ungunsten  des  übrigen  größeren  Teiles  derselben  ergeben.  Die  Folge 
davon  wäre  im  ganzen  Umfange  unseres  Interessengebietes  für  uns 
außerordentlich  abträglich;  denn  die  Einwohner  des  in  der  Reform- 
zone belegenen  Teiles  würden  sich  für  die  Vorteile  der  reformierten 
Verwaltung  nicht  bei  uns,  sondern  bei  Rußland  bedanken,  das  für 
die  breiteste  Bekanntgabe  seiner  Urheberschaft  an  dem  Reformprojekte 
geflissentlich  sorgen  wird.    Die  Bewohner  des  übrigen  Teiles  unserer 


•  Siehe   Nr.    15  312. 

91 


Interessensphäre  aber  würden  durch  den  Vergleich  mit  ihren  besser 
gestellten  Stammesgenossen  einer  stetig  wachsenden  Unzufriedenheit 
in  die  Arme  getrieben  werden  und  sehr  bald  der  alsdann  unkorrigier- 
baren Ansicht  verfallen,  daß  Deutschland  nicht  imstande  sei,  ihr  Los 
zu  verbessern,  und  daß  der  russische  Schutz  ihnen  eine  größere  Ge- 
währ für  die  Zukunft  biete. 

Unser  Interesse  dürfte  uns  daher  mit  Notwendigkeit  darauf  hin- 
weisen, die  in  dem  russischen  Reformprojekte  enthaltene  Beschränkung 
auf  die  darin  vorgesehenen  Gebiete  abzulehnen. 

Damit  stehen  wir  vor  der  Frage,  ob  überhaupt  eine  Beschränkung 
der  einzuführenden  Reformen  auf  einen  bestimmten  Teil  der  Türkei 
im  Interesse  der  Erhaltung  desselben  tunlich  ist.  Hier  ist  zunächst 
zu  berücksichtigen,  daß  das  türkische  Reich  nach  Abtrennung  der 
europäischen  Wilajets  eine  hinsichtlich  der  Kulturstufe  seiner  Be- 
völkerung weit  homogenere  Masse  darstellt  als  vordem.  Die  Besser- 
stellung derjenigen  Bevölkerungszone,  die  sich  bisher  durch  ihre  un- 
ruhige Haltung  besonders  hervorgetan  hat,  müßte  den  ruhigeren  Volks- 
teilen des  türkischen  Reiches  als  eine  Prämie  auf  Unbotmäßigkeit 
gegen  die  Staatsgewalt  erscheinen  und  könnte  daher  auf  dieselben 
nicht  anders  als  in  hohem  Grade  aufreizend  wirken.  Die  nächste 
Folge  müßte  sein,  daß  ähnliche  Vorgänge  wie  in  Armenien  sich  auch 
in  Arabien,  Mesopotamien,  Syrien  und  'im  westlichen  Kleinasien  zeigen 
würden,  so  daß  sich  auch  dort  die  Einführung  ähnlicher  Reformen  auf 
die  Dauer  nicht  umgehen  ließe.  Es  kann  kein  Zweifel  über  die  Wir- 
kung bestehen,  die  sich  aus  einer  derartig  erzwungenen  parzellierten 
Entwicklung  der  Reformfrage  für  den  Bestand  des  türkischen  Reiches 
ergeben  müßte.  Die  Erhaltung  der  Türkei  und  die  Einführung  von  Re- 
formen lassen  sich  nur  dann  miteinander  vereinbaren,  wenn  die  letzteren 
auf  das  gesamte  türkische  Staatsgebiet  ausgedehnt  werden. 

In  richtiger  Erkenntnis  der  aus  jeder  anderen  Modalität  drohenden 
Gefahr  hat  daher  die  türkische  Regierung  das  Prävenire  gespielt  und 
sich  zu  durchgreifenden  Reformen  im  ganzen  Reiche  entschlossen. 
Die  Grundlage  dazu  war  bereits  durch  das  neue  Wilajetsgesetz  gelegt, 
über  das  an  anderer  Stelle  berichtet  worden  ist,  und  das  sich  einer 
Reihe  neuer  Reformgesetze,  insbesondere  auf  dem  Gebiete  des  Im- 
mobiliarrechts,  angliedert,  die  unstreitig  geeignet  sind,  eine  Reform 
des  türkischen  Wirtschaftslebens  in  die  Wege  zu  leiten. 

Die  Pforte  hat  sich  indessen  auch  der  weiteren  Erkenntnis  nicht 
verschlossen,  daß  es  ihr  nie  an  guten  Gesetzen,  stets  aber  an  Per- 
sonen gefehlt  hat,  die  imstande  waren,  diese  sachgemäß  anzuwenden. 
Um  dem  abzuhelfen,  hat  sie  sich,  wie  aus  dem  abschriftlich  anliegenden 
Zirkulartelegramme    an    die   türkischen    Botschafter*   und    den    gleich- 


*  Wesentlich    identisch    mit    Nr.    15  341.    Die    übrigen    genannten   Schriftstücke 
hier  nicht  abgedruckt. 

92 


falls  anliegenden  Zusatzartikeln  zum  neuen  Wilajetsgesetz  nebst  den 
anliegenden  Instruktionen  über  Befugnisse  und  Zuständigkeit  der  Ge- 
neralinspektoren ersichtlich  ist,  entschlossen,  die  gesamte  Türkei  in 
sechs  Generalinspektionen  zu  teilen  und  für  die  wichtigsten  derselben, 
besonders  die  östlichen,  fremde  Generalinspektoren  anzustellen  und 
diesen  fremde  und  türkische  Spezialisten  für  Gendarmerie,  Justiz, 
öffentliche  Arbeiten  und  Landwirtschaft  beizugeben.  Auch  sollen  in 
den  Ministerien  ein  Vortragender  Rat  und  ein  Inspektor  Fremde  sein 
und  für  gewisse  Departements  fremde  Beamte  ernannt  werden. 

Diese  neue  Reformaktion  der  Türkei  geht  insofern  weit  über  das 
armenische  Reformdekret  vom  20.  Oktober  1895  hinaus,  als  es  sich, 
wie  bemerkt,  auf  die  ganze  Türkei  erstreckt  und  die  Mitwirkung  euro- 
päischer Kräfte  nicht  nur  in  beratender,  sondern  in  leitender  Stellung 
vorsieht.  Dagegen  ging  das  Dekret  von  1895  insofern  weiter,  als  es 
in  Artikel  32  eine  ständige  Reformkommission  schaffen  wollte,  die 
auf  der  Pforte  tagend  und  zur  Hälfte  aus  muhamedanischen,  zur 
Hälfte  aus  nichtmuhamedanischen  Mitgliedern  bestehend  die  Durch- 
führung der  Reformen  überwachen  sollte.  Zudem  schrieb  das  Dekret 
in  Artikel  1  bis  3  die  Anstellung  nichtmuhamedanischer  Beamten  für 
gewisse  Stellen  vor. 

Die  Mächte  stehen  nunmehr  vor  zwei  Reformprojekten,  dem 
russischen,  das  außer  der  räumlichen  Begrenzung  auch  andere  in 
einem  späteren  Berichte  darzulegende  Gefahren  in  sich  birgt,  und 
dessen  Verwirklichung  die  Auflösung  der  Türkei  beschleunigen  muß, 
und  dem  türkischen,  dessen  Ausführung  mit  der  Anwendung  des 
Wilajetsgesetzes  und  der  anderen  Reformgesetze  teilweise  bereits  zu 
einem  fait  accompli  geworden  ist. 

Bei  der  Frage,  welche  Haltung  wir  angesichts  dieser  Situation 
beobachten  müssen,  wird  davon  auszugehen  sein,  daß  wir  ent- 
schlossen sind,  den  Zusammenbruch  der  Türkei  möglichst  lange  auf- 
zuhalten. Es  kann  daher  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  das  russische 
Projekt  für  uns  unannehmbar  ist,  und  wir  werden  nur  darauf  Bedacht 
zu  nehmen  haben,  eine  Form  der  Ablehnung  zu  finden,  welche  die 
russische  Empfindlichkeit  nach  Möglichkeit  schont.  Wir  könnten  zu 
diesem  Zwecke  vielleicht  darauf  hinweisen,  daß  durch  den  jüngsten, 
erst  nach  Mitteilung  des  Mandelstamschen  Projekts  erfolgten  Reform- 
schritt der  Pforte  ein  neues  Faktum  in  die  Frage  hineingetragen  sei, 
daß  unter  diesen  Umständen  der  Türkei  Zeit  gelassen  werden  müsse, 
die  von  ihr  beabsichtigte  und  bereits  begonnene  Reformaktion  durch- 
zuführen, und  daß  wir  erst  bei  einem  Fehlschlagen  der  letzteren  in 
Erwägungen  über  weitergehende  Reformvorschläge  eintreten  möchten. 

Damit  diese  Eventualität  nach  Möglichkeit  vermieden  wird,  wer- 
den wir  der  Pforte  dringend  raten  müssen,  ihre  Reformaktion  so 
durchgreifend  und  vollständig  wie  möglich  zu  gestalten.  Oben  ist 
bereits  angedeutet  worden,  daß  dieselbe  hinter  dem  Reformplan  von 

93 


1895  in  einigen  Punkten  zurückbleibt.  Wir  werden  daher  der  Pforte 
nahelegen  müssen,  ihr  jetziges  Projekt  in  dieser  Richtung  zu  ergänzen 
und  diejenigen  Teile  des  Reformplanes  von  1895  zu  berücksichtigen, 
die  nicht  inzwischen  durch  die  Weiterentwickelung  der  türkischen 
Gesetzgebung  gegenstandslos  geworden  sind.  Wir  können  uns  meines 
Erachtens  zu  diesem  Vorgehen  um  so  leichter  entschließen,  als  wir 
dabei  England  zur  Seite  haben,  das  nach  einem  anderweitigen  Er- 
lasse Euerer  Exzellenz  die  Beschlüsse  der  Botschafter  vom  Jahre  1895 
als  Grundlage  haben  möchte. 

Wenn  ich  empfehlen  möchte,  nicht  von  den  Botschafterbeschlüssen, 
sondern  von  dem  türkischen  Reformdekret  vom  20.  Oktober  1895  aus- 
zugehen, so  liegt  darin  nur  eine  geringfügige  Abweichung  von  dem 
Standpunkte  Sir  E.  Greys,  da  beide  Schriftstücke  im  wesentlichen  auf 
dasselbe  hinauskommen  und  sich  sogar  in  ihrem  Texte  vielfach  decken. 
Für  die  Zugrundelegung  des  Dekretes  spricht  zunächst  die  Erwägung, 
daß  es  leichter  sein  wird,  die  Pforte  zur  Durchführung  von  Bestim- 
mungen zu  veranlassen,  die  einem  vom  Sultan  durch  Iradee  sanktio- 
nierten, also  bereits  mit  Gesetzeskraft  versehenen  Dekrete  entnommen 
sind,  als  von  solchen,  die  von  den  Botschaftern  beschlossen  sind.  Der 
Hauptgrund  indessen,  der  für  die  Berücksichtigung  des  Reformdekretes 
spricht,  beruht  auf  einer  anderen  Überlegung: 

Sowohl  das  deutsche  wie  das  türkische  Interesse  erfordern  meines 
Erachtens,  daß  die  bereits  oben  erwähnte,  nur  in  dem  Dekret  von 
1895  vorgesehene  ständige  Kontrollkommission  in  erweiterter  Form 
ins  Leben  gerufen  wird. 

Wir  haben  meines  Erachtens  das  dringendste  Interesse  daran 
zu  verhindern,  daß  Rußland  sich  nach  dem  Scheitern  seines  Reform- 
projektes der  armenischen  Nation  gegenüber  als  den  eifrig  bemühten, 
wenn  auch  augenblicklich  durch  die  Intrigen  anderer  Mächte  erfolglosen 
Retter  aus  dem  türkischen  Joche  aufspielt,  eine  Charakterrolle,  deren 
Einstudierung  ihm  durch  die  Enttäuschung  der  Armenier  über  die 
ihnen  erst  vorgehaltene  und  dann  im  Augenblick  des  Zuschnappens 
weggezogene  Extrawurst  wesentlich  erleichtert  werden  würde.  Wir 
werden  daher  gut  tun,  für  die  armenischen  Provinzen  (nicht  nur  für 
die  sechs  ursprünglichen  Wilajets,  sondern  auch  die  angrenzenden 
Teile  von  Adana,  Angora,  Aleppo  und  Mosul)  eine  Einrichtung  vor- 
zuschlagen, die,  ohne  den  Bestand  der  Türkei  ernstlich  zu  gefährden, 
den  Armeniern  doch  zeigt,  daß  sie  sich  unseres  ganz  besonderen  In- 
teresses erfreuen.  Hierzu  eignet  sich  'in  hohem  Maße  eine  auf  der 
Pforte  unter  türkischem  Vorsitz  tagende,  zur  Hälfte  aus  Türken,  zur 
Hälfte  aus  Delegierten  der  Großmächte  bestehende  ständige  Kontroll- 
kommission, deren  Aufgabe  es  wäre,  alle  armenischen  Beschwerden 
und  Desiderata  zu  prüfen  und  den  Walis  bezw.  Generalinspektoren 
entsprechende  Informationen  und  Instruktionen  zugehen  zu  lassen  und 
sich  durch  Reisen  in  den  armenischen  Wilajets,  die  von  Unterkommis- 

94 


sionen    ausgeführt   werden    können,    von    der    Durchführung   der   Re- 
formen und  den  Zuständen  in  Armenien  zu  überzeugen. 

Für  die  Türkei  böte  diese  Einrichtung  den  außerordentlichen  Vor- 
teil, daß  sie  als  Ventil  am  armenischen  Dampfkessel  wirken  würde. 
Die  Mächte  würden  nicht  wie  jetzt  gezwungen  sein,  bei  jedem 
Mord  oder  sonstigen  an  einem  Armenier  begangenen  Verbrechen  die 
ganze  Klaviatur  der  erregten  armenischen  Volksseele  und  der  er- 
regteren armenischen  Auslandskomitees  über  sich  ergehen  zu  lassen, 
sondern  könnten  diese  alsdann  auf  die  allein  zuständige  internationale 
Kontrollkommission  in  Konstantinopel  verweisen.  Alle  armenischen 
Bedürfnisse  würden  auf  diese  Weise  auf  voraussichtlich  lange  Zeit  der 
diplomatischen  Erörterung  entzogen  und  in  die  kühlere  Zone  rein  admi- 
nistrativer Behandlung  hinübergeführt  werden. 

Wenn  es  außerdem  gelänge,  die  Pforte  zur  Anstellung  der  im 
Reformdekret  von  1895  vorgesehenen  christlichen  Muawins  (Gehilfen 
für  Wali,  Mutessarif  usw.)  zu  bewegen,  so  würde  das  türkische  Re- 
formprojekt sich  meines  Erachtens  als  erheblich  brauchbarer  erweisen 
als  das  russische  und  auch  seine  beruhigende  Wirkung  auf  die  arme- 
nische Frage  nicht  verfehlen  können.  Den  russischen  Wünschen  könnte 
dabei  dadurch  entgegengekommen  werden,  daß  der  Pforte  seitens  der 
Mächte  nahegelegt  wird,  diejenigen  Bestimmungen  des  russischen 
Projekts  zu  berücksichtigen,  die  sich  mit  dem  Dekret  von  1895  ver- 
einbaren lassen. 

Ich  darf  bitten,  mich  nach  Eingang  dieses  Berichts  baldmöglichst 
telegraphisch  verständigen  zu  wollen,  ob  die  vorstehend  angedeuteten 
Richtlinien  den  Intentionen  Euerer  Exzellenz  entsprechen*.  Ich  werde 
es  bis  zum  Eintreffen  des  Drahterlasses  Euerer  Exzellenz  vermeiden, 
mich  auf  irgendwelche  grundsätzlichen  Fragen  festzulegen,  und  habe 
daher  den  Dragoman  Dr.  Schönberg  für  die  heutige  erste  Sitzung 
der  Botschaftsdelegierten  dahin  instruiert,  die  Diskussion  über  das 
russische  Projekt  dilatorisch  zu  behandeln  und  zunächst  nur  auf  die 
allgemeinen  Bedenken  hinzuweisen,  die  einer  räumlichen  Begrenzung 
der  Reformaktion  entgegenstehen.  Doch  werde  ich  in  der  heutigen 
Sitzung  bereits  erklären  lassen,  daß  wir  uns  vorbehalten,  der  neuen 
Situation,  die  durch  Zustellung  des  türkischen  Reformprojektes  ge- 
schaffen sei,  Rechnung  zu  tragen.  Ich  werde  ferner  dahin  wirken, 
daß  die  nächste  Sitzung  nicht  vor  Donnerstag,  den  10.  d.  Mts.,  statt- 
findet, in  der  Annahme,  daß  ich  mich  bis  dahin  im  Besitze  der  In- 
struktionen Euerer  Exzellenz  befinde. 

Wangenheim 


*  Das  Einverständnis  des  Auswärtigen  Amts  wurde  durch  Telegramm  Nr.   224 
vom  9.  Juli  ausgesprochen. 


95 


Nr.  15  348 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  359  Konstantinopel,  den  4.  Juli  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  358*. 

Herr  von  Giers  ließ  gestern  durch  russischen  Botschaftsrat  Mark- 
grafen Pallavicini  sagen,  daß  er  über  die  Ergebnislosigkeit  der  ersten 
Beratung  der  Botschaftsdelegierten  wenig  erfreut  sei.  Die  Botschafter 
müßten  sofort  zusammentreten.  Markgraf  Pallavicini  erwiderte,  Öster- 
reich und,  wie  er  wisse,  auch  Deutschland  und  Italien  seien  durchaus 
reformfreundlich.  Wegen  des  gestrigen  Zwischenfalls  brauche  keine 
Konferenz  der  Botschafter  stattzufinden.  Einer  gleichzeitigen  Beratung 
der  beiden  Projekte  stehe  nichts  im  Wege. 

Markgraf  Pallavicini  sprach  dann  von  englischem  Oberkommissar, 
worauf  Botschaftsrat  entgegnete,  daß  der  Haut  Commissaire  doch  wohl 
von  Rußland  zu  geben  sei.  Ein  geeigneter  Mann  sei  der  frühere  hiesige 
Militärattache  General  Holmsen. 

Wangenheim 


Nr.  15  349 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Entzifferung 

Nr.  208  St.  Petersburg,  den  3.  Juli  1913 

[pr.  5.  Juli] 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  164**. 

Als  ich  gestern  weisungsgemäß  Herrn  Sasonow  auf  die  bedenk- 
lichen Seiten  des  russischen  Reform projekts  für  die  armenischen  Wi- 
lajets  hinwies,  vertrat  der  Minister  den  Standpunkt,  daß  das  Programm 
von  1895  im  Hinblick  auf  die  Entwickelung,  welche  die  Verhältnisse 
seit  jener  Zeit  genommen  hätten,  nicht  mehr  ausreiche.  Er  habe  bereits 
in  seiner  Zirkularnote***  über  die  Notwendigkeit  von  Reformen  in 
Armenien  angedeutet,  daß  die  einzuführenden  Reformen  zwar  von  dem 
Programm  von  1895  ausgehen,  den  jetzigen  Verhältnissen  aber  an- 
gepaßt werden  müßten.    Als  unbedingt  erforderlich  bezeichnete  Herr 


•  Vgl.   Nr.    15  346,    Fußnote  f. 
"Vgl.   Nr.    13  344,   S.   87,   Fußnote  \ 
•*•  Vgl.  Nr.   15  331   nebst  Fußnote". 


96 


Sasonow  die  Ernennung  eines  christlichen,  womöglich  nichttürkischen 
Generalgouverneurs.  Eine  Berücksichtigung  türkischer  Vorschläge  er- 
schien ihm  äußerst  bedenklich,  da  es  der  Türkei  mit  ihrem  Wunsch, 
Reformen  in  Armenien  einzuführen,  nicht  Ernst  sei.  Man  dürfe  um 
keinen  Preis  halbe  Maßregeln  ergreifen,  sondern  [müsse]  sich  der  in 
Mazedonien  gemachten  schlechten  Erfahrungen  erinnern  und  alles  daran- 
setzen, um  ein  wirksames  Reformwerk  durchzuführen.  Meine  Ein- 
wände, insbesondere  auch  der  Hinweis  darauf,  daß  andere  Gebietsteile 
der  Türkei  die  den  Armeniern  eingeräumten  Zugeständnisse  auch  für 
sich  beanspruchen  würden,  und  daß  damit  die  Aufteilung  der  Türkei 
beginnen  werde,  suchte  der  Minister  zu  entkräften.  Dabei  beteuerte  er 
auf  das  feierlichste,  daß  auch  er  weit  davon  entfernt  sei,  die  Aufteilung 
des  türkischen  Besitzes  in  Kleinasien  anzustreben.  Im  Gegenteil 
wünsche  er,  daß  gerade,  um  einer  solchen  Aufteilung  vorzubeugen, 
ruhige  und  geordnete  Verhältnisse  in  Armenien  geschaffen  würden. 
Den  Weg  hierzu  erblicke  er  in  dem  russischen  Programm,  sei  aber 
gern  bereit,  über  die  Einzelheiten  desselben  in  Diskussion  einzutreten. 

Der  Minister  protestierte  auf  das  nachdrücklichste  gegen  die  hie 
und  da  in  der  Presse  aufgetauchten  Insinuationen,  daß  Rußland  die 
armenischen  Unruhen  zu  Expansionszwecken  benutzen  wolle.  Rußland 
habe  den  Kaukasus  und  brauche  nichts  weiter.  Auf  eine  mit  Tausenden 
von  Unterschriften  bedeckte,  vor  kurzem  von  türkischen  Armeniern  an 
den  Zaren  gerichtete  Bittschrift,  in  welcher  die  Annexion  der  arme- 
nischen Wilajets  erbeten  wurde,  sei  die  sehr  bestimmte  Antwort  er- 
gangen, daß  eine  solche  Annexion  den  Zielen  der  russischen  Politik 
durchaus  fernliege. 

Rußland  habe  aber  das  größte  Interesse  daran,  daß  an  seiner 
Grenze  keine  Revolution  ausbreche,  die  sich  auch  auf  die  Armenier 
in  Rußland  ausdehnen  würde.  Daher  müsse  Rußland  auf  Einführung 
energischer  Reformen  bestehen,  denn  im  Falle  ernstlicherer  Unruhen 
würde  Rußland,  allerdings  sehr  gegen  seinen  Wunsch,  aus  Gründen  der 
Selbsterhaltung  gezwungen  sein,  einzuschreiten.  Dieser  Notwendigkeit 
möchte  Herr  Sasonow,  wie  er  sagte,  um  jeden  Preis  vorbeugen*. 

Pourtales 


*  Ähnlich  äußerte  sich  Sasonow  von  neuem  am  9.  Juli  unter  Überlas- 
sung eines  Aide-memoires  —  siehe  dasselbe  in  dem  Russischen  Orange- 
buch: Les  Reformes  en  Armenie,  p.  74  —  gegenüber  Graf  Pourtales, 
worüber  dieser  am  10.  eingehend  (Nr.  216)  berichtete.  Der  deutsche 
Botschafter  erwiderte  bei  dieser  Gelegenheit  dem  russischen  Minister,  er  wolle 
an  der  Aufrichtigkeit  der  Sasonowschen  Politik  in  der  Frage  der  armenischen 
Reformen  nicht  zweifeln,  könne  aber  nicht  verschweigen,  daß  in  Deutschland 
vielfach  die  Ansicht  verbreitet  sei,  die  Unruhen  würden  von  russischen  Agenten 
angestiftet  und  geschürt.  Er  selbst,  Pourtales,  wolle  zwar  gern  glauben,  daß 
die  Agenten  nicht  im  Auftrage  der  russischen  Regierung  handelten,  immerhin 
scheine  es  in  vielen  Fällen,  als  ob  sie  mit  amtlichen  russischen  Organen  Fühlung 
hätten.    Sasonow  bestritt    in   seiner   Antwort   nicht,    „daß    in   den   armenischen 

7    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  97 


Nr.  15  350 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  F  reiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  365  Konstantinopel,  den  5.  Juli  1913 

Großwesir  schreibt  mir  soeben  ganz  vertraulich,  daß  die  englische 
Regierung  sich  endlich  entschlossen  habe,  die  beiden  für  Ost-  und 
Nordanatolien  erbetenen  Generalinspekteure  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Wangenheim 

Nr.  15  351 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  369  Konstantinopel,  den  7.  Juli  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  356*. 

In  heutiger  Sitzung  beschloß  Armenierkommission,  russischen  und 
türkischen  Reformplan  nebeneinander  zu  beraten.  Allseits  wurde  an- 
erkannt, daß  die  Delegierten  nicht  berufen  sind,  Beschlüsse  zu  fassen 
oder  Regierungserklärungen  abzugeben,  sondern  daß  es  sich  lediglich 
um  Gedankenaustausch  handelt,  dessen  Ergebnis  eventuell  späteren 
Beschlüssen  der  Botschafter  als  Material  dienen  könnte. 

Russe  befürwortete  alsdann  Punkt  I  seines  Entwurfs,  Bildung 
einer  einzigen  armenischen  Provinz.  Österreicher  wandte  ein,  daß 
dadurch  eine  privilegierte  Zone  geschaffen  würde,  wodurch  auch  andere 
Teile  der  Türkei  zu  Sonderbestrebungen  ermutigt  würden.  Schönberg 
wies  auf  die  in  Bericht  208**  erwähnten  Schwierigkeiten  hin,  ein  so 
großes  Gebiet  als  Provinz  zu  verwalten,  und  fragte,  warum  nicht  auch 
Cilicien  in  Reformzone  einbegriffen  sei***.  Engländer  und  Russen  be- 
gründeten dies  damit,  daß  Armenier  in  Cilicien  von  denen  in  den  sechs 


Wilajets  Agenten  tätig  seien,  und  daß  sich  darunter  auch  russische  Untertanen 
befänden.  Dies  seien  aber  selbst  Armenier,  welche  allerdings  ein  Einrücken 
Rußlands  in  das  türkische  Grenzgebiet  herbeiführen  möchten.  Daß  russische 
Konsuln  mit  diesen  Machenschaften  etwas  zu  tun  hätten,  stellte  der  Minister 
auf  das  allerentschiedenste  in  Abrede". 
*  Siehe  Nr.  15  346. 
*•  Siehe  Nr.    15  347. 

***  Gegen  diese  Anregung  sprach  Staatssekretär  von  Jagow  durch  Telegramm 
Nr.  222  vom  8.  Juli  Bedenken  aus.  „Unsere  öffentliche  Meinung  würde  in  der 
Leitung  der  Reformaktion  in  Cilicien  durch  Angehörige  dritter  Mächte  zweifel- 
los einen  deutschen  Echec  erblicken." 

98 


Wilajets  durch  einen  Gebietsstreifen  mit  nur  schwacher  armenischer 
Bevölkerung  getrennt  seien,  was  Schönberg  in  Abrede  stellte.  Italiener 
schloß  sich  allen  deutschen,  österreichischen  Ausführungen  an. 

Engländer  erklärte  sich  auffallenderweise  für  russischen  Vorschlag 
einer  einzigen  Provinz,  was  mit  Bewilligung  der  beiden  englischen 
Generalinspektoren  nicht  in  Einklang  zu  bringen  ist.  England  dürfte 
mit  Widerstand  gegen  russisches  Projekt  so  lange  zurückhalten,  als  es 
dieser  Notwendigkeit  durch  Haltung  der  Dreibundmächte  enthoben  ist. 


Wangenheim 


Nr.  15  352 


Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  267  London,  den  8.  Juli  1913 

Hatte  Sir  E.  Grey  auftragsgemäß  (Telegramm  362  *)  auf  Gefahr  zu 
weitgehender  Vorschläge  für  künftige  Gestaltung  Armeniens  hinge- 
wiesen. Der  Minister  hat  hierauf  nach  Petersburg  Anregung  über- 
mittelt, 95er  Botschaftervorschläge  zur  Grundlage  Armeniens  Neu- 
gestaltung zu  nehmen,  wobei  auch  türkische  und  russische  Vorschläge 
Berücksichtigung  finden  sollten.  Für  übrige  Türkei  könnten  türkische 
Vorschläge  als  Grundlage  dienen.  Ich  habe  gleichzeitig  Inhalt  Erlasse 
1219  und  1222**  verwertet,  worauf  der  Minister  mir  sagte,  er  habe 
seither  erneute  Weisungen  nach  Konstantinopel  gesandt. 

Lichnowsky 

Nr.  15  353 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  374  Therapia,  den  8.  Juli  1913 

Antwort  auf  Telegramm   Nr.   222***. 

Schönbergs  Antrag  hat  nur  taktische  Bedeutung.  An  seine  An- 
nahme ist  nicht  zu  denken,  tia  die  Tripelentente  das  russische  Projekt 


*  Vgl.  Nr.  15  344,  S.  87,  Fußnote  *. 

*•  Erlasse   Nr.    1219   und    1222    (4.    Juli)    hatten   die    beiden    Konstantinopeler 

Telegramme    Nr.    356    und    358    (siehe    Nr.    15  346    nebst    Fußnote  f)    nach 

London  mitgeteilt. 

••*  Vgl.    Nr.    15  351,    Fußnote"*. 

7*  99 


als  ein  ensemble  ä  laisser  ou  ä  prendre  behandelt.  Fällt  der  russische 
Antrag,  so  wird  Pforte  Reformwerk  auf  Grund  ihrer  Zoneneinteilung 
weiterführen.  Für  die  cilicische  Zone  hatte  schon  Mahmud  Schewket 
auf  englische  Reformer  verzichtet  (vgl.  Telegramm  Nr.  275  und  286*); 
ich  glaube  erreichen  zu  können,  daß  dort  und  für  Syrien  ein  türkischer 
Generalinspekteur  bestellt  wird.  Dagegen  würde  es  nicht  unbedenklich 
sein,  deutsche  Reformer  gerade  für  dieses  Gebiet  zu  verlangen,  da 
die  äußerlichen  Kennzeichen  der  deutschen  Interessensphäre  ent- 
sprechende Forderungen  Frankreichs  für  Syrien,  Rußlands  für  Arme- 
nien und  Englands  für  Golfgebiet  etc.  zur  Folge  haben  würden.  Pforte 
würde  sich  einer  solchen  administrativen  Verteilung  des  Landes  an  die 
Interessenten  auf  das  äußerste  widersetzen.  Die  Anzahl  der  deutschen 
Reformer  einschließlich  Offiziere  innerhalb  des  ganzen  Reformgebiets 
dürfte  in  jedem  Falle  größer  werden  als  die  der  Reformer  irgend- 
eines anderen  Landes. 

Es  ist  unmöglich,  gleichzeitig  die  Schaffung  einer  russischen  Inter- 
essensphäre zu  bekämpfen  und  diejenige  einer  deutschen  vorzubereiten**. 

Wangenheim 


Nr.  15  354 

Der  Botschafter  in  Paris  Freiherr  von  Schoen  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  266  Paris,  den   10.  Juli  1913 

Höre  streng  vertraulich  von  meinem  englischen  Kollegen  ***,  daß 
seine  Regierung  unter  keinen  Umständen  für  russisches  Reformprojekt 
Armeniens  zu  haben  sein  werde.  Sie  habe  dies  auch  in  Petersburg 
und  hier  deutlich  zu  erkennen  gegeben. 

Herr  Pichon  hat  gestern  meinem  österreichisch-ungarischen  Kol- 
legen erklärt,  er  sei  entschieden  gegen  Aufrollung  der  kleinasiatischen 
Frage. 

Schoen 


*  Siehe  Nr.    15  306  und   15  311. 

**  Auf  das  obige  Telegramm   antwortete  Staatssekretär   von   Jagow  am    9.  Juli 

(Nr.    225) :    „An    deutsehe    Reformer    ist   unsererseits    gar    nicht    gedacht.     Mit 

Türken  einverstanden." 

***  Sir  F.  L.   Bertie. 


100 


Nr.  15  355 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  375  Konstantinopel,  den  Q.Juli  1913 

[pr.   11.  Juli] 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  369  *. 

In  heutiger  Sitzung  der  Armenierkommission  befürworteten  Russen 
Ernennung  eines  Generalgouverneurs  auf  fünf  Jahre  durch  Sultan  mit 
Zustimmung  der  Mächte.  Österreicher  treten  ein  für  Beibehaltung  der 
Wali,  Ernennung  der  fremden  Generalinspektoren  ohne  Zustimmung 
der  Mächte  und  Kontrolle  durch  die  Mächte  in  verstärkterer  Form, 
als  Reformdekret  1895  vorsah.  Souveränität  des  Sultans  werde  durch 
Verwirklichung  des  russischen  Projekts  geschmälert,  was  unzulässig. 
Schönberg  schloß  sich  diesen  Ausführungen  an  und  hinwies  darauf,  daß 
russischer  Vorschlag  aus  Armenien  eine  autonome  Provinz  machen 
wolle,  was  nach  allen  bisherigen  Erfahrungen  territorialen  Status  quo 
der  Türkei  gefährden  müsse.  Man  dürfe  nicht  Einrichtung  des  Libanon 
auf  80  mal  größeres  Gebiet  übertragen.  Engländer  und  Franzosen  er- 
klärten russischen  Vorschlag  für  einfacher  und  den  lokalen  Bedürfnissen 
entsprechend.  Italiener  traten  deutsch-österreichischen  Ausführungen 
bei. 

Wangenheim 


Nr.  15  356 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  376  Therapia,   den  9.   Juli   1913 

[pr.    11.   Juli] 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  374**. 

Im  Laufe  eines  Gesprächs,  welches  ich  heute  mit  Großwesir  hatte, 
führte  ich  folgendes  aus:  Mir  lägen  Nachrichten  vor,  nach  welchen 
Pforte  sich  wegen  Überlassung  von  Zivilreformern  nicht  nur  an  England, 
sondern  auch  an  andere  Mächte,  zum  Beispiel  Belgien,  gewandt  habe. 
Wir  seien  bisher  offiziell  nicht  angegangen  worden.  Nun  habe  aber 
gerade  die  deutsche  Arbeit  die  Türkei  mit  wichtigen  Wirtschaftsadern 

*  Siehe  Nr.    15  351. 
**  Siehe   Nr.    15  353. 

101 


durchzogen.  Das  deutsche  Volk  werde  es  nicht  verstehen,  wenn  unsere 
Tätigkeit  ausschließlich  unter  nichtdeutsche  fremde  Kontrolle  gestellt 
werde.  Namentlich  gelte  dies  für  Cilicien,  wo  der  Brennpunkt  unserer 
Tätigkeit  liege,  in  zweiter  Linie  auch  für  Gebiete,  welche  anderer  Re- 
formzone zugeteilt  seien,  zum  Beispiel  für  Diarbekr  und  Aleppo.  Said 
Halim  erwiderte,  er  wisse,  daß  ich  ähnliche  Bedenken  schon  Mahmud 
Schewket  gegenüber  geltend  gemacht  habe.  Er  sei  durchaus  geneigt, 
unserem  Standpunkt  Rechnung  zu  tragen,  und  werde  die  Verteilung 
der  fremden  Reformer  nur  im  Einverständnis  mit  mir  vornehmen.  Vor- 
läufig werde  er  nur  die  verschiedenen  Regierungen  um  Überlassung 
von  Reformern  bitten,  ohne  deren  hiesige  Verwendung  zu  präzisieren. 
Solche  Verhandlungen  nähmen  erfahrungsgemäß  längere  Zeit  in  An- 
spruch. Die  Verteilung  könne  erst  nach  Friedensschluß  vorgenommen 
werden. 

Wangenheim 


Nr.  15  357 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  377  Therapia,  den  9.  Juli  1913 

[pr.  11.  Juli] 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  374*. 

Der  französische  Geschäftsträger**  erzählte  mir,  nach  einem  Tele- 
gramm Cambons  sei  diesem  von  dem  Kaiserlichen  Unterstaatssekretär 
gesagt  worden,  das  russische  Projekt  werfe  die  Frage  auf,  ob  geteilt 
werden  solle  oder  nicht1.  Ich  erwiderte,  ich  sei  vollkommen  der  An- 
sicht Herrn  Zimmermanns.  Die  Abtretung  der  russischen  Zone  werde 
die  übrigen  Mächte  zwingen,  gleiches  Regime  für  ihre  Interessen- 
sphäre zu  verlangen.  Im  übrigen  sei  das  Projekt  Mandelstam  bei  der 
Türkei  nur  durch  eine  gemeinsame  Zwangsaktion  aller  Mächte  durch- 
zusetzen. Es  sei  doch  viel  einfacher,  auf  dem  weiterzubauen,  was  die 
Türkei  freiwillig  geben  wolle.  Ich  sei  überzeugt,  daß  gegenwärtig 
bei  den  türkischen  Staatsleitern  der  aufrichtige  Wille  besteht,  unter 
fremder  Mitwirkung  und  selbst  Kontrolle  Reformen  durchzuführen. 
Erweise  sich  das  türkische  Projekt  als  unzulänglich,  so  sei  immer  noch 
Zeit,  zu  schärferen  Mitteln  zu  'greifen.  Das  russische  Projekt  könne 
als  epouvantail  im  Hintergrund  bleiben.    Kontrolle  der  Mächte  sei  mit 


•  Siehe  Nr.    15  353. 

**  Botschaftsrat  A.  Boppe. 

102 


Hilfe  der  1895  vorgesehenen  Kommission  oder  noch  besser  dadurch  zu 
bewerkstelligen,  daß  der  Generalinspekteur  über  nicht  zu  beseitigende 
Mißstände  an  die  Botschafterkonferenz  berichtete,  die  sich  dann  wegen 
Remedur  an  die  Pforte  wenden  würde.  Letzteres  sei  auch  die  An- 
sicht Markgraf  Pallavicinis.  Herr  Boppe  schien  persönlich  meiner 
Auffassung  zuzuneigen.  Wenigstens  sagte  er  mir,  die  Anregung  der 
Teilung  sei  gefährlich  und  jedenfalls  verfrüht.  Ob  ich  nicht  einmal 
mit  Herrn  von  Giers  sprechen  wollte?  Ich  sagte,  daß  ich  keinen  Grund 
hätte,  meine  Ansicht  vor  dem  russischen  Botschafter  geheimzuhalten, 
daß  ich  mir  aber  von  einer  Aussprache  mit  ihm  wenig  verspreche. 

Wangenheim 

Randbemerkung  Zimmermanns: 

1  Neue  Phantasien  Herrn  Cambons! 


Nr.  15  358 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  383  Konstantinopel,  den  12.  Juli  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  375  *. 

In  heutiger  Sitzung  der  Armenierkommission  erklärte  Österreicher 
für  den  grundsätzlich  auch  von  ihm  bekämpften  Fall  der  Einsetzung 
eines  Generalgouverneurs  der  vereinigten  armenischen  Provinzen  sich 
damit  einverstanden,  daß  diesem  das  Recht  der  Ernennung  und  Ab- 
setzung der  Beamten  gegeben  werde.  Schönberg  widersprach  dem 
Ernennungsrecht,  durch  welches  Souveränität  des  Sultans  geschmälert 
würde. 

Für  Verwaltungsrat  erhofft  Russe  gleiche  Zahl  der  wählbaren 
Mitglieder  für  Christen  und  Mohammedaner.  Schönberg  befürwortet 
Proportionalität.  Desgleichen  für  Provinzialversammlung.  Österreicher 
nahm  das  russische  Prinzip  an  und  bekämpft  nur  technische  Einzel- 
heiten.   Italiener  trat  Österreicher  bei. 

Haltung  österreichischen  Vertreters  beruht,  wie  nachträglich  fest- 
gestellt, auf  Instruktion  des  Markgrafen  Pallavicini,  der  russischen  Ent- 
wurf nach  Ablehnung  des  Hauptpunktes  als  gefallen  ansieht  und  in 
Nebenfragen  Entgegenkommen  zeigen  möchte.  Diese  Taktik  scheint 
bedenklich,  da  Österreich  später  jetzige  Erklärungen  entgegengehalten 
werden  können,  und  da  Anschein  von  Meinungsverschiedenheiten 
zwischen  Dreibundvertretern  vermieden  werden  sollte.    Ich  werde  da- 


•  Siehe  Nr.   15  355. 

103 


her  bei   österreichischem  und  italienischem   Kollegen   eingehende  Ver- 
ständigung unserer  drei  Delegierten  vor  jeder  Sitzung  anregen*. 

Wangenheim 

Nr.  15  359 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales** 

Konzept    von    der    Hand    des    Vortragenden    Rats    Grafen    Botho    von    Wedel 

Nr.  923  Berlin,  den  14.  Juli  1913 

[abgegangen  am  18.  Juli] 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  im  Anschluß  an  den  Erlaß 
vom  9.  d.  Mts.  —  Nr.  895***  —  zur  Regelung  Ihrer  Sprache  nach- 
stehende Gesichtspunkte  hinsichtlich  unserer  Auffassung  über  die  arme- 
nische Reformfrage  mitzuteilen. 

Die  russische  Initiative  betreffend  die  armenischen  Reformen  haben 
wir  schon  deshalb  freudig  begrüßt,  weil  auch  wir  selbst  von  der  Not- 
wendigkeit überzeugt  waren,  daß  zur  Erzielung  geordneter  Verhält- 
nisse in  dem  seit  Jahrzehnten  von  Unruhen  heimgesuchten  Gebiete 
etwas  geschehen  mußte.  Diese  Initiative  hat  auch  bereits  das  glück- 
liche Ergebnis  gehabt,  der  Türkei  die  Notwendigkeit  von  Reformen 
vor  Augen  zu  rücken  und  sie  zur  Ausarbeitung  eines  eigenen  Reform- 
projektes zu  veranlassen. 

Das  russische  (Mandelstamsche)  Reformprojekt  gibt  uns  indessen 
zu  den  ernstesten  Bedenken  Anlaß. 

Die  Zusammenfassung  der  sechs  türkischen  Wilajets  zu  einem 
einheitlichen  Armenien,  welches  überdies  nicht  einmal  alle  Armenier 
einschließen  würde,  wäre  der  erste  Schritt  zur  ethnologisch-geogra- 
phischen Aufteilung  der  Türkei,  denn  es  würde  kaum  ausbleiben,  daß 


•  Das  obige  Telegramm  wurde  mittels  Erlaß  Nr.  1060  bzw.  961  nach  Wien 
und  Rom  mitgeteilt.  Daran  schloß  sich  die  Bemerkung:  „Derartigen  Meinungs- 
verschiedenheiten zwischen  den  Dreibundvertretern  in  der  Armenierkommission 
muß  unter  allen  Umständen  für  die  Zukunft  vorgebeugt  werden.  Ich  habe  mich 
daher  mit  der  Schlußanregung  des  Kaiserlichen  Botschafters  telegraphisch  ein- 
verstanden erklärt.  —  Euere  Exzellenz  bitte  ich,  sich  dort  in  gleichem  Sinne 
auszusprechen  und  auf  entsprechende  Instruktionen  nach  Konstantinopel  hin- 
zuwirken." 

**  Der  gleiche  Erlaß  ging  mutatis  mutandis  an  die  Botschafter  in  London 
(Nr.  1308),  Paris  (Nr.  1233),  Wien  (Nr.  1067)  und  Rom  (Nr.  968). 
***  Durch  Erlaß  Nr.  895  vom  9.  Juli  war  dem  Grafen  Pourtales  der  große  Be- 
richt Freiherrn  von  Wangenheims  vom  3.  Juli  über  das  Mandelstamsche  und  das 
türkische  Reformprojekt  (siehe  Nr.  15  347)  mit  dem  Bemerken  mitgeteilt 
worden,  daß  das  Auswärtige  Amt  mit  den  von  Freiherrn  von  Wangenheim 
angedeuteten    Richtlinien   einverstanden    sei. 

104 


auch  die  übrigen  Volksteile  Kleinasiens,  Syriens,  Arabiens  dieselben 
Vorteile  einer  eigenen  zentralen  Verwaltung  für  sich  anstreben  würden, 
was  ja  auch  den  Absichten  Herrn  Sasonows  zuwiderläuft.  Aus  dieser 
Erwägung  heraus  und  unter  dem  Gesichtspunkte,  daß  man  schließ- 
lich die  Selbstbestimmung  in  Verwaltungsangelegenheiten  der  Regie- 
rung eines  Landes  selbst  überlassen  soll,  erscheint  zunächst  eine  Prü- 
fung des  türkischen  Reformprojektes  und  seine  tunlichste  Be- 
rücksichtigung und  Anwendung  empfehlenswert.  Wir  sind  der  An- 
sicht, daß  man  erst  beim  Fehlschlagen  der  türkischen  Aktion  auf 
Abänderungen  bezw.  auf  der  Einführung  von  Reformen  nach  einem 
von  den  Mächten  auszuarbeitenden  Projekte  bestehen  sollte.  Gegen- 
wärtig würden  wir  der  Türkei  nur  die  Ergänzung  ihres  eigenen  Pro- 
jektes gemäß  dem  türkischen  Dekrete  von  1895  empfehlen  können. 
Diese  Ergänzung  würde  sich  unseres  Erachtens  vor  allem  auf  Schaf- 
fung einer  zur  Hälfte  aus  Türken,  zur  Hälfte  aus  Delegierten  der 
Großmächte  bestehenden  und  unter  türkischem  Vorsitz  tagenden  Kon- 
trollkommission zu  richten  haben.  Eine  solche  Kontrollkommission, 
bei  welcher  armenische  Beschwerden  und  Wünsche  zu  prüfen  und 
Informationen  sowie  Instruktionen  für  die  Verwaltungsorgane  auszu- 
arbeiten wären,  würde  gleichzeitig  der  Türkei  die  erwünschte  Unter- 
stützung gewähren  und  den  Mächten  Gelegenheit  bieten,  sich  von 
der  Art  der  Durchführung  der  geplanten  Reformen  dauernd  zu  über- 
zeugen. Ein  derartig  erweitertes  türkisches  Reformprojekt,  welches 
wenn  möglich  noch  durch  Einführung  der  im  türkischen  Dekret  von 
1895  bereits  vorgesehenen  christlichen  Gehilfen  für  die  oberen  Ver- 
waltungsorgane zu  ergänzen  wäre,  scheint  uns  in  jeder  Weise  vor  dem 
russischen   Mandelstamschen    Projekte   den   Vorzug   zu   verdienen. 

Ich  habe  in  obigem  Sinne  bereits  mit  dem  Botschafter  Sver- 
wejew  vor  seiner  Abreise  nach  Petersburg  gesprochen  und  ihn  ge- 
beten, meine  Bedenken  gegen  das  russische  Projekt  Herrn  Sasonow 
mitzuteilen*.  Dabei  habe  ich  betont,  daß  ich  von  der  ehrlichen  Ab- 
sicht Herrn  Sasonows,  die  Integrität  der  Türkei  zu  erhalten,  fest 
überzeugt  sei**,  es  mir  aber  zweifelhaft  erschiene,  ob  das  russische 
Projekt    das    geeignete    Mittel    hierzu    darstelle. 

Jagow 


*  Bei  dieser  Gelegenheit  war  der  deutsche  Standpunkt  bezüglich  des  Man- 
delstamschen Projekts  auch  schriftlich  durch  ein  Aide-memoire  zum  Ausdruck 
gebracht  worden.  Siehe  dasselbe  in  dem  Russischen  Orangebuch:  Les  Reformes 
en  Armenie,  p.  75  s. 

**  Ob  wirklich  auf  Seiten  der  russischen  Staatsmänner  die  ehrliche  Absicht 
bestand,  die  Integrität  der  Türkei  zu  erhalten,  wird  doch  zweifelhaft,  wenn  man 
das  Geheimtelegramm  Nr.  543  des  russischen  Botschafters  in  Konstantinopel 
Giers  vom  11.  Juli  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914, 
ed.   Fr.    Stieve,    III,    201  f.)    liest:    „Ich   bin   mit    Benckendorff   völlig   gleicher 

105 


Nr.  15  360 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  italienischen  Botschafter  in  Berlin  Bollati 

Eigenhändiges  Konzept 

Tres  confidentielle  Berlin,  le  16  juillet  1913 

Sur  votre  desir  je  viens  vous  repeter  ce  que  j'ai  dit  ä  Monsieur 
le  Marquis  di  San  Giuliano  l'autre  jour  ä  Kiel  par  rapport  ä  nos 
interets  en  Asie  Mineure. 

Les  constructions  des  chemins  de  fer  d'Anatolie  et  de  Bagdad 
et  les  differents  travaux  qui  s'y  rattachent  (mines,  irrigations,  con- 
structions de  ports  etc.),  poursuivis  depuis  des  annees  par  le  capital 
allemand,  representent  un  ensemble  de  concessions  et  d'interets  qui 
s'etendent  sur  une  certaine  partie  de  la  Turquie  asiatique  et  y  forment 
une  zone  de  travail  allemande.  Cette  zone  de  travail  va  aussi  jusqu'ä 
la  cote  meridionale  de  l'Asie  Mineure  oü  se  trouvent  precisement 
plusieurs  entreprises  des  plus  importantes.  Vers  l'Est  cette  zone  s'etend 
ä  peu  pres  jusqu'ä  Akra  ou  meme  jusqu'ä  Ladikije,  tandis  que  ä 
l'Ouest  eile  va  jusqu'ä  Alaja.  De  lä  sa  limite  monte  vers  le  Nord-Ouest 
et  suit  la  ligne  du  Taurus  en  comprenant  le  lac  de  Kirili  (Lacus 
Carolis)  qui  doit  fournir  l'eau  pour  l'irrigation  de  la  planie  de  Konia. 
Plus  loin,  ä  l'Est  et  au  Nord,  la  limite  ne  saurait  etre  tracee  avec  pre- 
cision,  des  interets  francais  et  russes  pas  encore  fixes  se  trouvant  en 
cause. 

En  appuyant  une  fois  de  plus  sur  le  caractere  strictement 
confidentiel  de  cette  communication,  je  vous  prie,  mon  eher 
Ambassadeur,  de  me  croire  votre  sincerement  devoue 

Jagow 


Meinung,  daß  jetzt  unser  Verhältnis  zu  den  kleinasiatischen  Fragen  mit 
England  und  Frankreich  geklärt  werden  muß.  Die  Aufrechterhaltung  der 
Integrität  der  Türkei  in  Asien  liegt  in  unserer  Hand,  und  wenn  der  gänz- 
liche Zerfall  des  ottomanischen  Reiches  auch  noch  ferne  ist,  so  kann  er 
doch  schnell  eintreten,  und  dafür  sind  wir  nicht  vorbereitet.  Zwar  gehen 
die  armenischen  Reformen  nicht  darauf  aus,  den  Verfall  zu  verhindern, 
aber  sie  sind  praktisch  nicht  durchführbar,  wenn  sie  nicht  die  Be- 
teiligung Europas  durch  die  Ernennung  eines  Generalgouverneurs  und  seine 
Kontrolle  über  die  Durchführung  der  Reformen  gewährleisten."  Es  zeigt  sich 
hier  der  grundlegende  Unterschied  in  der  deutschen  und  in  der  russischen 
Haltung  in  der  armenischen  Frage:  Deutschland  sah  in  den  armenischen  Re- 
formen ein  Mittel,  die  Integrität  der  Türkei  zu  erhalten,  Rußland  ein  Mittel, 
den  Stein  ins  Rollen  zu  bringen,  um  den  Zerfall  des  türkischen  Reiches,  wenn 
nicht  herbeizuführen,  so  doch  zu  russischen  Zwecken  auszunützen. 

106 


Nr.  15  361 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Privatbrief.    Ausfertigung 

Therapia,  den  15.  Juli  1913 
[pr.  17.  Juli] 

Ihre  freundlichen  Zeilen  vom  8.  d.  Mts.*  erhöhen  mein  Bedauern, 
nicht  zu  einer  Rücksprache  nach  Berlin  haben  kommen  zu  dürfen.  Es 
ist  kaum  möglich,  während  eines  längeren  Zeitraums  die  verwickelten 
hiesigen  Verhältnisse  schriftlich  oder  telegraphisch  in  einer  Weise  zu 
behandeln,  die  jede  Unklarheit  und  jedes  Mißverständnis  ausschließt. 
Vieles,  was  hier  natürlich  und  selbstverständlich  ist,  erscheint  am 
anderen  Ende  des  Kabels  oder  der  Postverbindung  seltsam  und  un- 
erklärlich. Leider  werden  ja  immer  noch  Wochen,  wenn  nicht  Monate 
vergehen,  bevor  ich  an  einen  Urlaub  denken  kann. 

Quoad  Armenien  waren  wir  Dreibundkollegen  der  Meinung  ge- 
wesen, daß  diejenigen  Mächte,  welche  das  russische  Projekt  annähmen, 
damit  gleichzeitig  ihren  Entschluß,  das  Ende  der  Türkei  herbeizuführen, 
bekunden  würden,  und  daß,  wenn  England  dem  Projekte  zustimmte, 
jeder  Versuch  der  übrigen  Mächte,  den  Zusammenbruch  aufzuhalten, 
vergeblich  sein  würde.  Nachdem  England  die  zwei  Oeneralinspekteure 
für  den  Osten  und  Norden  zugesagt  hatte,  hegten  wir  die  Hoffnung, 
daß  die  englische  Botschaft  das  Projekt  Mandelstam  um  so  lebhafter 
bekämpfen  würde,  je  größere  Zurückhaltung  wir  selbst  üben  würden. 
Diese  Voraussicht  hat  sich  nicht  erfüllt.  Wie  ich  jetzt  weiß,  hatte  Sir 
G.  Lowther  seiner  Regierung  schon  vor  Beginn  der  Beratungen  tele- 
graphiert, daß  die  Dreibundmächte  Bedenken  gegen  den  russischen 
Antrag  äußern  würden.  Fitzmaurice  dürfte  danach  in  die  Verhand- 
lungen mit  der  Instruktion  eingetreten  sein,  in  allen  von  uns  be- 
kämpften Punkten  für  Rußland  zu  stimmen  und  damit  die  Verant- 
wortung für  das  Scheitern  des  Projekts  auf  den  Dreibund  abzuwälzen. 
Vielleicht  wäre  es  taktisch  richtiger  gewesen,  England,  Frankreich  und 
Rußland,  welche  schon  1895  ohne  uns  den  Reformplan  ausgearbeitet 
hatten,  zunächst  ä  trois  ein  neues  Projekt  aufstellen  zu  lassen  unter 
Vorbehalt  unserer  späteren  Stellungnahme  dazu.  Dann  hätte  England 
wahrscheinlich  Farbe  bekennen  müssen.  Wie  die  Dinge  sich  entwickelt 
haben,  konnte  von  einem  Vorschieben  Englands  durch  den  Dreibund 
keine  Rede  sein.  Da  wir  an  den  Verhandlungen  teilnahmen,  konnten 
wir  nicht  schweigen,  sondern  mußten  unsere  abweichenden  Ansichten 
äußern,  wodurch  England  entlastet  wurde.  Ob  England  nach  dem  Falle 
des  Projekts  Mandelstam  aus  seinem  Fuchsbau  herauskommen  wird? 


Nicht  bei  den  Akten.  Vgl.  Nr.   15  333. 

107 


Wenn  es  sich  dann  wenigstens  auf  den  Standpunkt  stellen  wollte,  daß 
bei  der  Unmöglichkeit,  den  russischen  Reformplan  durchzusetzen,  das 
nächst  schlechtere  Projekt  zur  Sanierung  Armeniens,  das  heißt  das 
türkische  Programm  durchgeführt  werden  müsse.  Daß  Sir  E.  Grey  an 
so  etwas  denkt,  ist  vielleicht  aus  seinem  Entgegenkommen  in  der  Frage 
der  Generalinspekteure  zu  entnehmen,  die  ja  durch  das  Projekt  Mandel- 
stam  in  Wegfall  kommen  würden.  Auf  diesem  Wege  könnten  wir 
England  freudig  folgen  und  selbst  weites  Entgegenkommen  in  betreff 
der  Kontrolle  beweisen.  Vorläufig  sehe  ich  allerdings  noch  nicht,  wie 
England  sich  dann  mit  Rußland  auseinandersetzen  würde.  Unter  Ruß- 
land verstehe  ich  nicht  Herrn  Sasonow,  der  mir  ein  verständiger  und 
extremen  Wendungen  abgeneigter  Mann  zu  sein  scheint.  Rußland  im 
Sinne  der  Orientfrage  ist  die  hiesige  russische  Botschaft.  Diese  be- 
trachtet sich  von  jeher  als  ein  Institut  zur  Verwirklichung  des  letzten 
Willens  Peters  des  Großen  und  arbeitet  als  solches  fast  ganz  unabhängig 
von  St.  Petersburg.  Die  Traditionen  sind  auf  der  russischen  Botschaft 
immer  stärker  gewesen  als  die  Einflüsse  des  jeweilig  leitenden  Bot- 
schafters. Die  Traditionen  verkörpern  sich  in  der  großen  Anzahl  der 
seit  vielen  Jahren  hier  tätigen  Botschaftsbeamten  und  in  den  weltlichen 
und  kirchlichen  Organen,  die  von  der  Botschaft  hier  und  in  der  übrigen 
Türkei  ressortieren.  So  vollzieht  sich  das  hiesige  amtliche  Treiben 
Rußlands  in  einer  Atmosphäre  von  religiösem  und  politischem  Fana- 
tismus, über  welchem  eine  Wolke  von  Mystizismus  und  gelegentlich 
auch  von  Alkohol  schwebt.  Es  hat  noch  keinen  russischen  Botschafter 
—  Sinoview  vielleicht  ausgenommen  —  gegeben,  der  in  diesem  Milieu 
nicht  bald  selbst  zu  einem  Fanatiker  geworden  wäre.  Jeder  Botschafter 
fühlt  sich  nach  einiger  Zeit  als  Testamentsvollstrecker  und  betrachtet 
seine  Mission  als  ein  heiliges  Kommissorium,  in  welches  er  sich  nicht 
hineinreden  läßt.  Er  macht  also  eigene  Politik,  deren  Endzweck 
selbstverständlich  nur  der  Sturz  der  türkischen  Herrschaft  sein  kann. 
Auch  Herr  von  Giers  hat  diese  Wandlung  durchgemacht.  In  Bukarest 
soll  er  noch  ganz  vernünftig  gewesen  sein.  Jetzt  geriert  er  sich  als 
Apostel  und  wirkt  auf  Nichtrussen  ebenso  komisch  wie  die  Peters- 
burger Lebemänner,  die  während  der  Osternacht  in  der  Isaakkirche 
verzückte  Grimassen  schneiden.  Trotzdem  ist  er  in  seinem  Wirken 
äußerst  ernst  zu  nehmen.  Kurz  nach  der  Zeichnung  des  Londoner 
Präliminarfriedens  hat  er  Markgraf  Pallavicini  halb  ernst  halb  scherzend 
gesagt,  daß  nunmehr  für  Rußland  der  Weg  nach  Konstantinopel  ge- 
öffnet sei.  Das  Projekt  Mandelstam  ist  das  Produkt  dieser  Über- 
zeugung. Nach  dem  Bilde,  welches  mir  von  Herrn  Sasonow  entworfen 
worden  ist,  bezweifle  ich,  daß  er  sich  von  der  Tragweite  der  Giersschen 
Pläne  Rechenschaft  ablegt.  Ist  er  aber  wie  die  meisten  russischen 
Staatsmänner  empfindlich,  so  wird  er  die  Ablehnung  des  Projekts 
Mandelstam  persönlich  übelnehmen  und  sich  vielleicht  mit  demselben 
identifizieren.    Dann   würde  Giers  Oberwasser  bekommen   und   wahr- 

108 


scheinlich  Massakers  provozieren.  Alles  kommt  daher  darauf  an,  daß 
Sasonow  uns  rechtzeitig  die  Hand  zu  einem  Ausgleich  —  türkischer 
Reformplan  und  weitgehende  europäische  Kontrolle  —  bietet*. 

Schönberg  hat  nicht  die  Ausdehnung  der  Reformen  auf  Cilicien 
beantragt.  Unter  den  Delegierten  der  Dreibundmächte  war  verab- 
redet worden,  Herrn  Mandelstam  recht  gründlich  ins  Verhör  zu  nehmen 
und  ihn  auch  zu  fragen,  welche  Gründe  ihn  bewogen  hätten,  gewisse 
von  Armeniern  bewohnte  Gebiete,  darunter  auch  solche,  welche  zu 
den  sechs  Wilajets  gehören,  von  den  Reformen  auszuschließen.  Tat- 
sächlich hat  sich  Mandelstam  eine  armenische  Zone  für  spezifisch 
russische  Zwecke  zurechtgeschnitten.  Nur  Frankreich  ist  noch  durch 
Einbegreifen  von  Charput-Diarbekr  mit  Bezug  auf  seine  Eisenbahn- 
pläne bedacht.  Da  wir  die  Einheitsprovinz  schon  vorher  bekämpft 
hatten,  so  konnte  in  der  Konferenz  niemand  auf  den  Gedanken  kommen, 
daß  wir  ein  Großarmenien  annehmen  würden,  wenn  Cilicien  dazu 
käme.  Außerdem  ist  vor  Beginn  der  Verhandlungen  ausdrücklich 
festgestellt  worden,  daß  die  Dragomans  nur  unverbindliche  Unter- 
haltungen zur  gegenseitigen  Aufklärung  führen  sollten.  Falls  es  zur 
Durchführung  der  türkischen  Zonenpolitik  kommt,  so  würde  unsere 
Interessensphäre  auf  vier  Zonen  verteilt  werden.  Ohne  fremde  In- 
strukteure können  diese  Zonen  nicht  bleiben.  Ich  werde  später  be- 
müht sein  zu  erreichen,  daß  unserer  öffentlichen  Meinung  durch  Be- 
rufung einiger  Deutschen  Rechnung  getragen  wird.  Eventuell  können 
wir  nach  Adana  einen  deutschen  Offizier  als  Kommandanten  der 
dortigen  Truppen  schicken.  Bleibt  die  jetzige  Regierung,  so  wird 
kaum  etwas  ohne  uns  oder  gegen  uns  geschehen. 

Es  wäre  nützlich,  wenn  General  Liman  möglichst  bald,  zunächst 
inkognito  auf  Urlaub,  hierher  käme**,  damit  er  bei  der  Aufstellung  der 
Reformpläne  und  seines  Kontrakts  mitwirken  und  sich  außerdem  orien- 
tieren könnte. 

Wangen  heim 


*  Auf  den  obigen  Brief  Freiherrn  von  Wangenheims  antwortete  Staatssekretär 
von  Jagow  in  einem  vom  28.  Juli  datierten  Privatbriefe,  in  dem  es  in  bezug 
auf  das  Mandelstamsche  Projekt  hieß:  „Was  das  Mandelstamsche  Projekt  be- 
trifft, so  hoffe  ich,  daß  es  schließlich  doch  zu  einer  Einigung  darüber  zwischen 
den  Mächten  kommen  wird.  Jedenfalls  muß  es  unser  Bestreben  sein,  mit  allen 
Mitteln  auf  einen  Ausgleich  hinzuarbeiten.  Denn,  kommt  das  Mandelstamsche 
Projekt  durch  den  Widerstand  zu  Fall,  den  w  i  r  und  unsere  Bundesgenossen 
demselben  entgegensetzen,  so  ist  mit  Bestimmtheit  zu  erwarten,  daß  Rußland 
und  die  ihm  affiliierten  Mächte  bemüht  sein  werden,  ihrerseits  eine  von  uns 
ausgehende  Aktion  zu  Fall  zu  bringen.  In  unserem  Interesse  liegt  es  daher, 
eine  schroffe  Stellungnahme  gegen  die  russischen  Vorschläge  zu  vermeiden  und 
nur  den  Versuch  zu  machen,  im  Kompromißwege  den  allerbedenklichsten  Punkten 
die  Spitze  abzubrechen." 
**  Vgl.  dazu  Kap.  CCXC. 

109 


Nr.  15  362 

Der  Botschaf  ter  in  Konstantinopel  F reiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  222  Therapia,  den  18.  Juli  1913 

Wiederholt  habe  ich  bereits  auf  die  Gefahr  des  russischen  Reform- 
projekts hingewiesen,  als  es  bei  ausschließlicher  Bevorzugung  der 
sechs  Wilajets  leicht  sowohl  bei  der  Bevölkerung  anderer  türkischer 
Gebietsteile  separatistische  Tendenzen  auslösen  wie  in  diesen  eine 
Einmischung  anderer  fremder  Mächte  begründen  könne.  Daß  letzteres 
Ziel  speziell  Frankreich  nicht  fernliegt,  scheint  mir  aus  der  Äußerung 
des  Herrn  Pichon  gegenüber  Freiherrn  Von  Schoen  hervorzugehen, 
wenn  er  meint,  daß  das  Reformprojekt  eine  auch  für  die  übrige  Türkei 
maßgebende  Grundlage  bieten  müsse. 

Wangen h  eim 

Nr.  15  363 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.     Eigenhändiges    Konzept 
Nr.  247  Berlin,  den  24.  Juli  1913 

Zu    Euerer   Exzellenz  vertraulicher   Information. 

Nach  Mitteilung  des  hiesigen  englischen  Geschäftsträgers*  hat 
Sir  E.  Grey  in  Petersburg  mitteilen  lassen,  daß  Projekt  der  Mächte  be- 
treffend armenische  Reformen  von  türkischer  Regierung  ohne  Zwangs- 
maßregeln angenommen  werden  sollte,  und  daß   wünschenswert  sei, 


*  Die  am   18.  Juli  überreichte  Mitteilung  des  englischen  Geschäftsträgers  Lord 
Granville  lautete: 

„Sir  Edward   Grey  has   impressed   upon   M.   Sazonoff  that   two  conditions   are 
essential  to  the  success  of  reforms: 

1)  Unanimity  amongst  the  Powers; 

2)  Acceptance  of  their  scheme  by  the  Ottoman  Government  without  coercion. 
Sir  E.  Grey  has  urged  that  both  schemes  of  reform,  namely  that  proposed  by 
Russia  for  the  Armenian  Vilayets  and  the  general  scheme  proposed  by  Turkey, 
should  be  discursed  by  the  Ambassadors.  It  may  be  admitted,  in  Sir  E.  Grey's 
opinion,  that  the  reforms  cannot  be  perfectly  uniform  for  all  provinces  and 
that  the  adoption  of  reforms  in  the  Armenian  provinces  is  the  most  urgent 
consideration. 

Sir  Edward  Grey  hopes,  that  the  necessary  agreement  to  enable  the  discussion 
to  begin  may  be  reached  on  these  lines." 

110 


russisches  und  türkisches  Projekt  zu  prüfen.  Nach  Greys  Ansicht 
sei  zuzugeben,  daß  Reformen  nicht  in  allen  Provinzen  ganz  gleich- 
artig sein   könnten   und  für   Armenien    am    dringendsten   seien. 

Wien  und  Rom  sind  betreffs  Reformen  sachlich  mit  uns  einverstan- 
den, doch  wünschen  beide,  bei  Beratung  des  Projekts  russische  Emp- 
findlichkeit möglichst  zu  schonen.    Dies  erscheint  auch  uns  angezeigt. 

Jagow 

Nr.  15  364 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  404  Konstantinopel,  den  23.  Juli  1913 

[pr.  24.  Juli] 

In  heutiger  Sitzung  der  Armenierkommission  herrschte  Einig- 
keit darüber,  daß  Kontrolle  der  armenischen  Reformen  nicht  durch 
ständige  Kommission,  sondern  auf  diplomatischem  Wege,  wie  in  Be- 
richt 217*  dargelegt,  ausgeübt  werden  müsse.  Damit  war  Diskussion 
des  russischen  Projekts  beendigt. 

Dreibunddelegierte  gaben  alsdann  gemeinsam  Erklärung  ab,  daß 
es  ratsamer  sei,  den  armenischen  Reformen  die  türkischen  Reform- 
gesetze zugrunde  zu  legen,  die  in  mehreren  von  ihnen  fixierten  Punkten 
zu  ergänzen  wären.   Russe  will  hierauf  in  morgiger  Sitzung  antworten. 

Erklärung  der  Dreibunddelegierten  abgeht  mit  nächster  Post  Sonn- 
abend **. 

Wangenh  eim 

Nr.  15  365 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  405  therapia,  den  24.  Juli  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  404***. 

In  heutiger  Sitzung  der  Armenierkommission  erklärten  Dele- 
gierte  der   Tripelentente   als   Antwort   auf   die   gemeldete    Erklärung 


*  Bericht  Freiherrn  von  Wangenheims  Nr.  217  vom   14.  Juli  —  hier  nicht  ab- 
gedruckt —  unterzog  die  administrativen  Bestimmungen  des  Mandelstamschen 
Projekts  einer  sehr  eingehenden  Kritik. 
**  Vgl.  Nr.   15  369. 
***  Siehe  Nr.    15  364. 

111 


der  Dreibunddelegierten,  sie  hätten  an  ihren  während  der  Besprechung 
des  russischen  Projekts  gegebenen  Darlegungen  nichts  zu  ändern. 
Damit  sind  Vorbesprechungen  beendigt. 

Wange  nh  eim 

Nr.  15  366 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  227  St.  Petersburg,  den  24.  Juli  1913 

Die  mir  mitgeteilten  Gesichtspunkte  betreffend  die  armenische 
Reformfrage*  habe  ich  in  meinen  Gesprächen  mit  Herrn  Sasonow  ver- 
wertet und  ihm  die  Bedenken  Euerer  Exzellenz  gegen  das  Mandel- 
stamsche  Reformprojekt  vorgehalten.  Der  Minister  suchte  diese  Be- 
denken dadurch  zu  entkräften,  daß,  wie  er  behauptete,  das  gedachte 
russische  Reformprojekt  keine  wesentlichen  Neuerungen  gegenüber 
denjenigen  Reformen  enthalte,  denen  die  türkische  Regierung  im  Jahre 
1895  im  Prinzip  bereits  zugestimmt  habe.  Es  gehe  dies  aus  einer 
Note  hervor,  welche  die  Türkei  damals  an  die  Botschafter  gerichtet 
habe. 

Gestern  berührte  Herr  Sasonow  mir  gegenüber  von  neuem  die 
Frage  der  armenischen  Reformen  und  erzählte  mir,  daß  vor  kurzem 
wieder  einflußreiche  Armenier,  darunter  auch  ein  Dumaabgeordneter, 
bei  ihm  gewesen  seien,  um  ihm  die  Unhaltbarkeit  der  Zustände  in 
den  armenischen  Wilajets  zu  schildern  und  ihm  mitzuteilen,  daß  man 
dort  nur  auf  einen  Wink  der  russischen  Regierung  warte,  um  den 
Aufstand  ausbrechen  zu  lassen.  Der  Minister  will  sehr  ernst  geant- 
wortet haben,  die  russische  Regierung  denke  gar  nicht  daran,  einen 
solchen  Wink  zu  erteilen,  er  würde  es  vielmehr  für  ein  Verbrechen 
halten,  die  Armenier  von  hier  aus  zu  hetzen. 

Herr  Sasonow  bemerkte  hierzu,  ich  könne  daraus  ersehen,  in  welch 
schwieriger  Lage  sich  die  russische  Regierung  der  Lage  in  Armenien 
gegenüber  befinde,  und  wie  sie  schließlich  den  Dingen  nur  ihren  Lauf 
zu  lassen  brauche,  falls  sie  nach  einem  Vorwande  suchen  wollte, 
um  in   türkisches  Gebiet  einzurücken. 

Es  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  daß  Herr  Sasonow  diese 
Äußerungen  in  demselben  Gespräch  tat,  in  welchem  er  kurz  vorher  von 
den  Pressionsmitteln  gesprochen  hatte,  die  Rußland  sich  eventuell 
genötigt  sehen  werde  selbständig  anzuwenden,  um  die  Türkei  in  der 
Frage  der  Grenze  in  Thrazien  zum  Nachgeben  zu  veranlassen  **. 

F.  Pourtales 


*  Vgl.   Nr.    15  359. 

••  Vgl.   darüber    Bd.   XXXV,    Kap.    CCLXXIV,    Nr.    13  569. 

112 


Nr.  15  367 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow, 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.  249  Berlin,  den  27.  Juli  1913 

Auf  Bericht  Nr.  217  vom  14.  d.  Mts.  * 

Die  Bedenken  Ew.  pp.  gegen  die  russischerseits  vorgeschlagene 
Ausgestaltung  der  Stellung  des  Generalgouverneurs  erscheinen  zu- 
treffend, solange  man  nur  Armenien  im  Auge  hat.  Gebe  aber  zu  be- 
denken, ob  bei  Ausdehnung  des  Reformwerks  auf  ganz  Kleinasien, 
wie  wir  sie  erstreben  müssen,  nicht  auch  in  unserer  Arbeitszone  der 
deutsche  Einfluß  in  einer  mit  starken  Machtbefugnissen  ausgestatteten 
Zentralstelle  wirksamer  zum  Ausdruck  kommen  würde  als  in  einer 
größeren  Zahl  von  untergeordneten  Stellungen.  Die  Institution  der 
Generalinspektoren,  wie  sie  der  türkische  Entwurf  vorsieht,  dürfte 
hierfür  kaum  ausreichenden  Ersatz  bieten**. 

Die  Anwendung  des  Proportionalitätsprinzips  bei  Besetzung  der 
Verwaltungsräte  und  Provinzialversammlungen  erscheint  mir  mangels 
einer  anerkannten  Statistik  und  bei  der  Fluktuation   des  christlichen 


*  Vgl.  Nr.   15  364,  Fußnote*. 

"Ausführlicher  verbreitete  sich  Staatssekretär  von  Jagow  über  diesen  Punkt 
noch  in  seinem  Privatbriefe  an  Freiherrn  von  Wangenheim  vom  28.  Juli  (vgl. 
Nr.  15  361,  S.  109,  Fußnote*).  Es  heißt  da:  „Die  Frage  der  armenischen  Re- 
formen ist  natürlich  sehr  schwer  von  hier  aus  zu  beurteilen.  Was  den  .General- 
inspekteur oder  -gouverneur'  betrifft,  so  ist  die  Errichtung  einer  solchen  Be- 
hörde —  solange  es  sich  nur  um  Armenien  handelt  —  natürlich  von  mehr  wie 
zweifelhaftem  Werte,  da  die  Sonderstellung  Armeniens,  gewissermaßen  seine 
Loslösung  vom  Ganzen,  dadurch  schärfer  akzentuiert  würde.  Will  man  aber 
mit  den  armenischen  Reformen  ein  Schema  auch  für  die  anderen  Teile  der  asia- 
tischen Türkei  finden,  so  frage  ich  mich  doch,  ob  eine  derartige  Institution  für 
die  Zukunft  nicht  auch  in  unserem  Interesse  liegen  kann.  Kommt  es  zur  Liqui- 
dation des  türkischen  Reiches,  sei  es  aus  innerem  Zerfall  oder  infolge  äußeren 
Anstoßes,  so  würde  es  gewiß  wichtig  für  uns  sein,  in  unseren  Interessengebieten 
Organe  zu  finden,  unter  denen  diese  Teile  ohne  die  Konstantinopeler  Zentral- 
gewalt fortbestehen  könnten.  Wir  wären  schwerlich  imstande,  große  Gebiete 
einfach  zu  annektieren  und  sie  mit  preußischen  Landräten  und  anderen  Admini- 
strativorganen zu  überschwemmen.  Die  Franzosen  haben  in  Algier  ein  Haar 
darin  gefunden  und  daher  in  Tunis  den  Bey  und  die  lokale  eingeborene  Admini- 
stration fortbestehen  lassen;  das  ist  praktischer  und  billiger.  Das  Ideal  ist 
jedenfalls  Ägypten  mit  dem  Khedive.  Bilden  sich  nun  in  den  einzelnen  Teilen 
der  Türkei  Behörden  aus,  die  gewissermaßen  als  Vizekönige  oder  Generalgouver- 
neure funktionieren,  so  wäre  die  Etablierung  eines  Protektorates,  unter 
dem  diese  Vizefürsten  weiterbestehen  könnten,  jedenfalls  leichter.  Es  ist  das 
ein  Gedanke,  den  ich  zur  Erwägung  gebe." 

8    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  113 


und  mohammedanischen  Elements  sehr  bedenklich  und  droht  Quelle 
dauernder  Reibungen  zu  werden.  Fester  Schlüssel,  eventuell  im  Ver- 
hältnis 3:2,  für  Mohammedaner  und  Christen,   empfehlenswerter. 

Ausführungen  Ew.  pp.  in  Bericht  Nr.  208*  und  217  **  über  Kontroll- 
kommission widersprechen  sich.  Generell  glaube  ich,  daß  baldiges 
Zustandekommen  eines  Reformprojekts  wünschenswert  ist,  um  Ruß- 
land jeden  Vorwand  zum  Eingreifen  in  Armenien  zu  nehmen. 

Jago  w 

Nr.  15  368 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow* 

Privatbrief.   Ausfertigung 

Therapia,  den  22.  Juli  1913 
[pr.  29.  Juli] 

Zwischen  unserer  türkischen  Politik  und  derjenigen  der  hiesigen 
russischen  Botschaft  gibt  es  keine  Brücke.  Der  Gegensatz  existiert, 
seitdem  wir  angefangen  haben,  uns  eine  „Arbeitszone"  in  Kleinasien 
zu  begründen.  Er  war  schon  unter  Marschall  so  prononciert,  daß  kaum 
ein  gesellschaftlicher  Verkehr  zwischen  den  beiden  Botschaften  mög- 
lich war.  Bei  Übernahme  des  Postens  riet  mir  Marschall,  meine  Be- 
ziehungen zu  Giers  auf  das  äußerst  Notwendige  zu  beschränken.  Ich 
habe  diesen  Rat  nicht  befolgt,  sondern  versucht,  mich  wenigstens 
sozial  Herrn  von  Giers  zu  nähern.  Dieser  wollte  daraus  sofort  eine 
politische  Annäherung  machen  mit  dem  erkennbaren  Zwecke,  mich 
von  Pallavicini  zu  trennen.    Der  'Balkankrieg  hat  dann  einen  Graben 


*  Siehe   Nr.    15  347. 
**  Vgl.  Nr.    15  364,   Fußnote*. 

***  Der  obige  Brief  Freiherrn  von  Wangenheims  war  die  Antwort  auf  einen 
Jagowschen  Brief  vom  14.  Juli,  der  zur  Kenntnis  des  Botschafters  brachte, 
daß  Sasonow  sich  gegenüber  Graf  Pourtales  bitter  über  seine,  Wangenheims, 
„Russophobie"  beklagt  und  gebeten  habe,  diese  Klage  an  den  Staatssekretär 
gelangen  zu  lassen.  Es  hieß  in  dem  Jagowschen  Briefe:  „Sasonow  klagt 
darüber,  daß  Sie  Ihrer  Russophobie  ganz  offen  in  türkischen  und  diploma- 
tischen Kreisen  Ausdruck  gäben.  Wenn  wir  uns  im  Kriegszustande  befänden, 
könnte  ein  deutscher  Botschafter  sich  über  Rußland  kaum  anders  aussprechen. 
Da  die  russisch-deutschen  Beziehungen  jetzt  gute  seien,  besser  als  seit  langen 
Jahren,  so  könne  man  nicht  umhin  eine  derartige  Haltung  befremdlich  zu 
finden.  In  der  armenischen  Frage  behaupteten  Sie  fortgesetzt,  daß  Rußland  nur 
einen  Vorwand  suche,  um  die  armenischen  Wilajets  zu  annektieren,  und  warnten 
die  Türkei  fortgesetzt  vor  den  russischen  Plänen.  Ich  halte  es  für  richtig,  diese 
Äußerungen  Sasonows,  die  Pourtales  mir  in  einem  Privatbrief  mitteilt,  zu  Ihrer 
vertraulichen  Kenntnis  zu  bringen,  da  es  für  Sie  wertvoll  sein  muß  zu  wissen, 
wie  man  Ihre  Haltung  beobachtet  und  beurteilt."  Am  Schlüsse  dieses  Briefes 
sprach  Jagow  seine  eigene  Auffassung  dahin  aus:  „Ich  bin  mit  Pourtales  der 
Ansicht,  daß  Sasonow  selbst  und  die  offizielle  russische  Leitung  bona 

114 


zwischen  Giers  und  mir  gezogen,  der  durch  die  Armenierfrage  noch 
verbreitert  worden  ist.  Giers  schreibt  sich  ein  Verdienst  an  der  Be- 
gründung des  Balkanbundes  zu  und  an  dem  Zusammenbruch  der 
europäischen  Türkei.  Jetzt  benützt  er  die  Armenierfrage,  um  den 
Untergang  auch  der  kleinasiatischen  Türkei  vorzubereiten.  Da  wir 
letztere  erhalten  wollen,  besteht  zwischen  mir  und  der  russischen  Bot- 
schaft ein  Kriegszustand.  Unterstützt  von  Bompard  bemüht  sich  Giers, 
mir  die  Erfüllung  meiner  Aufgaben  zu  erschweren.  Dafür  bekämpfe  ich 
ihn  jetzt  in  der  Armenierfrage.  Die  Türken  wissen,  daß  ich  in  dieser 
Sache  auf  ihrer  Seite  stehe;  daß  sie  dies  bisweilen  dem  Russen  gegen- 
über verwerten,  ist  selbstverständlich  und  unvermeidbar.  Meine  Drei- 
bundkollegen suche  ich  fest  an  der  Strippe  zu  halten.  Die  Italiener 
unterhalten  hier  immer  einen  geheimen  Flirt  mit  den  Russen.  Ich 
bezweifle  nicht,  daß  sie  ihre  Stellung  zum  Projekt  Mandelstam  mit 
dem  Hinweis  auf  den  deutschen  „auch  Italien  verpflichtenden"  Wider- 
stand zu  entschuldigen  versuchen.  Den  direkten  Anlaß  zur  Giersschen 
Beschwerde  scheint  mir  aber  die  Haltung  der  Armenier  selbst  ge- 
geben zu  haben.  In  den  letzten  Wochen  erhielt  ich  wiederholt  Be- 
suche von  Führern  der  armenischen  Bewegung,  die  mich  dazu  be- 
wegen wollten,  für  das  Mandelstamsche  Projekt  zu  stimmen.  Von 
einigen  dieser  Herren  weiß  ich  sicher,  daß  sie  vom  russischen  Bot- 
schafter zu  mir  geschickt  waren.  Ich  habe  die  Abgesandten  nicht 
darüber  im  Zweifel  gelassen,  daß  ich  das  russische  Projekt  als  eine 
Gefahr  für  die  Türkei  und  'deshalb  als  unannehmbar  für  eine  an  dem 
Fortbestande  der  Türkei  interessierte  Macht  ansehe.  Ich  habe  den 
Armeniern  ferner  gesagt,  sie  handelten  töricht,  wenn  sie  sich  für  eine 
wahrscheinlich  unrealisierbare  lex  ferenda  einsetzten,  anstatt  darauf  zu 


fide  sind,  wenn  sie  die  Integrität  der  Türkei  fürs  erste  erhalten  zu  wollen 
erklären."  Ähnlich  äußerte  sich  Jagow  in  einem  Briefe  vom  24.  Juli  an  den 
preußischen  Gesandten  in  Karlsruhe  von  Eisendecher,  der  angefragt  hatte,  ob  ihm 
für  seinen  bevorstehenden  Aufenthalt  bei  den  Cowes-Regatten,  wo  er  mit  dem 
englischen  König  und  englischen  Staatsmännern  zusammentreffe,  irgendwelche 
Winke  gegeben  werden  könnten:  „Ich  halte  es  für  nützlich,  wenn  Euere  Exzellenz 
dem  König  oder  den  englischen  Politikern,  denen  Sie  dort  begegnen  mögen,  es 
aussprechen,  mit  welcher  Befriedigung  wir  das  vertrauensvolle  Zusammen- 
arbeiten mit  der  englischen  Regierung  in  allen  den  äußeren  Orient  bezüglichen 
Fragen  empfinden.  Als  allgemeine  Richtlinien  unserer  Politik  könnten  Sie  dabei 
auf  die  Notwendigkeit  der  Erhaltung  der  asiatischen  Türkei  in  ihrem  jetzigen 
Bestände  hinweisen,  ein  Ziel,  das  auch  Sir  E.  Grey  wiederholt  und  bestimmt 
als  die  Grundlage  der  englischen  Politik  bezeichnet  hat.  Daß  dem  amtlichen 
Rußland  zurzeit  der  Gedanke  fernliegt,  etwa  durch  vorzeitiges  Aufrollen  der 
armenischen  Frage  auch  die  Integrität  des  der  Türkei  in  Asien  verbleibenden 
Besitzstandes  in  Frage  zu  stellen,  davon  sind  wir  überzeugt.  Es  ist  aber  genug- 
sam bekannt,  wie  leicht  inoffizielle,  chauvinistische  Strömungen  in  Rußland  die 
Oberhand  gewinnen  und  dann  die  amtlichen  Kreise  mit  fortreißen.  Für  diesen 
Fall  auf  England  zählen  zu  können  und  sicher  sein  zu  dürfen,  daß  es  in  einer 
solchen  Eventualität  mäßigend  auf  den  Ententefreund  wirken  würde,  würde  uns 
von  großem  Werte  sein." 

8*  115 


dringen,  daß  die  lex  lata,  das  heißt  die  türkischen  Reformen  unter  der 
Kontrolle  der  Mächte,  so  rasch  wie  möglich  verwirklicht  würde.  Ein 
Sperling  in  der  Hand  sei  besser  als  eine  Taube  auf  dem  Dache.  Genau 
ebenso  sind  die  Armenier  von  Pallavicini  beschieden  worden.  Die  Folge 
ist,  daß  jetzt  im  Lager  der  Armenier  Zweifel  entstanden  sind,  ob  man 
durch  Rußland  in  der  Sache  richtig  geführt  werde.  Alles  dies  ist 
Herrn  von  Giers  bekannt  geworden.  Er  sieht  seine  Politik  bedroht. 
Anstatt  sich  aber  zu  nähern,  beschwert  er  sich  bei  seinem  großen 
Bruder  darüber,  daß  er  Schläge  bekommen  hat.  Ich  hätte  im  ver- 
gangenen Jahre  wiederholt  Gelegenheit  gehabt,  die  Haltung  meines 
russischen  Kollegen  zu  beanstanden.  Zum  Romanowfest*  waren  nur 
der  englische  und  der  französische  Botschafter,  nicht  aber  der  Ver- 
treter des  verwandten  deutschen  Kaiserhauses  eingeladen.  Beim  Re- 
gierungsjubiläum **  haben  alle  Botschafter  mir  gratuliert  mit  Aus- 
nahme des  französischen  und  des  russischen.  Es  widerspricht  meinem 
Naturell,  mich  über  derartige  Dinge  zu  beschweren.  Aber  Herrn 
Sasonow  könnte  vielleicht  mit  Bezug  auf  Herrn  von  Giers  doch  ge- 
sagt werden,  daß,  wer  im  Glashaus  sitzt,  nicht  mit  Steinen  zu  werfen 
braucht.  Im  übrigen  bin  ich  durchaus  kein  prinzipieller  Russophobe. 
Daß  wir  gute  Beziehungen  zu  Rußland  und  namentlich  die  dynastischen 
Beziehungen  pflegen,  halte  ich  für  durchaus  nützlich,  wie  ich  es  für 
wenig  erwünscht  ansehe,  daß  bei  uns  der  germanisch-slawische  Gegen- 
satz publizistisch  breitgetreten  wird.  Allerdings  bin  ich  kein  Anhänger 
einer  intimeren  Bindung  an  Rußland,  weil  dort  der  bündnisfähige 
Faktor  fehlt,  solange  die  Geschicke  Rußlands  weniger  durch  den 
Zaren  und  die  Regierung  als  durch  unberechenbare  Volksströmungen 
bestimmt  werden.  Hier  in  der  Türkei  aber  ist  es  ausgeschlossen,  sich 
mit  Rußland  über  andere  als  nebensächliche  Fragen  dauernd  zu  ver- 
ständigen. Denn,  wie  ich  Ihnen  schon  einmal  schrieb,  liegt  die  Leitung 
der  russischen  Orientpolitik  in  den  Händen  hiesiger  Fanatiker,  zwischen 
deren  Zielen  und  den  unsrigen  sich  eine  Diagonale  nicht  finden  läßt. 
Solang  ich  hier  mit  Giers  um  das  Schicksal  der  Türkei  mich  raufen 
muß,  werde  ich  meinem  Kollegen  immer  ein  Dorn  im  Auge  sein.  Nach 
dem  Kriege,  und  wenn  die  Armeniersache  gesettelt  ist,  werden  die 
Gegensätze  wieder  unter  der  Oberfläche  verschwinden.  Vorläufig  bitte 
ich  um  eine  kleine  Kriegszulage  an  Vertrauen  und  Geduld. 

Quoad  Armenier,  werden  wir  demnächst  vor  die  Frage  gestellt 
werden,  was  geschehen  soll,  wenn  'das  Projekt  Mandelstam  fällt,  und 
falls  Rußland  dann  boudiert.  Pallavicini  und  ich  sind  der  Meinung 
(Garroni  ***  wird  uns  ohne  weiteres  folgen),  daß  dann  unsererseits  etwas 


*  Am    5.    März    1913    war   das    300jährige    Regierungsjubiläum    der    Romanows 

feierlich  begangen  worden. 

•*  Gemeint  ist  das  fünfundzwanzigjährige  Regierungsjubiläum  Kaiser  Wilhelms  II. 

(15.  Juni  1913). 

***  Marquis  Garroni,  italienischer  Botschafter  in   Konstantinopel. 

116 


geschehen  muß,  damit  keine  Massakers  stattfinden,  und  damit  wir  nicht 
die  Verantwortung  für  das  Scheitern  der  Reformen  den  Armeniern 
gegenüber  zu  tragen  haben.  Halten  Sie  es  für  opportun,  daß  dann  der 
Dreibund  die  Sache  in  die  Hand  nimmt  und  dafür  eintritt,  daß  die 
Pforte  zur  Durchführung  der  Reformen  angehalten  wird,  und  daß  der 
Türkei  die  unerläßliche  Unterstützung  durch  fremde  Instrukteure  ge- 
währt wird?  England  könnte  sich  der  Anregung  wohl  anschließen, 
nachdem  es  bisher  so  bundestreu  für  Mandelstam  eingetreten  ist.  Die 
Aussicht,  daß  der  Dreibund  die  Reformer  stellen  könnte,  würde  die 
Entente  vielleicht  dazu  bringen,  sich  auf  den  Boden  des  türkischen 
Projekts  zu  stellen. 

Wangenheim 

Nr.  15  369 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  228  Therapia,  den  24.  Juli  1913 

[pr.  29.  Juli] 

Im  Anschluß  an  meine  anderweitige  Meldung*  beehre  ich  mich 
Euerer  Exzellenz  in  der  Anlage  Abschrift  der  Erklärung**  vorzulegen, 
welche  die  Delegierten  der  Dreibundbotschaften  in  der  Sitzung  vom 
23.  d.  Mts.  betreffend  die  armenischen  Reformprojekte  abgegeben 
haben. 

Wangenheim 

Anlage 

Maintenant  notre  point  de  vue  qu'il  serait  plus  opportun  de  baser 
les  reformes  ä  introduire  dans  les  Vilayets  habites  par  les  Armeniens 
sur  les  lois  ottomanes  existantes  ainsi  que  sur  les  Instructions  pour  les 
Inspecteurs  Generaux  et  la  Circulaire  de  la  Sublime  Porte  aux  Am- 
bassadeurs ottomans  communiquees  aux  Ambassades  par  la  Note  du 
1er  juillet  ct.  nous  estimons  qu'il  serait  necessaire  de  demander  au 
Gouvernement  Imperial  de  completer  les  lois  et  reglements  en  vigueur 
par  certaines  dispositions  supplementaires. 

Nous  sommes  d'avis  qu'il  faudrait  demander  ä  la  Sublime  Porte: 

I.  d'acquiescer  ä  l'etablissement  d'un   contröle  europeen  pour  la 

stricte  et  juste  application  des  lois  et  reglements  existants  et  ä  introduire 

sur  la  proposition  des  Inspecteurs  Generaux.  Le  contröle  aura  de  meme 

*  Siehe   Nr.    15  364. 
**  Siehe  Anlage. 

117 


pour  but  de  veiller  ä  *ce  que  suite  soit  donnee  aux  propositions  des 
Inspecteurs  Generaux.  Quant  ä  la  forme  du  controle,  nous  nous 
referons  ä  ce  que  nous  avons  eu  l'occasion  d'exposer  lor9  de  la  dis- 
cussion  de  l'article  XXII  de  l'avant-projet  russe*. 

II.  a)  d'admettre  les  conseillers  techniques  assistants  des  chefs 
des  departements  du  Vilayet  au  sein  du  Conseil  administratif  du 
Vilayet. 

b)  d'assurer,  dans  les  Vilayets  oü  les  non-musulmans  sont  en 
nombre,  ä  ceux-ci  une  representation,  parmi  les  membres  electifs  du 
Consei!  administratif,  correspondant  ä  leur  proportion  dans  la  popu- 
lation  du  Vilayet. 

III.  a)  d'assurer,  dans  tous  les  Vilayets  oü  les  non-musulmans  se 
trouvent  en  nombre,  ä  ces  derniers  dans  les  Conseils  Generaux  la 
representation  ä  laquelle  ils  peuvent  pretendre. 

Quant  ä  la  repartition  des  sieges  entre  les  differentes  populations, 
nous  nous  reportons  aux  declarations  faites  lors  de  la  discussion  de 
l'article  V  de  l'avant-projet  russe. 

b)  d'obliger  les  Valis  de  convoquer  le  Conseil  General  en  Session 
extraordinaire  ä  la  demande  de  deux  tiers  des  membres. 

c)  de  fixer  la  competence  legislative  et  budgetaire  du  Conseil 
General  conformement  aux  articles  82 — 93  du  projet  elabore  en  1880 
par  la  Commission  Europeenne. 

IV.  a)  d'assurer,  dans  les  Sandjacs  et  Kazas  oü  les  non-musulmans 
sont  en  nombre,  ä  ceux-ci  une  representation  parmi  les  membres 
electifs  du  Conseil  administratif,  correspondant  ä  leur  proportion  dans 
la  population  du  Sandjac  et  Kaza  respectivement. 

b)  de  fixer  la  competence  des  Conseils  administratifs  des  Sandjacs 
et  Kazas  conformement  aux  articles  115,  116,  139  et  140  du  projet 
elabore  en  1880  par  la  Commission  Europeenne. 

V.  a)  de  creer  dans  les  Vilayets  oü  les  Armeniens  habitent  en 
masses  compactes  un  corps  de  police  et  un  corps  de  gendarmerie. 
Ces  corps  seront  recrutes  parmi  les  habitants  musulmans  et  non- 
musulmans  en  tenant  compte  du  principe  de  la  proportionale. 

b)  d'engager  des  specialistes  etrangers  pour  l'organisation  de  la 
police  et  de  la  gendarmerie. 

VI.  de  licencier  les  regiments  'de  la  cavallerie  legere  kurde. 

VII.  a)  d'adopter,  dans  les  provinces  oü  les  Armeniens  habitent 
en  masses  compactes,  le  Systeme  de  la  proportionalite  dans  lea  cadres 
des  fonctionnaires  et  des  juges. 

b)  de  nommer  des  valis,  mutessarifs  et  cai'macams  appartenant  ä 
la  religion  de  la  majorite  de  la  population  des  Vilayets,  Sandjacs, 
Kazas  respectivement,  ainsi  que  de  leur  adjoindre  des  muavins  apparte- 
nant ä  l'autre  religion. 


*  Es  ist  dies  das  Mandelstamsche  Reformprojekt. 
118 


Nous  recommandons  en  outre  de  proposer  ä  la  Sublime  Porte 
l'acceptation  integrale  des  dispositions  contenues  dans  les  articles  XIV, 
XV,  §  1,  2,  3,  et  5  de  Tarticle  XVI  et  article  XVIII  de  l'avant-projet 
russe. 

En  outre,  il  conviendrait  ä  notre  avis,  de  recommander  ä  la  Sublime 
Porte  de  donner  une  Solution  urgente  ä  la  question  agraire  dans  les 
Vilayets  de  PAnatolie  Orientale. 

Nr.  15  370 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  423  Therapia,  den  30.  Juli  1913 

Unter  Bezug  auf  Telegramme  Nr.  247*  und  249**. 

Italienischer  Botschafter  mitteilte  mir  vertraulich  Telegramm  seiner 
Regierung  vom  9.  d.  Mts.,  wonach  Herr  Pichon  dem  italienischen  Bot- 
schafter in  Paris  gesagt  hat,  er  halte  das  Projekt  Mandelstam  für 
unannehmbar.  Herr  Pichon  habe  sich  ungefähr  ebenso  ausgesprochen 
wie  Herr  von  Flotow  und  hinzugefügt,  daß  seine  Ansicht  auch  von 
Sir  E.  Grey  geteilt  werde. 

Hiesiger  englischer  Geschäftsträger  sagte  mir  dagegen,  er  stehe 
vollkommen  auf  dem  Standpunkt  des  russischen  Vorschlags.  Eine 
Beruhigung  Armeniens  sei  die  sicherste  Gewähr  gegen  russische  Er- 
oberungsgelüste. Auch  ein  russischer  Oberkommissar,  der  die  nötige 
Qualifikation  besitze,  sei  durchaus  annehmbar.  Herr  Marling  steht 
selbst  nach  Ansicht  seiner  eigenen  Kolonie  vollkommen  unter  dem 
Einfluß  Fitzmaurices,  dem  es  vor  allem  darauf  ankommt,  die  jetzige 
Regierung  mit  Hilfe  der  armenischen  Schwierigkeiten  zu  stürzen  und 
durch  eine  Kiamil  Paschasche  zu  ersetzen. 

Wangenheim 

Nr.  15  371 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  425  Konstantinopel,   den  31.  Juli  1913 

Aus  dem  Telegramm  Nr.  249***  ersehe  ich,  daß  Euere  Exzellenz 
eventuell  geneigt  wären,    einen   mit   weitgehenden   Machtbefugnissen 

*  Siehe  Nr.  15  363. 
**  Siehe  Nr.  15  367. 
••*  Siehe  Nr.    15  367. 

119 


ausgestatteten  Oberkommissar  für  Armenien  unter  der  Voraussetzung 
zuzulassen,  daß  für  unsere  Arbeitszone  ein  deutschen  Einflüssen  .  .  .* 
Oberkommissar  mit  analogen  Befugnissen  ernannt  wird.  Hierzu  wäre 
zunächst  erforderlich,  daß  das  auf  fünf  Zonen  verteilte  deutsche  Arbeits- 
gebiet zu  einer  Provinz  vereinigt  würde.  Dem  würde  sich  die  Pforte 
auf  das  äußerste  widersetzen.  Denn  durch  die  türkische  Zoneneintei- 
lung soll  gerade  der  Bildung  von  Interessensphären  vorgebeugt  werden. 
Auch  liegt  es  in  der  Absicht  der  türkischen  Regierung,  in  den  einzelnen 
Zonen  den  Einfluß  derjenigen  Nationen  möglichst  auszuschalten,  welche 
in  diesen  Gebieten  besondere  Interessen  haben.  Der  türkische  Wider- 
stand würde  nur  mit  demselben  Mittel  zu  überwinden  sein,  welches 
zur  Durchsetzung  des  Projekts  Mandelstam  angewendet  werden  muß, 
nämlich  mittels  einer  Kollektiv-,  wahrscheinlich  sogar  einer  Zwangs- 
aktion sämtlicher  Mächte.  Wir  müßten  also  zunächst  von  den  Entente- 
mächten als  Kompensation  für  unser  Eintreten  für  das  Projekt  Mandel- 
stam die  Zusage  extrahieren,  ihrerseits  für  die  Schaffung  einer  deut- 
schen Zone  sich  einsetzen  zu  wollen.  Mit  dem  Verlangen  nach  einer 
Interessensphäre  würden  wir  uns  aber  denjenigen  Mächten  anschließen, 
welche  zielbewußt  auf  die  Aufteilung  hinarbeiten.  Die  Zerlegung  der 
Türkei  in  Interessensphären  bedeutet  den  vorletzten  Akt  der  Tragödie. 
Nun  bin  ich  zwar  der  Meinung,  daß  die  Türkei  sich  nur  unter  ganz 
bestimmten  Voraussetzungen  halten  lassen  wird,  und  daß  selbst  die- 
jenigen Mächte,  welche  die  Türkei  konservieren  wollen,  durch  ihre 
Bemühungen,  Rußland  an  das  europäische  Konzert  zu  fesseln,  ge- 
zwungen sind,  die  zersetzende  russische  Orientpolitik  teilweise  mit- 
zumachen wie  England  oder  ihr  wenigstens  nur  vorsichtig  entgegen- 
zutreten wie  Deutschland.  Ob  aber  gerade  für  uns  der  Zeitpunkt 
gekommen  ist,  die  Situation  mit  Bezug  auf  die  Zukunft  der  Türkei 
durch  die  Anregung  von  Interessensphären  zu  klären,  möchte  ich  be- 
zweifeln. Der  Entschluß  dazu  würde  einen  entscheidenden  Wende- 
punkt in  unserer  türkischen  Politik  bedeuten.  Letztere  war  bisher  auf 
die  Erhaltung  und  Konsolidierung  der  asiatischen  Türkei  gerichtet  und 
verfolgte  dieses  Ziel,  indem  sie  für  die  Autorität  der  türkischen  Re- 
gierung eintrat  und  Zwangsmaßregeln  der  (europäischen  Mächte  tun- 
lichst verhinderte.  Lediglich  auf  diesem  Zusammengehen  mit  der  Türkei 
beruhte  der  deutsche  Einfluß  in  Konstantinopel.  Dieser  Politik  ver- 
danken wir  unsere  politischen  Erfolge.  Ich  bin  dementsprechend  auch 
in  der  Armenierfrage  davon  ausgegangen,  daß  ein  Zwang  der  Pforte 
zu  vermeiden  und  daß  auf  dem  von  der  Pforte  daselbst  vorgelegten 
Reformprogramm  weiterzubauen  sei.  Eine  entgegengesetzte  Politik 
birgt  die  Gefahr,  daß  wir  von  unseren  Gegnern  als  die  Aufteilungs- 
lustigen hingestellt  werden,  und  daß  unser  Kredit  bei  der  Türkei  damit 
vorzeitig  völlig  untergraben   wird.    Es   kommt   hinzu,   daß   Österreich 

*  Zifferngruppe  fehlt. 

120 


und  Italien  sich  gegen  eine  Aufteilungspolitik,  bei  der  sie  zu  kurz 
kommen  müßten,  lebhaft  sträuben,  und  daß  wir  uns  daher  in  dieser 
Frage  von  den  anderen  Mitgliedern  des  Dreibundes  trennen  müßten. 
Trotz  der  Haltung  der  hiesigen  englischen  Botschaft  nehme  ich  nach 
den  Äußerungen  Sir  E.  Greys  an,  daß  auch  England  im  Grunde  die 
Erhaltung  der  Türkei  will.  Wir  würden  daher  durch  Propagierung 
von  Interessensphären  nur  russische  Politik  machen  und  uns  zu  den 
letzten   Absichten   der    englischen    Politik   in   Widerspruch   setzen. 

Aus  allen  diesen  Erwägungen  komme  ich  zu  dem  Schluß,  daß  wir 
unseren  Widerstand  gegen  die  gefährlichen  Punkte  des  Projekts  nicht 
aufgeben  dürfen,  dagegen  aber  mit  Nachdruck  für  die  Durchführung 
des  türkischen  Reformprogramms  eintreten  müssen,  wobei  wir  Ruß- 
land dadurch  entgegenkommen  können,  daß  wir  uns  für  eine  mög- 
lichst unabhängige  und  starke  Stellung  der  Generalinspekteure  und 
eine  Kontrolle  der  Reformen  durch  die  Botschaften  einsetzen.  Auf 
diesem  Wege  können  wir  zu  einer  Verständigung  mit  der  Pforte  ge- 
langen, während  der  andere  Weg  ins  Ungewisse  führt.  Eine  einseitige 
Unterstützung  des  russischen  Programms  scheint  mir  schon  durch 
Rücksicht   auf   unsere   öffentliche   Meinung   ausgeschlossen. 

Die  Gefahr,  daß  Rußland  eines  Tages  in  Armenien  einrückt,  be- 
steht ganz  unabhängig  von  der  Armenierfrage,  die  doch  nur  als  Vor- 
wand dient.  Wird  Rußland  den  Mut  haben,  sich  von  dem  europäischen 
Konzert  zu  trennen  und  damit  die  Gefahr  eines  europäischen  Kon- 
flikts heraufzubeschwören?  Ohne  England  wird  Rußland  den  Schritt 
kaum  wagen,  und  wenn  England  den  Untergang  der  Türkei  will,  so 
können  wir  sie  allein  nicht  retten.  Nach  meiner  unmaßgeblichen  Mei^ 
nung  gibt  es  für  uns  nur  ein  sicheres  Mittel,  die  Türkei  vorläufig  zu 
retten,  die  offene  Erklärung,  daß  wir  uns  bei  der  Teilung  nicht  aus- 
schließen lassen.  Letzteres  war  auch  die  Meinung  Mahmud  Schewkets. 

Wangenh  eim 


Nr.  15  372 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  239  Therapia,  den  1.  August  1913 

Der  Kaiserliche  Botschafter  in  Petersburg  hat  unter  dem  10.  Juli 
über  eine  Unterredung  berichtet*,  die  er  mit  Herrn  Sasonow  über  die 


*  Vgl.  Nr.  15  349,  S.  97,  Fußnote*.  Der  fragliche  Bericht  Graf  Pourtales'  war 
durch  Zirkularerlaß  vom  15.  Juli  den  Botschaften  in  Konstantinopel,  London, 
Paris,  Wien  und  Rom  mitgeteilt  worden. 

121 


armenische  Frage  gepflogen,  und  in  welcher  sich  der  russische  Minister 
des  Auswärtigen  energisch  dagegen  verwahrt  hat,  daß  die  russische 
Politik  irgendwelche  Sonderbestrebungen  in  Armenien  verfolge  oder 
gar  auf  die  Aufteilung  der  Türkei  hinarbeite.  Lediglich  das  Ziel,  in 
dem  benachbarten  Armenien  geordnete  Verhältnisse  einziehen  zu  sehen, 
bestimme  die  russische  Regierung,  die  Frage  der  armenischen  Re- 
formen als  dringlich  zu  betreiben. 

Es  liegt  mir  fern,  die  subjektive  Aufrichtigkeit  in  den  Erklärungen 
des  Herrn  Sasonow  irgendwie  anzuzweifeln.  Herr  Sasonow  hat  sich 
bisher  als  ein  zuverlässiger  und  gewissen  populären  russischen  Strö- 
mungen gegenüber  bemerkenswert  unabhängiger  Staatsmann  erwiesen. 
Ich  glaube  daher  gern,  daß  ihm  persönlich  der  Gedanke  einer  russischen 
Expansion  in  Armenien  gegenwärtig  fernliegt. 

Aber  ein  anderes  ist  die  Ansicht  eines  Ministers,  der  vielleicht 
bald  von  seinem  Posten  zurücktritt,  ein  anderes  die  säkulare  Tradition 
der  russischen  Politik.  Man  hört  oft  von  intelligenten  Russen  darüber 
klagen,  daß  Rußland  durch  die  Nachbarschaft  unzivilisierter  Länder 
zu  immer  weiterer  Ausbreitung  genötigt  und  damit  von  seinen  inneren 
Angelegenheiten  abgelenkt  werde.  In  Wahrheit  liegt  diese  Ausbrei- 
tungstendenz tief  im  Wesen  der  noch  halb  theokratischen  russischen 
Staatsidee,  und  der  Russe  müßte  erst  wirklich  Europäer  werden,  das 
heißt  seine  alten  Ideale  aufgeben,  damit  eine  europäisch  nüchterne 
Politik  auf  die  Dauer  möglich  würde. 

So  liegt  auch  die  Sache  mit  Armenien  und  dem  Bestand  der  Türkei. 
Es  ist  ja  ohne  weiteres  zuzugeben,  daß  irgendein  greifbares  real- 
politisches Interesse  Rußland  weder  zum  Erwerb  von  Armenien  noch 
zur  Zertrümmerung  der  Türkei  treibt.  Rußland  ist  schon  heute  eine 
sich  selbst  genügende  Welt,  die  nur  kulturell  entwickelt  zu  werden 
brauchte,  um  zu  einem  Machtfaktor  von  erdrückender  Größe  anzu- 
wachsen. Trotzdem  wird  sich  keine  russische  Politik  auf  die  Dauer 
von  jenen  halb  religiös  empfundenen  Zielen  lossagen  können,  welche 
man  gemeinhin  als  das  Testament  Peters  des  Großen  bezeichnet.  Auch 
wenn  einzelne  Minister  sich  gegen  diese  Richtung  sträuben,  so  lebt 
sie  doch  in  der  russischen  öffentlichen  Meinung,  in  Diplomaten,  Kon- 
suln, Militärs,  Agenten  aller  Art  fort,  und  selbst  ein  willensstarker 
Kaiser  könnte  ihr  auf  die  Dauer  nicht  widerstehen. 

Die  Verhältnisse  liegen  heute  in  Armenien  nicht  schlechter  als 
früher.  Irgendein  besonders  dringlicher  Anlaß,  die  armenische  Frage 
jetzt  anzuschneiden,  ist  nicht  vorhanden.  Lediglich  der  Wunsch  Ruß- 
lands, aus  der  Schwäche  der  Türkei  und  der  europäischen  Konstellation 
zwecks  Erweiterung  seiner  Einflußsphäre  Vorteil  zu  ziehen,  ist  da- 
für maßgebend  gewesen.  Rußland  will  die  Autonomie  Armeniens, 
die  Reformen  sind  der  russischen  Politik  an  sich  gleichgültig.  Die 
Autonomie  Armeniens  ist  gedacht  als  ein  Schritt  auf  dem  Wege  nach 
Konstantinopel. 

122 


Auch  mein  russischer  Kollege  beteuert  mir  immer  wieder,  daß 
Rußland  selbstsüchtige  Absichten  in  Armenien  nicht  verfolge.  Als  wir 
aber  neulich  einmal  vor  meinem  Hause  stehend  auf  den  Bosporus 
blickten,  sagte  Herr  von  Giers  zu  mir:  „Dies  alles  muß  einmal  unser 
werden."  Es  ist  klar,  daß,  wer  dies  Ziel  will,  auch  die  Mittel  dazu 
wollen  muß.  Ohne  die  Herrschaft  über  die  Südküste  des  Schwarzen 
Meeres  wäre  auch  der  Besitz  Konstantinopels  für  Rußland  wertlos. 

Ebensowenig  wie  die  katholische  Kirche  ihren  Weltherrschafts- 
anspruch oder  Frankreich  den  Wunsch  nach  Wiedererlangung  Elsaß- 
Lothringens  aufgeben  kann,  wird  auch  die  russische  Politik  von  ihrem 
Traum  loskommen,  das  Kreuz  auf  der  Hagia  Sofia  neu  zu  errichten. 
Nüchterne  russische  Staatsmänner,  welche  sich  von  diesem  Ziele  ab- 
wenden, mögen  das  Tempo  dieser  Politik  verlangsamen;  die  Richtung 
wird  immer  dieselbe  bleiben,  solange  der  Halbmond  noch  in  Kon- 
stantinopel herrscht. 

Wangenheim 


Nr.  15  373 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  216  St.  Petersburg,  den  5.  August  1913 

Sasonow  sagte  mir  heute,  der  russische  Vorschlag,  aus  den  sechs 
armenischen  Wilajets  eine  administrative  Einheit  zu  machen,  greife 
auf  eine  von  der  Türkei  selbst  im  Jahre  1895  gemachte  Anregung 
zurück.  Türkei  könne  daher  gegen  diesen  Vorschlag  nicht  gut  Ein- 
wendungen erheben.  Da  indessen  Vereinigung  der  sechs  Wilajets  zu 
einem  administrativen  Ganzen  bei  uns  auf  Bedenken  stoße,  würde  er 
auch  nichts  dagegen  haben,  wenn  aus  diesem  Wilajet  zwei  Ein- 
heiten unter  je  einem  christlichen  vom  Sultan  mit  Zustimmung  der 
Mächte  zu  ernennenden  Gouverneur  gebildet  würden.  Minister  würde 
es  für  das  beste  halten,  daß  Gouverneure  nicht  türkische  Untertanen 
wären,  da  gegen  Griechen,  die  voraussichtlich  dann  in  Frage  kämen,  bei 
Armeniern  Vorurteile  beständen.  Sasonow  würde  großen  Wert  darauf 
legen,  daß  Besprechungen  unter  Botschaftern  in  Konstantinopel  über 
armenische  Frage  möglichst  bald  wieder  aufgenommen  würden.  Er  be- 
merkte dabei,  daß  unser  Gegenvorschlag*  mehrere  Punkte  enthalte, 
die  ihm  durchaus  annehmbar  erschienen. 

Pourtales 


•  Vgl.  Nr.  15  369,  Anlage. 

123 


Nr.  15  374 
Aide-memoire 

Reinschrift 
Von    der    Österreich-ungarischen    Botschaft    in    Berlin    dem    Auswärtigen    Amt 

übersandt 

Berlin,  am  9.  August  1913 

Marquis  di  San  Giuliano  hat  dem  Wiener  Kabinett  den  Vorschlag 
gemacht,  vorläufig  bloß  die  Durchführung  der  nachbenannten  Punkte 
des  von  den  Delegierten  Österreich-Ungarns  und  Deutschlands  in  der 
armenischen  Reformkommission  vorgebrachten  Resumes* 
zu  versuchen: 

1)  Zustimmung  der  Pforte  zur  europäischen  Kontrolle  (Punkt  1 
des  Resumes), 

2)  Kreierung  von  Polizei  und  Gendarmerie  in  den  armenischen 
Wilajets  unter  Heranziehung  fremder  Elemente  (Punkt  5  des 
Resumes)  und 

3)  Entlassung  der  Hamidje-Regimenter   (Punkt  6  des   Resumes). 

Nr.  15  375 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  241  Therapia,  den  4.  August  1913 

[pr.  10.  August] 

In  dem  der  Kaiserlichen  Botschaft  in  Petersburg  überreichten 
Aide-memoire**  weist  die  russische  Regierung  darauf  hin,  daß  die 
Reformen  in  Armenien  äußerst  dringlich  seien,  daß  die  Beruhigung  des 
Landes  nur  möglich  sei,  wenn  die  Mächte  die  Ausführung  derselben 
überwachen,  und  daß  daher  eine  schnelle  und  möglichst  vollständige 
Verständigung  zwischen  den  Mächten  über  diese  Frage  allein  im- 
stande sei,  der  drohenden  Gefahr  von  Unruhen  in  Armenien  vorzu- 
beugen. 

Auch  vom  Standpunkt  unserer  Interessen  erscheint  eine  möglichst 
baldige  Verständigung  der  Mächte  über  die  armenischen  Reformen 
dringend  geboten,  schon  um  durch  Verwirklichung  eines  gemeinsamen 
Reformplanes,  dessen  wichtigster  Punkt  die  im  Prinzip  von  allen 
Mächten  gewünschte  internationale  Kontrolle  wäre,  eine  Handhabe 
zu   gewinnen   zur   Beobachtung   und    Bekämpfung   der   immer   unver- 


*  Vgl.   Nr.    15  369,   Anlage. 

**  Vgl.   Nr.    15  349,   S.   97,   Fußnote*. 

124 


hüllter  zutage  tretenden  russischen  Hetzarbeit  unter  der  armenischen 
Bevölkerung. 

Die  Prüfung  des  russischen  und  des  türkischen  Reformplanes 
durch  die  Delegierten  der  hiesigen  Botschaften  hat  dazu  geführt,  daß 
die  Delegierten  des  Dreibundes,  wie  aus  dem  Protokoll  der  7.  Sitzung 
vom  23.  v.  Mts.  ersichtlich  ist,  eine  Reformaktion  auf  einer  neuen  Basis 
angeregt  haben,  die  als  Mittellinie  zwischen  dem  zu  weitgehenden 
russischen  und  dem  ungenügenden  türkischen  Projekte  angesehen 
werden  kann  *.  Von  dem  Gedanken  ausgehend,  daß  der  von  der 
Türkei  in  Aussicht  genommene  Reformplan  eine  Reihe  sehr  zweck- 
mäßiger und  zum  Teil  auch  im  russischen  Entwurf  enthaltener  Maß- 
nahmen vorsieht  und  daher  schon  mit  Rücksicht  auf  die  Empfind- 
lichkeit der  türkischen  Regierung  nicht  einfach  beiseite  gesetzt  werden 
kann,  nimmt  der  Vorschlag  der  Dreibunddelegierten  das  türkische 
Projekt  als  Grundlage  und  ergänzt  es  durch  eine  Anzahl  von  Bestim- 
mungen,  die  dem   russischen   Projekt   entnommen  sind,  nämlich 

1)  Europäische    Kontrolle    der    Reformaktion, 

2)  Zulassung  der  technischen  Beiräte  zum  Verwaltungsrat  des 
Wilajets, 

3)  Verpflichtung  des  Walis,  die  Provinzialversammlung  auf  An- 
trag einer  Zweidrittelmehrheit  einzuberufen, 

4)  Abgrenzung  der  Zuständigkeit  der  Provinzialversammlung  und 
der  Verwaltungsräte  der  Sandschaks  und  Kasas  gemäß  den  entsprechen- 
den Bestimmungen  des  1880  von  der  europäischen  Kommission  aus- 
gearbeiteten Entwurfs, 

5)  Organisierung  eines  Polizei-  und  eines  Gendarmeriekorps  durch 
fremde  Spezialisten, 

6)  Auflösung  der  kurdischen   Kavallerieregimenter, 

7)  Ausschließung  der  Nomaden  vom  aktiven  und  passiven  Wahl- 
recht, 

8)  Gleichstellung  der  drei  Hauptsprachen  (türkisch,  armenisch, 
kurdisch), 

9)  Freiheit  der  Schulgründung  für  alle  Bevölkerungselemente, 

10)  Anerkennung  der  Rechte  und  Privilegien  der  armenischen 
Kultusgemeinschaft  (Sahmanatrutiun  von  1863), 

11)  Baldige  Lösung  der  Agrarfrage. 

Hierzu  kommt  als  weiterer  Vorschlag  noch  die  Durchführung  des 
Grundsatzes  der  Proportionalität  bei  der  Anstellung  der  Beamten  und 
der  Zusammensetzung  der  die  Bevölkerung  vertretenden  Körperschaften, 
ein  Prinzip,  das  mir,  wie  ich  in  dem  Berichte  Nr.  236  vom  31.  v.Mts.  ** 


*  Vgl.  die  Erklärung  der  Dreibunddelegierten  vom  23.  Juli  in  Nr.  15  369,  Anlage. 
**  Der  —  nicht  abgedruckte  —  Bericht  Freiherrn  von  Wangenheims  vom  31.  Juli 
hatte  in  sehr  detaillierter  Weise  das  Thema  behandelt,  in  welcher  Art  bei  der 
Zusammensetzung  des  Beamtenkörpers  sowie  bei  der  Vertretung  der  Bevölkerung 


125 


auszuführen  die  Ehre  hatte,  vom  Standpunkte  unserer  Interessen  vor 
der  von  Rußland  vorgeschlagenen  absoluten  Stimmengleichheit  den 
Vorzug  zu  verdienen  scheint. 

Um  zu  der  gewünschten  Einigung  mit  Rußland  zu  gelangen,  wird 
es  sich  nunmehr  darum  handeln,  die  russische  Regierung  zur  Annahme 
dieses  dem  russischen  Entwürfe,  wie  ersichtlich,  in  zahlreichen  und 
wichtigen  Punkten  Rechnung  tragenden  Reformplanes  zu  veranlassen. 
Sollten  wir  hierbei  auf  Schwierigkeiten  stoßen,  so  würde  zur  Be- 
seitigung derselben  viel  gewonnen  sein,  wenn  es  gelänge,  uns  mit 
England  über  die  Frage  ins  Einvernehmen  zu  setzen. 

Sowohl  die  englische  wie  die  französische  Regierung  haben  nach 
Mitteilungen  Euerer  Exzellenz  ihrer  Abneigung  gegen  das  russische 
Projekt  Ausdruck  gegeben*,  was  allerdings  in  der  bisherigen  Haltung 
ihrer  hiesigen  Botschaften  noch  keine  Bestätigung  gefunden.  Ob  diese 
Abneigung  so  weit  geht,  daß  sie  England  und  Frankreich  bewegen 
könnten,  sich  in  der  Frage  der  armenischen  Reformen  von  Rußland, 
offen  zu  trennen  und  unserem  Vorschlage  zuzustimmen,  läßt  sich  von 
hier  aus  nicht  beurteilen. 

Für  den  Fall,  daß  es  uns  nicht  gelingt,  die  Regierungen  des 
dreifachen  Einvernehmens  zu  einem  gemeinsamen  Vorgehen  mit  den- 
jenigen des  Dreibundes  zu  veranlassen,  käme  als  äußerstes  Mittel  in 
Betracht,  der  Pforte  durch  eine  gemeinschaftliche  Aktion  der  Drei- 
bundvertreter die  Durchführung  des  vorstehenden  Reformplanes  nahe- 
zulegen. Die  Andeutung  der  Absicht  eines  derartigen  Schrittes  würde 
auf  die  russische  Regierung  voraussichtlich  als  starkes  Stimulans  wirken, 
sich  unserem  Vorgehen  anzuschließen;  denn  sie  dürfte  sich  nicht  im 
unklaren  sein,  daß  ein  Beiseitestehen  bei  einem  Druck  auf  die  Pforte 
im  Sinne  armenischer  Reformen  Rußland  die  Sympathien  der  Armenier, 
auf  die  es  neuerdings  so  großen  Wert  legt,  gründlich  entfremden  müßte, 
und  daß  ihm  dadurch  für  seine  weiteren  Pläne  der  Wind  aus  den  Segeln 
genommen  werden  würde. 

Auf  jeden  Fall  scheint  es  mir  dringend  geboten,  daß  wir  die 
Frage  der  armenischen  Reformen  diesmal  nicht  wieder  im  Sande  ver- 
laufen lassen,  sondern  zur  Sicherung  der  Durchführung  des  von  uns  als 
praktisch  anerkannten  Reformplanes  die  Initiative  ergreifen,  schon  um 
nicht  bei  den  Armeniern  die  bei  ihnen  bereits  im  Entstehen  begriffene 
Meinung  zu  verstärken,  als  sei  es  uns  um  die  Reformen  in  Armenien 
nicht  Ernst,  und  als  stellten  wir  das  Wohlwollen  der  türkischen  Re- 
gierung höher  als  das  Interesse  für  die  Armenier.  Daß  unter  den 
letzteren  gewisse  Kreise  geneigt  sind,  einer  derartigen  Ansicht  Raum 


in  den  Provinzialversammlungen  das  Verhältnis  der  beiden  Hauptreligionen  des 
Landes,  der  mohammedanischen  und  der  christlichen,  zu  berücksichtigen  sei. 
•  Vgl.   das   Telegramm    Freiherrn    von   Schoens    Nr.    266   vom    10.   Juli    (siehe 
Nr.   15  354),  das  am   12.   Juli  nach   Konstantinopel  mitgeteilt  war. 

126 


zu  geben,  habe  ich  aus  verschiedenen  Anzeichen  ersehen  können. 
Auch  ist  es  nicht  schwer,  die  trübe  Quelle  zu  erkennen,  aus  welcher 
diese  Meinung  entsprungen  ist:  die  hiesige  russische  Botschaft  scheint 
bereits  ausgiebig  dafür  gesorgt  zu  haben,  daß  die  Vorbesprechungen 
der  Botschaftsdelegierten  bis  in  die  Einzelheiten  hinein  in  armenischen 
Kreisen  bekannt  wurden.  Daß  bei  dieser  Darstellung  Rußland  als  der 
uneigennützige  Befreier  aus  türkischem  Joche  erscheint,  während  wir 
dagegen  als  die  allen  Reformen,  welche  den  überwiegenden  türkischen 
Einfluß  brechen  könnten,  feindlichen  Freunde  der  im  Grunde  zentra- 
listisch  gesinnten  Komiteepartei  hingestellt  werden,  ist  selbstver- 
ständlich. 

Wir  würden  meines  Erachtens  gut  daran  tun,  diese  Legende  zu 
zerstören,  indem  wir  unsere  Anhängerschaft  an  den  Reformgedanken 
durch  positives  Eintreten  dafür  dartäten.  Ein  Sinken  unserer  Sympathien 
bei  der  Pforte  wäre  aus  einem  solchen  Schritte  kaum  zu  befürchten; 
denn  wir  könnten  dieser  gegenüber  durchblicken  lassen,  daß  wir  uns 
für  unseren  Reformplan  nur  deswegen  einsetzten,  um  Rußland  zu  ver- 
hindern, mit  seinem  viel  weiter  gehenden,  den  Bestand  der  Türkei  ge- 
fährdenden Reformprojekt  hervorzutreten. 

Die  hiesigen  Botschaften  von  Österreich-Ungarn  und  Italien  haben 
ihren  Regierungen  in  ähnlichem  Sinne  berichtet. 

Wangenheim 

Nr.  15  376 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow* 

Privatbrief.    Ausfertigung 

Therapia,  den  8.  August  1913 
[pr.  10.  August] 

Jeder  Fremde  wird  schon  nach  kurzem  Aufenthalt  in  der  Türkei 
zu  der  Überzeugung  gelangen,  daß  unter  den  Völkerschaften,  welche 
die  heutige  Türkei  bewohnen,  die  Türken  noch  die  besten  sind.  „Le 
Türe  est  le  seul  gentleman  de  l'Orient."  Diesen  Satz  würden  Sie  hier 
ebenso  unterschreiben,  wie  es  mit  mir  meine  sämtlichen  Kollegen 
inklusive  Giers  und  Bompard  tun.  Die  verhältnismäßige  Türken- 
freundlichkeit, wie  ich  sie  hier  zum  Ausdruck  bringe,  beruht  indessen 
keineswegs  auf  Regungen  des  Herzens,  sondern  auf  kühler  politischer 
Erwägung.    Die   Türkei   ist   unserer   direkten    politischen    Einwirkung 


•  Der  sehr  eingehende  Privatbrief  Wangenheims  wird  mit  Ausnahme  einiger 
Ausführungen  über  die  Frage  von  Adrianopel  und  über  das  türkische  Partei- 
wesen, die  mit  der  armenischen  bzw.  Aufteilungsfrage  nichts  zu  tun  haben, 
zum   Abdruck    gebracht. 

127 


entzogen.  Wir  können  ihr  unseren  Willen  weder  zu  Lande  noch  von 
der  See  aus  aufzwingen,  wie  es  Rußland,  England  und  Frankreich 
vermögen.  Wir  können  unseren  Einfluß  nur  geltend  machen,  wenn  wir 
als  die  uneigennützigen  Freunde  der  Türkei  auftreten  und  uns  dadurch 
ihr  Vertrauen  erwerben.  Dem  Vertrauen  in  die  Uneigennützigkeit 
Deutschlands  ganz  allein  verdankte  Marschall  seine  Erfolge.  Ohne 
dasselbe  hätte  er  die  Bagdadbahn  nicht  durchsetzen  können.  Es 
mag  fraglich  sein,  ob  es  klug  war,  deutsche  Kapitalien  und  deutsches 
Prestige  in  einem  solchen  Umfange  in  einem  Lande  zu  investieren, 
das  unserer  politischen  Einwirkung  so  gut  wie  gänzlich  entzogen 
ist.  Ich  habe  auf  die  tönernen  Füße,  auf  denen  unsere  kleinasiatische 
Tätigkeit  ruht,  schon  vor  zehn  Jahren  als  Geschäftsträger  in  einem 
längeren  Berichte  hingewiesen  und  die  Vermutung  ausgesprochen, 
daß  wir  einmal  in  Schwierigkeiten  kommen  müßten,  wenn  es  sich 
darum  handelte,  das  von  uns  Geschaffene  zu  verteidigen.  Schon 
damals  riet  ich  zu  einer  Vertiefung  unserer  geistigen  Penetrations- 
arbeit, um  die  Mängel  unserer  geographischen  Lage  auszugleichen. 
Mein  Bericht  ist  damals  zu  den  Akten  geschrieben  worden.  Die  Ver- 
hältnisse aber,  welche  ich  zu  jener  Zeit  voraussah,  sind  inzwischen 
eingetreten.  Unsere  wirtschaftliche  Arbeit  ist  gerade  so  weit  ge- 
fördert, daß  wir  dieselbe  ohne  Einbuße  an  Ansehen  nicht  im  Stiche 
lassen  können.  Aber  vieles  ist  noch  zu  tun.  Die  Bagdadbahn  mit 
ihren  Zweiglinien  muß  erst  noch  fertig  gebaut  werden.  Die  Gebiete, 
welche  wir  für  uns  bei  einer  Teilung  in  Anspruch  nehmen  müssen, 
sind  noch  nicht  in  einer  unsere  Ansprüche  begründenden  Weise  von 
unserem  Einflüsse  durchzogen,  wie  es  beispielsweise  Syrien  durch 
den  französischen  Einfluß  ist.  Die  Aufgaben,  welche  wir  noch  zu 
erfüllen  haben,  sind  nun  aber  nicht  zu  lösen,  wenn  wir  dieselben  gegen 
die  Türkei  durchführen  wollen.  Sobald  wir  uns  auf  die  Plattform  stellen, 
von  welcher  aus  die  Ententemächte  ihre  hiesige  Politik  betreiben,  ist 
es  mit  unserem  Einflüsse  aus.  Wir  sind  dann  plötzlich  die  schwächeren 
gegenüber  den  mit  uns  konkurrierenden  Ländern.  Frankreich  würde 
dann,  mit  England  zusammenarbeitend,  imstande  sein,  die  Weiter- 
führung unserer  Arbeiten  überhaupt  zu  verhindern.  Jedes  Interesse 
Englands,  sich  mit  uns  über  Kleinasien  im  weiteren  zu  verständigen, 
würde  erlöschen.  Was  würde  dann  aus  den  Anatoliern  in  ihrem 
Kampfe  mit  den  Franzosen  werden?  Was  würde  unsere  öffentliche 
Meinung  und  Krupp  dazu  sagen,  wenn  die  Instruktion  der  Armee 
plötzlich  an  Frankreich  verloren  ginge?  Was  unser  Handel,  der  pari 
passu  mit  unserem  Einfluß  fortschreitet?  Welche  unendlichen  Schwierig- 
keiten würden  uns  in  allen  Kapitulationsfragen  entstehen,  wo  wir 
jetzt  in  den  meisten  Fällen  mit  unseren  Wünschen  durchdringen,  ohne 
drohen  zu  müssen?  Unser  Einfluß  auf  die  türkische  Regierung  ist  ein 
sehr  bedeutendes  Aktivum,  über  welches  wir  bei  dem  Wettstreite  der 
Nationen  im  Orient  verfügen.    Ich  muß  es  als  meine  vornehmste  Auf- 

128 


gäbe  hier  betrachten,  über  dieses  Aktivum  zu  wachen  und  zu  ver- 
hüten, daß  es  sich  in  ein  Passivum  verwandelt.  Letzteres  würde  ge- 
schehen, wenn  wir  mit  einem  Male  anfingen,  die  Türkei  zu  bedrohen 
und  an  uns  irre  zu  machen.  Solange  wir  nicht  ganz  sicher  sind,  daß 
die  Teilung  unvermeidbar  ist,  daß  die  anderen  Mächte  unsere  Nieder- 
lassung in  Kleinasien  zulassen,  und  daß  wir  als  willkommene  Nachfolger 
der  Osmanen  in  unsere  Arbeitszone  einziehen  können,  scheint  mir 
eine  Fortsetzung  unserer  bisherigen  türkenfreundlichen  Haltung  absolut 
geboten.  Ich  weiß,  daß  die  Befürwortung  einer  solchen  Politik  mir 
bei  manchen  Stellen  den  Vorwurf  eintragen  wird,  ich  sei  bereits  ebenso 
vertürkt  wie  Marschall.  Man  müsse  die  Türken  auf  den  Kopf  schlagen, 
sie  würden  uns  doch  immer  wieder  kommen.  Daß  die  Pforte  in  ihren 
Geldnöten  uns  immer  wieder  kommen  wird,  ebenso  wie  unseren 
Gegnern,  ist  selbstverständlich.  Wir  würden  uns  aber  dann  alles  das, 
was  wir  jetzt  an  Konzessionen  und  sonstigen  Vergünstigungen  als 
freie  Gabe  erhalten,  jedesmal  durch  eine  Anleihe  erkaufen  müssen. 
Unseren  Endzielen  dagegen  würden  unüberwindliche  Hindernisse 
nicht  nur  von  der  Pforte,  sondern  auch  von  den  konkurrierenden 
Mächten  entgegengestellt  werden,  die  eine  Trübung  des  deutsch- 
türkischen Vertrauensverhältnisses  sofort  für  sich  ausnutzen  würden. 
Ich  sehe  die  Ziele  unserer  Politik  klar  vor  mir:  Wir  müssen  die  Türkei 
so  lange  wie  möglich  zu  erhalten  suchen  und  durch  Beteiligung  an 
dem  Reformwerke  der  Türkei  nicht  nur  ehrliche  Hilfe  leisten,  sondern 
gleichzeitig  auch  unseren  Einfluß  in  der  gesamten  Türkei  zu  stärken 
suchen.  Gleichzeitig  aber  hätten  wir  uns  auf  den  schlimmsten  Fall, 
die  Teilung,  vorzubereiten,  indem  wir  in  unserer  Arbeitszone 
durch  Schulen,  Krankenhäuser,  Entsendung  von  Ärzten  etc.  die  Be- 
völkerung an  uns  fesseln  und  gleichzeitig  damit  auch  den  Mächten 
gegenüber  den  festen  Entschluß  bekunden,  die  von  uns  markierten  Ge- 
biete keiner  anderen  Macht  zu  überlassen.  Ich  bin  ganz  entschieden 
dafür,  daß  wir  den  Mächten  kein  Hehl  aus  unseren  Plänen  machen, 
ja  daß  wir  ihnen  sogar  klipp  und  klar  sagen,  was  wir  im  Teilungs- 
falle beanspruchen  würden,  und  daß  wir  den  Teilungsprozeß  als  be- 
gonnen ansehen  würden,  wenn  eine  andere  Macht  türkische  Gebiete 
Kleinasiens  auch  nur  vorübergehend  besetzt.  Eine  solche  Kundgebung 
würde  die  Lage  wahrscheinlich  in  sehr  erfreulicher  Weise  klären. 
Die  wahrscheinliche  Folge  wäre,  daß  die  Länder,  welche  unsere 
Niederlassung  am  Mittelmeere  nicht  wünschen,  gezwungen  wären, 
für  die  Erhaltung  der  Türkei  zu  wirken.  Den  Türken  würde  eine 
derartige  Kundgebung  durchaus  verständlich  und  willkommen  sein. 
Mahmud  Schewket,  der  ein  sehr  kluger  Mann  war,  hat  mich  wieder- 
holt und  eindringlich  gebeten,  für  eine  öffentliche  Feststellung  der 
deutschen  Ziele  Sorge  zu  tragen.  Voraussetzung  einer  Politik,  wie 
ich  sie  skizziert  habe,  bleibt  aber  immer,  daß  wir  uns  das  Vertrauen 
der  Türkei  erhalten.    Ich  möchte  jedenfalls  der  Botschafter  nicht  sein, 

9    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  129 


unter  dem  hier  die  bewährte  Basis  unserer  Politik  verlassen  wird, 
ohne  daß  dafür  ein  praktischer  Gewinn  eingeheimst  wird.  Die  türken- 
freundliche Richtung  unserer  Politik  schließt  übrigens  keineswegs  aus, 
daß  wir  den  Türken  gelegentlich  auch  deutlich  werden.  So  kann  ich 
hier  in  einzelnen  Fragen,  wo  die  Türken  sich  Unverschämtheiten  er- 
lauben, viel  energischer  auftreten  als  andere  Botschafter,  nur  weil 
die  Türken  überzeugt  sind,  daß  ich  es  gut  mit  ihnen  meine.  Aus  dem- 
selben Grunde  hat  der  Rat  Deutschlands  in  politischen  Dingen  ein 
ganz  anderes  Gewicht  als  der  anderer  Länder.  Wenn  unser  Einfluß 
einmal  wie  jetzt  bei  der  Adrianopler  Frage*  versagt,  so  hat  das  darin 
seinen  Grund,  daß  wir  da  einer  dem  Siedepunkt  nahen  Volksbewegung 
gegenüberstehen,  deren  Leitung  der  Regierung  selbst  entglitten  ist. 
Wäre  rechtzeitig  eingegriffen  worden,  so  wäre  es  dem  deutschen  Ein- 
fluß, aber  auch  nur  diesem,  gelungen,  die  Regierung  auf  die  Bahn 
der  Kompensationen  zu  leiten,   pp. 

Was  die  armenischen  Reformen  betrifft,  so  bin  ich  von  An- 
fang an  bemüht  gewesen,  vermittelnd  zu  wirken.  Österreich  und  Italien 
wollten  sich  ja  zuerst  nicht  einmal  auf  eine  Diskussion  des  Projekts 
Mandelstam  einlassen.  Wir  sind  nunmehr  bei  den  Besprechungen  in 
so  vielen  Punkten  zu  einer  Einigung  gelangt,  daß  sich  daraus  wohl 
ein  Vermittelungsprogramm  konstruieren  ließe.  In  den  entscheidenden 
Punkten  können  wir  freilich  nicht  nachgeben;  aber  selbst  wenn  wir 
es  tun  wollten,  würden  Österreich  und  Italien  sich  auf  das  schärfste 
widersetzen,  da  sie  ja  mangels  genügenden  Anspruchs  auf  Berück- 
sichtigung bei  der  Teilung  mehr  als  wir  an  der  Erhaltung  der  Türkei 
interessiert  sind.  Andererseits  sehe  ich  nicht,  daß  Rußland  von  seinem 
Projekte  etwas  ablassen  will.  Vorläufig  läßt  Giers  in  den  armenischen 
Zeitungen  Artikel  veröffentlichen,  die,  auf  genauer  Kenntnis  der  Sit- 
zungsprotokolle beruhend,  die  Schuld  an  dem  Scheitern  seiner  edlen 
Absichten  uns  zuschreiben.  Ich  frage  mich  gelegentlich,  ob  Rußland 
es  mit  den  Reformen  überhaupt  ernst  meint.  Seine  Initiative  steht  im 
Widerspruch  mit  der  russischen  Tradition,  die  ja  gerade  eine  Besserung 
der  türkischen  Zustände  verhindern  will,  damit  Rußland  den  Vorwand 
zur  Einmischung  behält.  Da  Rußland  sein  Verbot,  in  Armenien  Eisen- 
bahnen und  Wege  zu  bauen,  aufrecht  erhält,  so  sind  Zweifel  an  der 
Ehrlichkeit  seiner  Reformpläne  wohl  berechtigt,  von  denen  Herr  von 
Giers  wissen  mußte,  daß  sie  auf  den  starken  Widerstand  anderer 
Mächte  stoßen  würden.  Augenblicklich  weilt  hier  Dr.  Lepsius,  der 
bekannte  Armenierfreund.  Er  hat  großen  Einfluß  auf  die  Armenier 
und  versucht  in  diesem  Augenblicke,  die  letzteren  dahin  zu  bringen, 
daß  sie  sich  angesichts  der  schweren  Durchführbarkeit  des  russischen 
Projekts  an  die  Botschaften  mit  der  Bitte  wenden,  wenigstens  für  eine 
Durchführung   und   Verbesserung   des    türkischen    Projekts    Sorge    zu 


*  Vgl.   dazu   Bd.   XXXVI,   Kap.   CCLXXVII. 
130 


tragen.  Eine  solche  armenische  Demarche  würde  eine  Erleichterung 
für  die  meisten  Mächte  bedeuten,  auch  für  England.  Behält  Rußland 
die  Armenier  unter  seiner  Kontrolle,  so  wird  es  die  Frage  wohl  vor- 
läufig offen  halten,  um  zu  dem  geeigneten  Zeitpunkt  aus  der  Situation 
seine  Konsequenzen  zu  ziehen.  Jedenfalls  ist  die  Lage  undurchsichtig 
und  bedarf  aufmerksamer  Beobachtung.  Bei  aller  Anerkennung  Sa- 
sonows  traue  ich  den  hiesigen  Russen  nicht  über  den  Weg.  Augenblick- 
lich spricht  Giers  nicht  von  den  Armeniern,  da  er  noch  auf  ein 
europäisches  Mandat  an   Rußland  spekuliert,    pp. 

Die  Richtlinie,  welche  ich  mir  hier  gezogen  habe,  kann  ich  in 
einem  Satze  zusammenfassen:  „Die  deutschen  Sympathien  gehören 
nicht  politischen  Parteien,  sondern  der  gesamten  Türkei. "  Nur  auf 
einer  derartigen  Basis  können  wir  als  Großmacht  hier  operieren. 
Wir  vermeiden  dadurch  den  Fehler,  den  England  begeht,  indem  es 
Botschaftsbeamte  an  Verschwörungen  gegen  eine  ihr  unsympathische 
Regierung  sich  beteiligen  läßt.  Andererseits  werden  wir  in  die  Lage 
versetzt,  leicht  den  Übergang  von  einem  Regime  zum  andern  finden 
zu  können.  Käme  morgen  Kiamil  wieder  ans  Ruder,  so  würde  ich 
mit  ihm  an  demselben  Punkte  wieder  anknüpfen  können,  wo  unsere  amt- 
lichen Beziehungen  aufgehört  haben.  Ich  habe  es  in  der  Zwischenzeit 
strengstens  vermieden,  mich  irgendwie  in  die  inneren  politischen  Streitig- 
keiten einzumischen.  Trotzdem  habe  ich  mit  den  Jungtürken  verhältnis- 
mäßig gute  Geschäfte  machen  können.  Letztere  mögen  den  Mächten 
ihrer  Halsstarrigkeit  wegen  unbequem  sein.  In  London  wird  man  ge- 
wünscht haben,  daß  die  Türken  sich  weiter  als  die  verfaulte  und 
elende  Gesellschaft  erweisen  würden,  als  welche  sie  sich  bei  Beginn 
des  Krieges  gezeigt  haben.  Daß  die  Türkei  noch  nicht  fertig  ist  und 
nach  zweijährigem  Kriege  noch  eines  Elans  fähig  ist,  wie  ihn  der 
jetzige  Vormarsch  nach  Norden  beweist,  ist  natürlich  ein  schweres 
Hindernis  für  alle  Friedensbemühungen  der  Mächte;  und  ich  ver-. 
stehe  vollkommen,  daß  alle  Kabinette  wütend  sind.  Sie  möchten  nun 
endlich  mit  der  Balkanschweinerei  zu  Ende  kommen.  Hier  sieht  die 
Sache  aber  etwas  anders  aus.  Es  zeigt  sich,  daß  die  Türkei  eben  doch 
noch  ein  lebender  Körper  und  entschlossen  ist,  sich  nicht  wie  ein 
Haufen  von  Lumpen  behandeln  zu  lassen.  Was  Enver  und  Talaat 
jetzt  tun,  ist  Europa  unbequem  und  vielleicht  auch  für  die  Türkei  ver- 
hängnisvoll, der  sie  möglicherweise  nur  einen  schönen  Opfertod  vor- 
bereiten. Wir  werden  die  Führer  der  jetzigen  Volks-  und  Armee- 
bewegung und  ihre  Ziele  nicht  unterstützen  können,  da  wir  sonst 
uns  von  den  Mächten  trennen  und  die  Kriegsgefahr  näher  rücken 
würden.  Wenn  aber  die  Jungtürken  schließlich  ohne  unser  Zutun  doch 
Erfolge  haben  sollten,  so  würde  ich  dies  im  deutschen  Interesse  nur 
begrüßen  können.  Bleibt  Adrianopel  der  Türkei  erhalten,  so  werden 
die  Unionisten  für  eine  unabsehbare  Zeit  Herren  der  Lage  in  der 
Türkei.  Sie  sind  die  einzigen,  von  denen  man  eine  Rettung  der  Türkei 

9*  131 


erwarten   kann,   und   mit   deren   Hilfe   Deutschland  seine   Pläne  hier 
durchsetzen  könnte. 

Wangenh  eim 


Nr.  15  377 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  450  Therapia,  den  10.  August  1913 

Dr.  Lepsius  hat  hier  mit  dem  armenischen  Aktionskomitee  ver- 
handelt* und  erreicht,  daß  armenischerseits  das  Projekt  Mandelstam 
in  seinen  wesentlichen  Punkten  im  Prinzip  fallen  gelassen,  dagegen 
gefordert  wird,  daß  die  Mächte  für  die  Durchführung  des  türkischen 
Programms  mit  den  in  der  Dragomankommission  einstimmig  angenom- 
menen Punkten  des  russischen  Projekts  und  folgende  Zusätze  bei  der 
Pforte  eintreten: 

1)  Mitwirkung  der  Mächte  bei  der  Auswahl  der  General- 
inspekteure. 

2)  Parität  statt  Proportionalität. 

3)  Regionaler  Militärdienst  mit  der  Beschränkung,  daß  bei  inneren 
Unruhen  Truppen  auch  außerhalb  Armeniens  verwendet  werden  können. 

4)  Ansiedelung  von  Mohadschirs  nur  mit  Einverständnis  der  Ge- 
neralinspekteure. 

Spezieller  Verzicht  Armenier  auf  neue  Zoneneinteilung  und  Ober- 
kommissar mit  Recht  der  Beamtenernennung. 

Verhandlungen  werden  fortgesetzt  und  dürften  zu  einer  Aussprache 
zwischen  .  .  .  **  und  Armeniern  führen.  Meinerseits  wird  unter  der 
Hand  auf  Entgegenkommen  der  Türkei  hingearbeitet.  Das  verabredete 
Programm  soll  dann  zunächst  russischem  Botschafter  als  armenisches 
Petitum  unterbreitet  werden.  Damit  wäre  vielleicht  ein  Ausgleich 
gefunden,  dem  auch  Dreibund  schließlich  zustimmen  könnte. 

Wangenh  eim 


*  Über  diese  Verhandlungen  meldete  Freiherr  von  Wangenheim  am  31.  August 
(Telegramm  Nr.  496) :  „Seine  Verhandlungen  mit  Armeniern  haben  mit  Wissen 
Großwesirs   stattgefunden.     Um    russisches    Mißtrauen   nicht    zu   erregen,    hatte 
ich  Lepsius  mit  Mandelstam  zusammengeführt." 
•*  Zifferngruppe  fehlt. 


132 


Nr.  15  378 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  251  St.  Petersburg,  den  22.  August  1913 

Von  dem  mir  unter  Nr.  990  geneigtest  mitgeteilten  Bericht  des 
Kaiserlichen  Botschafters  in  Konstantinopel  vom  1.  d.  Mts.  *  habe  ich 
mit  Interesse  Kenntnis  genommen.  Jeder,  der  mit  der  russischen  Ge- 
schichte und  der  russischen  Politik  der  letzten  zwei  Jahrhunderte 
einigermaßen  vertraut  ist,  wird  den  Betrachtungen  des  Freiherrn  von 
Wangenheim  über  die  traditionellen  Ziele  und  Wünsche  Rußlands 
ohne  weiteres  zustimmen  können.  Es  ist  eine  allgemein  bekannte  Tat- 
sache, daß  der  Drang  nach  Expansion  eine  in  dem  russischen  Volks- 
charakter begründete  Eigenschaft  ist,  welche  auch  in  der  russischen 
Politik  immer  wieder  zum  Ausdruck  gelangt.  Ein  geistreicher  russischer 
Staatsmann  verglich  einmal  mir  gegenüber  die  Tendenzen  der  tradi- 
tionellen russischen  Politik  mit  dem  Bestreben  des  russischen  Bauern, 
immer  mehr  Land  zu  bekommen,  obgleich  er  schon  das  Land,  das 
er  besitze,  nicht  ordentlich  bearbeite  und  bearbeiten  könne.  „Wir  ver- 
stehen es  eben  nicht,  intensiv  zu  wirtschaften.  Anstatt  die  unermeß- 
lichen Schätze  zu  heben,  über  welche  Rußland  in  seinem  Innern  ver- 
fügt, ist  unser  Auge  immer  auf  die  Peripherie  gerichtet." 

Man  wird  aber  billigerweise  auch  zugeben  müssen,  daß  der  Drang 
Rußlands  nach  dem  offenen  Meer  und  der  Wunsch,  in  den  Besitz  eis- 
freier Häfen  zu  gelangen,  der  Berechtigung  nicht  ganz  entbehren. 

Ich  darf  gehorsamst  daran  erinnern,  daß  ich  diese  Gesichtspunkte 
in  meiner  Berichterstattung  stets  hervorgehoben  habe.  Auch  im  Ver- 
laufe der  jüngsten  Krisis  habe  ich  wiederholt  die  Überzeugung  ausge- 
sprochen, daß  die  russische  Politik  ihre  alten  Ideale  keineswegs  auf- 
gegeben hat,  daß  vielmehr  der  Erwerb  von  Konstantinopel  und  die 
Besitzergreifung  der  Meerengen  nach  wie  vor  das  Ziel  bildet,  dessen 
einstige  Erreichung  wohl  die  meisten  Russen  ihrem  Vaterlande 
wünschen. 

Zugleich  aber  habe  ich  mir  wiederholt  gestattet,  die  Ansicht  zu 
äußern,  welche  ich  auch  heute  in  vollem  Umfange  aufrecht  erhalte, 
daß  Rußland  jetzt  die  Meerengenfrage  nicht  aufzurollen  beabsichtigt 
und  auch  nicht  nach  einem  Vorwande  sucht,  um  in  die  armenischen 
Wilajets  einzurücken. 

Ich  glaube  auch  nicht,  daß  Herr  Sasonow,  der  übrigens  noch  lange 
russischer  Minister  des  Äußern  bleiben  kann,  der  einzige  Vertreter 
dieser  Ansicht  ist.   Gewiß  ist  es  möglich,  daß  im  Falle  seines  baldigen 


*  Siehe  Nr.   15  372. 

133 


Rücktritts  ein  abenteuerlustiger  Minister  an  seine  Stelle  tritt  und  dieser 
die  traditionelle  Expansionspolitik  wiederaufnimmt.  Die  Wahrscheinlich- 
keit aber  spricht  im  gegenwärtigen  Augenblicke  nicht  dafür.  Ich 
möchte  viel  eher  glauben,  daß  von  denjenigen  Persönlichkeiten,  welche 
in  den  nächsten  Jahren  Aussicht  haben,  hier  in  leitende  Stellungen  zu 
gelangen,  die  meisten  die  Ansichten  des  Herrn  Sasonow  teilen,  daß 
nämlich  Rußland  aus  militärischen  und  finanziellen  Gründen  sowie 
aus  Gründen  der  inneren  Politik  eine  längere  Zeit  der  Ruhe  dringend 
braucht. 

Noch  bei  der  letzten  Unterredung,  die  ich  mit  Herrn  Sasonow 
hatte,  versicherte  mir  der  Minister,  daß  bei  allen  maßgebenden 
hiesigen  Kreisen  sowohl  aus  militärischen  wie  aus  innerpolitischen 
Gründen  eine  ausgesprochene  Abneigung  gegen  die  Annexion  von  Ge- 
bieten mit  armenischer  Bevölkerung  bestehe. 


F.  Pourtales 


Nr.  15  379 


Promemorla 

Reinschrift 

Vom  russischen  Geschäftsträger  in  Berlin  Bronewsky  am  30.  August  1913 

dem   Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm   überreicht 

Berlin,  16/29  Aoüt  1913 

II  y  a  plus  d'un  mois  que  la  Commission  des  Reformes  Arme- 
niennes,  composee  des  Delegues  des  Ambassades  des  Grandes  Puis- 
sances  ä  Constantinople  a  acheve  ses  travaux. 

II  est  ä  regretter  que  les  deux  principaux  articles  de  l'avant-projet 
russe  —  la  formation  d'une  seule  province  armenienne  et  la  nomination 
du  Gouverneur  General  avec  l'assentiment  des  Grandes  Puissances  — 
n'aient  pas  reuni  l'unanimite  des  Delegues;  malgre  les  arguments 
tant  historiques  que  pratiques  mis  en  avant  par  le  Delegue  Russe  et 
militant  en  faveur  de  la  reunion  des  six  vilayets  armeniens  en  une  seule 
province,  les  Delegues  Allemand,  Autrichien  et  Italien  se  sont  ranges 
au  projet  turc,  divisant  le  pays  en  six  secteurs  avec,  ä  la  lete,  six  valis 
soumis  eux-memes  ä  deux  Inspecteurs,  nommes  sans  le  consentement 
des  Puissances. 

Le  Gouvernement  Imperial  estime  qu'ecarter  l'assentiment  des 
Puissances  ä  la  nomination  du  Gouverneur  General  equivaudrait  ä 
renoncer  ä  l'ceuvre  meme  des  reformes,  car  cet  element  est,  selon  lui, 
essentiel  comme  la  seule  garantie  efficace  des  reformes. 

Quan*  ä  la  formation  d'une  seule  province  armenienne,  eile  a  ete 
envisagee  tant  par  le  Traite  de  Berlin  que  par  le  decret  de  la  Sublime 
Porte  de  1895  et  ne  presente  donc  —  comme  principe  —  aucun 
caractere  d'innovation  dangereuse. 

134 


Nr.  15  380 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  262  Therapia,  den  27.  August  1913 

Den  Vorschlag,  den  Marquis  di  San  Giuliano  in  der  armenischen 
Reformfrage  dem  Wiener  Kabinett  gemacht  hat*,  vermag  ich  weder 
nach  seinem  Inhalte  noch  nach  dem  Zeitpunkt,  der  dafür  gewählt  ist, 
als  glücklich  zu  bezeichnen. 

Inhaltlich  läßt  er  eine  Reihe  von  Forderungen  unberücksichtigt, 
welche,  wie  die  Vorbesprechung  der  hiesigen  Botschaftsdelegierten 
ergeben  hat,  von  allen  Mächten  übereinstimmend  als  notwendig  an- 
gesehen werden,  und  gegen  die  seitens  der  Pforte  voraussichtlich 
keinerlei  Widerstand  erhoben  werden  dürfte,  wie  Gleichberechtigung 
der  drei  Hauptsprachen,  Freiheit  der  Schulgründung,  Versuch  der 
Lösung  der  Agrarfrage  usw.  Das  Fallenlassen  dieser  berechtigten  und 
zum  Teil  leicht  erfüllbaren  Forderungen  würde  in  allen  armenischen 
Kreisen  zweifellos  eine  gewaltige  Enttäuschung  hervorrufen  und  die- 
selben unfehlbar  in  die  Arme  Rußlands  treiben  als  derjenigen  Macht, 
von  der  sie  die  weitgehendste  Vertretung  ihrer  Wünsche  glauben  er- 
warten zu  dürfen. 

Der  Zeitpunkt  der  italienischen  Anregung  scheint  mir  deshalb 
schlecht  gewählt,  weil  bisher  noch  nicht  feststeht,  ob  der  in  der 
7.  Sitzung  der  Armenierkommission  von  deutscher  und  österreichischer 
Seite  gemachte  Vorschlag**,  dem  sich  auch  der  italienische  Delegierte 
angeschlossen  hatte,  von  den  übrigen  Mächten  angenommen  werden 
wird  oder  nicht. 

Auch  aus  allgemeinen  Gesichtspunkten  dürfte  eine  italienische 
Initiative  in  der  armenischen  Frage  kaum  in  unserem  Interesse  liegen. 
Deutschland  und  Rußland  sind  die  einzigen  Mächte,  die  ein  unmittel- 
bares Interesse  an  der  Beruhigung  Armeniens  haben.  Die  natürliche 
Entwickelung  muß  uns  daher  darauf  hinweisen,  uns  in  dieser  Frage 
die  Führung  nicht  durch  andere,  weniger  interessierte  Staaten  aus  der 
Hand  nehmen  zu  lassen,  sondern  zu  versuchen,  mit  Rußland  möglichst 
zu  einer  Verständigung  über  ein  gemeinsames  Programm  zu  gelangen. 

Von  diesem  Gedanken  ausgehend,  bin  ich  zurzeit  bestrebt,  im 
Anschluß  an  die  stattgehabten  Vorbesprechungen  der  Botschaftsdele- 
gierten und  unter  Zugrundelegung  der  von  diesen  geltend  gemachten 
Gesichtspunkte  mit  meinem  hiesigen  russischen  Kollegen  eine  mittlere 


*  Vgl.   Nr.    15  374. 

**  Vgl.  Nr.  15  369,  Anlage. 


135 


Linie   zu   finden    zwischen    dem   ursprünglichen    russischen    Entwürfe 
und  dem   von   den   Dreibunddelegierten   gemachten  Gegenvorschlage. 

Nach  den  bisherigen  Besprechungen  hat  es  den  Anschein,  als  ob 
Rußland  sich  dazu  verstehen  würde,  den  Gedanken  einer  einzigen,  ganz 
Armenien  umfassenden  Reformzone  fallen  zu  lassen  und  in  eine  Teilung 
in  einen  nördlichen  und  einen  südlichen  Sektor  zu  willigen.  Als 
Gegenleistung  könnten  wir  dem  russischen  Standpunkte  vielleicht  in 
der  Frage  der  proportionellen  Volksvertretung  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  entgegenkommen. 

Ich  hoffe,  auf  diese  Weise  zu  einem  gemeinsamen  deutsch-russi- 
schen Programm  zu  kommen,  das  voraussichtlich  auch  bei  den  übrigen 
Mächten  gute  Aufnahme  finden  würde.  Sobald  die  Vorbesprechungen 
hierüber,  die  zunächst  den  Charakter  eines  rein  persönlichen  Gedanken- 
austausches tragen,  beendet  sind,  werde  ich  nicht  verfehlen,  Euerer 
Exzellenz  darüber  zu  berichten. 

Wangenheim 

Nr.  15  381 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  494  Therapia,  den  30.  August  1913 

Sprache  des  russischen  Botschafters  und  der  Umstand,  daß  nach 
mehrwöchiger  Pause  den  Botschaftern  wieder  täglich  Bulletins  des 
armenischen  Patriarchats  über  angebliche  türkische  Grausamkeiten  zu- 
gehen, weisen  darauf  hin,  daß  Rußland  die  armenische  Frage  mit 
erhöhtem  Nachdruck  betreiben  will,  um  angesichts  seiner  voraus- 
sichtlichen Niederlage  in  der  Adrianopelfrage  *  sich  wenigstens  einen 
Erfolg  bezüglich  Armeniens  zu  sichern. 

Bei  den  unverbindlichen  Besprechungen  zwischen  Schönberg  und 
Mandelstam  hat  letzterer  als  einzige  eventuelle  Konzession  einen  Ver- 
zicht Rußlands  auf  ein  einheitliches  Armenien  angeboten,  besteht  aber 
auf  Beseitigung  der  Wilajets,  auf  Generalinspekteure,  die  mit  Zu- 
stimmung der  Mächte  ernannt  werden  sollen,  und  auf  Beamten- 
ernennungsrecht der  Generalinspekteure. 

Diese  drei  Punkte  bedeuten  einen  so  starken  Eingriff  in  die  tür- 
kischen Souveränitätsrechte,  daß  auf  eine  Einigkeit  der  Mächte  darüber 
nicht  zu  rechnen  ist  und  noch  weniger  auf  die  türkische  Zustimmung. 
Die  russischen  Forderungen  sind  nur  erfüllbar,  wenn  alle  Mächte  ent- 
schlossen sind,  diese  Forderungen  nötigenfalls  unter  Anwendung  von  Ge- 
walt durchzusetzen.  Würden  wir  uns  an  das  russische  Programm  binden, 


•  Vgl.  dazu  Bd.  XXXVI,  Kap.  CCLXXVII. 
136 


so  wäre  mit  Sicherheit  zu  erwarten,  daß  andere  Mächte,  zum  Beispiel 
Italien,  vorher  abschwenken  und  uns  das  Odium  überlassen  würden. 
Ein  weiteres  Eingehen  auf  die  russischen  Pläne  würde  daher  nur  unter 
der  Voraussetzung  erfolgen  können,  daß  wir  vorher  die  Mächte  ver- 
ständigten, wir  würden  uns  an  einem  Druck  gegen  die  Türkei  nicht 
beteiligen. 

Ich  habe  heute  die  Lage  mit  Großwesir  besprochen  und  ihn  auf 
die  Forderungen  aufmerksam  gemacht,  mit  denen  die  Mächte  eventuell 
an  die  Pforte  herantreten  könnten.  Es  liege  im  Interesse  Türkei,  dem 
Schritt  der  Mächte  zuvorzukommen  und  aus  eigener  Initiative  Reformen 
einzuführen,  die  in  ihren  Hauptlinien  den  Wünschen  Europas  ent- 
sprächen. Die  Pforte  könne  dabei,  ohne  sich  selbst  etwas  zu  vergeben, 
sehr  weit  gehen,  jedenfalls  weiter  als  unter  dem  Druck  der  Mächte. 

Großwesir  erwiderte,  er  habe,  meinen  früheren  Ratschlägen 
folgend,  schon  vor  längerer  Zeit  Verhandlungen  mit  den  Armeniern 
eröffnet  und  hoffe  bestimmt,  mit  ihnen  zu  einer  direkten  Verständigung 
zu  gelangen.  Einem  Versuch  der  Mächte,  sich  in  die  inneren  ...  * 
der  Türkei  einzumischen,  werde  er  den  äußersten  Widerstand  entgegen- 
setzen. Veränderung  der  Zoneneinteilung,  von  den  Mächten  bestellten 
Oberkommissar  etc.  werde  er  in  jedem  Falle  auch  einem  geschlossenen 
Europa  gegenüber  ablehnen,  da  die  Zulassung  derartiger  Eingriffe 
das  Ende  der  Türkei  bedeuten  würde.  Die  Einrichtung  der  Reformen 
sei  ausschließlich  Sache  der  Türkei;  das  Recht  der  Mächte,  die  Aus- 
führung der  Reformen  zu  kontrollieren,  erkenne  er  an  und  werde  dar- 
über mit  sich  reden  lassen. 

Wangenh  eim 


Nr.  15  382 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 
Nr.  834  Berlin,  den  1.  September  1913 

Auf  den  Bericht  Nr.  262  vom  27.  v.  Mts.** 

Der  russische  Geschäftsträger  hat  hier  am  30.  v.  Mts.  das  in 
Abschrift  anliegende  Promemoria  zur  armenischen  Frage***  überreicht 
und  mündlich  hinzugefügt,  Herrn  Sasonow  schwebe  als  Kompromiß 
vor:     Einteilung    Armeniens    in    zwei    Sektoren    mit   je    einem    von 

*  Zifferngruppe  fehlt. 
••  Siehe  Nr.   15  380. 
•••  Siehe  Nr.    15  379. 

137 


der  Pforte  mit  Zustimmung  der  Mächte  einzusetzenden,  mit  dem 
Recht  der  Beamtenernennung  auszurüstenden  Generalgouverneur  an 
der  Spitze.  Dabei  müsse  vermieden  werden,  daß  die  Türkei  den 
beiden  Sektoren  vorwiegend  von  Mohammedanern  bevölkerte  Ge- 
biete zuschlage,  um  die  Armenier  in  die  Minorität  zu  versetzen. 
Ew.  pp.  bitte  ich,  sich  zu  dem  russischen  Vorschlag  tunlichst 
umgehend   telegraphisch   äußern   zu   wollen. 

J  a  g  o  w 


Nr.  15  383 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  515  Konstantinopel,  den  8.  September  1913 

Antwort  auf  Telegramm   Nr.  308*. 

Die  Verhandlungen  zwischen  Schönberg  und  Mandelstam  sind 
vorläufig  ins  Stocken  gekommen,  weil  Rußland  nur  in  einem  einzigen 
Punkt  nachgegeben  hat,  indem  es  die  Forderung  einer  einheitlichen 
armenischen  Provinz  fallen  ließ.  Mandelstam  verlangt  aber  dagegen, 
daß  die  Terraineinteilung  in  eine  nördliche  und  eine  südliche  Zone 
umgeworfen  und  daß  statt  dessen  ein  Ost-  und  Westsektor  geschaffen 
würde.  Die  Grenze  zwischen  beiden  soll  eine  Linie  sein,  die  von  der 
Küste  des  Schwarzen  Meeres  zwischen  Kerasonda  und  Tireboli  direkt 
nach  Süden  verläuft.  Der  leicht  zu  durchschauende  .  .  .  **  Rußlands 
ist,  zunächst  einen  östlichen,  ausschließlich  unter  russischem  Einfluß 
stehenden  Sektor  zu  schaffen  und  damit  uns  aus  dem  Gebiet  von  Diar- 
bekr  auszuschließen.  Da  unser  Interesse  die  Beibehaltung  der  tür- 
kischen Präfekturen  erheischt,  deren  gemeinsame  Grenzlinie  ungefähr 
als  die  nördliche  Grenze  unserer  Arbeitszone  .  .  .  **  kann,  hat  Schön- 
berg den  Mandelstamschen  Vorschlag  nicht  akzeptieren  können. 

Ursache***  der  russischen  Forderung,  daß  die  zwei  Generalgouver- 
neure mit  Zustimmung  der  Mächte  ernannt  werden,  könnte  zur  Folge 
haben,  daß  beide  Posten  Russen  oder  von  Rußland  abhängigen  Klein- 


*  Telegramm  Nr.  308  vom  7.  September  brachte  die  Rückäußerung  auf  Erlaß 
Nr.  834  (siehe  Nr.  15  382)  in  Eünnerung;  weiterhin  erbat  es  Nachricht  dar- 
über, welchen  Erfolg  die  von  Freiherrn  von  Wangenheim  im  Bericht  vom 
27.  August  —  siehe  Nr.  15  380  —  gemeldeten  Bemühungen  gehabt  hätten,  ge- 
meinsam mit  dem  russischen  Botschafter  eine  mittlere  Linie  zwischen  dem 
Mandelstamschen  Projekte  und  dem  Gegenprojekte  der  Dreibundmächte  zu 
finden. 

**  Zifferngruppe  fehlt. 
***  Statt  „Ursache"  ist  wohl  zu  lesen   „Ausführung". 

138 


staatlern  wie  in  Persien  übertragen  werden.  Herr  von  Giers  hat  die 
hiesigen  Verhandlungen  mit  der  Erklärung  eingeleitet,  daß  er  vorzugs- 
weise die  Führung  in  der  Angelegenheit  für  sich  beanspruche.  Dringt 
er  mit  seinem  Programm  durch,  so  wird  ihm  auch  in  der  Personen- 
frage so  leicht  keine  Macht  entgegentreten. 

Das  Resultat  wäre  die  Schaffung  einer  tatsächlichen  Herrschaft 
Rußlands  über  Gebiete,  die  teilweise  zu  unserer  Arbeitszone  gehören. 
Unserer  öffentlichen  Meinung  gegenüber  wäre  es  kaum  vertretbar, 
wenn  wir  unsere  Kraft  zur  Kreierung  einer  russischen  Interessensphäre 
einsetzten  und  damit  zu  einer  einseitigen  Lösung  des  Teilungsproblems 
beitrügen.  Ein  besonderes  Regime  für  Cilicien,  wie  es  Rußland  an- 
bietet, würde  unsere  Ansprüche  nicht  annähernd  befriedigen. 

Meinen  früheren  Ausführungen  über  das  Beamtenernennungsrecht 
der  Generalgouverneure  habe  ich  nichts  hinzuzufügen. 

Von  meinen  Kollegen  spricht  sich  der  Österreicher  entschieden 
gegen  jede  Konzession  an  das  russische  Programm  aus.  Italienischer 
Botschafter  teilt  vollkommen  meine  Auffassung.  Herr  Bompard  be- 
zeichnete mir  gestern  das  ganze  Projekt  als  absurd,  fügte  aber  hinzu, 
daß  seine  Regierung  durch  Bündnisrücksichten  gebunden  sei  und 
irgendeine  Verständigung  wünsche.  Aus  den  Worten  Bompards  konnte 
ich  die  Befriedigung  heraushören,  daß  Frankreich  die  Bekämpfung  des 
Projekts  durch  andere  Mächte  abgenommen  wird.  Englischer  Geschäfts- 
träger ist  für  das  russische  Projekt,  was  nicht  in  Einklang  zu  bringen  ist 
mit  den  hier  bekannt  gewordenen  Äußerungen  Sir  E.  Greys. 

Soweit  ich  aus  der  Haltung  meiner  Kollegen  schließen  kann,  wird 
sich  weder  eine  Einigung  der  Mächte  über  das  russische  Projekt  noch 
über  etwaige  Zwangsmaßregeln  gegen  die  Türkei  erzielen  lassen. 
Ganz  bestimmt  und  in  jedem  Falle  wird  der  Vorschlag  der  Mächte  von 
der  Pforte  abgelehnt  werden.  Großwesir  hat  darüber  erst  heute  un- 
zweideutige Erklärungen  auch  anderen  Botschaftern  abgegeben.  Wenn 
wir  uns  also  dem  russischen  Vorgehen  anschließen,  so  müssen  wir 
darauf  gefaßt  sein,  das  Projekt  Mandelstam  eventuell  auch  gegen  unsere 
Bundesgenossen  mit  Gewalt  hier  vertreten  oder  wenigstens  einem 
Einmarsch  der  Russen  in  Armenien  zustimmen  zu  müssen. 

Rußland  sind  von  uns  während  der  bisherigen  Beratungen  die 
weitgehendsten  Konzessionen  gemacht  worden.  Ich  bin  dabei  im 
Interesse  unserer  Beziehungen  zu  Rußland  so  weit  gegangen,  als  ich 
es  mit  den  mir  anvertrauten  Interessen  nur  irgend  vereinbaren  konnte. 
Rußland  hat  aber  an  seinem  ausschließlich  russischen  Interessen  dienen- 
den und  die  Türkei  ebenso  wie  die  deutsche  Stellung  hier  schwer  be- 
drohenden Programm  keinen  wesentlichen  Punkt  geändert.  Meine  Be- 
mühungen, die  Armenier  und  die  Türken  zusammenzuführen,  werden 
dadurch  erschwert,  daß  Herr  von  Giers  den  Armeniern  ihr  im  Jahre 
1908  mit  Rußland  geschlossenes  Abkommen,  welches  die  Regelung 
der  armenischen   Frage  in   die   Hände   Rußlands   legt,  ins  Gedächtnis 

139 


gerufen  hat  und  ihnen  gedroht  hat,  Rußland  werde  sich  für  einen 
Abfall  an  den  russischen  Armeniern  rächen. 

Aus  alledem  habe  ich  den  bestimmten  Eindruck  gewonnen, 
daß  Rußland  entweder  die  armenische  Frage  in  spezifisch  russischem 
Sinne  lösen  oder  die  Reformen  zum  Scheitern  bringen  will. 

Gegenwärtig  ist  Rußland  bemüht,  uns  vorzuschieben.  Herr  von 
Giers  sagt  mir,  daß,  wenn  Deutschland  und  Rußland  einig  wären, 
die  Bundesgenossen  folgen  müßten.  —  Ich  halte  aber  eine  entscheidende 
Erklärung  Deutschlands,  bevor  die  anderen  Mächte  gesprochen  haben, 
für  höchst  bedenklich.  Lehnen  wir  ab,  so  wird  Rußland  uns  den 
Armeniern  gegenüber  als  das  Hindernis  ihrer  Bestrebungen  hin- 
stellen. Stimmen  wir  zu,  so  werden  Herr  von  Giers  und  auch  andere 
Kollegen  schon  am  nächsten  Tage  in  den  türkischen  Zeitungen  ver- 
kündigen lassen,  daß  Deutschland  sich  von  der  Türkei  abgewandt 
habe.  Mir  scheint  es  daher  dringend  geboten,  die  russische  Anfrage  in 
dem  von  mir  vorgeschlagenen  Sinne  zu  beantworten,  mindestens  aber 
über  die  Antwort  und  die  daraus  sich  ergebenden  weittragenden  Kon- 
sequenzen mit  unseren  Bundesgenossen  uns  zu  verständigen.  Was 
Österreich  und  Italien,  die  an  dem  Fortbestehen  der  Türkei  mehr  in- 
teressiert sind  als  wir,  annehmen,  können  auch  wir  akzeptieren. 

Wangenh  eim 

Nr.  15  384 
Promemorla 

Dem    russischen    Geschäftsträger   in    Berlin    Bronewsky   vom    Auswärtigen  Amt 

übersandt 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 

Berlin,  le  10  septembre  1913 

Dans  un  Promemoria  en  date  du  29  aoüt  er.*,  TAmbassade  Im- 
periale de  Russie  a  constate  avec  regret  le  resultat  negatif  des  travaux 
de  la  Commission  des  Reformes  Armeniennes  reunie  ä  Constantinople. 

Le  Gouvernement  Imperial,  d'aecord  avec  le  Gouvernement  Im- 
perial de  Russie  dans  le  desir  de  voir  ameliorer  la  Situation  en  Armenie, 
est  cependant  d'avis  que,  malgre  les  divergences  des  vues  qui  se  sont 
fait  sentir,  il  devrait  etre  possible  de  trouver  une  Solution  satisfaisante 
pour  les  Puissances  et  acceptable  pour  la  Turquie. 

Plusieurs  points  importants  du  projet  russe  peuvent  dejä  etre 
consideres  comme  acquis.  Si,  sur  d'autres  points,  non  moins  interes- 
sants  sans  doute,  mais  dont  Pacceptation,  selon  nous,  ne  devrait 
pas  etre  consideree  comme  condition  „sine  qua  non",  une  partie  des 


•  Siehe   Nr.    15  379. 
140 


delegues  a  cru  devoir  s'eloigner  des  propositions  russes,  la  consi- 
deration  en  a  ete  responsable  que  ces  propositions  ne  trouveraient 
pas  le  consentement  de  la  Sublime  Porte.  D'apres  les  informations 
arrivees  de  Constantinople,  ce  prognostic  ne  manque  pas  de  fondement. 
Or,  le  Gouvernement  Imperial  ne  voit  pas  de  moyen  et  ne  croit  pas 
opportun  d'imposer  ä  la  Turquie  une  Solution  qu'elle  n'accepterait  pas 
de  bon  gre. 

Dans  ces  circonstances,  le  Gouvernement  Imperial  pense  que  la 
Commission  devrait  reprendre  ses  travaux  sur  la  base  du  projet  turc. 
Le  Gouvernement  Imperial  croit  savoir  que  le  Gouvernement  Ottoman, 
anime  des  meilleures  dispositions,  ne  se  refusera  pas  ä  introduire  dans 
son  projet  des  amendements,  surtout  ceux  repondant  aux  propositions 
russes  qui  ont  reuni  Funanimite  de  la  Commission,  et  qu'il  admettra 
le  principe  d'un  contröle  efficace  des  reformes  par  les  Puissances.  Le 
Gouvernement  Imperial  ne  doute  pas  qu'en  adoptant  le  procede,  les 
Puissances  ne  reussissent  ä  tomber  d'accord  avec  la  Turquie  sur  un 
ensemble  de  reformes  repondant  aux  besoins  du  moment  et  qui,  avec 
le  temps,  pourra  etre  complete  et  perfectionne. 

Nr.  15  385 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

von  Rosenberg* 

Reinschrift 

Berlin,  den  10.  September  1913 

Wir  haben  seinerzeit  die  russische  Initiative  in  der  armenischen 
Reformfrage  schon  deshalb  freudig  begrüßt,  weil  auch  wir  selbst  von 
der  Notwendigkeit  überzeugt  waren,  daß  zur  Erzielung  geordneter 
Verhältnisse  in  dem  seit  Jahrzehnten  von  Unruhen  heimgesuchten 
Gebiet  etwas  geschehen  müsse.  Die  russische  Initiative  hat  auch  bereits 
das  glückliche  Ergebnis  gezeitigt,  der  Türkei  die  Notwendigkeit  von 
Reformen  vor  Augen  zu  rücken  und  sie  zur  Ausarbeitung  eines  eigenen 
Reformprojekts  zu  veranlassen.  Wir  sind  überzeugt,  daß  die  Be- 
sprechungen in  Konstantinopel  bei  Zugrundelegung  des  türkischen 
Projekts  durchaus  brauchbare  Vorschläge  zu  Tage  fördern  werden.  Man 
sollte  sich  jedoch  davor  hüten,  einer  vielleicht  radikaleren,  aber  für 
den  Augenblick  bei  der  Pforte  nicht  durchzusetzenden  Lösung  zuliebe 
die  schon  jetzt  erreichbaren  Vorteile  zu  gefährden. 

Was  die  Einzelheiten  anlangt,  so  ist  uns  grundsätzlich  jede  Lösung 
recht,  die  den  Armeniern  hilft  und  gleichzeitig  Aussicht  hat,  ohne  An- 


•  Die  Aufzeichnung  war  nach  einer  Notiz  Rosenbergs  zur  mündlichen  Verwertung 
gegenüber  dem  russischen  Geschäftsträger  gelegentlich  der  Besprechung  des 
Promemorias   vom    10.    (siehe   Nr.    15  384)    bestimmt. 

141 


wendung  anderer  Mittel  als  gütlichen  Zuredens  von  der  Pforte  ange- 
nommen zu  werden.  Ob  der  mündlich  mitgeteilte  Kompromißvorschlag 
des  Herrn  Sasonow  die  letztere  Bedingung  erfüllt,  erscheint  uns 
zweifelhaft.  Die  Pforte  will  sich  in  die  Frage  der  Einteilung 
der  asiatischen  Verwaltungsbezirke  nicht  hineinreden  lassen,  da 
sie  dies  nicht  mit  Unrecht  als  einen  Eingriff  in  ihre  Sou- 
veränitätsrechte betrachtet.  Uns  scheint  die  Frage,  ob  zwei,  drei  oder 
noch  mehr  Verwaltungszonen  geschaffen  werden,  gegenüber  der  Not- 
wendigkeit, daß  es  überhaupt  zu  Reformen  kommt,  von  untergeordneter 
Bedeutung.  Ähnliches  gilt  für  den  Modus  der  Ernennung  der 
Generalgouverneure.  Die  Hauptsache  ist,  daß  von  der  Pforte 
geeignete  Männer  gewählt  werden.  Dies  dürfte  sich  aber  auch  auf 
andere  Weise  erreichen  lassen  als  dadurch,  daß  die  Pforte  in  jedem 
Einzelfall  an  die  Zustimmung  der  Mächte  gebunden  ist.  Man  könnte 
zum  Beispiel  der  Pforte  grundsätzlich  und  ein  für  allemal  das  Versprechen 
abnehmen,  daß  als  Generalgouverneure  nur  Männer  von  bestimmten, 
vorher  zu  vereinbarenden  Eigenschaften  eingesetzt  werden  sollen.  Uns 
scheint  zum  Beispiel  erwünscht,  daß  nur  solche  türkische  Staatsmänner 
gewählt  werden,  die  sich  zur  christlichen  Religion  bekennen.  Die  den 
Generalgouverneuren  von  Rußland  zugedachte  Befugnis  der  Be- 
amtenernennung wird  von  der  Pforte  deshalb  perhorresziert,  weil 
sie  den  Einfluß  der  Zentralregierung  für  jedermann  erkennbar  in  einer 
mit  der  Souveränität  der  Pforte  nicht  zu  vereinbarenden  Weise  lahm- 
legen würde.  Der  Hinweis  auf  das  Libanonreglement,  das  den  Gou- 
verneur gleichfalls  zur  Ernennung  von  Beamten  und  Richtern  er- 
mächtigt, scheint  uns  nicht  durchschlagend.  Abgesehen  davon,  daß 
Armenien  etwa  achtzigmal  größer  ist  als  die  Libanonprovinz,  und  daß 
die  dort  bestehenden  Einrichtungen  nicht  ohne  weiteres  auf  ein  so  viel 
größeres  Gebiet  übertragen  werden  können,  scheinen  uns  die  in  Libanon 
gemachten  Erfahrungen  keineswegs  zu  einer  Wiederholung  des  Ex- 
periments zu  ermutigen.  Jeder  Gouverneurwechsel  würde,  wie  dies  im 
Libanon  schon  jetzt  geschieht,  ein  allgemeines  Revirement  der  Beamten 
und  Richter  nach  sich  ziehen  und  die  in  einem  reformbedürftigen  Ge- 
biete doppelt  unentbehrliche  Kontinuität  in  Verwaltung  und  Recht- 
sprechung gefährden.  Das  einzig  Wesentliche  dürfte  auch  hier  sein, 
daß  geeignete  Leute  zu  Beamten  und  Richtern  ernannt  werden.  Dies 
sicherzustellen,  sollte  nach  unserer  Meinung  auch  dann  möglich  sein, 
wenn  das  Ernennungsrecht  bei  der  Pforte  verbleibt.  Die  Großmächte, 
die  das  Recht  der  Kontrolle  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  werden 
schon  auf  Grund  dieses  Kontrollrechtes  in  der  Lage  sein,  auf  die  Aus- 
wahl geeigneter  Persönlichkeiten  hinzuwirken. 

Wir  würden  es  im  Interesse  der  armenischen  Sache  lebhaft  be- 
dauern, wenn  Rußland  aus  seinen  der  Pforte  nicht  annehmbaren 
Spezialforderungen  eine  conditio  sine  qua  non  machen  und  so  das 
unter  seiner  dankenswerten  Initiative  begonnene  Werk  zum  Scheitern 

142 


bringen  würde.  Bisher  haben  in  Konstantinopel  nur  die  Delegierten 
der  Botschafter  verhandelt.  Vielleicht  würde  es  das  Zustandekommen 
einer  Einigung  erleichtern,  wenn  nunmehr  die  Botschafter  selbst  die 
Angelegenheit  in  die  Hand  nähmen. 

Rosenberg 


Nr.  15  386 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  535  Therapia,  den  15.  September  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  515*. 

Herr  von  Giers  hatte  mich  für  heute  um  eine  Zusammenkunft  zur 
Besprechung  der  armenischen  Frage  gebeten. 

Es  wurde  folgendes  Kompromiß  verabredet,  für  welches  Herr 
von  Giers  zunächst  die  Genehmigung  seiner  Regierung  nachsuchen 
wird: 

1.  Rußland  akzeptiert  äußerstenfalls  die  türkische  Zoneneinteilung. 

2.  Es  wird  versucht,  durch  freundliche  Verständigung  mit  dem 
Großwesir  dessen  Einverständnis  damit  zu  erreichen,  daß  die  General- 
inspekteure apres  une  entente  .  .  .**  amicale  avec  les  Puissances  vom 
Sultan  ernannt  werden. 

3.  Deutschland  akzeptiert  gleiche  Vertretung  der  Nationalitäten  an- 
statt Proportionalität. 

4.  Einrichtung  einer  besonderen  Kontrolle  ist  unnötig,  da  eine 
solche  auf  Grund  Artikels  61  ohne  weiteres  durch  Botschaften  und 
Konsulate  ausgeübt  werden  kann. 

5.  .  .  .  **  Verhandlungen  mit  Großwesir  werden  zunächst  getrennt 
durch  Hern  von  Giers  und  mich  geführt. 

Falls  Großwesir  wegen  Ernennung  der  Generalinspekteure  nach 
Benehmen  mit  den  Mächten  Schwierigkeiten  macht,  beabsichtigen  ich 
und  Herr  von  Giers  folgende  Lösung  zu  probieren:  Die  Pforte  wird  die 
Mächte  bitten,  geeignete  Generalgouverneure  auszuwählen,  vorbehalte 
sich  aber  ein  Einspruchsrecht. 

Da  nach  den  Reformgesetzen  die  Türkei  sowieso  die  Mächte  um 
Generalinspekteure  bitten  kann  und  wollte,  so  kann  sie  schließlich, 
ohne  sich  etwas  zu  vergeben,  sich  statt  an  einzelne  Mächte  an  die  Ge- 
samtheit derselben  wenden. 


Siehe  Nr.    15  383. 
*  Zifferngruppe  unverständlich. 


143 


Auf  meine  Bemerkung,  daß  Frankreich  mit  dem  Projekt  Mandel- 
stam  nicht  einverstanden  sei,  erwiderte  Herr  von  Giers:  „Gerade  des- 
halb wende  ich  mich  an  Sie." 

Wangenh  eim 

Nr.  15  387 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 
Nr.  319  Berlin,  den  16.  September  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  535*. 

Einverstanden.  In  Frage  Beamtenernennung  wäre  eintretenden- 
falls mittlere  Lösung  auf  folgender  Basis  denkbar:  Pforte  ernennt  höhere 
Beamten  nach  Anhörung,  mittlere  auf  Vorschlag  der  Generalr 
inspekteure,  untere  Beamte  werden  von  Generalinspekteuren  ernannt. 

Jagow 

Nr.  15  388 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky'** 

Konzept 

Nr.  1357  Berlin,  den  20.  September  1913 

Die  russische  Regierung,  die  in  unserem  Botschafter  in  Kon- 
stantinopel den  Hauptgegner  ihres  armenischen  Reformprojekts  zu 
vermuten  scheint,  hat  sich  unter  Hinweis  auf  ihr  vorliegende  be- 
unruhigende Nachrichten  aus  Armenien  mehrfach  hierher  gewandt, 
um  einen  Ausgleich  der  bei  den  Beratungen  in  Konstantinopel  zwischen 
Dreibund  und  Dreiverband  hervorgetretenen  Gegensätze  zu  versuchen. 
Zu  dem  gleichen  Zwecke  ist  kürzlich  Herr  von  Giers  mit  Baron 
Wangenheim  ins  Benehmen  getreten.  Das  Ergebnis  ist  aus  dem  ab- 
schriftlich anliegenden  Telegramm  unseres  Botschafters  vom  15.  d. 
Mts.  ***  ersichtlich.  Wir  halten  eine  baldige  Einigung  mit  dem  Peters- 
burger Kabinett  für  erwünscht,  da  dieses  in  der  Lage  ist,  die  Ereignisse 
in  Armenien  so  zu  beeinflussen,  daß  Rußland  als  Grenznachbar  einen 
Vorwand   zu   selbständigem    Vorgehen    erhält    und    das    Reformwerk 


•  Siehe  Nr.   15  386. 

•*  Der  gleiche   Erlaß   ging  unter   Nr.    1190   nach  Rom. 

•••  Vgl.  Nr.   15  386. 

144 


den  anderen  Mächten  aus  der  Hand  genommen  wird.  Falls  der  von 
Baron  Wangenheim  und  Herrn  von  Giers  vereinbarte  Kompromiß  in 
Petersburg  akzeptiert  wird,  dürfte  eine  Basis  gewonnen  sein,  auf  der 
sich  eine  für  alle  Beteiligten  annehmbare  Lösung  finden  läßt.  Der 
Hauptforderung  des  Dreibunds,  daß  die  türkische  Einteilung  Armeniens 
in  Sektoren  und  Wilajets  aufrechterhalten  bleiben  soll,  trägt  der  Kom- 
promiß Rechnung.  Eine  Mitwirkung  der  Mächte  bei  der  Ernennung  der 
Generalinspektoren  erscheint  an  und  für  sich  zweckmäßig,  da  auf 
diese  Weise  die  Auswahl  geeigneter  Persönlichkeiten  sichergestellt 
werden  kann.  Nur  wird  darauf  Bedacht  zu  nehmen  sein,  daß  diese 
Mitwirkung  in  eine  Form  gekleidet  wird,  welche  die  türkische  Emp- 
findlichkeit schont  und  die  Souveränität  der  Pforte  tunlichst  unbe- 
einträchtigt läßt.  Diesem  Erfordernis  dürfte  der  in  dem  Kompromiß 
vorgesehene  modus  procedendi  entsprechen. 

Ew.  pp.  bitte  ich,  vorstehendes  bei  der  dortigen  Regierung  ver- 
traulich zu  verwerten  und  deren  Ansicht  festzustellen. 

Jago  w 


Nr.  15  389 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  549  Therapia,  den  22.  September  1913 

Geheim 

Im  Anschluß  an  unsere  heutige  Unterredung  über  die  armenische 
Frage  führte  Herr  von  Giere  aus,  er  hoffe,  daß  unser  Zusammenarbeiten 
der  Ausgang  nicht  nur  einer  deutsch-russischen  Kooperation  zum 
Zweck  der  Erhaltung  der  Türkei  werden  möge.  Von  allen  Mächten 
sei  Rußland  am  meisten  an  dem  Fortbestand  der  Türkei  interessiert  (!), 
nächst  ihm  Deutschland,  welches  bei  der  Teilung  vor  schwieriges  Pro- 
blem gestellt  werde.  Ziel  der  deutsch-russischen  Politik  müsse  also 
sein:  Verhinderung  der  Teilung  und  Reform  zur  Verhütung  von  inneren 
Revolutionen.  Ausschließlich  letztere  Ziele  habe  die  armenische  Politik 
Rußlands  im  Auge.  Zur  Konsolidierung  der  türkischen  Herrschaft  sei 
es  erwünscht,  daß  die  Kleinasien  vorgelagerten  Inseln  türkisch  blieben  \ 
Leider  habe  man  die  Absicht  der  Mächte,  die  Inseln  den  Griechen  zu 
belassen,  zu  früh  in  Athen  bekannt  gegeben.  Der  griechische  Hoch- 
mut sei  grenzenlos;  die  Katastrophe  werde  über  Griechenland  be- 
stimmt einmal  hereinbrechen,  könne  aber  aufgehalten  werden,  wenn 
die  Hauptinseln  der  Türkei  verblieben.    Die  Wiedereroberung  der  In- 


•  Vgl.  dazu   Bd.  XXXVI,   Kap.  CCLXXVIII. 

10    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  145 


sein  sei  das  durchaus  berechtigte  Ziel  der  heutigen  türkischen  Politik, 
von  dem  keine  türkische  Regierung  ablassen  könne. 

Herr  von  Giers  beabsichtigt  mit  seiner  Sprache  zunächst  mein 
Vertrauen  für  unsere  gemeinsame  Aktion  zu  gewinnen.  Nebenbei 
spricht  aus  seinen  Worten  die  russische  Besorgnis  vor  deutscher  Fest- 
setzung in  Kleinasien  und  vor  der  griechischen  Konkurrenz  mit  Be- 
zug auf  den  Besitz  von  Konstantinopel. 

Wangenheim 


Nr.  15  390 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  550  Therapia,  den  22.  September  1913 

Ich  habe  mit  Herrn  von  Giers  in  der  Frage  der  armenischen  Re- 
formen als  gemeinsames  Endziel  folgendes  nähere  Programm  ver- 
einbart: 

„1.  La  Sublime  Porte  a  decide  de  s'adresser  aux  Puissances  pour 
leur  demander  de  lui  recommander  deux  inspecteurs  generaux  pour 
lesdeux  secteursde  l'Anatolie  Orientale:  a)  Erzeroum,  Trebizonde,  Sivas 
et  b)  Van,  Bitlis,  Carpoud,  Diarbekir,  avec  lesquels  eile  pourrait  con- 
clure  un  contrat  de  cinq  ans;  la  Sublime  Porte  manifeste  en  meme 
temps  sa  resolution  de  s'adresser  au  concours  des  puissances  toutes 
les  fois  oü  les  contrats  auraient  pris  fin. 

2.  La  Sublime  Porte  reconnait  ä  'ces  deux  inspecteurs  le  droit  de 
presenter  ä  la  nomination  du  gouvernement  de  Sa  Majeste  le  Sultan  les 
fonctionnaires  superieurs  et  les  juges,  de  nommer  les  autres  fonction- 
naires  ainsi  que  de  destituer  librement  sans  exception  aucune  tous  les 
fonctionnaires  de  leur  secteur. 

3.  II  y  aura  dans  chacun  des  deux  secteurs  une  assemblee  elective 
composee  par  la  moitie  de  musulmans  et  de  chretiens. 

4.  Ce  meme  principe  d'egalite  sera  applique  pour  la  repartition 
de  toutes  les  fonctions  dans  les  deux  secteurs. 

5.  La  Sublime  Porte  invite  les  Grandes  Puissances  ä  contröler  elles- 
memes  l'application  des  reformes  par  l'entremise  des  ambassadeurs  ä 
Cospoli  et  de  leurs  consuls  sur  les  lieux. 

6.  La  Sublime  Porte  se  propose  de  s'entendre  avec  les  puissances 
sur  les  autres  reformes  a  appliquer  dans  les  fdeux  secteurs  de  l'Anatolie 
Orientale." 

Hinsichtlich  der  taktischen  Durchführung  sind  wir  der  Meinung, 
daß  es  nicht  ratsam  erscheint,  der  Pforte  schon  jetzt  das  ganze  Pro 

146 


gramm  bekannt  zu  geben,  sondern  daß  das  Terrain  dafür  allmählich 
vorbereitet  werden  müsse. 

Wir  beabsichtigen  daher  zunächst,  den  Oroßvvesir  zu  veranlassen, 
die  Mächte  mittels  Note  um  Empfehlung  zweier  Generalinspekteure 
zu  bitten.  In  der  Antwortnote  könnten  dann  der  Pforte  die  übrigen 
Punkte  des  Programms  als  Wunsch  der  Mächte  mitgeteilt  werden. 
In  der  Zwischenzeit  müßte  Großwesir  von  uns  entsprechend  bearbeitet 
werden.  Oberster,  nunmehr  auch  von  Herrn  von  Giers  anerkannter 
Grundsatz  muß  bleiben,  daß  die  Pforte  zu  Annahme  des  Programms 
ohne  gewaltsamen  Druck  lediglich  durch  Überredung  veranlaßt  und 
daß  nur  auf  Durchführung  derjenigen  Punkte  bestanden  wird,  zu  denen 
die  Pforte  ihre  Zustimmung  gibt. 

Nur  unter  dieser  Voraussetzung  habe  ich  Punkt  3  des  Programms 
angenommen,  der  gegenüber  unserem  bisherigen  Reformplan  eine 
wesentliche  Neuerung  enthält  und  von  der  Pforte  voraussichtlich  ab- 
gelehnt werden  wird.  Herr  von  Giers  und  ich  sind  übereingekommen, 
uns  über  das  Ergebnis  unserer  künftigen  Besprechungen  mit  Groß- 
wesir gegenseitig  auf  dem  laufenden  zu  halten  *. 

Wangenheim 


Nr.  15  391 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  zu  Stolberg  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  292  Wien,  den  24.  September  1913 

Auf  Erlaß  Nr.  1357  vom  20.  d.  Mts.** 

Baron  Macchio,  bei  dem  ich  den  Inhalt  des  oben  bezeichneten  Er- 
lasses verwertet  habe,  sagt  mir,  der  österreichisch-ungarische  Ge- 
schäftsträger in  Berlin  sei  bereits  angewiesen  worden,  sich  über  die 
Ansicht  der  hiesigen  Regierung  dahin  auszusprechen,  daß  Österreich- 
Ungarn  an  sich  kein  direktes  Interesse  an  der  armenischen  Frage  habe, 
daß  es  aber  eine  Einigung  zwischen  Deutschland  und  Rußland  über 
diesen  Punkt  im  Interesse  des  allgemeinen  Friedens  lebhaft  begrüßen 
und  deshalb  mit  allem,  was  die  Kabinette  von  Berlin  und  St.  Peters- 
burg hierüber  vereinbaren,  einverstanden  sein  würde.  Sollte  es  sich 
bei  dem  Reformwerk  auch  um  Berufung  fremder  Sachverständiger,  Rat- 


•  Am  24.  September  wurde  das  obige  Telegramm  mittels  Erlaß  Nr.  1366  bzw. 
1199  nach  Wien  bzw.  Rom  mit  dem   Bemerken  mitgeteilt:  „Wir  sind  geneigt, 
uns  mit  den  in  Konstantinopel  vereinbarten  Richtlinien  einverstanden  zu  erklären, 
sofern  unsere  Verbündeten  gleichfalls  zustimmen." 
♦•  Siehe  Nr.   15  388. 

io«  147 


geber  oder  Beamten  handeln,  so  würde  die  österreichisch-ungarische 
Regierung  Wert  darauf  legen,  hierbei  nicht  übergangen  zu  werden. 

W.  Prz.  Stolberg 


Nr.  15  392 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  zu  Stolberg  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  205  Wien,  den  28.  September  1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Erlaß  vom  24.  September  Nr.  1366*. 

Hiesige  Regierung  erhebt  gegen  das  mitgeteilte  Projekt  keinen 
Einwand  und  ist  auch  bereit,  dasselbe  zu  unterstützen. 

Sie  legt  jedoch  Gewicht  darauf,  daß  im  Falle  der  Berufung  aus- 
ländischer Reformorgane  für  die  beiden  anatolischen  Sektoren  auch 
die  Heranziehung  eines  Angehörigen  der  Monarchie  in  Betracht  ge- 
zogen werde.  Sollte  für  die  Generalinspektorsstellen  kein  Angehöriger 
der  Monarchie  gewählt  werden,  so  müßte  sie  darauf  bestehen,  daß 
ein  solcher  für  die  gleichen  Funktionen  in  einem  der  anderen  Teile  des 
ottomanischen  Reiches  bestimmt  werde. 

Stolberg 

Nr.  15  393 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky 

Konzept   von    der    Hand   des    Vortragenden    Rats   von    Rosenberg 

Nr.  1390  Berlin,  den  30.  September  1913 

Angehörige  der  Großmächte  werden  als  Generalinspekteure  für  die 
beiden  anatolischen  Sektoren  voraussichtlich  nicht  in  Frage  kommen. 
England  hatte  sich  bekanntlich  im  Frühjahr  d.  Js.  auf  Wunsch  der 
Pforte  zur  Entsendung  von  Generalinspekteuren  für  Nord-  und  Ost- 
anatolien  bereit  erklärt,  mußte  dann  aber  seine  Zusage  wegen  russischer 
und  französischer  Empfindlichkeiten  zurückziehen.  Da  wohl  die  Kan- 
didatur jeder  anderen  Großmacht  gleichfalls  bei  einem  oder  mehreren 
Mitgliedern  des  Mächtekonzerts  auf  Widerstand  stoßen  würde  **,  dürfte 
die  Wahl  schließlich  auf  Angehörige  kleinerer  neutraler  Staaten  fallen. 


•  Vgl.  Nr.  15  390,  S.  147,  Fußnote  \ 

•*  Vgl.  dazu  das  Telegramm  des  russischen  Geschäftsträgers  in  Paris  Sewastopulo 

an   Neratow  vom   27.  September   (Der  Diplomatische  Schriftwechsel   Iswolskis, 

148 


Für  die  vier  nichtanatolischen  Sektoren  hat  die  Pforte  unseres 
Wissens  nicht  europäische,  sondern  türkische  Oeneralinspektoren  in 
Aussicht  genommen. 

Was  die  unteren  Reformorgane  für  Anatolien  anlangt,  so  fragt 
es  sich,  ob  nicht  auch  diese  sich  aus  Angehörigen  neutraler  Staaten 
rekrutieren  werden.  Sollten  Angehörige  der  Großmächte  hierfür  in 
Betracht  kommen,  so  werden  wir  gern  für  Berücksichtigung  Öster- 
reichs eintreten. 

Ew.  pp.  ersuche  ich  ergebenst,  vorstehendes  bei  Graf  Berchtold 
vertraulich  zu  verwerten. 

Jagow 


Nr.  15  394 

Der  Botschaf  ter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim, 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  575  Therapia,  den  29.  September  1913 

[pr.  30.  September] 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  550*. 

Großwesir  hat  erste  vorsichtige  Sondierung  nicht  ungünstig  auf- 
genommen und  namentlich  Punkt  1  als  diskutabel  bezeichnet.  Bei 
zweiter  Besprechung  äußerte  er,  er  hoffte,  eine  alle  Balkanstaaten 
befriedigende  Formel  zu  finden. 

Dagegen  sagte  mir  Dschawid,  er  glaube  nicht,  daß  seine  Partei 
eine  dauernde  Mitwirkung  der  Mächte  bei  der  Einsetzung  der  Ge- 
meralinspekteure   akzeptieren   werde. 

Herr  Bompard  bat  mich  gestern  um  nähere  Auskunft  über  die 
gemeinschaftliche  russisch-deutsche  Aktion,  die  ihm  zu  mißfallen  schien. 
Er  betont  Frankreichs  Interesse  an  der  Armenierfrage.  Ich  bezeichnete 
meinem  Kollegen  die  Erklärungen,  die  ihm  bereits  von  Herrn  von 
Giers  über  den  Charakter  der  gemeinsamen  Demarche  abgegeben 
waren,  als  zutreffend. 

Wangenheim 


1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  291),  wonach  es  im  französischen  Außenministe- 
rium als  sehr  lästig   betrachtet  wurde,   wenn   für  das   südliche  Gebiet   Klein- 
asiens ein  Deutscher  zum  Oeneralinspektor  ernannt  werden  sollte,  da  Frankreich 
gerade  dort  bedeutende  Eisenbahninteressen  habe. 
•  Siehe  Nr.  15  390. 


149 


Nr.  15  395 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  579  Therapia,  den  29.  September  1913 

[pr.  30.  September] 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  575*. 

Herr  Bompard  hat  heute  Großwesir  wegen  der  armenischen  Frage 
in  derselben  Weise  sondiert  wie  Herr  von  Giers  und  ich.  Said  Halim 
war  leicht  erstaunt  über  diesen  unerwarteten  Schritt,  welchen  er  auf 
französische  Eifersucht  zurückführt. 

Wangenheim 


Nr.  15  396 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  601  Konstantinopel,  den  14.  Oktober  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  579**. 

Bezüglich  des  deutsch-russischen  Projekts,  welches  dem  Groß- 
wesir kürzlich  überreicht  worden  war,  sagte  mir  dieser  heute,  daß 
auch  nach  diesem  Vorschlag  die  Generalinspektoren  als  Delegierte 
der  Mächte  erschienen,  an  welche  die  Türkei  gewisse  Souveränitäts- 
rechte abzutreten  habe.  Es  solle  eine  rein  politische,  nicht  aber  die 
administrative  Frage,  um  die  es  sich  bei  den  Reformen  ausschließlich 
handle,  aufgeworfen  werden.  Bei  einem  Konflikt  zwischen  General- 
inspektor und  Pforte  würden  sich  die  Mächte  oder  einzelne  derselben 
hinter  den  Generalinspektor  stellen.  Europa  wolle  sich  also  auf  Um- 
wegen das  Recht  der  Intervention  sichern.  Speziell  Rußland  beab- 
sichtige, im  Schafpelz  in  Armenien  einzuziehen,  um  später  dort  als 
Wolf  hausen  zu  können.  Da  die  Privilegierung  Armeniens  ähnliche 
Ansprüche  anderer  Provinzen  zur  Folge  haben  würde,  so  bedeute  sie 
den  Anfang  der  Aufteilung.  Nach  der  Auffassung  der  Pforte  und  seiner 
Partei  müßten  die  Generalinspektoren  türkische  Beamte  bleiben  und 
im  Falle  eines  Konflikts  von  der  Pforte  abgesetzt  werden  können.  Die 
Reformen  seien  eine  rein  türkische  Angelegenheit.  Die  Mächte  seien 
befugt,    die    Reformen   zu    kontrollieren,   nicht   aber  sie   kraft   eigenen 

•  Siehe  Nr.   15  394. 
•*  Siehe  Nr.   15  395. 

150 


Rechts  einzuführen.  Zum  erstenmal,  seitdem  das  türkische  Reich  be- 
stehe, habe  die  Pforte  den  ehrlichen  Willen  zu  erkennen  gegeben,  mit 
europäischer  Hilfe  zu  reformieren.  Anstatt  aber  die  während  des 
Balkankriegs  feierlich  zugesagte  Hilfe  zu  leisten,  hätten  die  Mächte 
aus  gegenseitiger  Eifersucht  bisher  nicht  erlaubt,  daß  fremde  Be- 
amte als  Reformer  angestellt  würden.  An  politischen  Gründen  solle 
also  das  Reformwerk  scheitern,  damit  Rußland  unter  der  Eskorte  der 
übrigen  Mächte  in  Armenien  festen  Fuß  fassen  könne.  Falls  die 
Mächte  unter  den  türkischen  Bedingungen  keine  Reformer  stellen 
wollten,  so  werde  er  sich  bemühen,  unter  Umgehung  der  Regierungen 
Reformer  zu  engagieren,  und  falls  auch  dieser  Versuch  mißlinge, 
türkische  Generalinspektoren  ernennen.  Während  der  Schneezeit  werde 
in  Armenien  sowieso  keine  Revolution  ausbrechen.  Bis  zum  Frühjahr 
hoffe  er  die  Reformen  bereits  so  weit  gefördert  zu  haben,  daß  jn 
Armenien  Ruhe  eintrete. 

Ich  habe  dem  Großwesir  erwidert,  es  berühre  mich  peinlich,  daß 
sein  anfängliches  Entgegenkommen  sich  nunmehr  in  das  Gegenteil 
verwandelt  zu  haben  schiene.  Wenn  ich  auch  nicht  bestreiten  wolle, 
daß  die  Ernennung  selbständiger  Generalinspektoren  der  Pforte  ge- 
wisse innere  Schwierigkeiten  bereiten  könne,  so  erschienen  mir  doch 
die  Gefahren  aus  einer  rein  negativen  Haltung  die  größeren.  Durch 
Deutschlands  Vermittlung  und  Eingreifen  sei  das  Projekt  Mandelstam 
auf  ein  Minimum  reduziert  worden.  Auf  letzteres  hätten  sich  aber 
sämtliche  Mächte  geeinigt,  so  daß  die  Türkei  jetzt  dem  geschlossenen 
Europa  gegenüberstehe.  Rußland  selbst  habe  sich  überraschend  konzi- 
liant erwiesen.  Aus  diesem  Entgegenkommen  und  der  türkischen  In- 
transigenz  könne  es  im  Falle  von  Unruhen  in  Armenien  leicht  die 
moralische  Berechtigung  herleiten,  dort  Ordnung  zu  stiften.  Außerdem 
verhandele  die  Pforte  gegenwärtig  mit  den  Mächten  wegen  der  vier- 
prozentigen  Zollerhöhung.  Es  sei  zu  befürchten,  daß  eine  oder  die 
andere  Macht  ihre  Zustimmung  dazu  Von  der  vorherigen  Regelung  der 
armenischen  Frage  abhängig  mache.  Ohne  Zollerhöhung  sei  aber  keine 
Anleihe  und  ohne  Anleihe  keine  Reformaktion  möglich. 

Auf  meine  schließliche  Frage,  ob  ich  die  Äußerungen  des  Groß- 
wesirs als  eine  definitive  Ablehnung  unseres  Vorschlags  aufzufassen 
hätte,  erwiderte  mir  Großwesir:  „Non!  Nous  nous  trouvons  dans 
la  premiere  phase  des  discussions.  J'ai  seulement  voulu  vous  repeter 
ce  que  j'ai  dit  hier  ä  Monsieur  de  Giers*." 

Wangenh  eim 


*  Auf  das  obige  Telegramm  erhielt  Freiherr  von  Wangenheim  durch  Tele- 
gramm Nr.  344  vom  15.  Oktober  zur  Antwort:  „Mit  Euerer  Exzellenz  Sprache 
einverstanden.  Bitte  weiterhin  betonen,  daß  ablehnende  Haltung  eigensten 
Interessen  der  Pforte  direkt  zuwiderläuft/' 


151 


Nr.  15  397 

Der  Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  570  London,  den  16.  Oktober  1913 

Die  vertraulichen  Besprechungen  in  Konstantinopel  zwischen  dem 
Freiherrn  von  Wangenheim  und  dem  dortigen  russischen  Botschafter 
werden  von  der  russischen  Diplomatie  mit  großer  Aufmerksamkeit 
verfolgt,  und  man  verspricht  sich  im  Falle  des  Gelingens  von  diesem 
Gedankenaustausch  die  günstigste  Rückwirkung  auf  das  deutsch-rus- 
sische Verhältnis  im  allgemeinen. 

Eine  mit  den  Anschauungen  der  leitenden  russischen  Kreise  wohl- 
vertraute Persönlichkeit  betonte,  daß  Rußland  ebenso  sehr  wie  England 
und  Deutschland  von  der  Notwendigkeit  durchdrungen  sei,  alles  für 
die  Erhaltung  der  asiatischen  Türkei  zu  tun.  Über  diesen  grundlegenden 
Punkt  herrsche  vollkommene  Übereinstimmung.  Kein  verantwortlicher 
Mann  in  Rußland  sei  so  töricht,  die  Angliederung  türkischen  Gebietes 
zu  wünschen,  das  nichts  anderes  bedeuten  könne  als  Vermehrung  des 
armenischen  Elements  in  Rußland.  Die  Armenier  hätten  sich  in  noch 
weit  höherem  Grade  als  die  Juden  als  Elemente  der  Zersetzung  et- 
wiesen  und  überall  der  Revolution  die  gefährlichsten  Kämpfer  gestellt. 
Der  Kaukasus  befinde  sich  trotz  leidlicher  äußerlicher  Ruhe  dauernd 
im  Zustande  der  Gärung,  und  gerade  das  armenische  Element  zwinge 
die  russischen  Behörden  zur  strengsten  Wachsamkeit.  Diese  Zustände 
ließen  jeden  Gedanken  einer  Vergrößerung  auf  Kosten  der  asiatischen 
Türkei  unsinnig  erscheinen,  erklärten  aber  andererseits  auch,  warum 
Rußland  darauf  dringen  müsse,  daß  im  türkischen  Grenzgebiet  Ruhe 
und  Ordnung  herrsche,  da  sonst  ein  Übergreifen  der  Bewegung  auf  den 
Kaukasus  zu  befürchten  sei. 

R.  v.  Kühlmann 

Nr.  15  398 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel 
Freiherrn  von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des   Dirigenten  der  Politischen   Abteilung 

Wilhelm   von    Stumm 

Nr.  352  Berlin,  den  22.  Oktober  1913 

Herr  Sasonow  hat  sich  bei  hiesigem  Aufenthalt*  auf  das  be- 
stimmteste dahin  ausgesprochen,  daß  Rußland  Absichten  auf  Türkisch- 


•  Ober  den  Aufenthalt  des  russischen  Außenministers  in  Berlin  am  22.  Oktober 
und  seine   Besprechungen   mit  den   deutschen   Staatsmännern   vgl.  Bd.   XXXVI». 

152 


Armenien  durchaus  fernlägen.  Die  russische  Regierung  könne  Ver- 
mehrung dieser  revolutionären  Elemente  nicht  wünschen,  müsse  aber 
mit  Rücksicht  auf  eigene  Armenier  Wert  auf  Einführung  von  Reformen 
legen.  Er  begrüßt  Euerer  Exzellenz  Zusammengehen  mit  Herrn  von 
Giers  und  wird  letzteren  anweisen,  Ew.  pp.  die  Führung  zu  überlassen 
bei  den  Versuchen,  der  Pforte  die  vereinbarten  Vorschläge  schmack- 
haft zu  machen. 

Zimmermann 

Nr.  15  399 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  613  Konstantinopel,  den  23.  Oktober  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  352*. 

Herr  Sasonow  hat  in  Berlin  schon  über  die  letzten  Unterredungen 
Herrn  von  Giers'  mit  dem  Großwesir  und  Dschawid  unterrichtet  sein 
müssen,  nach  welchen  die  Türkei  es  nunmehr  kategorisch  ablehnt,  sich 
irgendwelcher  Souveränsrechte  zugunsten  von  mit  der  Zustimmung  der 
Mächte  ernannten  Generalinspekteuren  zu  entäußern.  Rußlands  Absicht 
könnte  wo  möglich  sein,  uns  für  die  so  gut  wie  verlorene  Sache  vor- 
zuschieben, deren  Odium  wir  dann  gleichzeitig  Russen,  Türken  und 
Armeniern  gegenüber  zu  tragen  hätten.  Ich  gedenke  daher,  die  mir 
zugedachte  Führung  erst  dann  zu  übernehmen,  wenn  Großwesir  seine 
Ablehnung  Herrn  von  Giers  und  mir  gegenüber  schriftlich  begründet 
hat.  Was  wir  dann  später  noch  etwa  von  der  Pforte  erreichen  würden, 
hätten  Rußland  und  Armenier  ausschließlich  uns  zu  danken.  Meine 
Hoffnung  auf  Einlenken  der  Pforte  schwindet  indes  täglich  mehr.  — 
Die  Schwierigkeit  liegt  darin,  daß  wir  nicht  mit  Sultan  oder  einer 
Persönlichkeit  von  überragendem  Prestige  wie  Mahmud  Schewket  zu 
verhandeln  haben,  sondern  mit  dem  Komitee,  das  heißt  einer  Gruppe, 
in  welcher  Ideen,  aber  keine  Persönlichkeiten  regieren.  Der  leitende 
Gedanke  im  Komitee  ist  gegenwärtig,  die  Türkei  lieber  zugrunde  gehen 

Kap.  CCLXXX,  Nr.  14193.  In  seinem  Bericht  an  den  Zaren  vom  6.  No- 
vember über  seinen  Aufenthalt  in  Berlin  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel 
Iswolskis  1911  bis  1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  330)  äußert  sich  Sasonow  über 
das  Gespräch  mit  Bethmann  Hollweg  bezüglich  der  Frage  der  armenischen 
Reformen:  „Ober  unser  Einverständnis,  die  Frage  der  Reformen  in  den  ar- 
menischen Wilajets  des  osmanischen  Reiches  mit  Deutschland  zu  erörtern, 
drückte  der  Reichskanzler  mir  seine  höchste  Befriedigung  aus.  Er  ver- 
sprach mir,  sein  Möglichstes  zu  tun,  um  unsere  beiderseitigen  Ansichten  über 
diese  Frage  in  den  wesentlichsten  Punkten  in  Einklang  zu  bringen,  und  bat  mich 
nur,  die  Mittel  zur  Verwirklichung  der  Reformen  möchten  derart  sein,  daß  sie 
den  Stolz  der  Türkei  so  wenig  wie  möglich  verletzen." 
•  Siehe  Nr.   15  398. 

153 


zu  lassen,  als  sie  noch  weiter  unter  der  politischen  Kontrolle  der  Mächte 
zu  belassen.  Selbst  der  versöhnliche,  besonnene  und  von  seinen  Partei- 
genossen geschätzte  Großvvesir  hat  sich  der  herrschenden  Strömung 
schließlich  allmählich  unterwerfen  müssen,  obwohl  er  die  Gefahr  der 
türkischen  Intransigenz  vollkommen  erkennt.  Erschwerend  für  die  Ver- 
handlungen wirkt  die  Niederlage  des  europäischen  Konzerts  in  der 
Frage  von  Adrianopel,  die  Annäherung  an  Bulgarien,  der  Triumph  der 
türkischen  Zähigkeit  in  den  Verhandlungen  mit  Griechenland  und  der 
Umstand  *,  daß  mehrere  Mächte,  darunter  Rußland,  gegenwärtig  mit 
der  Türkei  Spezialabkommen  treffen  und  deshalb  es  mit  ihr  nicht 
verderben  wollen.  Selbst  Herrn  von  Giers'  Haltung  ist  von  Tag  zu 
Tage  versöhnlicher  geworden.  Neuerdings  will  er  sogar  türkische  Ge- 
neralinspekteure und  Mitwirkung  der  Pforte  bei  Absetzung  der  General- 
inspekteure konzedieren.  —  Ich  habe  öfters  den  Eindruck,  als  ob 
Rußland  nur  nach  einem  Wege  suchte,  um  aus  der  Sache  heraus- 
zukommen. Auch  Frankreich  ist  neuerdings  viel  weniger  empressiert, 
während  England  schweigt,  Italien  und  Österreich  aber  erkennen  zu 
geben  scheinen,  daß  sie  nicht  mehr  verlangen,  als  die  Türkei  selbst 
konzedieren  würde  **.  —  Aus  alledem  muß  die  Pforte  die  Überzeugung 
gewinnen,  daß  sie  auch  in  diesem  Falle  nicht  viel  riskiert,  wenn  sie 
sich  dem  angeblich  einigen  Europa  widersetzt. 

Wan  gen  h  e  im 

Nr.  15  400 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel 
Freiherrn  von  Wangenheim 

Konzept 
Nr.  984  Berlin,  den  24.  Oktober  1913 

[abgegangen  am  25.  Oktober] 

Antwort   auf   Telegramm    Nr.   613***. 

Nach  hiesigen  Eindrücken  liegt  es  keinenfalls  in  Rußlands  Absicht, 
uns  in  der  armenischen  Frage  vorzuschieben,  um  das  Odium  eines 
etwaigen    Scheiterns   der    Reformen   auf   uns   abzuwälzen.    Herr   Sa- 


*  Vgl.  zu  allem  diesem  Bd.  XXXVI,  Kap.  CCLXXVII  und  CCLXXVIII. 
**  In  ähnlichem  Sinne  hatte  Freiherr  von  Wangenheim  schon  am  20.  Oktober 
privatim  an  Unterstaatssekretär  Zimmermann  geschrieben:  ,,Ich  muß  unbedingt 
vermeiden,  daß  Rußland  gegen  uns  mißtrauisch  wird  und  den  türkischen  Wider- 
.stand  auf  eine  geheime  deutsche  Einwirkung  zurückführt.  Dieser  Punkt  ist 
wichtiger  als  das  ganze  armenische  Programm.  Qiers  selbst  ist  gegenwärtig 
nicht  sehr  pressiert,  da  er  vor  allen  Dingen  seinen  Akkord  durchbringen  möchte. 
Außer  Rußland  machen  gegenwärtig  auch  Frankreich,  Österreich  und  Italien 
der  Türkei  stark  den  Hof.  Nur  England  ist  wie  in  einer  Versenkung  ver- 
schwunden." 
*"  Siehe  Nr.  15  399. 

154 


sonovv  zeigte  sich  ehrlich  erfreut  über  die  vertrauensvolle  Kooperation 
Euerer  Exzellenz  mit  Herrn  von  Giers  und  wollte  an  dieser  gemein- 
samen Arbeit  nichts  ändern.  Er  stimmte  aber  unserer  Ansicht  zu,  daß 
man  die  Pforte  zur  Annahme  des  vereinbarten  Programms  mit  mög- 
lichster Schonung  bewegen  müsse,  und  versprach  in  diesem  Zu- 
sammenhang, Herrn  von  Giers  anzuweisen,  daß  er  nicht  schärfer 
vorgehen  solle  als  sein  deutscher  Kollege:  bei  den  Versuchen,  der 
Pforte  die  verabredeten  Vorschläge  schmackhaft  zu  machen,  sollten 
Euer  pp.  das  Maß  der  Dringlichkeit  der  Einwirkung  bestimmen.  Nur 
in  diesem  Sinne  sollte  Ihnen  die  Führung  zufallen,  im  übrigen  aber 
sollte  die  Angelegenheit  selbstverständlich  auch  dem  Großwesir  gegen- 
über weiter  von  Ihnen  und  Herrn  von  Giers  gemeinsam  betrieben 
werden. 

Wie  Euer  pp.  telegraphisch  mitgeteilt  ist,  stellte  Herr  Sasonow 
auf  das  bestimmteste  und  in  durchaus  überzeugender  Weise  in  Abrede, 
daß  Rußland  auf  Türkisch-Armenien  Absichten  hätte.  Die  Schwierig- 
keiten, die  den  russischen  Behörden  von  den  bereits  zu  Rußland  ge- 
hörigen Armeniern  gemacht  werden,  ließen  dem  Petersburger  Kabinett 
eine  Vermehrung  dieses  revolutionären  Elements  nur  unerwünscht 
erscheinen.  Dagegen  müßte  Rußland  allerdings  sowohl  mit  Rücksicht 
auf  seine  armenische  Bevölkerung  wie  im  eigenen  Interesse  der  Türkei 
auf  Reformen  in  den  armenischen  Wilajets  Wert  legen.  Das  Beispiel 
Mazedoniens  zeigte,  daß  zur  erfolgreichen  Durchführung  des  Reform- 
werks eine  gewisse  Mitwirkung  der  Mächte  bei  der  Bestellung  der 
Generalinspekteure  unerläßlich  sei.  Das  Fehlen  einer  solchen  Mit- 
wirkung wäre  nach  Herrn  Sasonows  Ansicht  in  erster  Linie  für  das 
Scheitern  der  mazedonischen  Reformen  verantwortlich.  Der  Minister 
bezeichnete  das  von  Euer  pp.  mit  dem  russischen  Botschafter  aus- 
gearbeitete Reformprogramm  als  geeignete  Basis  und  gab  der  Hoffnung 
Ausdruck,  daß  die  Pforte  bei  ruhiger  Weiterarbeit  unserer  beiden 
Vertreter  schließlich  für  die  Annahme  wenigstens  der  wesentlichen 
Forderungen  des  Programms  zu  gewinnen  sein  werde. 

Euer  pp.  darf  ich  hiernach  bitten,  in  der  armenischen  Frage  weiter 
möglichst  vertrauensvoll  mit  Ihrem  russischen  Kollegen  zusammen- 
zugehen. Die  in  letzter  Zeit  zutage  tretende  versöhnlichere  Haltung 
des  Herrn  von  Giers  dürfte  der  Kooperation  nur  zugute  kommen.  Denn 
diese  wurde  anfangs  hauptsächlich  dadurch  erschwert,  daß  Rußland 
für  die  von  uns  beobachteten  Rücksichten  auf  die  Empfindlichkeit 
und  Eigenliebe  der  Türkei  nicht  genügendes  Verständnis  zeigte.  Im 
armenischen  Interesse  schärfere  Forderungen  zu  stellen  oder  größeres 
Empressement  an  den  Tag  zu  legen  als  Rußland,  haben  wir  keinen 
Anlaß. 

Mit  der  Absicht  Euer  pp.,  vom  Großwesir  zunächst  eine  schriftliche 
Rückäußerung  zu  verlangen,  sind  wir  vollkommen  einverstanden. 

Zimmermann 

155 


Nr.  15  401 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  616  Konstantinopel,  den  28.  Oktober  1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  613*. 

Die  Herrn  von  Giers  und  mir  vom  Großwesir  in  Aussicht  gestellte 
Erklärung  über  die  Stellung  der  türkischen  Regierung  zu  armenischen 
Reformen  lautet: 

„Le  Gouvernement  Imperial  etant  resolu  d'entreprendre  les  re- 
formes  dont  le  besoin  se  fait  sentir  de  facon  la  plus  pressante  dans  tout 
Tempire  appliquera  incessamment  les  lois  et  reglements  qu'il  a  ela- 
bores  ä  cet  effet  et  dont  la  mise  en  vigueur  complete  fut  retardee  jus- 
qu'ici  par  les  evenements  balkaniques. 

Afin  de  mettre  rapidement  ä  bonne  fin  les  reformes  desirees  il 
compte  profiter  dans  la  mesure  la  plus  large  de  l'aide  morale  et  materielle 
que  les  Grandes  Puissances  ont  bien  voulue  lui  promettre  ä  maintes 
reprises  et  leur  demandera  de  lui  procurer  les  personnes  dont  il  desire 
s'assurer  le  concours  qu'il  considere  indispensable  pour  son  oeuvre  de 
relevement. 

Le  Gouvernement  de  Sa  Majeste  Imperiale  le  Sultan  est  decide 
ä  faire  tout  ce  qui  sera  necessaire  pour  rendre  ce  precieux  concours 
le  plus  efficace  et  le  plus  productif  possible  tout  en  veillant  avec  un 
soin  jaloux  ä  ce  qu'en  aucun  cas  et  sous  aucun  pretexte  il  soit  porte 
la  moindre  atteinte  aux  droits  souverains  de  Sa  Majeste  Imperiale  le 
Sultan  et  ä  l'independance  du  pays." 

Großwesir  bemerkt  hierzu,  daß  er  nach  der  Verweigerung  eng- 
lischer Reformer  aus  innerpolitischen  Gründen  zwar  außerstande  wäre, 
andere  als  türkische  Generalinspekteure  einzusetzen;  es  läge  in  seiner 
Hand,  hierzu  gefügige  Persönlichkeiten  zu  ernennen,  so  daß  eigentliche 
Leitung  der  Reformen  dem  jedem  Generalinspekteur  beizugebenden  euro- 
päischen Gehilfen  und  dessen  technischen  Unterorganen  (gleichfalls 
Europäer)  zufallen  müsse.  Erfolg  läge  dann  ausschließlich  in  den 
Händen  der  Reformer,  deren  Mithilfe  er  lebhaft  begrüßen  würde. 

Großwesir  wies  hin  auf  Reform  des  Zollwesens  durch  Crawford  als 
beweiskräftiges  Analogon.  Crawford  habe  sich  geweigert,  oberste 
Leitung  zu  übernehmen,  da  seine  Arbeit  nur  unter  Deckmantel  tür- 
kischer Oberleitung  Erfolg  verspräche. 

Vorschlag  von  Gehilfen  als  Substitute  der  Generalinspekteure  ist 
neu  und  erscheint  mir  diskutabel.  Derselbe  ist  vorläufig  nur  mir  als 
ganz  vertraulich  unterbreitet  worden. 

Wangenh  eim 


•  Siehe  Nr.   15  399. 
156 


Nr.  15  402 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 

an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.   622  Konstantinopel,   den   29.   Oktober   1913 

Antwort  auf  Erlaß  Nr.  984*. 

Herr  von  Giers  sagte  mir,  er  habe  aus  einer  Unterredung  mit 
Großwesir  den  bestimmten  Eindruck  gewonnen,  daß  Said  Halim,  ob- 
wohl persönlich  entgegenkommend,  unter  dem  chauvinistischen  Druck 
des  Komitees  steht  und  unser  Programm  deshalb  nicht  annehmen  könne 
und  werde.  Ein  zwischen  Herrn  von  Giers  und  mir  verabredeter 
weiterer  Vermittelungsvorschlag  —  Pforte  wählt  Generalinspektoren 
aus  je  drei  von  den  Mächten  bezeichneten  Kandidaten  —  wurde  vom 
Großwesir  kategorisch  abgelehnt.  Letzterer  will  nur  zugestehen  —  dies 
ist  überhaupt  das  erste  Zugeständnis,  welches  die  Türkei  amtlich 
vindiziert  — , 

1.  daß  den  Generalinspekteuren  je  ein  europäischer  Berater  bei- 
gegeben wird,  und  daß  die  Pforte  sich  verpflichtet,  diese  Berater  von 
derjenigen  Macht  zu  erbitten,  welche  ihr  von  der  Gesamtheit  der 
Mächte  empfohlen  wird,  , 

2.  daß  die  Generalinspekteure  sich  den  Ratschlägen  der  Berater 
unterzuordnen  haben,  und 

3.  daß  das  Mandat  der  Berater  fünf  Jahre  währt  und  einmal, 
höchstens  zweimal,  erneuert  wird. 

Herr  von  Giers  meint,  dieser  Vorschlag,  den  wir  vorläufig  natür- 
lich bekämpfen  müßten,  und  der  wahrscheinlich  auch  Herrn  Sasonow 
mißfallen  werde,  sei  schließlich  als  äußerstes  Minimum  akzeptierbar, 
wenn  die  Berater  nicht  von  einer,  sondern  von  allen  Mächten  vor- 
geschlagen würden. 

Wangenheim 

Nr.  15  403 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Zimmermann  an  den  Botschafter  In  Petersburg  Grafen 

von  Pourtal&s 

Telegramm.    Konzept 

Nr.  215  Berlin,  den  4.  November  1913 

Der  Kaiserliche  Botschafter  in   Konstantinopel  meldet**: 
„Großwesir  sagte  mir,  daß  er  aus  heutiger  Unterhaltung  mit  Herrn 

von  Giers  den  Eindruck  gewonnen  habe,  daß  Rußland  die  Einsetzung 


Siehe  Nr.  15  400. 
•  Telegramm  Nr.  633  vom  3.  November. 


157 


von  Generalinspekteuren  unter  Garantie  der  Mächte  fallen  lasse.  Herr 
von  Giers  habe  ihn  um  eine  schriftliche  Fixierung  der  Gerechtsame 
ersucht,  welche  den  den  Generalinspekteuren  beizugebenden  europäi- 
schen Beamten  zugedacht  seien.  Großwesir  glaubt,  daß  wir  uns  der 
Lösung  der  Frage  nähern." 

Ew.  pp.  wollen  sich  ohne  besonderes  Empressement  bei  ge- 
eigneter Gelegenheit  für  Annahme  des  türkischen  Vorschlags  aus- 
sprechen. Der  gleiche  Standpunkt  wird  hier  Herrn  Sverwejew  gegenr 
über  vertreten. 

Zimmermann 

Nr.  15  404 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  641  Konstantinopel,  den  7.  November  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  633*. 

Von  Giers  und  ich  sind  über  folgenden  weiteren  Vermittelungs- 
vorschlag  übereingekommen  und  haben  ihn  unter  Hinweis  auf  den 
rein  persönlichen  Charakter  unseres  Schrittes  sondierend  mit  dem 
Großwesir  besprochen: 

„1)  La  Sublime  Porte  a  decide  de  s'adresser  aux  Puissances  pour 
leur  demander  de  lui  recommander  deux  conseillere  qui  devront  pssister 
les  deux  inspecteurs  generaux  que  le  Gouvernement  Imperial  Ottoman 
a  places  ä  la  tete  des  deux  secteurs  de  l'Anatolie  Orientale:  a)  Erzeroum, 
Trebizonde,   Sivas  et  b)   Van,   Bitlis,   Carpoud,   Diarbekir. 

La  Sublime  Porte  d£clare  vouloir  conclure  avec  ces  conseillere 
un  eontrat  et  manifeste  en  meme  temps  de  sa  resolution  de  s'adresser 
dans  Fespace  de  dix  ans  au  concours  des  Puissances  toutes  les  fois 
oü  ces  contrats  auraient  pris  fin. 

2)  La  Sublime  Porte  reconnait  aux  deux  inspecteurs  generaux  et 
ä  leure  conseillere  le  droit  de  nommer  et  de  destituer  conjointement  tous 
les  fonctionnaires  et  tous  les  juges  de  leurs  secteurs. 

3)  Les  instructions  ä  donner  aux  inspecteurs  generaux  seront  ela- 
borees  par  la  Sublime  Porte  apres  entente  avec  les  ambassades. 

4)  Tous  les  pouvoirs  conferes  aux  inspecteurs  generaux  par  leurs 
instructions  seront  exerces  par  eux  de  concert  avec  les  conseillere. 
Aucun  acte  emanant  de  Pinspecteur  general  ne  sera  valable  s'il  est 
pris  sans  accord  avec  le  conseiller.  En  cas  de  divergence  entre  l'in- 
specteur general  et  le  conseiller,  la  question  sera  portee  par  devant  la 
Sublime  Porte  qui  statuera  apres  entente  avec  les  ambassades. 


*  Vgl.  Nr.   15  403  nebst  Fußnote. 
158 


5)  II  y  aura  dans  chacun  des  deux  secteurs  de  l'Anatolie  Orientale 
une  assemblee  elective  composee  par  la  moitie  de  musulmans  et  de 
chretiens. 

6)  Ce  meine  principe  d'egalite  sera  applique  pour  la  repartition  de 
toutes   les   fonctions   dans   les   deux   secteurs." 

Punkt  1  ist  von  Said  Halim  so  gut  wie  angenommen.  In  den 
übrigen  Punkten  werden  wir  noch  verschiedenes  nachlassen  müssen. 

Wangenheim 

Nr.  15  405 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  333  Pera,  den  19.  November  1913 

In  den  Verhandlungen,  welche  Herr  von  Giers  und  ich  mit  dem 
Großwesir  wegen  der  armenischen  Reformen  führen,  ist  wiederum 
ein   nicht  unwichtiger  Fortschritt  zu  verzeichnen. 

Auf  unseren  Wunsch  hatte  der  Großwesir  uns  eine  Aufzeichnung 
seiner  Ansichten  über  die  den  Generalinspekteuren  beizugebenden 
europäischen  Berater  und  deren  Gerechtsame  zugehen  lassen.  Das 
Memoire,  von  welchem  ich  Abschrift  beifüge*,  trägt  den  Charakter 
eines  Gegen  pro  jektes  zu  unserem  letzten  Vermittelungsvorschlage.  Um 
dem  Großwesir  entgegenzukommen,  haben  wir  die  Verhandlungen  zu- 
nächst auf  Grund  seiner  Denkschrift  aufgenommen.  Herrn  von  Giers 
ist  es  dabei  gelungen,  Said  Halim  zu  folgenden  Zugeständnissen  zu 
bringen,  die  Seine  Hoheit  persönlich  mit  Bleistift  in  ein  jetzt  im  Be- 
sitze des  russischen  Botschafters  befindliches  Exemplar  der  Denk- 
schrift eingetragen  hat.  Dem  Artikel  1  wurde  hinzugefügt:  „La  Sublime 
Porte  s'adressera  aux  Grandes  Puissances  pour  leur  demander  de  lui 
reccmmander  ce  conseiller."  Dagegen  erhielt  der  Artikel  5  nach 
„Grand  Vezirat"  den  Zusatz:  „qui  lui  donnera  la  suite  qu'elle  comporte. 
L'inspecteur  general  ne  prendra  pas  de  disposition  administrative  sans 
accord  prealable  avec  le  conseiller.  En  cas  de  divergence  entre  l'in- 
specteur  general  et  le  conseiller,  si  dans  un  delai  d'un  mois  le  differend 
n'est  pas  tranche,  c'est  l'avis  du  conseiller  qui  prevaudra." 

Hiernach  besteht  heute  schon  ein  Einverständnis  zwischen  der 
Pforte  und  uns  darüber, 

1)  daß  die  türkische  Souveränität  nach  außen  hin  vollkommen 
gewahrt  bleiben  soll.  Die  Generalinspekteure  werden  Türken  sein 
und  von  der  Pforte  ein-  und  abgesetzt  werden. 

•  Siehe  Anlage. 

159 


2)  daß  die  eigentliche  Verwaltung  Armeniens  in  die  Hände  zweier 
von  den  Mächten  bestellter  „Berater"  gelegt  werden  soll. 

Die  Hauptschwierigkeit  des  Problems  dürfte  damit  überwunden 
sein,  und  ich  glaube,  daß  es  nunmehr  hauptsächlich  darauf  ankommt 
zu  verhindern,  daß  bei  den  Diskussionen  über  die  weiteren  Punkte 
unseres  Programms  uns  der  Großwesir  wieder  ausbricht.  Ich  wirke 
in  diesem  Sinne  auf  Herrn  von  Giers  ein,  der  eine  gewisse  Neigung 
für  Paragraphen  und  Formeln  hat.  Ich  glaube,  daß  wir  weiter  kommen, 
wenn  wir  die  Frage  mehr  politisch  als  administrativ  behandeln,  nicht 
nur  den  Türken  gegenüber,  sondern  auch  im  Hinblick  auf  die  spätere 
Verwaltung  Armeniens.  Es  erscheint  mir  bedenklich,  die  zukünftige 
Verwaltung  allzu  eng  an  ein  bestimmtes  Programm  zu  binden,  zu 
dessen  Abänderung  dann  doch  wieder  der  schwerfällige  Apparat  des 
Meinungsaustausches  zwischen  den  Mächten  in  Bewegung  gesetzt 
werden  müßte.  Nützlicher  wäre  es,  die  europäischen  Berater  zunächst 
—  etwa  ein  Jahr  —  praktische  Erfahrungen  sammeln  zu  lassen  und 
dann  ihre  Vorschläge  anzuhören.  Namentlich  gilt  dies  in  der  Frage 
der  „assemblees  electives"  und  von  deren  Zusammensetzung.  Niemand 
kann  heute  mit  Bestimmtheit  sagen,  ob  es  praktischer  wäre,  derartige 
beratende  Körperschaften  in  den  Sektoren  oder  in  den  einzelnen  Wi- 
lajets  zusammentreten  zu  lassen.  Auch  ob  und  wo  die  Proportionalität 
oder  die  Gleichheit  bezüglich  der  christlichen  und  mohammedanischen 
Vertretung  in  den  elektiven  Körpern  und  bei  der  Verteilung  der  ad- 
ministrativen Funktionen  vorzuziehen  ist,  wird  sich  nur  auf  Grund 
längerer  Erfahrungen  an  Ort  und  Stelle  feststellen  lassen.  Fraglich  ist 
es  auch,  ob  wir  absolut  auf  dem  Rechte  der  Generalinspekteure  und 
ihrer  Adjoints,  die  Beamten  zu  ernennen  und  abzusetzen,  bestehen 
sollen.  Nach  der  Stellung,  welche  die  Pforte  den  fremden  Beratern  ein- 
räumen will,  wären  diese  ohne  weiteres  in  der  Lage,  einen  ungeeigneten 
Beamten  zu  suspendieren  und  seine  Stelle  vorläufig  zu  besetzen.  Der 
Pforte  würde  nichts  übrig  bleiben,  als  eine  derartige  Handlung  später 
zu  sanktionieren.  Würden  wir  jetzt  der  Pforte  zumuten,  den  General- 
inspekteuren das  Recht  der  Ernennung  und  Absetzung  feierlich  zuzu- 
erkennen, so  würden  wir  dabei  wahrscheinlich  auf  einen  nicht  zu  über- 
windenden Widerstand  stoßen,  an  welchem  schließlich  die  ganze  Re- 
form scheitern  könnte.  Meine  Taktik  geht  daher  dahin,  einerseits  den 
Türken  zu  raten,  unseren  Vorschlägen  weitmöglichst  entgegenzukom- 
men, andererseits  aber  Herrn  von  Giers  nahezulegen,  das  bereits  Er- 
reichte nicht  nun  durch  zu  scharfes  Bestehen  auf  rein  formalistischen 
Forderungen  zu  kompromittieren  und  uns  lieber  das  Recht  zu  reser- 
vieren, nach  einem  Jahre  auf  Grund  praktischer  Vorschläge  der  Ge- 
neralinspektionen auf  die  Sache  zurückzukommen. 

Alles  kommt  darauf  an,  daß  so  schnell  wie  möglich  die  General- 
inspektionen eingerichtet  werden.  Ich  bin  überzeugt,  daß  die  gegen- 
wärtige türkische  Regierung  alles  daran  setzen  wird,  um  dem  neuen 

160 


Regime  in  Armenien  zu  einem  Erfolge  zu  verhelfen.  Denn  sie  kennt 
zu  gut  die  Gefahren,  welche  die  Türkei  bei  einem  Mißlingen  der  Re- 
formen bedrohen  würden.  Durch  rasches,  praktisches  Angreifen  wird 
das  armenische  Problem  leichter  gelöst  werden  als  durch  langwierige 
Diskussionen  über  Prinzipienfragen. 

Wangenhei  m 


Anlage 

Des  conseillers  etrangers  qui  seront  adjoints  aux  inspecteurs  generaux. 

Article    1 
A  chaque  inspecteur  general  il  sera  adjoint  pour  un  delai  de  dix 
ans   un    conseiller   etranger   ayant   des    connaissances   speciales. 

Article  2 
Le  conseiller  a  pour  attributions  de  seconder  l'inspecteur  general 
dans  les  inspections  et  reformes  generales  de  la  competence  de  l'in- 
specteur general.  II  est  l'autorite  immediate  des  inspecteurs  en  chef 
des  sections  administratives  de  la  circonscription  inspectorale  et  preside 
la  commission  d'inspection  et  de  reformes  composee  par  ces  inspecteurs. 

Article  3 
Le  conseiller  examine  les  rapports  d'inspection  dresses  par  ces  in- 
specteurs, et  les  transmet  ä  l'inspecteur  general  soit  directement  soit 
apres  en  avoir  fait  discuter  par  la  commission  d'inspection  les  parties 
qu'il  jugerait  necessaires  d'y  referer.  Le  conseiller  ajoutera  son  avis 
personnel  sur  les  questions  faisant  l'objet  de  ces  rapports. 

Article  4 
L'inspecteur  general  mettra  en  application  les  decisions  de  ladite 
commission  ou  les  rapports  d'inspection  qui  lui  sont  directement  trans- 
mis  par  le  conseiller,  en  tant  que  leur  objet  serait  de  sa  competence. 
II  s'en  referera  aux  Departements  interesses  pour  les  questions  neces- 
sitant  des  Instructions. 

Article  5 
En  cas  de  divergence  de  vue  entre  l'inspecteur  general  et  le  con- 
seiller, sur  des  questions  se  rapportant  aux  inspections  et  aux  rapports, 
la  question  en  litige  sera  soumise  au  Grand  Vezirat  accompagne  d'un 
expose  de  motifs.  C'est  le  Conseil  des  Ministres  qui  examine  et  decide 
la  Solution  ä  y  apporter. 


11    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  161 


Nr.  15  406 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  335  Pera,  den  21.  November  1913 

Oberst  Dschemal  Bey,  der  Referent  und  die  ausschlaggebende  Per- 
sönlichkeit des  Komitees  ,, Union  et  Progres"  in  allen  armenischen 
Fragen,  dinierte  gestern  auf  der  Kaiserlichen  Botschaft.  Nach  Tische 
redete  er  mich  auf  das  Reformprojekt  an.  Seine  Auslassungen  waren 
schwer  mit  der  bisherigen  versöhnlichen  Haltung  des  Großwesirs  in 
Einklang  zu  bringen.  Dschemal  meinte,  daß  seine  Partei  die  europäische 
Intervention,  auch  wenn  sie  nur  in  versteckter  Form  wie  bei  der  Be- 
stellung von  Beratern  der  Generalinspekteure  durch  die  Mächte  zum 
Ausdruck  komme,  entschieden  ablehne.  Dagegen  sei  das  Komitee 
durchaus  bereit,  europäischen  Generalinspekteuren,  welche  die  Türkei 
selbst  gewählt  habe,  eine  vollkommene  administrative  Unabhängig- 
keit zu  konzedieren  und  dieselben  mit  allen  Gerechtsamen  auszu- 
statten, welche  die  Mächte  jetzt  für  die  europäischen  Berater  ver- 
langten. In  ihr  souveränes  Recht,  ihre  Beamten  selbst  zu  ernennen, 
werde  sie  sich  aber  durch  keine  Macht,  auch  nicht  durch  die  Gesamt- 
heit der  Mächte  hineinreden  lassen.  Außerdem  würde  ein  General- 
inspekteur oder  Berater,  welcher  als  Organ  der  Mächte  erschiene,  so- 
fort die  gesamte  muselmanische  Bevölkerung  gegen  sich  haben,  woran 
das  ganze   Reformwerk  Schiffbruch  leiden  würde*. 

Auf  meine  Bemerkung,  daß  er  sich  früher  viel  weniger  intransigent 
gezeigt  habe,  erwiderte  Dschemal,  daß  sich  inzwischen  die  Lage  be- 
deutend verändert  habe.  Die  Erwartungen,  welche  die  Bevölkerung 
an  die  Leistungen  des  Komitees  knüpfe,  seien  nach  den  diplomatischen 
Erfolgen  der  Türkei  bei  den  letzten  Friedensschlüssen  bedeutend  ge- 
stiegen. Die  Enttäuschung  dieser  Hoffnungen  würde  sich  bei  den  be- 
vorstehenden Wahlen  geltend  machen  und  das  Komitee  vielleicht  in 
die  Minorität  bringen.  Dann  sei  seine  Partei  vor  die  Alternative  ge- 
stellt, entweder  eine  Gewaltherrschaft  einzurichten  oder  das  Land 
einer  vollkommenen  Anarchie  zu  überlassen,  da  eine  andere  regierungs- 
fähige Partei  nicht  vorhanden  sei.  Bis  vor  kurzem  habe  das  Komitee 
noch  an  die  Ehrlichkeit  Rußlands  in  der  armenischen  Frage  deshalb 
geglaubt,  weil  Deutschland  sich  an  Rußlands  Seite  gestellt  habe.  In- 
zwischen seien  aber  seiner  Partei  über  die  wahren  Absichten  Rußlands 
die  Augen  aufgegangen.  Nach  dem  Attentat  gegen  Mahmud  Schewket 
habe   er  außer  den   kompromittierten   Ententisten   auch   einige   Leute 


*  Vgl.  dazu  auch  das  spätere  Urteil  Dschemal  Paschas  in  seinen  „Erinnerungen 
eines  türkischen  Staatsmannes",  S.  67  ff. 

162 


seiner  Partei  nach  Sinope  verbannt,  die  dort  Spionendienste  geleistet 
hätten.  Von  einem  dieser  Vertrauensleute  sei  ihm  nun  vor  einigen 
Wochen  gemeldet  worden,  daß  er  nebst  fünf  anderen  Verbannten  mit 
dem  russischen  Konsul  eine  Zusammenkunft  gehabt  habe.  Von  dem 
Konsul  sei  ihnen  eröffnet  worden,  daß  Herr  von  Giers  ihn  beauftragt 
habe,  die  Korrespondenz  der  Verbannten  mit  ihren  auswärtigen  Freun- 
den zu  vermitteln.  Die  Antworten  der  letzteren  müßten  in  Kuverten, 
die  durch  besondere  Buchstaben  gekennzeichnet  seien,  an  das  Kon- 
sulat adressiert  werden.  Durch  die  Spione  sei  ein  Teil  der  auf  die  ge- 
schilderte Weise  entstandenen  Korrespondenz  in  seinen  Besitz  gelangt. 
Darunter  befänden  sich  verschiedene  Briefe,  welche  der  bekannte,  zum 
Tode  verurteilte  Agitator  Scherif  Pascha  von  Paris  nach  Sinope  ge- 
richtet habe.  Vor  einigen  Tagen  sei  es  dem  Konsul  sogar  gelungen, 
einem  der  Exilierten  zur  Flucht  zu  verhelfen.  Wegen  aller  dieser  Vor- 
gänge habe  er  Herrn  Mandelstam  zur  Rede  gestellt,  von  welchem 
die  Schuld  auf  den  Konsul  abgewälzt  worden  sei.  Selbstverständlich 
werde  er  sich  damit  nicht  zufrieden  geben,  sondern  zu  dem  geeigneten 
Momente  die  Berichte  seiner  Vertrauensleute  und  die  beschlagnahmten 
Dokumente  in  der  Presse  veröffentlichen.  Jedenfalls  stände  es  nach 
dem  Vorgefallenen  für  seine  Partei  fest,  daß  die  freundliche  Haltung, 
welche  Herr  von  Giers  gegenwärtig  seiner  Partei  gegenüber  zur  Schau 
trage,  nichts  als  Heuchelei  sei.  Rußland  betrachte  das  Komitee  als 
seinen  Gegner  und  arbeite  mit  verwerflichen  Mitteln  an  seinem  Sturz. 
Es  sei  deshalb  begreiflich,  wenn  das  Komitee  den  russischen  Reform- 
vorschlägen nunmehr  mit  dem   äußersten   Mißtrauen   gegenüberstehe. 

Bei  den  Verhandlungen  mit  dem  Großwesir,  die  morgen  fort- 
gesetzt werden  sollen,  wird  es  sich  bald  herausstellen,  ob  die  Besorg- 
nisse Dschemals  sich  inzwischen  auch  der  Regierung  mitgeteilt  haben. 
Einige  erregte  Äußerungen  des  Großwesirs  zu  Markgraf  Pallavicini 
lassen  dies  befürchten. 

Soeben  berichtet  mir  Herr  von  Tyszka*  über  Äußerungen,  welche 
der  Direktor  der  Politischen  Abteilung  im  Ministerium  des  Äußern 
Salih  Bey  ihm  gegenüber  in  einer  vertraulichen  Unterredung  über 
Dschemal  Bey  getan  hat: 

„Die  Militärdiktatur  ist  schon  da.  Dschemal  Bey  ordnet  an,  und  die 
anderen  gehorchen.  Dschemal  ist  sehr  fähig  und  wie  Talaat  außerordent- 
lich energisch.  Aber  nicht  Talaat  ist  der  Diktator,  sondern  Dschemal  Bey. 

Die  Kiamil  Pascha  und  Gabriel  Noradunghian,  der  zitternd  zu  den 
Botschaftern  lief  und  um  Schiffe  bat,  da  die  Bulgaren  in  Konstantinopel 
einrücken  würden,  wären  nie  zum  Vormarsch  der  Armee  entschlossen 
gewesen,  wie  es  Dschemal  und  Talaat  waren.  Wenn  auch  Not  am  Mann 
ist,  so  weit  darf  ein  Minister  des  Äußern  nie  gehen.  Ein  solches 
Dementi  darf  er  sich  nie  geben  .  .  . 


*  Deutscher  Journalist  in  Konstantinopel. 

11*  163 


Die  Furcht,  die  früher  war,  nur  ja  keinem  Christen  ein  Haar 
krümmen,  lieber  alle  Türken  opfern,  gibt  es  jetzt  nicht  mehr.  Die  Zeit 
ist  jetzt  vorbei.  Dschemal  und  Talaat  wollen  und  handeln  auch.  Ich  be- 
wundere sie  doch."  — 

Tyszka  fügt  dem  hinzu: 

„Dieses  letzte  Geständnis  trotz  aller  Ausstellungen  eines  so  vor- 
trefflichen, ehrlichen  Mannes  wie  Salih  Bey  ist  sehr  bezeichnend.  Das 
System  wird  verurteilt,  die  Erfolge  werden  aber  bewundert."   — 


Wangenheim 


Nr.  15  407 


Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Konzept  von   der   Hand   des  Vortragenden    Rats  von   Rosenberg 

Nr.   1113  Berlin,  den  30.  November  1913 

Ew.  pp.  beehre  ich  mich  zu  benachrichtigen,  daß  ich  die  in  dem 
gefälligen  Bericht  Nr.  333  vom  19.  d.  Mts.*  entwickelten  Ansichten  über 
die  armenische  Reformfrage  teile  und  den  Kaiserlichen  Geschäftsträger 
in  St.  Petersburg  angewiesen  habe,  Sie  bei  den  weiteren  Verhandlungen 
durch  entsprechende  Einwirkung  auf  die  russische  Regierung  nach  Mög- 
lichkeit zu  unterstützen. 

Jagow 

Nr.  15  408 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  339  Pera,  den  26.  November  1913 

[pr.  30.  November] 

In  der  armenischen  Frage  waren  meine  Bemühungen  in  den  letzten 
Tagen  hauptsächlich  darauf  gerichtet,  das  plötzlich  neu  erwachte 
türkische  Mißtrauen  gegen  Rußland  und  die  Zweifel  zu  bekämpfen, 
die  infolge  unseres  Zusammengehens  mit  Rußland  an  der  Aufrichtig- 
keit der  deutschen  Armenierpolitik  entstanden  waren.  Bei  einer  längeren 
vertraulichen  Aussprache  mit  dem  Großwesir  führte  ich  aus,  daß  der 
Pforte  bei  der  Beurteilung  des  Vorgehens  der  Mächte  wegen  Arme- 
niens der  wichtigste  Punkt  bisher  vollkommen  entgangen  sei.    Bisher 


*  Siehe  Nr.  15  405. 
164 


und  besonders  seit  1908  sei  die  armenische  Angelegenheit  eine  zwischen 
Rußland  und  der  Türkei  schwebende  Spezialfrage  gewesen,  aus  der 
Rußland  jederzeit  einen  Vorwand  zu  bewaffnetem  Einschreiten  hätte 
herleiten  können.  Mit  der  Vorlegung  des  Projekts  Mandelstam  hätte 
Rußland  seinen  bisherigen  Standpunkt  aufgegeben  und  die  Frage  zu 
einer  internationalen  gemacht.  Diese  Wendung  bedeute  einen  Glücks- 
zufall für  die  Türkei  und  sei  als  solcher  von  allen  wirklichen  Freunden 
der  Türkei  und  deshalb  auch  von  der  Kaiserlichen  Regierung  begrüßt 
worden.  Nachdem  Rußland  anerkannt  habe,  daß  in  Armenien  alle 
Mächte  ein  Wort  mitzusprechen  hätten,  sei  es  für  Rußland  gänzlich 
ausgeschlossen,  ohne  Verständigung  mit  den  übrigen  Mächten  Ge- 
waltmaßnahmen wegen  armenischer  Vorgänge  gegen  die  Türkei  zu 
ergreifen.  Die  zuständige  politische  Stelle  bezüglich  Armeniens  sei 
nunmehr  das  europäische  Konzert,  in  welchem  die  Freunde  der  Türkei 
zu  Worte  kommen  würden.  Daß  die  Pforte  mit  der  Gesamtheit  der 
Mächte  sich  eher  abzufinden  weiß  als  mit  einzelnen  Mächten,  habe 
der  türkische  Erfolg  in  der  Adrianopler  Frage  bewiesen. 

Der  Großwesir  stimmte  meinen  Ausführungen  schließlich  bei, 
bemerkte  aber,  daß  seine  Parteifreunde  und  das  türkische  Volk  noch 
nicht  aufgeklärt  genug  seien,  um  den  von  mir  geschilderten  Zusam- 
menhang der  Dinge  zu  verstehen.  Das  Volk  glaube,  daß  die  Mächte 
sich  zu  einem  Vorstoß  gegen  die  türkische  Souveränität  zusammen- 
getan hätten,  um  damit  das  Demembrement  des  Reiches  vorzubereiten. 
Er  selbst  stehe  auf  dem  Standpunkte,  daß  seine  Verhandlungen  mit 
Herrn  von  Giers  und  mir  unbedingt  zu  einem  praktischen  Resultat 
führen  müßten.  Unannehmbar  für  ihn  seien  geschriebene  Programme, 
wie  sie  ihm  wiederholt  von  Herrn  von  Giers  vorgelegt  worden  seien,  und 
in  denen  die  Ingerenz  der  Mächte  in  einer  das  türkische  Gefühl  ver- 
letzenden Weise  zum  Ausdruck  gebracht  werde.  Derartige  Programme 
könne  er  nicht  einmal  dem  Komitee  gegenüber,  geschweige  denn  in 
der  Kammer,  die  das  letzte  Wort  in  der  Sache  zu  sprechen  habe, 
vertreten.  Es  müßte  eine  Formel  gefunden  werden,  welche  unseren 
Ansprüchen  gerecht  werde,  ohne  das  türkische  Selbstgefühl  zu  ver- 
letzen. 

Die  Bemerkung  des  Großwesirs  über  die  wiederholte  Vorlegung1 
von  Programmen  bezieht  sich  auf  den  in  Abschrift  beigefügten  Vor- 
schlag*, welchen  Herr  von  Giers,  ohne  sich  vorher  mit  mir  zu  ver- 
ständigen, dem  Großwesir  unterbreitet  hat,  und  in  welchem  nach  seiner 
(Giers')  Ansicht  der  türkische  Standpunkt  in  der  Frage  zum  Ausdruck 
gebracht  worden  ist.  Die  genaue  Präzisierung  unserer  Forderungen 
in  diesem  Projekte  macht  letzteres  für  die  Pforte  von  vornherein  unan- 
nehmbar. 

Wangenheim 

•  Siehe  Anlage. 

165 


Anlage 

Article  I 

La  Sublime  Porte  a  decide  de  s'adresser  aux  Puissances  pour 
leur  demander  de  lui  recommander  deux  Conseillers  qui  seront  ad- 
joints  aux  deux  Inspecteurs  Generaux  que  le  Gouvernement  Imperial 
Ottoman  a  places  ä  la  tet&  des  deux  secteurs  de  l'Anatolie  Orientale: 
a)  Erzeroum,  Trebizonde,  Sivas  et  b)  Van,  Bitlis,  Carpoud,  Diarbekir. 

La  Sublime  Porte  declare  vouloir  conclure  avec  ces  Conseillers 
des  contrats  et  manifeste  en  meme  temps  de  sa  resolution  d'avoir 
recours  dans  l'espace  de  dix  ans  ä  la  recommandation  des  Puissances 
toutes  les  fois  oü  ces  contrats  auraient  pris  fin. 

Article  II 
Toutes  les  mesures  ordonnees  d'un  commun  accord  par  Tlnspec- 
teur  General  et  le  Conseiller  dans  les  questions  administratives,  finan- 
cieres  ou  judiciaires  sont  definitives  et  devront  etre  executees  par  les 
autorites  civiles  et  militaires  de  qui  depend  leur  execution. 

Article   III 

Les  Inspecteurs  Generaux  exercent  le  droit  de  revoquer  tous  les 
fonctionnaires  de  leurs  secteurs,  droit  qui  leur  a  ete  accorde  par  les 
Instructions  annexees  ä  la  Note  Circulaire  de  la  Sublime  Porte  en  date 
du  1er  juillet  1913,  conjointement  avec  les  Conseillers. 

Ils  auront  egalement  le  droit  de  nommer  conjointement  tous  les 
fonctionnaires  et  juges  dont  la  nomination  n'a  pas  besoin  d'un  Irade 
Imperial.  Quant  aux  fonctionnaires  et  juges  dont  la  nomination  exige 
la  sanction  souveraine,  ils  auront  le  droit  de  presenter  leurs  candidats 
ä  l'approbation  de  Sa  Majeste  le  Sultan. 

Article  IV 
Les  „Instructions  relatives  aux  devoirs  et  attributions  des  Inspec- 
teurs Generaux"  annexees  ä  la  Note  Circulaire  de  la  Sublime  Porte  du 
1er  juillet  1913  sub   No  34  233—75  seront  revues   et  mises   en  con- 
cordance  avec  les  intentions  de  la  Sublime  Porte  dans  la  presente  Note. 

Article  V 
Le  Conseiller  est  l'autorite  immediate  de  laquelle  depend  le  Service 
d'inspection  du  secteur.    II  preside  la  Commission  d'inspection  formee 
par  les  Inspecteurs  en  chef  toutes  les  fois  qu'il  juge  ä  propos  de  les 
convoquer. 

Article  VI 
Le  Conseiller  verifiera,  soit  en  personne  soit  par  les  Inspecteurs 
places  sous  ses  ordres,  la  Situation  des  vilayets  de  son  secteur,  de  meme 

166 


qu'il  verifiera  tous  les  incidents  et  les  questions  administratives,  finan- 
cieres  ou  judiciaires  d'ordre  general  ou  de  caractere  particulier  ou  prive 
qui  pourraient  surgir.  Le  Conseiller  examinera  les  rapports  dresses  par 
les  Inspecteurs  et  les  transmettra  ä  Tlnspecteur  General,  soit  directe- 
ment,  soit  apres  avoir  fait  discuter,  par  la  Commission  d'Inspection, 
les  parties  qu'il  jugerait  necessaire  d'y  referer.  Le  Conseiller  ajoutera 
toujours  son  avis  personnel  sur  les  questions  faisant  l'objet  de  ces 
rapports. 

Article   VII 

L'Inspecteur  General  mettra  en  execution  les  rapports  d'inspection 
et  les  decisions  de  la  Commission  approuves  par  le  Conseiller  et 
soumis  par  lui. 

Article  VIII 

L'Ir.specteur  General  ne  prendra  aucune  mesure  d'ordre  admini- 
strativ financier  ou  judiciaire  sans  accord  prealable  avec  le  Conseiller. 
En  cas  de  divergence  entre  PInspecteur  General  et  le  Conseiller,  la 
question  en  litige  sera  soumise  au  Grand  Vezirat  qui  lui  donnera  la 
suite  qu'elle  comporte  (apres  entente  avec  les  Ambassades).  Si  le 
differend  n'est  pas  tranche  dans  le  delai  d'un  mois,  c'est  l'avis  du 
Conseiller  qui  prevaudra. 

Article  IX 

En  ce  qui  concerne  les  decisions  prises  par  le  Conseiller  relative- 
ment  aux  questions  1)  touchant  ä  l'application  des  lois  ou  2)  n'ayant 
pas  un  caractere  general  ou  3)  presentant  un  caractere  d'urgence,  elles 
seront  executees  sans  delai  et  sans  recours  au  Grand  Vezirat. 

Article  X 

Les  membres  elus  aux  Assemblers  Generales  et  aux  Conseils  Ad- 
ministratifs  seront  par  moitie  musulmans  et  non-musulmans. 

Ce  meme  principe  d'egalite  sera  applique  pour  la  repartition  de 
toutes  les  fonctions  publiques  dans  les  deux  secteurs. 

Article  XI 
La  competence  legislative  et  budgetaire  des  Assemblers  Generales 
sera  etendue  dans  la  mesure  prevue  par  le  projet  de  loi  de  1880. 

Article  XII 
Les  recrues  domiciliees  dans  chaque  secteur  y  feront,  en  temps 
de  paix,  leur  Service  militaire.   Les  regiments  Hamidie  seront  licencies. 

Article  XIII 
Les  lois,  decrets  et  avis  officiels  seront  publies  dans  chaque  secteur 
dans  les  langues  locales.    Chaque  particulier  aura  le  droit  devant  les 
tribunaux  et  devant  l'administration  de  faire  usage  de  sa  langue.    Les 

167 


jugements   des  tribunaux  seront  libelles   en   turc   et  accompagnes,   si 
possible,  d'une  traduction  dans  la  langue  des  parties. 

Article  XIV 
Chaque  nation  a  le  droit  de  creer  des  taxes  speciales  pour  pourvoir 
aux  besoins  de  ses   ecoles.    La  perception   aura  lieu  sous  forme  de 
Centimes  additionnels. 

Article  XV 
Lc  Conseiller  presidera  la  Commission  qui  sera  chargee  de  trancher 
les  conflits  agraires  et  de  restituer  aux  Armeniens  les  terres  dont  ils 
ont  ete  depossedes. 

Article  XVI 
La  justice  sera  reorganisee. 

Nr.  15  409 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  351  Pera,  den  3.  Dezember  1913 

Der  Großwesir  hatte  mich  kürzlich  gebeten,  ihm  als  seinem  persön- 
lichen Freunde*  einen  Rat  zu  erteilen,  wie  er  aus  dem  schwierigen  Di- 
lemma, in  welchem  er  sich  in  der  Armenierfrage  gegenüber  seiner 
Partei  und  den  Mächten  befinde,  herauskommen  könne,  ohne  sich  etwas 
zu  vergeben.  Ich  hatte  dem  Großwesir  darauf  als  meine  ganz  persön- 
liche Ansicht  folgendes  ausgeführt:  Der  Pforte  sei  seinerzeit  von  den 
Mächten  aktive  Unterstützung  bei  der  Konsolidierung  der  kleinasia- 
tischen Verhältnisse  nach  Friedensschluß  versprochen  worden.  Anderer- 
seits habe  die  Pforte  bereits  weitgehende  Reformpläne  ausgearbeitet 
und  teilweise  zu  Gesetzen  erhoben,  nach  welchen  fremde  Instrukteure 
zur  Unterstützung  der  türkischen  Stellen  bei  dem  Reorganisationswerke 
berufen  werden  sollten.  Es  wäre  daher  ganz  natürlich  und  könne  die 
türkische  Eigenliebe  in  keiner  Weise  verletzen,  wenn  die  Pforte  sich 
nunmehr  gleichzeitig  an  sämtliche  Kabinette  mit  der  Bitte  wende,  die 
Mächte  möchten  ihre  gegebene  Zusage  nunmehr  erfüllen  und  der  Pforte 
für  jeden  der  armenischen  Sektoren  je  eine  oder  mehrere  Persönlich- 
keiten bezeichnen,  welche  nach  Ansicht  der  Regierungen  geeignet  seien, 
den  türkischen  Generalinspekteuren  als  Berater  zur  Seite  zu  stehen. 
In  dem  Schreiben  an  die  Kabinette  möge  die  Pforte  dann  im  einzelnen 
die  Rechte  aufführen,  welche  den  Generalinspektoren  und  den  Beratern 
zustehen  sollten.  Bei  der  Privilegierung  dieser  Beamten  könne  die 
Pforte  leicht  bis  an  die  Grenze  dessen  gehen,  was  Herr  von  Giers 

•  sie! 

168 


und  ich  verlangten.  Denn  sie  handle  ja  aus  eigener  Initiative  und  behalte 
sich  die  Anstellung  der  fremden  Berater  als  türkische  Beamte  ausdrück- 
lich vor.  Die  Mächte  würden  dann  vielleicht  dem  Antrage  der  Pforte 
mit  der  Erklärung  entsprechen,  daß  sie  von  den  Zusicherungen  Akt 
nähmen,  welche  die  Pforte  bezüglich  der  Stellung  der  Berater  gegeben 
habe. 

Wie  mir  Prinz  Said  Halim  gestern  sagte,  hat  er  Herrn  von  Giers 
in  dem  von  mir  suggerierten  Sinne  sondiert.  Der  Botschafter  sei  sicht- 
lich erfreut  gewesen  und  habe  die  Anregung  als  ein  Entgegenkommen 
der  Türkei  aufgefaßt,  jedoch  darauf  bestanden,  daß  bei  Meinungs- 
verschiedenheiten zwischen  Generalinspekteur  und  Berater  der  Groß- 
wesir nach  Anhörung  der  Botschafter  zu  entscheiden  habe.  Die  direkte 
Intervention  der  Botschafter  könne  er  —  der  Großwesir  —  nicht 
akzeptieren.  Dagegen  wolle  er  ausdrücklich  anerkennen,  daß  der  Para- 
graph 61  des  Berliner  Vertrags  den  Mächten  das  Kontrollrecht  eingeräumt 
habe.  Bemerkungen,  die  ihm  von  den  Botschaftern  bezüglich  des  Ganges 
der  Reformen  gemacht  würden,  müsse  er  Rechnung  tragen.  Nur  hätten 
sich  die  Botschafter  an  ihn  zu  wenden,  nicht  aber  er  sich  selbst  an  die 
Botschafter. 

Herr  von  Giers  hat  sich  dem  englischen  und  dem  österreichischen 
Botschafter  gegenüber  sehr  befriedigt  über  seine  Unterhaltung  mit 
dem  Großwesir  geäußert  und  der  Hoffnung  Ausdruck  verliehen,  daß 
eine  Verständigung  sich  nunmehr  erzielen  lassen  werde.  Mit  mir  hat 
Herr  von  Giers  noch  nicht  gesprochen.  Er  boudiert  noch  wegen  der 
Armeereform. 

Wangenheim 


Nr.  15  410 

Der  Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  691  London,  den  9.  Dezember  1913 

Sir  Edward  Grey  sagte  mir  heute  im  Laufe  eines  längeren  Ge- 
sprächs, es  sei  sein  dringender  Wunsch,  die  armenischen  Reformen 
angenommen  zu  sehen,  da  er  überzeugt  sei,  daß  dies  in  hohem  Maße 
zur  Konsolidierung  der  asiatischen  Türkei  beitragen  werde.  Es  sei  ihm 
von  gewisser  Seite  zugemutet  worden,  die  vierprozentige  Zollerhöhung 
mit  der  Annahme  des  armenischen  Reformprogramms  zu  verquicken. 
Er  habe  dies  aber  abgelehnt.  Seit  langer  Zeit  sei  der  Türkei  englischer- 
seits  gesagt  worden,  daß  die  Zollerhöhung  bewilligt  würde,  sobald 
die  Bagdadbahn  und  die  damit  zusammenhängenden  Fragen  in  Ordnung 
seien,  und  daran  halte  er  fest.    Zeitungsnachrichten  hätten  davon  ge- 

169 


sprochen,  daß  die  Türkei  geneigt  wäre,  das  Reformprogramm  anzu- 
nehmen, falls  man  den  Titel  der  europäischen  Generalinspektoren  ab- 
ändere. Er  sei  sehr  dafür,  den  Türken  in  allen  formalen  Fragen  mög- 
lichst entgegenzukommen,  wenn  nur  das  Prinzip  einer  wirksamen 
europäischen  Kontrolle,  unter  welchem  Namen  auch  immer,  gewahrt 
bleibe. 

R.  v.  Kühlmann 

Nr.  15  411 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  697  Konstantinopel,  den  20.  Dezember  1913 

Heute  und  morgen  finden  die  entscheidenden  Beratungen  des 
Ministerrats  statt  über  die  Antwort  auf  die  deutsch-russischen  Vor- 
schläge zur  Armenierfrage.  Großwesir  wird  dort  mit  seinem  Rat  zu 
Entgegenkommen  auf  den  Widerstand  seiner  jüngeren  Kollegen  stoßen, 
die  durch  die  russischen  Drohungen  wegen  der  Militärmission*  schwer 
gereizt  sind.  Ich  habe  vorgestern  Talaat,  Halil  und  Kriegsminister 
und  heute  noch  den  Großwesir  nachdrücklich  auf  den  Zusammenhang 
zwischen  Armenierfrage  und  der  Frage  der  deutschen  Mission  auf- 
merksam gemacht.  Ein  deutsch-russisch-türkischer  Akkord  betreffs  Ar- 
meniens werde  vermutlich  auch  dem  Zwist  wegen  der  Mission  seine 
Schärfe  nehmen.  Weise  die  Pforte  die  deutsch-russischen  Anträge 
zurück,  so  werde  Rußland  die  armenische  Frage  als  Vorwand  benutzen, 
um  sich  an  der  Türkei  wegen  der  Berufung  des  Generals  Liman  zu 
rächen.  Deutschland  könne  dann  der  Türkei  nicht  beispringen,  da  es 
ja  in  der  Armenierfrage  an  Rußland  gebunden  sei. 

Wangenh  eim 

Nr.  15  412 

Der  Botschafter  In  Konstantlnopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.    704  Konstantinopel,   den    25.    Dezember    1913 

Auf  meine  Anregung  begaben  sich  Herr  von  Giers  und  ich  heute 
auf  die  Pforte,  um  mit  Großwesir  gemeinsam  die  armenische  Frage 
zu  besprechen.  Es  wurde  ein  prinzipielles  Einverständnis  auf  der  im 
Bericht  351  **  dargelegten  Basis  erzielt.  Großwesir  wird  sich  mündlich 

•  Vgl.  dazu  Kap.  CCXC. 
*•  Siehe  Nr.  15  409. 

170 


oder  schriftlich  an  sämtliche  Botschafter  mit  der  Bitte  wenden,  für 
jeden  der  armenischen  Sektoren  je  zwei  europäische  Generalinspekteure 
oder  Berater  zu  bezeichnen.  Großwesir  zieht  jetzt  Generalinspekteure 
vor,  damit  die  Frage,  was  bei  Konflikten  zwischen  Generalinspekteur 
und  Berater  zu  geschehen  habe,  nicht  besonders  geregelt  zu  werden 
braucht  Bei  Stellung  des  Antrags  wird  Großwesir  die  Privilegien 
mitteilen,  mit  welchen  die  Pforte  die  Generalinspekteure  bezw.  Berater 
auszustatten  beabsichtigt.  Sobald  die  Mächte  die  betreffenden  Persön- 
lichkeiten bezeichnet  haben,  wird  die  Pforte  den  Botschaftern  eröffnen, 
daß  sie  bereit  sei,  mit  den  von  ihr  ausgewählten  Personen  Verträge  auf 
zehn  Jahre  abzuschließen,  indem  sie  sich  gleichzeitig  verpflichtet,  bei 
innerhalb  dieser  zehn  Jahre  eintretenden  Vakanzen  „de  s'adresser  ä 
nouveau  au  concours  bienveillant  des  Puissances". 

Herr  von  Giers  bestand  zunächst  darauf,  daß  die  16  Punkte  seines 
letzten  Programms  (vgl.  Bericht  339*)  in  den  Erklärungen  der  Pforte 
aufgenommen  würden.  Großwesir  erwiderte,  daß  er  in  einigen  Punkten 
vielleicht  sogar  noch  über  unsere  Forderungen  hinausgehen  werde. 
Wir  möchten  es  ihm  überlassen,  entsprechende  Vorschläge  zu  machen. 
Dies  wurde  unsererseits  konzediert. 

Heutige  Beratung  dürfte  entscheidend  gewesen  sein.  Herr  von 
Giers  wird  die  gefundene  Lösung  in  Petersburg  befürworten1.  Groß- 
wesir glaubt,  daß  er  mit  dem  jetzigen  Programm  den  Widerstand  im 
Ministerrate  beseitigen  wird.  Deutscherseits  könnten  noch  bei  der 
Feststellung  der  Attributionen  .  .  .**  entstehen.  Aber  auch  diese 
dürften  zu  überwinden  sein. 

Wangenheim 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  modifizierten  Abschrift  der  Ent- 
zifferung: 

1  Der  Temps  u[nd]  Wremja  werden  traurig  sein 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Sehr  erfreulich.   Wangenheim  hat  seine  Sache  gut  gemacht 

Meine    Zufriedenheit    telegraphieren  W. 

Nr.  15  413 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 

an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  709  Konstantinopel,  den  29.  Dezember  1913 

Großwesir  hat  heute  Herrn  von  Giers  und  mir  mitgeteilt,  daß  der 
Ministerrat  ihn  ermächtigt  habe,  in  der  im  Telegramm  Nr.  704***  skiz- 
zierten Weise  vorzugehen. 


•  Siehe  Nr.  15  408,  Anlage. 
**  Zifferngruppe  fehlt. 
"*  Siehe  Nr.  15  412. 


171 


Er  würde  sich  danach  mündlich  und  offiziös  an  die  hiesigen  Bot- 
schafter mit  der  Bitte  wenden,  für  jeden  der  armenischen  Sektoren 
europäische  Inspekteure  vorzuschlagen.  Gleichzeitig  wird  er  in  offiziöser 
Form  die  den  Inspekteuren  von  der  Pforte  zu  gewährenden  Befugnisse 
mitteilen.  Wenn  die  Mächte  dann  ihre  Vorschläge  gemacht  haben  werden, 
wird  die  Pforte  schriftlich  mitteilen,  wen  sie  zum  Generalinspektcur 
mit  den  erwähnten  Befugnissen  ernannt  habe. 

Herr  von  Giers  ist  mit  den  Vorschlägen  des  Großwesirs  ein- 
verstanden und  hofft  auch,  daß  über  die  den  Inspekteuren  zu  erteilenden 
Vollmachten  eine  Einigung  zu  erzielen  sein  wird. 

Ein  Punkt,  auf  den  er  noch  entscheidenden  Wert  legt,  ist  sein  Ver- 
langen, daß  es  für  den  Fall  einer  innerhalb  10  Jahren  eintretenden 
Vakanz  heißen  soll:  „de  s'adresser  au  meme  concours  des  Puis- 
sances";  nur  dann  könne  man  den  Armeniern  sagen,  daß  sie  für 
zehn   Jahre   Ruhe   hätten. 

Ich  habe  Herrn  von  Giers  zugesagt,  für  diese  letztere  Fassung  beim 
Großwesir  einzutreten,  im  übrigen  aber  ihm  nahegelegt,  nicht  durch 
zu  viel  Handeln  um  einzelne  Positionen  die  beinahe  schon  erzielte 
Einigung  in  Frage  zu  stellen.  Die  Hauptsache  sei,  daß  europäische 
Inspekteure  zunächst  einmal  nach  Armenien  kämen. 

Mutius 

Nr.  15  414 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  10  Pera,  den  5.  Januar  1914 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  709*. 

Ich  fand  den  Großwesir  heute  sehr  erregt  über  die  letzten  Vor- 
schläge des  Herrn  von  Giers  in  der  Armenierfrage.  Nachdem  in  den 
letzten  Tagen  auch  zwischen  Herrn  von  Giers  und  mir  immer  nur  da- 
von die  Rede  gewesen  war,  daß  die  Pforte  in  der  nach  Abschluß  der 
offiziellen  Verhandlungen  an  die  Mächte  zu  richtenden  Note  die  Be- 
stellung der  beiden  Generalinspekteure  und  ihre  Befugnisse  mitteilen 
solle,  hat  Herr  von  Giers  gestern  dem  Großwesir  den  Entwurf  einer 
solchen  Note  vorgelegt,  in  der  auch  noch  gewisse  Prinzipien,  nach 
denen  die  Inspekteure  regieren  sollen,  festgelegt  werden  (Mitglieder  der 
Selbstverwaltungskörper  zur  Hälfte  Muselmanen  und  Nichtmuselmanen. 
Die  Budget-  und  Gesetzgebungsfunktionen  der  Generalversammlungen 
sollen  im  Sinne  des  Gesetzentwurfs  von  1880  ausgedehnt  werden,  die 
ausgehobenen  Soldaten  sollen  in  Friedenszeit  innerhalb  des  Sektors, 
aus  dem  sie  stammen,  dienen.  Gebrauch  der  Landessprache  für  Gesetze, 


*  Siehe  Nr.   15  413. 
172 


Dekrete  und  vor  Gericht,  Recht  der  Bevölkerung,  besondere  Abgaben 
für  ihre  Schulen  zu  erheben).  Diese  Forderungen  entsprechen  dem 
früheren  Programm  des  Herrn  von  Giers  (Bericht  339*).  Großwesir 
erklärt  mir  heute,  diese  Prinzipien  enthalten  völlig  unannehmbare  Ein- 
griffe in  innere  türkische  Gesetzgebung. 

Ich  habe  Herrn  von  Giers  dringend  geraten,  durch  Überspannung 
seiner  Forderungen  nicht  im  letzten  Augenblick  das  ganze  Reformwerk 
scheitern  zu  lassen. 

Mutius 

Nr.  15  415 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  11  Konstantinopel,  den  6.  Januar  1914 

Im  Anschluß   an   Telegramm   Nr.   10**. 

Auf  meine  nachdrücklichen  Vorstellungen  hin,  die  auch  durch 
Markgraf  Pallavicini  unterstützt  wurden,  hat  Herr  von  Giers  heute  dem 
Großwesir  gegenüber  ganz  wesentlich  in  seinen  Forderungen  nach- 
gelassen (Selbstverwaltungskörper  sollen  nur  bis  zu  der  von  den  Ge- 
neralinspektoren vorzunehmenden  Volkszählung  halb  aus  Muselmanen, 
halb  aus  Nichtmuselmanen  bestehen;  die  budgetären  und  gesetz- 
geberischen Funktionen  der  Generalversammlungen  sollen  auf  die  Basis 
des  Wilajetgesetzes  gestellt  werden;  der  Passus  über  den  Dienst  der 
ausgehobenen  Soldaten  in  Friedenszeiten  ist  ganz  gestrichen.  Nur 
die  Hamidije-Regimenter  sollen  entlassen  werden.  Großwesir  hält  per- 
sönlich die  so  gefundene  Basis  für  annehmbar,  muß  aber  noch  Minister- 
rat befragen. 

Mutius 

Nr.  15  416 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  18  Konstantinopel,  den  9.  Januar  1914 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  11  ***. 

Nachdem  in  den  letzten  Tagen  mit  meiner  Unterstützung  sich  eine 


*  Siehe  Nr.  15  408  nebst  Anlage. 
**  Siehe  Nr.   15  414. 
***  Siehe  Nr.  15  415. 


173 


weitere  Annäherung  zwischen  der  Pforte  und  dem  russischen  Bot- 
schafter in  der  Armenierfrage  vollzogen  hatte,  so  daß  Herr  von  Giers 
hoffte,  vor  seiner  auf  den  11.  festgesetzten  Urlaubsreise  die  Verhand- 
lungen zu  Ende  führen  zu  können,  sind  heute  so  scharfe  Instruktionen 
aus  Petersburg  eingetroffen,  daß  die  ganze  bisherige  Arbeit  in  Frage 
gestellt  scheint. 

Mutius 


Nr.  15  417 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  22  Konstantinopel,  den  10.  Januar  1914 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  18*. 

Herr  von  Giers  teilt  mir  mit,  daß  seine  gestrigen  Petersburger 
Instruktionen  fordern: 

1.  Vorschlagsrecht  der  Generalinspekteure  für  die  vom  Sultan  zu 
ernennenden  Beamten. 

2.  Das  Verhältnis  halb  muselmanisch  halb  nichtmuselmanisch  in 
den  Selbstverwaltungskörpern  soll  nicht  nur  vorübergehend,  sondern 
auch  für  die  Zukunft  festgelegt  werden. 

3.  Ausgehobene  Soldaten  sollen  in  Friedenszeiten  innerhalb  ihrer 
Sektoren  dienen. 

4.  Justizreform. 

Punkt  1  und  4  sind  gegenüber  den  letzten  Verhandlungen  neue 
Forderungen.   Punkt  2  und  3  werden  sicher  von  der  Pforte  abgelehnt. 

Markgraf  Pallavicini  ist  der  Meinung,  daß  Petersburg  eine  Einigung 
in  der  Armenierfrage  mit  Rücksicht  auf  politische  Lage  (Militärmission  **, 
Enver   Pascha***)   nicht  wünscht. 

Mutius 


*  Siehe  Nr.   15  416. 

•*  Vgl.  darüber  Kap.  CCXC. 

•**  Oberst  Enver  Bey  war  Anfang  Januar   1914  zum  türkischen   Kriegsminister 

ernannt   worden,  was   in   Rußland  sehr  Übeln  Eindruck   hervorrief.    Vgl.  dazu 

Kap.  CCXC. 


174 


Nr.  15  418 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  5  St.  Petersburg,  den  11.  Januar  1914 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  5*. 

Ich  habe  den  Eindruck,  daß  sich  in  der  Behandlung  der  arme- 
nischen Reformfrage  durch  die  russische  Regierung  die  gegenwärtig 
hier  gegen  uns  und  die  Türkei  herrschende  üble  Laune  widerspiegelt. 
Noch  vor  etwa  vierzehn  Tagen  zeigte  sich  Herr  Sasonow  sehr  entgegen- 
kommend und  erklärte,  es  komme  ihm  nur  auf  die  Wahrung  des 
Prinzips  der  europäischen  Kontrolle  in  Armenien  an.  Als  ich  ihn  vor- 
gestern auf  die  Bedenken  gegen  eine  Verschärfung  des  zwischen  unsern 
beiderseitigen  Vertretern  und  dem  Großwesir  mühsam  erreichten  Kom- 
promisses hinwies,  fand  ich  seine  Sprache  ganz  verändert.  Mit  einer 
Regierung  wie  der  türkischen  müsse  man  äußerst  vorsichtig  sein  und 
ihr  jede  Möglichkeit  nehmen,  Ausflüchte  zu  finden,  um  sich  ihren  ein- 
gegangenen Verpflichtungen  zu  entziehen.  Auf  bona  fides  sei  bei  den 
heutigen  Machthabern  in  Konstantinopel,  zu  denen  jetzt  auch  der 
„Mörder"  Enver  Pascha  getreten  sei,  nicht  zu  rechnen.  Minister  be- 
stritt, daß  letzte  russische  Forderungen  Verschärfung  der  früheren 
bedeuteten.  Sie  bildeten  nur  durchaus  notwendige  Ergänzung  der- 
selben. Er  habe  diese  Forderungen  jetzt  in  fünf  Punkte  zusammen- 
gefaßt, die  auch  Herrn  von  Sverwejew  mitgeteilt  worden  seien,  und 
die  das  Mindestmaß  dessen  darstellten,  was  Rußland  verlangen  müsse. 
Herr  Sasonow  erwähnte,  daß  Herr  von  Giers  sich  über  die  geringe 
Unterstützung  deutschen  Geschäftsträgers  beklage.  Ich  drückte  mein 
lebhaftes  Erstaunen  über  diese  Bemerkung  aus,  da  vollständiges  Ein- 
vernehmen zwischen  unseren  beiden  Vertretungen  bereits  erzielt  ge- 
wesen sei.  Ich  glaubte  aber,  daß  wir  neueste  Schwenkung  Rußlands 
um  so  weniger  mitmachen  könnten,  als  uns  durch  die  russischerseit9 
verlangte  Verschärfung  ganze  Reformaktion  in  äußerster  Weise  ge- 
fährdet erscheine. 

Pourtales; 


•  Durch  Telegramm  Nr.  5  vom  10.  Januar  war  das  Konstantinopeler  Telegramm 
Nr.  18  (siehe  Nr.  15  416)  nach  Petersburg  mitgeteilt  worden. 


175 


Nr.  15  419 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  26  Pera,  den  11.  Januar  1914 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  22*. 

In  Armenierfrage  hat  sich  zwischen  Herrn  von  Giers,  der  seinen 
Urlaubsantritt  erneut  verschoben  hat,  und  dem  Großwesir  wieder  eine 
Annäherung  vollzogen.  Von  beiden  Seiten  ist  wieder  etwas  nach- 
gegeben worden,  und  die  Verhandlungen  dauern  fort. 

Mutius 

Nr.  15  420 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  34  Konstantinopel,  den  16.  Januar  1914 

In  der  Frage  der  Armenierreformen  scheint  Einigung  zwischen 
Pforte  und  Herrn  von  Giers  auf  allen  bis  auf  einen  Punkt  so  gut  wie 
erreicht.  Dieser  Punkt  ist  die  russische  Forderung,  daß  bis  zur  nächsten 
Volkszählung  die  Selbstverwaltungskörper  halb  aus  Muselmanen,  halb 
aus  Nichtmuselmanen  bestehen  sollen. 

Pforte  ist  bereit,  dies  für  die  Wilajets  Wan  und  Bitlis  zuzugestehen, 
wo  Verhältnis  der  Bevölkerung  dem  annähernd  entsprechen  würde, 
weigert  sich  aber  bestimmt,  dies  auf  die  anderen  Wilajets  auszudehnen. 
Herr  von  Giers  ist  nur  geneigt,  das  Wilajet  Trapezunt,  wo  nur  wenig 
Armenier,  von  seiner  Forderung  auszunehmen. 

Mutius 

Nr.  15  421 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  13  Berlin,  den  17.  Januar  1914 

Russischer  Botschafter  hatte  hier  angeblich  ernste  Nachrichten  aus 
Erserum   über  Erregung  dortiger  Armenier  gegen  Reformprojekt  und 


*  Siehe  Nr.    15  417. 
176 


bevorstehende  Massakers  mitgeteilt,  eine  Warnung  der  Pforte  durch 
russischen  Botschafter  angekündigt  und  um  Unterstützung  dieses 
Schrittes  gebeten.  Ich  hatte  Geschäftsträger  Konstantinopel  hierzu 
ermächtigt,  gleichzeitig  aber  zum  Bericht  über  Tatbestand  aufgefordert. 
Herr  von  Mutius  antwortet  hierauf*: 

„Kaiserlicher  Vizekonsul  Erserum  drahtet: 

, Petersburger  Nachrichten  sehr  übertrieben.  Jungtürkischer  Sport- 
klub veranstaltet  heute  Revolverpreisschießen.  Unwissende  armenische 
Bevölkerung  erblickt  hierin  Vorübung  für  Massakers.  Daß  muhame- 
danische  Bevölkerung  infolge  Haltung  türkischer  Presse  gegen  Kon- 
trolle agitiert,  ist  natürlich.  Erachte  bis  Entscheidung  über  Reform- 
projekt Lage  als  vollkommen  ruhig. ' " 

Jagow 

Nr.  15  422 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  21  Pera,  den  20.  Januar  1914 

Herr  von  Giers  hat  vorgestern  Konstantinopel  mit  Urlaub  nach 
Paris  und  Petersburg  verlassen,  ohne  vorher  die  Frage  der  Armenier- 
reformen zum  formellen  Abschluß  gebracht  zu  haben.  Immerhin  äußerte 
sich  der  Großwesir  mir  gegenüber,  wie  wenn  er  dieselbe  materiell  so 
gut  wie  beendigt  betrachte.  Er  betonte,  jetzt  komme  es  vor  allem 
auf  die  Wahl  geeigneter  Persönlichkeiten  für  die  Posten  der  General- 
inspekteure an. 

Daß  die  hiesige  russische  Botschaft  die  Verhandlungen  nun  auch 
bald  zu  Ende  bringen  möchte,  entnehme  ich  der  ganzen  Haltung  des 
russischen    Botschafters   und   des   Geschäftsträgers**. 

Zweifelhaft  bleibt  mir  aber,  ob  sie  gegenüber  der  schrofferen 
Haltung  des  Petersburger  Kabinetts  durchdringen  werden.  Herr  von 
Giers  hat  telegraphisch  dringend  zum  Abschluß  geraten.  Trotzdem 
sind  wieder  ziemlich  bestimmt  lautende  Instruktionen  aus  Petersburg 
eingetroffen,  ja,  wie  mir  Herr  Gulkewitsch  ganz  vertraulich  erzählt, 
ist  die  Abreise  des  Herrn  von  Giers  nur  dadurch  möglich  geworden, 
daß  ein  Telegramm,  welches  sein  weiteres  Verbleiben  hier  wünschte, 
verstümmelt  und  undechiffrierbar  eintraf.  Bei  dieser  Sachlage  wird 
man  sich  vorläufig  noch  vor  einem  zu  weitgehenden  Optimismus  hüten 
müssen. 

Mutius 


•  Telegramm  Nr.  36  vom   17.  Januar. 
•*  Gulkewitsch. 

12    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  177 


Nr.  15  423 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  47  Konstantinopel,  den  26.  Januar  1914 

Russischer  Geschäftsträger  hat  zunächst  rein  persönlich  der  Pforte 
über  die  noch  streitigen  Punkte  nachstehenden  Vermittelungsvorschlag 
gemacht: 

„En  attendant  qu'un  recensement  definitif  auquel  il  sera  procede 
sous  la  surveillance  des  inspecteurs  generaux  dans  le  plus  bref  delai, 
lequel,  autant  que  possible,  ne  depasserait  pas  un  an,  etablisse  la 
Proportion  exacte  des  differentes  religions,  nationalites  et  langues, 
les  membres  elus  aux  assemblees  generales  seront  dans  les  Vilayets 
Erzeroum,  Van  et  Bitlis  par  moitie  musulmans  et  non-musulmans  et 
dans  ceux  de  Sivas,  Carpout  et  Diarbekir  par  deux  tiers  musulmans  et 
par  un  tiers  non-musulmans.  Les  membres  elus  aux  conseils  admini- 
stratifs  seront  comme  par  le  passe  dans  tous  les  sept  Vilayets  par  moitie 
musulmans  et  non-musulmans.  Le  principe  d'egalite  entre  musul- 
mans et  non-musulmans  sera  applique  strictement  pour  le  recru- 
tement  de  la  police  et  de  la  gendarmerie  et,  autant  que  possible, 
pour  la  repartition  de  toutes  les  autres  fonctions  publiques  dans  les 
deux   secteurs." 

Pforte  will  das  fanatische  muselmanische  Wilajet  Erserum  anders 
als  Wan  und  Bitlis  behandeln  und  die  Gleichheit  in  der  Vertretung  der 
Muselmanen  und  Nichtmuselmanen  in  den  Generalversammlungen  für 
Erserum  nur  zugestehen,  wenn  die  dort  innerhalb  Jahresfrist  vorzu- 
nehmende Volkszählung  noch  nicht  stattgefunden  habe.  Hiermit  würde 
russischer  Geschäftsträger  vorbehaltlich  Petersburger  Zustimmung  sich 
allenfalls  einverstanden  erklären.  Er  beabsichtigt  ferner  der  Pforte 
Zustimmung  zum  letzten  Absatz  betreffend  Polizei-  und  Gendarmerie- 
posten durch  Einschiebung  des  Satzes  „A  la  mesure  que  les  places 
deviendront  vacantes"   zu   erleichtern. 

Auf  beiden  Punkten  scheint  Einigung  wahrscheinlich.  Jedoch  will 
Pforte  für  Siwas,  Karput,  Diarbekr  aus  grundsätzlichen  Bedenken  auch 
das  Verhältnis  2  zu  1   nicht  zugestehen. 

Vielleicht  wäre  in  Petersburg  nachgiebigere  Stimmung  durch  fol- 
gende Erwägungen  zu  erreichen:  Pforte  befinde  sich  zweifellos  in 
schwieriger  Lage.  Einmal  müsse  sie  Zustimmung  Parlaments  zu  Ab- 
machungen erwirken,  andererseits  würde  sie  sich  jeder  Autorität  über 
muselmanische  Bevölkerung  in  Ostanatolien  begeben.  Ferner  bestände 
Gefahr,  daß  Horte  bei  weiterem  russischen  Druck  sich  wieder  an  alle 
sechs  Mächte  wende.  In  diesem  Falle,  auf  den  österreichischer  und 
italienischer  Botschafter  bereits  seit  einiger  Zeit  hinwiesen,  würde  Ruß- 

178 


Iand  aber,  falls  es  nicht  vorziehe,  dann  aus  dem  Konzert  der  Mächte 
auszuscheiden,  weniger  erreichen  als  bei  gegenwärtigen  Verhandlungen. 

Mutius 

Nr.  15  424 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  60  Konstantinopel,  den  2.  Februar   1914 

Russischer  Geschäftsträger,  der  vor  einigen  Tagen  mit  der  Pforte 
Einigung  über  Armenierreform  erzielt  hatte,  ist  mit  seiner  Auffassung 
in  Petersburg  nicht  durchgedrungen.  Petersburg  besteht  darauf,  daß 
in  Wan,  Bitlis,  Erserum  Generalversammlungen  halb  aus  Muselmanen, 
halb  aus  Nichtmuselmanen  bestehen  sollen,  während  für  Siwas,  Kar- 
put,  Diarbekr  Festlegung  des  Verhältnisses  2  zu  1  gefordert  wird. 

Russischer  Geschäftsträger  beabsichtigt,  wie  er  mir  streng  ver- 
traulich sagt,  für  seine  Auffassung  weiter  in  Petersburg  nachdrück- 
lich einzutreten. 

Mutius 

Nr.  15  425 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg* 

Ausfertigung 
Nr.  58  Pera,  den  9.  Februar  1914 

Gestern  ist  endlich  durch  Nachgeben  der  Petersburger  Regierung 
eine  Einigung  zwischen  Rußland  und  der  Pforte  über  die  in  Ost- 
anatolien  einzuführenden  Reformen  erreicht  worden.  Der  Großwesir 
wird  nunmehr  offiziös  die  Mächte  bitten,  ihm  Generalinspekteure  vor- 
zuschlagen. Wenn  die  Pforte  dann  unter  den  vorgeschlagenen  Männern 
ihre  Wahl  getroffen  haben  wird,  so  wird  der  Großwesir  deren  Er- 
nennung durch  die  im  Entwurf  beigefügte  Note**,  welche  mir  mein 
russischer  Kollege  übermittelt  hat,  zur  Kenntnis  der  Mächte  bringen. 

Um  den  Text  dieser  Note,  in  der  nun  schließlich  doch  alle  Punkte 
zusammengefaßt  worden  sind,  ist  in  den  letzten  Wochen  in  wahrhaft 


•  Hier  eingereiht  des  Zusammenhangs  wegen. 

•*  Hier  nicht  abgedruckt;  siehe  den  Wortlaut  im  Russischen  Orangebuch:  Les 
R£formes  en  Armenie,  p.  158ss.;  A.  Mandelstam,  Le  Sort  de  l'Empire  Ottoman, 
p.  236  ss.;  deutsche  Übersetzung  in  Djemal  Pascha,  Erinnerungen  eines 
türkischen  Staatsmannes,   S.   349  ff. 

12*  179 


orientalischem  Geiste  von  beiden  Seiten  verhandelt  worden.  Rußland 
hatte  ebensowenig  ein  klares  Minimalprogramm  wie  die  Pforte;  die 
Verhandelnden  wechselten  immer  wieder  ihren  Standpunkt  und  ser- 
vierten sich  tropfenweise  gegenseitig  ihre  Wünsche  und  Bedenken. 
Es  war  das  richtige  bazarlik.  Mit  Herrn  von  Giers  ständen  wir  ge- 
wiß noch  lange  nicht  am  Ende  der  Verhandlungen.  Es  ist  meines  Er- 
achtens  wesentlich  der  viel  gewandteren  und  biegsameren  Art  des 
russischen  Geschäftsträgers  Gulkewitsch  den  Türken  gegenüber  und 
seiner  viel  bestimmteren  Sprache  nach  Petersburg  hin  zu  danken, 
wenn  heute  die  Einigung  erreicht  ist. 

Das  Dokument,  welches  als  die  Frucht  dieser  Bemühungen  er- 
scheint, hat  indessen  meines  Erachtens  keine  so  große  praktische  Be- 
deutung, wie  man  nach  den  beiderseitigen  Anstrengungen  annehmen 
sollte. 

Es  enthält  vielfach  auch  in  der  Form  bloße  Wünsche,  nicht 
bindende  Verpflichtungen.  Ob  alles,  was  darin  steht,  ausführbar  sein 
wird,  kann  man  zudem  bezweifeln.  Das  praktisch  Wesentliche  war 
erreicht,  als  die  Pforte  sich  zur  Bestellung  zweier  europäischer  Ge- 
neralinspekteure mit  ernsthaften  Kontroll-  und  Verwaltungsbefugnissen 
entschlossen  hatte.  Rußlands  Bestreben  nach  allerhand  Detailbestim- 
mungen erklärt  sich  einerseits  wohl  daraus,  daß  man  den  Armeniern 
eine  möglichst  große  Liste  erreichter  Vorteile  präsentieren,  anderer- 
seits Stoff  zu  Armenierkonversationen  mit  der  Pforte  auch  nach  der 
Bestellung  der  Generalinspekteure  sich  vorbehalten  wollte*.  Es  ist 
den  türkischen  Unterhändlern  indessen  doch  gelungen,  die  schärfsten 
Widerhaken  zu  entfernen  oder  wenigstens  abzuschleifen. 

Der  Großwesir  legt,  wie  er  mir  neulich  aussprach,  mit  Recht  nun- 
mehr den  größten  Wert  auf  die  Wahl  der  Personen,  welche  General- 
inspekteure werden  sollen.  Er  hoffe,  daß  ihm  fähige  und  charakter- 
feste Männer  vorgeschlagen  würden,  welche  sich  zu  keinerlei  politischen 
Intrigen   hergeben   würden. 

Wenn  man  die  Stärke  des  fordernden  Rußland  mit  der  gegen- 
wärtigen Schwäche  der  Türkei  und  andererseits  das  Mandelstamsche 
Projekt  mit  dem  erreichten  Resultat  vergleicht,  so  muß  man  sagen, 
daß  die  Pforte  einen  bemerkenswerten  diplomatischen  Erfolg  davon- 
getragen hat,  der  geeignet  ist,  dem  gegenwärtigen  Regime  überall  in 
Europa   Kredit   zu   verschaffen.    Fast   noch   höher  als   die   feste   Hal- 

*  Die  Absicht  der  russischen  Regierung  war  wohl  noch  weitausschauender,  als 
Legationsrat  von  Mutius  hier  voraussetzt:  mit  dem  armenischen  Abkommen 
sicherte  sich  Rußland  einen  Hebel,  um  mittels  der  armenischen  Frage  jederzeit 
eine  Auseinandersetzung  mit  der  Türkei  und  damit  die  Erreichung  seiner 
„historischen  Ziele"  in  Angriff  nehmen  zu  können.  Vgl.  die  Äußerungen  Saso- 
nows  zu  dem  Herausgeber  der  „Grenzboten"  G.  Cleinow  vom  8.  April:  Rußland 
könne  eventuell  gezwungen  werden,  in  Armenien  einzumarschieren,  und  dann 
sei  es  schwierig,  wieder  herauszukommen  (Kap.  CCXC,  Nr.  15  531  nebst 
Anlage). 

180 


tung  Rußland  gegenüber  ist  die  Selbstüberwindung  zu  bewerten,  die 
die  Pforte  in  dieser  Frage  an  den  Tag  gelegt  hat.  Bei  dem  unausrott- 
baren Mißtrauen  Rußland  gegenüber  und  bei  der  bedrohten  Stellung 
der  Regierung  im  Innern  muß  es  als  eine  wirkliche  Tat  angesehen 
werden,  daß  es  gelungen  ist,  einen  so  versöhnlichen  Abschluß  der 
Verhandlungen  zu  erzielen. 

Alles  dies  wäre  nicht  erfolgt  ohne  die  Vermittelung  Deutschlands. 
Die  Vertrauensstellung,  welche  sich  Freiherr  von  Wangenheim 
bei  der  Pforte,  speziell  bei  dem  Großwesir,  erworben  hat,  hat  es  ihm 
ermöglicht,  die  türkische  Politik  in  dieser  Frage  in  eine  Richtung  zu 
lenken,  welche  gleichzeitig  dem  wohlverstandenen  Interesse  der  Türkei, 
Deutschlands  und  den  deutsch-russischen  Beziehungen  förderlich  sein 
muß.  Die  Türkei  ist  mit  einem  gewissen  politisch-moralischen  Erfolg 
aus  ihrer  Bedrängnis  hervorgegangen.  Andererseits  ist  auch  für  die 
in  unserer  Arbeitszone  so  wichtigen  Armenier  eine  Besserung  ihrer 
Existenzbedingungen  erreicht.  Schließlich  kann  es  mit  Rücksicht  auf 
die  ungewisse  Zukunft  der  Türkei  doch  nur  als  ein  erfreuliches  Symptom 
und  als  erwünschter  Präzedenzfall  angesehen  werden,  daß  ein  deutsch- 
russisches Zusammenarbeiten  in  einer  wichtigen  Frage  der  Orient- 
politik zu  einem  positiven  Resultat  geführt  hat. 

Ob  man  von  russischer  Seite  unserer  Mitarbeit  den  verdienten  Dank 
entgegenbringen  wird,  erscheint  mir  allerdings  zweifelhaft.  Aber 
immerhin  läßt  sich  auch  vom  russischen  Standpunkt  die  Einigung 
mit  der  Türkei  als  ein  Erfolg  buchen.  —  Bei  guten  Geschäften  können 
eben  alle  Teile  ihren  Vorteil  finden  *. 

Mutius 


*  Zu  diesen  Bemerkungen  des  deutschen  Geschäftsträgers  vergleiche  den  Schluß- 
bericht seines  russischen  Kollegen  Gulkewitsch  vom  9.  Februar  1914  (Rus- 
sisches Orangebuch:  Les  Reformes  en  Armenie,  p.  170ss.;  A.  Mandelstam, 
Le  Sort  de  l'Empire  Ottoman,  p.  236  ss.;  deutsche  Obersetzung  im  Auszuge 
bei  Djemal  Pascha,  Erinnerungen  eines  türkischen  Staatsmannes,  S.  351  f.). 
Die  Auslassungen  Gulkewitschs,  der  den  russischen  Erfolg  sehr  hoch  ein- 
schätzt, geben  zugleich  schon  die  Antwort  auf  die  zweifelnde  Frage  Mutius',  ob 
man  von  russischer  Seite  Deutschland  wohl  Dank  für  dessen  Mitwirkung  wissen 
werde,  die  tatsächlich  erst  den  russischen  Erfolg  möglich  gemacht  hatte.  Es 
heißt  in  dem  Bericht  Gulkewitschs  u.  a.:  „Die  führende  Rolle  Rußlands  in  der 
armenischen  Frage  ist  nun  in  aller  Form  unterstrichen  und  Artikel  16  des  Ver- 
trages von  San  Stefano  gewissermaßen  bestätigt.  Dieser  Umstand  wird  sicher- 
lich nicht  verfehlen,  die  günstigste  Rückwirkung  auf  das  internationale  An- 
sehen Rußlands  zu  haben,  und  seinen  Monarchen  in  den  Augen  der  Christen 
des  nahen  Orients  mit  einem  neuen  Glorienschein  zu  umgeben."  Sehr  unfreund- 
lich lauten  die  Äußerungen  Gulkewitschs  über  die  deutsche  Mitwirkung  bei 
dem  Zustandekommen  des  Abkommens:  „Was  Deutschland  anbetrifft,  so  ver- 
folgte die  Verständigung  mit  uns  einen  doppelten  Zweck;  erstlich  den,  die 
Pforte  glauben  zu  machen,  daß  durch  die  Einwilligung  in  diese  gemäßigten,  für 
sie  weniger  bedrohlichen  Reformen  Deutschland  die  türkische  Regierung  vor 
weitgehenderen  Reformen  bewahrt  habe;  zweitens  den,  die  Sympathien  der  Ar- 
menier zu  gewinnen,  an  denen  ihnen  wegen  Cilicien,  das  sie  als  zu  ihrer  Ein- 

181 


Nr.  15  426 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 

Nr.  238  Berlin,  den   14.  Februar  1914 

Der  Kaiserliche  Geschäftsträger  in  Pera  meldet*: 
„Großwesir  hat  mündlich  mich  ebenso  wie  die  anderen  Bot- 
schaften der  Großmächte  nunmehr  um  Namhaftmachung  von  je  zwei, 
also  im  ganzen  vier  Kandidaten  für  die  Stellen  als  Generalinspekteure 
In  den  beiden  östlichen  anatolischen  Sektoren  ersucht.  Er  hat  weder 
mir  noch,  soviel  mir  bekannt,  anderen  Mächten  Wunsch  bezüglich 
deren  Nationalität  geäußert,  aber  um  Beschleunigung  gebeten.  Nach 
früheren  gelegentlichen  Äußerungen  nehme  ich  an,  daß  ihm  Ange- 
hörige  kleinerer  Staaten   vorschweben." 

Wir  würden  Angehörige  der  Niederlande  oder  der  Schweiz  für  am 
besten  geeignet  halten.  Bitte  festzustellen,  wie  die  dortige  Regierung 
über  die  Angelegenheit  denkt,  und  ob  sie  bereits  bestimmte  Kandidaten 
im  Auge  hat**. 

J  agow 


flußsphäre  gehörend  ansehen,  viel  liegt."  Wenn  so  ein  russischer  Diplomat 
dachte,  der  unmittelbar  Zeuge  der  aufrichtigen  Bestrebungen  Deutschlands  zu 
einem  Zusammenwirken  mit  Rußland  gewesen  war,  so  konnte  freilich  von  einer 
günstigen  Rückwirkung  des  in  gemeinsamem  deutsch-russischen  Zusammenwirken 
erzielten  armenischen  Abkommens  auf  die  Beziehungen  beider  Länder  kaum  eine 
Rede  sein.  Allerdings  entwickelte  der  russische  Botschafter  in  Konstantinopel 
von  Giers  seinem  deutschen  Kollegen  bald  nach  dem  Abschluß  des  armenischen 
Abkommens  den  Gedanken  einer  harmonischen  Zusammenarbeit  Deutschlands 
und  Rußlands  bei  der  Wiedererhebung  der  Türkei.  In  gleichem  Atem  aber 
sagte  Giers  zu  Wangenheim:  Deutschland  sei  Rußland  als  Nachbar  in  Klein- 
asien durchaus  nicht  willkommen!  Bericht  Freiherrn  von  Wangenheims  Nr.  102 
vom  26.  März  1914;  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCIC,  Nr.  15  856.  Ober  die  wirk- 
liche Gestaltung  der  deutsch-russischen  Beziehungen  in  den  letzten  Monaten 
vor  Ausbruch  des  Weltkrieges  vgl.  Bd.  XXXIX. 
*  Telegramm  Nr.  75  vom   12.  Februar. 

**  Am  16.  Februar  telegraphierte  Fürst  Lichnowsky  zurück:  „Hiesige  Regierung 
hat  keine  Kandidaten;  es  ist  ihr  auch  ganz  gleichgültig,  welcher  Nationalität  sie 
entstammen,  solange  es  sich  um  Kleinstaat  handelt.  Mit  Niederländern  schien 
man  besonders  einverstanden,  doch  will  man  uns  und  Rußland  hierin  den  Vor- 
tritt lassen."  Am  28.  Februar  wurde  darauf  Graf  Pourtales  durch  Erlaß  Nr.  186 
angewiesen,  die  russische  Stellungnahme  zu  erkunden.  Die  deutsche  Auffassung 
wurde  dahin  präzisiert:  „Unseres  Erachtens  würde  es  sich  empfehlen,  je  einen 
Holländer,  Schweizer,  Belgier  und  einen  Norweger  oder  Schweden  namhaft  zu 
machen."  Die  russische  Regierung  brachte  dagegen  unter  der  Hand  zunächst 
den  belgischen  General  Deguise  und  den  Vizegouverneur  des  Kongostaats 
Henry,  demnächst  noch  zwei  Holländer,  den  Chef  der  Provinzialverwaltung  in 
Niederländisch-lndien  Westenenk  und  den  Generalsekretär  im  holländischen 
Kriegsministerium   Doormann  in  Vorschlag.    Türkischerseits  bestanden  aber  Be- 

182 


Nr.  15  427 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtalös  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  53  St.  Petersburg,  den  14.  Februar  1914 

Als  ich  neulich  Herrn  Sasonovv  meine  Freude  darüber  ausdrückte, 
daß  es  gelungen  sei,  die  Verhandlungen  über  die  armenischen  Re- 
formen zu  einem  befriedigenden  Abschluß  zu  bringen,  erwiderte  der 
Minister,  befriedigt  sei  er  nicht  ganz;  denn  er  habe  in  dem  letzten 
Stadium  der  Verhandlungen  schließlich  nur  nachgegeben,  weil  die 
Armenier  selbst  ihn  hätten  darum  bitten  lassen.  Sie  hätten  nämlich 
befürchtet,  daß  sie  sonst  Schwierigkeiten  haben  würden,  bei  den 
Wahlen  ihre  Kandidaten  für  die  Kammer  durchzubringen. 

Aus  der  Haltung,  die  Herr  Sasonow  bei  den  gedachten  Verhand- 
lungen besonders  in  der  letzten  Zeit  eingenommen  hat,  geht  von 
neuem  der  Haß  und  das  Mißtrauen  hervor,  von  dem  der  Minister 
gegen  die  Türkei  und  besonders  gegen  das  jungtürkische  Regime  be- 
seelt ist. 

Er  erklärte  mir  neulich,  er  sei  durchaus  damit  einverstanden,  daß 
die  Türkei  in  ihrem  jetzigen  Bestände  belassen  werde,  man  dürfe  die 
Türken  aber  nicht  zu  sanft  anfassen.  „On  aura  toujours  la  Turquie 
qu'on  voudra  avoir."  Wenn  man  die  Türkei  zu  freundlich  behandele, 
werde  sie  immer  Mittel  finden,  sich  in  allen  Fragen  dem  Willen  der 
Mächte  zu  entziehen. 

Bei  dieser  Gelegenheit  klagte  Herr  Sasonow,  daß  die  Mächte  sich 
nicht  schon  jetzt  zu  dem  Entschluß  aufraffen  könnten,  der  Pforte  mit 
einer  Flortendemonstration  zu  drohen  für  den  Fall,  daß  sie  sich  dem 
Willen  der  Mächte  in  der  Inselfrage*  nicht  fügen  wolle.  Das  Verhalten 
der  Mächte  sei  „une  degradation  de  TEurope".  Ich  bemerkte,  wenn 
von  einer  solchen  „degradation"  überhaupt  die  Rede  sein  könne,  so 
scheine  mir  dieselbe  doch  wohl  mit  dem  Augenblicke  begonnen  zu 
haben,  als  Europa  der  berühmten  Formel  des  Status  quo  untreu  ge- 
worden sei.   Herr  Sasonow  erwiderte,  die  Status  quo-Formel  habe  im 


denken  gegen  die  „von  Frankreich  abhängigen  Belgier",  insbesondere  gegen 
frühere  Beamte  des  Kongostaats.  Die  deutsche  Regierung  verwandte  sich  nun 
für  die  Wahl  eines  Schweizers,  von  der  aber  wieder  Sasonow  nichts  wissen 
wollte.  Schließlich  einigte  man  sich  unter  den  Mächten,  der  Pforte  fünf  Kan- 
didaten, neben  den  beiden  Holländern  und  Belgiern  noch  einen  Norweger, 
Major  Hoff,  zu  präsentieren.  Die  Wahl  der  Pforte  fiel  am  15.  April  auf  den 
Holländer  Westenenk  und  den  Norweger  Hoff.  Vgl.  auch  die  folgenden 
Schriftstücke. 
•  Vgl.  dazu  Bd.  XXXVI,  Kap.  CCLXXXI. 

183 


gegebenen  Moment  ihre  Schuldigkeit  getan.  Diese  Formel,  deren  Autor 
er  und  Herr  Poincare  gewesen  seien,  habe  nur  beim  Ausbruch  des 
Balkankrieges  die  Mächte  unter  einem  Losungsworte  vereinigen  und 
eventuell  verhindern  sollen,  daß  im  Falle  eines  Sieges  der  Türken 
die  Türkei  sich  auf  Kosten  der  christlichen  Balkanstaaten  vergrößere. 

F.  P  o  u  r  t  a  1  e  s 


Nr.  15  428 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt* 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  100  Konstantinopel,  den  27.  Februar  1914 

Minister  des  Innern  Halil  Bey  suchte  mich  soeben  auf,  um  mir  zu 
sagen,  daß  nach  amtlichen  Meldungen  aus  Armenien  russische  Agenten 
dort  eine  intensive  Tätigkeit  entfalten,  um  die  türkische  Bevölkerung 
gegen  die  Reformen  aufzuhetzen.  Die  Bezeichnung  der  Generalinspek- 
teure verzögere  sich  offenbar,  weil  Rußland  ein  Designierungsrecht  für 
sich  in  Anspruch  nehme  und  über  die  Regierungen  gewisser  Klein- 
staaten mit  Persönlichkeiten  verhandele,  die  Garantien  böten,  daß  sie 
als  Generalinspekteure  in  spezifisch  russischem  Sinne  arbeiten  würden. 
Die  Türkei  wolle  sich  nicht  dirigieren  lassen.  Sie  verlangt  für  die 
beiden  wichtigsten  Posten  tätige  und  unparteiische  Männer,  die  auch 
in  ihren  Ländern  sich  des  allgemeinen  Vertrauens  erfreuten.  Gelängen 
Rußland  seine  dunkeln  Pläne,  so  werde  es  bald  in  Armenien  zu  einer 
Katastrophe  kommen.  Die  Pforte  nehme  an,  daß  die  ihr  befreundeten 
Mächte  die  Wichtigkeit  der  Sache  bereits  erkannt  hätten  und  ent- 
schlossen seien,  Rußland  nicht  die  ausschließliche  Designierung  zu 
überlassen. 

Auch  Markgraf  Pallavicini  und  Marquis  Garroni  besorgen  russische 
Intrigen  und  sind  mit  mir  der  Meinung,  daß  es  für  die  Dreibund- 
mächte schwierig  sein  würde,  etwa  von  Rußland  vorgeschlagene  und 
von   Frankreich   und   England   akzeptierte   Kandidaten**  zu   refüsieren. 

Uns  erscheint  als  die  praktischste  Lösung,  wenn  mit  den  Verhand- 
lungen eine  Botschafterreunion  betraut  würde,  die  nach  Ausscheidung 


*  Das  Telegramm  Freiherrn  von  Wangenheims  wurde  durch  Zirkularerlaß  vom 
28.  Februar  nach  Wien,  Rom,  London,  Paris  und  Petersburg  mit  dem  Bemerken 
mitgeteilt,  daß  die  von  dem  Botschafter  am  Schlüsse  des  Telegramms  empfohlene 
Lösung  auch  dem  Auswärtigen  Amt  zweckmäßig  erscheine. 
**  Tatsächlich  erhielten  der  französische  und  der  englische  Botschafter  in  Kon- 
stantinopel die  Weisung,  sich  für  die  russischen  Kandidaten  einzusetzen.  Ge- 
heimtelegramm Iswolskys  an  von  Giers  vom  23.  März.  Der  Diplomatische 
Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  IV,  77. 

184 


von  zwei  der  fünf  in  Betracht  kommenden  Kleinstaaten  durch  das 
Los  sich  an  die  Vertreter  der  Kleinstaaten  mit  der  Bitte  um  Desig- 
nierung  wenden  würden. 

Wangenheim 

Nr.  15  429 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  114  London,  den  3.  März  1914 

Bei  meinem  heutigen  Besuche  bei  Sir  Edward  Qrey  brachte  ich 
auch  die  Angelegenheit  der  armenischen  Generalinspekteure  zur  Sprache 
und  meinte,  daß  auf  türkischer  Seite  die  Befürchtung  bestände,  daß 
Rußland  besteht  sei,  durch  die  Ernennung  russisch  gesinnter  An- 
wärter für  diese  Posten  vermehrten  Einfluß  in  Ostanatolien  zu  ge- 
winnen. Es  würde  sich  daher  empfehlen,  eine  Botschaftervereinigung 
mit  der  Aufgabe  zu  betrauen,  sich  an  die  in  Betracht  kommenden  fünf 
Kleinstaaten  mit  der  Bitte  zu  wenden,  geeignete  Persönlichkeiten  nam- 
haft zu  machen.  Sir  Edward  entgegnete,  daß  er  sich  über  diese  Frage 
näher  unterrichten  müsse,  da  er  bisher  der  Meinung  gewesen  sei,  daß 
man  sich  auf  Holland  als  geeigneten  Kleinstaat  geeinigt  habe  und  er 
kaum  annehmen  könne,  daß  holländische  Beamte  vorzugsweise  in 
russischem  Sinne  tätig  sein  würden.  Im  übrigen  sei  er  vollkommen 
damit  einverstanden,  daß  eine  Botschafterversammlung  nötigenfalls  mit 
dieser  Aufgabe  betraut  werde,  nur  möchte  er  nicht  die  hiesige,  sondern 
die  in  Konstantinopel  als  hierfür  geeignet  betrachten. 

Lichnowsky 

Nr.  15  430 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  50  London,  den  14.  März  1914 

Im  Anschluß  an  Bericht  Nr.   114*. 

Sir  E.  Grey  sagte  mir  gestern  abend,  daß,  falls,  wie  er  annehme, 
in  der  Angelegenheit  der  armenischen  Generalinspekteure  die  Wahl 
auf  Holland  falle,  es  ihm  am  geeignetsten  erschiene,  die  dortigen  Ge- 
sandten mit  der  Aufgabe  zu  betrauen,  mit  der  holländischen  Regie- 
rung in  Verbindung  zu  treten.    Unter  diesen  Umständen  schien  ihm 


•  Siehe  Nr.  15  429. 

185 


die    Befassung    der    Konstantinopeler    Botschafter    mit    dieser    Frage 
überflüssig  zu  sein. 

Zu  meinem  russischen  Kollegen  hat  der  Minister  sich  ähnlich  aus- 
gesprochen. 

Lichno wsky 

Nr.  15  431 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  PourtaUs  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Entzifferung 

Nr.  91  St.  Petersburg,  den  18.  März  1914 

Antwort  auf  Erlaß  Nr.  225  *. 

Sasonow  ist  mit  dem  italienischen  Vorschlag,  die  Missionen  in 
Konstantinopel  mit  den  Verhandlungen  über  die  der  Türkei  bezüglich 
der  Generalinspekteure  in  Armenien  zu  machenden  Vorschläge  zu 
betrauen,  nicht  einverstanden.  Er  findet,  daß  die  Kabinette  sich  zu- 
nächst unter  sich  über  die  der  Pforte  vorzulegende  Kandidatenliste 
verständigen  sollten,  erst  in  letzter  Instanz,  das  heißt,  wenn  es  sich  darum 
handeln  werde,  die  Kandidaten  der  Pforte  namhaft  zu  machen,  sollten 
nach  seiner  Ansicht  die  Botschafter  in  Konstanünopel  mit  der  Ange- 
legenheit befaßt  werden. 

Der  Minister  beruft  sich  auf  sein  Zirkular  an  die  Mächte,  in 
welchem  er  den  modus  procedendi,  wie  er  sich  ihn  denke,  vorgeschlagen 
hat,  und  gegen  welchen  von  keiner  Seite  Einwendungen  erhoben  worden 
sind.  Diesem  Vorschlag  entsprechend  wird  Sasonow  demnächst  den 
Kabinetten  wahrscheinlich  fünf  Kandidaten,  die  ihm  geeignet  erscheinen, 
nämlich  zwei  Belgier  und  drei  Holländer  vorschlagen. 

Pourtales 

Nr.  15  432 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  83  Berlin,  den  22.  März  1914 

Vertraulich 

Rußland  hat  zwei  Belgier  und  zwei  Holländer  als  Kandidaten 
für  Armenien  vorgeschlagen  und  wünscht  Übereinstimmung  der  Mächte, 
bevor  Kandidaten  der  Pforte  präsentiert  werden. 


•  Durch  Erlaß   Nr.   225  vom   12.   März  war  der   Bericht  aus   London  Nr.    114 
(siehe  Nr.   15  429)  nach  Petersburg  mitgeteilt  worden. 

186 


Es  bittet  uns  um  schleunige  Zustimmung*,  da  angeblich  Pforte 
auf  schnelle  Entscheidung  dränge.    Ist  letzteres  richtig? 

Jagow 


Nr.  15  433 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  132  Konstantinopel,  den  24.  März  1914 

Antwort  auf  Telegramm   Nr.   83**. 

Großwesir  bestreitet  energisch,  irgend  jemand  um  beschleunigte 
Nominierung  der  Kandidaten  gebeten  zu  haben.  Dazu  habe  er  schon 
deshalb  keine  Veranlassung  gehabt,  weil  in  Armenien  vollkommene 
Ruhe  herrsche.  Wenn  er  gelegentlich  einzelne  Botschafter  an  die  Sache 
erinnert  habe,  so  sei  dies  nur  geschehen,  um  russischen  Intrigen  vor- 
zubeugen. Trotzdem  sei  es  Rußland  gelungen,  sich  der  Führung  in  der 
Sache  zu  bemächtigen.  Rußland  habe  in  enger  Fühlung  mit  Nubar*** 
die  Kandidaten  ausgewählt  und  wolle  sie  nunmehr  den  Mächten  und 
der  Türkei  oktroyieren.  Das  russische  Vorgehen  sei  hier  bekannt.  Bei 
den  Türken  in  Armenien  bestände  schon  jetzt  das  größte  Mißtrauen 
gegen  die  russischen  armenischen  Kandidaturen.  Besonders  verstimmt 
sei  er  wegen  der  Nominierung  von  Belgiern,  nachdem  er  schon  vor 
Monaten  zum  Ausdruck  gebracht  habe,  daß  er  keinenfalls  Belgier  und 
am  allerwenigsten  frühere  Beamte  des  Kongostaates  wolle.  Die  Auf- 
stellung der  belgischen  Kandidaturen  beschränke  daher  die  Pforte  in 
ihrer  freien  Wahl  und  zwinge  sie  geradezu  die  Holländer  zu  wählen. 
Ob  es  nicht  möglich  sei,  zwei  oder  einen  Schweizer  vorzuschlagen? 
Er  werde  sich  dann  für  einen  Holländer  und  einen  Schweizer  ent- 
scheiden. 

Rußland  hat  sich  über  den  Wunsch  des  Dreibunds,  daß  die  Frage 
als  eine  alle  Mächte  gleichmäßig  interessierende  Angelegenheit  von 
der  hiesigen  Botschafterkonferenz  behandelt  werde,  ebenso  hinweg- 
gesetzt wie  über  die  Tatsache,  daß  das  armenische  Reformprogramm 
ein  Produkt  deutsch-russischer  Kooperation  ist.  Unterwerfen  sich  die 
Mächte  jetzt  der  russischen  Initiative,  so  erkennen  sie  damit  auch  für 
spätere  Zeit  an,  daß  Rußland  in  den  armenischen  Angelegenheiten  die 
Führung    zusteht.    Da    in    unserer    Arbeitszone    zahlreiche    Armenier 


*  Es  war  am  20.  März  durch  den  russischen  Botschafter  Sverwejew  geschehen. 
•*  Siehe  Nr.  15  432. 

•**  Vgl.  über  ihn  Nr.  15  286,  ferner  den  Diplomatischen  Schriftwechsel  Iswols- 
kis  1911 — 1914,  ed.  Fr.  Stieve,  IV,  11,  49,  61  f.,  aus  dem  die  enge  Fühlung 
Nubar  Paschas  mit  Rußland  klar  hervorgeht. 

187 


wohnen,  können  wir  beanspruchen,  daß  nächst  der  russischen  auch 
unsere  Stimme  gehört  wird.  Ich  möchte  daher  anheimstellen,  für  den 
Ersatz  der  Kandidatur  Henry  durch  eine  schweizerische  Kandidatur 
einzutreten  *. 

Wangenheim 


Nr.  15  434 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  152  Konstantinopel,  den  6.  April  1914 

Halil  Bey,  Präsident  des  Staatsrats  und  gegenwärtig  das  einfluß- 
reichste Mitglied  des  Kabinetts  in  auswärtigen  Angelegenheiten,  sagte 
mir  nach  einem  Diner  bei  Enver  Pascha,  der  Dreibund  habe  es  nicht 
zu  verhindern  gewußt,  daß  für  die  Generalinspektion  in  Ostanatolien 
nur  russisch-armenische  Kandidaten  vorgeschlagen  würden.  Ich  be- 
gegnete diesem  Vorwurf  mit  dem  Hinweis  auf  den  hinzugekommenen 
Norweger.  Kurz  darauf  sagte  Halil  meinem  österreichischen  Kollegen, 
die  Pforte  sei  durch  die  neuesten  Vorgänge  über  zwei  Dinge  belehrt 
worden:  1.  daß  die  Tripelentente  und  namentlich  Rußland  stärker 
und  willenskräftiger  sei  als  der  Dreibund,  und  2.  daß  die  Türkei  von 
dem  Dreibund  nicht  gegen  Rußland  geschützt  werden  würde.  Daraus 
ergebe  sich  für  die  Türkei  die  Notwendigkeit,  mit  Rußland  und 
seinen  Verbündeten    [sich]    zu  verständigen. 

Markgraf  Pallavicini  hält  ein  russisch-türkisches  Geheimabkommen 
ebenso  für  bevorstehend  wie  den  Abfall  Rumäniens**.    Ich  schloß  aus 


*  In  der  Tat  hat  die  deutsche  Regierung  sich  ernstlich  bemüht,  einer  schweize- 
rischen Kandidatur  den  Boden  zu  ebnen,  da  aber  Sasonow  einerseits  an  seinem 
Widerstreben  gegen  die  Nominierung  eines  Schweizer  Kandidaten  festhielt, 
andererseits  doch  ein  gewisses  Entgegenkommen  bezeigte,  indem  er  durch  Ein- 
beziehung eines  norwegischen  Kandidaten  der  Pforte  einen  etwas  größeren 
Spielraum  für  die  Auswahl  einräumte,  so  insistierte  die  deutsche  Regierung  nicht 
weiter,  sondern  akzeptierte  die  im  wesentlichen  doch  von  Sasonow  ausgegangene, 
nur  infolge  der  deutschen  Bemühungen  etwas  erweiterte  Liste.  Die  deutsche 
Nachgiebigkeit  entsprang  vor  allem  dem  Wunsch,  endlich  die  volle  Einigkeit 
der  Mächte  in  der  dornigen  armenischen  Frage  herzustellen,  hinterließ  jedoch 
bei  den  türkischen  Staatsmännern  einen  Stachel,  der  sich  in  dem  mehrfach  laut- 
werdenden Vorwurf  kundgab,  daß  der  Dreibund  es  nicht  vermocht  habe,  die 
Türkei  gegen  Rußland  zu  schützen.  Siehe  auch  das  folgende  Schriftstück. 
**  Wesentlich  skeptischer  urteilte  in  dieser  Beziehung  der  deutsche  Botschafter. 
In  einem  Bericht  vom  26.  März  1914  (siehe  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCIC,  Nr. 
15  856)  hieß  es:  ,,Daß  die  Bemühungen  der  russischen  Botschaft   [für  die  Bes- 

188 


den  Äußerungen  Halil  Beys  zunächst  nur  auf  Bemühungen  unserer 
Gegner,  die  deutsche  Zurückhaltung  in  der  Inspektionsfrage  in  gleicher 
Weise  gegen  uns  auszunutzen  wie  unsere  Griechenfreundlichkeit. 

Wangenheim 


serung  der  russisch-türkischen  Beziehungen]  in  absehbarer  Zeit  zu  einem  prak- 
tischen Ziele  führen  werden,  glaube  ich  nicht.  Dazu  ist  das  türkische  Mißtrauen 
gegen  Rußland  viel  zu  tief  eingewurzelt.  Sollte  Rußland  Geduld  haben,  so 
könnte  allerdings  im  Laufe  der  Jahre  ein  Wechsel  eintreten,  dem  wir  von  un- 
serem Standpunkte  aus  nur  mit  Sorge  entgegensehen  könnten.  .  .  .  Ein  so  ner- 
vöses und  in  sich  selbst  so  wenig  gefestigtes  Land  wie  Rußland  wird  aber  kaum 
imstande  sein,  eine  zielbewußte  Politik  der  Selbstverleugnung  jahrelang  durch- 
zuhalten. Es  wird  vielmehr  zu  früh  anfangen,  die  Früchte  seiner  Bemühungen 
um  die  Türkei  einheimsen  zu  wollen."  Betreffs  des  Abfalls  Rumäniens  vgl 
Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCVIII. 


189 


Kapitel  CCXC 

Die  Liman  Sanders-Affäre 
Januar  1913  bis  Juni  1914 


Nr.  15  435 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  3  Konstantinopel,  den  2.  Januar  1913 

Noradunghian  bat  streng  vertraulich,  ihm  so  schnell  wie  möglich 
Kenntnis  von  den  Bedingungen  zu  verschaffen,  unter  denen  der  General 
Eydoux*  engagiert  sei,  und  von  der  Stellung,  welche  der  General  dienst- 


*  General  Eydoux  stand  seit  Anfang  Februar  1911  an  der  Spitze  der  französi- 
schen Militärmission  in  Athen.  Wie  Freiherr  von  Wangenheim  am  5.  Januar 
(Nr.  9)  dem  obigen  Telegramm  ergänzend  hinzufügte,  wünschte  die  Pforte  Aus- 
kunft über  die  Kompetenzen  des  Generals  Eydoux,  „weil  sie  erwägt,  deutschen 
General  als  Oberkommandierenden  im  Frieden  zu  erbitten,  hauptsächlich  um  die 
Armee  außerhalb  der  Politik  zu  stellen".  Über  die  Beweggründe,  aus  denen  der 
türkische  Wunsch  entsprang,  im  kommenden  Frieden  einen  Deutschen  mit  der 
Reorganisation  des  türkischen  Heerwesens  zu  betrauen,  heißt  es  in  einem 
Berichte  Freiherrn  von  Wangenheims  vom  21.  Januar  1913  (Nr.  24):  „Glück- 
licherweise bricht  sich  neuerdings  überall  unter  den  Türken  selbst  die  Über- 
zeugung Bahn,  daß  die  Türkei  sich  nicht  aus  eigenen  Mitteln  zu  erheben  und 
zu  reorganisieren  vermag.  In  allen  Verwaltungsbranchen,  ebenso  wie  in  der 
Armee  und  der  Marine  erschallt  jetzt  der  Ruf  nach  fremden  Reorganisatoren 
und  zwar  nicht  mehr  nach  solchen,  die  den  türkischen  Stellen  als  Ratgeber 
zur  Seite  stehen,  sondern  solchen,  die  mit  den  weitgehendsten  Befugnissen 
ausgestattet  an  die  Spitze  der  einzelnen  Ressorts  gestellt  werden  sollen.  Einer 
der  einsichtsvollsten  Leute  der  heutigen  Türkei,  der  jetzige  Scheich-ul-Islam 
Dschemaleddin  Bey,  ein  Alttürke  besten  Gepräges,  der  früher  ein  ausgesprochener 
Fremdenhasser  war,  hat  sich  seinen  Freunden  gegenüber  kürzlich  bereit  erklärt, 
das  Großwesirat  unter  der  Bedingung  zu  übernehmen,  daß  Verwaltung  und  Heer 
unter  die  Leitung  von  Ausländern  gestellt  werden.  Er  selbst  wolle  ,mit  dem 
Turban  auf  dem  Kopfe*  den  Muselmanen  gegenüber  die  Ingerenz  von  Christen 
in  die  inneren  Angelegenheiten  des  Reiches  vertreten.  Ähnliche  Anschauungen 
herrschen  gegenwärtig  auch  in  den  Kreisen  der  Unionisten,  die  bald  wieder  zur 
Herrschaft  gelangen  werden.  Dem  Bedürfnis  nach  fremder  Hilfe  bei  dem  Werke 
der  Aufrichtung  könnte  nun  vielleicht  der  Dreibund  entgegenkommen.  ...  Im 
großen  ganzen  ist  die  türkische  Stimmung  heute  dem  Dreibund  günstig,  wenn 
auch  der  auf  dem  Aussterbeetat  stehende  Kiamil  noch  weiter  mit  England 
kokettieren  möchte.    Frankreich   und  Rußland  haben  wohl  für  lange  Zeit  das 

13    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  193 


lieh  der  griechischen  Armee  gegenüber  einnehme.  Anheimstelle,  falls 
keine  Bedenken,  Graf  von  Quadt  zu  direkter  Mitteilung  gewünschter 
Information  an  mich  zu  veranlassen. 

Wangenheim 


Vertrauen  der  Türken  verloren.  An  erster  Stelle  in  den  türkischen  Sympathien 
steht  heute  ohne  Zweifel  Deutschland,  das  einzige  Land,  welches  bei  der  Ab- 
wickelung mit  den  Balkanstaaten  eine  Initiative  zugunsten  des  türkischen  Stand- 
punktes ergriffen  hat.  Man  erwartet  daher  auch  von  uns,  daß  wir  der  Türkei 
auf  dem  wichtigsten  Gebiete  des  Reformwerkes,  bei  der  Reorganisation  der 
Armee,  zur  Seite  stehen.  Man  hofft,  daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  sich  bereit 
finden  lassen  werde,  der  Türkei  einen  besonders  befähigten  General  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  damit  dieser,  von  jeder  Verantwortlichkeit  gegenüber  dem 
Ministerium  entbunden,  als  Oberkommandierender  an  die  Spitze  der  Armee  trete 
und  dieselbe  mit  Hilfe  von  deutschen  Offizieren  von  Grund  aus  reorganisiere 
und  namentlich  auch  das  Offizierkorps  den  politischen  Einflüssen  entziehe.  In 
welchen  Branchen  Österreicher  und  Italiener  verwendet  werden  sollen,  steht 
noch  nicht  fest.  Die  Flotte  möchte  man  am  liebsten  auch  einem  deutschen 
Admiral  unterstellen.  Hier  könnte  es  aber  zu  einem  Konflikte  mit  England 
kommen,  der  absolut  zu  vermeiden  wäre."  Die  später  mehrfach  auftauchende, 
auch  von  Liman  von  Sanders  (Fünf  Jahre  Türkei,  S.  12,  25)  übernommene 
Version,  Wangenheim  habe  selbst  der  Pforte  den  Gedanken  souffliert,  die 
türkische  Armee  mittels  einer  deutschen  Militärmission  nach  dem  Muster  der 
Mission  Eydoux'  zu  reorganisieren,  findet  in  den  deutschen  Akten  keine 
Grundlage.  Vgl.  dazu  den  Bericht  des  k.  und  k.  Militärattaches  in  Kon- 
stantinopel Pomiankowski  vom  28.  Januar  1913  (Feldmarschall  Conrad,  Aus 
meiner  Dienstzeit,  III,  40):  „Wie  ich  nun  aus  sicherer  türkischer  Quelle 
erfahre,  stammt  dieser  Reorganisationsplan  nicht  von  Baron  Wangenheim, 
sondern  vom  ehemaligen  türkischen  Botschafter  in  Paris  Münir  Pascha.  Der 
letztere  hat  seine  Ansichten  in  einem  Memoire  niedergelegt  und  dasselbe 
sowohl  seinen  Freunden  als  auch  Mahmud  Schewket  Pascha  zur  sofortigen 
Annahme  empfohlen.  Wie  mir  Münir  mitteilt,  haben  sich  sowohl  Enver 
als  auch  Talaat  Bey  mit  dem  Plane  einverstanden  erklärt;  auch  der  Minister- 
rat hat  denselben  im  Prinzip  angenommen,  will  jedoch  dessen  Ausführung 
erst  nach  dem  Friedensschluß  beginnen."  Ausdrücklich  bestätigt  auch  Dschemal 
Pascha  in  seinen  Memoiren  (Erinnerungen  eines  türkischen  Staatsmannes, 
S.  67  ff.),  daß  die  Initiative  zu  der  Berufung  der  deutschen  Militärmission  von 
türkischer  Seite  selbst,  und  zwar  von  Mahmud  Schewket  Pascha,  nicht  da- 
gegen von  Enver  Bey,  der  ebenfalls  oft  als  der  Inspirator  des  Plans  hinge- 
stellt worden  ist,  ausgegangen  sei.  In  aller  Ausführlichkeit  gibt  Dschemal 
Pascha  die  Gründe  wieder,  die  Mahmud  Schewket  in  einem  Gespräch  mit 
ihm,  Dschemal,  für  die  Berufung  einer  deutschen  Militärmission  nach  dem 
Muster  der  französischen  in  Griechenland  ins  Feld  geführt  habe:  „Was 
unsere  Armee  betrifft,  so  glaube  ich,  daß  wir  uns  den  Methoden  der  Deut- 
schen nicht  mehr  verschließen  können.  Seit  mehr  als  dreißig  Jahren  haben  wir 
in  unserer  Armee  deutsche  Instruktoren,  unser  Offizierkorps  ist  durchaus  nach 
den  deutschen  militärischen  Methoden  erzogen  worden,  unsere  Armee  ist 
mit  dem  Geiste  deutscher  Erziehung  und  deutscher  Instruktion  auf  das  engste 
vertraut.  Dies  jetzt  zu  ändern,  ist  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Ich  habe 
daher  die  Absicht,  eine  deutsche  Militärmission  großen  Stils  kommen  zu  lassen 
und  selbst,  falls  dies  notwendig  sein  sollte,  das  Kommando  eines  türkischen 
Armeekorps  einem  deutschen  General  anzuvertrauen,  an  die  Spitze  einer  jeden 
Einheit   desselben    deutsche    Stabs-   und   Subalternoffiziere    zu    stellen    und    auf 

194 


Nr.  15  436 

Der  Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandter  von  Treutier, 
z.Z.  in  Homburg  v.d.H.,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  7  Homburg,  den  2.  April  1913 

Vertraulich 

Der  Großwesir  hat  Seine  Majestät  durch  Herrn  von  Strempel* 
bitten  lassen,  der  Türkei  gleich  nach  dem  Friedensschluß  einen  geeig- 
neten preußischen  Offizier  zur  Verfügung  zu  stellen,  der  die  Neu- 
befestigung von  Konstantinopel  ins  Werk  zu  setzen  hätte.  Seine  Ma- 
jestät haben  mir  befohlen,  Euere  Exzellenz  davon  in  Kenntnis  zu  setzen, 
mit  dem  Hinzufügen,  daß  allerhöchstderselbe  geneigt  ist,  diesen  Wunsch 
zu  erfüllen.  Es  würde  dadurch  am  besten  dokumentiert,  wie  die 
Türken  über  das  ihnen  von  den  deutschen  Militärs  Geleistete  dächten; 
auch  würde  dieser  Offizier  in  der  Lage  sein,  bedeutende  Bestellungen 
nach  Deutschland  zu  leiten.  Außerdem  aber  würde  ganz  Europa  ein 
großer  Dienst  erwiesen,  wenn  die  beabsichtigte  Befestigung  Kon- 
stantinopels so  gut  wie  denkbar  ausgeführt  werde.  Da  die  Entsendung 
des  Offiziers  erst  für  nach  dem  Frieden  in  Aussicht  genommen 
ist,  so  erscheint  der  Fall  an  sich  nicht  dringend.  Seine  Majestät  haben 
aber  bereits  Befehl  gegeben,  daß  der  morgen  hier  eintreffende  General 
Mudra**  geeignete  Persönlichkeiten  vorschlagen  soll.  Ich  habe  die  be- 
teiligten Herren  gebeten,  die  Angelegenheit  sehr  diskret  zu  behandeln, 
und  werde  morgen  den  gleichen  Schritt  bei  General  Mudra  tun. 

Treutier 


diese  Art  ein  Musterarmeekorps  zu  bilden.  In  ihm  hätten  die  Stabs-  und 
Subalternoffiziere  der  anderen  Korps  eine  bestimmte  Zeit  lang  Dienst  zu  tun, 
um  ihre  Ausbildung  zu  erweitern  und  zu  vervollkommnen.  Auch  will  ich  mit 
dieser  Mission  viele  Spezialisten  kommen  lassen,  die  die  Aufgabe  hätten,  die 
verschiedenen  Abteilungen  des  Kriegsministeriums,  den  Generalstab,  die  Mili- 
tärschulen und  Militärfabriken  zu  reorganisieren.  Ich  glaube  übrigens,  daß  wir 
für  lange  Zeit  keine  Veranlassung  zu  einem  Kriege  haben  werden.  Ich  werde 
daher  durch  möglichste  Verringerung  der  Kaders  der  Armee  und  Wieder- 
zurückführung  auf  den  Friedensstand  eine  Ersparnis  erzielen,  die  es  mir  er- 
lauben wird,  die  Kosten  für  die  Organisationsmission  zu  decken.  Ich  werde 
dem  türkischen  Reiche  eine  Armee  geben,  die  zwar  klein,  aber  gut  organisiert 
und  wohl  ausgebildet  sein  wird.  Im  Kriegsfalle  wird  es  nicht  schwer  sein, 
diese  Armee  durch  Erweiterung  der  Kaders  auf  die  größtmöglichste  Stärke  zu 
bringen.  Ich  bin  somit  im  Begriffe,  die  Deutschen  zu  fragen,  unter  welchen 
Bedingungen  sie  bereit  wären,  uns  eine  solche  Mission  zu  schicken,  und  halte 
es  für  angebracht,  ihnen  selbst  die  Wahl  der  Bedingungen  zu  überlassen." 
*  Militärattache  in   Konstantinopel. 

*•  General  der  Infanterie  Mudra  war  als  Chef  des  Ingenieur-  und  Pionier-Korps, 
sowie  als  Generalinspekteur  der  Festungen  die  gegebene  Persönlichkeit,  um 
geeignete  Vorschläge  im  Hinblick  auf  die  Befestigung  Konstantinopels  zu  machen. 

13*  195 


Nr.  15  437 

Der  Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandter  von  Treutier 
z,  Z.  in  Homburg  v.  d.  H.,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Eigenhändiges    Konzept 
Nr.    13  Homburg  v.  d.  H.,   den   4.   April    1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  7*. 

Seine  Majestät  erwartet  schon  jetzt  eine  prinzipielle  Äußerung,  ob 
Euere  Exzellenz  mit  der  Entsendung  eines  Offiziers  für  die  Befestigung 
Konstantinopels  nach  Friedensschluß  einverstanden  sind. 

Ich  darf  um  hochgeneigte  Weisung  bitten. 

Treutier 


Nr.  15  438 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an 

den  Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandten  von  Treutier, 

z.  Z.  in  Homburg  v.  d.  H. 

Telegramm.    Eigenhändiges    Konzept 

Nr.  7  Berlin,  den  5.  April  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  13**. 

Gegen  Entsendung  eines  Offiziers  nach  Friedensschluß  ist  dies- 
seits nichts  einzuwenden. 

Jagow 

Nr.  15  439 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  125  Pera,  den  26.  April  1913 

Die  neue  Ära  jungtürkischer  Herrschaft  nach  dem  Sturze  Kiamil 
Paschas  ***  hat  zunächst  mit  dem  Mißtrauen  sämtlicher  Großmächte 
zu  kämpfen  gehabt.    Überall  in  Europa  bestanden  nicht  unbegründete 


•  Siehe  Nr.  15  436. 

*•  Siehe  Nr.  15  437. 

***  Der  Sturz  Großwesir  Kiamil  Paschas  war  am  23.  Januar  1913  erfolgt;  sein 

Nachfolger  Mahmud  Schewket  blieb  am  Ruder,  bis  er  am  11.  Juni  1913  ermordet 

wurde. 

196 


Zweifel,  ob  Mahmud  Schewket  den  Schwierigkeiten  der  inneren  und 
äußeren  Lage  der  Türkei  auch  nur  einigermaßen  gewachsen  sein  würde. 
Mein  russischer  Kollege  brachte  die  damalige  Stimmung  mit  den  Worten 
zum  Ausdruck:  „Mahmud  Schewket  wird  alles  in  Stücke  schlagen. 
Seine  Regierung  kann  höchstens  acht  Tage  dauern."  Seitdem  sind 
drei  Monate  vergangen,  und  jeder  unbefangene  Beobachter  wird  zu- 
geben müssen,  daß  die  allgemeine  Situation  der  Türkei  sich  in  dieser 
Zeit  nicht  verschlechtert,  sondern  wesentlich  gebessert  hat.  Das  gilt 
zunächst  von  der  militärischen  Lage.  Jännina,  Adrianopel  und  Skutari 
haben  zwar  inzwischen  kapituliert.  Ihr  zäher  Widerstand  spricht  aber 
mindestens  ebensosehr  für  die  Verteidiger  als  für  die  an  Zahl  weit  über- 
legenen Belagerer1.  Abgesehen  von  der  Eroberung  der  genannten 
Plätze  haben  die  Alliierten  seit  Monaten  nicht  einen  einzigen  nennens- 
werten Erfolg  auf  ihr  Konto  zu  schreiben  vermocht.  In  Tschataldja 
und  Bulair  halten  die  Türken  Stand,  und  ihre  Flotte  brauchte  nur  die 
Kommandanten  zu  wechseln,  um  den  Kampf  gegen  die  griechische 
Flotte  mit  Aussicht  auf  Sieg  wiederaufnehmen  zu  können.  Niemand, 
der  die  hier  gamisonierenden  jungen  Truppen  bei  der  Arbeit  sieht,  wird 
den  Eindruck  bekommen,  daß  die  Türkei  ein  militärisch  erschöpftes 
Land  sei2.  Auch  die  finanzielle  Lage  der  Türkei  ist  heute  eine  andere 
als  vor  drei  Monaten.  Damals  drohte  die  Pforte  in  ihrer  Verzweiflung 
mit  Gewaltstreichen  auf  die  verpfändeten  Einnahmen.  Heute  hört  man 
überhaupt  nicht  mehr  über  Geldbedürfnisse  sprechen.  Nachdem  der 
Ring,  welchen  Frankreich  zum  Zwecke  der  finanziellen  Isolierung  der 
Türkei  um  diese  gezogen  hatte,  gesprengt  worden  ist,  fließen  der 
Pforte  unter  der  Hand  von  überall  her  genügende  Mittel  zu,  um  den 
Krieg  fortsetzen  zu  können.  Die  Schuldenlast  des  Landes  vermehrt  sich 
dabei.  Die  Geldgeber  müssen  aber  doch  wohl  heute  ein  größeres; 
Vertrauen  in  die  Zahlungsfähigkeit  der  späteren  Türkei  setzen  als 
früher  unter  Kiamil.  Auch  die  innere  Lage  erscheint  heute  weniger 
beunruhigend  wie  im  Anfang  dieses  Jahres.  Wenn  sich  auch  in  Klein- 
asien hie  und  da  separatistische  Bewegungen  geltend  machen,  so  sind 
doch  nirgends  die  von  Frankreich  und  Rußland  angekündigten  größeren 
Ruhestörungen  eingetreten,  und  ebensowenig  sind  die  auf  den  Sturz  des 
Kabinetts  gerichteten  Bestrebungen  in  der  Hauptstadt  von  irgendeinem 
Erfolge  begleitet  gewesen.  Alle  diese  Momente  haben  zusammen- 
gewirkt, um  das  schwer  erschütterte  Ansehen  der  Türkei  in  Europa 
einigermaßen  zu  rehabilitieren  und  wieder  ein  gewisses  Interesse  für 
die  Türkei  zu  erregen,  wie  dies  ja  auch  bei  den  Londoner  Verhand- 
lungen* mehr  und  mehr  zum  Ausdruck  gekommen  ist. 

Den  geschilderten  Umschwung  zum  Besseren  hat  die  Türkei  haupt- 
sächlich Mahmud  Schewket  zu  danken.  In  einem  früheren  Berichte 
durfte  ich  bereits  hervorheben,  in  welch  geschickter  Weise  der  Groß- 


*    Siehe  dazu  Bd.  XXXIV. 

197 


wesir  die  türkische  Friedensstimmung  zu  fördern  verstanden  hat,  ohne 
es  dabei  mit  den  kriegslustigen  Offizieren  in  der  Front  zu  verderben. 
Ebenso  erfolgreich  ist  sein  Bestreben  gewesen,  sich  mit  den  hiesigen 
Vertretern  der  Großmächte  auf  einen  guten  Fuß  zu  stellen.  Augen- 
scheinlich wird  ihm  heute  von  allen  Kabinetten  ein  gewisses  Wohl- 
wollen entgegengebracht,  wenn  sich  dasselbe  bisher  auch  nur  auf  seine 
Person  erstreckt  und  noch  nicht  auf  die  Partei,  welcher  er  angehört*. 
Manche  meiner  Kollegen  erklären  Mahmud  Schewket  bereits  für  den 
ersten  wirklichen  Staatsmann  der  Türkei  im  europäischen  Sinne.  Zwei- 
fellos ist,  daß  er  die  Grenzen  der  ihm  gegebenen  Möglichkeiten  mit 
kühlem  Verstände  zu  erkunden  sucht,  dann  aber  innerhalb  dieser 
Grenzen  seine  Ziele  mit  rücksichtsloser  Energie,  ja  Kühnheit  verfolgt. 

Bleiben  die  Jungtürken  am  Ruder,  so  wird  die  türkische  Politik 
bis  auf  weiteres  diejenige  Mahmud  Schewkets  sein.  Wie  sich  derselbe 
die  weitere  innere  und  äußere  Entwickelung  der  Türkei  denkt,  hat  er 
mir  kürzlich  in  einem  längeren  Vortrag  wie  folgt  auseinandergesetzt: 

„Bisher  haben  die  türkischen  Politiker  immer  davon  geredet,  daß 
die  Türkei  sich  dieser  oder  jener  Mächtegruppe  anschließen  müsse. 
Die  Leute  vergessen,  daß  die  Türkei  in  einer  Weise  verelendet  ist, 
welche  die  Bundesgenossenschaft  zu  einer  Last  für  ihre  Alliierten 
machen  würde.  Wir  brauchen  vorläufig  keine  Allianzen,  sondern  das 
Gegenteil  von  solchen,  das  heißt,  daß  wir  von  allen  Großmächten  für 
mindestens  zehn  Jahre  vollkommen  in  Ruhe  gelassen  werden,  damit 
wir  uns  reorganisieren  können.  Ich  werde  daher  bemüht  sein,  die 
Reibungsflächen,  die  zwischen  der  Türkei  und  anderen  Mächten  be- 
stehen, möglichst  zu  beseitigen.  Mit  Rußland  und  England  haben 
wir  eine  Reihe  von  Grenzregulierungen  zu  erledigen.  Dabei  handelt 
es  sich  meistens  um  Punkte,  die  für  uns  an  und  für  sich  bedeutungslos, 
die  aber  von  der  Pforte  zu  großen  Fragen  aufgebauscht  worden  sind. 
Ganze  Archive  sind  durch  diese  Verhandlungen  entstanden.  Ich  werde 
jetzt  die  Papiere  einfach  verbrennen  lassen.  Den  berechtigten  Wünschen 
Englands  bezüglich  des  Golfs,  den  russischen  bezüglich  Armeniens 
und  den  französischen  wegen  Syriens  werde  ich  nachzukommen  suchen. 
Im  Geheimen  werde  ich  mich  aber  stets  von  dem  Gedanken  leiten 
lassen,  daß  die  Türkei  ihre  Resurrektion  nur  durchzuführen  vermag, 
wenn  sie  auf  Deutschland  und  England  zählen  kann  3.  Daß  sich  diese 
beiden  Länder  bisher  bekämpft  haben,  ist  die  Hauptursache  unseres 
Unglücks  geworden.  Ich  muß  dafür  sorgen,  daß  die  Türkei  der  Boden 
wird,  auf  dem  die  deutsch-englische  Verständigung  zusammenkommt. 
Schon  jetzt  widerstehe  ich  England  überall  da,  wo  es  in  deutsche  In- 
teressen einzugreifen  versucht,  und  weise  auf  die  Notwendigkeit  einer 
Auseinandersetzung  mit  Deutschland  hin. 

Bezüglich  der  inneren  Politik  stehe  ich  vor  schwierigen  Problemen. 


*  Mahmud  Schewket  war  einer  der  Führer  der  Partei  „Union  et  Progres". 
198 


Es  hat  sich  herausgestellt,  daß  die  heutige  Verfassung  durchaus  nicht 
den  Bedürfnissen  des  Landes  und  dem  intellektuellen  Niveau  der  Be- 
völkerung entspricht4.  Die  Stellung  des  Sultans  muß  erhöht,  die  Be- 
deutung der  Kammer  herabgesetzt  werden5.  Mit  dem  jetzigen  System 
läßt  sich  überhaupt  nicht  regieren.  Meine  Absicht  ist  daher,  eine 
konstituierende  Kammer  einzuberufen,  die  sich  ausschließlich  mit  der 
Verfassungsrevision  beschäftigen  wird.  Diese  Arbeit  wird  sie  mehrere 
Jahre  in  Anspruch  nehmen.  Inzwischen  gewinne  ich  die  Zeit,  um 
unabhängig  von  der  Kammer  die  wichtigsten  administrativen  Reformen 
durchzuführen.  Durch  die  bitteren  Erfahrungen  der  letzten  Jahre  bin 
ich  ein  Anhänger  der  dezentralistischen  Regierungsmethode  geworden  6. 
Es  war  falsch,  die  Angehörigen  der  verschiedenen  Nationalitäten  in 
der  Türkei  zuerst  gewaltsam  zu  Ottomanen  machen  und  sie  danach 
erst  zufriedenstellen  zu  wollen.  Der  umgekehrte  Weg  ist  der  richtige. 
Das  jetzt  erlassene  Wilajetsgesetz  läßt  bereits  den  Weg  erkennen, 
den  ich  mir  vorgezeichnet  habe.  Die  Provinzen  sollen  sich  im  wesent- 
lichen selbst  regieren,  später  auch  die  Gemeinden 7.  Gesetze  allein 
werden  freilich  nicht  genügen.  Es  kommt  darauf  an,  die  Männer  zu 
finden,  welche  die  Gesetze  richtig  anwenden8.  An  solchen  Persön- 
lichkeiten fehlt  es  bei  uns  so  gut  wie  gänzlich.  Wir  verfügen  über 
keinen  geschulten  und  integren  Beamtenstand.  Hier  muß  das  Ausland 
helfen.  Ich  werde  mich  daher  an  die  verschiedenen  Kabinette  mit 
der  Bitte  um  Überlassung  von  Reformern  wenden.  Für  die  Reorgani- 
sation der  Armee  rechne  ich  bestimmt  auf  Deutschland.  Dies  ist  der 
wichtigste  Punkt  meines  Programms.  Die  Armee  muß  von  Grund  aus 
reformiert,  der  politische  Geist  dem  Offizierskorps  ausgetrieben  werden. 
Dazu  wird  die  Tätigkeit  von  Instruktionsoffizieren,  wie  sie  jetzt  hier  und 
da  als  bloße  Ratgeber  in  unsere  Organisation  eingeschoben  sind,  nicht 
genügen.  Auch  für  die  Reform  des  Unterrichtswesens  rechne  ich 
auf  die  Unterstützung  der  deutschen  Regierung.  Italien  werde  ich  um 
Gendarmerieoffiziere  für  Syrien  bitten,  Frankreich  um  Reorganisatoren 
für  die  Finanzen  und  für  das  Ressort  der  Posten  und  Telegraphen. 
Auf  Österreichs  Hilfe  möchte  ich  am  liebsten  verzichten.  Dagegen 
brauche  ich  Engländer  bei  den  einzelnen  Verwaltungszweigen  in  den 
ost-  und  nordanatolischen  Provinzen.  Die  englische  Regierung  hat 
bereits  im  Prinzip  sieben  Regimentskommandeure  für  die  Gendarmerie 
und  je  zwei  Beamte  als  Justizreformer  und  für  das  Ressort  der  öffent- 
lichen Arbeiten  in  Armenien  bewilligt9*.   Auch  die  Flotte  wird  weiter 


•  Näheres  darüber  in  Kap.  CCLXXXIX.  Nach  einem  Telegramm  Freiherrn  von 
Wangenheims  vom  17.  Mai  (siehe  daselbst  Nr.  15  303)  gedachte  Mahmud 
Schewket  auch  in  West-  und  Südanatolien  englische  Reformer  anzustellen.  Dem 
Einwand  des  Botschafters,  daß  Deutschland,  das  dort  durch  die  Bagdadbahn 
interessiert  sei,  die  Anwesenheit  englischer  Beamte  nicht  angenehm  empfinden 
könne,  suchte  Mahmud  Schewket  mit  dem  Hinweis  zu  begegnen:  „Uns  sei  die 
Reform   der  Armee   unter  der  fast  diktatorischen  Oberleitung  eines  deutschen 

199 


von  England  reformiert  werden.  Die  Schiffe  werden  auf  Grund  eines 
Vorschlages  des  Admirals  Limpus  inaktive  englische  Offiziere  als  Kom- 
mandanten erhalten 10." 

England  wird  von  Mahmud  Schewket  etwas  reichlich  u  bedacht  und 
wird,  wenn  die  Ideen  des  Großwesirs  sich  realisieren  sollten,  einen  sehr 
weitgehenden  Einfluß  in  der  Türkei  auszuüben  vermögen.  Da  derselbe 
sich  aber  in  der  Hauptsache  auf  Armenien  erstreckt  und  wohl  oder 
übel  gegen  Rußland  sich  entfalten  muß,  so  können  wir  uns  wohl  damit 
abfinden  12,  um  so  mehr,  als  wir  den  entscheidenden  Einfluß  in  der  Armee 
erhalten  sollen13.  Die  Macht,  welche  die  Armee  kon- 
trolliert, wird  in  der  Türkei  immer  die  stärkste  sein. 
Es  wird  keiner  deutschfeindlichen  Regierung  möglich  sein,  sich  am 
Ruder  zu  halten,  wenn  die  Armee  von  uns  kontrolliert  ist.  Diese 
Erwägung  mag  auch  Mahmud  Schewket  vorschweben.  Er  scheint  damit 
zu  rechnen,  daß  die  von  uns  beeinflußte  Armee  zu  einer  Stärke  der 
jungtürkischen  Herrschaft14  wird.  Auch  die  Betrauung  Deutschlands 
mit  der  Reform  des  Unterrichtswesens  eröffnet  uns  vorläufig  noch  gar 
nicht  absehbare  Möglichkeiten,  das  türkische  Volk  mit  deutschem  Geiste 
zu  durchdringen  und  mittels  der  türkischen  Staatsmaschine  Aufgaben 
zu  erfüllen,  für  welche  wir  bisher  unsere  Schulen  in  der  Türkei  mit 
Reichsmitteln  haben  ausstatten  müssen. 

Im  großen  ganzen  scheint  es  mir  daher  im  deutschen  Interesse 
zu  liegen,  daß  Mahmud  Schewket  die  Zügel  der  Regierung  möglichst 
lange  in  seiner  Hand  behält  und  sein  Programm  zur  Ausführung  bringt. 

Der  Großwesir  spricht  so,  als  ob  er  die  Stellung  des  jungtürkischen 
Kabinetts  für  lange  Zeit  hinaus  als  gesichert  ansähe.  Wiederholt  er- 
klärte er  mir,  daß  seine  Partei  nicht  noch  einmal  den  Fehler  begehen 
werde,  sich  durch  Putsche  und  Straßendemonstrationen  beiseiteschieben 
zu  lassen.  Auch  ich  sehe  augenblicklich  nirgends  eine  Gefahr  für 
Mahmud  Schewket.  Gegen  den  Dolch  eines  Verschwörers  ist  er  natür- 
lich nicht  gesichert.  Seine  politischen  Gegner,  die  Ententisten,  dürften 
vorläufig  ausgespielt  haben,  trotz  aller  englischen  Intrigen.  Der  An- 
hang Kiamils  rekrutierte  sich  hauptsächlich  aus  den  europäischen  Pro- 
vinzen, die  verloren  gegangen  sind.  Ein  Imponderabile  bleibt  nur  Enver 
Bey,  von  dem  ich  aber  annehme,  daß  er  bald  wieder  nach  Afrika 
zurückkehren  wird15. 

Ob  die  Jungtürken  sich  halten  können,  wird  weniger  von  inneren 
Fragen  als  davon  abhängen,  ob  die  Türkei  in  Kleinasien  sich  zu 
konsolidieren  vermag.  Andererseits  hängt  die  Zukunft  Kleinasiens 
wesentlich  davon  ab,  ob  die  Jungtürken  am  Ruder  bleiben.  Deutschland, 
welches  die  Türkei  erhalten  will,  hat  daher  nach  meiner  unmaßgeblichen 


Generals  zugedacht,  und  ebenso  die  Reorganisation  des  gesamten  Unterrichts- 
wesens; der  Einfluß,  der  uns  dadurch  eingeräumt  werde,  sei  bedeutend  größer 
als  der  etwaige  englische." 

200 


Ansicht  ein  hervorragendes  Interesse  daran,  die  Reformbestrebungen 
Mahmud  Schewkets  tatkräftig  zu  unterstützen. 

Wangenheim 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 
i  ? 

2  Die  haben  keine  Offiziere  mehr! 

3  geht  nicht  an! 
entweder  oder! 

4  umwerfen! 

6  richtig!  bei  uns  auch! 

6  nur  bis  zu  einem  gewissen  Orade! 

7  na  na!?! 

8  giebts  nicht! 

9  II 

10  sehr  bedauerlich  und  unpraktisch 

11  übermäßig! 

12  ?j 

13  der  wird  auch  gegen  uns,  Bagdadbahn  pp.  benutzt  werden 

14  hoffentlich  nicht 

15  Nein!  der  soll  demnächst  hängen! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Viel  guter  Wille,  aber  viel  Phantasterei! 

In  Wirklichkeit  ist  diese  Zuweisung  von  verschiedenen  Europäischen] 
Nationen  für  inner-Türk[ische]  Aufgaben,  eine  großartige  Brücke  für  gegen- 
seitige Intriguen  und  für  eine  Auftheilung  der  Türkei!  So  einfach  lassen  sich 
die  Mächte  nicht  abgrenzen  und  auf  ihre  Aufgabe  beschränken!  Zumal  die 
Briten  nicht. 

Nr.  15  440 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt* 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  282  Konstantinopel,  den  22.  Mai  1913 

Aus  der  Überzeugung,  daß  Deutschlands  Politik  aufrichtig  und 
ernst  auf  die  Konsolidierung  der  asiatischen  Türkei  gerichtet  ist,  daß 
aber  nur  durch  eine  gründliche  Reorganisation  der  türkischen  Armee 
dieses  Ziel  sichergestellt  werden  kann,  ersucht  mich  der  Großwesir, 
Seiner  Majestät  dem  Kaiser  die  Bitte  um  einen  leitenden  deutschen 
General  für  die  türkische  Armee  zu  unterbreiten. 

Einzelheiten  noch  nicht  festgelegt.  Gedacht  ist  diese  Stellung  aber, 
ungefähr  ähnlich  der  des  französischen  Generals  Eydoux  in  Griechen- 
land, als  die  einer  mit  weitgehenden  Befugnissen  ausgestatteten  Autori- 
tät in  allen  militärtechnischen  Fragen.  General  müßte  an  der  Spitze 
aller  anderen   deutschen   Reformer  stehen   und   wäre   für  die   gleich- 


*   Im  wesentlichen  bereits   veröffentlicht  bei  Liman   von  Sanders,  Fünf  Jahre 
Türkei,  S.  9  f. 

201 


mäßige  und  zweckentsprechende  Durchführung  der  Reform  in  der 
türkischen  Armee  verantwortlich.  Seine  Vorschläge  müßten  Grund- 
lage abgeben  für  die  Mobilmachungsarbeiten  und  Operationen  in  einem 
späteren  Kriege.  —  Für  eine  solche  Stellung  käme  naturgemäß  nur 
eine  allererste  militärische  Kraft  in  Frage,  die  namentlich  über  große 
Erfahrung  im  Truppengeneralstab  verfügt.  Da  Generalität  und  Ge- 
neralstab im  letzten  Kriege  besonders  versagt  haben,  wäre  seine 
Hauptaufgabe,  diesen  Mißständen  durch  gründliche  und  praktische 
Ausbildung  des  Generalstabes  abzuhelfen.  Dafür  wäre  namentlich  Vor- 
aussetzung, daß  der  betreffende  General  als  Chef  des  Generalstabes 
eines  Armeekorps  selbständig  mit  besonderem  Erfolg  Generalstabs- 
reisen geleitet  hat.  Im  übrigen  muß  er  ein  fester  Charakter  sein,  der 
sich  durchzusetzen  versteht.  Sprach-  und  Landkenntnis  nicht  unbedingt 
erforderlich,  da  in  der  Person  des  Majors  von  Strempel  eine  in  den 
lokalen  Verhältnissen  voll  erfahrene  Hilfskraft  ihm  zur  Seite  gestellt 
werden  könnte. 

Meines  Erachtens  würde  die  Berufung  eines  deutschen  Generals 
alle  Stimmen,  welche  die  deutschen  Reformer  für  die  türkischen  Nieder- 
lagen verantwortlich  machen,  zum  Schweigen  bringen.  —  Außerdem 
würde  sie  das  beste  Gegengewicht  gegen  den  durch  Berufung  eng- 
lischer Verwaltungsreformer  vordringenden  englischen  Einfluß  bilden. 
Im  Falle  einer  Ablehnung  ist  zu  befürchten,  daß  die  Pforte,  welche 
mit  dem  bisherigen  ungenügenden  Militärreformsystem  zu  brechen 
entschlossen  ist,  sich  an  andere  Mächte  wenden  würde.  Höre  streng 
vertraulich,  daß  seitens  des  österreichischen  Militärattaches  *  für  die 
Berufung  österreichischer  Reformer  Propaganda  gemacht  wird.  Ge- 
heimhaltung vorläufig  dringend  erbeten. 

Wangenheim 


Nr.  15  441 

Der  Chef  des  Militärkabinetts  General  Freiherr  von  Lyncker 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Vertraulich  Berlin,  den  30.  Juni  1913 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  unter  Bezugnahme  auf  das  Tele- 
gramm des  deutschen  Botschafters  in  Konstantinopel  vom  22.  Mai 
d.  Js.  —  dortige  Nr.  A  10443**  —  und  auf  den  Militärbericht  Nr.  714 
des  Militärattaches  in  der  Türkei  vom  21.  Mai  d.  Js.  —  dortige  Nr. 


•  Oberst  von  Pomiankowski. 
•*  Siehe  Nr.  15  440. 

202 


A  10  697*  —  sehr  ergebenst  mitzuteilen,  daß  Seine  Majestät  der 
Kaiser  und  König  der  darin  zum  Ausdruck  gebrachten  Bitte  der  türki- 
schen Regierung  um  Entsendung  eines  Generals  als  Missionschef 
nach  der  Türkei  entsprechen  wollen. 

Wenn  auch  nicht  ohne  Schwierigkeit,  so  ist  es  aber  dennoch  ge- 
lungen, einen  General  ausfindig  zu  machen,  der  seine  Bereitwilligkeit 
erklärt  hat,  sich  dieser  Aufgabe  zu  unterziehen.  Es  ist  dies  der  Ge- 
neralleutnant Liman  von  Sanders,  Kommandeur  der  22.  Division 
in  Kassel,  ein  vorzüglicher  Divisionskommandeur,  der  sich  für  diese 
Stellung  nach  jeder  Richtung  hin  besonders  eignen  würde. 

General  Liman  von  Sanders  ist  eine  elegante  militärische  Erschei- 
nung, von  gewandten  Formen  und  militärisch  vielseitig  gebildet.  Er 
gehörte  lange  Jahre  dem  Generalstabe  an  und  ist  in  den  verschieden- 
sten Stellungen  der  Armee  mit  bestem  Erfolge  tätig  gewesen. 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  von  dieser  Sachlage  sehr  er- 
gebenst Kenntnis  zu  geben.  Sowohl  das  zuständige  Generalkommando 
als  auch  der  General  Liman  von  Sanders  sind  auf  strengste  Geheim- 
haltung hingewiesen  und  ist  ihnen  mitgeteilt  worden,  zunächst  keine 
weiteren   Schritte    zu   unternehmen,    bis    Nachricht   von    mir   eintrifft. 

Freiherr  von  Lyncker 


Nr.  15  442 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  223  Therapia,  den  18.  Juli  1913 

Von  dem  Inhalte  des  von  Euerer  Exzellenz  mir  mitgeteilten 
Schreibens  des  Herrn  Chefs  des  Militärkabinetts  vom  30.  v.  Mts.  *• 
habe  ich  dem  Großwesir  zunächst  mündlich  vertraulich  Kenntnis  ge- 
geben, auf  seine  Bitte  dann  aber  ihm  auch  eine  schriftliche  Mit- 
teilung gemacht.  Said  Halim  Pascha  wünschte,  daß  durch  letztere 
eine  für  die  Türkei  bindende  Abmachung  geschaffen  würde. 

Bei  dieser  Gelegenheit  bat  mich  Said  Halim,  Euerer  Exzellenz 
seinen  Wunsch  zu  übermitteln,  General  Liman  von  Sanders  möchte 
nicht  vor  Vertragsabschluß  herkommen.  Er  würde  dann  leicht  mit 
allerlei  Persönlichkeiten  in  Berührung  kommen,  deren  Beziehungen 
ihm  später  vielleicht  nicht  erwünscht  sein  würden.  Um  den  Eindruck 
seines  Erscheinens  auf  dem  Felde  seiner  hiesigen  Tätigkeit  nicht  ab- 

*  Nicht  bei  den  Akten. 
••  Siehe  Nr.   15  441. 

203 


zuschwächen,  würde  er  es  vielmehr  für  nützlich  halten,  wenn  der 
General  bei  seiner  Ankunft  gleich  in  seiner  vollen  Würde  und  mit 
ganzer  Autorität  hier  auftreten  würde. 

Wangenheim 


Nr.  15  443 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an 

den  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 
Nr.  290  Berlin,  den  24.  August  1913 

Seine  Majestät  wünschen,  daß  Verhandlungen  wegen  Übernahme 
General  Liman  und  Oberst  Weber  beschleunigt  werden.  Natürlich 
kann  Übertritt  erst  nach  Erledigung  türkisch-bulgarischer  Differenz 
erfolgen.  Bis  dahin  müssen  Verhandlungen  geheim  bleiben,  da  Be- 
kanntwerden uns  Vorwurf  Parteinahme  zuziehen  und  politische  Schwie- 
rigkeiten bereiten  würde.  Im  Interesse  Geheimhaltung  scheint  uns 
erwünscht,  daß  Verhandlungen  verläufig  dort  und  nicht  durch  hiesigen 
türkischen  Botschafter  geführt  werden. 

Ew.  pp.  wollen  Besprechungen  mit  Großwesir  eröffnen  und  ins- 
besondere Vorschläge  erbitten  über  Gehalt,  Kommandostellung,  Macht- 
befugnisse und  Zahl  der  Offiziere,  die  unsere  Herren  mitbringen. 
Drahtbericht. 

J  ago  w 


Nr.  15  444 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  Z.  in  Rominten 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  259  Berlin,  den  20.  September  1913 

Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  Botschafter  in  Kon- 
stantinopel meldet*: 

„Ganz  geheim. 

Nach  langen  Verhandlungen  ist  folgendes  Projekt  über  die  deutsche 
Militärreorganisationskommission  zustandegekommen. 


•  Telegramm  Nr.  543  vom  19.  September  1913. 
204 


Um  die  bisher  immer  vergeblich  angestrebte  Einheitlichkeit  des 
deutschen  Reorganisationswerks  zu  erreichen,  wird  General  Liman 
direkter  Vorgesetzter  aller  deutschen  Offiziere  in  türkischen  Diensten1. 
Ihm  wird  das  Recht  verliehen,  überall  in  der  Türkei  Besichtigungen 
vorzunehmen.  Ohne  ihn  darf  kein  ausländischer  Offizier  für  die 
türkische  Armee  engagiert  werden. 

Ihm  wird  das  ganze  Militärerziehungs-  und  Bildungswesen  — 
einschließlich  Schießschule,  Übungslager  und  Lehrtruppen  —  unmittel- 
bar unterstellt,  was  für  die  Zukunft  der  Türkei  und  die  Verbreitung 
deutscher  Art  und  Sprache  ganz  besonders  wichtig  ist. 

General  Liman  wird  Mitglied  des  Obersten  Kriegsrats.  Sein  Ein- 
fluß auf  die  Beförderungen  türkischer  Offiziere,  namentlich  zu  Ge- 
neralen, wird  festgelegt.  Er  erhält  die  Strafbefugnis  eines  kommandie- 
renden Generals. 

Dadurch,  daß  schließlich  —  im  Gegensatz  zu  bisherigen  hiesigen 
englischen  Marinemissionen  —  der  Vertrag  auf  fünf  Jahre  statt  auf 
zwei  abgeschlossen  werden  soll,  und  daß  Versetzungen  und  Verab- 
schiedungen höherer  türkischer  Offiziere  innerhalb  von  sechs  Monaten 
nach  Kabinetts-  bezw.  Kriegsministerwechsel  nur  mit  Einwilligung  des 
deutschen  Generals  stattfinden  dürfen,  wird  die  erforderliche  Kon- 
tinuität der  militärischen  Arbeit  gewährleistet  und  das  unerschütterte 
Vertrauen  in  Seine  Majestät  den  Kaiser  und  die  deutschen  militärischen 
Grundsätze  bewiesen2.  Das  Fehlen  von  Kontinuität  verschuldete  be- 
kanntlich die  Katastrophen  im  Anfang  des  Krieges. 

Für  die  Ausbildung  der  Generale,  die  theoretische  Fortbildung 
aller  Generalstabsoffiziere,  Abhaltung  von  Generalstabsreisen  und  ähn- 
liche Bedürfnisse  wird  General  Liman  eine  Pauschalsumme  von  an- 
nähernd einer  Million  Mark  im  Jahre  zur  freien  Verfügung  gestellt, 
während  alle  deutschen  Offiziere  zusammen  bisher  mit  weniger  als 
30  000  Mark  haushalten  mußten. 

Alles  Weitere  empfehle  ich  in  Deutschland  bei  den  zuständigen 
Behörden  und  bei  General  Liman  durch  den  Militärattache  regeln  zu 
lassen,  damit  die  ganze  Angelegenheit  in  kürzester  Zeit  erledigt  wird. 
Major  von  Strempel  könnte  26.  in  Berlin  sein  3." 

Euerer  Majestät  Militärkabinett  habe  ich  Abschrift  des  Telegramms 
zugehen  lassen. 

Alleruntertänigst 

Jago  w 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Habe  ich  von  vornherein  als  Bedingung  aufgestellt! 

2  heiliger  „Matin"! 

3  ja 

205 


Nr.  15  445 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  285  St.  Petersburg,  den  7.  November  1913 

Herr  Neratow  ließ  mich  zu  sich  bitten  und  sagte  mir  sichtlich  be- 
unruhigt folgendes: 

Er  habe  aus  türkischer  guter  Quelle  die  Nachricht,  daß  eine  un- 
gewöhnlich große  Anzahl  deutscher  Generalstabs-  und  anderer  Offi- 
ziere, darunter  Generäle,  zur  Reorganisation  der  türkischen  Armee 
und  zwar  besonders  der  Garnison  von  Konstantinopel 
in  türkischen  Dienst  demnächst  treten  werden.  In  Konstantinopel 
solle  eine  Art  Musterdivision  ganz  nach  deutschem  Vorbilde  und  unter 
dem  Kommando  eines  deutschen  Generals  errichtet  werden.  Die  Aus- 
bildung von  türkischen  Provinzialtruppen  im  üblichen  Rahmen  würde 
ihn  nicht  beunruhigt  haben,  hier  handele  es  sich  aber  um  eine  Maß- 
nahme, welche  Rußland  nicht  anders  als  gegen  sich  gerichtet  auf- 
fassen könne.  Alles,  was  sich  in  Konstantinopel  und  an  der  Meerenge 
ereigne,  sei  für  Rußland  von  der  höchsten  Bedeutung.  Ministergehilfe 
hob  noch  hervor,  daß  nach  seinen  Informationen  der  deutsche  Militär- 
attache in  Konstantinopel  morgen  Sonnabend  in  Berlin  eintreffen  solle, 
um  die  Zustimmung  der  Kaiserlichen  Regierung  zu  dem  „arrangement" 
einzuholen. 

Wenn  diese  Nachrichten  Herrn  Sasonow  in  Livadia  bekannt  würden 
und  unwidersprochen  blieben,  befürchte  er  eine  starke  Verstimmung. 
Herr  Neratow  bat  mich,  Euerer  Exzellenz  von  vorstehendem  sofort 
Meldung  zu  erstatten. 


Lucius 


Nr.  15  446 


Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Zimmermann  an  den  Geschäftsträger  in  Petersburg 

Freiherrn  von  Lucius 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  217  Berlin,  den  8.  November  1913 

Auf  Telegramm  Nr.  285*. 

Die  Türkei  hat  uns  um  Militärmission  gebeten.   An  der  Spitze  soll 
e  i  n   General  stehen. 

*  Siehe  Nr.  15  445. 

206 


Daß  wir  andauernd  die  türkische  Armee  zu  reformieren  versucht 
haben,  Erfolg  aber  recht  problematisch  gewesen,  ist  bekannt.  Man 
hat  Deutschland  sogar  für  türkische  Mißerfolge  in  letzten  Kriegen 
verantwortlich  gemacht!  Wenn  wir  trotz  dieser  Erfahrungen  zum 
Eingehen  auf  neues  türkisches  Ansuchen  geneigt  sind,  so  geschieht 
dies  aus  verständlicher  Erwägung,  daß  die  Türkei  durch  Ablehnung 
nur  verstimmt  werden  und  sofort  anderswo  Erfüllung  ihres  Wunsches 
suchen  und  zweifellos  auch  finden  würde. 

Wo  Mission  arbeiten  soll,  werden  wir  lediglich  türkischem  Er- 
messen überlassen.  Die  russischen  Bedenken  hinsichtlich  Konstan- 
tinopel sind  uns  gänzlich  unverständlich.  Wir  haben  eine  zu  hohe 
Meinung  von  der  russischen  Armee,  als  daß  wir  annehmen  könnten, 
daß  selbst  „eine  Art  Musterdivision  in  Konstantinopel"  für  Rußland 
auch  nur  im  entferntesten  bedrohlich  werden  könnte.  Herr  Neratow 
kennt  die  türkischen  Verhältnisse  und  wird  daher  unseren  Skeptizis- 
mus gegenüber  dem  Erfolg  der  neuen  Reformarbeit  begreifen.  Daß 
andererseits  die  Türkei  jemals  auf  den  Gedanken  eines  aggressiven 
Vorgehens  gegen  Rußland  verfallen  könnte,  glaubt  wohl  auch  Herr 
Neratow  schwerlich.  Die  Pforte  wird  glücklich  sein,  wenn  ihre  Balkan- 
nachbarn ihr  das  Leben  lassen,  und  offenbar  lediglich  zu  tunlichster 
Sicherung  ihrer  eigenen  Existenz  sucht  sie  ihre  Armee  aufzubessern. 
An  Erhaltung  der  Türkei  in  ihrem  ohnehin  recht  bescheidenen  euro- 
päischen Umfang  und  in  ihrem  asiatischen  Besitz  haben  aber  alle 
Mächte  ein  Interesse.  Insbesondere  nehmen  wir  bestimmt  an,  daß  Ruß- 
land diesen  unseren  Standpunkt  teilt.  Wir  glauben  daher,  daß  auch 
Rußland  die  uns  gegenüber  etwa  hervortretenden  türkischen  Wünsche 
nach  Stationierung  der  Militärmission  gerade  in  Konstantinopel  nur 
begrüßen  könnte. 

Bitte  diese  Gesichtspunkte  Herrn  Neratow  gegenüber  nachdrück- 
lich  verwerten   und   ihm   die   unverständliche   Nervosität  ausreden. 


Zimmermann 


Nr.  15  447 


Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  289  St.  Petersburg,  den  11.  November  1913 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.   217*. 

Glaube  Herrn  Neratow  etwas  beruhigt  zu  haben. 

Immerhin  hob   Ministergehilfe   wieder   hervor,   daß   Stationierung 


*  Siehe  Nr.  15  446. 

207 


der  Militärmission  in  Konstantinopel,  Erhöhung  Kriegsbereitschaft  der 
Türkei  in  den  Dardanellen  zur  Folge  haben  würde.  Wenn  er  auch 
keine  Bedenken  gegen  Tätigkeit  der  Mission  nach  der  Balkanfront 
hin  habe,  so  könne  es  Rußland  nicht  gleichgültig  sein,  wenn  beispiels- 
weise die  Dardanellen  stark  befestigt  würden  und  Geschütze,  die 
20  Kilometer  das  Schwarze  Meer  bestreichen  könnten,  am  Eingang 
hierzu  aufgestellt  würden.  Derartige  Befestigungen  auf  Ratschlag 
deutscher  Offiziere  aufgeführt,  könnten  doch  bloß  gegen  Rußland  ge- 
richtet sein. 

Ich  machte  Ministergehilfen  unter  anderem  darauf  aufmerksam,  daß 
Zeitungsnachrichten  zufolge  auch  England  Erweiterung  seiner  Marine- 
mission beabsichtige.  Herr  Neratow  wollte  Herrn  Sasonow  unsere 
Gesichtspunkte  vortragen,  sobald  er  zurück  sei,  und  bat  mich,  dieselben 
dem  Minister  gegenüber  seinerzeit  zu  wiederholen;  vielleicht  sei  Herr 
Sasonow  weniger  beunruhigt  wie  er  über  die  Angelegenheit.  Nach 
Livadia  wollte  er  dem  Minister  nicht  darüber  telegraphieren. 

Lucius 

Nr.  15  448 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  292  St.  Petersburg,  den  17.  November  1913 

Sasonow  empfing  mich  heute  gleich  nach  seiner  Rückkehr  und 
bat  mich,  Euerer  Exzellenz  zu  melden,  daß  ihn  die  Angelegenheit 
unserer  türkischen  Militärmisson  trotz  unserer  Erklärungen  peinlich 
berührt.  Auch  ein  heutiges  Telegramm  des  Herrn  von  Sverwejew, 
nach  einem  Gespräch  mit  dem  Herrn  Unterstaatssekretär,  bezeichnete 
der  Minister  als  „peu  satisfaisant".  Es  handle  sich  doch  jetzt  nicht  um 
ein  Nachgeben  unsererseits  auf  Grund  einer  russischen  Pression,  son- 
dern „il  s'agit  simplement  d'une  deference  ä  nos  voeux".  Die  An- 
gelegenheit sei  keine  militärische,  sondern  politische  Frage  von  hoher 
Bedeutung  für  Rußland.  Unsere  Beziehungen  seien  nie  besser  und 
vertrauensvoller  gewesen  als  jetzt,  daher  könnten  wir  seiner  Ansicht 
nach  den  Türken  nach  Erfüllung  ihres  Wunsches  sehr  wohl  sagen,  daß 
wir,  „um  unsere  Freunde  —  die  Russen  —  nicht  zu  verletzen", 
bäten,  davon  abzusehen,  dem  deutschen  General  Truppenteile  in  Kon- 
stantinopel zu  unterstellen.  Nach  seinen  Nachrichten  solle  das 
erste  türkische  Armeekorps  diesem  Generale  unterstellt  werden.  Der 
russische  Botschafter  in  Konstantinopel  würde  also  sozusagen  von 
einem  deutschen  Armeekorps  beschützt.  Die  Türkei  sei  seit  Jahr- 
hunderten der  Gegner  Rußlands,  das  viele  Kriege  gegen  die  Osmanen 

208 


geführt  habe.  Es  wäre  für  Rußland  nie  angenehm  gewesen,  daß 
deutsche  Offiziere  die  türkische  Armee  reorganisierten.  Der  Zar  habe 
Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  Könige  über  diese  Verhältnisse  offen 
gesprochen.  Der  Minister  hatte  dem  Kaiser  Nikolaus  berichtet,  welch 
ausgezeichneten  Eindruck  er  von  seinen  vertrauensvollen  Unterredungen 
mit  Euerer  Exzellenz  und  dem  Herrn  Unterstaatssekretär*  gehabt 
habe.  Seine  Majestät  wäre  äußerst  befriedigt  darüber  gewesen.  Um 
so  überraschender  sei  die  Nachricht  aus  Konstantinopel  gekommen. 
Der  Kaiser  habe  ihm  vorwurfsvoll  gesagt:  „et  vos  impressions  de 
Berlin!"  Sasonow  bedauerte,  daß  man  ihm  in  Berlin  nicht  über  Militär- 
mission in  Konstantinopel  gesprochen  hätte.  Er  wäre  Euerer  Exzel- 
lenz besonders  dankbar  für  eine  genauere  Information  darüber,  ob  tat- 
sächlich die  Absicht  bestände,  das  erste  türkische  Armeekorps  oder 
einen  Teil  desselben  dem  General  zu  unterstellen?  Uns  würde  es  auch 
sicherlich  nicht  gleichgültig  sein,  wenn  zum  Beispiel  ein  belgisches 
oder  ein  holländisches  Armeekorps  unter  einen  französischen  Ge- 
neral gestellt  würde.  Als  ich  Minister  sagte,  es  sei  doch  völlig 
ausgeschlossen,  daß  die  Türkei  aggressive  Absichten  gegen  Rußland 
habe,  erwiderte  Herr  Sasonow:  Von  den  Jungtürken,  in  die  er  keinerlei 
Vertrauen  hätte,  könne  man  jeden  coup  de  tete  erwarten;  es  handle 
sich  darum,  den  türkischen  „Größenwahn"  nicht  noch  zu  stärken. 
Unsere  Offiziere  könnten  doch,  wie  früher,  in  der  Provinz  arbeiten. 
Die  Stationierung  der  Mission  in  Konstantinopel  sei  aber,  ebenso  wie 
die  ständige  Anwesenheit  des  Generals  ein  völliges  Novum.  Er  bat 
mich,  das  heutige  Gespräch  Euerer  Exzellenz  ausführlich  zu  melden. 
Es  läge  ihm  alles  daran,  mit  uns  freundschaftlich  zu  stehen,  diese  An- 
legenheit  mache  ihm  aber  seine  Aufgabe  sehr  schwer. 

Lucius 


Nr.  15  449 

Aufzeichnung  des  Militärattaches  In  Konstantlnopel 
Majors  von  Strempel,  z.  Z.  In  Berlin 

Eigenhändig 

Berlin,  den  18.  November  1913 
Klagen   des   Herrn  Sasonow**: 

1.  Stärkung  des  türkischen  Größenwahns. 

2.  Die  deutschen  Offiziere  sollten  wie  früher  in  der  Provinz  arbei- 


•  Ober  die  Anwesenheit  Sasonows  in  Berlin  am  22.  Oktober  und  die  bei  dieser 
Gelegenheit  mit  den  deutschen  Staatsmännern  gepflogenen  Besprechungen  über 
die  Balkanfrage  vgl.   Bd.  XXXVI,   Kap.  CCLXXX  Nr.  14  193. 
*•  Nr.  15  448. 

14    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  209 


ten,  ihre  Stationierung  in  Konstantinopel  sowie  die  dauernde  An- 
wesenheit des  Generals  dort  sei  ein  völliges  Novum. 

3.  Der  russische  Botschafter  in  Konstantinopel  würde  sozusagen 
von  einem  deutschen  Armeekorps  beschützt. 

4.  Verdächtigung  der  Jungtürken  bezüglich  aggressiver  Absichten, 
ad  1.  Der  türkische  Größenwahn  hat  durch  die  letzten  Kriege  einen 

schweren  Stoß  erlitten.  Bei  den  leitenden  militärischen  Kreisen  hatte 
er  auch  vor  dem  Kriege  nur  in  bescheidenen  Grenzen  bestanden;  daß 
er  jetzt  nicht  mehr  existiert,  ist  dadurch  erwiesen,  daß  die  Türken 
um  eine  Militärmission  bitten.  Den  jungen  Elementen  haftet  der 
Größenwahn  weiter  an.  Sie  sollen  aber  viel  Wasser  in  ihren  Wein 
schütten,  daher  die  Militärmission! 

Hätten  wir  Deutschen  dagegen  jetzt  unsere  Offiziere  zurück- 
gezogen, so  hätten  die  jungen  Offiziere  das  so  aufgefaßt,  wie  wenn 
sie  jetzt  Fremde  nicht  mehr  nötig  hätten;  ihr  Größenwahn  wäre 
üppig  ins  Kraut  geschossen. 

ad  2.  Die  deutschen  Offiziere  hätten  früher  in  der  Provinz  ge- 
arbeitet, das  Umgekehrte  sei  ein  Novum,  ein  völliges  Novum. 

In  dieser  Beziehung  hat  sich  eigentlich  garnichts  geändert,  soweit 
die  26  Offiziere  in  Betracht  kommen,  die  seit  vier  Jahren  in  Kon- 
stantinopel sind. 

Bis  dahin  war  es  so,  daß  alle  Offiziere  gerade  in  der  Haupt- 
stadt waren,  und  keiner  in  der  Provinz.  Der  Chef  der  Militärmission 
Exzellenz  von  der  Goltz  lebte  zwölf  Jahre  hintereinander  in  Konstan- 
tinopel. Zeitweise  hatten  wir  zwei  Marschälle  und  fünf  Generäle 
gleichzeitig  dort.  Auch  jetzt  haben  wir  dort  einen  General  und  hatten 
meist  zirka  14  Offiziere  in  der  Hauptstadt. 

In  den  letzten  drei  Jahren  waren  von  26  Herren  drei  in  Saloniki, 
drei  in  Adrianopel  und  drei  in  Ersingjan.  Früher  hielten  die  Russen 
sich  darüber,  daß  sie  in  Ersingjan  waren,  viel  mehr  auf!  (Viel- 
leicht kommen  dorthin  auch  wieder  drei). 

ad  3.  Der  russische  Botschafter  würde  sozusagen  von  einem  deut- 
schen Armeekorps  bewacht! 

Das  ist  eigentlich  ein  starkes  Stück! 

Der  englische  Admiral,  der  die  Flotte  (was  wir  Hochseeflotte 
nennen)  ganz  und  gar  befehligt,  hat  keine  Bedenken  hervorgerufen? 

Und  die  ganze  Gendarmerie  des  Reichs  stand  unter  einem  Italiener, 
jetzt  Franzosen!  Die  Gendarmerie  dient  viel  eher  politischer  Über- 
wachung als  ein  „Musterarmeekorps",  von  dem  vielleicht  nur  vier  bis 
sechs  Regimenter  in  der  Hauptstadt  stehen  werden.  Wäre  der  deutsche 
General,  wie  zum  Beispiel  General  Eydoux  in  Athen  Generalinspekteur, 
so  hätte  er  viel  mehr  zu  sagen  als  nur  als  Missionschef  und  Kom- 
mandierender General  eines  Korps. 

210 


Im  Kriege  standen  drei  mobile  Divisionen  unter  deutschem  Be- 
fehl! Jetzt  sind  die  Lehrtruppenteile,  die  auch  bisher  zum  Teil  in  der 
Hauptstadt  standen,  in  ein  Armeekorps  zusammenzufassen,  da  mit 
einzelnen  Lehrtruppenteilen  wegen  der  sehr  schwachen  Friedensstärke 
Übungen  fast  unmöglich  waren.  Das  ganze  Korps  soll  nur  Lehrzwecken 
dienen.  Daß  dem  General  das  Armeekorps  in  der  Hauptstadt  unter- 
stellt werden  soll,  hat  keine  politische  Vorgeschichte.  Es  kommen  auch 
andere  Orte  in  Betracht.  Doch  ist  Konstantinopel  einzig  richtig,  weil 
dort  die  Militärschulen  sind,  und  diese  davon  mitprofitieren  sollen. 
Sonst  hätten  wir  noch  einen  General  mehr  schicken  müssen. 

Der  Titel  „Militärmission"  ist  von  türkischer  Seite  tatsächlich 
gewählt,  um  den  Größenwahn  der  jungen  Elemente  zu  mildern;  von 
deutscher  lediglich,  weil  wir  gesehen  haben,  daß  loses  Nebeneinander- 
arbeiten verschiedener  deutscher  Offiziere  keinen  Wert  oder  wenig 
hat.  Das  hat  der  Balkankrieg  wahrhaftig  bewiesen.  Er  hat  aber  auch 
zu  Punkt  4  bewiesen,  daß  die  Türken  an  aggressive  Kriege  nicht  zu 
denken  wagen  dürfen.  Das  weiß  auch  Herr  Sasonow,  denn  er  kennt 
die  inneren  Schwierigkeiten  der  Türkei,  und  die  militärischen  Bäume 
in  ihr  werden  sicher  nie  in  den  Himmel  wachsen.  Es  bedarf  schon  einer 
großen  Zahl  sehr  befähigter  deutscher  Offiziere,  wenn  wir  diese  Bäume 
am  Leben  halten  und  stärken  wollen.  — 

Die  russischen  Klagen  sind  wohl  nicht  ganz  aufrichtig,  sonst  hätte 
man  stichhaltigere  Argumente  gefunden.  Sollten  hier  nicht  mit  franzö- 
sische Kastanien  aus  dem  Feuer  geholt  werden? 

Erstlich  hatten  sich  die  Franzosen  große  Hoffnungen  gemacht,  uns 
jetzt  am  Goldenen  Hörn  abzulösen,  und  zweitens  wittert  Schneider- 
Creuzot  Verrat.  — 

Behandelt  und  verhandelt  ist  die  ganze  Militärmissionsfrage  in 
Konstantinopel  im  vollsten  Einverständnisse  mit  dem  Herrn  Botschafter. 
Politische  Befürchtungen  sind  nicht  aufgestiegen,  denn  einmal  sagte 
der  Herr  von  Giers  zum  Überdrusse  oft,  daß  die  Russen  die  Türkei 
innerlich  stärken  möchten,  und  mehr  kann  doch  nicht  durch  die  Mission 
erreicht  werden!  Und  andererseits  kann  sich  bei  den  auch  von  Herrn 
Sasonow  „als  nie  besser  und  vertrauensvoller  als  jetzt"  bezeichneten 
deutsch-russischen  Beziehungen  am  Goldenen  Hörn  ein  deutscher 
General  mit  Kommandogewalt  neben  dem  englischen  Hochseeflotten- 
kommodore und  dem  französischen  General  Bauman  mit  seinem 
ganzen  Gendarmerienetze,  die  alle  an  der  Erstarkung  der  Türkei  ar- 
beiten, nicht  ganz  schlecht  ausnehmen. 

von  Stre  mpel 


14*  211 


Nr.  15  450 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Bethmann  Hollweg* 

Eigenhändig 

Berlin,  den  18.  November  1913 

Herr  Kokowzow**  brachte  heute  im  Auftrage  des  Herrn  Sasonow 
unsere  Militärmission  in  Konstantinopel  bei  mir  zur  Sprache.  Herr 
Sasonow  sei  beunruhigt,  daß  ein  deutscher  General  in  Konstantinopel 
ein  türkisches  Armeekorps  befehligen  solle.  Eine  nähere  Begründung 
für  diese  Beunruhigung  wurde  nicht  gegeben. 

Ich  habe  Herrn  Kokowzow  folgendes  erklärt: 

Im  Anfang  dieses  Sommers  habe  sich  die  Türkei  mit  der  Bitte  um 
eine  Militärmission  an  uns  gewandt.  Ich  hätte  damals  die  Sache  vom 
politischen  Standpunkte  aus  geprüft  und,  da  keine  Bedenken  vorgelegen 
hätten,  die  Erfüllung  der  Bitte  zugesagt.  Danach  sei  die  Angelegenheit 
lediglich  von  den  militärischen  Stellen  bearbeitet  worden***.   So  sei  es 


•  Die  Aufzeichnung  wurde  mit  Erlaß  Nr.  1327  vom  19.  November  dem  Ge- 
schäftsträger in  Petersburg  Freiherrn  von  Lucius  zur  Information  und  ent- 
sprechenden Verwertung  übersandt. 

•*  Der  russische  Ministerpräsident  Kokowzow  weilte,  von  Paris  kommend,  wo 
er  mit  der  französischen  Regierung  über  die  Unterbringung  russischer  Eisen- 
bahnobligationen auf  dem  Pariser  Markt  gegen  die  Verpflichtung  zum  beschleu- 
nigten Bau  strategischer  Eisenbahnen  in  Rußland  verhandelt  hatte,  vom  17.  bis 
20.  November  in  Berlin.  Hier  hatte  er  am  18.  und  19.  eingehende  Aussprachen 
mit  dem  Reichskanzler,  am  19.  auch  eine  Audienz  beim  Kaiser.  In  seinem 
großen  Immediatbericht  vom  2.  Dezember  1913  über  seine  Auslandsreise  hat 
Kokowzow  eine  eingehende  Darstellung  von  seinen  Gesprächen  mit  dem 
Reichskanzler  und  dem  Kaiser  gegeben,  die  die  obige  Darstellung  Bethmann 
Hollwegs  in  erwünschter  Weise  ergänzt  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel 
Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  415  ff.).  Gegenüber  den  Behauptungen 
des  französischen  Botschafters  Delcasse,  Kokowzow  habe  aus  Berlin  nach  Peters- 
burg telegraphiert,  daß  er  durch  seine  Vorstellungen  ein  wesentliches  Nach- 
geben Deutschlands  erzielt  habe  („Des  renseignements  gdneraux  qu'il  a  fait 
telegraphier  de  Berlin,  il  resulte  que  ses  repr£sentations  auraient  amene  l'Alle- 
magne  ä  ne  pas  r£clamer  pour  son  general  le  corps  d'arm£e  de  Constantinople 
et  ä  consentir  ä  une  diminution  des  pouvoirs  qui  devaient  primitivement  lui 
£tre  attribues."  Telegramm  Delcasses  an  Pichon  vom  21.  November  1913; 
Französisches  Gelbbuch:  Les  Affaires  Balkaniques,  III,  83),  ist  von  Wichtigkeit 
die  Feststellung  des  Kokowzowschen  Immediatberichts:  „Ich  will  Eurer  Majestät 
nicht  verheimlichen,  daß  meine  Auseinandersetzungen  in  Berlin  bei  mir  einen 
unbefriedigenden  Eindruck  hinterlassen  haben  und  mir  Grund  geben  zu  der 
Vermutung,  daß  die  deutsche  Regierung  die  von  ihr  gewählte  Haltung  nicht 
leicht  aufgeben  wird,  wenn  sie  sie  überhaupt  aufgibt."  Vgl.  zu  den  Berliner 
Besprechungen  Kokowzows  auch  noch  den  vertraulichen  Brief  des  russischen 
Botschafters  in  Berlin  Sverwejew  an  Sasonow  vom  21.  November  (Diplomatische 
Aktenstücke  zur  Geschichte  der  Ententepolitik  der  Vorkriegsjahre,  ed.  B.  v. 
Siebert,  S.  639  f.),  und  den  Bericht  Botschafter  Jules  Cambons  vom  20.  Novem- 
ber  (Französisches  Gelbbuch,  a.  a.  O.,   III,   82s.). 

***  Auch  Kokowzow  hebt  in  seinem  Immediatbericht  an  den  Zaren  vom  2.  Dezember 
(Stieve,   a.  a.  O.,   III,  415  f.)   hervor,  daß  der   Reichskanzler  wohl  kaum  über 

212 


gekommen,  daß  mir  die  Sache  während  des  Hierseins  des  Herrn  Saso- 
now  gar  nicht  mehr  vorgeschwebt,  und  daß  ich  sie  nicht  zum  Gegen- 
stande der  Unterhaltung  mit  ihm  gemacht  hätte.    Die  Erfüllung  der 


den  beabsichtigten  Schritt  unterrichtet  gewesen  sei.  „Er  wußte  nur,  daß  die  tür- 
kische Regierung  Deutschland  vorgeschlagen  hatte,  die  Instrukteure  für  die  tür- 
kische Armee  zu  stellen;  daß  der  deutsche  Kaiser  diese  Frage  Eurer  Kaiserlichen 
Majestät  gegenüber  während  Ihres  Aufenthaltes  in  Berlin  im  Mai  d.  Js.  in  einer 
persönlichen  Unterredung  berührt  hatte;  daß  Eure  Majestät  keine  sachlichen  Ein- 
wendungen erhoben  hatten,  da  die  Lehrtätigkeit  der  deutschen  Offiziere  in  der 
türkischen  Armee  mehr  als  20  Jahre  stattgefunden  hatte;  daß  aber  später  die 
ganze  weitere  Entwicklung  dieser  Frage  im  Sinne  der  Bildung  eines  Muster- 
korps unter  deutschem  Kommando  und  der  Stationierung  dieses  Korps  in  der 
türkischen  Hauptstadt  H.  von  Bethmann  Hollweg  überhaupt  unbekannt  war,  und 
daß  sich  nur  die  militärischen  Stellen  des  Deutschen  Reiches  hiermit  befaßt 
hatten."  Die  auf  Bethmann  Hollweg  zurückgehenden  Angaben  Kokowzows  wer- 
den durch  den  Befund  der  deutschen  Akten  vollinhaltlich  bestätigt.  Über  die  in 
Konstantinopel  zwischen  dem  Marineminister  Mahmud  Pascha  als  Stellvertreter 
des  Kriegsministers  und  dem  Militärattache"  von  Strempel  geführten  Verhandlun- 
gen, die  am  28.  Oktober  bzw.  27.  November  zum  Abschluß  von  Verträgen  zwi- 
schen Mahmud  und  General  von  Liman  führten  (vgl.  Nr.  15  465),  ist  dem  Aus- 
wärtigen Amt  nichts  weiter  bekannt  geworden,  als  was  das  Telegramm  Freiherrn 
von  Wangenheims  vom  20.  September  (siehe  Nr.  15  444),  in  dem  von  der  Bildung 
eines  Musterkorps  in  Konstantinopel  unter  deutschem  Kommando  noch  gar  keine 
Rede  war,  meldete.  Wenn  General  Liman  von  Sanders  in  seinem  Erinnerungs- 
buche „Fünf  Jahre  Türkei"  (S.  10  f.)  anführt,  der  Kontrakt  sei  den  höchsten 
deutschen  Behörden  zur  Prüfung  vorgelegt,  so  gilt  das  nur  für  die  militärischen 
Behörden.  Das  Auswärtige  Amt  hat  von  dem  Inhalt  des  abgeschlossenen  Ver- 
trages erst  am  8.  Januar  1914  durch  das  Preußische  Kriegsministerium  Kennt- 
nis erhalten  (Schreiben  des  Kriegsministeriums  vom  29.  Dezember  1913,  einge- 
gangen am  8.  Januar  1914).  Nach  Angabe  Kaiser  Wilhelms  II.  zu  Kokowzow 
wäre  der  Gedanke,  dem  Führer  der  deutschen  Militärmission  das  Kommando 
eines  Armeekorps  in  Konstantinopel  zu  übertragen,  an  dem  man  in  Petersburg 
so  heftigen  Anstoß  nahm,  nicht  einmal  von  Deutschland  ausgegangen,  sondern 
wäre  von  der  Türkei  selbst  geäußert  worden,  was  von  Dschemal  Pascha  (Erin- 
nerungen eines  türkischen  Staatsmannes,  S.  69)  bestätigt  wird.  Der  russische 
Botschafter  in  Berlin  Sverwejew  wollte  freilich,  wie  Delcasse  am  29.  November 
nach  Paris  zu  melden  wußte  (Französisches  Gelbbuch,  a.  a.  O.,  III,  91),  das 
Gegenteil  behaupten:  die  Türkei  habe  sich  auf  die  Bestimmung  nur  widerstre- 
bend eingelassen.  Auch  der  französische  Botschafter  in  London  Paul  Cambon 
wußte  zu  erzählen,  das  „deutsche  Projekt"  sei  in  Berliner  militärischen  Kreisen 
entstanden,  die  eine  Wiederholung  der  unzureichenden  Stellung,  die  von  der 
Goltz  Pascha  innegehabt  habe,  für  unmöglich  hielten  (Telegramm  Graf  Bencken- 
dorffs  an  Sasonow  vom  9.  Dezember,  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke, 
a.  a.  O.,  S.  646  f.).  Daran  mag  so  viel  richtig  sein,  daß  auch  die  deutschem'  Mili- 
tärs und  namentlich  General  von  Liman,  die  damit  aber  doch  nur  auf  die  tür- 
kischen Intentionen  eingingen,  für  die  Übertragung  des  I.  Armeekorps  an  den 
Führer  der  Militärmission  eingetreten  sind.  Vgl.  Liman  v.  Sanders,  Fünf 
Jahre  Türkei,  S.  14.  Aus  der  späteren  Angabe  Freiherrn  von  Wangenheims 
(siehe  Nr.  15  493),  daß  er  von  vornherein  gegen  die  Übertragung  des  Korps- 
kommandos auf  den  Führer  der  Militärmission  gewesen  sei,  daß  aber  die 
jungtürkischen  Führer  aus  innerpolitischen  Gründen  darauf  bestanden  hätten, 
ergibt  sich  unbedingt,  daß  Kaiser  Wilhelm  mit  seiner  Behauptung  im  Rechte  war 
und  nicht  die  Sverwejew,  Delcasse"  und  P.  Cambon  mit  der  ihrigen. 

213 


Bitte  der  Türkei  hätte  sich  für  uns  von  selbst  ergeben  und  sei  eine 
zwingende  gewesen.  Seit  Jahrzehnten  seien  deutsche  Militärs  die 
Instruktoren  der  türkischen  Armee  gewesen,  darunter  Generale  von 
der  Bedeutung  eines  Höbe  Pascha  und  eines  von  der  Goltz.  Es  würde 
eine  völlige  Umkehr  unserer  langjährigen  gegenüber  der  Türkei  be- 
folgten Politik  bedeutet  haben,  wenn  wir  den  Wunsch  der  Türkei  nach 
Erneuerung  und  Ausgestaltung  der  alten  Einrichtung  abgewiesen 
hätten.  In  Vertretung  unserer  großen  wirtschaftlichen  Interessen  in  der 
Türkei,  und  insonderheit  in  der  kleinasiatischen  Türkei,  mußten  wir 
den  größten  Wert  darauf  legen,  daß  die  Türkei  in  dem  Bestände,  der  ihr 
nach  dem  Kriege  verblieben  sei,  intakt  erhalten  werde.  Wenn  jemals  die 
kleinasiatische  Frage  aufgerollt  werden  müßte,  so  wünschten  wir  diesen 
Zeitpunkt  in  möglichste  Ferne  gerückt  zu  sehen.  Eine  Konsolidierung 
der  Türkei  sei  aber  nur  möglich,  wenn  ihre  Armee  gut  organisiert 
werde.  Deshalb  sei  die  Entsendung  einer  Militärmission  nach  Kon- 
stantinopel ein  unmittelbares  deutsches  Interesse,  und  lediglich  in  Wahr- 
nehmung dieses  Interesses  hätten  wir  gehandelt.  Hätten  wir  abgelehnt, 
so  hätten  wir  uns  selbst  nicht  nur  unmittelbar  geschadet,  sondern  hätten 
auch  mittelbar  einen  großen  Echec  vor  der  Welt  erlitten.  Denn  die 
Türkei  hätte  sich  im  Falle  unserer  Ablehnung  unzweifelhaft  an  eine 
andere  Großmacht  gewendet  und  von  dieser  erhalten,  was  wir  ihr 
versagt  hätten.  Mir  sei  es  durchaus  nicht  unwahrscheinlich,  daß  zum  Bei- 
spiel Frankreich  sehr  gern  an  unsere  Stelle  getreten  sein  würde.  Es  sei 
bekannt,  daß  der  französische  Chauvinismus  die  türkischen  Niederlagen 
als  deutsche  Niederlagen  gefeiert  hätte,  und  wenn  jetzt  Deutschland  die 
Rolle,  die  es  lange  Jahre  in  der  Türkei  gespielt  habe,  aufgegeben  hätte, 
und  wenn  irgendeine  andere  Macht  an  unsere  Stelle  getreten  wäre>  dann 
hätte  das  in  den  Augen  aller  uns  mißgünstigen  Nationen  eine  neue  und 
schwere  Niederlage  bedeutet. 

Der  Gedanke,  daß  Rußland  an  unserer  Militärmission  Anstoß 
nehmen  könne,  sei  mir  nie  gekommen  und  sei  mir  auch  jetzt  völlig  un- 
verständlich. Rußland  teile,  wie  ich  das  aus  dem  Gange  der  gesamten 
russischen  Politik  schließen  könne,  und  wie  es  mir  Herr  Sasonow 
ausdrücklich  und  wiederholt  erklärt  habe,  durchaus  unsere  Ansicht, 
daß  die  Türkei  intakt  erhalten  bleiben  müsse.  Deshalb  könne  ich  auch  nur 
annehmen,  daß  Rußland  eine  straffe  Organisation  der  türkischen  Armee 
erwünscht  sein  müsse.  Daß  die  türkische  Armee  zu  aggressiven 
Aktionen  irgendwelcher  Art  nicht  imstande  sei,  habe  der  Krieg  zur 
Genüge  bewiesen.  Eine  türkische  Aktion  gegen  Rußland  vollends  sei 
ein  absoluter  Widersinn.  Wenn  Herr  Sasonow  es  bemängele,  daß  die 
Militärmission  gerade  in  Konstantinopel  stationiert  werden  solle,  so 
sei  dies  absolut  kein  Novum.  Der  Feldmärschall  von  der  Goltz  habe 
zwölf  Jahre  lang  von  Konstantinopel  aus  die  Reorganisation  der  ge- 
samten türkischen  Armee  geleitet.  Jetzt  solle  gewissermaßen  zu  Lehr- 
zwecken ein  türkisches  Armeekorps  zusammengestellt  werden,  und  wenn 

214 


unsere  dabei  tätige  Militärmission  in  Konstantinopel  stationiert  wer- 
den solle,  so  sei  dies  das  Nächstliegende  und  Natürliche,  da  die  türkische 
Armeeverwaltung  mit  den  militärischen  Bildungsanstalten  usw.  eben 
in  Konstantinopel  ihr  Zentrum  habe.  Läge  überhaupt  die  Möglichkeit 
vor,  in  unserer  Militärmission  einen  unfreundlichen  Akt  gegen  Ruß- 
land zu  erblicken,  was  ich  mit  aller  Entschiedenheit  bestreiten  müsse, 
dann  würde  man  sehr  viel  eher  davon  haben  sprechen  können,  wenn 
die  Militärmission  in  irgend  einem  kleinasiatischen  Armeekorps  tätig 
weiden  sollte.  Dann  könnte,  aber  auch  nur  theoretisch,  von 
einer  Spitze  gegen  Rußland  gesprochen  werden,  von  der  in  Kon- 
stantinopel absolut  keine  Rede  sein  könne.  Es  müsse  in  Rußland  be- 
kannt sein,  daß  meine  Politik  darauf  gerichtet  sei,  ein  möglichst 
freundschaftliches  und  vertrauensvolles  Verhältnis  zu  Rußland  her- 
zustellen und  aufrecht  zu  erhalten.  Ich  sei  dankbar  dafür,  daß  dieses 
mein  Bestreben  in  Rußland  Entgegenkommen  finde.  Man  dürfe  mir 
nicht  zutrauen,  daß  ich  gewissermaßen  hinten  herum  durch  die  Militär- 
mission meiner  eigenen  Politik  entgegenwirken  wolle. 

Unsere  Militärmission  sei  nicht  nur  lediglich  die  Fortsetzung  einer 
alten  Einrichtung,  an  der  Rußland  niemals  Anstoß  genommen  habe, 
sondern  doch  auch  sonst  keine  ganz  abnorme  Sache.  Die  gesamte 
türkische  Flotte  stehe  unter  der  Leitung  eines  englischen  Admirals 
in  Konstantinopel,  die  Gendarmerie  unter  der  Leitung  eines  französi- 
schen Generals.  Mir  sei  nicht  bekannt,  daß  Rußland  hiergegen  Ein- 
spruch erhebe.  In  Griechenland  beherrsche  England  die  Marine  und 
Frankreich  die  Armee. 

In  der  armenischen  Reformfrage  *  arbeiteten  wir  Hand  in  Hand 
mit  Rußland.  Wir  hätten  uns  schon  dadurch  eine  lebhafte  Verstimmung 
der  Türkei  zugezogen.  Wir  würden  uns  in  unser  eigen  Fleisch  und 
Blut  schneiden,  wenn  wir  in  der  Frage  der  Militärmission  eine  Haltung 
einnehmen  wollten,  die  unseren  eigenen  Interessen  diametral  entgegen- 
gesetzt sei,  und  die  die  türkische  Verstimmung  zu  unserem  Schaden 
und  lediglich  zum  Nutzen  irgend  einer  anderen  Großmacht  nur  steigern 
würde. 

Herr  Kokowzow  hörte  mir  aufmerksam  zu  und  erklärte,  daß  ihm 
meine  Ausführungen  in  jeder  Weise  verständlich  seien.  Er  bedauere  nur, 
daß  die  Angelegenheit  nicht  mit  Herrn  Sasonow  besprochen  worden 
sei,  dann  wäre  sie  sofort  abgetan  gewesen.  Er  werde  meine  Ausfüh- 
rungen genau  schriftlich  niederlegen  und  sie  nicht  nur  Herrn  Sasonow 
sondern  auch  dem  Zaren  vortragen.  Daß  Herr  Sasonow  etwa  eine  franzö- 
sische Militärmission  wünsche,  glaube  er  unter  allen  Umständen  verneinen 
zu  können.  England  käme  natürlich  als  reine  Seemacht  für  die  Armee 
nicht  in  Frage,  und  eine  deutsche  Militärmission  sei  ihm  jedenfalls 
sehr  viel  lieber   als   etwa   eine   österreichische.    Insonderheit  betonte 


Vgl.  dazu  Kap.  CCLXXXIX. 

215 


auch  er,  und  zwar  sua  sponte,  daß  der  Sitz  der  Mission  außerhalb 
Konstantinopels,  etwa  in  Kleinasien  viel  eher  unfreundlich  gedeutet 
werden  könnte. 

Einen  „Größenwahn"  der  Türken  —  ich  hatte  ihm  von  dieser 
Phrase  Sasonows  gesprochen,  —  besorge  er  persönlich  nicht.  Auch 
nicht  einen  aggressiven  Akt  der  Türkei  gegen  Rußland.  Dazu  sei  die 
Türkei  allein  nicht  fähig.  Anders  würde  die  Sache  vielleicht  liegen, 
wenn  sich  die  Türkei  anderen  Mächten  anschlösse. 

Ohne  daß  Herr  Kokowzow  es  ausdrücklich  ausgesprochen  hätte, 
ging  aus  seinen  Äußerungen  klar  hervor,  daß  er  volles  Verständnis 
dafür  hat,  daß  wir  so  handeln  mußten,  wie  wir  gehandelt  haben.  Mit 
keiner  Silbe  hat  er  den  Wunsch  ausgesprochen  oder  auch  nur  an- 
gedeutet, daß  wir  unsere  Entscheidung  irgendwie  modifizieren  möchten. 

v.  Bethmann  Hollweg 


Nr.  15  451 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Bethmann  Hollweg 

Eigenhändig 

Berlin,  den  19.  November  1913 

Herr  Kokowzow  teilte  mir  heute  über  seine  Unterredung  mit 
Seiner  Majestät  folgendes  mit: 

Seine  Majestät  habe  ihm  davon  erzählt,  daß  in  seinen  Unter- 
redungen in  diesem  Sommer  mit  dem  Zaren  und  dem  König  von 
England*  Einigkeit  darüber  bestanden  habe,  daß  die  Türkei  in  dem  ihr 
nach  dem  Kriege  verbliebenen  Bestände  und  insonderheit  die  asiatische 
Türkei  intakt  erhalten  und  zu  diesem  Behufe  in  allen  Beziehungen 
gestärkt  werden  müsse.  Konstantinopel  müsse  unter  allen  Umständen 
türkisch  bleiben.  Der  König  von  England  habe  den  Vorschlag  abgelehnt, 
bei  der  Reorganisation  der  Verwaltung  durch  englische  Beamte  be- 
hilflich zu  sein,  wohl  aber  habe  er  die  Reorganisation  der  Flotte  durch 
englische  Seeoffiziere  in  Aussicht  genommen.  Die  Organisation  der 
Armee  sei  in  Anknüpfung  an  die  bestehenden  Zustände  für  Deutschland 
ins  Auge  gefaßt  worden.  Auch  die  Reorganisation  der  Gendarmerie 
sei  besprochen  worden.  So  sei  die  deutsche  Militärmission,  und  zwar 
in   russischem   und   englischem    Einverständnis   entstanden. 

Er,   Kokowzow,   habe   daraufhin   die   Bedenken   Herrn   Sasonows 


*  Die  Unterredungen  hatten  stattgefunden  gelegentlich  der  Vermählung  der 
Prinzessin  Viktoria  Luise  von  Preußen  mit  dem  Herzog  Ernst  August  zu  Braun- 
schweig und  Lüneburg  (24.  Mai  1913),  zu  der  auch  Kaiser  Nikolaus  II.  und 
König  Georg  V.  als  Gäste  erschienen  waren.  Vgl.  Der  Diplomatische  Schrift- 
wechsel Iswolskis  1911 — 1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  418. 

216 


wegen  der  Kommandogewalt  des  deutschen  Generals  und  wegen 
seines  Sitzes  in  Konstantinopel  vorgetragen.  Seine  Majestät 
habe  erwidert,  der  Sitz  in  Konstantinopel  beruhe  auf  einem  Vorschlage 
der  Türkei,  die  Kommandogewalt  aber  sei  erforderlich,  weil  die  Er- 
fahrung bewiesen  habe,  daß  eine  Inspektionsgewalt  nicht  imstande  sei, 
eine  straffe  Organisation  und  Disziplin  herzustellen  und  die  Politik 
von  der  Armee  fernzuhalten.  Daraufhin  habe  er,  Kokowzow,  an- 
geregt, ob,  wenn  an  der  Kommandogewalt  nichts  geändert  werden 
könne,  es  nicht  möglich  wäre,  den  Sitz  von  Konstantinopel  nach 
Adrianopel  zu  verlegen.  Seine  Majestät  habe  erwidert,  er  wolle  sich 
das  überlegen.    Herr  Kokowzow  schlug  mir  die  Alternative  vor: 

1.  Modifizierung  der  Kommandogewalt  mit  Sitz  in  Konstantinopel, 
oder  aber,  was  ihm  lieber  wäre, 

2.  nicht  modifizierte  Kommandogewalt,  aber  in  Adrianopel. 

v.  Bethmann  Hollweg 

Nr.  15  452 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  Kaiser  Wilhelm  IL 

Ausfertigung 

Berlin,  den  23.  November  1913 

Euerer  Majestät  Geschäftsträger  in  St.  Petersburg  meldet*:  „Ich 
habe  Herrn  Sasonow  Euerer  Exzellenz  Standpunkt  hinsichtlich  der 
Militärmission  dargelegt.   Der  Minister  hatte  von  Herrn  von  Sverwejew 


*  Telegramm  Freiherrn  von  Lucius*  Nr.  295  vom  22.  November  1913.  Über  die 
Unterredung  Freiherrn  von  Lucius'  mit  Sasonow  vom  22.  November  vgl.  auch 
den  charakteristischen  Bericht  Delcasses  an  Pichon  vom  23.  November.  Fran- 
zösisches Gelbbuch:  Les  Affaires  Balkaniques,  III,  85s.  Nach  Delcasse  hätte 
Freiherr  von  Lucius  dem  russischen  Minister  bei  dieser  Gelegenheit  ein  Berliner 
Telegramm  vom  18.  November  vorgelesen,  in  dem  die  deutsche  Regierung 
erkläre  „qu'il  ne  pouvait  d£cliner  ce  que  la  Porte  lui  a  offert;  qu'en  tout  cas 
revenir  en  arriere  aujourd'hui  ce  serait  perdre  la  face  ä  Constantinople,  ce 
serait  ruiner  le  prestige  de  l'Allemagne  et  son  influence  economique  dans 
L'Empire  ottoman.  II  ne  saurait  ä  son  grand  regret  porter  ä  l'interet  allemand 
un  coup  aussi  desatreux".  Bei  diesem  „Telegramm"  —  in  einer  weiteren  Mel- 
dung vom  27.  November  spricht  Delcasse  von  einer  „note  verbale  lue  par 
M.  de  Lucius  ä  M.  Sazonoff",  a.  a.  O.,  III,  90  —  kann  es  sich  nur  um  die  Auf- 
zeichnung des  Reichskanzlers  vom  18.  November  über  seine  Unterredung  mit 
Kokowzow  gehandelt  haben,  die  Freiherrn  von  Lucius  mit  Erlaß  Nr.  1327 
vom  19.  November,  also  nicht  auf  telegraphischem  Wege  zugegangen  war. 
Nach  Delcasse  hätten  die  Mitteilungen,  die  Freiherr  von  Lucius  am  22.  auf 
Grund  der  Bethmann  Hollwegschen  Aufzeichnung  dem  russischen  Außenmini- 
ster machte,  auf  diesen  einen  sehr  ungünstigen  Eindruck  gemacht,  weil  er  aus 
einem  neuerlichen  Telegramm  Botschafter  Sverwejews  über  eine  letzte  Unter- 
redung  zwischen   Bethmann   Hollweg  und  Kokowzow  vom    20.   November   die 

217 


eine  spätere  Mitteilung  über  ein  Gespräch  Euerer  Exzellenz  mit  dem 
Botschafter.  Herr  Sasonow  hofft,  daß  wir  wenigstens  russischen 
Wünschen  so  weit  Rechnung  tragen  würden,  daß  General  nicht  gerade 
in  Konstantinopel  residiere l.  Er  zweifle  nicht  daran,  daß  auch  Eng- 
land2 und  Frankreich  dies  unangenehm  empfinden  würden.  Minister 
wollte  das  bereits  hierüber  Gesagte  nicht  wiederholen;  er  müsse  aber 
bei  seiner  Ansicht  stehenbleiben  und  erblickt  in  unserem  Vorgehen, 
wenn  wir  garnicht  auf  seinen  Wunsch  eingingen,  „un  acte  peu 
amical 3".  Der  General  könne  doch  ebensogut  in  Adrianopel  oder 
Smyrna  residieren4.  Er  könne  für  jedes  unserer  Argumente  eine  Ant- 
wort finden.  Die  Reformarbeit  sei  überall  nötig5.  Kleinasien  sei 
groß;  natürlich  denke  er  nicht  daran,  daß  wir  gerade  ein  an  der 
russischen  oder  persischen  Grenze 6  stehendes  türkisches  Armeekorps 
unserem  General  unterstellen  würden.  Er  ersuche  mich  nochmals,  Euere 
Exzellenz,  von  deren  freundlicher  Gesinnung  für  Rußland  er  fest  über- 
zeugt sei,  dringend  zu  bitten,  den  General  nicht  in  Konstantinopel 
residieren  zu  lassen 7.  Herr  Kokowzow  habe  Seiner  Majestät  gegen- 
über auch  über  die  Angelegenheit  gesprochen." 


ausdrückliche  Zusage  des  Reichskanzlers  entnommen  haben  wollte  „de  chercher 
ä  nous  donner  satisfaction".  Tatsächlich  hatte  Bethmann  Hollweg  (vgl.  Nr. 
15  454)  dem  russischen  Ministerpräsidenten  nur  gesagt,  er  wolle  überlegen, 
ob  seine  Wünsche  erfüllbar  seien,  wobei  er  jedoch  ausdrücklich  betonte,  daß 
die  Bereitwilligkeit  zur  Überlegung  noch  nicht  bedeute,  daß  er  an  Erfüllbarkeit 
glaube.  Ein  „Versprechen"  des  Reichskanzlers  bedeutete  das  keineswegs;  es 
lag  lediglich  ein  Trugschluß  Sasonows,  gestützt  vielleicht  auf  nicht  ganz  klare 
telegraphische  Meldungen  Kokowzows  (vgl.  Delcasses  Telegramm  an  Pichon 
vom  21.  November;  Französisches  Gelbbuch  a.  a.  O.,  III,  83s.),  vor.  Gerade 
deshalb  mochte  seine  Enttäuschung  und  sein  Ärger  um  so  größer  sein. 
Nach  Delcasse  hätte  Sasonow  sich  jedenfalls  in  der  bittersten  und  mißtrauisch- 
sten Weise  über  das  deutsche  Verhalten,  in  dem  er  einen  Beweis  für 
ein  hegemonistisches  Streben  Deutschlands  sehen  wollte,  ausgelassen:  ,,M. 
Sazonoff  a  convenu  qu'il  y  a  ä  Berlin  deux  politiques:  celle  du  Chancelier 
et  celle  de  la  Cour  et  du  monde  militaire.  C'est  cette  derniere  qui  prevaut.  II 
se  dessine  d'ailleurs  un  mouvement  combine  de  main-mise  sur  la  Turquie  par 
les  Puissances  de  la  Triplice,  ä  quoi  la  Triple-Entente  ne  saurait  sans  peril 
fermer  les  yeux.  —  L'Allemagne  s'est  dejä  cree  en  Asie  Mineure  un  faisceau 
d'interets  qu'elle  appelle  economiques  et  eile  s'y  construit  un  reseau  de 
chemins  de  fer  qui  mesurera  plus  de  5000  kilometres.  —  Depuis  plusieur9 
mois  eile  entretient  dans  la  Mediterranee  Orientale  un  noyau  d'escadre  qui 
reclamera  forcement  une  base  navale,  un  port  de  stationnement,  de  ravitaille- 
ment  et  de  reparation.  Nous  pouvons  ä  tout  moment  recevoir  ä  ce  sujet  une 
nouvelle  desagreable;  aujourd'hui  eile  vise  l'armee  et  recoit  le  commandement 
du  corps  d'armee  de  la  capitale,"  a.  a.  O.,  III,  86.  Vgl.  dagegen  den  Imme- 
diatbericht  Kokowzows  vom  2.  Dezember  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel 
Iswolskis  1911 — 1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  419),  der  ausdrücklich  hervorhebt:  „Ich 
halte  es  für  meine  Pflicht,  gerecnterweise  noch  einmal  vor  Eurer  Kaiserlichen 
Majestät  zu  bezeugen,  daß  ich  während  aller  meiner  Unterredungen  keine  An- 
zeichen bemerkt  habe,  die  uns  veranlassen  könnten,  dem  deutschen  Reichs- 
kanzler Mangel  an  Wohlwollen  oder  Aufrichtigkeit  uns  gegenüber  vorzuwerfen." 

218 


Euere  Kaiserliche  und  Königliche  Majestät  wage  ich  alleruntertänigst 
um  die  Ermächtigung  zu  bitten,  Herrn  Sasonow  hierauf  etwa  folgende 
Antwort  zukommen  zu  lassen:  Die  Verhandlungen  mit  der  Türkei 
seien  bereits  so  weit  abgeschlossen,  daß  eine  Änderung  der  Bedingungen 
zurzeit  nicht  mehr  möglich  sei8.  Doch  werde  der  als  Chef  der  Mission 
ausersehene  General  ermächtigt  werden,  an  Ort  und  Stelle  die  Frage 
nochmals  eingehend  zu  prüfen,  ob  eine  Verlegung  seiner  Residenz 
nach  Adrianopel  oder  Smyrna  sich  ermöglichen  lasse.  Nach  bisheriger 
Prüfung  scheine  es  allerdings  aus  technischen  Gründen  nicht  tunlich, 
die  Reformtätigkeit  anderswo  als  in  der  Hauptstadt  aufzunehmen,  da 
in  letzterer  sämtliche  Militärbildungsanstalten  sich  befänden9.  Einen 
„acte  peu  amical"  gegen  Rußland  in  unserem  Vorgehen  zu  er- 
blicken, liege  keinerlei  Grund  vor,  um  so  weniger,  als  Euere  Majestät 
bereits  bei  dem  Besuch  Seiner  Majestät  des  Kaisers  Nikolaus  diesem 
von  dem  Vorhaben  Kenntnis  gegeben  hätten10  und  die  Anwesenheit 
eines  englischen  Admirals  in  Konstantinopel  auch  niemals  und  von 
keiner  Macht  beanstandet  worden  wäre9. 

J  agow 


Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

Einverstanden!  23/XI/13  W.- 

Randbemerkungen   des    Kaisers: 

1  Aber  ein  Englischer]   Admiral  darf  es!  Ein  französischer]   oder  Eng- 
lischer General  dürfte  es  auch! 

2  Blech!    Der  König  ist  seinerzeit  auch  von  mir  informirt  worden! 

3  Unverschämtheit 

4  jawohl!    gegen   Bulgarien!    oder  Frankreich  ärgern 

5  am   Zentrum  am  ersten! 

6  da  auch  nicht.    Ich  wollte  gerade  Erzerum  vorschlagen 

7  Blödsinn!    Golz  hat  dort   Jahre  lang   residirt  ohne  daß   je  dagegen  remon- 
strirt  wurde! 

8  gut 

9  richtig 
io  ja 

Bemerkung  des  Kaisers  am  Schlüsse  des  Schriftstücks: 
Gut! 

Russland  fürchtet  Stärkung  der  Türkei  durch  uns  und  Erhöhung  ihrer 
Milit[ arischen]  Widerstandskraft  bez.  Verwendbarkeit  für  uns  gegen  es, 
wenn  Russland  uns  seinerzeit  angreifen  wird!  Es  will  die  Türkei  sterbend 
erhalten  und  Stambul  als  jederzeit  leichte  Beute  behalten!  Das  will  England 
bestimmt  nicht!  Rußland  in  seiner  Landgier  steckt  Mandschurei,  Mongolei 
Nordpersien  ein  ohne,  daß  wir  mit  der  Wimper  zucken.  Wenn  wir  aber 
Offiziere  nach  der  Türkei  senden  dann  ist  die  Russische]  „öffentliche 
Meinung"  erregt!!  Gingen  wir  auf  Russische]  Wünsche  ein,  wäre  es  mit 
unserem  Prestige  in  der  Mohammed [anischen]  Welt  einfach  aus! 

Wilhelm 
I.  R. 


*  Nach  Eingang  der  kaiserlichen   Genehmigung  ging   die  oben   skizzierte   Ant- 
wort für  Sasonow  am  26.  November  als  Telegramm  Nr.  223  nach  Petersburg. 


219 


Nr.  15  453 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  299  St.  Petersburg,  den  24.  November  1913 

Herr  Kokowzow  ersucht  mich  mit  Bezug  auf  seine  Berliner  Unter- 
redungen Euere  Exzellenz  nochmals  dringend  zu  bitten,  daß  General 
nicht  in  Konstantinopel,  sondern  anderwärts,  am  besten  in  Adrianopel 
residiere.  Ministerpräsdient  fügte  hinzu,  er  führe  Ende  der  Woche 
nach  Livadia  und  würde  glücklich  sein,  dem  Zaren  von  unserem 
Entgegenkommen  in  dieser  wichtigen  Frage  Meldung  erstatten  zu 
können.  Sein  Bestreben,  die  guten  Beziehungen  mit  uns  zu  pflegen, 
würde  ihm  hierdurch  wesentlich  erleichtert  werden. 

Herr  Kokowzow  sprach  sich  im  übrigen  sehr  befriedigt  über  seinen 
Berliner  Aufenthalt  aus. 

Lucius 

Nr.  15  454 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Staatssekretärs  von  Jagow 
Nr.  224  Berlin,  den  26.  November  1913 

Auf  Telegramm  Nr.  299  *. 

Bei  hiesigen  Unterredungen  hatte  ich  Herrn  Kokowzow  gesagt, 
daß  ich  überlegen  wolle,  ob  seine  Wünsche  erfüllbar  seien,  dabei  jedoch 
ausdrücklich  betont,  daß  ich  bitten  müsse,  aus  Bereitwilligkeit  zur 
Überlegung  nicht  bereits  Schluß  zu  ziehen,  daß  ich  Wünsche  für  er- 
füllbar hielte. 

Bitte  Herrn  Kokowzow  mitteilen,  daß  ich  bestrebt  gewesen  bin, 
russischem  Desideratum  Rechnung  zu  tragen.  Reifliche  Prüfung  hat 
dies  zu  meinem  Bedauern  jedoch  als  untunlich  erwiesen.  Verhand- 
lungen seien  bereits  soweit  abgeschlossen,  daß  Änderung  der  sorgsam 
abgewogenen  Bedingungen  nicht  mehr  möglich.  Kommandogewalt  ist 
nötig,  um  Reform  wirksam  zu  machen,  Sitz  Konstantinopel  deshalb 
kaum  zu  umgehen,  weil  sich  dort  alle  Militärbildungsanstalten  be- 
finden. Bitte  auf  meine  Ausführungen  hinweisen,  die  ich  Herrn  Ko- 
kowzow über  Gesamtheit  der  Gründe  gemacht  habe,  welche  zur  Ein- 
richtung der  Militärmission  geführt  hätten. 

*  Siehe  Nr.   15  453. 

220 


General  wird  angewiesen,  an  Ort  und  Stelle  nochmals  zu  prüfen, 
ob  Verlegung  seiner  Residenz  nach  anderer  Stadt  tunlich,  doch  habe 
ich  aus  angeführten  Gründen  Zweifel  über  Möglichkeit  einer  Änderung. 

Werde  Herrn  Kokowzow  noch  persönlich  schreiben*.  Brief  folgt 
mit  Depeschenkasten  morgen. 

v.  Bethmann  Hollweg 


Nr.  15  455 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den  russischen 
Ministerpräsidenten  Kokowzow 

Privatbrief.    Konzept 

Berlin,  den  27.  November  1913 

Nach  Ihrer  Abreise  habe  ich  es  mir  angelegen  sein  lassen,  der 
Ihnen  erteilten  Zusage  zu  entsprechen  und  die  Wünsche,  die  Sie  bei 
unserer  längeren  Unterhaltung  über  die  in  türkische  Dienste  tretenden 
deutschen  Offiziere  äußerten,  —  Fallenlassen  der  Kommandogewalt 
oder  Verlegung  des  Amtssitzes  des  Generals  von  Konstantinopel  — 
nochmals  einer  eingehenden  Prüfung  zu  unterwerfen. 

Zu  meinem  Bedauern  muß  ich  Ihnen  jedoch  mitteilen,  daß  das 
Ergebnis  derselben  ein  negatives  gewesen  ist. 

Wenn  einerseits  die  Verhandlungen  mit  der  Pforte  schon  soweit 
abgeschlossen  sind,  daß  sich  jetzt  schwer  eine  Änderung  der  Be- 
dingungen vornehmen  ließe**,  so  stellen  sich  der  Realisierung  Ihrer 


*  Siehe  das  folgende  Schriftstück. 

•*  Gerade  am  27.  November  fand  die  Unterzeichnung  und  der  Austausch  des 
Vertrages  zwischen  General  Liman  von  Sanders  und  der  türkischen  Regierung 
statt.  In  dem  Vertrage,  der  erst  am  8.  Januar  1914  zur  Kenntnis  des  Aus- 
wärtigen Amtes  gelangte  (vgl.  Nr.  15  450,  Fußnote***),  lautete  die  maßgebende 
Bestimmung:  „Der  Königlich  Preußische  Generalleutnant  Liman  von  Sanders, 
Exzellenz,  wird  für  die  Kaiserlich  Ottomanische  Armee  auf  die  Dauer  von  fünf 
Jahren  mit  dem  Dienstgrade  als  General  der  Kavallerie  und  mit  dem  Titel  wie  mit 
den  Rechten  und  Pflichten  als  Chef  der  Militärmission  angestellt  und  für  die  ge- 
nannte  Zeit  außerdem  Idas  Kommando  über  das  erste  Armeekorps  ausüben.  Genann- 
ter ist  Mitglied  des  Obersten  Kriegsrates.  Dementsprechend  wird  vornehmlich  bei 
Beratung  über  nachstehende  Fragen  seine  Stimme  beachtet  werden,  wenngleich  Ent- 
scheidungen der  Stimmenmehrheit  bedürfen:  Allgemeines  über  Disziplin;  Be- 
förderungswesen; Belohnungen  und  Straf wesen;  Organisation,  Reorganisation, 
Übungen  und  Ausbildung;  Bewaffnung,  Ausrüstung,  Bekleidung;  Intendantur- 
und  Verpflegungswesen;  Medizinal-,  Veterinär-  und  Remontewesen;  Aus- 
hebungs-  und  Auslosungswesen;  Mobilmachungsvorarbeiten  und  Befestigungs- 
wesen; Statistiken;  Eisenbahnlinienwesen,  Fernsprecher  und  Telegraphie;  Ver- 
kehrs- (Train-),  Flugzeug-  und  Ballonwesen.  —  Außerdem  ist  genannter  General 
direkter  Vorgesetzter  aller  Militärschulen,  Militärschüler-Truppenteile,  Lehr- 
regimenter und  Übungslager,  sowie  aller  im  Kaiserlich  Ottomanischen  Heeres- 
dienste befindlichen  ausländischen  Offiziere."  —  In  dem  Vertrag  befindet  sich 

221 


Wünsche  auch  die  schwerwiegendsten  Gründe,  insbesondere  techni- 
scher Natur,  hindernd  in  den  Weg.  Ich  hatte  mir  erlaubt,  Ihnen  die 
Genesis  und  Entwickelung  des  von  türkischer  Seite  ausgegangenen 
Planes,  deutsche  Offiziere  zur  Reorganisation  der  türkischen  Armee 
nach  Konstantinopel  zu  berufen,  ausführlicher  darzulegen,  und  mich 
auch  über  die  Erwägungen  zu  ergehen,  die  für  unser  Eingehen  auf 
den  Antrag  der  Pforte  maßgebend  waren  *.  Zu  meiner  lebhaften 
Genugtuung  habe  ich  mich  bei  meiner  freundschaftlichen  und  rück- 
haltlosen Aussprache  mit  Euerer  Exzellenz  auch  in  dem  Wunsche 
begegnet,  den  durch  die  Ereignisse  des  letzten  Jahres  schwer  ver- 
letzten türkischen  Staatskörper  vor  weiteren,  seine  Existenz  gefähr- 
denden Erschütterungen  möglichst  zu  schützen  und,  soweit  es  für  die 
außerhalb  der  türkischen  Grenze  stehenden  Freunde  angängig  ist, 
an  einer  Wiederkräftigung  des  ganzen  Organismus  mitzuwirken.  Die 
von  mir  gleichzeitig  verfolgte  Absicht,  uns  in  der  Türkei  neben  den 
befreundeten  Großmächten,  unter  die  ich  auch  das  benachbarte  Ruß- 
land rechnen  darf,  wirtschaftlich  zu  betätigen  und  unserer  ökonomischen 
Arbeit  in  jenen  Landen  eine  festere  Grundlage,  als  bisher,  zu  ver- 
schaffen, läßt  sich  nur  dann  in  die  Tat  umsetzen,  wenn  der  ganze 
Organismus  allmählich  konsolidiert  wird.  Diesem  Zweck  allein,  nicht 
etwa  politischen  Hintergedanken  und  Velleitäten  sollen  die  Offiziere 
dienen.  Die  ihnen  innerhalb  eines  begrenzten  Arbeitsgebietes  zu- 
gefallene Aufgabe  würde  sich  nach  diesseitigem  Erachten  an  einem 
anderen  Orte  als  Konstantinopel  kaum  lösen  lassen.  Ich  habe  nach 
Erteilung  der  prinzipiellen  Zustimmung  zur  Übernahme  deutscher  Offi- 
ziere in  die  türkische  Armee  die  Ausarbeitung  und  Erledigung  der 
Einzelheiten  den  beteiligten  Militärs  überlassen,  da  es  sich  um  rein 
technische  Fragen  handelte,  auf  die  ich,  als  nicht  politisch,  mit  voller 
Absichtlichkeit  keinerlei  Ingerenz  ausüben  wollte.  Ich  möchte  es  daher 
auch  jetzt  vermeiden,  sie  mit  dem  Schein  einer  hochpolitischen  An- 
gelegenheit zu  umgeben.  Ich  verharre  hierbei  auf  dem  Standpunkt, 
den  ich  eingenommen  habe,  als  einem  englischen  Admiral  in  Kon- 
stantinopel die  Reorganisation  bezw.  Neubildung  der  türkischen  Flotte 


kein  Passus,  der  auf  die  Dardanellen,  die  Befestigungen  in  der  Hauptstadt  und 
die  Sicherung  der  Ordnung  in  dieser  Bezug  hatte;  es  sei  denn,  daß  man  die 
allgemeine  Bestimmung  (Artikel  7),  wonach  General  Liman  das  Recht  zustand, 
unter  Benachrichtigung  des  türkischen  Kriegsministers  „in  der  Türkei  Truppen- 
teile, Befestigungen,  Eisenbahnen  und  andere  Transportmittel,  Garnisonen  und 
anderes  zu  besichtigen",  dahin  auffassen  will.  Hiernach  bestätigt  sich  die  An- 
gabe, die  Großwesir  Said  Halim  Pascha  am  15.  Dezember  zu  den  Vertretern  der 
Tripelentente  machte:  „Die  Meerengen,  die  Befestigungen  und  die  Sicherung 
der  Ordnung  in  der  Hauptstadt  gehören  nicht  zur  Kompetenz  des  Generals." 
Telegramm  des  russischen  Botschafters  in  Konstantinopel  v.  Giers  an  Sasonow 
vom  15.  Dezember  1913;  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  654. 
Vgl.  auch  Nr.  15  481,  15  484. 
•  Vgl.  Nr.  15  450,  15  451. 

222 


mit  weit  größeren  Machtbefugnissen  übertragen  wurde,  als  sie  jetzt 
dem  mit  der  Reorganisation  eines  Bruchteils  der  türkischen  Armee 
beauftragten  General  eingeräumt  werden.  —  Die  letzterem  anver- 
traute Lehrtätigkeit  zwingt  ihn  zu  einer  ständigen  persönlichen  Füh- 
lungnahme mit  den  Zentralbehörden,  die  von  entlegeneren  Orten  aus 
nur  schwer  erreichbar  wären,  und  zur  Benutzung  der  militärischen 
Lehranstalten,  die  sich  sämtlich  in  Konstantinopel  befinden.  Adrianopel 
würde  sich  schon  deswegen  wenig  eignen,  weil  es  gewissermaßen 
das  Bollwerk  gegen  eventuelle  weitere  Angriffe  der  Balkanvölker  dar- 
stellt und  seine  Wahl  zur  Garnison  für  ein  von  deutschen  Offizieren 
befehligtes  Reformkorps  einen  fast  tendenziösen  Charakter  haben 
würde*  Herr  Sasonow  hat  neuerdings  auch  Smyrna  genannt;  der 
Wahl  des  Wohnsitzes  auf  der  kleinasiatischen  Seite  aber  würden  Be- 
denken, die  Euere  Exzellenz  ebenfalls  teilen,  entgegenstehen.  So  er- 
scheint mir  gerade  Konstantinopel  als  das   anodinste. 

Den  zu  entsendenden  General  mit  Kommandogewalt  zu  versehen, 
erschien  deswegen  unabweislich,  weil  ohne  eine  diesbezügliche  Kom- 
petenz die  Reformarbeit  von  vornherein  gelähmt  sein  und  die  früheren 
Mißstände  und  ungenügenden  Resultate  sich  nur  wiederholen  würden. 

Bei  einer  objektiven  Würdigung  aller  einschlägigen  Fragen  er- 
schien die  Lösung  der  dem  General  Liman  von  Sanders  auferlegten 
Aufgaben  —  und  selbst  dann  auch  nur  unter  erschwerenden  Um- 
ständen —  zurzeit  nur  in  Konstantinopel  und  auch  nur  in  Verbindung 
mit  einer  Kommandogewalt  möglich. 

Um  jedoch  Ihren  Wünschen  im  weitesten  Maße  Rechnung  zu 
tragen,  soll  General  Liman  beauftragt  werden,  an  Ort  und  Stelle 
nochmals  eingehend  zu  prüfen,  ob  eine  Verlegung  des  Amtssitzes 
von  Konstantinopel  tunlich  erscheint,  ohne  daß  dadurch  die  Aus- 
sichten auf  ein  Gelingen  der  Reformtätigkeit  vereitelt  würden.  Wegen 
des  oben  ausgeführten  Grundes  kann  ich  mich  allerdings  dem  Zweifel 
nicht  verschließen,  ob  dies  möglich  sein  wird. 

Vorstehende  Darlegungen  werden  Ihnen,  mein  sehr  verehrter 
Freund,  erneut  beweisen,  wie  sehr  es  mir  am  Herzen  gelegen  hat,  mich 
mit  Ihnen  loyal  und  offen  über  die  Frage  auszusprechen.  Ich  darf 
hoffen,  daß  die  genaue  Kenntnis  unseres  Standpunktes  und  die  Würdi- 
gung unserer  Gründe  dazu  führen  wird,  die  Bedenken  zu  zerstreuen, 
die  Sie  zu  Beginn  unserer  Gespräche  hier  zu  haben  schienen. 

*  Darauf  hatte  auch  Botschafter  von  Sverwejew  den  russischen  Ministerpräsi- 
denten bei  dessen  Anwesenheit  in  Berlin  hingewiesen.  Vgl.  Sverwejew  an 
Sasonow,  2t.  November  1913:  „Als  Staatssekretär  Kokowzow  erwähnte,  daß  die 
deutsche  Militärmission  sich  vielleicht  in  Adrianopel  niederlassen  könne,  erlaubte 
ich  mir,  ihn  darauf  hinzuweisen,  daß  dieses  wahrscheinlich  große  Erregung  in 
Bulgarien  hervorrufen  und  uns  dieses  Land  noch  mehr  entfremden  würde; 
deshalb  wäre  Smyrna  oder  irgendeine  andere  Stadt  in  Kleinasien  in  einer 
gewissen  Entfernung  von  der  armenischen  Grenze  ein  passender  Aufenthaltsort 
für  die  deutschen  Offiziere."  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  640. 

223 


Ich  gebe  wiederholt  meiner  besonderen  Freude  darüber  Ausdruck, 
daß  es  mir  bei  Ihrem  Hiersein  vergönnt  war,  die  persönlichen  Be- 
ziehungen, die  uns  seit  Baltischport  verbinden,  vertrauensvoll  weiter 
zu  pflegen. 

v.  Bethmann  Hollweg 

Nr.  15  456 

Der  Botschafter  In  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  663  Konstantinopel,  den  28.  November  1913 

Oroßwesir*  sagte  mir,  der  Widerstand  gegen  die  deutsche  Militär- 
mission gehe  von  Rußland,  speziell  von  von  Giers,  aus.  Rußland  habe 
zunächst  Frankreich  vorgeschickt.  Rifaat  Pascha  sei  von  Pichon  nahe- 
gelegt worden,  dafür  einzutreten,  daß  die  Mission  sich  in  Adrianopel 
anstatt  in  Konstantinopel  etabliere**.  Ein  gleiches  Verlangen  sei  kurz 
darauf  von  Sasonow  an  Turkhan  Pascha  gestellt  worden.  Er,  der 
Großwesir,  habe  die  Botschafter  umgehend  angewiesen,  zu  erklären, 
daß  die  Pforte  sich  eine  Einmischung  in  die  inneren  türkischen  Ange- 
legenheiten energisch  verbitte.  Die  Mitglieder  der  Mission  trügen 
türkische  Uniform  und  seien  türkische  Offiziere. 

Wangenheim 


•  Prinz  Said  Halim  Pascha. 

**  Das  wird  bestätigt  durch  Iswolskys  Geheimtelegramm  Nr.  555  an  Sasonow 
vom  26.  November  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914, 
ed.  Fr.  Stieve,  III,  354 f.;  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O., 
S.  641  f.).  Es  heißt  darin:  „H.  Pichon  bestätigte  mir,  er  teile  ganz 
Ihre  Meinung,  daß  es  unzulässig  sei,  deutschen  Offizieren  den  Befehl  über 
die  Truppen  in  Konstantinopel  zu  übertragen;  er  habe  sich  bereits  mit 
Nachdruck  in  diesem  Sinne  sowohl  dem  hiesigen  türkischen  Botschafter  gegen- 
über als  auch  durch  Vermittlung  Bompards  ausgesprochen.  Rifaat  Pascha 
habe  er  gesagt,  wenn  die  Pforte  auf  die  Verwirklichung  dieses  Planes 
nicht  verzichte,  werde  Frankreich  für  sich  außerordentliche  Entschädigungen 
moralischer  und  politischer  Art  verlangen.  In  seiner  Unterredung  mit  mir 
äußerte  Pichon  abermals  nachdrücklich,  Frankreich  könne  es  nicht  zulassen, 
daß  Deutsche  in  Smyrna  oder  Beirut  befehligten;  er  habe  der  Pforte  gegen- 
über auf  Adrianopel  hingewiesen."  Vgl.  auch  Pichons  Telegramm  an  Bot- 
schafter Paul  Cambon  vom  22.  November,  worin  der  französische  Außen- 
minister über  seine  Unterredung  mit  Rifaat  Pascha  sagt:  „Je  lui  ai  montre 
les  graves  inconvenients  d'une  teile  mesure,  Timpossibilite  oü  seraient  les 
Puissances  de  la  Triple  Entente  de  la  considerer  comme  acceptable  et  la 
necessite  oü  nous  serions  nous-memes  de  r£clamer  une  importante  com- 
pensation  d'ordre  moral  et  politique  dans  le  cas  oü  le  caractere  de  la 
mission  allemande  en  Turquie  serait  modifie  au  profit  du  Gouvernement  de 
Berlin."    Französisches  Gelbbuch:   Les  Affaires  Balkaniques,   III,  84. 

224 


Nr.  15  457 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  300  St.  Petersburg,  den  28.  November  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  223  *  und  224  **. 

Herr  Sasonovv  bittet  Euere  Exzellenz  dringend  darum,  Entschei- 
dung über  die  eminent  politische  Frage  der  Residenz  des  Ge- 
nerals nicht  diesem  selbst  zu  überlassen,  sondern  dieselbe  mit  Seiner 
Majestät  zu  treffen.  Er  könne  nur  wiederholen,  daß  es  viele  Wege 
gebe,  um  auf  die  berechtigten  russischen  Wünsche  einigermaßen  ein- 
zugehen „et  de  ne  pas  nous  blesser  serieusement".  Rußland  würde 
eventuell  gezwungen  werden,  seine  Beziehungen  mit  der  Türkei  gründ- 
lich zu  revidieren.  Die  Tatsache,  daß  der  General  in  Konstantinopel 
ein  Armeekorps  kommandiere,  mache  ihn  bei  jeder  Gelegenheit  zum 
Herrn  der  Situation  „qui  devient  ainsi  intolerable".  Die  Franzosen 
seien  ganz  seiner  Ansicht***,  von  London  habe  er  noch  keine  Ant- 
wort f.    Graf  Benckendorff,   der  augenblicklich   hier  ist,   wäre  jeden- 


*  Vgl.  Nr.  15  452,  S.  219,  Fußnote. 
**  Siehe  Nr.  15  454. 
***  Vgl.  Nr.  15  456,  Fußnote**. 

f  Immerhin  lag  Sasonow  bereits  ein  Telegramm  des  russischen  Geschäfts- 
trägers in  London  von  Etter  vom  26.  November  (v.  Siebert,  Diplomatische 
Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  641)  vor,  nach  dem  Unterstaatssekretär  Sir  A.  Nicol- 
son  sich  ebenfalls  auf  den  Standpunkt  stellte,  daß  die  Unterstellung  der  Kon- 
stantinopeler  Garnison  unter  einen  deutschen  General  nicht  wünschenswert  sei. 
Am  27.  telegraphierte  dann  Sir  E.  Grey  an  den  englischen  Geschäftsträger  in 
Petersburg  O'Beirne,  er  teile  Sasonows  Ansicht,  daß  Rußland  die  Unterstel- 
lung der  Konstantinopeler  Garnison  unter  einen  deutschen  General  nicht  zu- 
lassen könne,  rate  aber,  die  freundschaftlichen  Verhandlungen  mit  Deutschland 
fortzusetzen,  um  es  zu  einer  Änderung  des  ursprünglichen  Plans  zu  bewegen, 
z.  B.  einem  deutschen  Offizier  die  Leitung  der  Kriegsschule  zu  übertragen.  In 
einem  Kommando  außerhalb  Konstantinopels,  z.  B.  in  Adrianopel,  wollte  Sir 
E.  Grey  keinen  Ausweg  sehen;  auch  von  Kompensationen,  auf  die  nach 
dem  Vorgehen  Pichons  (vgl.  Nr.  15  456,  Fußnote**)  auch  Sasonow  sein  Augen- 
merk richtete  (vgl.  sein  Telegramm  an  Baron  von  Etter  vom  25.  November, 
v.  Siebert,  a.  a.  O.,  S.  641),  riet  er  ab,  da  eis  schwer  sein  dürfte, 
derartige  Kompensationen,  die  überdies  den  ersten  Schritt  zu  einer  Auf- 
teilung der  Türkei  bilden  dürften,  zu  finden.  Geheimtelegramm  von  Etters  an 
Sasonow  Nr.  795  vom  28.  November  1913,  Der  Diplomatische  Schriftwechsel 
Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  359  f.  Nach  Etter  hätte  auch  der 
französische  Botschafter  in  London  Paul  Cambon  die  Unzweckmäßigkeit  von 
Kompensationsforderungen  anerkannt.  Das  hinderte  Cambon  keineswegs,  in 
der  Angelegenheit  im  Einverständnis  mit  Sir  A.  Nicolson,  der  sich  bereits  am 
27.  November  auf  den  Standpunkt  stellte,  „que  la  main-mise  d'un  commandant 
allemand  sur  le  premier  corps  equivaut  ä  une  sorte  de  dictature  de  l'Allemagne", 

15    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  225 


falls  vollkommen  überrascht  gewesen.  Der  Minister  gab  noch  nicht 
alle  Hoffnung  auf,  daß  Euere  Exzellenz  auf  seine  dringenden  Bitten 
eingehen  würde.  Wenn  dem  General  die  Entscheidung  überlassen 
würde,  sei  es  gar  nicht  zweifelhaft,  daß  sich  derselbe  aus  Bequemlich- 
keits-  und  anderen  Rücksichten  für  Konstantinopel  aussprechen  würde. 
Ob  uns  denn  so  wenig  an  der  Freundschaft  Rußlands  läge,  das 
auch  als  Absatzgebiet  für  uns  viel  wichtiger  sei  als  die  ganze  Türkei. 
Es  handele  sich  doch  für  uns  hierbei  nicht  um  eine  Prestigefrage.  Er 
erinnere  daran,  daß  England  der  Türkei  seinerzeit  für  Armenien  die 
Entsendung  von  Gendarmen  versprochen  habe.  Rußland  habe  ge- 
beten, dies  zu  unterlassen,  da  ihm  die  Anwesenheit  derselben  in  Arme- 
nien nicht  angenehm  ist.  England  habe  dem  russischen  Wunsche 
dann  entsprochen,  ohne  daß  sein  Prestige  im  geringsten  gelitten 
habe.  Von  uns  erbitte  er  viel  weniger.  Adrianopel  sei  nur  einige 
Stunden  von  Konstantinopel  entfernt  usw.  In  der  Presse*  und  Duma 
würde  die  Sache  immer  lebhafter  besprochen.  Er  wisse  nicht  mehr, 
was  er  auf  Anfragen  antworten  solle. 


als  Scharfmacher  aufzutreten.  Am  selben  Tage  lieferte  er  Pichon  die  Stichworte 
für  eine  möglichst  schroffe  diplomatische  Behandlung  des  Gegenstandes:  „A 
premiere  vue,  il  me  semble  possible  d'insister  sur  le  fait  que  l'adhesion  de 
la  Sublime  Porte  aux  exigenoes  de  l'Allemagne,  c'est  la  fin  de  la  Turquie, 
c'est  pour  le  Sultan  et  ses  Ministres  une  menace  perpetuelle,  une  mise  en 
etat  de  vasselage."  Telegramm  P.  Cambons  an  Pichon  vom  27.  November  1913, 
Französisches  Gelbbuch:  Les  Affaires  Balkaniques,  III,  90. 
*  In  Angriffen  auf  Deutschland  tat  sich  vor  allem  die  „Nowoje  Wremja"  her- 
vor. In  einem  Artikel  vom  26.  November  hieß  es  z.  B.,  es  handele  sich  bei  der 
neuen  deutschen  Militärmission  nicht  um  die  Überlassung  militärischer  Lehr- 
meister, sondern  um  die  formelle  Unterordnung  der  türkischen  Armee  unter 
deutsches  Kommando,  derart,  daß  die  türkische  Armee  ihre  nationale  Existenz 
völlig  einbüße  und  ein  „koloniales  Hilfskorps  der  deutschen  Armee"  werde. 
Deutschland  sei  schon  Herr  der  Bagdadbahn  und  der  wichtigsten  türkischen 
Häfen  an  der  Küste  des  Mittelmeers  und  habe  die  ganze  wirtschaftliche  Zukunft 
des  ottomanischen  Reiches  in  seine  Hand  genommen;  jetzt  mache  es  sich  zum 
tatsächlichen  Herrn  von  Konstantinopel  und  bemächtige  sich  der  politischen 
Gewalt  über  das  ganze  türkische  Reich.  „Sollte  der  Präsident  des  russischen 
Ministerrats  wirklich  seine  Zustimmung  dazu  gegeben  haben?"  In  einem  Bericht 
vom  26.  November  (Nr.  341)  bemerkte  Freiherr  von  Lucius  zu  diesen  Aus- 
lassungen: „Ich  habe  Grund,  anzunehmen,  daß  die  jetzt  einsetzende  Kampagne 
gegen  unsere  Militärmission  auf  Inspirationen  von  der  Sängerbrücke  zurück- 
zuführen ist.  Denn  Herr  Sasonow  sagte  mir  schon  vor  einiger  Zeit,  daß  sich 
die  Presse  bisher  bloß  aus  dem  Grunde  mit  der  Angelegenheit  nicht  beschäftigt 
habe,  weil  sie  durch  den  Beilis-Prozeß  (vgl.  darüber  Schultheß'  Europäischer 
Geschichtskalender  Jg.  1913,  S.  621  f.)  und  den  Dumaboykott  hypnotisiert 
gewesen  sei."  Ähnlicher  Auffassung  scheint  man  in  London  gewesen  zu  sein; 
wenigstens  berichtete  Botschaftsrat  von  Euer  am  28.  November  warnend:  „Hier 
befürchtet  man,  daß  der  feindselige  Ton  der  russischen  Presse,  z.  B.  der 
,Nowoje  Wremja',  zum  entgegengesetzten  Ergebnis  führen  müsse,  da  Kaiser 
Wilhelm  sich  verletzt  fühlen  könne."  Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis 
1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  360. 

226 


Werde  Kokowzow  das  Schreiben*  Euerer  Exzellenz  morgen 
übergeben  und  auch  mit  ihm  auftragsgemäß  sprechen. 

Lucius 

Randvermerk  Zimmermanns: 

Die  Türken  haben  bereits  die  direkte  russische  Vorstellung  als  Einmischung  in 
eine  innere  Angelegenheit  abgelehnt  **.  Wir  können  uns,  wenn  wir  nicht  unsere 
Position  in  Konstantinopel  gänzlich  zugunsten  Rußlands  aufgeben  wollen,  auf 
nichts  mehr  einlassen  als  auf  freundliche  ausweichende  Antworten. 

Nr.  15  458 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherrn  von  Lucius 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Staatssekretärs  von  Jagow 
Nr.  225  Berlin,  den  29.  November  1913 

Auf  das  Telegramm  Nr.  300***  zur  Verwertung. 

So  hoch  erfreulich  es  mir  war,  mich  mit  Herrn  Kokowzow  freund- 
schaftlich und  offen  über  Angelegenheit  auszusprechen,  so  schwierig 
ist  Situation  für  uns  durch  Indiskretion  des  „Temps"  f  über  unsere 
Unterredung  geworden.  Wenn  Parlament  und  öffentlicher  Meinung 
gegenüber  nach  vertraulicher  Konversation  mit  russischem  Minister 
für  uns  eine  Änderung  an  sich  möglich  gewesen  wäre,  so  ist  durch  Ein- 
greifen französischer  Preßstimmen  Situation  vollständig  verscho- 
ben. Auch  unsere  Presse  hat  die  Frage  des  „russischen  Protestes"  auf- 
gegriffen, und  die  Parteiführer  fragen  wiederholt  nach  Stand  der  An- 
gelegenheit. Für  uns  waren  bisher  lediglich  technische  Gründe  für 
Wahl  der  Residenz  und  Kommandogewalt  maßgebend;  dadurch  daß  sie 
an  Öffentlichkeit  gezogen  wurde,  ist  Angelegenheit  eine  politische  ge- 
worden. Augenblicklich  würde  jede  Konzession  als  ein  Zurückweichen 
vor  französischer  und  russischer  Drohung  einen  Sturm  der  Entrüstung 
heraufbeschwören.  In  gleicher  Weise  scheint  sich  öffentliche  Meinung 
in  Türkei  zu  erregen.  Ich  halte  trotzdem  an  Zusage  fest,  daß  noch- 
malige Prüfung  an  Ort  und  Stelle,  ob  Änderung  tunlich  erscheint,  er- 
folgen soll.  Die  alsdann  erfolgende  Entscheidung  bleibt  selbstverständ- 
lich Seiner  Majestät  dem  Kaiser  auf  meinen  Vortrag  vorbehalten  ff. 

v.   Bethmann  Hollweg 


*  Siehe  Nr.  15  455. 
••  Vgl.  Nr.  15  456. 
***  Siehe  Nr.  15  457. 

f  Der  „Temps"  hatte  behauptet,  Ministerpräsident  Kokowzow  habe  gelegent- 
lich seines  Berliner  Besuchs  gegen  die  Unterbringung  der  deutschen  Militär- 
mission in  Konstantinopel  Protest  eingelegt  und  beim  Kaiser  persönlich  Vor- 
stellungen erhoben. 

ff  Der  letzte  Satz  ist  ein  Zusatz  von  der  Hand  des  Reichskanzlers.  Eine  Notiz 
Bethmann  Hollwegs  dazu  besagt:  „Sind  Sie  mit  dem  Zusatz,  den  ich  für  nötig 

iß*  227 


Nr.  15  459 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  302  St.  Petersburg,  den  30.  November  1913 

Herr  Kokowzow,  dem  ich  gestern  abend  Schreiben  Euerer  Exzel- 
lenz* überreichte,  war  dankbar  für  Erklärungen  und  betrachtete  An- 
gelegenheit ruhiger  als  Sasonow.  Ministerpräsident  versicherte  mir 
wiederholt,  daß  er  unbedingtes  Vertrauen  in  Euere  Exzellenz  hätte;  er 
habe  in  seiner  für  Zaren  bestimmten  Aufzeichnung  diesem  Vertrauen 
deutlich  Ausdruck  gegeben.  Als  ich  Herrn  Kokowzow  im  Laufe  der 
Unterhaltung  anheimstellte,  auch  Schreiben  Euerer  Exzellenz  Seiner 
Majestät  vorzulegen,  ging  Ministerpräsident  lebhaft  darauf  ein.  Es 
schien  Herrn  Kokowzow  sogar  angenehm  zu  sein,  Darlegung  Euerer 
Exzellenz  in  Livadia  verwerten  zu  können.  Ministerpräsident  ließ 
seine  für  Zaren  bestimmte  Aufzeichnung  kommen  und  las  mir  län- 
gereu Passus  daraus  vor,  in  welchem  von  Berliner  Äußerungen 
Euerer  Exzellenz  über  die  hundertjährige  traditionelle  Freundschaft 
Deutschlands  und  Rußlands  sowie  die  von  Anfang  der  Amtsführung 
Euerer  Exzellenz  an  Rußland  gegenüber  beobachtete  freundliche 
Politik  die   Rede  ist.    Ministerpräsident  reist  heute  abend  Livadia. 

Lucius; 

Nr.  15  460 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  232  Wien,  den  2.  Dezember  1913 

Hilmi  Pascha**  teilt  mir  mit,  er  habe  soeben  französischem  Bot- 
schafter Dumaine  —  der  behauptet  habe,  Deutschland  habe  Anregung 
zur  Militärmission  gegeben,  und  der  Kompensationen  für  Rußland  als 
notwendig  bezeichnet  habe  —  gesagt,  Initiative  sei  ausschließlich  von 
türkischer  Seite  erfolgt.  Die  Türkei  habe  die  Mission  nicht  nur  vor- 
geschlagen, sondern  inständig  darum  gebeten.  Von  Kompensationen 
für   andere   Mächte   könne   keine   Rede   sein.    Wenn   Deutschland   die 


halte,    einverstanden?    Wenn    auch    nicht   jetzt   unmittelbar,    sollten    wir    doch 

demnächst  meo  voto  nach  irgendeinem  Weg  suchen,  wie  wir  den  Russen,  wenn 

auch  in  gemäßigter  Weise,  entgegenkommen  können." 

*  Siehe  Nr.  15  455. 

**  Türkischer  Botschafter  in  Wien. 

228 


Mission  senden  werde,  so  würde  sie  in  der  Türkei  mit  offenen  Armen 
empfangen  werden;  man  habe  sie  in  erster  Linie  deshalb  erbeten,  um 
endlich  die  Politik  aus  der  türkischen  Armee  verschwinden  zu  lassen. 
Rußland  und  alle  Mächte,  die  so  oft  beteuert  hätten,  sie  wünschten 
eine  Reorganisation  und  Konsolidierung  der  Türkei,  könnten  diesen 
ersten  Schritt  in  dieser  Richtung  nur  mit  Oenugtung  begrüßen. 


Ts  chirs  chky 


Nr.  15  461 


Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenhelm 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.   666  Konstantinopel,   den   3.   Dezember  1913 

Großwesir  sagte  mir,  daß  bisher  kein  Botschafter  die  Frage  der 
deutschen  Militärmission  amtlich  bei  ihm  zur  Sprache  gebracht  habe*. 

*  Tatsächlich  hatte  der  französische  Außenminister  Pichon  am  29.  November 
durch  P.  Cambon  bei  der  englischen  Regierung  eine  gemeinsame  Demarche 
Englands  und  Frankreichs  in  Konstantinopel  anregen  lassen,  um  der  Pforte  die 
j, unerträglichen  Folgen"  der  Unterstellung  des  Konstantinopeler  Armeekorps 
unter  einen  deutschen  General  klarzumachen.  In  dem  diesbezüglichen  Telegramm 
bediente  sich  Pichon  der  Stichworte,  die  ihm  P.  Cambon  am  27.  November  (vgl. 
Nr.  15  457,  Fußnote  f)  souffliert  hatte:  „Ce  serait  mettre,  en  somme,  le  corps 
diplomatique,  qui  reside  dans  la  capitale  de  la  Turquie,  sous  la  garde  de 
l'Allemagne;  ce  serait  ä  peu  pres  livrer  ä  cette  Puissance  la  cle  des  Detroits; 
ce  serait  rendre  possible,  pour  le  general  allemand  des  interventions  militaires 
susceptibles  de  porter  une  atteinte  directe  ä  la  souverainete  du  sultan;  ce 
serait  rompre  l'equilibre  des  Puissanoes,  qui  est  la  garantie  d'existence  de 
l'Empire  ottoman;  ce  serait  mettre  eventuellement  ces  Puissances  en  antagonisme 
sinon  metne  en  conflit  avec  la  mission  militaire  allemande,  au  cas  oü  elles 
auraient  ä  exercer  quelque  action  ou  demonstration  ä  Constantinople"  (Franzö- 
sisches Gelbbuch:  Les  Affaires  Balkaniques,  III,  92).  Nach  einem  Telegramm 
Pichons  an  Botschafter  Bompard  in  Konstantinopel  vom  3.  Dezember  (Französisches 
Gelbbuch,  a.  a.  O.,  III,  96)  hätte  die  englische  Regierung  in  der  Tat  Instruktionen  in 
diesem  schroffen  Sinne  nach  Konstantinopel  gesandt.  Das  wird  aber  sehr  zweifelhaft 
gemacht  durch  das  Telegramm  des  russischen  Geschäftsträgers  von  Etter  an 
Sasonow  vom  2.  Dezember:  „Die  Verhandlungen  zwischen  den  Kabinetten  von 
London  und  Paris  haben  dahin  geführt,  daß  beide  Regierungen  beschlossen 
haben,  ihre  Vertreter  in  Konstantinopel  zu  beauftragen,  bei  der  Pforte  offiziell 
anzufragen,  ob  tatsächlich  die  Absicht  besteht,  das  Kommando  über  die  tür- 
kischen Truppen  in  Konstantinopel  deutschen  Offizieren  zu  übertragen.  Alles 
weitere  wird  von  der  Antwort  der  Pforte  abhängen."  v.  Siebert,  Diplomatische 
Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  643.  Allerdings  hat  auch  Sasonow  am  12.  Dezember  be- 
hauptet, daß  ein  Telegramm  Sir  E.  Greys  an  Sir  G.  Buchanan  ein  sehr  scharfes 
Vorgehen  in  Konstantinopel  annonciert  habe  (v.  Siebert,  a.  a.  O.,  S.  650  f.). 
Die  uneinheitliche  Haltung  der  Ententemächte  verhinderte  jedenfalls  zunächst 
die  Durchführung  der  geplanten  Kollektivdemarche.  Vgl.  Nr.  15  474.  Auch 
der   am    2.   Dezember  in   Paris   eingetretene   Sturz  des    Kabinetts   Barthou  und 

229 


Nur  Herr  Bompard  *  habe  unter  ausdrücklicher  Betonung,  daß  er  ohne 
Auftrag  spreche,  ihn  auf  die  Erregung  aufmerksam  gemacht,  welche 
in  Rußland  anläßlich  der  Berufung  General  Limans  herrsche.  Die 
Angelegenheit  berühre  nach  Bompards  Ansicht  die  Meerengenfrage2. 
Den  an  letzterer  interessierten  Mächten  könne  es  nicht  gleichgültig 
sein,  wenn  ein  deutscher  General  am  Bosporus  ein  Armeekorps  kom- 
mandiert2. Großwesir  hat  dem  französischen  Botschafter  kurz  ge- 
antwortet, daß  Herr  von  Liman  nicht  als  deutscher,  sondern  als 
türkischer  Offizier  sein  Kommando  führen  werde. 

Aus  Äußerungen  von  Mitgliedern  der  französischen  und  russischen 
Botschaft  hervorgeht,  daß  zwischen  den  beiden  Botschaftern  geprüft 
wird,  auf  welche  Weise  ein  Zusammenhang  zwischen  deutscher  Mis- 
sion und  Meerengenfrage  konstruiert  werden  könne*.  Englischer  Bot- 
schafter beteiligte  sich  nicht  an  diesen  Besprechungen,  wohl  weil 
englischer  Admiral  die  türkische  Hochseeflotte  innerhalb  und  außer- 
halb der  Meerengen  kommandiert,  und  weil  heute  erst  Armstrong- 
vertrag durch  Sultan  sanktioniert  ist,  wonach  bei  Ismid  unter  englischer 
Leitung  eine  base  navale  für  die  türkische  Flotte  errichtet  werden  soll. 


der  Ersatz  Pichons  durch  den  neuen  Kabinettschef  Doumergue  dürfte  ver- 
zögernd gewirkt  haben. 

*  Ein  solcher  Zusammenhang  ergab  sich  am  ersten  aus  der  Aufrollung  der 
Kompensationsfrage,  die  dann  auch  trotz  der  Warnungen  Sir  E.  Greys  und 
P.  Cambons  (vgl.  Nr.  15  457,  Fußnote  f)  auf  der  Tagesordnung  blieb.  Nach  einem 
Telegramm  des  russischen  Geschäftsträgers  von  Etter  an  Sasonow  vom  2.  Dezember 
(v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  643)  gaben  England  und  Frank- 
reich für  den  Fall,  daß  gemeinschaftliche  Vorstellungen  der  Ententemächte  in  Kon- 
stantinopel gegen  die  deutsche  Militärmission  keinen  Erfolg  haben  sollten,  „die  Not- 
wendigkeit von  Garantien  für  alle  Mächte,  ganz  besonders  für  Rußland,  hin- 
sichtlich der  Dardanellen,  der  Einfahrt  und  der  Ausfahrt  in  den  Bosporus"  zu. 
Am  7.  Dezember  gab  Sasonow  darauf  die  Parole  aus:  „Was  die  Kompensationen 
anbelangt,  so  wollen  wir  sie  erst  anläßlich  weiterer  Schritte  erwähnen,  nach- 
dem wir  uns  über  deren  Natur  geeinigt  haben  werden"  (v.  Siebert,  a.  a.  O.,  S.  644). 
Tags  darauf  überreichte  Sasonow  dem  Zaren  einen  umfänglichen  Bericht  über  die 
„historische  Frage  der  Meerengen  und  der  Bedeutung  ihres  Wertes  für  uns  in  poli- 
tischer Beziehung"  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911  — 1914,  ed. Fr. 
Stieve,  III,  374  ff.).  Der  Sasonowsche  Immediatbericht  bringt  zwar  die  Meerengen- 
frage nicht  ausdrücklich  in  Zusammenhang  mit  der  Frage  der  deutschen  Militär- 
mission, scheint  seine  Spitze  sogar  in  erster  Linie  gegen  Bulgarien  zu  richten, 
aber  er  nimmt  doch  bereits  in  Aussicht,  daß  die  Meerengenfrage  schwerlich 
anders  als  auf  dem  Wege  über  europäische  Verwicklungen  einen  Schritt  vorwärts 
kommen  werde.  „Diese  Verwicklungen  würden  uns,  nach  den  gegenwärtigen 
Verhältnissen  zu  urteilen,  im  Bunde  mit  Frankreich  und  möglicherweise,  aber 
nicht  ganz  sicher,  auch  mit  England  finden  oder  mindestens  gegenüber  einer 
wohlwollenden  Neutralität  des  letzteren.  Im  Falle  von  europäischen  Verwick- 
lungen würden  wir  auf  dem  Balkan  auf  Serbien  und  vielleicht  auch  auf 
Rumänien  zählen  können."  Es  ist  immerhin  auffällig,  daß  Sasonow  diese  weit- 
ausschauenden und  zur  Erreichung  der  historischen  Ziele  Rußlands  sogar  vor 
der  Perspektive  eines  Weltkrieges  nicht  zurückschreckenden  Betrachtungen  in 
einem  Momente  dem  Zaren  vorgetragen  hat,  wo  die  Liman  Sanders-Affäre  die 
Situation  beherrschte. 

230 


Auch  französischer  Militärattache*  äußerte  sich  zu  Dschemal**  ver- 
ständig über  die  Mission,  gegen  die  vom  französischen  Standpunkt 
nichts  einzuwenden  sei,  vorausgesetzt,  daß  Frankreich  von  den  mili- 
tärischen Lieferungen  nicht  ganz  ausgeschlossen  werde. 

Großwesir  legte  mir  nahe,  zu  veranlassen,  daß  der  für  Ende  des 
Monats  angekündigte  Besuch  S.  M.  S.  „Goeben"  verschoben  werde, 
bis  die  russische  Aufregung  sich  gelegt  habe.  Auch  bat  er  mich,  Kon- 
stantinopel nicht  zu  verlassen,  bis  General  Liman  sich  ohne  meine  Be- 
gleitung dem  Sultan,  auf  der  Pforte  und  den  Botschaftern  vorgestellt 
habe. 


*  Oberstleutnant  Maucorps. 

**  Militärgouverneur  von  Konstantinopel.  Vgl.  die  ausführlichen  Mitteilungen 
Ahmed  Dschemal  Paschas  (Erinnerungen  eines  türkischen  Staatsmannes, 
S.  71  ff.),  der  hier  freilich  den  französischen  Militärattache  als  einen  der- 
jenigen Franzosen  und  Engländer  nennt,  „die  in  dieser  Frage  sozusagen 
noch  mehr  Lärm  machten  als  die  Russen":  „Ich  kann  die  Qualen  nicht  be- 
schreiben, die  ich  bei  den  Unterredungen  mit  dem  französischen  Militär- 
attache Maucorps,  dem  französischen  Botschafter  Bompard,  dem  Botschafts- 
rat Boppe,  dem  Gendarmerieinspektor  General  Baumann  und  dem  Major  Sarrou 
zu  ertragen  hatte.  Schließlich  sagte  ich  ihnen  eines  Tages:  ,Meine  Herren! 
Sehen  Sie,  wie  wenig  wohlwollend  Sie  sind!  Über  die  Lage  sind  Sie  doch  voll- 
ständig im  Bilde.  Sie  selbst  sind  ebenso  überzeugt  wie  wir,  daß  wir  das  Recht 
haben,  eine  deutsche  Reorganisationsmission  kommen  zu  lassen.  Was  die  Frage 
anbelangt,  ob  die  deutschen  Offiziere  fähig  sind,  eine  Armee  zu  organisieren 
oder  nicht,  so  könnte  sie  zwar  diskutiert  werden,  aber  sie  kann  hier  nicht  in 
Betracht  kommen,  da  wir  nun  einmal  von  der  Fähigkeit  jener  überzeugt  sind 
und  unsere  Wahl  auf  sie  gefallen  ist.  Ein  Land  hat  übrigens  drei  Arten  der  be- 
waffneten Macht:  erstens  die  Armee,  zweitens  die  Marine,  drittens  die  Gen- 
darmerie. Von  diesen  haben  wir  die  Organisation  der  ersten  den  Deutschen, 
die  der  zweiten  den  Engländern  und  die  der  dritten  den  Franzosen  anver- 
traut. Wozu  also  der  Streit?  Wollen  Sie,  daß  wir  den  Russen  die  Reorgani- 
sation unserer  Armee  übertragen?  Und  dann  erwägen  Sie  doch,  was  die  Russen 
sagen:  Wenn  die  deutschen  Offiziere  das  Kommando  des  ersten  Armeekorps 
übernehmen,  so  würde  die  Defensivmacht  der  Meerengen  gestärkt  werden. 
Dies  bedeutet,  daß,  wenn  wir  dieselbe  Mission  unter  denselben  Bedingungen 
den  Franzosen  oder  Engländern  anvertrauen  würden,  die  Russen  denselben  Ein- 
wand machen  müßten,  denn  ich  kann  nicht  annehmen,  daß  die  französischen 
oder  englischen  Offiziere  mit  der  Übernahme  des  Kommandos  des  ersten  Armee- 
korps den  Zweck  verbinden  würden,  nötigenfalls  die  Meerengen  den  Russen 
zu  öffnen.  Sie  erwecken  mithin  durch  Ihre  Proteste  in  uns  notwendigerweise 
den  Glauben,  daß  Sie  uns  gegenüber  keine  günstigen  Absichten  hegen/  Da  sie 
sich  der  Logik  dieser  Worte  nicht  verschließen  konnten  und  nicht  wußten, 
was  sie  antworten  sollten,  sagten  mir  diese  Herren  immer  wieder,  indem  sie 
damit  eingestanden,  daß  sie  sich  im  Unrecht  befanden:  ,Was  wollen  Sie?  Erstens 
sind  die  Russen  unsere  Verbündeten,  und  wir  sind  daher  gezwungen,  alle  ihre 
Forderungen  zu  unterstützen,  und  zweitens  sind  die  Deutschen  unsere  Feinde, 
und  wir  sind  gezwungen,  an  die  Gefahren  für  uns  zu  denken,  die  allen  ihren 
Unternehmungen   innewohnen.    Und   selbst   wenn   gar   keine   Gefahr  vorhanden 

•  wäre,  so  erachten  wir  es  für  unsere  patriotische  Pflicht,  uns  zu  sagen:  Da  es 
sich  um  etwas  handelt,  was  die  Deutschen  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  müssen 
wir  dem  widersprechen'." 

231 


Herr  von  Giers  erhob  mir  besonders  zwei  Bedenken  gegen  die 
Mission:  Er  könne  nicht  als  Botschafter  auf  der  Pforte  erscheinen,  so- 
lange diese  unter  dem  Schutz  einer  von  einem  deutschen  Offizier  be- 
fehligten Truppe  stehe3.  Außerdem  sei  es  nicht  angängig,  daß  die 
Forts  am  Bosporus  zum  Machtbereich  der  Mission  gehörten.  In- 
zwischen habe  ich  festgestellt,  daß  die  Truppen  auf  diesen  Forts  nicht 
zum  ersten  Armeekorps  gehören.  Die  Bewachung  der  Pforte  könnte 
durch  Truppen  geschehen,  die  vom  ersten  Korps  an  eine  neu  einzu- 
richtende selbständige  Kommandantur  abgegeben  werden. 

Über  sonstige  dem  russischen  Standpunkt  zu  machende  Kon- 
zessionen werde  ich  mich  mit  General  Liman  beraten;  doch  wird  es 
kaum  möglich  sein,  die  Russen  zu  befriedigen,  welche  die  Mission  nur 
deshalb  beanstanden,  weil  diese  eine  Stabilisierung  der  Lage  in  Kon- 
stantinopel zur  Folge  haben  und  deshalb  die  auf  innere  Unruhen  und 
den  Sturz  der  Jungtürken  gerichteten  russischen  Bestrebungen  fast 
aussichtslos  machen  wird. 

Wangenheim 

Randbemerkungen    Kaiser    Wilhelms    II.    auf    einer    verkürzten    Abschrift    des 
Schriftstücks: 

1  Der  Russe  hat  ihn  vorgeschoben 

2  ! 

3  II 

Bemerkungen  des  Kaisers  am  Schluß  des  Schriftstücks: 
Die  Russen  und  Franzosen  werden  einfach  frech  und  unverschämt  W. 
Ich  habe  S.  M.  dem  Zaren  anläßlich  seiner  Anwesenheit  in  Berlin  im  Juni 
Mittheilung  von  der  Bitte  der  Türkei,  um  eine  deutsche  Offiziersmission,  in 
Gegenwart  S.  M.  des  Königs  von  England  gemacht.  Derselbe  sowie  König 
Georg  waren  völlig  einverstanden.  Der  König  sagte:  It  is  quite  natural  that 
they  should  turn  to  you  for  officers  to  reorganize  their  Army.  We  are 
asked  to  send  people  to  reorganize  their  Police  &  Gendarmerie,  which  we 
shall  do.  Der  Zar  sagte  noch,  daß  es  nöthig  sei,  die  Tschataldscha-Linie 
sehr  stark  zu  befestigen,  damit  die  Bulgaren  nicht  hineinkönnten.       W. 

Nr.  15  462 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  den  Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann 

Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.  2066  Berlin,  den  4.  Dezember  1913 

Bezugnehmend  auf  die  Ew.  pp.  anderweitig  zugegangenen  Wei- 
sungen lasse  ich  Ihnen  anbei  Abschrift  eines  auf  den  Bau  des  Docks 
in  Ismid  bezüglichen  Berichts  des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Kon- 
stantinopel vom  3.  d.  Mts.  *  ergebenst  zugehen,  der  meine  veränderte 
Stellungnahme  in  der  Angelegenheit  veranlaßt  hat. 

*  Es  hieß   in  dem  Telegramm  Freiherrn  von  Wangenheims  vom  3.  Dezember 
(Nr.  668)  über  die  von  der  Türkei  durch  den  Armstrong- Vertrag  (vgl.  Nr.  15  461) 

232 


Gewisse  Anzeichen  sprechen  dafür,  daß  die  Klagen  der  russischen 
Regierung  über  unser  Verhalten  in  der  Frage  der  Militärmission 
nicht  ohne  Eindruck  auf  Sir  E.  Grey  geblieben  sind.  Wenn  man  den 
Meldungen  der  russischen  und  französischen  Presse  Glauben  schenken 
darf,  wird  jetzt  im  Schöße  der  Tripelentente  der  Gedanke  erwogen,  an 
die  Pforte  mit  dem  Verlangen  nach  Kompensationen  für  die  uns  angeb- 
lich zugestandene  Sonderstellung  heranzutreten*.  Ich  habe  Ew.  pp. 
bereits  mit  dem  nötigen  Material  versehen,  um  das  Unbegründete  des 
russischen  Standpunktes  nachzuweisen.  Die  Ausführungen  des  Kaiser- 
lichen Botschafters  in  Konstantinopel,  denen  ich  mich  nur  anschließen 
kann,  werden  Ihnen  eine  weitere  Handhabe  bieten,  Sir  E.  Grey  durch 
Hinweis  auf  die  Analogie  des  deutschen  und  englischen  Vorgehens 
und  die  Identität  der  deutsch-englischen  Interessen  in  der  Frage  von 
einer  Stellungnahme  abzuhalten,  die,  wie  ich  Sie  bitte,  dem  Minister 
gegebenenfalls  nicht  zu  verschweigen,  hier  peinlich  empfunden  werden 
würde. 

Dem  Takt  Ew.  pp.  muß  ich  es  überlassen,  wie  Sie  die  Unterredung 
einleiten  und  ob  Sie  etwa  die  vorstehend  erwähnten  Preßnachrichten 
zum  Ausgangspunkt  Ihrer  Darlegungen  machen  wollen.  Wir  müssen 
es  natürlich  vermeiden,  Mißtrauen  gegen  die  englische  Politik  an  den 
Tag  zu  legen.  Es  darf  uns  das  aber  nicht  von  dem  Versuch  abhalten, 
Rückfällen  Englands  in  eine  einseitige  Ententepolitik,  die  in  ihren  Folge- 
wirkungen die  Entwicklung  des  deutsch-englischen  Annäherungspro- 
zesses stören  könnte,  rechtzeitig  vorzubeugen. 

Einem  Bericht  über  das  Veranlaßte  werde  ich  mit  Interesse  ent- 
gegensehen. 

JagoW 

Nr.  15  463 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.     Konzept    von    der    Hand    des    Unterstaatssekretärs    Zimmermann 

Nr.  396  Berlin,  den  4.  Dezember  1913 

Rußland  beharrt  in  freundschaftlichen  Vorstellungen  wegen  Militär- 
mission.   Hauptargument   für    Residenz   deutschen    Generals    in    Kon- 


eingegangene Verpflichtung,  die  in  Konstantinopel  zu  bauenden  Schiffe  in  dem 
Dock  zu  Ismid  auf  Stapel  zu  legen  und  die  dazugehörigen  Panzerplatten, 
Artillerie  usw.  in  England  zu  bestellen:  „Es  handelt  sich  um  eine  Parallel- 
aktion zu  der  Armeereform  durch  uns.  Deutschland  und  England  finden  sich 
zusammen  in  ihren  Bestrebungen,  die  Türkei  zu  kräftigen  und  damit  zu  erhalten. 
Der  Dockvertrag  bedeutet  demnach  einen  harten  Schlag  für  Rußland  und 
erleichtert  uns  die  Vertretung  der  Mission  Liman  gegenüber  der  Tripelentente." 
•  Vgl.  Nr.  14  456,  Fußnote**,  Nr.  14  457,  Fußnote  f. 

233 


stantinopel  erscheint  Analogie  mit  englischem  Admiral.  Bitte  genaue 
Angabe  über  dessen  Residenz  und  Kompetenz.  Hat  er  Kommando- 
gewalt wie  unser  General  oder  sind  Engländer  nur  Instrukteure? 
Drahtantwort. 

Jagow 


Nr.  15  464 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  670  Konstantinopel,  den  4.  Dezember  1913 

Irade  für  Ernennung  General  Limans  ist  erteilt.  Der  das  I.  Armee- 
korps betreffende  Passus  hat  Zusatz  erhalten,  „dessen  Generalkom- 
mando in  Konstantinopel  liegt  und  dessen  Truppenteile  in  Konstanti- 
nopel und  Umgebung  garnisonieren".  Wortlaut  Irades  folgt  tele- 
graphisch. 

5000  Pfund  Türkisch  stehen  bei  türkischer  Botschaft  Berlin  zur 
Verfügung  General  Limans.  Ich  habe  festgestellt,  daß  Überweisung 
durch  Deutsche  Bank  erfolgt  ist.  Anheimstelle  sofortige  telegraphische 
Benachrichtigung   General    Limans. 

Großwesir  erneuerte  mir  Bitte,  Mission  möge  möglichst  bald  ein- 
treffen, damit  jeder  weiteren  Diskussion  Spitze  abgebrochen  werde*. 

Wangenheim 


Nr.  15  465 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  671  Konstantinopel,  den  5.  Dezember  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  670**. 

Wortlaut  des   Irade  nach  Diktat  Kriegsministers***  an  Herrn  von 
Strempel: 


*  Die  Ankunft  General  Limans  in  Konstantinopel  erfolgte  am  14.  Dezember. 
"*  Siehe  Nr.   15  464. 
***  Izzet   Pascha. 

234 


„Der  Königlich  Preußische  Generalleutnant  Liman  von  Sanders 
wird  mit  dem  Dienstgrad  als  Divisionsgeneral  erster  Klasse  für  eine 
Zeit  von  fünf  Jahren  unter  Aufnahme  in  die  türkische  Armee  zum  Vor- 
sitzenden der  Reformkommission,  zum  Kommandeur  des  ersten  Armee- 
korps, dessen  Generalkommando  sich  in  Konstantinopel  befindet  und 
dessen  Truppen  in  Konstantinopel  und  Umgebung  garnisonieren,  und 
ferner  zum  Mitglied  des  Kriegsrats  ernannt. 

Der  zwischen  dem  Marineminister  Mahmud  Pascha  als  stell- 
vertretendem Kriegsminister  und  dem  genannten  General  am  15./28. 
Oktober  und  am  14./27.  November  d.  Js.  unterzeichnete  und  aus- 
getauschte Vertrag  wird  gemäß  Beschlußfassung  des  Ministerrats  durch 
dieses  Irade  in  allen  Punkten  bestätigt. 

Mit  der  Ausführung  dieses  kaiserlichen  Irades  wird  der  Kriegs- 
minister beauftragt." 

Wangenheim 

Nr.  15  466 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 

Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandten  von  Treutier, 

z.  Z.  in  Stuttgart 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  128  Berlin,  den  5.  Dezember  1Q13 

Zum  Vortrag. 

Der  Kaiserliche  Botschafter  in  Petersburg  telegraphiert: 

„Ich  fand  heute  Herrn  Sasonow,  der  mich  schon  wenige  Stunden 
nach  meiner  Rückkehr  zu  sich  bitten  ließ,  in  der  Frage  der  deutschen 
Militärmission  in  Konstantinopel  äußerst  nervös.  Trotz  eingehender 
Verwertung  der  mir  an  die  Hand  gegebenen  Argumente  gelang  es  mir 
nicht,  ihn  davon  zu  überzeugen,  daß  die  Anwesenheit  deutschen  Gene- 
rals in  der  türkischen  Hauptstadt  der  politischen  Bedeutung,  die  er  ihr 
beilege,  vollkommen  entbehre.  Minister  blieb  dabei,  daß  Besetzung 
der  höheren  Kommandostellen  des  in  Konstantinopel  stehenden  Armee- 
korps die  dortige  Garnison  tatsächlich  zu  einer  deutschen  mache,  auf 
welche  gestützt  deutscher  Botschafter  ein  für  die  anderen  Mächte,  be- 
sonders für  Rußland  unerträgliches  politisches   Übergewicht  erlange. 

Herr  Sasonow  erklärte,  die  ihm  gewordene  Mitteilung,  daß 
das  letzte  Wort  in  der  Angelegenheit  nicht  allein  von  mili- 
tärischer Seite  gesprochen  werden  würde,  sondern  daß  nach  noch- 
maliger Prüfung  durch  den  General  Seine  Majestät  der  Kaiser 
nach  Vortrag  Euerer  Exzellenz  die  definitive  Entscheidung  treffen 
werde*,    habe    ihn    sehr    beruhigt,    da    er    nicht    annehmen    könne, 

*  Vgl.   Nr.   15  458. 

235 


daß  diese  Entscheidung  in  einem  für  Rußland  unfreundlichen  Sinne 
ausfallen  werde.  Würde  aber  schließlich  der  deutsche  General  wirk- 
lich das  Kommando  über  das  Korps  in  Konstantinopel  erhalten,  so 
wäre  dies  ein  Schlag  für  die  Freundschaft  Rußlands  und  Deutsch- 
lands, und  unser  in  neuerer  Zeit  in  so  erfreulicher  Weise  an* 
gebahntes  Freundschaftsverhältnis  werde  sich  von  diesem  Schlag  nicht 
leicht  erholen.  Denn  Deutschland  würde  dadurch  zeigen,  daß  ihm  die 
türkische  Freundschaft  höher  stünde  als  die  russische.  Minister  wollte 
nicht  zugeben,  daß  in  diesen  Worten  starke  Übertreibung  der  Bedeutung 
der  ganzen  Frage  liege.  Er  bemerkte  weiter,  daß  er  bis  jetzt  in  Kon- 
stantinopel noch  keinerlei  Schritte  getan  habe  und  sie  auch  nicht  tun 
werde,  solange  nicht  das  letzte  Wort  gesprochen  sei.  Falls  aber  seine 
Vorstellungen  in  Berlin  kein  Gehör  fänden,  werde  Rußland  und  wahr- 
scheinlich auch  Frankreich  und  England  nicht  umhin  können,  von  der 
Türkei  Kompensationen  zu  verlangen.  Wenn  dann  die  Kabinette  der 
Tripelentente  beanspruchen  würden,  daß  ebenso  wie  eines  der  türki- 
schen Armeekorps  deutsch  andere  russisch,  französisch  und  englisch 
würden,  so  würde  damit  tatsächlich  Aufteilung  der  Türkei  beginnen. 
Ich  wies  Herrn  Sasonow  unter  anderem  darauf  hin,  daß  Eingehen  auf  rus- 
sische Wünsche  der  Kaiserlichen  Regierung  jetzt  angesichts  der  jüngsten 
Indiskretionen  französischer  und  englischer  Presse  nahezu  unmöglich 
gemacht  sei.  Minister  bat  Euerer  Exzellenz  zu  versichern,  daß  er  diese 
Indiskretionen  auf  des  lebhafteste  bedauere  und  selbst  keine  Schuld 
daran  trage.  Er  knüpfte  daran  die  dringende  Bitte,  Euere  Exzellenz 
möchten  sich  durch  diese  Preßtreibereien  nicht  davon  abhalten  lassen, 
auf  die  , durchaus  berechtigten'  russischen  Wünsche  Rücksicht  zu 
nehmen.  Gegen  die  Übertragung  des  Kommandos  in  Adrianopel, 
welche  Rußland  ebenfalls  nicht  angenehm  sein  könne,  wolle  er  ,aus 
Freundschaft  für  Deutschland'  nichts  einwenden,  es  sei  aber  für 
Rußland  von  , eminent  politischer  Bedeutung',  daß  deutscher  General 
nicht    in    Konstantinopel    kommandiere." 

Russischer  Botschafter  las  mir  gestern  Instruktionen  etwa  folgenden 
Inhalts  vor:  Rußland  wünsche  Angelegenheit  der  Militärmission  mit 
uns  wie  bisher  vollständig  freundschaftlich  zu  behandeln.  Da  wir  als 
Grund  für  nicht  mehr  mögliche  Abänderung  auch  angegeben  hätten, 
daß  Verhandlungen  mit  Türkei  bereits  zu  weit  vorgeschritten  seien, 
werde  Rußland  in  Konstantinopel  darauf  hinwirken,  daß  Pforte  Kom- 
mando nach  Adrianopel  verlege. 

Halte  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  Rußland  durch  die  ihm  zur 
Verfügung  stehenden  starken  Druckmittel,  zum  Beispiel  Versagung 
der  Zustimmung  zur  Zollerhöhung,  bei  Pforte  mit  seinem  Wunsch 
schließlich  durchdringt.  Möchte  daher  anheimstellen,  daß,  falls  Pforte 
nachgibt,  auch  wir  uns  mit  Adrianopel  abfinden,  da  dies  schließ- 
lich innere  türkische  Angelegenheit  ist. 

J  ago  w 

236 


Nr.  15  467 

Der  Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandter  von  Treutier, 
z.  Z.  in  Stuttgart,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  139  Stuttgart,  den  6.  Dezember  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  128*. 

Seine  Majestät  befehlen,  daß  wir  zunächst  auf  unserem  Standpunkt 
stehenbleiben  und  uns  nur  dann  mit  Adrianopel  begnügen,  wenn  uns 
die  Türken  sagen,  daß  sie  nicht  anders  könnten. 

Euere  Exzellenz  möchten  aber  angesichts  dieser  von  Seiner  Majestät 
sehr  scharf  beurteilten  „russischen  Unverschämtheit"  dem  russischen 
Botschafter  gegenüber  recht  kühle  Sprache  führen.  Für  Gefälligkeiten 
Rußland  gegenüber  seien  Seine  Majestät  vorläufig  nun  nicht  mehr 
zu  haben. 

Treutier 

Nr.  15  468 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  672  Konstantinopel,  den  5.  Dezember  1913 

[pr.   6.   Dezember] 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  396**. 

Admiral  Limpus  befehligt  laut  türkischen  Staatsgesetzes  vom 
6.  Juni  1912,  veröffentlicht  in  dem  hiesigen  offiziell  herausgegebenen 
und  daher  auch  den  Russen  bekannten  Gesetzblatt  „Takwimiwekai", 
die  ganze  türkische  Kriegsflotte.  Daß  der  Admiral  effektive  Kom- 
mandogewalt ausübt,  geht  außerdem  einwandfrei  aus  dem  mir  ver- 
traulich vorliegenden  Vertrag  zwischen  ihm  und  dem  türkischen 
Marineminister  hervor. 

In  das  veröffentlichte  Staatsgesetz  ist  aus  verständlicher  Rücksicht- 
nahme auf  die  öffentliche  Meinung,  die  wegen  der  großen  Gerecht- 
samen des  Engländers  von  einem  „Nebensultan  für  die  Marine" 
sprach,  der  verschleiernde  Zusatz  „als  Instrukteur"  aufgenommen. 
De  facto  wird  diese  Einschränkung  aber  schon  in  demselben  Satz 
durch  die  Worte  „das  effektive  Kommando"  ausgeglichen.  Der  ver- 
öffentlichte Text  konstatiert  auch  das  Recht  des  Admirals  —  unter 
Wahrung  des  Budgets  und  des  Reglements  —  den  Chefs  aller  Marine- 


•  Siehe  Nr.   15  466. 
••  Siehe  Nr.  15  463. 


237 


etablissements  und  den  Kommandanten  aller  Kriegsschiffe  in  jeder 
Hinsicht  direkte  Befehle  erteilen  zu  können.  Trotz  dieser  im  Verhältnis 
zu  General  Liman  viel  größeren  Vorrechte  des  englischen  Admirals 
ist  von  russischen  Bedenken  und  russischem  Presselärm  hier  diesmal 
nichts  bekannt  geworden. 

Residenz  des  Admirals  war  bisher  Kandili  am  mittleren  Bosporus, 
während  er  jetzt  das  Haus  in  Pera  gemietet  hat,  welches  für  General 
Liman  in  Aussicht  genommen  war. 

Von  hier  aus  läßt  sich  nicht  recht  beurteilen,  ob  der  russische  Ein- 
fluß auf  das  Foreign  Office  eventuell  stark  genug  wäre,  eine  Verlegung 
der  Residenz  des  Admirals  nach  den  Dardanellen  zu  erreichen.  —  Damit 
wäre  allerdings  die  englische  Mission  ebenso  kaltgestellt,  wie  die 
unserige  in  Adrianopel  wäre,  da  eine  Reformarbeit  losgelöst  von  den 
Zentralstellen  und  den  hauptsächlichsten  Lehrinstituten  undenkbar  ist. 

Wangenheim 


Nr.  15  469 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Telegramm.     Eigenhändiges    Konzept 
Nr.  228  Berlin,  den  6.  Dezember  1913 

Nach  Bericht  des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Cospoli*  befehligt 
englischer  Admiral  laut  veröffentlichtem  türkischen  Staatsgesetz  vom 
6.  Juni  1912  ganze  türkische  Kriegsflotte.  In  Gesetz  ist  mit  Rücksicht 
auf  öffentliche  Meinung  in  Türkei,  die  wegen  großer  Rechte  des 
Engländers  von  „Nebensultan  für  Marine"  sprach,  der  verschleiernde 
Zusatz  „als  Instrukteur"  aufgenommen.  In  demselben  Satz  wird  Ein- 
schränkung auch  bereits  durch  Worte  „effektives  Kommando"  auf- 
gehoben. Nach  dem  uns  bekannten  Vertrag  hat  Admiral  Kommando- 
gewalt. Auch  nach  veröffentlichtem  Gesetz  hat  Engländer  Recht,  den 
Chefs  der  Marineetablissements  und  Kommandanten  aller  Kriegs- 
schiffe Befehle  zu  geben. 

Für  die  von  Rußland  angeführten  Interessen  in  Bosporus  und 
Meerengen  ist  Stellung  des  Engländers  viel  einschneidender  als  die 
des  deutschen  Generals,  dessen  Kompetenzen  sich  zudem  nur  über 
ein  Armeekorps,  nicht  ganze  Armeen,  erstrecken.  Mit  Seeherrschaft 
über  Bosporus  beherrscht  Admiral  eventuell  auch  Konstantinopel. 

Herr  Sasonow  nennt  unser  Vorgehen  „peu  amical  und  coup  de 
pioche  ä  notre  amitie".    Uns  erscheint  sein  Mißtrauen  gegen  unsere 

*  Siehe  Nr.  15  468. 
238 


Mission  und  differentielle  Beurteilung  mit  englischem  Admiral  und 
französischem  Gendarmeriekommandanten  nicht  von  dem  freundschaft- 
lichen Geiste  getragen,  auf  welchen  er  sich  beruft. 

Jagow 


Nr.  15  470 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  308  St.  Petersburg,  den  6.  Dezember  1913 

Die  heute  hier  bekannt  gewordene  Veröffentlichung  des  Irade 
betreffend  Ernennung  Generals  Liman  von  Sanders  zum  Kommandie- 
renden des  Armeekorps  in  Konstantinopel*  hat  Herrn  Sasonow  in  große 
Erregung  versetzt.  Minister  fragte  mich,  wie  es  möglich  sei,  daß, 
nachdem  ich  ihm  erst  vorgestern  gesagt  hätte,  die  Frage  solle  noch 
an  Ort  und  Stelle  geprüft  werden,  schon  heute  eine  vollendete  Tat- 
sache geschaffen  werden  konnte.  Ich  erwiderte,  daß  ich  ohne  neue 
Informationen  sei.  Daran  knüpfte  sich  wieder  nahezu  zweistündige 
Unterredung,  bei  welcher  von  beiden  Seiten  die  bekannten  Argumente 
geltend  gemacht  wurden,  ohne  daß  es  gelang,  Annäherung  zwischen 
beiderseitigen  Standpunkten  herbeizuführen.  Minister  ist  nicht  davon 
abzubringen,  daß  Ausübung  der  Kommandogewalt  durch  deutschen 
General  in  der  türkischen  Hauptstadt  einen  für  Rußland  unerträg- 
lichen Zustand  schaffe,  und  daß  er,  falls  es  bei  der  Ernennung  bleibe, 
genötigt  sein  werde,  eventuell  mit  Frankreich  und  England,  in  Kon- 
stantinopel sehr  ernsten  Ton  anzuschlagen.  Herr  Sasonow  behauptet, 
die  „deutsche  Garnison"  werde  den  Hochmut  und  Größenwahn  der 
Jungtürken  derart  steigern,  daß  sie  ganz  „intraitables"  werden  wür- 
den. Schon  jetzt  sei  eine  deutliche  Änderung  in  ihrer  Haltung  wahr- 
zunehmen. Offenbar  infolge  des  bei  uns  erhofften  Rückhalts  fange 
ihre  Sprache  an,  geradezu  herausfordernd  gegen  Rußland  zu  werden. 
Minister  widerholte  immer  wieder  sein  Bedauern,  daß  wir  die  eminent 
politische  Bedeutung  der  Frage,  die  unmöglich  ohne  Einfluß  auf 
russisch-deutsche  Beziehungen  bleiben  könne,  anscheinend  nicht  ein- 
sehen wollten. 

Pourtales 


•  Siehe  Nr.  15  465. 

239 


Nr.  15  471 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagowan  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtalds 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  229  Berlin,  den  7.  Dezember  1913 

Auf  Telegramm  Nr.  308*. 

Russischer  Botschafter  sprach  mir  gestern  in  ähnlichem  Sinne. 
Habe  geantwortet,  daß  unser  Standpunkt  von  Anfang  an  der  gleiche 
geblieben.  Wir  haben  bereits  Herrn  Kokowzow  erklärt,  daß  Ver- 
handlungen zu  weit  vorgeschritten,  um  jetzt  Änderung  vorzunehmen. 
Aber  General  solle,  wenn  er  in  Konstantinopel  sei,  nochmals  prüfen, 
ob  Änderung  beziehungsweise  Verlegung  nach  Adrianopel  mit  mili- 
tärischer Zweckmäßigkeit,  welche  allein  bestimmend  gewesen,  ver- 
einbar sei.  Wir  haben  aber  Bedenken,  ob  es  möglich  sein  würde,  nie 
verhehlt.   Diesen  Standpunkt  innehalten  wir  auch  jetzt  noch. 

Natürlich  wäre  gegebenenfalls  auch  Zustimmung  der  Türkei  er- 
forderlich. 

Russischer  Botschafter  hat  mir  bereits  vor  drei  Tagen  mitgeteilt, 
daß  Rußland  auch  Schritte  in  Konstantinopel  tun  würde. 

J  ago  w 


Nr.  15  472 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagowan  den 
Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.  482  Berlin,  den  7.  Dezember  1913 

Indem  ich  hervorhebe,  daß  russischer  Widerstand  sich  gegen 
Kommando  deutschen  Generals  in  Konstantinopel  richtet,  be- 
merke ich,  daß  Sir  E.  Grey  nach  hier  vorliegenden  ganz  vertraulichen 
Nachrichten  Standpunkt  vertritt,  daß  deutsches  Kommando  Kon- 
stantinopel souveräne  Rechte  Sultans  bedrohe,  Gleichgewicht  störe 
und  Freiheit  der  Meerengen  bedrohen  könne. 

Ew.  pp.  wollen  nunmehr,  ohne  erkennen  zu  lassen,  daß  Ihnen 
englische    Auffassung    bereits    bekannt,     Erlaß     Nr.     2066     vom    4. 


*  Siehe  Nr.  15  470. 
240 


d.  Mts.  *  unter  Verwertung  von  Erlaß  Nr.  2081  **  vom  6.  d.  Mts. 
unverzüglich  ausführen.  Sie  wollen  aber  unter  allen  Umständen  ver- 
meiden, den  Eindruck  zu  erwecken,  als  ob  wir  uns  entschuldigen 
wollten,  vielmehr  betonen,  daß  uns  die  russische  Stellungnahme  völlig 
unverständlich  und  befremdlich  erscheine. 

J  agow 


Nr.  15  473 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Radowitz  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  434  Paris,  den  7.  Dezember  1913 

Bei  gesprächsweiser  Berührung  unserer  Militärmission  durch  Pa- 
leologue verwertete  ich  die  in  Aufzeichnung  des  Reichskanzlers***  nieder- 
gelegten Gesichtspunkte.  Paleologue  gab  Hoffnung  Ausdruck,  daß 
Verhandlungen  zwischen  Deutschland  und  Rußland  befriedigende  Lö- 
sung herbeiführen  würden,  verhehlte  aber  nicht  seine  Besorgnis,  daß 
bei  resultatlosem  Verlauf  Rußland  von  Türkei  Kompensationen,  zum 
Beispiel  Armeekommando  in  Erserum,  verlangen  könnte,  wogegen  wir 
dann  schwerlich  protestieren  könnten1.  Auf  diese  Weise  könne  leicht 
asiatische  Frage  vorzeitig  aufgerollt  werden,  da  in  diesem  Falle  auch 
andere  Nationen2  mit  Kompensationsforderungen  hervortreten  könnten. 
In  London  sei  man  über  Möglichkeit  durch  Militärmission  hervor- 
gerufener russischer  Forderungen  auch  sehr  besorgt3. 

Paleologue  betonte,  daß  französische  Regierung  in  dieser  An- 
gelegenheit sich  neutral  verhalten  und  dafür  gesorgt  habe,  daß  Presse 
sie  objektiv  behandele. 

Radowitz 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  gekürzten  Abschrift  des  Tele- 
gramms: 

1  Die   Russen   sind   verrückt    Als  Goltz    hinging  und   dort   wirkte    fanden   sie 
nichts  dabei! 

2  Frankreich!    Syrien! 

3  Ich  bleibe  bei  meinem  Standpunkt 


•  Siehe  Nr.  15  462. 

**  Durch  Erlaß  Nr.  2081  vom  6.  Dezember  war  das  Konstantinopeler  Telegramm 

Nr.   672   (siehe   Nr.   15  468)   nach  London  mitgeteilt  worden. 

•**  Vgl.  Nr.  15  450. 

16    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  241 


Nr.  15  474 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  674  Pera,  den  7.  Dezember  1913 

Geheim 

Vertrauensmann  *  meldet: 

„Graf  Nani**  zeigte  mir  soeben  eine  Drahtinstruktion  aus  Rom, 
in  Angelegenheit  der  deutschen  Mission  sich  des  Desinteressements 
zu  befleißigen,  falls  jedoch  der  deutsche  Botschafter  es  für  erwünscht 
hält,  den  deutschen  Standpunkt  bei  der  Hohen  Pforte  zu  unterstützen. 

Bezüglich  der  jüngsten  Vorgänge  kann  ich  Euerer  Exzellenz 
durchaus  verläßlich  folgendes  melden:  Am  letzten  Dienstag 
empfing  Herr  Mallet***  Instruktion  des  Foreign  Office,  den  schrift- 
lichen russischen  Protest  gegen  die  deutsche  Mission,  soweit  sie  das 
Kommando  des  I.  Armeekorps  durch  General  Liman  betrifft,  eben- 
falls schriftlich  zu  unterstützen  f. 

Gleichlautende  Instruktion  erhielt  Herr  Bompard,  jedoch  mit  der 
Nuance  Verbalunterstützung. 


•  Es  handelt  sich  um  den  Korrespondenten  der  „Frankfurter  Zeitung"  Weitz. 
**  Italienischer  Geschäftsträger  in  Konstantinopel.  Nach  einem  weiteren  Tele- 
gramm Freiherrn  von  Wangenheims  vom  8.  Dezember  (Nr.  675)  beruhten  die 
Angaben  Graf  Nanis  auf  Mitteilungen  des  russischen  Botschaftsrats  Gulkewitsch. 
***  Englischer  Botschafter  in  Konstantinopel. 

f  Nach  einem  Telegramm  Freiherrn  von  Wangenheims  vom  8.  Dezember 
(Nr.  676)  wollte  Weitz  inzwischen  Kenntnis  von  einem  Telegramm  erhalten 
haben,  das  Graf  Nani  am  3.  Dezember  nach  Rom  gerichtet  hätte.  Das  Tele- 
gramm hätte  folgendes  besagt:  „Gelegentlich  einer  Frühstückseinladung  beim 
russischen  Botschafter  teilte  dieser  mit,  daß  heute  früh  englischer  Botschafter 
Sir  Mallet  ihn  besucht  und  ihm  Kopie  des  schriftlichen  Protestes  Englands  in 
Sachen  der  deutschen  Militärmission  übergab."  Dieser  englische  „Protest"  kann 
sich  aber  doch  nur  (vgl.  Nr.  15  461,  Fußnote)  in  die  Form  einer  einfachen  Anfrage 
bei  der  Pforte  gekleidet  haben,  während  der  Protest,  zu  dem  der  französische 
Botschafter  beauftragt  war,  sehr  viel  schärfer  gehalten  war,  allerdings  in  der 
Voraussetzung,  daß  der  englische  Protest  auf  den  gleichen  Ton  gestimmt  sei. 
Da  dies  nicht  der  Fall  war,  so  hat  offenbar  der  französische  Botschafter  sich 
veranlaßt  gesehen,  vor  der  Abgabe  des  Protestes  eine  Rückfrage  bei  seiner 
Regierung  zu  stellen,  um  so  mehr,  als  inzwischen  in  Paris  ein  Kabinettswechsel 
eingetreten  war.  Ob  nach  der  Installierung  des  neuen  Kabinetts  Doumergue 
dieses  wirklich  in  London  für  eine  veränderte  Instruierung  der  beiderseitigen 
Botschafter  in  Konstantinopel  eingetreten  ist,  wie  nach  den  Mitteilungen  Graf 
Nanis  an  Weitz  (siehe  oben)  anzunehmen  wäre,  läßt  sich  nicht  nachprüfen,  da 
das  französische  Gelbbuch  eine  klaffende  Lücke  vom  3.  bis  14.  Dezember 
(vgl.  Französisches  Gelbbuch:  Les  Affaires  Balkaniques,  III,  96)  aufweist. 

242 


Da  Herr  von  Giers  aber  auf  gleiche  Form  nichtsdestoweniger 
großen  Wert  legte,  veranlaßte  er  Herrn  Bompard,  nochmalige  In- 
struktion in  Paris  einzuholen. 

Dies  tat  Herr  Bompard,  unterrichtete  aber  zur  selben  Zeit  die 
Pariser  Regierung  von  der  hier  herrschenden  sehr  gereizten  Stimmung 
der  Pforte  gegen  Rußland  und  auch  von  den  sonstigen  Gefahren, 
welche  ein  solcher  Protest  laufe. 

Die  Folge  war,  daß  der  Quai  d'Orsay  auch  die  Verbalunterstützung 
zurückzog  und  in  London  seinen  Einfluß  zur  Geltung  brachte^  so  daß 
auch  Herr  Mallet  im  selben  Sinne  instruiert  wurde. 
Dies  erfolgte  gestern  früh. 

Herr  von  Giers  ist  in  hohem  Maße  gegen  Herrn  Bompard  aufge- 
bracht, weil  er  Konzept  der  Tripelentente  verdarb.  Nach  dem  Trara, 
den  man  vorher  in  allen  Lagern  mit  dem  beabsichtigten  Protest  der 
Entente  schlug,  glaubt  selbst  Herr  von  Giers  nicht  mehr,  daß  eine 
isolierte  Aktion  Rußlands  irgendeinen   Erfolg  haben  würde." 

Herrn  von  Giers,  der  anderen  gegenüber  in  den  letzten  Tagen  sich 
in  schärfster  Weise  über  das  deutsche  Vorgehen  geäußert  und  eine 
Kollektivnote  der  Tripelentente  und  russische  Kompensationsforde- 
rungen in  Aussicht  gestellt  hatte,  sprach  mir  heute  in  weit  versöhn- 
licherem Ton  über  die  Angelegenheit.  Letztere  sei  nur  durch  ein  per- 
sönliches Moment  verschärft  worden.  Man  habe  Herrn  Sasonow, 
der  sehr  empfindlich  sei,  in  Berlin  nichts  von  der  Mission  gesagt  und 
ihn  dadurch  mißtrauisch  gemacht.  Ich  erwiderte  Herrn  von  Giers,  daß 
ich  den  Zwischenfall  um  so  mehr  bedauerte,  als  ich  wüßte,  daß  die 
Kaiserliche  Regierung  auf  das  durch  unsere  persönlichen  Beziehungen 
angebahnte  Zusammengehen  in  der  türkischen  Frage  den  größten 
Wert  legte.  Nicht  im  entferntesten  sei  mir  je  der  Gedanke  gekommen, 
daß  er  an  der  Mission  Anstoß  nehmen  könne,  die  doch  mit  geringeren 
Machtbefugnissen  ausgestattet  sein  werde  als  die  englische  Marine- 
mission. Sobald  der  Vertrag  perfekt  gewesen,  hätte  ich  ihm  als  Erstem 
die  Details  mitgeteilt  und  sei  bestürzt  gewesen  über  seine  Auffassung, 
die  mir  ganz  unbegreiflich  erschienen  wäre.  Bestimmt  sei  sodann  in 
Berlin  nur  deswegen  nicht  über  die  Sache  gesprochen  worden,  weil 
man  bei  uns  die  Entsendung  des  Generals  als  etwas  Selbstverständ- 
liches und   Rußland  gar  nicht   Interessierendes   angesehen   habe. 

Herr  von  Giers  bat  zum  Schluß  um  weitere  Unterstützung  in  der 
armenischen  Angelegenheit*,  damit  er  Ende  des  Monats  auf  Urlaub 
gehen  könne. 

Wangenheim 


*  Vgl.  dazu  Kap.  CCLXXX1X. 


16*  243 


Nr.  15  475 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  309  St.  Petersburg,  den  7.  Dezember  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  228*.  Im  Anschluß  an  Telegramm 
Nr.  308**. 

An  der  Hand  neuerdings  durch  Presse  bekanntgewordener  Einzel- 
heiten über  Stellung  englischen  Admirals  in  Konstantinopel  wies  ich 
schon  bei  gestriger  Unterredung  Herrn  Sasonow  gerade  auf  dieses 
Moment  besonders  hin  und  hob  hervor,  daß  Seeherrschaft  über  Bos- 
porus für  türkische  Hauptstadt  und  Meerenge  viel  bedrohlicher  sei, 
als  das  Kommando  über  das  Korps  in  Konstantinopel.  Minister  hatte 
darauf  nur  die  Antwort,  daß  das  Kommando  über  türkische  Flotte 
bedeutungslos  sei,  da  es  eine  solche  überhaupt  nicht  gebe  und  auf 
Jahrzehnte  hinaus  nicht  geben  werde***.  Ebensowenig  wollte  Herr 
Sasonow  zugeben,  daß  ein  Franzose,  der  das  Kommando  über  die 
türkische  Gendarmerie  habe,  (wovon  übrigens  der  Minister  nichts  zu 
wissen  behauptete)  in  der  Lage  sei,  mindestens  denselben  politischen 
Einfluß  auszuüben  als  ein  deutscher  Korpskommandeur,  der  sich  über- 
dies verpflichtet  habe,  sich  und  seine  Offiziere  von  Politik  fern  zu  halten. 

Das  gänzlich  ablehnende  Verhalten  des  Herrn  Sasonow  gegen- 
über diesen  Argumenten  nötigte  mich  ihm  zu  sagen,  daß,  wenn  er 
Tatsachen  einfach  leugne,  mir  ein  weiteres  Diskutieren  überflüssig  er- 
scheine, daß  ich  aber  unter  solchen  Umständen  zu  meinem  Schmerz 
selbst  anfangen  müsse,  an  der  Möglichkeit  dauernder  freundschaft- 
licher Beziehungen  Deutschlands  zu  Rußland  zu  zweifeln.  Denn  ein 
Freundschaftsverhältnis,  bei  dem  wir  allein  der  gebende  Teil  sein  sollten, 
und  uns  verwehrt  werden  solle,  was  den  Mitgliedern  der  Tripelentente 
gestattet  werde,  sei  für  uns  schlechterdings  unannehmbar l.  Wenn  auch 
unsere  gestrige  Unterredung  wiederholt  zu  recht  scharfen  Auseinander- 
setzungen führte,  schlug  Herr  Sasonow  doch  am  Schluß  versöhnlichen 
Ton  an.  Er  betonte  den  großen  Wert,  den  er  auf  deutsche  Freund- 
schaft lege,  und  beschwor  mich,   Euere  Exzellenz  zu  bitten,  Ausweg 


•Siehe  Nr.  15  469. 
**  Siehe  Nr.  15  470. 

***  Vgl.  dazu  Sasonows  Immediatbericht  vom  8.  Dezember,  in  dem  die  völlig 
entgegengesetzte  Auffassung  zum  Ausdruck  gelangt:  „Nach  den  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  beim  Außenministerium  eingelaufenen  Nachrichten  müssen 
wir  zu  dem  Schluß  kommen,  daß  in  den  Jahren  1914—1916  die  türkische  Kriegs- 
flotte im  Schwarzen  Meer  der  unsrigen  an  Güte  der  Schiffe  und  Stärke  ihrer 
Artillerie  überlegen  sein  wird."  Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis 
1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  379. 

244 


zu  finden,  damit  die  für  Rußland  hochwichtige  Frage  eine  Lösung  finde, 
die  zu  keiner  Trübung  unserer  Beziehungen  führe2. 

Pourtales 


Randbemerkungen  Zimmermanns: 

1  Endlich 

2  Die  Russen  müssen  endlich  einlenken. 


Nr.  15  476 

Der  Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg* 

Ausfertigung 
Nr.  692  London,  den  9.  Dezember  1913 

Ein  Gespräch  über  die  Zustände  in  der  Türkei  nach  dem  Kriege 
bot  natürliche  Gelegenheit,  die  Frage  unserer  Militärmission  in  Kon- 
stantinopel den  erhaltenen  Weisungen  gemäß  zur  Sprache  zu  bringen. 
Sir  Edward  Grey  sagte,  er  sei  von  russischer  Seite  auf  die  Sache  an- 
gesprochen worden.  Die  Russen  schienen  durch  die  Frage  sehr  be- 
unruhigt und  hätten  sie  ja  wohl  auch  in  Berlin  angeregt.  Graf  Bencken- 
dorff  sei  eben  vom  Urlaub  zurückgekommen  und  werde  die  Ange- 
legenheit wohl  aufs  neue  berühren.  Auf  dem  Papier  sehe  es  ja  sehr 
formidabel  aus,  wenn  man  sagen  könne,  Deutschland  beherrsche  das 
Armeekorps  in  Konstantinopel,  und  dieses  Armeekorps  sei  hinwiederum 
der  Träger  der  Staatsgewalt  in  der  Türkei.  Von  gewisser  Seite  sei  der 
Vergleich  mit  dem  Einfluß  gebraucht  worden,  den  Rußland  durch  die 


*  Zu  dem  Bericht  Kühlmanns  über  seine  Unterredung  mit  Sir  E.  Grey  vgl. 
auch  dessen  Angaben  zu  Graf  Benckendorff.  Telegramm  Benckendorffs  an 
Sasonow  vom  9.  Dezember  1913.  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O., 
S.  645  f.  Am  10.  Dezember  teilte  der  englische  Geschäftsträger  O'Beirne  Saso- 
now einen  englischen  Gegenentwurf  für  die  in  Konstantinopel  abzugebende  Kol- 
lektiverklärung mit,  der  aber  in  Petersburg  als  „nichtssagend"  keineswegs  befrie- 
digte, da  Sir  E.  Grey  darauf  bestand,  zunächst  in  Konstantinopel  nur  eine  Anfrage 
vorzubringen,  „dazu  bestimmt,  den  Kontakt  zwischen  der  türkischen  Regierung 
und  dem  deutschen  General  kennenzulernen,  damit  die  drei  Mächte  sich  auf 
diese  Weise  Rechenschaft  geben  können,  welches  der  Unterschied  der  Stellung 
dieses  Generals  in  der  türkischen  Armee  und  der  früheren  Stellung  von  der 
Goltz  Paschas  sein  werde"  (Telegramm  Graf  Benckendorffs  an  Sasonow  vom 
11.  Dezember;  v.  Siebert,  a.  a.  O.,  S.  648).  So  blieb  Sasonow  nichts  übrig,  als  sich 
grollend  der  englischen  Auffassung  zu  fügen  und  am  12.  Dezember  dem  Bot- 
schafter von  Giers  in  Konstantinopel  entsprechenden  Auftrag  zu  geben.  Tele- 
gramme Sasonows  an  Graf  Benckendorff  vom  10.  und  12.  Dezember;  Tele- 
gramm an  Botschafter  von  Giers  vom  12.  Dezember,  a.  a.  O.,  S.  648  ff .  Über 
die  Ausführung  der  Demarche  der  Ententebotschafter  bei  der  Pforte  vgl.  Nr. 
15  481. 

245 


Kosakenbrigade  auf  die  persische  Regierung  in  Teheran  auszuüben  ver- 
möge *. 

Ich  erwiderte  dem  Minister,  dieser  Vergleich  sei  total  falsch,  denn 
einmal  dürfe  man  die  Türkei  doch  keinesfalls  mit  dem  morschen  Persien 
vergleichen,  dann  sei  auch  die  Kosakenbrigade  vollkommen  in  Händen 
des  russischen  Kommandeurs,  der  Rekruten  anwerbe,  Sold  auszahle  und 
dergleichen.  Von  all  dem  könne  in  Konstantinopel  keine  Rede  sein. 
Die  Jungtürken  hätten  sich  als  überaus  eifersüchtig  gegen  jede  Ein- 
mischung des  Auslands  erwiesen.  Die  Idee,  daß  sie  einem  ausländi- 
schen General  maßgebenden  politischen  Einfluß  einräumen  würden, 
sei  nicht  ernstlich  diskutierbar. 

Der  Minister  gab  dies  zu  und  sagte,  er  wolle  sich  jedenfalls  über 
die  ganze  Angelegenheit  informieren,  um  sich  selbst  ein  Urteil  zu 
bilden.  Er  beabsichtige,  bei  den  Türken  anzufragen,  wie  sie  den 
Vertrag  mit  dem  Führer  der  deutschen  Militärmission  auslegten*. 
Auf  meine  längeren  Darlegungen  über  die  Stellung  des  englischen 
Admirals  in  der  türkischen  Flotte  erwiderte  Sir  E.  Grey,  die  Einzel- 
heiten dieses  Kontraktes  seien  ihm  unbekannt2;  er  werde  aber  gleich 
Befehl  geben,  daß  ihm  das  nötige  Material  vorgelegt  werde. 

Der  einzige  Gesichtspunkt,  den  er  seinerzeit  geltend  gemacht 
habe,  sei  der,  daß  englische  Instrukteure  unter  keinen  Umständen  an 
kriegerischen  Aktionen  beteiligt  sein  dürften.  Er  nehme  an,  daß  dies 
auch  für  unsere  Instrukteure  gelte3. 

Zum  Schluß  der  langen  Unterredung  äußerte  der  Minister,  er 
sei  erfreut,  daß  ich  die  Frage,  welche  immerhin  zu  Mißverständnissen 
hätte  führen  können,  direkt  mit  ihm  besprochen  hätte. 

Er  war  während  des  ganzen  Gesprächs  sehr  aufgeknöpft  und  heiter, 
und  ich  hatte  den  Eindruck,  daß  er  kaum  etwas  tun  wird,  um  uns  in 
dieser  Angelegenheit  wirklich  Schwierigkeiten  zu  machen. 


*  Inzwischen  hatte  Sasonow,  nachdem  die  für  den  3.  Dezember  geplant 
gewesene  Protestaktion  der  Tripelentente  in  Konstantinopel  nicht  zustande 
gekommen  war,  am  7.  Dezember  erneut  die  Übergabe  einer  identischen  Protest- 
note angeregt.  Der  Entwurf  einer  solchen,  den  er  in  London  und  Paris  über- 
reichen ließ  (vgl.  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.a.O.,  S.  644 f.),  fand 
aber  bei  Sir  E.  Orey  wegen  seiner  drohenden  Sprache  keine  Billigung,  während 
die  französische  Regierung  bereit  war,  ihn  pure  anzunehmen  (vgl.  Telegramm 
Nr.  804  Graf  Benckendorffs  an  Sasonow  vom  9.  Dezember  1913;  a.  a.  O., 
S.  646 f.).  Der  englische  Staatssekretär  sprach  sich  dafür  aus,  auf  das 
erste  Projekt  einer  bloßen  Anfrage  nach  dem  Inhalt  des  Irades  zurückzukommen 
und  bei  dessen  Realisierung  durch  die  Konstantinopeler  Botschafter  „ernstliche 
Erwägungen  hinsichtlich  der  Erhaltung  der  Souveränität  des  Sultans,  des 
Regimes  der  Meerengen  und  der  ganzen  Lage  in  Konstantinopel  hinzufügen"  zu 
lassen;  doch  so,  daß  „die  Möglichkeit  weiterer  Verhandlungen  offen  bleibe". 
Geheimtelegramm  Graf  Benckendorffs  Nr.  802  vom  9.  Dezember  1913.  Der 
Diplomatische  Schriftwechsel   Iswolskis    1911—1914,  ed.  Fr.   Stieve,   III,   383f. 

246 


Falls  der  Wortlaut  des  Dienstvertrages  des  englischen  Admirals 
hierher  mitgeteilt  werden  könnte,  würde  dies  die  Argumentation,  falls 
Sir  E.  Grey  nochmals  auf  die  Frage  zurückkommt,  erleichtern. 

R.  v.  Kühlmann 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  ? 

2  ;; 

3  nein! 

Nr.  15  477 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Entzifferung 
Nr.  350  St.  Petersburg,  den  10.  Dezember  1913 

Mit  Bezug  auf  den  mir  mit  Erlaß  Nr.  1391  mitgeteilten  Bericht  des 
Kaiserlichen  Botschafters  in  Konstantinopel  vom  7.  d.  Mts.*: 

Die  dem  hiesigen  italienischen  Geschäftsträger  zugegangenen 
Informationen  bestätigen,  daß  Frankreich,  welches  anfangs  in 
der  Frage  der  Militärmissionen,  wohl  in  der  Hoffnung,  bei  dieser 
Gelegenheit  womöglich  einen  Keil  in  unser  freundschaftliches  Ver- 
hältnis zu  Rußland  zu  treiben,  hier  stark  gehetzt  hat,  neuerdings  aus  Be- 
sorgnis vor  Zuspitzung  russisch-türkischen  Gegensatzes  eher  abwiegelt 
und  zu  versönlicherem  Tone  bei  Behandlung  der  Angelegenheit  rät. 
Ob  mein  französischer  Kollege,  der  beinahe  täglich  mit  Herrn  Sasonow 
lange  Unterredungen  hat,  sich  tatsächlich  in  diesem  Sinne  hier  äußert, 
ist  schwer  zu  kontrollieren.  Die  bisherige  Haltung  des  Herrn  Sasonow 
läßt  jedenfalls  nicht  auf  eine  mildere  Auffassung  des  Ministers  infolge 
französischer  Einwirkung  schließen. 

Meinem  türkischen  Kollegen  gegenüber  ist  bis  jetzt  im  hiesigen 
Ministerium  die  Frage  mit  keinem  Wort  berührt  worden. 

Pourtales' 

Nr.  15  478 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  312  St.  Petersburg,  den  12.  Dezember  1913 

Herr  Kokowzow,  der  erst  seit  wenigen  Tagen  aus  Livadia  zurück- 
gekehrt ist,  empfing  mich  heute.    Ich  fand  ihn  in  deprimierter  Stim- 


•  Siehe  Nr.  15  474. 

247 


mung,  er  erklärte  mir,  daß  ihn  die  Wendung  in  unseren  Beziehungen, 
auf  die  er,  wie  er  es  wiederholt  gezeigt  habe,  den  größten  Wert  lege, 
mit  „tiefer  Trauer"  erfülle.  Auch  Seine  Majestät  der  Kaiser  Nikolaus 
sei  „sehr  schmerzlich  davon  berührt",  daß  Kaiserliche  Regierung  es 
nicht  für  möglich  gehalten  habe,  berechtigten  russischen  Wünschen1 
entgegenzukommen,  und  daß  dadurch  „eine  bedauerliche  Trübung  in 
dem  Verhältnis  zwischen  Deutschland  und  Rußland  entstanden  sei2". 
Es  ist  Herrn  Sasonow  offenbar  gelungen,  den  Ministerpräsidenten 
ganz  zu  seinem  Standpunkte  zu  bekehren  und  ihn  zu  veranlassen, 
diesen  Standpunkt  auch  in  Livadia  geltend  zu  machen.  Herr  Kokow- 
zow  versicherte  allerdings,  auch  unsere  Auffassung  seinem  alier- 
gnädigsten  Herrn  vorgetragen  und  Seiner  Majestät  von  dem  In- 
halt Euerer  Exzellenz  Privatbriefs  sowie  der  ihm  durch  Herrn  von 
Lucius  auftragsgemäß  gemachten  Eröffnungen  Kenntnis  gegeben  zu 
haben. 

Der  von  Herrn  Kokowzow  entwickelte  Gedankengang  ist  folgender: 
Rußland  hat  sich  dafür  eingesetzt,  daß  Konstantinopel  türkisch 
bliebe.  Es  vertritt  den  Standpunkt  und  hat  die  gleiche  Auffassung  bei 
den  anderen  Mächten  vorausgesetzt,  daß  keine  Macht  in  der  türkischen 
Hauptstadt  einen  überwiegenden  Einfluß  ausüben  solle.  Deutschland 
habe  sich  nunmehr  unter  Nichtachtung  dieses  Standpunkts  de  facto 
zum  Herrn  der  Situation  in  Konstantinopel  gemacht3,  habe  Rußland  in 
dieser  Beziehung  vor  eine  vollendete  Tatsache  gestellt  und  dann  in 
freundschaftlicher  Weise  erhobene  Einwendungen  unberücksichtigt  ge- 
lassen. 

Ich  habe  in  eingehender  Darlegung  diese  Auffassung  zu  wider- 
legen versucht.  Herr  Kokowzow  antwortete  darauf  mit  den  Argumenten 
des  Herrn  Sasonow.  Nur  der  Hinweis  auf  das  aktive  Kommando  der 
türkischen  Flotte  durch  englischen  Admiral  schien  nicht  ohne  Eindruck  auf 
ihn  zu  bleiben.  Als  ich  ihm  sagte,  daß  wir  uns  jedenfalls  keine  diffe- 
rentielle  Behandlung  gefallen  lassen  könnten4,  und  ihn  fragte,  ob  er 
denn  glaube,  daß  ein  englischer  Admiral,  der  die  türkische  Flotte  und 
sämtliche  Marineeinrichtungen  in  seiner  Hand  habe,  sich  nicht  ebenso 
zum  Herrn  über  Konstantinopel  machen  könne  als  deutscher  Korps- 
kommandeur, stutzte  er5  und  erklärte,  daß  er  von  den  von  mir  er- 
wähnten Tatsachen  nichts  gewußt  habe  und  zunächst  Erkundigungen 
darüber  einziehen  wolle.  Dabei  entfuhr  ihm  der  Ausruf:  „Dann  ge- 
staltet sich  also  die  Lage  noch  ungünstiger  für  uns  6,  denn  dann  steht 
Konstantinopel  ganz  unter  englischem  und  deutschem   Einfluß." 

Pourtales» 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  verkürzten  Abschrift  des  Tele- 
gramms: 

1  Donnerwetter!    Starker  Tobak! 

2  gut,  daß  es  mal  endlich  gesagt  wird 

3  ! 

248 


*  gut 

6  natürlich  zumal  über  die  Einfahrt  zum  Bosporus,  wo  die  Russen  doch  hinein- 
wollen! 

6  Das  stimmt 

Bemerkung  des  Kaisers  am  Schluß  des  Telegramms: 
Rußland  sollte  uns  doch  dankbar  sein  daß  wir  am  Land  aufpassen,  daß  Eng- 
land nicht  zu  Rußlands  Ungunsten  zu  sehr  in  Stambul  der  Herr  wird! 

Nr.  15  479 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  682  Konstantinopel,  den  13.  Dezember  1913 

Großwesir  erzählte  mir  streng  vertraulich,  Admiral  Limpus  habe 
sich  als  türkischer  Offizier  verpfichtet  gefühlt,  ihn  über  eine  Unter- 
haltung mit  Herrn  Mallet  zu  unterrichten.  —  Der  Admiral  sei  vom 
Botschafter  gefragt  worden,  wie  er  seine  Stellung  zur  türkischen 
Marine  auffasse.  Der  Admiral  habe  erwidert,  er  sei  der  Oberstkom- 
mandierende der  türkischen  Flotte  und  als  solcher  mit  Gerechtsamen 
ausgestattet,  die  weitergingen,  als  diejenigen  des  deutschen  Generals.  — 
Er  verstehe  deshalb  nicht,  wie  gerade  England  an  der  deutschen 
Mission  Anstoß  nehmen  könne.  Der  Botschafter  habe  zu  dieser  Er- 
klärung geschwiegen. 

Großwesir  sagte  mir  ferner,  daß,  wenn  die  Ententemächte  ihn 
offiziell  um  eine  Auskunft  über  die  Aufgaben  der  deutschen  Mis- 
sion ersuchen  sollten,  er  diese  Auskunft  unter  Hinweis  auf  die  Sou- 
veränität der  Türkei  kategorisch  verweigern  werde.  Zu  einer  persön- 
lichen und  vertraulichen  Aussprache  werde  er  bereit  sein. 

Wangenheim 

Nr.  15  480 

Der  Geschäftsträger  in  London  von  Kühlmann  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  706  London,  den  12,  Dezember  1913 

[pr.    14.   Dezember] 

Vielfach  hatte  hier  der  Eindruck  bestanden,  daß  für  die  Stellung- 
nahme Sir  Edward  Greys  zur  Frage  der  Stellung  der  deutschen  Militär- 
mission in  Konstantinopel  die  Berichterstattung  des  neuen  Botschafters 
in  Konstantinopel  Sir  Louis  Mallet  maßgebend  gewesen  sei,  der  hier 
stets  als  Verfechter  der  Idee  der  Tripelentente  aufgetreten  war.  Wie 
ich  aber  ganz  vertraulich  und  unter  der  Hand  feststellen  konnte,  war  die 

249 


Stellungnahme  Sir  Louis  Mallets,  soweit  sie  in  seiner  Berichterstattung 
zutage  trat,  eine  durchaus  gemäßigte  und  nicht  geeignet,  Sir  Edward 
Grey  für  eine  Beteiligung  an  etwaigen  Schritten  in  Konstantinopel 
zu  entscheiden*. 

Hingegen  ist  von  russischer  Seite  anscheinend  ein  außerordent- 
lich starker  Druck  ausgeübt  worden1**.  Die  russische  Regierung  soll 
so  weit  gegangen  sein,  Sir  Edward  Grey  zu  sagen,  daß  sie  sein  Ver- 
halten in  dieser  Frage  zum  Prüfstein  für  die  Gesinnungen  der  englischen 
Politik  gegen  Rußland  überhaupt  machen  müsse2.  Da  Sir  Edward 
seiner  Politik  gemäß  einen  Bruch  mit  Rußland  vermeiden  will3,  habe 
er  sich  entschlossen,  formell  sich  an  einer  Erkundigung  in  der  Sache  zu 
beteiligen,  ohne  aber  der  Frage  selbst  starkes  Interesse  entgegenzu- 
bringen 4. 

R*  v.  Kühlmann 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Hallunken! 

2  aha 

3  Esel!  verräth  die  eigenen  Interessen  seines  Landes 

4  dann  kann  ja  der  Großwesir  ruhig  grob  werden 

Nr.  15  481 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  Z.  in  München 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.   272  Berlin,  den    15.   Dezember   1913 

Euerer   Majestät  Botschafter  in  Konstantinopel  meldet***: 
„Die  Demarche  der  Ententemächte  bei  der  Pforte  in  Sachen  der 
deutschen  Militärmission  hat  gestern  den  13.  in  später  Nachmittags- 


*  Vgl.  auch  Nr.  15  492. 

**  Das  wird  bestätigt  durch  den  bei  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O., 
S.  647  ff.  mitgeteilten  Schriftwechsel  zwischen  Petersburg  und  London.  In  dem 
Telegramm  Sasonows  an  Graf  Benckendorff  vom  12.  Dezember  wird  geradezu 
von  schwerer  Erschütterung  des  russischen  Vertrauens  auf  die  englische  Unter- 
stützung gesprochen:  „Dieser  Mangel  an  Zusammengehörigkeit  und  Solidarität 
zwischen  den  drei  Mächten  der  Entente  erregt  unsere  ernstliche  Besorgnis,  denn 
er  bildet  einen  organischen  Fehler  der  Tripelentente,  welcher  uns  dem  festen 
Blocke  des  Dreibundes  gegenüber  stets  in  Nachteil  versetzen  wird.  Eine 
derartige  Sachlage  kann  gegebenenfalls  schwerwiegende  Folgen  nach  sich 
ziehen  und  vitale  Interessen  einer  jeden  Macht  der  Tripelentente  aufs  ernst- 
lichste gefährden"  (S.  651).  Vgl.  auch  Sir  G.  Buchanan,  My  Mission  to  Russia, 
I,  149  f. 

***  Telegramm  Nr.  683  vom  14.  Dezember  1912.  Zum  Vergleich  ist  das  Telegramm 
des  russischen  Botschafters  in  Konstantinopel  von  Giers  vom  15.  Dezember  über 
die  ihm  von  dem  Großwesir  gegebene  Antwort  (v.  Siebert,  Diplomatische  Akten- 
stücke, a.  a.  O.,  S.  653  f.)  heranzuziehen. 

250 


stunde  stattgefunden.  Die  Botschafter  Rußlands,  Frankreichs  und  Groß- 
britanniens fanden  sich  gleichzeitig  auf  der  Pforte  ein.  Herr  von  Oiers 
verlas  eine  Reihe  von  Fragen  (un  questionnaire),  die  von  den  beiden 
anderen  Botschaftern,  die  nach  ihm  empfangen  wurden,  ohne  schrift- 
liche Unterlagen  wiederholt  wurden.  Die  beiden  wesentlichsten  Fragen 
waren,  ,si  Pindependance  de  P  Empire  etait  sauvegardee  dans  le  contrat 
concernant  l'engagement  des  officiers  allemands',  sowie  ob  dieses 
Engagement  ,portait  atteinte  ä  Petat  actuel  des  Dardanelles ll.  Der 
Großwesir  erwiderte,  daß  es  Sache  der  Türkei  sei,  ihre  Unabhängigkeit 
zu  wahren,  und  fragte,  mit  welchem  Recht  sich  fremde  Mächte  da  ein- 
mischten2? Er  lehne  es  ausdrücklich  ab,  die  ihm  gestellten  Fragen 
offiziell  zu  beantworten3  und  würde  auch,  falls  bei  dem  morgigen 
Empfang  der  Botschafter  die  Sache  wieder  angeregt  werden  sollte, 
lediglich   offiziös  bezw.  ä  titre  prive   Erklärungen  abgeben. 

Der  Großwesir  ersuchte  den  russischen  Botschafter,  ihm  Abschrift 
des  vorgelesenen  Schriftstücks  zu  hinterlassen*,  was  dieser  ab- 
lehnte5. Ferner  verlangten  die  Botschafter  Einsicht  in  den  mit  der 
deutschen  Militärmission  abgeschlossenen  Vertrag6.  Der  Großwesir 
lehnte  dieses  Ansinnen  bestimmt  ab.  Dem  englischen  Botschafter 
gegenüber  machte  der  Großwesir  noch  darauf  aufmerksam,  daß  die 
von  der  Pforte  angestellten  englischen  Marineoffiziere  Gamble  und 
Limpus  weitergehende  Befugnisse  erhalten  hätten,  als  die  jetzt 
engagierte  deutsche  Militärmission 7.  Als  der  Großwesir  heute  vor- 
mittag dem  diesseitigen  Dragoman  die  vorstehenden  Mitteilungen 
machte,  zeigte  er  noch  unter  dem  frischen  Eindruck  seiner  Unter- 
redung mit  den  drei  Botschaftern  eine  gewisse  Erregung,  ließ  aber 
seine  Entschlossenheit  erkennen,  die  Würde  der  Pforte  gegenüber 
dem  in  dieser  Form  ausgeübten  Druck  fest  zu  wahren. 

Die  Meldung  des  heutigen  ,Osmamischen  Lloyd',  daß  die  An- 
gelegenheit heute  dem  Ministerrat  zur  Beschlußfassung  über  die 
den  Ententemächten  zu  erteilende  Antwort  vorgelegt  werden  sollte, 
bezeichnete  der  Großwesir  als  unrichtig.    Wangenheim". 

Zimmermann 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Unerhörte  Unverschämtheit 

2  bravo! 

3  Das  haben  die  Herren  wohl  kaum  erwartet,  aber  verdient! 

4  gut 

5  aha! 

6  Schul-  und  Revisions  Commission  über  die  Türkei!! 

7  au! 


251 


Nr.  15  482 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Zimmermann  an  den  Botschafter  in  London  Fürsten 

von  Lichnowsky 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.  486  Berlin,  den  15.  Dezember  1913 

Der   Kaiserliche   Botschafter   in    Konstantinopel    telegraphiert*: 

„Die  Demarche  der  Ententemächte  wegen  Militärmission  hat 
am  13.  stattgefunden.  Die  Botschafter  Rußlands,  Frankreichs  und 
Großbritannies  fanden  sich  gleichzeitig  auf  der  Pforte  ein.  Herr  von 
Giers  verlas  eine  Reihe  von  Fragen.  Wesentlichste  Fragen  waren, 
„si  l'independance  de  l'Empire  etait  sauvegardee  dans  le  contrat  con- 
cernant  l'engagement  des  officiers  allemands",  sowie  ob  dieses  Engage- 
ment „portait  atteinte  ä  l'etat  actuel  des  Dardanelles".  Der  Großwesir 
erwiderte,  daß  es  Sache  der  Türkei  sei,  ihre  Unabhängigkeit  zu  wahren, 
und  lehnte  ausdrücklich  ab,  die  Fragen  offiziell  zu  beantworten.  Er 
wird  lediglich  offiziös  bzw.  ä  titre  prive  Erklärungen  abgeben. 
Den  englischen  Botschafter  machte  der  Großwesir  darauf  aufmerksam, 
daß  die  englischen  Marineoffiziere  Gamble  und  Limpus  weitergehende 
Befugnisse  erhalten  hätten  als  die  deutsche  Militärmission." 

Nach  hier  vorliegenden  Nachrichten  hat  Umstand,  daß  Herr  von 
Kühlmann  Ankündigung  bevorstehender  Demarche  durch  Sir  E.  Grey** 
anscheinend  widerspruchslos  entgegengenommen,  bei  Entente  Eindruck 
hervorgerufen,  daß   wir  mit  Demarche  einverstanden   seien. 

Bitte  bei  Sir  E.  Grey  dieser  Anschauung  entgegenzutreten  und 
peinlichen  Eindruck  hervorheben,  den  von  vornherein  ohne  Fühlung- 
nahme mit  uns  erfolgtes  englisches  Vorgehen  hier  hervorgerufen. 

Es  wird  darauf  ankommen,  durch  geeignete  Einwirkung  auf  Sir 
E.  Grey  zu  erreichen,  daß  es  bei  der  jetzigen  einstweilen  lediglich  in- 
formatorischen Demarche  der  Entente  verbleibt,  und  er  nicht  weiter 
Einwirkungen  Rußlands  unterliegt,  das  Angelegenheit  als  Vorwand 
zur  Aufrollung  politischer  Fragen,  wie  Dardanellenfrage,  benützen 
möchte. 

Zimmermann 


*  Vgl.  das  vorhergehende  Schriftstück. 
**  Vgl.   Nr.   15  476,   15  480. 


252 


Nr.  15  483 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  359  St.  Petersburg,  den  13.  Dezember  1913 

[pr.   15.   Dezember] 

Wenn  die  französische  Presse  behauptet,  daß  in  Rußland  große 
Erregung  über  die  Ernennung  eines  deutschen  Generals  zum  Kom- 
mandierenden eines  türkischen  Armeekorps  herrsche,  so  ist  das  eine 
direkte  Unwahrheit.  Die  Erregung  beschränkt  sich  auf  einen  sehr 
kleinen  Kreis  und  die  öffentliche  Meinung  steht  der  Angelegenheit  im 
allgemeinen  kühl  und  gleichgültig  gegenüber1.  Daß  die  „Nowoje 
Wremja",  die  in  diesem  Falle  zweifellos  von  der  Sängerbrücke  aus 
inspiriert  wird,  und  einige  geistesverwandte  Blätter  diese  willkommene 
Gelegenheit  zur  Hetze  gegen  Deutschland  benutzen,  ist  natürlich; 
die  meisten  liberalen  Blätter  aber  enthalten  sich  überhaupt  der  Be- 
sprechung der  Frage  oder  erörtern  sie  in  maßvollem,  sachlichem  Tone, 
Besonders  bemerkenswert  ist  in  dieser  Hinsicht  der  von  mir  ander- 
weitig eingereichte  Artikel  des  viel  gelesenen  „Russkoje  Slowo",  der 
so  weit  geht,  das  Verhalten  der  russischen  Regierung  als  unberechtigt 
hinzustellen. 

Ich  darf  aber  auch  bei  dieser  Gelegenheit  daran  erinnern,  daß  die 
Bedeutung  der  hiesigen  sogenannten  öffentlichen  Meinung  nicht  über- 
schätzt werden  darf.  Wichtiger  erscheint  mir,  daß  der  Zwischenfall 
unserer  Militärmission  in  der  Türkei,  oder  richtiger  gesagt  der  Be- 
dingungen, unter  denen  dieselbe  zu  wirken  berufen  ist,  in  den  maß- 
gebenden hiesigen  Kreisen  eine  wenn  auch  noch  so  unberechtigte,  so 
doch  immerhin  starke  Verstimmung  gegen  uns  hervorgerufen  hat.  Nach 
meinen,  seit  meiner  Rückkehr  hierher  gewonnenen  Eindrücken  ist  diese 
von  verschiedenen  Seiten  aus  durchsichtigen  Gründen  geschürte  Ver- 
stimmung eine  größere,  als  ich  erwartet  hatte,  und  eine  zu  tiefgehende, 
als  daß  auf  ein  baldiges  Schwinden  derselben  zu  zählen  wäre.  Be- 
sonders fiel  mir  gestern  der  gänzlich  veränderte  elegische  Ton  des 
Ministerpräsidenten  auf,  der  zwar  wiederholte,  daß  er  gegen  die  Militär- 
mission an  sich  gar  nichts  habe,  aber  hinzufügte,  daß  ihn  die  Ausübung 
des  aktiven  Kommandos  durch  General  von  Liman  mit  ernsten  Sorgen 
erfülle2.  Herr  Kokowzow,  welchem  vom  Herrn  Sasonow  bei  unserer 
neulichen  Unterredung  das  richtige  politische  Verständnis  für  die  Frage 
abgesprochen  wurde,  und  der  inzwischen  offenbar  vom  Minister  des 
Äußeren  stark  bearbeitet  worden  ist,  betonte,  daß  er  unser  ablehnendes 
Verhalten  gegen  die  russischen  Wünsche  besonders  darum  tief  beklage, 
weil  er  stets  für  freundschaftliche  Annäherung3  zwischen  Rußland  und 
Deutschland  gewirkt  habe,  es  ihn  daher  mit  um  so  größerem;  Schmerze 

253 


erfülle,  durch  einen  Zwischenfall  wie  den  vorliegenden  seine  Arbeit 
von  Jahren  zerstört  zu  sehen 4. 

Ich  darf  davon  absehen,  die  eingehenden  Darlegungen  zu  wieder- 
holen, welche  ich  dem  Standpunkte  der  Herren  Kokowzow  und  Sasonow 
entgegengehalten  habe,  muß  aber  zu  meinem  Bedauern  bekennen,  daß 
ich  mit  diesen  Darlegungen  keinen  großen  Eindruck  hervorgerufen  zu 
haben  das  Gefühl  habe5.  Der  Refrain  der  Ausführungen  der  rus- 
sischen Staatsmänner,  von  denen  sie  nicht  abzubringen  sind,  bleibt 
immer  derselbe:  „Jeder,  welcher  die  Geschichte  Rußlands  in  den 
vergangenen  zwei  Jahrhunderten  nur  oberflächlich  kennt,  muß  wissen, 
welche  Rolle  in  derselben  die  Beziehungen  Rußlands  zu  der  Türkei  und 
insbesondere  Konstantinopel  sowie  die  Meerengen  gespielt  haben  und 
noch  spielen.  Nachdem  Rußland  während  der  letzten  Balkankrisis 
in  erster  Linie  dazu  beigetragen  hat,  der  Türkei  ihren  europäischen 
Besitz  und  insbesondere  Konstantinopel  zu  erhalten,  hat  es  gezeigt, 
daß  es  selbst  keine  egoistischen  Absichten  hat2,  sondern  nur  dem 
europäischen  Gleichgewicht  und  dem  Frieden  hat  dienen  wollen. 
Welchen  Eindruck  muß  es  unter  diesen  Umständen  hier  machen,  wenn 
jetzt  eine  Macht,  welche  versichert,  für  Rußland  freundschaftliche 
Gefühle  zu  hegen,  hinter  dem  Rücken  Rußlands  6  durch  einen  Vertrag 
über  Besetzung  der  wichtigsten  militärischen  Stellen  in  der  türkischen 
Hauptstadt  sich  dort  einen  Einfluß  verschafft,  der  das  gerade  dort  so 
überaus  wichtige  Gleichgewicht  der  Mächte  mit  einem  Schlage  über 
den  Haufen  wirft*!" 

Alle  Hinweise  auf  die  unrichtigen  Voraussetzungen,  von  denen 
diese  Deduktionen  ausgehen,  bleiben  wirkungslos.  Nur  die  Feststellung, 
daß  die  dem  englischen  General  eingeräumten  Rechte  Rußland  die 
gleichen  Besorgnisse  einflößen  müßten,  schien  gestern,  wie  ich  schon 
zu  melden  die  Ehre  hatte*,  auf  Herrn  Kokowzow  einigen  Eindruck  zu 
machen.  Der  Ministerpräsident  stellte  mir  die  merkwürdige  Frage,  ob, 
falls  der  Vertrag  mit  den  Engländern  annulliert  würde*",  wir  bezüglich 


*  Vgl.  Nr.   15  478. 

•*  Tatsächlich  hat  Sasonow  am  11.  Dezember  auf  Grund  einer  Anregung  Bot- 
schafter von  Giers*  einen  Fühler  in  dieser  Richtung  nach  London  ausgestreckt, 
„England  könnte  eine  Lösung  dieser  Frage  erleichtern,  indem  es  in  Berlin 
erklärt,  daß  es  bereit  sei,  seinen  Admiral  aus  Konstantinopel  nach  Ismid  über- 
zuführen, wenn  Deutschland  seinerseits  einwilligt,  General  Sanders  nach  Adria- 
nopel zu  berufen.  Damit  würde  der  Eigenliebe  Deutschlands  Genüge  geleistet. 
Ich  bitte  Sie,  diese  Frage  mit  Grey  zu  besprechen."  Telegramm  an  Graf 
Benckendorff  Nr.  3346  vom  11.  Dezember  1913,  v.  Siebert,  Diplomatische  Akten- 
stücke, a.  a.  O.,  S.  650.  Am  17.  Dezember  kam  Sasonow  auf  die  bisher  nicht 
beantwortete  Frage  zurück.  Am  gleichen  Tage  meldete  Graf  Benckendorff: 
„Man  denkt  hier  natürlich  daran,  die  Stellung  des  englischen  Admirals  zu  modi- 
fizieren, um  diesen  Umstand  bei  den  Verhandlungen  in  Berlin  benutzen  zu 
können,"  a.  a.  O.,  S.  656.  Die  Frage  scheint  indessen  nicht  weiter  verfolgt 
zu  sein,  da  Deutschland  abwiegelte  (vgl.  Nr.  15  496)  und  sich  auch  bald  die 
Möglichkeit  einer  anderweitigen  Lösung  der  Schwierigkeiten  ergab. 

254 


der  Stellung  des  Generals  Liman  von  Sanders  uns  den  russischen 
Wünschen  entgegenkommender  zeigen  würden 7.  Ich  entgegnete,  dieser 
Fall  schiene  mir  höchst  unwahrscheinlich,  und  ich  könne  natürlich  nicht 
sagen,  welche  Stellung  meine  Regierung  bei  dieser  Eventualität  ein- 
nehmen würde.  Ich  könnte  nur  meine  persönliche  Ansicht  dahin  aus- 
sprechen, daß  sich  in  diesem  Falle  die  Situation  allerdings  einiger- 
maßen ändern  würde7. 

Ich  habe  wie  neulich  Herrn  Sasonow  so  auch  gestern  dem 
Ministerpräsidenten  nicht  verschwiegen,  daß  der  freundliche  Gedanken- 
austausch über  die  vorliegende  Frage  in  sehr  unliebsamer  Weise  durch 
die  Indiskretionen  der  französischen  und  englischen  Presse  gestört 
worden  sei.  Herr  Kokowzow  versicherte  darauf  in  feierlicher  Form, 
daß  weder  er  noch  Herr  Sasonow  an  diesen  Indiskretionen  die  Schuld 
trügen8.  Der  Ministerpräsident  knüpfte  daran  eine  recht  bittere  und 
scharfe  Bemerkung  über  die  in  Paris  fortwährend  vorkommenden 
Indiskretionen,  während  Herr  Sasonow  sich  darauf  beschränkt  hatte, 
Herrn  Iswolsky,  dessen  Name  von  mir  gar  nicht  genannt  worden  war, 
gegen  den  Verdacht,  daß  er  die  Indiskretionen  verschuldet  haben 
könnte,  in  Schutz  zu  nehmen9. 

Es  dürfte  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  bei  dieser  Gelegenheit 
auch  von  dritter  Seite  stark  gehetzt  worden  ist.  Bei  mehreren  meiner 
hiesigen  Kollegen  begegne  ich  der  festen  Überzeugung,  daß  vor  allem 
Herr  Delcasse  in  den  Anfangsstadien  der  Frage  viel  Öl  ins  Feuer  ge- 
gossen hat10.  Bei  dem  großen  Einfluß,  den  mein  französischer  Kollege 
auf  Hern  Sasonow  zu  gewinnen  verstanden  hat,  erscheint  mir  dies 
nicht  unwahrscheinlich.  Es  würde  dies  auch  die  Indiskretionen  des 
„Temps"  erklären.  Was  die  Veröffentlichungen  des  Petersburger 
Korrespondenten  der  „Times"  betrifft,  so  habe  ich  nicht  den  ge- 
ringsten Zweifel,  daß  dieselben  auf  den  hiesigen  englischen  Ge- 
schäftsträger zurückzuführen  sind.  Mr.  O'Beirne,  ein  Irländer  und 
unversöhnlicher  Feind  Deutschlands,  ist  ein  getreuer  Schüler  seines 
ehemaligen  Chefs  Sir  Arthur  Nicolson.  Es  fiel  mir  auf,  daß  er  mich, 
obgleich  ich  wie  gewöhnlich  eine  politische  Konservation  mit  ihm 
vermied,  auf  die  Frage  des  Generals  von  Liman  selbst  anredete  und 
dabei    genau    dieselben    Argumente   vorbrachte    wie    Herr    Sasonow. 

F.  Pourtales 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  Um  so  fester  muß  die  Türkei  bleiben 

2  j 

3  die  war  nur  Schein! 

4  Blech! 

5  schadet  nichts 

8  gelogen!    Sie  wissen  es  seit  6  Monaten 

7  nein! 

8  wer  so  dumm  ist  und  das  glaubt! 


255 


9  aha! 
10  Schurke! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Es  handelt  sich  um  unser  Ansehen  in  der  Welt  gegen  das  von  allen  Seiten 
gehetzt  wird!  also  Nacken  steif  und  Hand  ans  Schwerdt! 


Nr.  15  484 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  690  Konstantinopel,  den  16.  Dezember  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  683*. 

Bei  dem  heutigen  diplomatischen  Empfang  hat  Großwesir  den 
Ententebotschaftern  erklärt,  er  lehne  es  nochmals  ab,  auf  die  Frage, 
ob  durch  die  deutsche  Militärmission  türkische  Souveränitätsrechte 
berührt  würden,  offiziell  zu  antworten  1.  Persönlich  könne  er  nur  be- 
merken, „que  la  question  qu'on  a  posee  au  Gouvernement  turc  porte 
tout  autrement  atteinte  ä  la  souverainete  ottomane  que  la  mission 
allemande". 

Herrn  von  Giers  hat  Großwesir  gesagt,  aus  der  Tatsache,  daß 
Rußland  die  Entsendung  englischer  Generalinspekteure  nach  Armenien 
verhindert  habe  und  jetzt  auch  der  deutschen  Militärmission  Schwierig- 
keiten bereite,  müsse  das  türkische  Volk  den  Schluß  ziehen,  daß 
Rußland  überhaupt  keine  Reformen  in  der  Türkei  wolle2.  Aus  den 
Unterhaltungen  mit  Herrn  Bompard  und  Mallet  hatte  Großwesir  den 
Eindruck,  daß  beide  Botschafter,  namentlich  der  englische,  die  Demarche 
nur  ungern  mitmachten.  Auch  mir  sprach  Sir  Mallet  ziemlich  ver- 
legen über  die  englische  Haltung  und  schien  zum  Ausdruck  bringen 
zu  wollen,  daß  er  nur  seiner  Ententepflicht  genügen  wolle.  Ich  konnte 
mir  nicht  versagen,  meinen  Kollegen  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
daß  die  Frage,  ob  die  deutsche  Mission  die  Dardanellen  gefährde,  im 
Munde  eines  englischen  Botschafters  etwas  eigentümlich  klinge  3.  Denn 
die  Dardanellen  gehörten  ja  gar  nicht  zum  Machtbereich  des  Generals 
Liman.  Wohl  aber  seien  dort  die  von  Admiral  Limpus4  kommandierten 
Schiffe  stationiert.   Sir  Louis  gab  dies  lächelnd  zu. 

Wangenheim 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Gut 

2  das  stimmt 

3  stimmt 

*  vielleicht  wird  der  auch  noch  durch  die  Russen  hinausgeärgert! 


*  Vgl.   Nr.  15  482,  Fußnote 
256 


Nr.  15  485 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  375  London,  den  15.  Dezember  1913 

[pr.   16.   Dezember] 

Sir  E.  Grey  empfing  mich  heute,  indem  er  seine  Genugtuung  über 
die  auswärtige  Rede  Euerer  Exzellenz*  zum  Ausdruck  brachte.  Er 
habe  sich  über  die  Ausführungen,  die  England  beträfen,  besonders 
gefreut,  und  entsprächen  diese  Gesinnungen  auch  vollkommen  den 
seinigen. 

Im  Laufe  einer  längeren  Unterhaltung,  während  welcher  ich  mich 
davon  überzeugen  konnte,  daß  der  Minister  sich  in  der  denkbar  besten 
Stimmung  befindet,  kam  Sir  E.  Grey  auch  auf  die  Angelegenheit  der 
deutschen  Offiziere  in  Konstantinopel  zu  sprechen.  Die  Frage  schien 
ihn  sehr  zu  beschäftigen,  und  er  sagte,  er  freue  sich,  mit  mir  hierüber 
sich  aussprechen  zu  können.  Noch  nie  habe  er  die  russische  Regierung 
über  eine  Frage  derart  erregt  gefunden.  Infolge  wiederholter  und 
dringender  Vorstellungen,  die  von  Petersburg  aus  hier  erhoben  wurden, 
habe  er  sich  bereit  erklärt,  in  Konstantinopel  mündlich  und  vertraulich 
Erkundigungen  über  die  den  deutschen  Offizieren  einzuräumenden  Be- 
fugnisse einzuziehen.  Es  schien  ihm  vor  allem  darauf  anzukommen,  ob 
die  General  Liman  eingeräumte  Stellung  mit  der  früher  von  General 
Freiherrn  von  der  Goltz  innegehabten  übereinstimme  oder  ob  in  dieser 
Hinsicht  ein  Novum  eingetreten  sei.  Ihm  persönlich  würde  auch  dies 
gleichgültig  sein.  Er  müsse  aber  befürchten,  daß,  falls  die  den  jetzigen 
Offizieren  erteilten  Befugnisse  eine  wesentliche  Erweiterung  in  der 
Exekutive  darstellten,  von  russischer  Seite  in  Konstantinopel  Ent- 
schädigungen verlangt  werden  könnten 1,  die  etwa  in  Übertragung 
eines  Kommandos  in  Armenien  gipfelten.  Eine  solche  Lösung  scheine 
ihm,  dem  Minister,  höchst  bedenklich,  da  dies  der  Anfang  vom  Ende, 
der  Beginn  der  Aufteilung  der  asiatischen  Türkei  bedeute.  Er  werde 
alles  tun,  um  eine  solche  Wendung  zu  verhindern,  doch  könne  er 
angesichts  der  erregten  Stimmung,  die  in  Petersburg  herrsche,  den 
Erfolg  seiner  Schritte  nicht  verbürgen. 

Vorläufig  versprach  der  Minister,  nichts  tun  zu  wollen,  als  die 
gedachten  mündlichen  und  vertraulichen  Erkundigungen,  die  gesondert 
und  nicht  in  corpore  2  erfolgen  würden,  einzuziehen.   Über  das  Ergebnis 


*  In  seiner  Reichstagsrede  vom  9.  Dezember  1913,  in  der  er  die  außenpolitische 
Lage  eingehend  darlegte,  gedachte  der  Reichskanzler  mit  besonderer  Betonung 
der  „Gleichartigkeit  in  dem  Grundgedanken  der  deutschen  und  englischen  Po- 
litik rücksichtlich  der  weiteren  Entwicklung  der  Türkei"  und  der  „in  so  erfreu- 
licher  Weise    fortschreitenden    Besserung    unseres   Verhältnisses    zu    England". 

17    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  257 


wolle  er  mit  mir  Rücksprache  nehmen,  ehe  er  irgend  etwas  weiter  unter- 
nehme. 

Auf  meine  Entgegnung,  daß  die  Stellung  des  britischen  Admirals, 
der  die  gesamte  türkische  Flotte  zu  befehligen  berufen  sei,  noch  weit 
über  die  des  Generals  Liman  hinausginge,  entgegnete  der  Minister,  daß 
Admiral  Limpus  genau  dieselbe  Stellung  einnehme 3,  die  früher  seine 
Vorgänger4  gehabt  hätten,  eine  Veränderung  der  Lage  durch  seine 
Berufung  also  nicht  eingetreten  sei,  während  anscheinend  General 
Freiherr  von  der  Goltz  keinen  eigentlichen  Oberbefehl  gehabt  hätte.  Auch 
sei  man  in  Rußland  hinsichtlich  der  Flotte  viel  weniger  empfindlich 5 
als  gerade  wegen  Konstantinopel.  Hätte  der  deutsche  General  das 
Korps  in  Adrianopel  erhalten,  so  würde  man  sich  viel  eher  beruhigt 
haben.  Aber  gerade  Konstantinopel  sei  für  Rußland  die  empfindlichste 
Stelle  und  die  englisch-russische  Verständigung  sei  auf  der  Grundlage 
erfolgt,  daß  Konstantinopel  den  Türken  bleiben  solle  und  keine  andere 
Macht  dort  einen  überwiegenden  Einfluß  erhalte.  Es  sei  nun  schwer 
für  ihn,  an  dieser  für  das  beiderseitige  Einvernehmen  so  wichtigen 
Verständigung  zu  rütteln  und  einer  anderen  Macht  indirekt  behilflich 
zu  sein,  dort  einen   entscheidenden   Einfluß   zu  gewinnen. 

Ich  suchte  dem  Minister  klar  zu  machen,  wie  wenig  Wert  die  ganze 
Offiziersendung  für  uns  besitze  und  wie  unwahrscheinlich  es  sei,  daß 
einige  Offiziere  auf  den  Gang  der  auswärtigen  Politik  in  Konstantinopel 
Einfluß  gewännen.  Wir  hätten  uns  lediglich  aus  Gefälligkeit  und  mit 
Rücksicht  auf  die  Überlieferung  dazu  verstanden,  der  türkischen  Re- 
gierung einige  Offiziere  namhaft  zu  machen.  Alles  übrige  sei  zwischen 
ihr  und  den  betreffenden  Herren  ohne  unser  Dazutun  abgemacht 
worden.  Die  in  Petersburg  anscheinend  bestehende  Erregung  könne 
ich  mir  daher  nur  aus  einer  gewissen  Ängstlichkeit  der  russischen 
Machthaber  gegenüber  den  nationalistischen  russischen  Blättern  er- 
klären. 

Die  Unterredung  fand,  wie  gesagt,  in  einer  durchaus  verbind- 
lichen und  freundschaftlichen  Form  statt,  und  hatte  ich  den  Eindruck, 
daß  die  ganze  Angelegenheit  dem  Minister  sehr  unangenehm  war,  und 
daß  er  nicht  recht  weiß,  wie  er  sich  den,  wie  er  wiederholt  betonte, 
drängenden  und  erregten  Vorstellungen  des  Petersburger  Kabinetts 
entziehen  soll 6,  ohne  seine  dortige  Stellung  auf  das  Spiel  zu  setzen 7. 

Lichnowsky 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Warum  nicht  wegen  der  Englischen  Offiziere? 

2  doch! 

3  falsch 

4  waren  gar  keine 

5  na  na?? 

6  einfach  ignoriren! 

7  kommt  nicht  in  Frage  aber  wendet  er  sich  gegen  uns,  dann  ist  es  aus!    Das 
dulde  ich  nicht! 

258 


Nr.  15  486 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Zimmermann  an  den  Botschafter  in  London  Fürsten 

von  Lichnowsky 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.  2147  Berlin,   den   16.   Dezember  1913 

Der  Verlauf  der  Unterredung  Ew.  pp.  mit  Sir  E.  Grey  in  dei 
Frage  der  deutschen  Militärmission  in  Konstantinopel  hat  hier  sehr 
befriedigt.  Auch  die  abschriftlich  ergebenst  beigefügten  Meldungen 
des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Konstantinopel  *  lassen  erkennen,  daß 
England  und  Frankreich  der  russischen  Regierung  in  der  Frage  nur  zö- 
gernd und  widerstrebend  Gefolgschaft  leisten.  Um  so  mehr  dürfen  wir 
hoffen,  daß  es  uns  gelingt,  auf  dem  Wege  über  London  die  russische 
Regierung  zu  einer  ruhigeren  und  besonneren  Auffassung  der  Ange- 
legenheit zurückzuführen.  Es  wird  das  allerdings  wesentlich  davon 
abhängen,  ob  der  Minister  in  Zukunft  auf  ein  Vorgehen  ohne  vorherige 
Fühlungnahme  mit  uns  verzichten  wird.  Ich  werde  Sir  E.  Goschen  mein 
lebhaftes  Bedauern  über  das  bisherige  einseitige  Vorgehen  der  eng- 
lischen Regierung  in  der  Frage  aussprechen,  das  unsere  öffentliche 
Meinung  ab  ein  Dementi  der  jüngsten  Erklärungen  des  Herrn 
Reichskanzlers  im  Reichstage  über  das  zwischen  uns  und  England 
bestehende  Vertrauensverhältnis  auffassen  muß. 

Was  die  Stellung  des  englischen  Admirals  in  Konstantinopel  be- 
trifft, so  habe  ich  Freiherrn  von  Wangenheim  ersucht,  wenn  möglich, 
den  Wortlaut  des  betreffenden  Anstellungsvertrages  zu  beschaffen. 
Nicht  darum  handelt  es  sich,  ob  Admiral  Limpus  dieselbe  Stellung  ein- 
nimmt wie  früher,  und  ob  die  Befugnisse  des  Generals  von  Liman 
weitergehen  als  diejenigen,  die  Freiherr  von  der  Goltz  gehabt  hat, 
sondern  darum,  ob  die  Befugnisse  des  deutschen  Generals  und  des 
englischen  Admirals  zurzeit  identische  sind  oder  nicht. 

Zimmermann 

Nr.  15  487 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  691  Pera,  den  16.  Dezember  1913 

General  Liman  hat  nach  Rücksprache  mit  mir  heute  dem  Kriegs- 
minister erklärt,   daß,   wenn   die   türkische   Regierung  wegen   der  der 

*  Vgl.  Nr.   15  484. 

n*  259 


deutschen  Mission  eingeräumten  Position  etwa  in  Schwierigkeiten 
dritten  Mächten  gegenüber  geraten  sollte,  er  —  der  General  —  keines- 
wegs auf  den  Wortlaut  seines  Kontrakts  bestehen  würde.  Ihm  käme 
es  nur  darauf  an,  daß  die  zur  praktischen  Ausbildung  der  Kriegsschüler 
und  Generalstabsoffiziere  nötigen  Truppenteile  des  hiesigen  Korps 
ihm  jederzeit  und  unbedingt  zur  Verfügung  ständen.  Unter  letzterer 
Voraussetzung  ließe  sich  das  Modellkorps  vielleicht  in  Adrianopel 
einrichten.  Die  Lösung  würde  dann  sein,  daß  er  anstatt  zum  Kom- 
mandierenden General  des  I.  Korps  zum  Inspekteur  der  in  der  euro- 
päischen Türkei  dislozierten  Truppen  ernannt  würde.  Izzet  Pascha 
hat,  wie  mir  General  Liman  sagt,  die  Anregung  anscheinend  dankbar 
aufgenommen  und  baldige  Entscheidung  in  Aussicht  genommen. 

Wangenheim 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms   II.: 

Nachdem  die  Sache  schon  solchen  Umfang  gewonnen,  ist  es  fraglich,  ob  das 
jetzt  noch  geht,  ohne  als  Zurückweichen  vor  Russland  und  der  Tripelentente 
auszusehen  * 

Nr.  15  488 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  692  Konstantinopel,  den  16.  Dezember  1913 

Großwesir  bat,  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  Euerer  Exzellenz 
den  wärmsten  Dank  des  Großwesirs  und  der  Pforte  dafür  zu  über- 
mitteln, daß  Deutschland  trotz  entstandener  Schwierigkeiten  mit  der 
Entsendung  der  Militärmission  nicht  gezögert  habe.  Die  Türkei  werde 
diesen  Freundschaftsdienst  nimmer  vergessen.  Deutschlands  Haltung 
hebe  sich  vorteilhaft  von  der  Englands  ab,  das  die  Reformer  für 
Armenien  wieder  zurückzieht  und  damit  das   armenische   Problem  so 


*  Das  Auswärtige  Amt  teilte  die  Bedenken  des  Kaisers  nicht.  Noch  am  16. 
telegraphierte  Staatssekretär  von  Jagow,  der  anscheinend  schon  vorher  privatim 
an  Freiherrn  von  Wangenheim  im  Sinne  eines  deutschen  Einlenkens  gegenüber 
den  russischen  Wünschen  geschrieben  (vgl.  Nr.  15  493,  Fußnote)  und  dadurch 
vielleicht  die  sonst  nicht  recht  verständliche  entgegenkommende  Haltung  des 
Botschafters  und  des  durch  ihn  beeinflußten  Generals  von  Liman  veranlaßt  hat, 
nach  Konstantinopel  (Nr.  407) :  „Mit  Erklärung  General  Limans  einverstanden. 
Die  Türkei  muß  vor  , Kompensationsforderung'  namentlich  Rußlands  bewahrt 
bleiben.  Zweckmäßig  wäre  schleunige  Ernennung  Limans  zum  Inspekteur, 
damit  dort  zu  erwartende  englische  Erkundigungen  nach  seinen  Befugnissen 
bereits  entsprechend  beantwortet  werden  können.  Sir  E.  Grey  hat  gestern  Fürst 
Lichnowsky  mitgeteilt  (vgl.  Nr.  15  485),  daß  er  auf  dringende  russische  Vor- 
stellung sich  zu  entsprechenden  mündlichen  und  vertraulichen  Erkundigungen  in 
Konstantinopel  entschlossen   habe." 

260 


schwierig  gestaltet  habe*.  Er  —  der  Großwesir  —  gebe  mir  die 
feierliche  Versicherung,  daß  wir  uns,  wenn  etwa  noch  weitere  Ver- 
wickelungen aus  der  Missionsfrage  entstehen  sollten,  fest  auf  die 
Türkei  verlassen  könnten,  für  die  Türkei  eine  Pflicht  nicht  nur  des 
Anstands,  sondern  auch  der  Dankbarkeit.  Falls  England  auf  russi- 
sches Drängen  seine  Mission  abberufen  sollte,  so  werde  er  sofort  um 
einen  deutschen  Admiral  bitten. 

Wangenheim 


Nr.  15  489 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  694  Konstantinopel,  den   18.  Dezember  1913 

Da  Izzet  Pascha  auf  die  Anregung  des  Generals  Liman  nicht  ge- 
antwortet hatte,  ist  letzterer  von  mir  veranlaßt  worden,  durch  Major 
von  Strempel  nochmals  beim  Kriegsminister  wegen  Verlegung  des 
Modellkorps  nach  Adrianopel  etc.  vorstellig  zu  werden  und  dabei 
vertraulich  auf  die  Gefahren  aufmerksam  zu  machen,  welche  der  Türkei 
aus  einem  starren  Festhalten  an  dem  mit  General  Liman  geschlossenen 
Vertrage  erwachsen  könnten.  Izzet  Pascha  hat  daraufhin  mit  dem 
Großwesir  verhandelt  und  soeben  dessen  Antwort  mitgeteilt.  Danach 
lehnte  die  Pforte  es  entschieden  ab,  irgendwelche  Änderungen  ein- 
treten zu  lassen1.  Prinz  Said  Halim  ist  durch  seine  Gespräche  mit 
den  Ententebotschaftern  und  durch  die  Meldungen  der  türkischen 
Vertreter  in  Paris,  London  und  Petersburg  zu  der  Überzeugung  ge- 
langt, daß  weitere  und  ernstere  Schritte  Rußlands2  und  seiner  Ver- 
bündeten in  der  Angelegenheit  nicht  bevorstehen3**.  Hier  seien  alle 
Vorbereitungen  für  die  Übergabe  des  Kommandos  an  General  Liman 
bereits  getroffen  und  durch  die  Presse  bekanntgegeben.  Dschemal  habe 
durch  eine  öffentliche  Proklamation  feierlich  von  dem  I.  Armeekorps 
sich    verabschiedet    und    dasselbe    dem   deutschen    General    ans    Herz 


*  Vgl.  dazu  Kap.  CCLXXXIX. 

**  Daß  Rußland  am  17.  Dezember  an  die  Pforte  folgende  neue  Forderungen 
gestellt  habe:  1.  das  Kommando  der  Gendarmerie  in  den  armenischen  Provinzen 
solle  russischen  Offizieren  übergeben  werden;  2.  die  Festungswerke  der  Meer- 
engen sollten  nicht  weiter  befestigt,  sondern  im  gegenwärtigen  Zustande  belassen 
werden;  3.  die  in  Armenien  zu  bauenden  Bahnlinien  sollten  in  der  Breite  der 
russisch-kaukasischen  Bahnlinien  ausgeführt  werden,  wie  in  Schultheß'  Euro- 
päischer Geschichtskalender,  Jg.  1913,  S.  642  angeführt  und  daraus  in  andere 
Darstellungen  übernommen  ist,  trifft  nicht  zu.  Weder  in  den  Akten  noch  bei 
Siebert,  dem  Schriftwechsel  Iswolskys  usw.  ist  von  einem  solchen  Schritt  der 
russischen  Regierung  die  Rede. 

261 


gelegt.  Unter  diesen  Umständen  würde  das  geringste  Zurückweichen 
unheilvolle  Konsequenzen  für  die  Stellung  der  türkischen  Regierung 
nach  außen  und  innen  und  noch  mehr  für  das  Prestige  Deutschlands 
und  der  Militärmission  haben.  Er  bestehe  darauf,  daß  General  Liman 
das  Kommando  noch  in  dieser  Woche  antrete4. 

Diese  Sachlage  schließt  vorläufig  eine  Intervention  meinerseits 
beim  Großwesir  aus.  Ich  beabsichtige  aber,  Herrn  von  Giers  zu  sagen, 
daß  Liman  und  ich  die  spätere  Verlegung  des  Modellkorps  nach  Adria- 
nopel nicht  für  ausgeschlossen  hielten  und  versuchen  würden,  die 
Türken  allmählich  mit  diesem  Gedanken  zu  befreunden 5  6*.  Über- 
haupt könne  er  überzeugt  sein,  daß  unsererseits  alles  geschehen  würde, 
um  das  Verhältnis  der  Mission  zur  türkischen  Armee,  soweit  es  die 
militärischen  Verhältnisse  nur  irgend  erlaubten,  den  russischen  Wün- 
schen entsprechend  zu  regeln 7.  Bei  der  gegenwärtigen  Lage  und  der 
Stimmung  der  Türken  sei  ein  Verzicht  General  Limans  auf  das  hiesige 
Generalkommando  undenkbar.  Herr  von  Giers  möge  seinen  Militär- 
attache anweisen,  mit  dem  ihm  befreundeten  Herrn  von  Strempel  enge 
Fühlung  zu  nehmen,  damit  beide  Herren  gemeinsam 8  die  spätere 
Lösung  vorbereiten  könnten  9. 

Wangenheim 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einem  Auszug  des  Telegramms: 

i  Gut 

2  es  kann  nicht! 

s  richtig 

*  bravo!     Der  Großvezir  muß  eine   Dekoration  kriegen 

5  beileibe  nicht;  das  geht  jetzt  unter  gar  keinen  Umständen!  Und  wäre  eine 
Desavouierung  des  Großvezirs! 

6**  man  solle  sich  Russischer]  Seits  gedulden,  wir  würden  schon  allmählich 
dafür  sorgen,  daß  Russische]  Besorgniße  zerstreut,  und  erfüllbare,  mit  dem 
Prestige  der  Türkei  vereinbare  Wünsche  Rußlands,  seitens  der  Türkei  berück- 
sichtigt würden.  Daß  augenblicklich  nicht  mehr  geschehen  könne,  liege  an 
der  unglaublichen  Form,  in  der  die  Wünsche  in  Stambul  unter  Nichtachtung 
des  Selbstgefühls  der  Türken  vorgetragen  worden  seien.  Das  habe  man  sich 
selbst  zuzuschreiben. 


*  In  der  Tat  hat  sich  Freiherr  von  Wangenheim  am  19.,  noch  ehe  ihm  die 
Berliner  Antwort  auf  sein  obiges  Telegramm  (siehe  Nr.  15  491)  zuge- 
gangen war,  gegenüber  seinem  russischen  Kollegen  im  Sinne  einer  Ver- 
legung des  von  einem  Deutschen  zu  befehligenden  Modellkorps  von  Konstanti- 
nopel nach  Adrianopel  geäußert;  doch  betonte  er,  daß  ein  solcher  Wechsel  erst 
in  einiger  Zeit  vorgenommen  werden  könne,  damit  die  öffentliche  Meinung  in 
Deutschland  und  der  Türkei  darauf  vorbereitet  werden  könne.  Telegramm 
von  Giers'  an  Sasonow  vom  20.  Dezember  1913,  v.  Siebert,  Diplomatische  Akten- 
stücke, a.  a.  O.,  S.  657  f.  Mit  Unrecht  wollte  Giers  die  Mitteilung  Wangen- 
heims bezweifeln,  daß  er  den  Türken  zweimal  vergeblich  einen  dahingehenden 
Kompromiß  vorgeschlagen  habe. 

**  Randbemerkung  6  stellt  eine  Einschaltung  vor,  die  der  Kaiser  an  Stelle  der 
von  ihm  im  Text  eingeklammerten  Worte  „und  versuchen  würden,  die  Türken 
allmählich  mit  diesem  Gedanken  zu  befreunden"  vornahm. 

262 


7  unmöglich!!! 

8  nein!  bestimmt  nicht!    Das  ist  unsere  Sache  allein;  ausgeschlossen! 

9  geht   jetzt  nicht!    wäre   ja  eine   direkte   Ingerenz   Rußlands   in  die  Türkische 
Armee,  und  bei  der  augenblicklichen  Haltung  des  Großvezirs  ausgeschlossen 


Nr.  15  490 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  den  Botschafter  in  Petersburg  Grafen 

von  Pourtales 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nn  234  Berlin,  den   18.  Dezember  1913 

Ich  habe  vorgestern  Herrn  Sverwejew  lebhaftes  Bedauern  über 
auf  Betreiben  Rußlands  erfolgte  Demarche  der  Entente  in  Konstan- 
tinopel ausgesprochen.  Ich  könne  es  meinerseits  nur  als  peu  amical  be- 
zeichnen, wenn  die  russische  Regierung  diesen  Schritt  getan  habe,  ohne 
das  Ergebnis  der  ihr  von  dem  Herrn  Reichskanzler  in  Aussicht  ge- 
stellten Prüfung  der  Frage  durch  General  Liman  an  Ort  und  Stelle 
abzuwarten. 

Nach  Meldung  des  Freiherrn  von  Wangenheim  lehnt  die  Pforte 
entschieden  ab,  Änderungen  eintreten  zu  lassen.  Prinz  Said  Halim 
ist  zu  der  Überzeugung  gelangt,  daß  weitere  und  ernstere  Schritte 
Rußlands  und  seiner  Verbündeten  in  der  Angelegenheit  nicht  bevor- 
stehen. Es  seien  alle  Vorbereitungen  für  die  Übergabe  des  Kommandos 
an  General  Liman  bereits  getroffen  und  durch  die  Presse  bekannt- 
gegeben. Unter  diesen  Umständen  würde  das  geringste  Zurückweichen 
unheilvolle  Konsequenzen  für  die  Stellung  der  türkischen  Regierung 
nach  außen  und  innen  haben.  Er  bestehe  darauf,  daß  General  Liman 
das  Kommando  noch  in  dieser  Woche  antrete. 

Ew.  pp.  wollen  Herrn  Sasonow  sagen,  daß  bei  dieser  Sachlage 
und  infolge  des  russischen  Vorgehens  es  zurzeit  für  uns  unmöglich 
sei,  weitere  Schritte  in  der  Sache  zu  tun.  Er  möge  aber  überzeugt  sein, 
daß  die  ernsten  Beschwerden,  zu  denen  uns  die  Stellung  der  russischen 
Regierung  im  vorliegenden  Falle  Anlaß  gäben,  uns  nicht  abhalten 
würden,  alles  zu  tun,  um  das  Verhältnis  der  Mission  zur  türkischen 
Armee,  soweit  es  die  militärischen  Verhältnisse  nur  irgend  erlaubten, 
den  russischen  Wünschen  entsprechend  zu  regeln.  Ich  bäte  ihn  zu 
diesem  Zweck  Herrn  von  Giers  anzuweisen,  den  russischen  Militär- 
attache in  Konstantinopel  zu  enger  Fühlungnahme  mit  dem  ihm  be- 
freundeten Herrn  von  Strempel  anzuhalten,  damit  beide  Herren  ge- 
meinsam eine  spätere  Lösung  vorbereiten   könnten. 

Zimmermann 
263 


Nr.  15  491 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Zimmermann  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel 
Freiherrn  von  Wangenheim 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  410  Berlin,  den   19.  Dezember  1913 

Auf  Telegramm  Nr.  694*. 

Seine  Majestät  sind  mit  Mitteilung  an  Herrn  von  Giers  einver- 
standen, daß  Liman  und  Sie  die  spätere  Verlegung  des  Modellkorps 
nach  Adrianopel  nicht  für  ausgeschlossen  hielten.  Mit  Rücksicht  auf 
feste  Haltung  des  Großwesirs  hält  Seine  Majestät  übrigens  folgende 
Sprache  für  angezeigt**. 

„Man  solle  sich  russischerseits  nur  gedulden,  wir  würden  schon 
allmählich  dafür  sorgen,  daß  russische  Besorgnisse  zerstreut  und  er- 
füllbare, mit  dem  Prestige  der  Türkei  vereinbare  Wünsche  Rußlands 
seitens  der  Türkei  berücksichtigt  würden.  Daß  augenblicklich  nicht 
mehr  geschehen  könne,  liege  an  der  unglaublichen  Form,  in  der  die 
Wünsche  in  Stambul  unter  Nichtachtung  des  Selbstgefühls  der  Türken 
vorgetragen  worden  seien.    Das  habe  man  sich  selbst  zuzuschreiben." 

Zimmermann 


Nr.  15  492 

Der  Botschaf  ter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  696  Konstantinopel,  den  19  Dezember  113 

Aus  sicherer  Quelle  höre  ich,  daß  Herr  Mallet  seiner  Regierung 
dringend  von  einer  Teilnahme  an  der  Demarche  der  Ententemächte 
wegen  der  Militärmission  abgeraten  hatte,  unter  Hinweis  auf  die  Stel- 
lung des  Admirals  Limpus *  und  auf  die  Gefahr,  daß  eine  Situation 
ähnlich  derjenigen  entstehen  könnte,  die  1870  aus  der  französischen 
Forderung  eines  Verzichts  auf  die  Hohenzollernkandidatur  in  Spanien 
sich  ergeben  hatte.  Sir  E.  Grey  habe  auf  der  englischen  Beteiligung 
hauptsächlich  deswegen  bestanden,  weil  er  Rußland  wegen  der  base 


*  Siehe  Nr.  15  489. 

**  Vgl.  Randbemerkung  6  des  Kaisers  zu  Nr.  15  489. 

264 


naval  in  Ismid2,  worüber  man  in  Petersburg  sehr  erregt  gewesen  sei, 
habe  beruhigen  wollen 3.  Dem  italienischen  Botschafter  sagte  Mallet 
vertraulich,  England  habe  die  Demarche  mitgemacht,  damit  Rußland 
nicht  allein  bleibe4  und   irgend   eine   Unvorsichtigkeit5   begehe. 

Mir  sagte  mein  englischer  Kollege,  dessen  Deutschfreundlichkeit 
immer  mehr  hervortritt,  gestern,  daß,  so  sehr  er  auch  wünsche,  daß 
Deutschland  den  russischen  Wünschen  etwas  entgegenkomme,  er  doch 
vollkommen  begreife,  daß  Deutschland,  solange  ein  russischer  Druck 
ausgeübt  werde,  seines  Prestiges  wegen  nicht  nachgeben  und  jeden- 
falls jetzt  nicht  auf  das  hiesige  Generalkommando  verzichten  könne 6. 
Die  Ansicht  hiesiger  russischer  Kreise  ist:  „Alexander  III.  hätte  mobil 
gemacht.   Der  jetzige  Zar  wird  auch  diesmal  klein  beigeben." 

Wangenheim 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  modifizierten  Abschrift  des 
Telegramms: 

1  Sehr  richtig. 

2  Ich  weiß  nichts  davon,  was  ist  damit? 

3  das  scheint  ja  an  der  Tagesordnung  dort  zu  sein!  — 

Auf  unsere  Kosten!!    Dafür  sind  wir  Qrey  immer  gut  genug  um  auf  unsere 
Kosten  Rußland  neue  kleine  Freudefn]  zu  machen!    Ich  bedanke  mich  aber  so 
mißbraucht  zu  werden. 
*  faule  Ausrede 

5  denkt  nicht  daran 

6  richtig 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Grey  hat  sich  louche  benommen!  Wie  lange  will  er  noch  auf  beiden  Seiten 
hinken?  Ist's  Russland,  so  gehe  er  offen  mit  ihm;  sind  wir  es  so  gehe  er 
offen  mit  uns! 


Nr.  15  493 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Privatbrief.    Ausfertigung 

Pera,  den  17.  Dezember  1913 
[pr.  21.  Dezember] 

Mit  Ihnen  habe  ich  volles  Verständnis  für  die  russische  Aufregung 
über  die  deutsche  Militärmission*.  Letztere  kränkt  das  russische  Na- 
tionalempfinden, welches  Stambul  als  den  zukünftigen  Besitz  Ruß- 
lands  ansieht.    Die   Etablierung   eines   deutschen   Generals   mit  Kom- 

Dem  Privatbriefe  Freiherrn  von  Wangenheims  ist  offenbar  ein  solcher  des 
Staatssekretärs  von  Jagow  an  den  Botschafter  voraufgegangen,  der  diesem 
nahelegte,  wenn  möglich  einen  Vorschlag  zu  einer  Beilegung  der  Affäre  mittels 
eines  das  deutsche  Prestige  wahrenden  Auskunftsmittels  zu  machen.  Bei  den 
Akten  liegt  ein  solcher  Brief  nicht. 

265 


mandogewalt  in  der  türkischen  Hauptstadt  konterkariert  die  Pläne 
der  russischen  Politik.  Trotz  aller  Versicherungen  des  Zaren,  Sasonows 
und  Kokowzows  glaube  ich  nicht  an  die  ehrliche  Absicht  Rußlands, 
die  Türkei  sich  erholen  lassen  zu  wollen.  Für  denjenigen,  der  hier 
hinter  die  Kulissen  der  russischen  Politik  zu  schauen  vermag,  kann 
auch  nicht  der  geringste  Zweifel  bestehen,  daß  Rußland  seine  finsteren 
Pläne  gegen  das  türkische  Reich  zwar  aufgeschoben,  nicht  aber 
aufgegeben  hat.  Der  Bock  soll  nur  geschont  werden,  um  später 
abgeschossen  zu  werden.  Rußland  fürchtet,  daß  unsere  Mission  zu 
einer  militärischen  Erstarkung  der  Türkei  führen  könnte.  Es  befürchtet 
ferner,  daß,  wenn  aus  der  türkischen  Armee  die  Politik  verschwindet, 
und  wenn  speziell  in  der  Hauptstadt  den  Offizieren  jede  Beschäftigung 
mit  der  Politik  unmöglich  gemacht  wird,  die  Jungtürkenherrschaft  mit 
ihren  dreibundfreundlichen  Tendenzen  sich  dauernd  festsetzt.  Selbst 
Giers  ist  der  Meinung,  daß,  wenn  überhaupt  eine  leichte  Hoffnung  auf 
Gesundung  der  Türkei  besteht,  diese  nur  durch  die  Jungtürken  realisiert 
werden  kann.  Die  russische  Opposition  richtet  sich  daher  gegen  die 
deutsche  Mission  im  allgemeinen.  Wäre  Liman  nicht  zum  Komman- 
dierenden General  des  hiesigen  Korps  ernannt  worden,  so  hätten  die 
Russen  einen  anderen  Punkt  unseres  Programms  herausgegriffen,  um 
daran  ihren  Protest  anzusetzen.  Es  ist  nun  ein  glücklicher  Umstand,  daß 
das  effektive  Kommando  in  Konstantinopel  gerade  derjenige  Punkt  ist, 
auf  welchen  wir  am  leichtesten  verzichten  können.  Ich  war  von  vornherein 
gegen  das  Kommando,  weil  es  mir  schien,  daß  der  General  mit  seinem 
Eintritt  in  die  Reihe  der  türkischen  Korpskommandanten  sich  etwas  an 
seiner  Stellung  vergeben,  und  daß  ein  Teil  seiner  Arbeitskraft  durch 
eine  nebensächliche  Aufgabe  verbraucht  werden  würde.  Meine  Mei- 
nung wird  noch  heute  von  sämtlichen  bisherigen  Reformern  geteilt.  Die 
Türken  wollten  aber  dem  General  keine  höhere  Kommandogewalt  als 
die  über  ein  Korps  einräumen,  und  dann  mußte  selbstverständlich 
das  hiesige  Korps  gewählt  werden.  Ohne  effektive  Kommandogewalt 
kann  der  General  überhaupt  nicht  arbeiten.  Es  könnte  ihm  sonst 
passieren,  daß  Truppen,  welche  er  zur  Ausbildung  seiner  Schüler 
braucht,  überhaupt  nicht  auf  dem  Manöverfelde  erscheinen.  Mein 
Plan  geht  nun  dahin,  zu  erreichen,  daß  Liman  an  die  Spitze  einer 
Armeeinspektion  gestellt  wird,  zu  welcher  sowohl  das  hiesige  als  das 
Adrianopler  Korps  gehört.  Letzteres  erhält  Bronsart.  Hier  wird 
ein  Türke  Kommandierender  General.  Derselbe  muß  aber  der  Mis- 
sion insoweit  unterstellt  werden,  als  er  verpflichtet  wird,  für  Manöver 
jeglicher  Art  sich  jederzeit  zur  Verfügung  des  deutschen  Generals 
zu  halten.  Die  Neuordnung  würde  eine  Hebung  der  Limanschen  Stel- 
lung bedeuten,  jedenfalls  aber  keinen  Rückzug  vor  Rußland,  das 
seinerseits  den  Verzicht  Limans  auf  das  hiesige  Oberkommando  sich 
als  Erfolg  anrechnen  könnte.  Damit  kämen  wir  aus  dem  akuten 
Stadium  der   Krisis   heraus,   freilich   ohne   damit  die  prinzipielle 

266 


Gegnerschaft  Rußlands  definitiv  beseitigt  zu  haben.  Jedenfalls  würden 
wir  unseren  guten  Willen  bekunden  und  den  Alliierten  Rußlands  einen 
Vorwand   geliefert   haben,   sich    aus    der   Sache   zurückzuziehen. 

Ob  es  gelingen  wird,  die  geschilderte  Modifizierung  der  Liman- 
schen  Stellung  zu  erreichen,  kann  ich  heute  noch  nicht  sagen.  Ich 
habe  mit  zwei  Widerständen  zu  kämpfen.  Erstens  ist  General  Liman 
ein  sehr  leidenschaftlicher  Herr,  der  an  seine  Aufgabe  mit  großem 
Ernst,  aber  gleichzeitig  mit  Enthusiasmus  und  einem  auf  Nichtkenntnis 
der  Türkei  beruhenden  Idealismus  herantritt  und  jedenfalls  nicht  ge- 
neigt ist,  sehr  weitgehende  Konzessionen  zu  machen.  Als  ihm  gestern 
von  Ihren  Wünschen  vertraulich  Kenntnis  gegeben  wurde,  geriet  er 
in  große  Aufregung,  sprach  vom  Umfallen  des  Auswärtigen  Amts  etc. 
Nur  schwer  ließ  er  sich  überzeugen,  daß  da  keine  Beschneidung,  son- 
dern nur  eine  Erhöhung  seiner  Stellung  beabsichtigt  sei.  Ich  habe  den 
Eindruck,  daß  Liman  wohl  schließlich  das  Inspektorat  an  Stelle  des 
Korpskommandos  akzeptieren  würde,  daß  er  aber  keinesfalls  deswegen 
bei  Izzet  Pascha  in  einer  Weise  insistieren  wird,  die  den  Charakter 
eines  deutschen  Zurückweichens  tragen  würde.  Ob  die  Türkei  den 
Izzet  Pascha  gemachten  Vorschlag  annehmen  wird,  ist  bis  zur  Stunde 
ungewiß.  Izzet  hat  sich  noch  nicht  geäußert.  Liman  hat  auf  Zu- 
reden meinerseits  sich  schließlich  bereit  erklärt,  seine  Anfrage  noch  ein- 
mal zu  stellen.  Lehnt  die  Türkei  ab,  so  kann  ich  nachträglich  nicht 
nochmals  beim  Großwesir  auf  die  Sache  zurückkommen,  ohne  den 
Eindruck  „que  nous  canons"  zu  erwecken.  Aller  Augen  sind  hier  auf 
meine  Haltung  gerichtet.  Ich  muß  also  vorsichtig  sein.  Auch  wenn  die 
Türken  schließlich  den  General  zum  Inspekteur  ernennen,  würde  ich 
dafür  sein,  daß  Liman  zunächst  und  mindestens  noch  für  ein  bis  zwei 
Monate  das  hiesige  Korps  übernimmt  und  erst  dann  in  die  höhere  Stel- 
lung aufrückt.  Giers  deutete  mir  neulich  selbst  an,  er  sähe  ein,  daß 
ein  sofortiger  Verzicht  auf  das  Kommando  sich  mit  unserem  Prestige 
kaum  vereinbaren  lassen  würde,  er  hoffe  nur,  daß  nach  einiger  Zeit 
das  Regime  geändert  werde. 

Das  Fragezeichen  in  der  ganzen  Sache  bleibt  vorläufig  die  Pforte. 
Die  Jungtürken  haben  die  Mission  hauptsächlich  deshalb  gerade  hier 
und  mit  direkter  Unterstellung  des  Generalkommandos  etablieren  wol- 
len, weil  sie  in  der  Mission  und  in  ihrem  Einflüsse  auf  die  Armee  die 
Hauptstütze  ihrer  Herrschaft  gegenüber  den  Intrigen  der  Ententisten 
und  der  fremden  Mächte  erblicken.  Ferner  ist  zu  beachten,  daß  die 
Türken  ganz  gewiß  nicht  zurückweichen  werden,  wenn  sie  den  Ver- 
dacht bekommen,  daß  es  sich  um  einen  Rückzug  gegenüber  Rußland 
handelt.  Die  Losung  der  Jungtürken  lautet:  „durchhalten  gegenüber 
den  Mächten!  Lieber  anständig  untergehen,  als  noch  weiter  Ein- 
mischung in  die  inneren  Verhältnisse  des  Landes  zulassen."  Ich  be- 
kämpfe diese  gefährliche  Tendenz  nach  Kräften.  Leider  aber  sehe  ich, 
daß  die  intransigente  Strömung  täglich  an  Boden  gewinnt.    Der  Ein- 

267 


tritt  des  radikalen  Dschemal  Bey  in  das  Ministerium*  ist  in  dieser  Hin- 
sicht bezeichnend.  Wir  müssen  also  darauf  gefaßt  sein,  daß  die  Pforte 
uns  erklärt,  sie  bestände  auf  ihrem  Vertrage  mit  Liman.  An  einem 
solchen  Entschluß  würde  eine  englische  Anfrage  oder  gar  eine  russische 
Drohung  nicht  das  geringste  ändern.  In  London  und  St.  Petersburg 
muß  man  sehr  schlecht  unterrichtet  sein  über  die  gegenwärtige  Stim- 
mung der  Pforte.  Die  Zeit  der  Drohungen  und  Ratschläge  ist  für  die 
Tripelentente  vorbei. 

Für  alle  Fälle  müssen  wir  also  darauf  vorbereitet  sein,  daß  die 
Türkei  an  Liman  als  kommandierendem  General  festhält  und  das 
Modellkorps  in  Adrianopel  verwirft.  Die  Besorgnisse,  daß  dann  Ruß- 
land feindlich  gegen  uns  und  die  Türkei  wird,  sind  natürlich  berechtigt. 
Ich  finde  mich  aber  mit  folgender  Erwägung  ab:  Rußland  hat  wegen 
Adrianopels,  wegen  der  Armenier  und  wegen  anderer  Fragen  in  den 
letzten  Monaten  so  oft  erklärt,  daß  es  die  Entwickelung  der  Dinge 
nicht  ruhig  hinnehmen,  sondern  seine  eigenen  Wege  gehen  werde, 
daß  derartige  Drohungen  an  Bedeutung  eingebüßt  haben.  Für  die 
hiesige  Beobachtung  geht  aus  der  russischen  Haltung  zweierlei  her- 
vor, einmal  daß  Rußland  sich  nicht  stark  genug  fühlt,  die  Hauptfrage, 
das  heißt  die  Aufteilung  der  Türkei  anzuschneiden,  und  daß  es  kein  Ver- 
trauen auf  die  Unterstützung  durch  seine  Verbündeten  hat.  Wenn 
Rußland  entschlossen  wäre,  ganze  Arbeit  zu  machen,  so  hätte  es  dazu 
bereits  die  Armenierfrage  oder  irgend  eine  Gelegenheit  während  des 
Balkankrieges  ausgenutzt.  Daraus  schließe  ich,  daß  Rußland  auch 
dieses  Mal  sich  zu  guter  Letzt  beruhigen,  und  daß  die  Kooperation 
seiner  Verbündeten  das  diplomatische  Terrain  nicht  verlassen  wird.  Wir 
müssen  das  Äußerste  versuchen,  um  Rußland  eine  fiche  de  consolation 
zu  verschaffen.  Gelingt  es  nicht,  so  können  wir  das  Weitere  ohne  allzu 
große  Beklemmungen  abwarten.  Das  meiste  wird  dann  auf  das  takt- 
volle Auftreten  Limans  und  seiner  Herren  ankommen. 

Wangenheim 


*  Er  war  zum  Bautenminister  ernannt  worden.  Über  seine  Stellungnahme  zu 
der  Frage  eines  Verzichts  General  Limans  auf  das  Korpskommando  belehrt  ein 
Telegramm  Freiherrn  von  Wangenheims  vom  24.  Dezember  (Nr.  703):  „Der 
Bautenminister  Dschemal  Bey  sagte  mir,  er  habe  gehört,  daß  über  den  Verzicht 
des  Generals  Liman  auf  das  Kommando  des  ersten  Korps  verhandelt  werde. 
Er  und  seine  näheren  Freunde  würden  sich  einem  derartigen  recul  vor  Rußland 
auf  das  äußerste  widersetzen  und  keinen  in  dieser  Frage  nachgiebigen  Kriegs- 
minister dulden.  Eine  Reform  sei  unmöglich,  wenn  das  hiesige  Korps  dem 
direkten  Einfluß  des  Reformators  entzogen  werde.  Hier  vollziehe  sich  die 
Reform  vor  den  Augen  der  leitenden  türkischen  Kreise  und  Europas.  Gelinge 
sie,  so  werde  sie  das  Prestige  der  Mission  derart  erhöhen,  daß  die  Armee  in 
den  Provinzen  von  selbst  sich  den  Anordnungen  Limans  unterwerfen  würde. 
Von  Adrianopel  aus  sei  ein  derartig  befruchtender  Einfluß  ausgeschlossen." 


268 


Nr.  15  494 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.   365  St.   Petersburg,   den  20.   Dezember   1913 

Bei  einer  Unterredung,  die  ich  eben  mit  Herrn  Sasonow  hatte, 
habe  ich  mich  entsprechend  den  letzten  mir  von  Euerer  Exzellenz  in 
betreff  der  Stellung  unserer  Militärmission  in  der  Türkei  erteilten 
Weisungen  *  dem  Minister  gegenüber  geäußert.  Obgleich  ich  nicht 
unterließ  zu  betonen,  daß  wir  den  auf  Betreiben  Rußlands  in  Kon- 
stantinopel erfolgten  Schritt  der  Tripelentente  als  einen  wenig  freund- 
schaftlichen Akt  betrachteten,  der  uns  ernsten  Anlaß  zur  Beschwerde 
gebe,  nahm  der  Minister  meine  Mitteilungen  im  allgemeinen  freund- 
lich auf  und  bemerkte,  er  sehe  dieselben  als  freundschaftliche  an.  Herr 
Sasonow  ersuchte  mich  ausdrücklich  Euerer  Exzellenz  für  diese  Mit- 
teilung zu  danken  und  erklärte,  er  werde  sofort  nach  Konstantinopel 
telegraphieren  und  den  dortigen  russischen  Militärattache  durch  Herrn 
von  Oiers  anweisen  lassen,  sich  in  der  von  Euerer  Exzellenz  vorge- 
schlagenen Weise  mit  Herrn  von  Strempel  in  Verbindung  zu  setzen. 

Der  Minister  sprach  dann  die  Hoffnung  aus,  daß  die  eventuell 
den  russischen  Wünschen  entsprechende  Regelung  der  militärischen 
Verhältnisse  unserer  Mission  zur  türkischen  Armee  nicht  zu  lange  auf 
sich  warten  ließen.  Ich  erwiderte  darauf,  es  würde  jedenfalls,  bevor 
etwaige  Änderungen  eingeführt  würden,  noch  einige  Zeit  gewartet 
werden  müssen,  um  den  Gemütern  in  Konstantinopel  Zeit  zu  geben, 
sich  zu  beruhigen. 

Herr  Sasonow  bemerkte  ferner,  es  würde  ihm  außerordentlich  an- 
genehm sein,  etwa  in  der  „Rossija"  irgend  etwas  zur  Beruhigung 
der  hiesigen  öffentlichen  Meinung  veröffentlichen  zu  können.  Die 
Wahl  der  „Formel"  würde  er  uns  ganz  überlassen.  Nur  mit  Mühe  habe 
er  eine  Interpellation  in  der  Duma  in  der  Frage  verhindert,  er  würde 
es  daher  für  nützlich  halten,  wenn  in  irgendeiner  Art  gesagt  werden 
könnte,  daß  der  freundschaftliche  Gedankenaustausch  zwischen  der 
russischen  und  der  deutschen  Regierung  in  der  Frage  der  Militär- 
mission fortdauere  und  die  Hoffnung,  eine  beide  Teile  befriedigende 
Lösung  zu  finden,  noch  nicht  aufgegeben  sei.  Ich  erwiderte  dem  Mi- 
nister, daß  ich  seinen  Wunsch  Euerer  Exzellenz  übermitteln  würde, 
ich  müsse  aber  schon  jetzt  darauf  aufmerksam  machen,  daß  auch  wir 
auf  unsere  öffentliche  Meinung  Rücksicht  nehmen  müßten,  bei  welcher 
alles,    was    als     Anzeichen    des     Einlenkens    von    unserer    Seite    aus- 


Vgl.  Nr.  15  490. 

269 


gelegt  werden  könnte,  auf  lebhaften  Widerspruch  stoßen  würde.  Ich 
fügte  hinzu,  daß  wenn  in  beiden  Ländern  die  Frage  die  Gemüter  erregt 
hätte,  die  unerfreulichen  Diskretionen,  die  nicht  von  uns  ausgegangen 
wären,  hieran  Schuld  trügen. 

F.  Pourtales 

Nr.  15  495 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Zimmermann  an  den  Botschafter  in  Petersburg  Grafen 

von  Pourtales 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  236  Berlin,  den  22.  Dezember  1913 

Auf  Bericht  Nr.  365*. 

Mit  Euerer  Exzellenz  Sprache  einverstanden.  Der  Herr  Reichs- 
kanzler hat  Sverwejew  ebenfalls  nachdrücklich  darauf  hingewiesen, 
daß  uns  die  Erfüllung  unseres  Wunsches,  Rußland  entgegenzukommen, 
schon  durch  die  Indiskretionen  der  französischen  Presse  sehr  erschwert 
wurde.  Die  gemeinsame  Demarche  der  Ententemächte  in  Konstan- 
tinopel habe  unsere  Lage  noch  verschlechtert,  da  der  Schritt  von  unserer 
öffentlichen  Meinung  als  direkt  feindliche  Stellungnahme  der  Tripel- 
entente  gegen  Deutschland  aufgefaßt  werde. 

Die  von  Sasonow  gewünschte  beruhigende  Erklärung  in  der  Presse 
würde  daher  zurzeit  die  gegenteilige  Wirkung,  das  heißt  einen  Sturm  der 
Entrüstung  bei  uns  hervorrufen,  was  schon  mit  Rücksicht  auf  die  durch 
die  bekannten  inneren  Schwierigkeiten**  sehr  prekäre  Lage  der  Reichs- 
regierung vermieden  werden  muß.  Auf  unseren  guten  Willen  kann 
Rußland  sich  verlassen,  uns  wird  indes  selbst  beim  besten  Willen  ein 
Entgegenkommen  unmöglich  gemacht,  wenn  Rußland  die  bisherige 
Praxis  fortsetzt. 

Zimmermann 

Nr.  15  496 

Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Zimmermann  an  den  Botschafter  in  London  Fürsten 

von  Lichnowsky 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.   493  Berlin,   den   22.   Dezember   1913 

Russischerseits  besteht  anscheinend  Absicht  England  zu  veranlassen, 
daß  es  uns  eine  den  russischen  Wünschen  entsprechende  Abänderung 


*  Siehe  Nr.  15  494. 

**  Die  innerpolitische   Lage  war  durch  den  „Zabern-Fall",  der  zu  langen  Aus- 
einandersetzungen  im  Reichstage  Veranlassung  gab,  kompliziert. 

270 


der  Verträge  des  englischen  Admirals  und  deutschen  Generals  in  Kon- 
stantinopel vorschlägt*.  Wie  wir  wissen,  hat  insbesondere  englischer 
Ismidkontrakt  in  Petersburg  sehr  verstimmt.  Unserem  politischen  Inter- 
esse würde  daher  vorgeschlagene  Lösung  nicht  entsprechen,  abgesehen 
davon,  daß  Vorgehen  der  Entente  Diskussion  irgendwelcher  Vorschläge 
für  uns  zurzeit  überhaupt  ausschließt. 

Nach  unseren  Nachrichten  aus  Konstantinopel  hat  sich  das  türkische 
Selbstgefühl  so  gehoben,  daß  ein  Rückzug  in  der  Frage  der  Militär- 
instrukteure für  das  Ansehen  Deutschlands  wie  Englands  in  der  ganzen 
mohammedanischen  Welt  gleich  verhängnisvoll  sein  würde.  England 
würde  im  Hinblick  auf  Indien  dadurch  noch  mehr  betroffen  werden  als 
wir.  Es  wird  Ew.  pp.  nicht  schwer  fallen  können,  Sir  E.  Grey,  den  ich 
bitte  unter  Bezugnahme  auf  entsprechende  Zeitungsnachrichten  unver- 
züglich auf  die  Frage  anzureden,  davon  zu  überzeugen,  daß  ein  Ein- 
gehen auf  die  russischen  Wünsche,  das  als  weitere  Konsequenz  auch 
Verzicht  auf  den  Ismider  Dockvertrag  zur  Folge  haben  müßte,  dem 
englischen  Interesse  direkt  zuwiderlaufen  würde.  Auch  bitte  ich,  ge- 
gebenenfalls, als  Ihre  persönliche  Überzeugung  auszusprechen,  daß 
unsere  Haltung  durch  etwaige  englische  Nachgiebigkeit  nicht  be- 
einflußt werden  würde. 

Zimmermann 

Nr.  15  497 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  380  London,  den  23.  Dezember  1913 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  493**. 

Sir  E.  Grey  verreist,  zurückkehrt  keinesfalls  vor  Feiertagen.  Halte 
es  auch  für  besser  abzuwarten,  daß  er  mit  Vorschlägen  an  mich  heran- 
tritt, und  nicht  durch  vorzeitige  Ablehnung  aller  noch  ungeborenen 
Projekte  den  Anschein  der  Schroffheit  und  schlechten  Willens  zu  er- 
wecken. Er  käme  auch  dadurch  in  die  Lage,  unbequeme  Anregungen 
von  russischer  Seite  unter  ausschließlicher  Verwertung  unserer  Haltung 
zu  beantworten. 

Da  ihm  die  ganze  Sache  höchst  peinlich  ist,  schon  weil  sie  geeignet 
erscheint,  das  Einvernehmen  zwischen  den  Mächten  zu  stören,  so 
wird  er  versuchen,  eine  Lösung  zu  finden  oder  aber  den  Streit  allmählich 
versumpfen  zu  lassen.  Übrigens  ist  auch  Graf  Benckendorff  auf  vier- 
zehn Tage  nach  Neapel  gefahren.    Vor  seiner  Abreise  sagte  er  mir, 


•  Vgl.  Nr.   15  483,  S.  254,  Fußnote«. 
**  Siehe  Nr.  15  496. 


271 


er  hoffe,  es  werde  uns  hier  gelingen,  irgendeinen  Ausweg  zu  finden, 
da  die  Unterhaltung  zwischen  Berlin  und  Petersburg  abgebrochen  sei. 
Welchen  wisse  er  selbst  nicht.  Kaiser  Nikolaus  fühle  sich  persönlich 
verletzt  und  sei  sehr  verstimmt. 

Lieh  no ws  ky 

Nr.  15  498 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  702  Konstantinopel,  den  23.  Dezember  1913 

Neuerdings  hat  Herr  Bompard  in  der  Frage  der  Militärmission 
eine  schärfere  Sprache  geführt  als  zu  Anfang*. 

Ich  habe  Herrn  von  Giers  auf  diese  Erscheinung  aufmerksam  ge- 
macht und  dabei  durchblicken  lassen,  daß  meine  hiesigen  Dreibunds- 
kollegen mich  auch  zur  Festigkeit  ermahnten.  —  Zu  dieser  Beobachtung 
habe  ich  bemerkt,  daß  unsere  beiderseitigen  Verbündeten  ein  Interesse 
daran  haben  könnten,  den  deutsch-russischen  Gegensatz  in  dieser 
Frage  zu  verschärfen,  um  ihr  eigenes  politisches  Gewicht  innerhalb 
und  außerhalb  der  Allianzen  zu  steigern,  während  es  sowohl  das  Inter- 
esse Deutschlands  wie  Rußlands  erheische,  bei  aller  Bundestreue  eine 
gewisse  Bewegungsfreiheit  zu  behalten. 

Wangenheim 

Nr.  15  499 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  701  Konstantinopel,  den  23.  Dezember  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  694**. 

Großwesir  sagte  mir  gestern,  er  könne  nicht  umhin,  die  wenig 
freundliche   Haltung  der  Tripelentente  in  den   Fragen  der  Inseln  und 


*  Die  Stellungnahme  Botschafter  Bompards  wird  dadurch  charakterisiert,  daß 
er,  Ende  Dezember  1913  in  Paris  weilend,  der  französischen  Regierung  den 
Vorschlag  machte,  Rußland  möge,  wenn  es  nicht  auf  friedlichem  Wege  in  der 
Frage  der  Militärmission  zu  seinem  Ziele  gelange,  sich  vom  Sultan  einen  Ferman 
zur  Durchfahrt  eines  der  Panzerschiffe  der  Schwarzmeerflotte  durch  die  Meer- 
engen erbitten,  dieses  Panzerschiff  in  den  Bosporus  einlaufen  lassen  und  dann 
erklären,  es  würde  nur  nach  einer  Änderung  des  Vertrages  des  Generals  Liman 
und  seiner  Offiziere  abdampfen.  Iswolsky  an  Sasonow,  1.  Januar  1914.  Der 
Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911  —  1914,  ed.  Fr.  Stieve,  IV,  10. 
**  Siehe  Nr.  15  489. 

272 


der  Anleihe  auf  die  deutsche  Militärmission  zurückzuführen.  Ich  er- 
widerte, mir  scheine  eine  rasche  Beruhigung  Rußlands  bezüglich  der 
Militärmission  im  türkischen  Interesse  zu  liegen.  Ich  persönlich  sei,  wie 
er  wisse,  niemals  für  die  direkte  Unterstellung  des  Konstantinopeler 
Armeekorps  unter  General  Liman  eingenommen  gewesen,  weil  die  Ein- 
reihung des  Generals  unter  die  Korpskommandeure  dessen  Stellung 
als  Reformator  der  gesamten  türkischen  Armee  beeinträchtige,  und  weil 
bei  etwaigen  politischen  Unruhen  in  der  Hauptstadt  der  General  in 
eine  schiefe  Lage  kommen  könnte.  Die  Stellung  Limans  werde  stärker 
und  unangreifbarer  werden,  wenn  derselbe  nach  einiger  Zeit  das 
Kommando  des  Korps  niederlege  und  sich  ausschließlich  der  Reorgani- 
sationsaufgabe widme.  Ob  die  Mission  reüssiere,  hänge  nicht  von 
bestimmten  dem  General  erteilten  Gewalten  und  geschriebenem  Kon- 
trakt sondern  ausschließlich  von  der  Harmonie  ab,  welche  zwischen 
dem  Kriegsminister  und  General  Liman  bestehe.  Seien  diese  beiden 
Stellen  sich  einig,  so  könne  Liman  seine  Pläne  durchsetzen,  ohne  daß 
irgendeine  Macht  sich  einmischen  könne.  Beständen  dagegen  Meinungs- 
verschiedenheiten zwischen  Kriegsminister  und  General,  so  könne  die 
Pforte  trotz  aller  Kontrakte  die  Lage  binnen  weniger  Tage  so  ge- 
stalten, daß  der  General  die  Türkei  verlassen  müsse.  Der  Großwesir 
erkannte  schließlich  meine  Ausführungen  als  zutreffend  an.  Abends 
sagte  er  mir,  der  Kriegsminister  sei  auch  meiner  Meinung  und  damit 
einverstanden,  daß  Liman  das  Korps  nach  einigen  Monaten  wieder 
abgebe,  und  daß  dann  ein  Modellkorps  in  einer  anderen  türkischen  Stadt, 
etwa  Adrianopel  oder  Smyrna,  eingerichtet  werde. 

Auf  Grund  der  Erklärung  des  Großwesirs  habe  ich  vorsichtig  und 
unverbindlich  Verhandlungen  mit  Herrn  von  Giers  weitergeführt*.  Der 
Botschafter  sagte  mir,  Rußland  käme  es  ausschließlich  darauf  an,  daß 
der  General  das  Kommando  über  die  Garnison  der  Hauptstadt  nicht 
dauernd  beibehalte.  Der  Kommandowechsel  müsse  sobald  als  möglich 
erfolgen,  das  heißt  in  etwa  zehn  Tagen,  weil  die  russische  Regierung  sonst 
von  der  durch  Frankreich  aufgehetzten  öffentlichen  Meinung  debordiert 
werden  würde.  Ich  sagte  Herrn  von  Giers  Entgegenkommen  in  der 
prinzipiellen  Frage  zu,  erklärte  aber  auf  das  allerbestimmteste,  daß  an 
ein  Niederlegen  des  Kommandos  vor  einigen  Monaten  gar  nicht  zu 
denken  sei.  Der  Rücktritt  des  Generals  vom  Korps  müsse  aus  der 
natürlichen  Entwickelung  der  Dinge  und  als  freier  Entschluß  desselben 
und  der  türkischen  Regierung  erscheinen.  Tatsächlich  wolle  der  General 
ja  durch  die  direkten  Beziehungen  zu  den  Truppen  nur  wertvolle  Er- 
fahrungen über  den  türkischen  Dienstbetrieb  sammeln,  um  dieselben 
später  bei  seinen  größeren  Aufgaben  verwerten  zu  können.   Die  öffent- 


*  Vgl.  das  Telegramm  von  Giers'  an  Sasonow  Nr.  1072  vom  20.  Dezember 
und  die  Antwort  Sasonows  vom  21.  Dezember,  v.  Siebert,  Diplomatische  Akten- 
stücke, a.  a.  O.,  S.  658  ff. 

18    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  273 


liehe  Meinung  könne  vielleicht  dadurch  beruhigt  werden,  daß  von 
irgendeiner  amtlichen  Stelle  öffentlich  auf  den  provisorischen  Cha- 
rakter des  Kommandos  hingewiesen  werde.  Das  könne  in  der  offiziösen 
russischen  und  deutschen  Presse  nach  vorhergegangener  Verständigung 
zwischen  den  beiden  Kabinetten,  vielleicht  besser  aber  noch  durch  eine 
Erklärung  des  Großwesirs  an  den  russischen  Botschafter  geschehen. 
Herr  von  Giers  und  ich  kamen  überein,  diesen  Gedanken  zunächst 
vertraulich  unseren  Regierungen  zu  unterbreiten.  Inzwischen  finden 
vertrauliche  Besprechungen  zwischen  den  beiden  Militärattaches  statt. 

Wangenheim 

Nr.  15  500 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn 

von  Wangenheim 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  416  Berlin,  den  24.  Dezember  1913 

Streng  vertraulich 

Auf  Telegramm  Nr.  701  *.  Selbstverständlich  muß  jede  Änderung 
als  freier  Entschluß  der  Türkei  erscheinen,  der  aus  natürlicher  Ent- 
wicklung hervorgeht.  Anschein  eines  „Zurückweichens"  von  uns  vor 
Rußland  ist  absolut  zu  vermeiden.  Halte  deshalb  offiziöse  Verlaut- 
barung über  künftige  eventuelle  Änderung  im  jetzigen  Moment  für 
verfrüht  und  unangebracht. 

Halte  für  angezeigt,  daß  Änderung  mit  voller  Zustimmung  des 
Generals  Liman  erfolgt  und  er  selbst  von  Zweckmäßigkeit  über- 
zeugt wird. 

Jagow 

Nr.  15  501 

Der  Botschafter  in  Paris  Freiherr  von  Schoen  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  428  Paris,  den  23.  Dezember  1913 

[pr.    24.   Dezember] 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  Frankreich  den  weiteren  Schrit- 
ten, welche  Rußland  wegen  der  den  deutschen  Offizieren  eingeräumten 
Stellung  in  Konstantinopel  unternehmen  dürfte,  sich  anschließen  wird  **. 


*  Siehe   Nr.   15  499. 

**  Vgl.    dazu    das    Geheimtelegramm    Iswolskys    Nr.    591    vom    18.    Dezember: 

„Der  Außenminister  versichert  mich  seiner  vollkommenen  Solidarität  und  erklärt 

274 


Die  Regierung  geht  zwar  nicht  so  weit  wie  ein  größer  Teil  der 
hiesigen  Presse,  der  von  Verwandlung  der  Türkei  in  eine  deutsche 
Provinz,  von  einem  deutschen  Ägypten  und  Ähnlichem  spricht,  aber 
sie  teilt  doch  die  russische  Auffassung,  daß  mit  der  Übertragung  des 
Kommandos  des  Konstantinopeler  Armeekorps  an  einen  preußischen 
General  dem  deutschen  Einfluß  ein  für  das  russische  Prestige  abträg- 
liches Übergewicht  gesichert  werde. 

Der  politische  Direktor  am  Quay  d'Orsay,  Herr  Paleologue,  meinte 
in  einem  vertraulichen  Gespräch,  das  er  gelegentlich  mit  mir  anknüpfte, 
er  wolle  nicht  gerade  sagen,  daß  deutsche  Offiziere  den  Schlüssel  der 
Meerengen  in  die  Hand  bekämen,  aber  es  sei  doch  nicht  zu  verkennen, 
daß  sie  mit  dem  ersten  Armeekorps  in  ungewöhnlichen  Zeiten  eine 
ausschlaggebende  Haltung  einzunehmen  und  damit  den  Verlauf  der 
Dinge  mehr  oder  weniger  nach  deutschen  Gesichtspunkten  zu  be- 
einflussen vermöchten. 

Meinem  Einwurf,  daß  es  sich  jetzt  nicht  mehr  um  deutsche  sondern 
um  türkische  Offiziere  handle,  die  ihrer  deutschen  Erziehung  getreu 
sich  nicht  um  Politik  sondern  lediglich  um  militärische  Ausbildung 
kümmern  würden,  sowie  meinem  Hinweis,  daß  die  englische  Ober- 
leitung der  türkischen   Flotte  weit  eher  als  eine  Beherrschung  Kon- 


sich bereit,  uns  mit  allem  Nachdruck  zu  unterstützen."  Ferner  den  Brief  Is- 
wolskys  an  Sasonow  vom  gleichen  Tage:  „In  der  brennendsten  und  für  uns 
wichtigsten  Frage,  derjenigen  der  deutschen  Militärinstrukteure,  folgt  uns 
H.  Doumergue  bisher  ohne  Schwanken,  und  bei  jedem  Zusammentreffen  mit  mir 
erklärt  er  seine  völlige  Übereinstimmung  mit  uns  sowie  seine  Bereitwilligkeit, 
uns  die  tatkräftigste  Unterstützung  angedeihen  zu  lassen."  Der  Diplomatische 
Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  425,  430.  Am  30.  Dezem- 
ber engagierte  sich  Doumergue  gegenüber  Iswolsky  auch  schriftlich  dahin,  daß 
„die  Regierung  der  Republik  fest  entschlossen  ist,  allen  Schritten  der  Kaiser- 
lichen Regierung  in  der  Angelegenheit  der  Mission  des  Generals  von  Sanders  in  Kon- 
stantinopel sich  anzuschließen"  (a.  a.  O.,  III,  437).  Die  feste  Haltung  Doumergues, 
dessen  radikales  Kabinett  nach  Iswolsky  „sehr  wenig  geneigt  und  geeignet"  war, 
eine  tatkräftige  auswärtige  Politik  zu  führen,  erklärt  sich  aus  der  fortgesetzten 
Ingerenz  des  Präsidenten  der  Republik  Poincare.  Wie  Iswolsky  am  5.  Januar 
nach  Petersburg  meldete,  unterstrich  Poincare  ihm  gegenüber  „auf  das  alier- 
bestimmteste"  die  Erklärung  Doumergues  vom  30.  Dezember,  daß  Frankreich 
fest  entschlossen  sei,  mit  Rußland  in  der  Liman  Sanders-Affäre  bis  zum  Ende 
zusammenzugehen:  „Aus  den  Worten  Poincares  habe  ich  schließen  können,  daß 
die  Ausdrücke  der  genannten  Antwort  von  ihm  selbst  und  seinen  Ministern  auf 
das  sorgfältigste  erwogen  worden  sind,  und  daß  trotz  der  aufrichtigen  Friedens- 
liebe Frankreichs  in  diesen  Worten  mit  vollem  Vorbedacht  die  ruhige  Ent- 
schlossenheit ausgedrückt  wird,  sich  unter  den  obwaltenden  Verhältnissen  nicht 
den  Verpflichtungen  zu  entziehen,  die  ihm  das  Bündnis  mit  uns  auferlegt,"  a. 
a.  O.,  IV,  17  f.  Auch  Paleologue  erklärte  Iswolsky,  jedes  Wort  der  —  von  ihm 
verfaßten  —  Erklärung  vom  30.  Dezember  sei  sorgsam  abgewogen,  und  die 
französische  Regierung  gebe  sich  durchaus  Rechenschaft  darüber,  daß  bei  einer 
weiteren  Entwicklung  des  vorliegenden  Zwischenfalls  die  Frage  des  casus 
foederis  entstehen  könne.  Vertraulicher  Brief  Iswolskys  an  Sasonow  vom 
15.  Januar  1914,  a.  a.  O.,  IV,  26. 

18*  275 


stantinopels  und  der  Wasserstraßen  betrachtet  werden  könne,  wußte 
Herr  Paleologue  nichts  Stichhaltiges  zu  entgegnen.  Er  äußerte  schließ- 
lich, wenn  Frankreich  den  russischen  Versuch,  eine  Änderung  der 
Stellung  der  deutschen  Offiziere  herbeizuführen,  unterstütze,  so  geschehe 
es  wesentlich  deshalb,  um  den  Verbündeten  von  der  Forderung  von 
Kompensationen,  etwa  der  Zulassung  russischer  Offiziere  in  Armenien, 
abzuhalten  *.  Denn  das  würde  die  Aufrollung  der  armenischen  Frage 
und  damit  die  Zerstückelung  der  Türkei  bedeuten,  eine  Wendung,  die 
hintanzuhalten  alle  Mächte,  die  an  der  Erhaltung  der  Türkei  wesent- 
liches Interesse  haben,  eifrig  bemüht  sein  müßten. 

Der  Frage,  welche  weiteren  Druckmittel  gegen  die  Türkei  in  Frage 
kommen  dürften,  wich  Herr  Paleologue  mit  der  Bemerkung  aus,  es 
sei  zu  hoffen,  daß  die  Türken  rechtzeitig  zu  besserer  Einsicht  gelangen 
würden. 

In  der  Presse  wird  vielfach  der  Gedanke  eines  finanziellen  Boy- 
kotts gegen  die  Türkei  erörtert.  Dabei  fehlt  es  nicht  an  Stimmen,  die 
darauf  hinweisen,  daß  dies  gerade  für  Frankreich,  das  im  Besitz  tür- 
kischer Werte  an  erster  Stelle  steht,  ein  recht  zweischneidiges  Mittel 
sein  und  die  Türkei  noch  mehr  in  die  Arme  des  Dreibundes  treiben 
würde.  Nachdem  das  hiesige  Bankhaus  Perier  kürzlich  den  Türken 
durch  Auflegung  von  100  Millionen  Schatzscheinen  zu  Hilfe  gekommen, 
hat  die  Regierung,  um  die  russische  Verstimmung  zu  mildern,  nicht 
umhin  gekonnt,  durch  ein  Rundschreiben  an  die  Geldinstitute  daran  zu 
erinnern,  daß  auswärtige  Anleihen,  in  welcher  Gestalt  auch  immer,  nicht 
ohne  Einvernehmen  mit  der  Regierung  gemacht  werden  sollten. 

Schoen 

Nr.  15  502 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jago  w  an  den 
Botschafter  in  Paris  Freiherrn  von  Schoen 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Rosenberg 

Nr.  2102  Berlin,  den  26.  Dezember  1913 

[abgegangen  am  30.  Dezember] 

Nach  dem  Euerer  Exzellenz  mit  Erlaß  Nr.  2084  mitgeteilten  Berichte 
des  Grafen  Pourtales  vom  13.  d.  Mts.  **  ist  man  in  St.  Petersburg  davon 


*  Dabei  war  der  Gedanke  an  Kompensationen  gerade  von  Frankreich  in  die 
Wagschale  geworfen  worden.  Vgl.  Nr.  15  456,  Fußnote**.  Allerdings  war  dies 
noch  von  Pichon  geschehen.  Bei  seinem  Nachfolger  Doumergue  machten  sich 
doch  Bedenken  geltend,  ob  nicht  die  Geltendmachung  russischer  Entschädigungs- 
forderungen zur  Aufteilung  der  asiatischen  Türkei  und  folglich  auch  zu  einem 
europäischen  Kriege  führen  könnten.  Brief  Iswolskys  an  Sasonow  vom  18.  De- 
zember 1913,  Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr. 
Stieve,  III,  430. 
**  Siehe  Nr.   15  483. 

276 


überzeugt,  daß  in  der  Angelegenheit  der  deutschen  Militärmission  für 
die  Türkei  besonders  stark  von  Herrn  Delcasse  gehetzt  worden  ist. 
Wie  Baron  Wangenheim  unterm  23.  d.  Mts.  meldet*,  wird  neuerdings 
in  dieser  Frage  auch  von  Herrn  Bompard  eine  schärfere  Sprache  ge- 
führt. Die  französische  Presse  hat  das  ihrige  dazu  beigetragen,  um 
durch  Hetzartikel  und  entstellende  Nachrichten  über  die  in  Rußland 
angeblich  herrschende  große  Erregung  weiter  Öl  ins  Feuer  zu  gießen. 

Diese  Tatsachen  stehen  im  Widerspruch  zu  der  Sprache  des  Herrn 
Paleologue,  der  dem  Kaiserlichen  Geschäftsträger  Anfang  Dezember 
versichert  hat,  die  französische  Regierung  verhalte  sich  in  Sachen  der 
Militärmission  neutral  und  habe  für  objektive  Behandlung  der  Ange- 
legenheit in  der  Presse  gesorgt**,  und  der  auch  kürzlich  Euerer  Exzellenz 
gegenüber  bemüht  gewesen  ist,  die  Unterstützung  der  russischen 
Schritte  durch  Frankreich  lediglich  mit  der  Bündnispflicht  und  der 
Sorge  um  die  Zukunft  der  Türkei  zu  erklären***. 

Euerer  Exzellenz  darf  ich  anheimstellen,  gelegentlich  in  geeignet  er- 
scheinender Weise   auf  diesen   Widerspruch   hinzuweisen. 

Jagow 


Nr.  15  503 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  705  Konstantinopel,  den  25.  Dezember  1913 

[pr.    26.    Dezember] 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  416  f. 

Ich  habe  heute  Herrn  von  Giers  gesagt  „que  les  dispositions;  con- 
ciliantes  et  amicales  continuent  ä  Berlin."  Andererseits  sei  die  An- 
gelegenheit so  delikater  Natur,  daß  eine  Präjudizierung  derselben 
durch  eine  verfrühte  offiziöse  Verlautbarung  bedenklich  sei.  Alles 
Weitere  werde  sich  aus  der  natürlichen  Entwickelung  der  Frage  ergeben. 

Herr  von  Giers  war  über  meine  Mitteilung  eher  niedergeschlagen 
als   erregt  tt- 


•  Vgl.  Nr.  15  498  nebst  Fußnote. 
**  Vgl.  Nr.  15  473. 
•*•  Vgl.   Nr.    15  501. 
t  Siehe  Nr.   15  500. 

tt  Leider  fehlen  bei  v.  Siebert  seit  dem  20.  Dezember  die  Berichte  bzw.  Tele- 
gramme des  Botschafters  von  Giers,  insbesondere  das  Telegramm  Nr.  1092,  das 
Sasonow  Veranlassung  gab,  am  27.  Dezember  in  Paris  und  London  eine  neue 
„freundschaftliche"  Demarche  der  Tripelentente  in  Berlin  vorzuschlagen.  Es 
heißt  darüber  in  dem  Geheimtelegramm  Sasonows  Nr.  3467  vom  27.  Dezember: 

277 


Großwesir  erklärte  mir,  daß  er  einer  Änderung  der  Stellung  Limans 
nur  dann  nähertreten  werde,  wenn  der  General  gemeinschaftlich  mit 
dem   Kriegsminister  eine  Modifizierung  vorschlagen  sollte. 

Wangenheim 


„Uns  erscheint  es  richtig,  daß  Rußland,  Frankreich  und  England  bei  der  gegen- 
wärtigen Gestaltung  der  Angelegenheit  beim  Berliner  Kabinett  freundschaftlich 
anzufragen  haben,  welche  weitere  Entwicklung  dieser  Angelegenheit  seiner  Mei- 
nung nach  zu  geben  sei,  wobei  darauf  hinzuweisen  wäre,  daß  Deutschland  selbst 
die  Initiative  zu  Verhandlungen  mit  Rußland  durch  Vermittlung  der  Vertreter 
in  Konstantinopel  ergriffen  habe.  Eine  unklare  oder  ausweichende  Antwort 
könnte  uns  in  eine  schwierige  Lage  versetzen  und  einen  neuen,  ernsteren  Schritt 
der  drei  Großmächte  in  Konstantinopel  erforderlich  erscheinen  lassen."  (Der 
Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911  —  1914,  ed.  Fr.  Stieve,  111,  434.)  Eine 
„freundschaftliche"  Demarche  wäre  es  nun  freilich  keineswegs  gewesen,  mitten 
in  die  durch  das  Entgegenkommen  Deutschlands  herbeigeführten  Pourparlers 
zwischen  Berlin  und  Petersburg  mit  einer  Demarche  der  Tripelentente  in  Berlin 
bzw.  Konstantinopel  hineinzuplatzen.  Das  fühlte  man  sowohl  in  Paris  trotz  der 
gleichzeitig  bekundeten  Entschlossenheit,  sich  allen  russischen  Schritten  an- 
zuschließen (vgl.  Nr.  15  501,  Fußnote**),  wie  in  London.  Vgl.  das  Telegramm  des 
russischen  Geschäftsträgers  in  London  von  Etter  vom  29.  Dezember  (v.  Siebert,  Di- 
plomatische Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  660  f.)  und  das  Telegramm  Iswolskys  vom 
30.  Dezember  (Stieve,  a.  a.  O.,  III,  437).  Danach  wiesen  die  englische  und  die 
französische  Regierung  auf  die  Notwendigkeit  hin,  einmal  vor  einer  Kollektiv- 
demarche das  Resultat  der  Anwesenheit  Freiherrn  von  Wangenheims  in  Berlin 
abzuwarten,  sodann  aber  sich  erst  klar  darüber  zu  werden,  welche  Forderungen 
man  in  Berlin  bzw.  Konstantinopel  stellen  und  zu  welchen  Mitteln  man  gegebenen- 
falls greifen  wolle,  um  in  Berlin  oder  Konstantinopel  durchzudringen.  Dou- 
mergue  ersuchte  in  aller  Form  und  schriftlich  Iswolsky,  ihm  mitzuteilen,  „wie 
die  Kaiserliche  Regierung  über  die  Intervention,  um  die  es  sich  handelt,  denkt, 
auf  welche  genau  bestimmten  Punkte  sich  die  Beschwerde  der  drei  Mächte 
beziehen  soll,  und  endlich,  welche  Entscheidung  Rußland  Frankreich  und  Eng- 
land vorschlagen  zu  müssen  glaubt,  falls  ihre  gemeinsame  Aktion  in  Berlin  und 
Konstantinopel  nicht  den  gewünschten  versöhnlichen  Erfolg  haben  sollte". 
Darauf  wurde  im  russischen  Außenministerium  eine  große  Denkschrift  entworfen, 
die,  vom  5.  Januar  1914  datiert,  an  Iswolsky  mitgeteilt  und  der  berühmten 
„Sonderkonferenz"  vom  13.  Januar  (vgl.  M.  Pokrowski,  Drei  Konferenzen, 
S.  32  ff.)  zugrunde  gelegt  wurde.  Aus  Iswolskys  Brief  an  Sasonow  vom 
15.  Januar  (Stieve,  a.  a.  O.,  IV,  26  f.)  ersieht  man,  daß  in  der  Denkschrift  gegen 
die  Türkei  als  Zwangsmittel  in  Aussicht  genommen  wurden  1.  der  folgerichtig 
durchzuführende  Finanzboykott,  2.  die  Abberufung  der  Botschafter  der  Tripel- 
entente, 3.  die  Besetzung  von  Trapezunt  und  Bajasid  durch  die  Russen,  sowie 
Smyrnas  und  Beiruts  durch  die  Franzosen  bzw.  Engländer.  Vor  solchen  radikalen 
Mitteln  schreckte  sogar  Iswolsky  zurück,  der  vorhersah,  daß  jedes  derselben  in 
Paris  und  London  auf  Bedenken  stoßen  werde,  und  der  statt  dessen  auf  die  von 
dem  französischen  Botschafter  Bompard  angelegte  Fahrt  eines  russischen 
Kriegsschiffes  durch  die  Meerengen  in  den  Bosporus  (vgl.  Nr.  15  498,  Fußnote) 
zurückgriff.  Inzwischen  ha  te  Sasonow  in  London  den  Entschluß  angekündigt, 
das  Projekt  eines  formellen  Schrittes  der  drei  Ententemächte  in  Berlin  um  eine 
Woche  —  d.  h.  wohl  bis  nach  der  geplanten  Sonderkonferenz  —  aufzuschieben. 
Zu  deren  Beratungen  vgl.  auch  Nr.   15  522,  Fußnote**. 


278 


Nr.  15  504 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Wangenheim 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  706  Konstantinopel,  den  27.  Dezember  1913 

Im  Anschluß  an  Telegramme  Nr.  694*  und  705**. 

Besprechungen  von  Strempels  mit  dem  russischen  Militärattache 
bisher  ohne  Ergebnis.  Daß  die  Konstantinopeler  Division,  welche 
Garnison-  und  Sicherheitsdienst  wahrnimmt,  einem  Türken  unterstellt, 
die  Musterdivision  unter  General  Bronsart  von  Schellendorff  in  Skutari 
unter  Verlegung  der  Bureaux  von  hier  dorthin  untergebracht  ist,  ge- 
nügt den  Russen  nicht.  Er  hält  Abgabe  des  Korpskommandos  binnen 
vierzehn  Tagen  für  nötig  und  bemerkte  dabei,  „die  englischen  Marine- 
offiziere säßen  bereits  auf  ihren  gepackten  Koffern". 

Bei  Verabschiedung  von  Herrn  von  Giers  bat  letzterer  dringend, 
in  Berlin  hervorzuheben,  wie  sehr  Rußland  wünsche,  mit  uns  be- 
züglich der  Türkei  zu  einer  dauernden  Verständigung  zu  kommen. 
Rußland  wolle  die  Türkei  ebenso  wie  wir  erhalten.  Gegen  die  Reform 
der  Armee  durch  uns  beständen  keinerlei  Bedenken.  Er  wisse  auch, 
daß  die  Abgabe  des  Korpskommandos  die  Aktionskraft  der  Mission 
nur  verstärken  könne.  Der  General  habe  sowieso  das  Recht  der  In- 
spektion und  könne  über  alle  türkischen  Truppen  verfügen,  solange 
seine  Beziehungen  zum  Kriegsministerium  normal  seien.  Was  Ruß- 
land wünsche,  sei  nur  die  Wahrung  des  Scheins.  Die  Lage  des  Zaren 
und  der  russischen  Regierung  gegenüber  der  Erregung  öffentlicher 
Meinung  sei  zu  schwierig.  Russischer  Marineattache***  sagte  unserem 
Vertrauensmann,  Herr  von  Giers  kämpfe  nur  noch  um  die  Wahrung 
seiner  eigenen  Fassade. 

Wangenheim 

Nr.  15  505 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  708  Pera,  den  28.  Dezember  1913 

Herr  von  Giers  redete  mich  heute  von  neuem  auf  unsere  Militär- 
mission an.   Er  versuchte  nachzuweisen,  daß  es  nicht  nur  im  deutschen 


*  Siehe  Nr.  15  489. 
**  Siehe  Nr.  15  503. 
***  Fregattenkapitän   Schtscheglow. 


279 


und  russischen,  sondern  auch  im  türkischen  Interesse  läge,  wenn  eine 
Einigung  erzielt  würde.  Deutschland  und  Rußland  würden  durch  ihre 
Verbündeten  in  einen  Konflikt  getrieben,  den  beide  Länder  allen  Anlaß 
hätten  zu  vermeiden.  Auch  der  Reformeifer  der  Türkei  könne  die  Er- 
fahrung nur  fördern,  daß  die  beiden  Großmächte  sich  nicht  gegen  ein- 
ander ausspielen  ließen.  Herr  von  Giers  befürchtet,  daß  durch  die 
herrschende  Ungewißheit  die  Lage  noch  schwieriger  werden  würde. 
Er  empfiehlt  daher,  daß  Deutschland  sich  schon  jetzt  grundsätzlich 
mit  Rußland  darüber  einigen  möge,  daß  General  Liman  unter  Bei- 
behaltung seines  Wohnsitzes  in  Konstantinopel  und  unter  Einräumung 
weitgehender  Machtbefugnisse  als  Inspekteur  das  Kommando  über  das 
I.  Armeekorps  in  Konstantinopel  an  einem  festzusetzenden  späteren 
Zeitpunkt  abgeben  werde.  Damit  würde  sich  die  öffentliche  Meinung 
in  Rußland  zufriedengeben  können.  Die  deutsche  Militärmission  hin- 
gegen werde  in  ihrer  Wirksamkeit  dadurch  nicht  im  geringsten  be- 
einträchtigt. Einer  deutsch-russischen  Einigung  über  diesen  Punkt 
würden  die  Türken  keinen  Widerstand  entgegensetzen. 

Ich  habe  mich  wesentlich  zuhörend  verhalten,  ohne  indessen  meine 
persönlichen  Zweifel  und  Bedenken  zu  unterdrücken. 

Mutius 


Nr.  15  506 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  London  Fürsten  von  Lichnowsky 

Telegramm 
Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Politischen  Abteilung  Wilhelm  von  Stumm 

Nr.  501  Berlin,  den  29.  Dezember  1913 

Auf  Telegramm  380*. 

Das  bisherige  Ergebnis  der  Besprechungen  zwischen  dem  rus- 
sischen Militärattache  in  Konstantinopel  und  Major  von  Strempel  über 
eine  den  russischen  Wünschen  entgegenkommende  künftige  Lösung  der 
Militärmissionsfrage  hat  Herrn  Sasonow  nicht  befriedigt.  Er  drängt  er- 
neut in  London  und  Paris  auf  Einwirkung  in  Berlin  **.  Sollte  Sir  E.  Grey 
Ew.  pp.  auf  Frage  anreden,  so  bitte  ich,  eventuell  unter  Verwertung 
der  Gesichtspunkte  in  Telegramm  493***,  dem  Minister  nahezulegen, 
in  Petersburg  zu  beruhigen  und  dort  vor  allem  vor  Demarchen  der 


*  Siehe  Nr.   15  497. 

**  Vgl.    dazu   das   Telegramm    Baron   von    Etters    an   Sasonow    Nr.    833    vom 

29.  Dezember  (v.  Siebert,   Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  660),  sowie 

das    Telegramm    Iswolskys    Nr.    607    vom    30.    Dezember    (Der    Diplomatische 

Schriftwechsel   Iswolskis   1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III,  437). 

***  Siehe  Nr.  15  496. 

280 


Entente  zu  warnen,  die  weiteres  deutsches  Entgegenkommen  unmöglich 
machen  würde. 

Jagow 

Nr.  15  507 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  372  St.  Petersburg,  den  28.  Dezember  1913 

[pr.  30.  Dezember] 

Ich  fand  Herrn  Sasonow,  der  mich  eben  zu  sich  bitten  ließ,  sehr 
unter  dem  Eindruck  eines  Telegramms  des  russischen  Botschafters  in 
Konstantinopel,  welches  mir  der  Minister  zu  lesen  gab.  Herr  von  Giers 
meldet  darin,  seine  Unterredungen  mit  seinem  deutschen  Kollegen,  der 
im  Begriff  gewesen  sei,  auf  Urlaub  nach  Berlin  zu  reisen,  hätten  bis 
jetzt  in  Sachen  der  Militärmission  zu  keinem  Ergebnis  geführt,  weil 
Baron  Wangenheim  „ohne  Instruktion  seiner  Regierung  gewesen  sei". 
Baron  Wangenheim  habe  sich  selbst  sehr  entgegenkommend  gezeigt 
und  geäußert,  er  persönlich  wünsche  „möglichst  baldige  Liquidierung 
der  Angelegenheit".  Herr  von  Giers  bemerkt  in  seinem  Telegramm, 
er  habe  den  Eindruck,  als  wolle  die  Kaiserliche  Regierung  die  Änderung 
in  der  Stellung  des  Generals  von  Liman  hinausschieben.  Besonders 
unangenehm  war  Herr  Sasonow  von  dem  Schluß  des  Telegramms  be- 
rührt, wonach  auch  die  Besprechungen  zwischen  dem  russischen  Militär- 
attache* und  Major  von  Strempel  ergebnislos  verlaufen  seien,  und 
letzterer  erklärt  habe,  nur  zu  einer  „Prüfung  der  Bedingungen  des 
Kommandos  des  Generals  von  Liman"  ermächtigt  zu  sein. 

Ich  erwiderte  dem  Minister,  daß  ich  keine  neuen  Weisungen  iri  der 
Angelegenheit  erhalten  hätte,  daß  ich  aber  in  den  Meldungen  des  Herrn 
von  Giers  einen  Widerspruch  mit  den  letzten,  von  mir  hier  auftrags- 
gemäß gemachten  Mitteilungen  nicht  erblicken  könne.  Das  entgegen- 
kommende Verhalten  des  Barons  Wangenheim  beweise,  daß  die  Kaiser- 
liche Regierung  die  Angelegenheit  in  versöhnlichem  Geiste  zu 
behandeln  wünsche.  Ich  hätte  nie  erwartet,  daß  die  Besprechungen 
der  beiden  Botschafter  beziehungsweise  des  russischen  Militärattaches 
mit  Major  von  Strempel  sofort  eine  Lösung  der  Schwierigkeiten  herbei- 
führen werden.  Es  habe  sich  vielmehr  vorläufig  nur  um  Besprechungen 
gehandelt  zum  Zwecke  der  Vorbereitung  einer  eventuellen  späteren 
Lösung.  Von  unserem  guten  Willen  könne  der  Minister  überzeugt  sein, 
ich  müsse  ihn  aber  bitten,  sich  zu  gedulden,  denn  es  scheine  mir, 
daß  nach  all  dem  Lärm,  der  um  die  Angelegenheit  gemacht  worden 


*  Generalmajor  Leontjew. 

281 


sei,  zuerst  eine  Beruhigung  der  Gemüter  hier,  in  der  Türkei  und  in 
Deutschland  abgewartet  werden  müsse,  bevor  an  eine  etwaige  Änderung 
in  der  Stellung  des  Generals  von  Liman  gedacht  werden  könne. 

Herr  Sasonow  bemerkte  darauf,  er  habe  aus  Konstantinopel  gehört, 
es  werde  dort  der  Gedanke  erwogen,  daß  ein  anderer  deutscher  General 
das  Kommando  über  das  Korps  in  Adrianopel  erhalten,  General  von 
Liman  dagegen  an  die  Spitze  der  militärischen  Bildungsanstalten  ge- 
stellt werden  solle.  Der  Minister  fügte  hinzu,  daß  er  diese  Lösung  für 
annehmbar  halten  würde.  Ich  erwiderte,  daß  mir  über  eine  solche 
Lösung  nichts  bekannt  sei. 

Herr  Sasonow  bat  mich  schließlich,  Euerer  Exzellenz  über  den 
Inhalt  des  Telegramms  des  Herrn  von  Giers  Bericht  zu  erstatten.  Er 
sprach  dabei  die  Hoffnung  aus,  daß  Euere  Exzellenz  ihm  mit  Bezug 
auf  diese  ihn  etwas  enttäuschenden  Nachrichten  des  Botschafters  eine 
beruhigende  Mitteilung  würden  zukommen  lassen. 

F.  Pourtales 


Nr.  15  508 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  411  Wien,  den  29.  Dezember  1913 

Im  Laufe  eines  längeren  Gesprächs  mit  Sir  M.  de  Bunsen  äußerte 
dieser,  nach  seinen  letzten  Nachrichten  von  Sir  E.  Grey  sei  das  Ver- 
hältnis Englands  zu  Rußland  infolge  der  Frage  der  deutschen  Militär- 
mission in  Konstantinopel  sehr  schwierig  geworden.  Sir  E.  Grey 
habe  gemeint,  er  habe  eine  so  tiefgehende  Aufregung  wie  infolge 
dieser  Sache  in  Petersburg  noch  nie  erlebt.  Trotzdem  habe  man  in 
London  den  russischen  weitgehenden  Forderungen  bezüglich  eines 
energischen  Druckes  auf  die  Türkei  nicht  nachgegeben,  sondern  schließ- 
lich seine  Zustimmung  nur  zu  einer  ganz  harmlosen  Anfrage  in  Kon- 
stantinopel gegeben.  Herr  Kokowzow  habe  dem  englischen  Ge- 
schäftsträger gegenüber  eine  sehr  scharfe  Sprache  geführt  und  habe 
mit  Gewaltmaßregeln  in  Armenien  gedroht.  Mein  englischer  Kollege 
fragte  mich,  was  ich  von  diesen  Drohungen  Rußlands  hielte.  Ich 
entgegnete,  daß  man  es  sich  in  Rußland  wohl  noch  sehr  überlegen 
würde,  diese  Drohungen  wahr  zu  machen.  Die  inneren  Verhältnisse 
des  russischen  Reiches  und  die  oft  bewiesene  Friedensliebe  des  Kaisers 
Nikolaus  ließen  mir  einen  kriegerischen  Entschluß  der  russischen  Staats- 
leitung für  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich  erscheinen.  Dazu 
komme,  daß,  wie  man  in  Petersburg  wisse,  ein  Einmarsch  Rußlands 
in   Armenien   die   Aufrollung   der   großen    kleinasiatischen    Frage   be- 

282 


deuten  würde,  die  nicht  allein  zwischen  Rußland  und  der  Türkei  zu 
lösen  sein  würde.  Sir  Maurice  de  Bunsen  erschien  sichtlich  erleichtert 
infolge  meiner  Beurteilung  der  russischen  Drohungen.  Er  führte  dann 
weiter  aus,  daß  um  so  weniger  Grund  für  England  vorliege,  in  dieser 
Sache  scharfe  Stellung  zu  nehmen,  als  ja  bekanntlich  die  türkische 
Flotte  an  ihrer  Spitze  einen  englischen  Admiral  habe.  Hierbei  machte 
der  Botschafter  die  charakteristische  Bemerkung,  daß  Sir  E.  Grey  an- 
fangs gleichfalls  durch  die  deutsche  Mission  sehr  erregt  gewesen  sei, 
weil  er  nicht  gewußt  habe,  daß  der  englische  Admiral  auch  das  tat- 
sächliche Kommando  über  die  türkische  Flotte  habe.  Sir  E.  Grey 
habe  neulich  dem  Fürsten  Lichnowsky  ausdrücklich  versprochen,  er 
werde  in  dieser  Frage  nichts  tun,  ohne  vorher  mit  Berlin  Fühlung  zu 
nehmen,   pp.  * 

von  Tschirschky 

Nr.  15  509 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  Kaiser 

Wilhelm  IL 

Ausfertigung 

Berlin,  den  31.  Dezember  1913 

Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  melde  ich  aller- 
untertänigst,  daß  Staatssekretär  von  Jagow  mit  dem  auf  der  Durch- 
reise hier  eingetroffenen  Botschafter  Euerer  Majestät  in  Konstantinopel 
über  die  dortige  Militärmission  gesprochen  hat.  Baron  Wangenheim 
ist  der  Ansicht,  daß  General  von  Liman  in  absehbarer  Zeit  einen 
höheren  Rang  erhalten  muß,  da  in  der  Türkei  die  Stellung  eines 
Kommandierenden  Generals  nicht  der  eines  solchen  in  Preußen  und 
nicht  einmal  der  eines  Generalleutnants  entspricht.  Das  Konstan- 
tinopeler  Korps  war  zum  Beispiel  bisher  durch  einen  Obersten  kom- 
mandiert. Das  Kommando  des  Korps  würde  hierdurch  von  selbst 
frei  werden  und  müßte  sowieso  anderweitig  besetzt  werden,  so  daß 
General  von  Liman  sich  alsdann  ausschließlich  seiner  höheren  Auf- 
gabe, der  Reorganisation  der  gesamten  türkischen  Armee,  widmen 
könnte,  was  sein  Prestige  in  der  Türkei  unzweifelhaft  nur  erhöhen 
würde.  Vor  der  Hand  erscheint  allerdings  eine  Beibehaltung  des  Korps- 
kommandos noch  so  lange  erforderlich,  bis  General  von  Liman  sich 
durch  direkte  Berührung  mit  der  Truppe  über  alle  Details  des  türki- 
schen Militärbetriebs  und  seine  Schäden  gründlich  informiert  haben 
wird.  Ein  Termin  hierfür  läßt  sich  jetzt  noch  nicht  festsetzen.  Doch 
würde  durch  die  zu  erwartende  Rangerhöhung  des  Generals  die  Frage 
des  Kommandos  in  Konstantinopel  ihre  natürliche  Lösung  finden. 


*  Der  Schluß  des  Berichts  betrifft  die  Inselfrage. 

283 


Euerer  Majestät  Botschafter  glaubt,  daß  die  Pforte  momentan  zwar 
jedem  Druck  fremder  Mächte  standzuhalten  gewillt  ist.  Wie  lange  sie 
dies  aber  bei  ihrer  schlechten  Finanz-  und  Gesamtlage  zu  tun  imstande 
sein  wird,  ist  eine  andere  Frage.  Wir  würden  dann  in  die  Zwangslage 
geraten,  die  Türkei  gegen  jeden  Druck  stützen  zu  müssen  und 
damit  Probleme  aufzurollen,  welche  wir  in  unserem  Interesse  noch 
aufzuschieben  wünschen. 

Durch  die  oben  bezeichnete  Lösung  würde  einerseits  das  Prestige 
der  Militärmission  nur  gehoben,  andererseits  die  Türkei  aber  vor 
kritischen  Situationen  bewahrt  bleiben.  Auch  würde  damit  selbst  der 
Anschein  eines  Zurückweichens  der  Türkei  oder  von  uns  vermieden 
werden. 

Euerer  Majestät  Allerhöchster  Entscheidung  darf  ich  die  obige 
Lösung  unterbreiten. 

Baron  Wangenheim  hat  gestern  auch  mit  dem  hiesigen  russischen 
Botschafter  über  die  Militärmission,  allerdings  nur  in  akademischer 
Form,  gesprochen*  und  diesen   sehr  ruhig  und  konziliant  gefunden. 

v.  Bethmann  Hollweg 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 
Ja     31/XI1  13     W. 

Nr.  15  510 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 

Telegramm.    Konzept 

Nr.   2  Berlin,   den   3.   Januar   1914 

Erregung  in  Rußland  wegen  Militärmission  dauert  an  und  könnte 
schließlich  sogar  Sasonow  gefährden.  Auch  drängt  Petersburg  in  London 
und  Paris  zu  einer  Demarche.  Wir  haben  gute  Beziehungen  zu  Peters- 
burg und  speziell  zu  Sasonow  bisher  zum  Nutzen  der  Türkei  ver- 
wertet (Armenische  Reformen).  Wirkungen  eines  Systemwechsels  in 
Petersburg  dürften  von  Pforte  nicht  nur  in  Reform-  und  Missionsfrage 
nachteilig  empfunden  werden.  Gemeinsames  deutsch-türkisches  Interesse 
erfordert  daher,  es  Herrn  Sasonow  zu  erleichtern,  Missionsfrage 
gegenüber  öffentlicher  Meinung  zu  vertreten. 


*  Vgl.  dazu  das  Telegramm  Botschafter  Sverwejews  an  Sasonow  Nr.  308 
vom  30.  Dezember  1913:  „Der  deutsche  Botschafter,  welchen  ich  friedliebend 
und  nachgiebig  fand,  sagte  mir,  daß  das  Berliner  Kabinett  aufrichtig  wünsche, 
mit  uns  zu  einem  annehmbaren  Kompromiß  zu  kommen  und  ein  hierzu  geeignetes 
Mittel  suche.  Er  selbst,  Wangenheim,  sei  immer  bereit,  in  diesem  Sinne  in 
Konstantinopel  zu  arbeiten.  Rußland  müsse  aber  Deutschland  seine  Aufgabe  er- 
leichtern, indem  es  ihm  kein  Ultimatum  stelle  und  nicht  die  Festsetzung  irgend- 
welcher Fristen  verlange."  v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke,  a.  a.  O.,  S.  662  f 

284 


Rußland  hat  sich  mit  Mission  als  solcher  und  mit  Kommandogewalt 
jetzt  abgefunden,  beanstandet  nur  Kommando  über  I.  Armeekorps, 
das  russischen  Traditionen  widerspricht.  Gegen  dauernde  Beibehaltung 
dieses  Kommandos  hegen  auch  wir  Bedenken,  da  Stellung  Korps- 
kommandeurs, die  in  Türkei  nicht  gleiche  Bedeutung  besitzt  wie  bei 
uns  und  in  Konstantinopel  zum  Beispiel  bisher  von  Oberst  wahr- 
genommen wurde,  für  preußischen  Generalleutnant  und  Reformator 
der  ganzen  Armee  auf  die  Dauer  nicht  hoch  genug  ist.  Auch  könnte 
deutscher  General  bei  Unruhen  in  Konstantinopel  in  mißliche  Lage 
geraten.  Obgleich  uns  hiernach  Änderung  in  Stellung  Limans  sachlich 
nicht  nur  unbedenklich,  sondern  sogar  erwünscht  erscheint,  ist  sie  aus 
Prestigegründen  wegen  Behandlung  der  Angelegenheit  in  Presse  und 
Demarche  Dreiverbands  in  Konstantinopel  für  Pforte  vorläufig  aus- 
geschlossen. 

Andere  Frage  ist,  ob  nicht  Pforte  russischer  Regierung  schon 
jetzt  für  späteren  Zeitpunkt  Änderung  in  Aussicht  stellen  und  hier- 
durch Herrn  Sasonow  beruhigende  Erklärung  gegenüber  russischer 
Öffentlichkeit  ermöglichen  soll.  Dies  könnte  etwa  in  folgender  Form 
geschehen: 

Liman  habe  Korpskommando  übernommen,  um  sich  durch  direkte 
Berührung  mit  Truppe  über  alle  Details  türkischen  Militärbetriebs 
gründlich  zu  informieren.  Sobald  dies  geschehen,  werde  er  sich  aus- 
schließlich seiner  höheren  Aufgabe,  der  Reorganisation  der  gesamten 
türkischen  Armee  widmen.  Er  werde  dann  erhöhten  Rang  erhalten, 
wodurch  Kommando  in  Konstantinopel  sowieso  frei  würde  und  ander- 
weit besetzt  werden  müßte.  Der  Zeitpunkt  für  diesen  Wechsel  werde 
ausschließlich  von  militärischer  Zweckmäßigkeit  abhängen,  könne  daher 
jetzt  noch  nicht  festgesetzt  werden. 

Vorstehende  Lösung  würde  Türkei  vor  kritischen  Situationen  be- 
wahren und  Prestige  der  Militärmission  nur  heben;  auch  würde 
selbst  Anschein  Zurückweichens  der  Pforte  oder  Deutschlands  vor 
Rußland  vermieden  werden. 

Euer  pp.  wollen  Angelegenheit  in  obigem  Sinne  streng  ver- 
traulich im  Anschluß  an  Unterredung  des  Kaiserlichen  Botschafters 
mit  Großwesir  besprechen.  Bitte  dabei  betonen,  daß  wir  freien 
Entschließungen  der  Pforte  auch  weiterhin  nicht  vorgreifen  wollen, 
sondern  nur  wünschen,  unsererseits  zur  Verhütung  von  Kompli- 
kationen beizutragen,  die  Missionsfrage  für  Türkei  haben  könnte. 

Ebenso  wollen  Euer  pp.  Herrn  von  Liman  für  Lösung  zu  gewinnen 
suchen.  Wir  wollten  seine  Stellung  keineswegs  beeinträchtigen,  son- 
dern sogar  heben  und  Gefahr  vorbeugen,  daß  Entwicklung  der  Dinge 
ihn  schließlich  zum  vorzeitigen  Ausscheiden  zwingen  könnte.  Lösung 
hat  Zustimmung  Seiner  Majestät  gefunden.  Zeitpunkt  Abgabe  Korps- 
kommandos würde  selbstverständlich  von  General  im  Einvernehmen 
mit    türkischem    Kriegsminister    selbständig   zu   bestimmen    sein. 

285 


Nur  für  Ew.  pp.  bestimmt:  Angelegenheit  darf  keine  europäische 
Prestigefrage  werden,  bei  welcher  wir  schließlich  Türkei  weiter  stützen 
müßten  als  unsere  Interessen  erlauben. 

Jago  w 

Nr.  15  511 

Der  Botschafter  in  Paris  Freiherr  von  Schoen  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  2  Paris,  den  3.  Januar  1914 

Ich  habe  Gelegenheit  gehabt,  dem  politischen  Direktor,  Herrn 
Paleologue,  zu  bemerken*,  die  Haltung  einzelner  französischer  Bot- 
schafter, wie  der  Herren  Delcasse  und  Bompard,  in  der  Frage  der 
deutschen  Militärmission  in  Konstantinopel  sei  nach  den  Euerer  Exzel- 
lenz zugegangenen  Nachrichten  keineswegs  so  neutral  gewesen,  wie 
es  nach  den  hier  gegebenen  Versicherungen  habe  erwartet  werden 
können.  Auch  die  französische  Presse  sei  recht  betriebsam  in  auf- 
hetzendem Sinne  gewesen. 

Herr  Paleologue  versicherte  erneut,  daß  man  hier  bemüht  ge- 
wesen sei,  beruhigend  zu  wirken;  im  großen  ganzen  sei  dies  auch 
gelungen;  es  habe  doch  an  namhaften  Stimmen  nicht  gefehlt,  die  sich 
in  sehr  maßvoller  Weise  vernehmen  ließen  und  dazu  rieten,  nicht 
alle   russischen   Empfindlichkeiten   zu   eigenen   zu  machen. 

Herr  Paleologue  äußerte  bei  diesem  Anlaß  ferner  vertraulich,  die 
Verstimmung  zwischen  St.  Petersburg  und  Berlin  scheine  leider  noch 
nicht  auf  dem  Wege  der  Beseitigung  zu  sein.  Soviel  er  gehört,  sei 
Herr  Kokowzow  seinerzeit  von  Berlin  mit  dem  Eindruck  abgereist, 
daß  etwas  geschehen  werde,  um  den  russischen  Bedenken  einiger- 
maßen Rechnung  zu  tragen.  Das  Ausbleiben  irgendeines  entgegen- 
kommenden Schrittes  von  Berlin  habe  in  Petersburg  eine  merkbare 
Verstimmung  ausgelöst,  nicht  nur  bei  den  Herren  Kokowzow  und 
Sasonow  sondern  auch  bei  Seiner  Majestät  dem  Kaiser.  Es  sei  dann 
der  Versuch  gemacht  worden,  zwischen  dem  Kaiserlichen  und  dem 
russischen  Botschafter  in  Konstantinopel,  sowie  den  beiderseitigen 
Militärattaches  einen  gangbaren  Ausweg  zu  finden,  doch  schiene  leider 
nichts  Positives  erreicht  worden  zu  sein.  Er  wolle  nicht  so  weit 
gehen,  der  somit  verbleibenden  Unstimmigkeit  zwischen  Petersburg 
und  Berlin  das  Gewicht  einer  bedrohlichen  Lage  beizumessen,  aber  sie 
bilde  immerhin  ein  Moment  des  Unbehagens. 

Ich  habe  Herrn  Paleologue  erneut  die  Argumente  entgegengehal- 
ten, die  uns  die  russische  Erregung  als  unbegründet  und  unverständ- 


•  Vgl.   Nr.   15  502. 
286 


lieh  erscheinen  lassen  müssen.  Wolle  man  sich  in  Petersburg  und 
anderswo  entschließen,  uns  nicht  Hintergedanken  anzudichten,  die  uns 
tatsächlich  gänzlich  fremd  sind,  so  würde  der  Beunruhigung  der  Boden 
entzogen  werden.  Durch  Aufbauschen  der  Sache  würde  deren  Erledi- 
gung am  wenigsten  gefördert. 

v.    S  c  h  o  e  n 


Nr.  15  512 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagowan  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales  * 

Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  14  Berlin,  den  6.  Januar  1914 

Zu  Euerer  Exzellenz  vertraulichen  Information. 

Nach  Ansicht  des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Konstantin opel, 
welcher  vor  einigen  Tagen  auf  Urlaub  hier  war  und  bei  dieser  Ge- 
legenheit auch  mit  Herrn  Sverwejew  Rücksprache  genommen  hat**, 
glauben  wir,  daß  eine  Lösung  der  Frage  der  Militärmission  in  Kon- 
stantinopel in  folgender  Form  möglich  wäre: 

Die  Stellung  eines  Korpskommandeurs  in  der  Türkei  entspricht 
eigentlich  nicht  dem  Rang  eines  preußischen  Generalleutnants;  der 
Vorgänger  General  von  Limans  war  zum  Beispiel  nur  Oberst.  Es 
würde  daher  auch  von  unserem  Standpunkte  durchaus  angezeigt  er- 
scheinen, daß  General  Liman  mit  der  Zeit  eine  Rangerhöhung  er- 
hielte, wonach  der  General  das  Kommando  über  das  Korps  sowieso 
abgeben  müßte  und  sich  seiner  höheren  und  eigentlichen  Aufgabe, 
der  Reorganisation  der  türkischen  Gesamtarmee,  widmen  könnte.  Zu- 
nächst ist  es  jedoch  erforderlich,  daß  General  von  Liman  durch  die 
Führung  des  Korps  eine  gewisse  Zeit  lang  in  direkte  Berührung  mit 
der  Truppe  tritt  und  so  alle  Details  des  türkischen  Militärbetriebes 
sowie  dessen  Schäden  aus  eigener  Anschauung  kennen  lernt.  Ein 
Termin,  zu  welchem  die  oben  erwähnte  Änderung  einzutreten  hätte, 
läßt  sich  daher  zurzeit  nicht  angeben. 

Um  jedoch  Herrn  Sasonow  die  Vertretung  der  Angelegenheit  vor 
der  öffentlichen  Meinung  in  Rußland  zu  erleichtern,  würde  vielleicht 
eine  diesbezügliche  Verlautbarung  in  der  russischen  Presse  möglich 
sein.  Herr  Sverwejew  hat  nach  Rücksprache  mit  Herrn  von  Wangen- 
heim und  mir  einen  Entwurf  von  ungefähr  folgendem  Wortlaut  aus- 
gearbeitet: 


•  Bereits  veröffentlicht  im  deutschen  ,, Weißbuch  betreffend  die  Verantwortlich- 
keit der  Urheber  des  Krieges",  S.  146  f. 
••  Vgl.   Nr.    15  509. 

287 


„Nous  apprenons  de  Constantinople  qu'on  n'a  jamais  voulu  donner 
un  caractere  politique  ä  la  mission  allemande.  Ceci  resulte  dejä  du 
fait  que  la  division  oommandee  par  un  colonel  allemand  se  trouve  en 
garnison  sur  la  cote  asiatique,  ä  Skutari  et  Ismid,  et  que  la  division 
ä  Constantinople  est  commandee  par  un  general  turc  qui  est  aussi 
ä  la  tete  de  toute  la  police  et  du  Service  de  sürete.  II  est  evident  que 
Pinstructeur  qui  assume  une  täche  aussi  grande  que  celle  de  la  reor- 
ganisation  de  toute  l'armee  ottomane,  doit,  pour  sa  propre  information, 
rester  pendant  quelque  temps  en  contact  direct  avec  la  troupe.  Mais 
quand  il  se  sera  suffisamment  renseigne,  le  commandement  du  corps 
d'armee  passera  ä  un  general  turc  et  le  general  von  Liman  se  vouera 
ä  sa  täche  plus  importante,  c'est  ä  dire  la  reorganisation  de  l'armee 
entiere.  Le  commandement  du  corps  d'armee  ne  forme  donc  qu'une 
etape  dans  l'oeuvre   de  la  reorganisation  de  l'armee  ottomane." 

Ich  habe  diesen  Text  nur  nach  dem  Gedächtnis  wiedergegeben  und 
kann  mich  daher  nicht  für  jeden  einzelnen  Ausdruck  und  Wendung 
verbürgen.  Ich  habe  Herrn  Sverwejew  gesagt,  daß  eine  derartige 
Publikation  natürlich  erst  möglich  sei,  wenn  die  Pforte  mit  der  vor- 
geschlagenen Änderung  des  Kommandos  sich  einverstanden  erklärt 
hätte.  Auch  müsse  die  Pforte  ihre  Zustimmung  zu  der  Veröffent- 
lichung geben,  da  dieselbe  natürlich  nicht  als  mit  uns  vereinbart, 
sondern  als  auf  Mitteilung  aus  Konstantinopel  beruhend  in  der  russi- 
schen Presse  erscheinen  müsse.  Denn  nachdem  der  Kontrakt  zwischen 
der  Pforte  und  den  deutschen  Offizieren  abgeschlossen  sei,  wäre  die 
Änderung  natürlich  auch  eine  türkische  Angelegenheit. 

Der  Kaiserliche  Geschäftsträger  ist  angewiesen,  die  Angelegen- 
heit mit  dem  Großwesir  und  dem  General  Liman  in  obigem  Sinne 
zu  besprechen  und  sie  für  die  Lösung  zu  gewinnen  zu  suchen*.  Wie 
Herr  von  Mutius  telegraphiert,  befindet  sich  General  von  Liman  bis 
zum  9.  Januar  auf  einer  Inspektionsreise,  und  der  Geschäftsträger  hält 
es  für  angezeigt,  bis  zu  seiner  Rückkehr  mit  Anknüpfung  der 
Verhandlungen  zu  warten.  Denn,  wie  ich  zu  Euerer  Exzellenz  ganz 
persönlicher  Information  hinzufüge,  ist  Baron  Wangenheim,  als  er  vor 
seiner  Abreise  nach  Rücksprache  mit  dem  Großwesir  auch  beim  Ge- 
neral von  Liman  eine  derartige  Lösung  angeregt  hat,  bei  letzterem  auf 
Schwierigkeiten  gestoßen.  Doch  nehme  ich  an,  daß  es  Herrn  von 
Mutius  gelingen  wird,  den  General  von  der  Zweckmäßigkeit  der 
Lösung  zu  überzeugen,  und  es  ist  zu  hoffen,  daß  auch  die  türkische 
Regierung  sich  nicht  zu  intransigent  verhalten  und  einsehen  wird,  daß 
die  vorgeschlagene  Lösung  im   eigensten   Interesse  der  Türkei  liegt. 

Wir  haben  bisher  bewiesen,  daß  wir  von  dem  besten  Willen  be- 
seelt sind,   den   russischen  Wünschen   entgegenzukommen,   doch   darf 


*  Vgl.  Nr.  15  510. 
288 


dieses  Entgegenkommen  nicht  den  Anschein  eines  Zurückweichens 
vor  einer  Forderung  Rußlands  annehmen.  Herr  Sasonow  muß  uns 
daher  Zeit  lassen  und  namentlich  alles  vermeiden,  was  die  Angelegen- 
heit zu  einer  europäischen  Frage  aufzubauschen  geeignet  ist.  Letzteren 
Charakter  drohte  sie  bereits  durch  die  Zeitungsindiskretionen,  sowie 
durch  den  gemeinsamen  Schritt  der  Tripelententemächte  in  Konstan- 
tinopel anzunehmen.  Herr  Sasonow  hatte  mir  seinerzeit  durch  Herrn 
Sverwejew  sagen  lassen,  daß  er  auch  in  Konstantinopel  Vorstellungen 
gegen  die  Kommandogewalt  in  der  Hauptstadt  zu  erheben  gedächte. 
Da  die  Sache  in  erster  Linie  eine  türkische  innere  Angelegenheit  ist 
und  auch  von  der  Pforte  als  solche  aufgefaßt  wird,  hatte  ich  keinerlei 
Anlaß,  gegen  diese  Absicht  Herrn  Sasonows  Einwendungen  zu  machen. 
Etwas  anderes  aber  ist  es,  ob  der  russische  Botschafter  bei  der  Pforte 
Vorstellungen  erhebt,  oder  ob  die  Tripelentente  eine  gemeinsame  De- 
marche gegen  unsere  Mission  macht  und  dies  nachher  von  der  Presse 
besprochen  wird.  Ich  habe  daher  Herrn  Sverwejew  auch  meine  Ver- 
wunderung über  dieses  Vorgehen  der  Tripelententemächte  seinerzeit 
nicht  verhehlt,  und  ich  hoffe  Herr  Sasonow  wird  sich  der  Einsicht 
nicht  verschließen,  daß  er  durch  etwa  erneute  gemeinsame  Schritte 
der  drei  Mächte  eine  für  ihn  selbst  befriedigende  Lösung  der  Angelegen- 
heit nur  erschweren  würde. 

Jagow 


Nr.  15  513 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  4  Berlin,  den  8.  Januar  1914 

Im  Anschluß  an  Erlaß  Nr.  14*. 

Zu  Euerer  Exzellenz  Information.  Russischer  Botschafter  hat  mir 
mitgeteilt,  daß  Fassung  der  eventuellen  Veröffentlichung  in  Peters- 
burg nicht  als  genügend  erachtet  werde.  Habe  Botschafter  geant- 
wortet, daß  zunächst  Ergebnis  der  Verhandlungen  in  Konstantinopel 
abzuwarten  sei. 

Jagow 


*  Siehe  Nr.   15  512. 


19    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  289 


Nr.  15  514 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an  den 
Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Nr.   5  Berlin,   den   8.   Januar   1914 

Ernennung  Envers*  scheint  bei  allen  Mächten  sehr  ungünstige 
Aufnahme  zu  finden.  Mißtrauen  gegen  türkische  Zustände  dürfte  zu- 
nehmen. Falsche  Beurteilung  unserer  Militärmission  erhält  dadurch 
neue  Nahrung.  Russischer  Widerstand  gegen  Oberkommando  Kon- 
stantinopel dauert  fort.  Es  wäre  daher  sehr  wünschenswert,  wenn 
vorgeschlagene  Lösung  bald  Annahme  fände,  schon  um  Verschärfung 
russischer  Forderungen  vorzubeugen. 

Jagow 

Nr.  15  515 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.    15  Konstantinopel,    den    8.    Januar   1914 

General  Liman  ist  vollständig  dafür  gewonnen,  das  Kommando 
des  I.  Armeekorps  abzugeben.  Er  fürchtet  in  dieser  Stellung  Rei- 
bungen mit  Enver**.  Er  verlangt  als  Kompensation  höheren  Rang  unf> 
eventuell   Armeeinspektion. 

Habe  General  Liman  auch  noch  ausdrücklich  auf  die  durch  Er- 
nennung Envers  und  dessen  diktatorische  Allüren  sehr  zugespitzte 
innere  Lage  hingewiesen. 

Mutius 


*  Anfang  Januar  1914  war  die  Ernennung  Enver  Beys  zum  türkischen  Kriegs- 
minister an  Stelle  Izzet  Paschas  erfolgt. 

•*  Schon  am  8.  Januar  schrieb  General  Liman  von  Sanders  an  den  Chef  des 
Militärkabinetts  General  von  Lyncker:  „Euer  Exzellenz  halte  ich  mich  ver- 
pflichtet zu  melden,  daß  durch  die  Ernennung  des  bisherigen  Oberst  Enver  Bey 
zum  Kriegsminister  die  Verhältnisse  für  mich  als  Chef  der  Militärmission  derart 
schwierig  und  verwickelt  geworden  sind,  daß  ich  den  weiteren  Ausgang  zurzeit 
nicht  voraussagen  kann.  —  Während  meiner  dienstlichen  Abwesenheit  in  Kirk- 
kilisse  und  Adrianopel  hat  der  neue  Kriegsminister  den  Königlich  Bayrischen 
Oberstleutnant  (türkischen  Oberst)  von  Lossow  zu  sich  rufen  lassen  und  ihm  die 
Stellung  als  Sous-Chef  des  türkischen  Generalstabes  (Chef  ist  der  Kriegsminister 
selbst)  angeboten.  Auf  die  Erwiderung  des  Oberst  von  Lossow,  daß  er  sich  dar- 
über nur  mit  meinem  Einverständnis  entscheiden  könne,  hat  der  Kriegsminister 
dies  von  der  Hand  gewiesen.  Oberst  von  Lossow  hat  mir  das  heute  bei  meiner 
Rückkehr  gemeldet.  —  Oberst  von  Lossow,  der  nach  Deutschland  zurückgeht,  hat 

290 


Nr.  15  516 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius 

an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.    17  Pera,   den    9.    Januar   1914 

Mit  Beziehung  auf  Privatbrief  an  Unterstaatssekretär  Zimmer- 
mann vom  3.  Januar*  und  Antwort  auf  Telegramm  Nr.  5**. 

Es  erscheint  mir  nicht  schwierig,  Großwesir  persönlich  für  Ab- 
gabe des  Kommandos  des  ersten  Armeekorps  durch  General  Liman 
zu  gewinnen,  aber  sein  Einfluß  wird  schwerlich  gegenüber  Männern 
wie  Talaat  Bey,   Enver,  Dschemal  durchdringen. 

Beabsichtige  daher  zunächst  durch  General  Liman  und  von 
Strempel  Enver  Pascha  dafür  gewinnen  zu  lassen.  Falls  sich  dabei 
Widerstände  ergeben,  möchte  ich  empfehlen,  die  Verleihung  des 
Charakters  als  General  der  Kavallerie  an  General  Liman  zu  Kaisers 
Geburtstag  an  allerhöchster  Stelle  in  Vorschlag  zu  bringen.  — 
Auf  Grund  dieser  Rangerhöhung  würden  wir  dann  Ernennung  General 
Limans  zum  türkischen  Marschall  beanspruchen.  Das  Ausscheiden 
des  Generals  aus  dem  Kommando  des  ersten  Armeekorps  würde 
die  Konsequenz  sein. 

Da  Türken  manchmal  unberechenbar  schnell  zugreifen,  wäre  mög- 
lichst umgehend  festzustellen,  ob  Seine  Majestät  der  Kaiser  eventuell 
geneigt  wäre,  um  die  Lösung  zu  erleichtern,  die  Charaktererhöhung 
früher  eintreten  zu  lassen. 
*•  Mutius 

Nr.  15  517 

Der  Botschafter  in  London  Fürst  von  Lichnowsky  an  den 

Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  6  London,  den  7.  Januar  1914 

[pr.    10.    Januar] 

Sir  Edward  Grey,  der  gestern  hier  eintraf  und  heute  abend  wieder 
abreist,  um  erst  am  19.  zurückzukehren,  ließ  mich  soeben  kommen, 
um  mit  mir  nochmals  die  Frage  der  Konstantinopeler  Militärmission  zu 

abgelehnt.  —  Ich  habe  den  Kriegsminister  um  Aufklärung  ersuchen  lassen.  Zu- 
gleich mache  ich  den  Kriegsminister  auf  genaue  Innehaltung  des  Kontraktes  auf- 
merksam." Vgl.  dazu  Liman  v.  Sanders,  Fünf  Jahre  Türkei,  S.  16  ff.,  und  Feld- 
marschall Conrad,  Aus  meiner  Dienstzeit,  III,   564  f. 

*  Schon  durch  einen  Privatbrief  an  Unterstaatssekretär  Zimmermann  vom  3.  Januar 
hatte  Mutius  die  Beförderung  Limans,  der  nach  der  Rangliste  ziemlich  dicht 
vor  dem  Kommandierenden  General  stehe,  angeregt:  „So  würde  vielleicht  ein 
Anlaß  gegeben  sein,  ihm  auch  in  der  türkischen  Armee  eine  Rangerhöhung  zuteil 
werden  zu  lassen  und  damit  ein  Grund  zur  Abgabe  des  Armeekorps  geschaffen 
werden." 
**  Siehe  Nr.  15  514. 

19*  291 


besprechen.  Er  sagte  mir,  die  russische  Regierung  habe  sich  keines- 
wegs beruhigt  und  werde  außerdem  von  der  öffentlichen  Meinung  zu 
weiteren  Schritten  gedrängt.  Er,  Sir  Edward  Grey,  habe  bisher  alles 
getan,  um  in  Petersburg  zu  mäßigen,  und  werde  auch  fortfahren,  in. 
diesem  Sinne  zu  wirken,  besonders  da  er  den  Eindruck  habe,  daß  wir 
bestrebt  seien,  den  russischen  Wünschen  einigermaßen  entgegen- 
zukommen und  eine  für  alle  Beteiligten  annehmbare  Lösung  zu  finden. 
Sollte  dies  jedoch  nicht  gelingen,  so  könne  er  sich  der  Befürchtung 
nicht  entschlagen,  daß  Rußland  eigenmächtig  vorgehe  und  von  der 
Türkei  eine  Gegenleistung  verlange.  Ein  derartiger  Schritt  werde 
natürlich  sehr  unerwünschte  Folgen  haben. 

Auf  meine  Frage,  welche  Maßnahmen  russischerseits  seiner  An- 
sicht nach  wohl  in  Frage  stünden,  entgegnete  Sir  Edward,  er  halte  es 
nicht  für  unmöglich,  daß  Rußland  das  Verlangen  stelle,  ein  russischer 
General  solle  das  Kommando  in  Armenien  erhalten  unter  der  Mit- 
wirkung einer  entsprechenden  Anzahl  russischer  Offiziere,  auch  sei  es 
nicht  ausgeschlossen,  daß  Rußland  unter  Umständen  zur  Besetzung 
türkischen  Gebietes  schreite,  um  mehr  Nachdruck  auf  die  ottomanische 
Regierung  ausüben  zu  können.  Konstantinopel  sei  nun  einmal  der 
heikelste  Punkt  für  das  russische  Empfinden,  und  er  glaube  nicht, 
daß  man  sich  in  Petersburg  beruhigen  werde,  falls  nicht  unsererseits 
ein  Ausweg  gefunden  werde. 

Ich  entgegnete  unter  Verwertung  der  mir  übermittelten  Gesichts- 
punkte, daß  ich  nicht  daran  zweifele,  daß  die  Kaiserliche  Regierung 
gerne  bereit  sein  würde,  den  russischen  Wünschen  etwas  entgegen- 
zukommen, obwohl  ich  die  Berechtigung  des  russischen  Standpunktes 
keineswegs  anzuerkennen  vermöge,  daß  aber  die  unerläßliche  Vor- 
aussetzung hierfür  sei,  daß  alle  ferneren  amtlichen  Schritte  seitens  des 
Dreiverbandes  in  Konstantinopel  unterblieben.  Einem  formellen  Druck 
gegenüber  würde  es  unmöglich  sein,  nachzugeben  beziehungsweise 
auch  nur  das  geringste  Zugeständnis  zu  machen. 

Sir  Edward  versprach  mir  wiederum,  vorläufig  nichts  zu  unter- 
nehmen. Er  hoffe  aber,  daß  bis  zu  seiner  Rückkehr  am  19.  zwischen 
uns  und  Rußland  eine  Verständigung  erreicht  werde.  Bis  dahin  sei 
auch  Graf  Benckendorff  zurück,  und  es  würde  sonst  schwer  fallen,  die 
russische  Regierung  noch  weiter  hinzuhalten  und  zu  beruhigen. 

Vorläufig  also  scheint  die  hiesige  Regierung  nichts  unternehmen 
und  weiter  abwarten  zu  wollen.  Auch  die  Zurückziehung  der  briti- 
schen Seeoffiziere  scheint  nicht  beabsichtigt  zu  sein,  da  Sir  Edward 
nichts  davon  erwähnte,  und  sich  auf  die  Bemerkung  beschränkte, 
russischerseits  werde  immer  darauf  hingewiesen,  daß  die  Gegenüber- 
stellung der  britischen  Marine-  und  der  deutschen  Militärmission  des- 
halb unzutreffend  sei,  weil  es  nur  ein  türkisches  Heer,  aber  keine 
türkische  Flotte  gebe,  eine  Bemerkung,  die  ich  durch  den  Hinweis  auf 
den  eben  erst  angekauften  „Rio  de  Janeiro"  zu  entkräften  suchte. 

292 


Meine  Eindrücke  möchte  ich  abermals  dahin  zusammenfassen,  daß 
Sir  Edward,  der  übrigens  durchaus  nicht  aufgeregt  war,  und  in  heiter- 
ster Stimmung  die  Angelegenheit  mit  mir  besprochen  hat,  nur  sehr 
ungern  sich  an  irgendwelchen  erneuten  Schritten  beteiligen  würde, 
daß  er  aber  fürchtet,  durch  die  Haltung  Rußlands  in  eine  Zwangslage 
versetzt  zu  werden,  und  es  unter  Umständen  nicht  wagen  würde,  die 
Russen  in  dieser  Frage  vollkommen  im  Stiche  zu  lassen. 

Lichnowsky 

Nr.  15  518 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  20  Konstantinopel,  den  10.  Januar  1914 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  17*. 

Enver  Pascha  hat  sich  Herrn  von  Strempel  gegenüber  damit  ein- 
verstanden erklärt,  daß,  wenn  gar  nichts  mehr  von  irgendeinem 
politischen  Druck  unserer  Nachbarn  verlautet  und  General  von  Liman 
den  27.  bei  uns  zum  General  der  Kavallerie  befördert  wird,  er  hier 
unmittelbar  darauf  zum  Marschall  vorgeschlagen  werden  und  das  Kom- 
mando des  1.  Armeekorps  dadurch  verlieren  wird. 

Enver  sagte  zu  Herrn  von  Strempel,  wenn  er  auf  Grund  politischen 
Druckes  spräche,  so  würde  er  auf  nichts  eingehen  können.  Herr 
von  Strempel  erwiderte,  er  habe  von  einem  politischen  Druck  nichts 
mehr  gehört.  Ich  hatte  Herrn  von  Strempel  nahegelegt,  Enver  auch 
die  politischen  Vorteile  eines  solchen  Schrittes  vorzuhalten.  Unter 
diesen  dürfte  der  Gesichtspunkt  der  Krediterleichterung  ihm  am  meisten 
eingeleuchtet  haben.  —  Glaube  unter  vorliegenden  Verhältnissen  An- 
gelegenheit Großwesir  gegenüber  besser  gar  nicht  mehr  berühren  zu 
sollen.  Mutius 

Nr.  15  519 
Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg** 

Ausfertigung 
Nr.  4  St.  Petersburg,  den  10.  Januar  1914 

Gegen  meine  sonstige  Gewohnheit  habe  ich,  da  ich  in  der  letzten 
Zeit  keine  besonders  eiligen  Aufträge  für  Herrn  Sasonow  hatte,  über 


•  Siehe  Nr.  15  516. 

•"  Bereits  veröffentlicht  im  deutschen  „Weißbuch  betreffend  die  Verantwortlich- 
keit der  Urheber  des  Krieges",  S.  148  ff. 

293 


eine  Woche  vergehen  lassen,  ohne  den  Minister  zu  besuchen.  Ich  wollte 
ihm  dadurch  zeigen,  daß  ich  nicht  gewillt  sei,  der  „Nowoje  Wremja" 
von  neuem  Stoff  zu  allerlei  Indiskretionen  zu  liefern.  Als  ich  nun 
gestern  zur  Besprechung  einiger  anderen  Angelegenheiten  Herrn  Sa- 
sonow  aufsuchte,  vermied  ich  es,  von  mir  aus  die  Frage  der  deutschen 
Militärmission  zu  berühren.  Nach  Erledigung  einiger  anderer  Gegen- 
stände fing  jedoch  Herr  Sasonow  sehr  bald  von  selbst  an,  über  das 
Thema  zu  sprechen,  und  es  knüpfte  sich  daran  wieder  eine  längere 
Diskussion. 

Der  Minister  klagte  darüber,  „daß  die  Angelegenheit  keinen  be- 
friedigenden Fortgang  nehme".  Ich  konnte  nicht  umhin,  über  diese 
Bemerkung  mein  Erstaunen  auszusprechen,  da  nach  den  mir  zuge- 
gangenen Informationen  in  den  freundschaftlichen  und  jedenfalls  von 
großem  Entgegenkommen  deutscherseits  zeugenden  Unterredungen  des 
Herrn  Staatssekretärs  mit  Herrn  Sverwejew  in  großen  Zügen  eine 
Basis  gefunden  worden  sei,  auf  der,  wie  mir  schiene,  die  Angelegen- 
heit sich  in  befriedigender  Weise  regeln  ließe. 

Herr  Sasonow  erklärte  darauf,  die  Form  der  in  Aussicht  genom- 
menen Veröffentlichung  könne  ihn  unmöglich  befriedigen,  da  sie  hier  zur 
Beruhigung  der  Gemüter  nicht  beitragen  werde.  Vor  allem  bean- 
standete der  Minister,  daß  die  Nachricht  über  die  bevorstehende 
Änderung  in  der  Stellung  des  Generals  von  Liman  aus  Konstantin opel 
kommen  solle.  Eine  von  der  türkischen  Regierung  ausgehende  Ver- 
öffentlichung dieser  Art  werde  hier  nicht  den  geringsten  Eindruck 
machen.  Der  Minister  bemerkte  ferner,  daß,  wenn  in  der  gedachten 
Veröffentlichung  nicht  ein  Termin,  und  zwar  ein  einigermaßen  naher  ge- 
nannt würde,  die  Veröffentlichung  für  ihn  wenig  Wert  habe.  Übrigens 
scheine  es  die  Kaiserliche  Regierung  auch  mit  den  in  Aussicht  ge- 
nommenen Veränderungen  in  Konstantinopel  nicht  eilig  zu  haben,  da 
der  Herr  Staatssekretär  dem  russischen  Botschafter  in  Berlin  gegen- 
gegenüber  geäußert  hätte,  die  Veränderungen  würden  eventuell  „im 
Laufe  des  Jahres",  was  so  viele  heiße  als  vielleicht  erst  Ende  Dezember 
d.    Js.,    eintreten. 

Ich  versuchte  dem  Minister  zu  beweisen,  daß  nach  Lage  der  Dinge 
die  fragliche  Nachricht  nur  aus  Konstantinopel  gebracht  werden  könne, 
da  nur  die  türkische  Regierung  über  Veränderungen  in  den  Verhält- 
nissen von  Offizieren,  die  in  türkische  Dienste  getreten  seien,  endgültig 
zu  entscheiden  habe.  Im  übrigen  zweifelte  ich  nicht  daran,  daß  die 
Nachricht  alsbald  von  der  deutschen  Presse  in  einer  Form  übernommen 
werden  würde,  die  keinen  Zweifel  darüber  lasse,  daß  die  in  Aussicht 
genommene  Verwendung  des  Generals  von  Liman  in  einer  höheren 
Stellung  im  Einverständnis  mit  der  Kaiserlichen  Regierung  erfolge. 

Herr  Sasonow  wiederholte  nun  in  längeren  Auseinandersetzungen 
seinen  bekannten  Standpunkt  und  sein  Erstaunen,  daß  er  bei  uns  so 
wenig  Verständnis  für  die  berechtigte  Erregung  finde,  welche  die  An- 

294 


gelegenheit  hier  hervorrufen  müsse.  Ich  erklärte  dem  Minister,  daß 
uns  dieses  Verständnis  allerdings  fehle,  da  nach  unserer  Auffassung  es 
einfach  unlogisch  sei,  gegen  eine  deutsche  Militärmission  in  der  Türkei 
an  sich  keine  Einwendungen  zu  erheben,  sich  aber  über  die  Art,  wie 
diese  Mission  ihre  Aufgabe  zu  erfüllen  für  angezeigt  halte,  zu  erregen. 

Der  Minister  warf  nun  die  Frage  auf,  wie  sich  die  Militärmission 
verhalten  würde,  falls  die  Türkei  mit  irgendeiner  Macht  in  kriegerische 
Verwickelungen  geraten  sollte.  Ich  erwiderte,  man  möge  sich  in  dieser 
Beziehung  hier  nicht  weiter  beunruhigen.  Es  scheine  mir  wenig  wahr- 
scheinlich, daß  die  Türkei  in  absehbarer  Zeit  an  kriegerische  Unter- 
nehmungen dächte,  und  die  Eventualität,  daß  General  von  Liman  an 
der  Spitze  seines  türkischen  Korps  gegen  Rußland  zu  Felde  ziehe, 
verdiene  nach  meiner  Überzeugung  bei  unseren  Besprechungen  nicht 
ernstlich  ins  Auge  gefaßt  zu  werden. 

Ich  bemerkte  dann,  wenn  der  Minister  uns  Mangel  an  Verständnis 
für  den  russischen  Standpunkt  vorwerfe,  so  könne  ich  ihm  diesen  Vor- 
wurf nur  zurückgeben.  Man  werde  bei  uns  nie  und  nimmermehr  ver- 
stehen, wieso  das  aktive  Kommando  des  Generals  von  Liman  über  das 
Armeekorps  von  Konstantinopel  einen  unfreundlichen  Akt  gegen  Rußland 
darstellen  solle,  während  über  die  Stellung  der  türkischen  Flotte  sowie 
sämtlicher  türkischer  Marineanstalten  unter  englisches  Kommando  und 
den  Ankauf  eines  der  größten  Dreadnoughts  der  Welt  für  die  Türkei, 
noch  dazu  mit  französischem  Gelde,  kein  Wort  verloren  werde*.  Der 
Minister  versuchte  wie  schon  neulich  nach  echt  russischer  Art  über 
dieses  ihm  unbequeme  Argument  mit  einigen  abfälligen  Bemerkungen 
über  die  türkische  Marine  hinwegzugehen.  Die  Türkei  besitze  über- 
haupt keine  Flotte  und  werde  nie  eine  besitzen  **,  da  ihr  das  geeignete 
Material  zur  Bemannung  von  Schiffen  fehle.  Ich  wies  demgegenüber 
auf  die  Tätigkeit  des  türkischen  Kreuzers  „Hamidije"  während  des 
letztes  Krieges  hin,  welche  beweise,  daß  selbst  ein  verhältnismäßig 
kleines  Kriegsschiff  mit  türkischer  Bemannung,  wenn  es  nur  gut 
geführt  werde,  durchaus  keine  quantite  negligeable  sei. 

Übrigens  werde  hier  immer  von  der  Frage  des  Prestige  in  Kon- 
stantinopel gesprochen.  Niemand  in  Deutschland  und  kein  unpartei- 
isch Urteilender  werde  aber  zugeben  können,  daß  die  Ausübung  des 
aktiven  Kommandos  über  ein  türkisches  Korps  durch  einen  deutschen 


*  Ende  Dezember  1913  wurde  bekannt,  daß  die  Pforte  ihren  Botschafter  in 
London  beauftragt  hatte,  Verhandlungen  zwecks  Ankaufs  des  brasilianischen 
Überdreadnougths  „Rio  de  Janeiro"  einzuleiten,  der  in  Elswick  gebaut  wurde. 
Sasonow  hatte  übrigens  allerdings,  charakteristischerweise  nicht  in  London, 
sondern  in  Paris  Vorstellungen  deswegen  erhoben:  „Wir  halten  es  für  höchst 
erwünscht,  in  Zukunft  die  weitere  Erwerbung  von  Panzerschiffen  durch  die 
Türkei  zu  verhindern."  Geheimtelegramme  Sasonows  Nr.  3513  und  3515  vom 
2.  Januar  1914  an  Iswolsky.  Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911 
bis  1914,  ed.  Fr.  Stieve,  IV,  10f.,  14. 
**  Vgl.  dazu  Nr.   15  475,  Fußnote  ***. 

295 


General  dem  deutschen  Vertreter  am  Goldenen  Hörn  ein  größeres  An- 
sehen gebe,  als  es  der  englische  Botschafter,  welcher  die  türkische  Flotte 
hinter  sich  habe,  besitze. 

Ich  wies  dann  darauf  hin,  daß  trotz  des  von  mir  zugegebenen 
mangelnden  Verständnisses  für  den  russischen  Standpunkt,  Euere  Ex- 
zellenz sich  dennoch  im  Interesse  der  guten  Beziehungen  zu  Rußland 
sofort  bereit  erklärt  hätten,  in  Konstantinopel  die  Frage  prüfen  zu 
lassen,  was  etwa  zur  Beruhigung  der  hier  aufgetauchten  Besorgnisse 
geschehen  könne.  Unseren  guten  Willen  müsse  Herr  Sasonow  hieraus 
ersehen.  Ich  bäte  ihn  aber  inständig,  in  der  Frage  nicht  zu  drängen  und 
nicht  auf  der  Festsetzung  eines  bestimmten  nahen  Termines  für  die 
Änderung  in  dem  Verhältnis  des  Generals  von  Liman  zu  bestehen.  Durch 
ein  solches  Drängen  werde  er  der  Sache  nur  schaden.  Ich  hielte  es 
für  ausgeschlossen,  daß  meine  Regierung  sich  auf  die  Festlegung  eines 
solchen  Termins  einlasse.  Wenn  der  Herr  Staatssekretär  vom  Verlaufe 
des  Jahres  gesprochen  habe,  so  sollte  dies  hier  genügen.  Schließlich 
mache  es  keinen  Unterschied,  ob  General  von  Liman  sein  Kommando 
im  April  oder  im  Dezember  niederlege.  Die  Hauptsache  sei,  daß  im 
Prinzip  dem  russischen  Bedenken  Rechnung  getragen  werde. 

Der  Minister  möge  nicht  vergessen,  in  welch  schwierige  Lage  das 
russische  Vorgehen  die  Kaiserliche  Regierung  gebracht  habe.  Wären 
die  Verhandlungen  im  Rahmen  eines  vertraulichen  und  freundschaft- 
lichen Gedankenaustausches  zwischen  dem  Berliner  und  Petersburger 
Kabinett  geblieben,  so  würde  es  viel  leichter  gewesen  sein,  dem  rus- 
sischen Standpunkt  einige  Konzessionen  zu  machen.  Seitdem  aber  die 
hiesige  und  französische  Presse  die  Angelegenheit  in  einer  unerhörten 
Weise  aufgebauscht  habe,  und  besonders  nach  dem  Schritt  der  Tripel- 
entente  in  Konstantinopel  sei  die  Frage  ganz  unnötigerweise  zu  einer 
Prestigefrage  geworden.  Bei  dieser  Sachlage  sei  es  für  die  Kaiserliche 
Regierung,  wie  Herr  Sasonow  selbst  einsehen  müsse,  unmöglich,  einen 
Schritt  zu  tun,  der  den  Anschein  erwecken  könnte,  als  wiche  Deutsch- 
land vor  einem  Druck  der  Tripelentente  und  vor  der  Pressekampagne 
zurück.  Ein  solches  Zurückweichen  würde  kein  Leiter  der  deutschen 
Politik  vor  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  verantworten  oder  vor  der 
deutschen  öffentlichen  Meinung  vertreten  können.  Die  einzig  mögliche 
Lösung  sei  daher  die  vom  Herrn  Staatssekretär  in  Aussicht  genommene, 
bei  welcher  es  nicht  darauf  ankomme,  ob  sie  einige  Monate  früher  oder 
später  praktisch  werde. 

Gegen  Ende  der  Unterhaltung  verfiel  Herr  Sasonow  wieder  in 
etwas  versöhnlicheren  Ton.  Er  schilderte  mir  die  Schwierigkeiten  seiner 
Lage  und  bat,  auf  dieselbe  Rücksicht  zu  nehmen.  Die  von  ihm  bisher 
befolgte  Politik  werde  von  „sehr  hoher  und  einflußreicher  Seite"  be- 
kämpft. Man  halte  ihm  vor,  daß  die  deutsche  Militärmission  der  Dank 
für  den  Besuch  des  Kaisers  Nikolaus  an  unserem  Hofe,  sowie  für  seinen 
und  des  Herrn  Kokowzow  Besuche  in  Berlin  sei,  und  daß  seine  deutsch- 

296 


freundliche  Politik  Rußland  von  einer  diplomatischen  Niederlage  zur 
anderen  führe. 

Diese  Äußerungen  scheinen  mir  besonders  bemerkenswert,  weil 
sie  meine  an  anderer  Stelle  geäußerte  Vermutung  bestätigen,  daß 
Herr  Sasonow  in  seiner  Haltung  in  der  Frage  der  Militärmission  durch 
die  hiesigen  deutschfeindlichen  Kreise  stark  beeinflußt  wird.  Wen  der 
Minister  mit  der  sehr  hohen  und  einflußreichen  Seite  meinte,  weiß 
ich  nicht,  denn  es  ist  mir  bis  jetzt  noch  nicht  gelungen,  festzustellen, 
ob  etwa  der  Großfürst  Nikolai  Nikolajewitsch,  der  bekanntlich  in  diesem 
Winter  ziemlich  in  Ungnade  gefallen  war,  sich  beim  Zaren  wieder  Ein- 
fluß zu  verschaffen  gewußt  hat.  Möglicherweise  hatte  Herr  Sasonow 
bei  seiner  Äußerung  einflußreiche  Reichsratkreise  im  Auge.  Für  die 
in  diesen  Kreisen  anscheinend  vielfach  vertretene  Auffassung  scheint 
mir  eine  Äußerung,  die  der  Graf  Witte  neulich  getan  hat,  bezeichnend: 
„Den  Deutschen  könne  er  ihr  Vorgehen  nicht  verdenken,  sie  hätten 
mit  der  Militärmission  wieder  einen  genialen  Coup  ausgeführt.  Für 
Rußland  bedeute  aber  die  Mission  des  Generals  von  Liman  eine  neue 
ernste  Schlappe,  die  es  seiner  unfähigen  Diplomatie  zu  verdanken 
habe." 

Schließlich  kam  der  Minister  wieder  darauf  zurück,  wie  wertvoll 
es  für  ihn  sein  würde,  ein  offiziöses  Communique  hier  veröffentlichen 
zu  können  und  darin  etwa  zu  sagen,  die  Frage  der  Militärmission  be- 
säße keineswegs  die  Schärfe,  die  ihr  vielfach  beigelegt  würde.  Sie 
bilde  den  Gegenstand  freundschaftlicher  Verhandlungen  zwischen  beiden 
Kabinetten,  von  denen  man  hoffen  dürfe,  daß  sie  bald  zu  einem  be- 
friedigenden Ergebnis  führen  würden*. 

Ich  sagte  dem  Minister,  ich  wüßte  nicht,  ob  Euere  Exzellenz  eine 
solche  Veröffentlichung  in  dem  gegenwärtigen  Stadium  der  Angelegen- 
heit für  wünschenswert  halten  würde,  auch  könnte  ich  nicht  umhin  zu 
bezweifeln,  daß  dieselbe  den  hiesigen  Hetzern  genügen  und  sie  be- 
ruhigen würde. 

F.  Pourtales 


Bemerkung  von  Bethmann  Hollwegs  am  Schluß  des  Schriftstücks: 
Ich  sehe  nicht  ein,  warum  wir  gegen  ein  solches  Communique'  Widerspruch  er- 
heben  sollten.    Es   entspricht   den   Tatsachen,   und   wird   nicht  Lügen  gestraft 


•  Vgl.  dazu  auch  den  Bericht  Delcass€s  vom  13.  Januar  (Französisches 
Oelbbuch:  Les  Affaires  Balkaniques,  III,  105),  der  das  Sasonowsche  Verlangen 
nach  einem  entgegenkommenden  deutschen  Communique  in  wesentlich  schroffere 
Formen  kleidet:  „II  demande  donc  au  Cabinet  de  Berlin  ,de  l'aviser  du  terme 
approximatif  qu'il  trouve  necessaire  de  fixer*.  —  Si  le  Gouvernement  allemand 
adhere  ä  ce  point  de  vue,  une  communication  pourra  £tre  faite  ä  la  presse, 
portant  que  les  deux  gouvernements  esperent  arriver  ä  bref  d£lai  ä  une 
Solution  satisfaisant  leurs  int£r£ts  reciproques  et  repondant  d'autre  part  aux 
liens  d'amitie  unissant  les  deux  Empires.  —  M.  Sasonoff  exprime  le  desir  d'etre 
inform£  le  plus  tot  possible  de  la  r£solution  du  Gouvernement  allemand." 

297 


werden,  nachdem  die  Beförderung  des  Generals  Liman  zum  General  der 
Kavallerie  gesichert  ist.  Außerdem  erleichtert  es  uns  unsere  eigene  Stellung, 
indem  es  den  Rücktritt  des  Generals  Liman  von  dem  Kommando  des  1.  Armee- 
korps nicht  als  eine  Folge  der  Demarchen  der  Tripelentente,  sondern  als  Folge 
unserer   freundschaftlichen    Pourparlers  mit   Rußland  erscheinen   läßt. 

B.  H.  14/1. 


Nr.  15  520 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  5  St.  Petersburg,  den  10.  Januar  1914 

Ich  gewinne  mehr  und  mehr  den  Eindruck,  daß  bei  der  Hetze 
gegen  die  deutsche  Militärmission  in  der  Türkei  von  Anfang  an  die- 
jenigen hiesigen  und  auswärtigen  Kreise  ihre  Hand  im  Spiel  gehabt 
haben,  welche  die  guten  Beziehungen  zwischen  Deutschland  und  Ruß- 
land zu  stören  bestrebt  sind,  und  daß  die  ganze  Hetze  auf  diese  Kreise 
in  erster  Linie  zurückzuführen  ist.  Es  läßt  sich  zwar  nicht  beweisen, 
aber  viele  Anzeichen  sprechen  dafür,  daß  die  Erregung  über  die  Militär- 
mission von  Personen  ausgegangen  und  geschürt  worden,  die  wäh- 
rend des  Aufenthalts  des  Kaisers  Nikolaus  in  Livadia  auf  den  Monarchen 
Einfluß  auszuüben  Gelegenheit  hatten.  Jedenfalls  fiel  mir  gleich  bei 
den  ersten  Unterredungen,  die  ich  mit  Herrn  Sasonow  über  die  An- 
gelegenheit hatte,  auf,  daß  der  Minister  wiederholt  bemerkte,  er  sei 
„in  Livadia"  mit  der  Nachricht  von  der  Ausübung  des  aktiven  Kom- 
mandos durch  General  von  Liman  „überrascht"  worden.  Ebenso  war 
eine  sehr  bemerkenswerte  Änderung  in  der  Haltung  und  Sprache  des 
Ministerpräsidenten  Kokowzow  zu  bemerken,  als  er  nach  seiner  Rück- 
kehr aus  dem  Auslande  zum  Immediatvortrag  bei  seinem  kaiserlichen 
Herrn  in  Livadia  gewesen  war*.  Die  äußerst  nervöse  Stimmung,  in 
der  beide  Minister  vom  kaiserlichen  Hoflager  hierher  zurückgekehrt 
sind,  in  Verbindung  mit  dem  Umstand,  daß  besonders  Herr  Sasonow 
zu  Anfang  vorwiegend  militärische  Momente  anführte,  um  die  russi- 
schen Besorgnisse  wegen  der  Militärmission  zu  begründen,  scheinen 
auf  militärische  Einflüsse  hinzudeuten,  welche  in  Livadia  die  miltärische 
Lage  Rußlands  als  durch  die  deutsche  Militärmission  in  der  Türkeil  be- 
droht hingestellt  haben.  Es  war  bezeichnend,  daß  Herr  Sasonow  im 
weiteren  Verlauf  der  Unterredungen  die  militärischen  Gesichtspunkte 
ganz  zurücktreten  ließ,  um  dann  desto  stärker  das  politische  Moment: 
die   angebliche   Störung   des   Gleichgewichts   der   Mächte   in   Konstan- 

*  Vgl.  Nr.  15  478. 
298 


tinopel  hervorzuheben.  Es  unterliegt  für  mich  keinem  Zweifel,  daß 
sich  die  Hetze  anfangs  gegen  unsere  Militärmission  überhaupt  richtete 
und  daß  man  sich  auf  die  Bedenken  gegen  das  „aktive  Kommando" 
zurückzog,  als  man  sich  erinnerte,  daß  die  Frage  der  Militärmissiom 
bereits  im  Frühjahr  zwischen  unseren  beiden  Monarchen  besprochen 
worden  war. 

Trifft  meine  Vermutung  zu,  daß  es  ursprünglich  militärische  Ein- 
flüsse gewesen  sind,  von  denen  die  Hetze  gegen  die  Militärmission 
ausgegangen  ist*,  so  liegt  es  nahe,  zunächst  an  die  dem  Großfürsten 


*  Das  scheint  bestätigt  zu  werden  durch  einen  Bericht  des  Militärattaches  in 
Petersburg  Majors  von  Eggeling  vom  3.  Januar  (Nr.  1),  in  dem  er  ein- 
gehende Mitteilungen  über  ein  Gespräch  mit  russischen  Generalstabsoffizieren 
bezüglich  der  Stellung  Rußlands  zur  deutschen  Militärmission  in  Konstantinopel 
machte.    Es  heißt  in  dem  Bericht  unter  anderem: 

„Man  führte  mir  mit  der  größten  Offenheit  etwa  folgendes  aus:  Eines 
Tages  werden  wir  mit  der  Türkei  abrechnen.  Dann  wünschen  wir  sie 
schwach  zu  finden.  Sie  wird  militärisch  erstarken  durch  die  deutsche  Reform- 
tätigkeit in  der  jetzt  gewählten  Form.  Darum  hätten  wir  nichts  eingewendet 
gegen  eine  vorwiegend  beratende  Tätigkeit  der  deutschen  Offiziere,  die  ebenso- 
wenig durchgreifend  hätte  wirken  können  wie  früher.  Jetzt  hat  man  aber 
eine  Organisation  gewählt,  die  Erfolg  verspricht.  Darum  wollen  wir  nicht  diese 
unmittelbare  Kommandogewalt  der  deutschen  Generale.  .  .  .  Des  weiteren  sprach 
man  sich  im  Generalstab  mit  gleicher  Offenheit  dahin  aus,  die  russische  Diplo- 
matie habe  sich  in  der  ganzen  Frage  der  Militärmission  an  die  falsche  Adresse 
gewandt.  Sie  hätte  Deutschland  überhaupt  auslassen  und  sich  mit  der  kate- 
gorischen Forderung  an  die  Türkei  wenden  sollen,  die  betreffs  der  Militär- 
mission getroffenen  Vereinbarungen  rückgängig  zu  machen.  Mein  Einn 
wurf,  daß  die  Türkei  doch  bis  jetzt  noch  ein  souveräner  Staat  sei,  erfuhr 
die  Erwiderung,  ein  solches  Vorgehen  Rußlands  sei  nur  das  gleiche,  wie 
es  Österreich  gegen  Serbien  in  der  Adriafrage  mit  Erfolg  angewendet  habe. 
Einer  eigentümlichen  Auffassung  begegnete  ich  auch  bezüglich  der  Reform- 
tätigkeit englischer  Offiziere  in  der  türkischen  Marine.  Die  in  dieser  Frage 
auffallend  ruhige  Haltung,  die  erst  letzthin  in  der  russischen  Presse  gelegent- 
lich eine  etwas  erregtere  Besprechung  gefunden  hat,  erklärt  man  mit  der 
operativen  Bedeutungslosigkeit  der  türkischen  Flotte  selbst  nach  einer  durch- 
greifenden Reform.  Ein  Kampf  um  die  Dardanellen  werde  stets  zu  Lande  aus- 
getragen werden!  Der  Bedeutung  einer  unbestrittenen  Seeherrschaft  der 
Russen  im  Schwarzen  Meere  bei  einem  Kampf  in  Armenien  —  ganz  abgesehen  von 
einem  solchen  um  die  Dardanellen  —  ist  man  sich  augenscheinlich  nicht  bewußt. 
Auch  wurde  mit  besonderem  Nachdruck  das  politische  Verhältnis  der  beteiligten 
Staaten  betont.  Man  stehe  nun  einmal  mit  England  in  der  Entente,  mit  Deutsch- 
land aber  in  keinerlei  Bundesverhältnis.  Darum  verdiene  eine  von  Deutschen 
ausgebildete  türkische  Armee  eine  andere  Bewertung  als  eine  von  Engländern 
reformierte  türkische  Flotte.  Das  kommt  also  auf  die  höchst  eigenartige  Auf- 
fassung heraus,  als  ob  man  es  bei  einem  Kriege  gegen  die  Türkei  mit  einer 
deutschen  Armee,  aber  nicht  mit  einer  englischen  Flotte  zu  tun  habe.  Sie 
begründet  sich  augenscheinlich  auf  eine  völlige  Verblendung  in  der  Be- 
urteilung des  englisch-russischen  Ententeverhältnisses.  In  ausführlicher  Weise 
wurde  mir  dargelegt,  wie  alle  Reibungsflächen  zwischen  den  beiden  Mächten 
geschwunden  seien,  seit  man  sich  in  Persien  geeinigt  und  alle  verständigen 
Leute  angebliche  Aspirationen  Rußlands  auf  Indien  als  eine  Utopie  anerkannt 
hätten.    Damit  sei  ja  alle  Rivalität  und  auch  jeder  Einwand  Englands  gegen  die 

299 


Nikolai  Nikolajewitsch  nahestehenden  Kreise  zu  denken,  deren  Hetz- 
arbeit während  der  Krisis  des  vorigen  Winters  wiederholt  zutage 
trat,  und  die  auch  jetzt  wieder  in  deutschfeindlichem  Sinne  tätig  ge- 
wesen sein  mögen.  Man  wird  aber  auch  gewiß  in  der  Annahme  nicht 
fehlgehen,  daß  von  den  höheren  Militärs  und  Marineoffizieren  von 
Odessa  und  Sewastopol,  welche  in  Livadia  Gelegenheit  hatten,  sich 
dem  Zaren  zu  nähern,  und  deren  Augenmerk  naturgemäß  in  erster 
Linie  auf  die  Meerengen  und  die  Türkei  gerichtet  sind,  mancher  sich 
denjenigen  angeschlossen  hat,  welche  wegen  unserer  Militärmission 
Alarm  zu  schlagen  für  nötig  gefunden  haben.  Würde  Herr  Sasonow 
nicht  von  einer  Seite  gehetzt  worden  sein,  die  auch  die  Anschauungs- 
weise des  Kaisers  Nikolaus  zu  beeinflussen  gewußt  hat,  so  würde  der 
Minister,  wie  ich  ihn  zu  kennen  glaube,  die  ganze  Angelegenheit  nicht 
so  leidenschaftlich  aufgegriffen  haben,  wie  er  es  gleich  bei  den  ersten 
Unterredungen  mit  Herrn  von  Lucius  getan  hat.  In  den  meisten  Fällen, 
in  denen  er  während  der  vorigjährigen  Krisis  sich  zu  unüberlegten 
heftigen  Äußerungen  und  Schritten  hinreißen  ließ,  konnten  ähnliche  Ein- 
flüsse, die  auf  ihn  eingewirkt  hatten,  festgestellt  werden. 

Die  erregte  Stimmung,  in  welcher  der  Minister  aus  Livadia  hier- 
her zurückkehrte,  führte  dazu,  daß  er,  wahrscheinlich  auch  von  unseren 
Gegnern  in  seinem  eigenen  Ministerium  gedrängt,  um  uns  einzu- 
schüchtern, sofort  die  Tripelentente  mobil  zu  machen  suchte  und 
auch  sonst  im  ersten  Unmut  manche  Geister  rief,  die  er  bald  darauf 
gewiß  gern  wieder  los  geworden  wäre. 

Ich  möchte  bezweifeln,  daß  die  hiesige  Presse  die  Angelegenheit 
in  der  Weise  aufgebauscht  hätte,  wie  es  geschehen  ist,  wenn  nicht 
vom  Ministerium  des  Äußern  aus  in  das  Feuer  geblasen  worden  wäre. 
Es  mußte  aber  auch  sofort  auffallen,  daß  die  Zeitungen  und  ganz  be- 
sonders die  „Nowoje  Wremja"  sich  bei  ihren  Angriffen  gegen  uns 
beinahe  wörtlich  derselben  Argumente  bedienten,  die  Herr  Sasonow 
mir  gegenüber  verwertete.  Daß  in  dieser  Preßkampagne  auch  die 
Unterstützung  der  „Nowoje  Wremja"  mit  in  Anspruch  genommen 
worden  ist,  sollte  eigentlich  nur  mit  Einwilligung  des  Herrn  Sasonow 


Freigabe  der  Dardanellen  und  das  Erscheinen  russischer  Kriegsschiffe  im 
Mittelmeer  geschwunden." 

Zu  diesen  Darlegungen  aus  russischen  Generalstabskreisen  gibt  Major  von  Egge- 
ling  noch  folgenden  Kommentar:  „Diese  Auffassungen  und  Anschauungen 
scheinen  mir  insofern  eine  gewisse  Beachtung  zu  verdienen,  als  sie  offenbar 
diejenigen  der  leitenden  militärischen  Kreise  widerspiegeln.  Ihre  im  Grunde 
genommen  selbstverständlich  offensive  Tendenz  wird  zeitweilig  gemildert  durch 
die  im  Interesse  des  Heeres  liegende  und  klar  erkannte  Notwendigkeit  einer 
mehrjährigen  Ruhe.  Für  diese  Frist  dürfte  also  eine  friedfertige  Politik  Ruß- 
lands voraussichtlich  eine  Stütze  in  den  Ratschlägen  der  maßgebenden  Militärs 
finden,  falls  nicht  unerwartete  Komplikationen  eintreten." 

300 


geschehen  sein.  Bei  den  Zuständen,  die  im  hiesigen  Ministerium  herr- 
schen, ist  es  aber  keineswegs  ausgeschlossen,  daß  die  Gegner  einer 
deutschfreundlichen  Politik  auf  eigene  Hand  vorgegangen  sind.  Die 
überraschenden  Indiskretionen,  die  in  der  vorigen  Woche  in  der  „No- 
woje  Wremja"  erschienen,  dürften  auf  diese  Kreise  zurückzuführen 
sein.  Daß  Herr  Sasonow  dieselben  veranlaßt  hat,  möchte  ich  bis  auf 
weiteres  nicht  annehmen. 

Daß  die  Hetzereien  der  „Nowoje  Wremja"  sich  sehr  bald  gegen 
den  Minister  selbst  wenden  würden,  mußte  er  nach  den  Erfahrungen 
des  vorigen  Winters  selbst  voraussehen.  In  der  Tat  wird  dem  Minister 
auch  bereits  vorgeworfen,  daß  nur  seine  schwächliche  Politik  diesen 
neuen  deutschen  Sieg  herbeigeführt  habe,  und  es  wird  auf  das  heftigste 
gegen  das  „faule  Kompromiß"  zu  Felde  gezogen,  welches  er  jetzt  mit 
uns  zu  vereinbaren  bemüht  ist. 

So  ist  denn  nicht  zu  leugnen,  daß  Herr  Sasonow  sich  augenblicklich 
in  einer  recht  schwierigen  Lage  befindet,  an  der  er  allerdings  zum 
Teil  selbst  die  Schuld  trägt.  Man  wird  ihm  nach  meiner  Überzeugung 
vollen  Glauben  schenken  können,  wenn  er  versichert,  daß  er  jetzt  von 
allen  Seiten  bedrängt  wird,  und  daß  es  für  ihn  von  größtem  Wert  wäre, 
etwas  zur  Beruhigung  der  Gemüter  veröffentlichen  zu  können.  Es 
wäre  aber  zu  der  Erregung  der  öffentlichen  Meinung,  wie  sie  jetzt 
allerdings  allmählich  entstanden  ist,  nicht  gekommen,  wenn  diese  Er- 
regung nicht  künstlich  erzeugt  worden  wäre.  Man  muß  sich  dabei 
immer  vor  Augen  halten,  daß,  wenn  auch  die  „Nowoje  Wremja"  in 
letzter  Zeit  an  Bedeutung  verloren  hat,  weite  hiesige  Kreise,  insbe- 
sondere die  nationalistischen  Dumaabgeordneten  und  der  größte  Teil 
der  Beamtenwelt,  sich  in  ihren  Ansichten  über  auswärtige  Politik 
vorwiegend  von  der  „Nowoje  Wremja"  beeinflussen  lassen. 

So  können  denn  die  Hetzer,  welche  sich  zur  Aufgabe  gestellt 
haben,  die  guten  Wirkungen  des  Zarenbesuchs  bei  unserem  aller- 
höchsten Hofe  sowie  der  Besuche  der  Herren  Kokowzow  und  Sasonow 
in  Berlin  zu  stören,  auf  einen  vollen  Erfolg  blicken.  Ich  bin  überzeugt, 
daß  die  Herren  Kokowzow  und  Sasonow  an  dem  Wunsche,  freund- 
liche Beziehungen  mit  uns  zu  pflegen,  festhalten  und  diese  Wendung 
aufrichtig  bedauern,  man  wird  aber  beide  Herren  nicht  von  dem  Vor- 
wurf freisprechen  können,  daß  sie  die  unnötige  Aufbauschung  einer 
Frage  zugelassen  haben,  die  auf  dem  Wege  eines  freundschaftlichen  und 
vertraulichen  Gedankenaustausches  zwischen  beiden  Kabinetten  zur 
beiderseitigen  Zufriedenheit  hätte  geregelt  werden  können.  Ich  habe 
mich  in  diesem  Sinne  Herrn  Sasonow  gegenüber  sehr  offen  ausge- 
sprochen und  ihm  gegenüber  besonders  nach  den  Indiskretionen  der 
„Nowoje  Wremja"  eine  etwas  kühle  Zurückhaltung  beobachtet. 

F.  Pourtales 


301 


Nr.  15  521 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Staatssekretärs  von  Jagow 

Nr.  9  Berlin,  den  15.  Januar  1914 

Seine  Majestät  der  Kaiser  haben  dem  General  von  Liman  Cha- 
rakter eines  Generals  der  Kavallerie  verliehen.  Pforte  wird  nunmehr 
seine  Ernennung  zum  Marschall  veranlassen,  womit  Kommando  über 
Armeekorps  von  selbst  wegfällt.  Wir  betrachten  hiermit  Angelegen- 
heit als  im  Sinne  der  Herrn  Kokowzow  gegebenen  Zusicherungen 
erledigt. 

v.  Bethmann  Hollweg 

Nr.  15  522 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt* 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  9  St.  Petersburg,  den  15.  Januar  1914 

Bei  gestrigem  Neujahrsempfang  erwähnte  Seine  Majestät  der  Kaiser 
Nikolaus  kurz  Angelegenheit  des  Generals  von  Liman  und  bemerkte, 
es  sei  guter  Jahresanfang,  daß  dieselbe  „applaniert"  sei.  Herr  Sa- 
sonow  bemerkte,  daß  er  offizielle  Bestätigung  über  Änderung  in  Stel- 
lung des  Generals  noch  nicht  erhalten  habe.  Ich  erwiderte,  nach  Zei- 
tungsnachrichten scheine  mir  hierüber  kein  Zweifel  zu  bestehen  **. 
Wäre  dankbar  für  Mitteilung  über  Stand  der  Angelegenheit. 

Pourtales 


*  Bereits  veröffentlicht  im  deutschen  „Weißbuch  betreffend  die  Verantwortlich- 
keit der  Urheber  des  Krieges",  S.  151. 

**  Schon  am  12.  Januar  hatten,  wie  Baron  von  Etter  an  diesem  Tage  an  Sasonow  tele- 
graphierte (v.  Siebert,  Diplomatische  Aktenstücke^,  a.  O.,  S.  670),  die  Agenturtele- 
gramme berichtet,  daß  General  Liman  das  Kommando  über  das  Armeekorps  abgebe 
und  nur  Inspekteur  der  Armee  und  Direktor  der  Militärschule  bleibe.  Am  13.  Januar 
hatte  dann  Sasonow  selbst  bei  Botschafter  von  Giers  in  Konstantinopel  angefragt,  ob 
die  Ernennung  Limans  zum  Inspekteur  der  Armee  bedeute,  daß  ihm  die  allgemeine 
Inspektion  des  türkischen  Heeres  übertragen  werde,  oder  daß  er  die  Inspektion  über 
den  1.  Militärbezirk  erhalte  und  damit  faktisch  das  Kommando  über  die  Konstanti- 
nopeler  Truppen  in  Händen  behalte.  Dieser  Punkt  spielte  auch  eine  große  Rolle 
bei  der  „Sonderkonferenz",  die  unter  dem  Vorsitz  des  Ministerpräsidenten 
Kokowzow  und  unter  Teilnahme  des  Kriegsministers  Suchomlinow,  des  Marine- 
ministers Gregorowitsch,  des  Außenministers  Sasonow  und  des  Generalstabschefs 
Shilinski  am  13.  Januar  zu  einer  Erörterung  der  Frage  zusammentrat,  welche  „Nöti- 
gungsmaßregeln" zur  Durchsetzung  der  russischen  Forderungen  in  Aussicht  genom- 

302 


Nr.  15  523 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  15  St.  Petersburg,  den  18.  Januar  1914 

Ministerpräsident  Kokowzow,  den  ich  gestern  sah,  und  dem  ich 
von  dem  Inhalt  Euerer  Exzellenz  Mitteilung  betreffend  die  Rang- 
erhöhung des  Generals  Liman  von  Sanders  Kenntnis  gab,  sprach  mir 
in  sehr  herzlichen  und  warmen  Worten  seine  Freude  über  die  Er- 
ledigung der  Angelegenheit  aus.  Er  nehme  an,  daß  General  von 
Liman  nunmehr  eine  ähnliche  Stellung  in  Konstantinopel  bekleiden 
werde,  wie  sie  Goltz  Pascha  innegehabt  habe,  und  halte  die  Lösung  für 
eine  befriedigende.  Der  Ministerpräsident  bemerkte,  Seine  Majestät 
der  Kaiser  Nikolaus  sei  unserem  allergnädigsten  Herrn  sehr  dank- 
bar für  das  in  der  Frage  bewiesene  Entgegenkommen  und  das  Be- 
streben, einen  Weg  zu  finden,  um  den  russischen  Wünschen  Rechnung 
zu   tragen.    Sein    kaiserlicher   Herr  und    er  selbst   legten    den   aller- 


men  werden  müßten  (M.  Pokrowski,  Drei  Konferenzen,  S.  32  ff.).  In  der  Versamm- 
lung bestand  volles  Einvernehmen  darüber,  daß  eine  Lösung  der  Frage,  die  irgend- 
eine Kommandogewalt  in  den  Händen  Limans  belasse,  gleichwohl  ob  in  Konstanti- 
nopel oder  anderwärts,  nicht  akzeptiert  werden  könne.  Als  „Nötigungsmaßnahme" 
wurde  von  der  Sonderkonferenz  die  Besetzung  irgendeines  Punkts  in  Kleinasien, 
beispielsweise  Trapezunts  oder  Bajasids,  ins  Auge  gefaßt,  die  von  der  Erklärung 
begleitet  sein  sollte,  daß  Rußland  dort  bis  zur  Durchsetzung  seiner  Forderungen 
verbleiben  werde.  Natürlich  waren  sich  die  Teilnehmer  der  Sonderkonferenz 
durchaus  dessen  bewußt,  daß  man  damit  die  Gefahr  eines  europäischen  Krieges 
heraufbeschwöre;  eben  deshalb  sollte  zu  dem  Mittel  nur  dann  gegriffen  werden, 
wenn  man  sich  durch  Verhandlungen  in  Paris  und  London  die  Gewißheit  ver- 
schafft haben  werde,  daß  die  beiden  Ententegenossen  für  die  gemeinsamen 
Interessen  bis  zu  Ende  eintreten  würden.  Frankreichs  glaubte  man  ja  durchaus 
sicher  zu  sein,  da  Delcasse  Sasonow  im  Namen  des  französischen  Außen- 
ministers versichert  hatte,  daß  Frankreich  unter  allen  Umständen  so  weit  gehen 
würde,  wie  Rußland  es  wünsche.  Weniger  sicher  fühlte  man  sich  der  aktiven 
Teilnahme  Englands,  die  aber  allseitig  für  unumgänglich  nötig  erachtet  wurde. 
Schließlich  einigte  sich  die  Konferenz  dahin,  daß  man  zu  Druckmitteln,  die  einen 
Krieg  mit  Deutschland  zur  Folge  haben  könnten,  nur  dann  greifen  dürfe,  wenn 
die  aktive  Beteiligung  sowohl  Frankreichs  als  auch  Englands  an  den  gemein- 
samen Schritten  absolut  gesichert  sei.  Bemerkenswert  ist,  daß,  während  in  der 
ganzen  Liman  Sanders-Krise  nach  Ausweis  der  Akten  auf  deutscher  Seite  der 
Kriegsfall  nicht  ein  einziges  Mal  in  Betracht  gezogen  wurde,  Ministerpräsident 
Kokowzow,  selbst  zwar  Gegner  eines  Krieges  mit  Deutschland,  in  der  Sonder- 
konferenz vom  13.  Januar  mit  aller  Präzision  die  Frage  stellte:  „Ist  der  Krieg 
mit  Deutschland  erwünscht  und  kann  Rußland  ihn  führen?",  und  daß  der 
Kriegsminister  wie  der  Chef  des  Generalstabes  daraufhin  „kategorisch  die  volle 
Bereitschaft  Rußlands  zum  Zweikampf  mit  Deutschland,  von  einem  Zweikampf 
mit  Österreich  schon  gar  nicht  zu  reden,"  erklärten  (Pokrowski,  a.  a.  O., 
S.   42). 

303 


größten  Wert  auf  ein  freundschaftliches  und  vertrauensvolles  Verhält- 
nis zu  Deutschland  und  hätten  besonders  aus  diesem  Grunde  das  nun- 
mehr glücklich  beigelegte  Mißverständnis  bedauert.  Herr  Kokowzow 
gab  bei  dieser  Gelegenheit  der  großen  Verehrung,  die  er  für  Seine 
Majestät  unseren  Kaiser  hege,  Ausdruck  und  betonte  dann,  wie  sehr 
ihm  daran  liege,  die  mit  Euerer  Exzellenz  angeknüpften  persönlichen 
vertrauensvollen  Beziehungen  zu  pflegen.  Er  fügte  hinzu,  daß  auch 
Kaiser  Nikolaus  stets  in  den  gnädigsten  Ausdrücken  über  Euere  Ex- 
zellenz spreche.  Die  Worte  des  Ministerpräsidenten  klangen  sehr 
herzlich  und  machten  einen  aufrichtigen  Eindruck. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Unterredung  bemerkte  Herr  Kokowzow, 
auch  wir  würden,  wie  er  annehme,  mit  der  von  der  russischen  Re- 
gierung in  der  Angelegenheit  beobachteten  Haltung  zufrieden  sein. 
Trotz  der  für  Rußland  sehr  großen  Bedeutung  der  Frage  sei  hier  von 
vornherein  auch  auf  den  deutschen  Standpunkt  Rücksicht  genommen 
worden. 

Auf  diese  Bemerkung  konnte  ich  nicht  umhin  zu  erwidern,  daß  es 
uns  von  hier  aus  nicht  gerade  leicht  gemacht  worden  sei,  Rußland, 
wie  es  von  vornherein  der  Wunsch  Euerer  Exzellenz  gewesen  sei,  in 
der  Frage  entgegenzukommen.  Ich  wies  dabei  auf  den  Schritt  der 
Tripelentente  in  Konstantinopel  und  auf  die  Indiskretionen  in  der 
Presse  hin.  Herr  Kokowzow  ging  auf  meine  Bemerkung  über  den 
Schritt  der  Tripelentente  nicht  näher  ein,  sprach  über  die  Indiskretionen 
in  der  Presse  sein  lebhaftes  Bedauern  aus.  Er  machte  direkt  das  fran- 
zösische Ministerium  des  Äußeren  für  diese  Indiskretionen  verantwort- 
lich. Er  selbst  sei  jetzt  so  vorsichtig  geworden,  daß  er  vor  einigen 
Tagen  sogar  abgelehnt  habe,  einen  ihm  von  Herrn  Sasonow  emp- 
fohlenen Korrespondenten  des  „Temps"  zu  empfangen,  um  mit  gutem 
Gewissen  sagen  zu  können,  daß  er  keinen  französischen  Journalisten 
in  der  letzten  Zeit  gesehen  habe. 

Herr  Sasonow,  den  ich  nach  Herrn  Kokowzow  sah,  äußerte  sich 
zwar  auch  dankbar  über  das  Entgegenkommen  Euerer  Exzellenz, 
er  beschränkte  sich  aber  darauf,  „die  Hoffnung"  auszudrücken,  daß 
der  Zwischenfall  nunmehr  erledigt  sei.  Er  sprach  sich  im  übrigen  viel 
zurückhaltender  und  kühler  aus  als  der  Ministerpräsident.  Ich  habe 
Hern  Sasonow  sehr  bestimmt  erklärt,  daß  ich  nach  den  mir  von 
Euerer  Exzellenz  zugegangenen  Informationen,  und  nachdem  mir  Seine 
Majestät  der  Kaiser  Nikolaus  selbst  die  Angelegenheit  als  „applanie" 
bezeichnet  habe,  dieselbe  als  endgültig  erledigt  ansehe. 

F.  Pourtales 


304 


Nr.  15  524 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  19  Pera,  den  20.  Januar  1914 

Die  Ernennung  General  Liman  von  Sanders'  zum  türkischen  Mar- 
schall und  die  Beschränkung  seiner  Funktionen  auf  die  ihm  aus  seinem 
Kontrakt  zustehenden  allgemeinen  Inspektionsrechte  dürften  sowohl 
im  deutschen  wie  auch  im  türkischen  Interesse  liegen.  Rußland  gegen- 
über mag  immer  darauf  hingewiesen  werden,  daß  General  Liman  auf 
ein  wichtiges,  ihm  kontraktlich  zugesichertes  Recht,  das  Kommando 
über  das  I.  Armeekorps,  verzichtet  hat,  in  Wirklichkeit  gewinnt  der 
Generalinspekteur,  was  der  kommandierende  General  verliert.  Bei 
dem  Tempo,  mit  dem  gegenwärtig  im  türkischen  Kriegsministerium 
gearbeitet  wird,  wären  beide  Funktionen  für  einen  Mann  auf  die  Dauer 
zu  viel  gewesen.  General  Liman  ist  denn  auch  von  seiner  neuen  Stel- 
lung äußerst  befriedigt.  Dies  ist  die  militärisch-technische  Seite  der 
Angelegenheit.  In  politischer  Beziehung  bietet  die  eingetretene  Ände- 
rung zunächst  den  großen  Vorteil,  daß  General  Liman  aus  allen 
etwaigen  innerpolitischen  Verwickelungen  der  Türkei  ausscheidet,  was 
für  ihn  als  Kommandeur  des  I.  Armeekorps  schwer,  unter  Umständen 
unmöglich  gewesen  wäre. 

Unter  dem  Gesichtspunkt  der  auswärtigen  Politik  war  es  für  die 
Türkei  ebenso  wünschenswert,  durch  ein  Entgegenkommen  sich  von 
dem  russischen  Druck  etwas  zu  entlasten,  als  es  unserem  Interesse 
entsprach,  Rußland,  welches  sich  in  eine  Sackgasse  verrannt  hatte,  in 
guter  Form  herauszuhelfen1. 

Die  akute  Phase,  in  welche  die  Frage  der  Militärmission  getreten 
war,  dürfte  damit  überwunden  sein.  Man  wird  sich  indessen  meines 
Erachtens  kaum  einer  Täuschung  darüber  hingeben  dürfen,  daß  die 
Wirksamkeit  der  deutschen  Militärmission  auch  weiterhin  sowohl  die 
türkisch-russischen,  wie  die  deutsch-russischen  Beziehungen  beein- 
flussen wird2.  Je  effektiver  sich  die  Reformarbeit  gestaltet,  um  so 
fühlbarer  wird  dies  werden.  Das  gleiche  gilt  vielleicht  in  noch  höherem 
Grade  von  der  Reorganisation  der  Flotte,  die  in  englischen  Händen 
liegt.  Mit  einigen  wirklich  leistungs-  und  manövrierfähigen  türkischen 
Dreadnoughts  wäre  die  ganze  Stellung  Rußlands  im  Schwarzen  Meere 
verschoben 3.  Nur  sind  eben  die  englisch-russischen  Beziehungen  so 
delikater  Art,  daß  man  mit  Worten  tunlichst  an  diese  Dinge  nicht 
rühren  wird*. 

Mutius 

20    Die  Groß«  Politik.    38.  Bd.  305 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Na!    Von  der  habe  ich  verdeibelt  wenig  gemerkt!! 

2  ja 

3  wird  sie  auch 

4  richtig 

Nr.  15  525 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  28  St.  Petersburg,  den  31.  Januar  1914 

Obgleich  Herr  Sasonovv  jetzt  nicht  umhin  kann  anzuerkennen,  daß 
die  Angelegenheit  der  deutschen  Militärmission  in  der  Türkei  in  einer 
für  Rußland  befriedigenden  Weise  erledigt  ist,  hat  er  es  doch  im 
Gegensatz  zu  Herrn  Kokowzow,  wie  mir  scheint  absichtlich,  vermieden, 
seinem  Dank  für  das  von  der  Kaiserlichen  Regierung  bewiesene  weit- 
gehende Entgegenkommen  einen  besonders  warmen  Ausdruck  zu 
geben  *.  Der  Minister  gibt  offenbar  nicht  gern  zu,  daß  von  deutscher 
Seite  ein  freundlicher  Akt  vorliegt,  der  uns  etwa  berechtigen  könnte, 
bei  sich  bietender  Gelegenheit  von  Rußland  eine  Gegenleistung  zu 
verlangen2.  Herr  Sasonow  möchte  es  anscheinend  gern  so  hinstellen, 
als  habe  Deutschland  nichts  weiter  getan,  als  berechtigten  Bedenken 
Rußlands  Rechnung  zu  tragen  oder  gar  ein  gegen  Rußland  begangenes 
Unrecht  wieder  gutzumachen  3. 

Auf  diese  Auffassung  des  Ministers  dürfte  es  auch  zurückzuführen 
sein,  daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  Nikolaus,  höchstweicher  sich  beim 
Frühstück  am  27.  Januar  während  der  ganzen  Dauer  der  Tafel  sehr 
gnädig  mit  mir  unterhielt,  die  Erledigung  der  Angelegenheit  des  Ge- 
nerals von  Liman  mit  keinem  Worte  erwähnte  und  es  gegen  seine 
sonstige  Gewohnheit  überhaupt  vermied,  politische  Themata  mit  mir 
zu  berühren4.  Ich  nehme  an,  daß  Herr  Sasonow,  der  unmittelbar  vor 
dem  Frühstück  zum  Immediatvortrag  empfangen  worden  war,  seinen 
kaiserlichen  Herrn  entsprechend  beraten  hatte.  Auf  der  Rückfahrt  von 
Zarskoje  Selo  sagte  mir  der  Minister,  Seine  Majestät  habe  ihm  vor  der 
Tafel  gesagt,  ,,je  suppose  que  je  n'ai  que  des  sourires  aimables  ä 
adresser  ä  l'Allemagne  5". 

Vielleicht  hat  Herr  Sasonow  sich  einiger  Unterredungen  mit  mir 
aus  der  letzten  Zeit  erinnert  und  befürchtet,  ich  könnte  auch  Seiner 
Majestät  gegenüber  dem  Bedauern  darüber  Ausdruck  geben,  daß  die 
Angelegenheit  von  Anfang  an  nicht,  wie  es  den  von  unseren  beiden 
Monarchen  gewünschten  vertrauensvollen  Beziehungen  zwischen 
Deutschland  und  Rußland  entsprochen  hätte,  im  Rahmen  eines  freund- 
schaftlichen und  vertraulichen  Gedankenaustausches  zwischen  beiden 
Regierungen    geblieben   ist.     Ich    hatte    mir    allerdings    vorgenommen, 

306 


wenn  sich  Gelegenheit  dazu  böte,  Seiner  Majestät  nicht  zu  verschweigen, 
daß  die  Indiskretionen  der  französischen  Presse  sowie  die  Art,  wie  die 
Frage  bedauerlicherweise  zu  einer  Angelegenheit  der  Tripelentente  auf- 
gebauscht worden  sei,  bei  uns  einen  ungünstigen  Eindruck  gemacht 6 
und  das  von  unserem  allergnädigsten  Herrn  und  der  Kaiserlichen  Re- 
gierung bewiesene   Entgegenkommen   nicht  erleichtert  habe. 

Dem  Botschaftsrat  von  Lucius  gegenüber,  welchen  der  Zar  nach 
Aufhebung  der  Tafel  ins  Gespräch  zog,  hat  Seine  Majestät  die  Rang- 
erhöhung des  Generals  von  Liman  mit  einer  scherzenden  Bemerkung7 
berührt.  Herr  von  Lucius  hat  erwidert,  man  habe  in  Deutschland  gar 
nicht  begreifen  können,  wie  das  dem  General  Liman  von  Sanders 
türkischerseits  übertragene  Kommando  hier  eine  solche  Beunruhigung 
habe  hervorrufen  können.  Seine  Majestät  hat  darauf  bemerkt,  er  habe 
in  der  Tat  auch  gehört,  daß  man  durch  die  hier  entstandene  Erregung 
bei  uns  überrascht  worden  sei.  Der  Kaiser  hat  dann  zugegeben,  daß 
ihm  der  Plan,  eine  deutsche  Militärmission  nach  der  Türkei  zu  senden, 
schon  von  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  König  gelegentlich  der  Ver- 
mählungsfeierlichkeiten in  Berlin  im  vorigen  Frühjahr  mitgeteilt  worden 
sei8.  Seine  Majestät  hat  ferner  erwähnt,  der  deutsche  Standpunkt  sei 
ihm  aus  dem  Brief  des  Herrn  Reichskanzlers  an  Herrn  Kokowzow  *, 
den  ihm  dieser  in  Livadia  vorgelegt  habe,  bekannt9.  Seine  Majestät 
hat  schließlich  zugegeben,  daß  die  Angelegenheit  von  unserer  Seite10 
eine  rasche  Erledigung  gefunden  hat. 

Ich  kann  nicht  umhin,  nachdem  die  Angelegenheit  nunmehr  zwi- 
schen beiden  Regierungen  abgeschlossen  ist,  hervorzuheben,  daß  Herr 
Kokowzow  in  der  ganzen  Frage  freundschaftlichere  Gesinnungen  gegen 
Deutschland  gezeigt  hat  als  Herr  Sasonow  n.  Als  der  Ministerpräsident 
mir  nach  seiner  Rückkehr  von  Livadia  in  sehr  deprimiertem  Tone  über 
die  durch  den  Zwischenfall  Liman  erfolgte  Störung  in  unseren  Be- 
ziehungen sprach  **,  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  sein  Bedauern  über 
diese  Störung  ein  aufrichtiges  war,  und  zwar  auch  besonders  aus  dem 
Grunde,  weil  er  auf  diese  Beziehungen  Wert  legt.  Einen  ebenso  auf- 
richtigen Eindruck  machte  aber  auch  seine  sichtliche  und  in  sehr 
warmen  Worten  zum  Ausdruck  gebrachte  Freude  und  Dankbarkeit  über 
die  Erledigung  des  Zwischenfalles. 

Von  Herrn  Sasonow  habe  ich  vom  ersten  Augenblick  an  den  Ein- 
druck gehabt,  daß  er  von  einer  uns  feindlichen  Seite,  die  uns  mit 
Rußland  zu  entzweien  wünscht,  geschoben  wurde 12.  Man  kann  nicht 
umhin,  dabei  auch  an  Herrn  Delcasse  zu  denken,  der,  wie  ich 
mir  wiederholt  erlaubt  habe  zu  berichten,  es  verstanden  hat,  in  der 
kurzen  Zeit  seines  Hierseins  auf  den  Minister  einen  sehr  großen  per- 
sönlichen Einfluß  zu  gewinnen  13. 

F.  Pourtales 

*  Siehe  Nr.  15  455. 
»•  Vgl.   Nr.    15  478. 

20*  307 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Wir  haben  es  nicht  aus  Entgegenkommen  für  Rußland  gemacht! 
*  Das  wird  geschehen! 

3  unerhört! 

4  von  Sazonow  dahin  instruirt! 

ö  genügt  nicht  mehr!    Damit  hat  er  uns  immer  nur  abgespeist! 
6  ja 
»  ! 

8  ja,  na  also! 

9  na,  was  will  man  noch  mehr! 
10  türkischer! 

n  ? 

12  er  ist  eben  Stockrusse  und  Slave,  was  Kokowzow  nicht  so  ist! 

13  richtig 


Nr.  15  526 

Der  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  von  Mutius  an  das 

Auswärtige  Amt* 

Telegramm.    Entzifferung 

Nr.  65  Konstantinopel,  den  8.  Februar  1914 

Streng  vertraulich 

Als  mich  vor  etwa  drei  Wochen  der  mir  persönlich  befreundete 
russische  Geschäftsträger,  wie  er  sagte  privatim,  darauf  anredete,  ob 
es  wahr  sei,  daß  die  Skutaridivision  nicht  mehr  durch  einen  deutschen 
General  befehligt  werde,  habe  ich  diese  Frage  verneint  und  ihm  ziem- 
lich bestimmt  bedeutet,  daß  ich  jede  amtliche  Konversation  über  das 
Thema  Militärmission  ablehnte. 

Heute  erfährt  Vertrauensmann  aus  bester  russischer  Quelle,  daß 
die  russische  Regierung  die  hiesige  Botschaft  anwies,  Schritte  bei 
Pforte  zu  unternehmen  zwecks  Aufklärung  über  das  Divisionskom- 
mando, welches  Oberst  Nikolai  in  Skutari  aktiv  führt.  Sowohl  russischer 
Geschäftsträger  wie  General  Leontiew  rieten  in  Petersburg  von  neuem 
Schritt  unter  dem  Hinweis  ab,  daß  Kommando  vermutlich  nur  provi- 
sorischen Charakter  trage.  Petersburg  habe  indessen  Auffassung  hie- 
siger Botschaft  ziemlich  schroff  zurückgewiesen  und  auf  Demarche 
bestanden. 

Mutius 


*  Die  gütliche  Erledigung  der  Liman  Sanders-Affäre  dank  des  deutschen  Ent- 
gegenkommens hinderte  nicht,  daß  diese  im  Februar  1914  ein  Nachspiel  fand. 
Die  „Skutariaffäre"  zeigt,  wie  wenig  stichhaltig  die  frühere  russische  Behaup- 
tung war,  daß  man  sich  bei  der  ersteren  Affäre  einzig  und  allein  an  dem 
Kommando  des  Generals  Liman  von  Sanders  über  das  Konstantinopeler  Armee- 
korps stoße. 

308 


Nr.  15  527 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Telegramm.    Konzept 
Nr.  23  Berlin,  den  10.  Februar  1914 

Zur  Verwertung  bei  Herrn  Sasonow,  nach  Euerer  Exzellenz 
Ermessen  eventuell  auch  bei  Herrn  Kokowzow. 

Nach  offenbar  zuverlässigen  vertraulichen  Nachrichten  beabsichtigt 
Rußland  wegen  Divisionskommando  deutschen  Reformoffiziers  im  asia- 
tischen (!)  Skutari  von  Pforte  Aufklärung  zu  verlangen.  Nachdem  wir 
russischen  Wünschen  wegen  Korpskommandos  General  von  Liman 
Rechnung  getragen  und  uns  hierdurch  in  unserer  öffentlichen  Meinung 
Vorwurf  übertriebener  Nachgiebigkeit  gegen  Rußland  zugezogen  haben, 
würden  wir  neue  Vorstöße  gegen  Militärkommission  als  bewußte  Un- 
freundlichkeit gegen  Deutschland  betrachten  müssen.  Wenn  dortige 
Regierung,  wie  wir  bis  auf  weiteres  annehmen  möchten,  auf  Fortbestand 
freundschaftlicher  Beziehungen  zu  uns  Wert  legt,  können  wir  von 
angeblich  geplanter  Demarche  nur  dringend  abraten.  Verantwortung 
für  Folgen  derartigen  Vorgehens,  das  von  öffentlicher  Meinung  in 
Deutschland  als  Provokation  empfunden  werden  würde,  fiele  aus- 
schließlich Rußland  zur  Last. 

v.    Bethmann   Hollweg 


Nr.  15  528 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Entzifferung 
Nr.  29  St.  Petersburg,  den  11.  Februar  1914 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  23*. 

Habe  eben  Angelegenheit  mit  Herrn  Sasonow  im  vorgeschriebenen 
Sinne  besprochen.  Minister  erklärte,  es  sei  ihm  von  Divisionskom- 
mando deutschen  Reformoffiziers  in  Skutari  nichts  bekannt1.  Er  habe 
daher  nicht  beabsichtigt,  deswegen  irgendwelchen  Schritt  bei  der  Pforte 
zu  tun.  Da  nach  Meldung  russischer  Botschaft  in  Konstantinopel 
früherer  Kommandeur  fraglicher  Division  Bronsart  von  Schellendorff 
schon  vor  einigen  Wochen  seines  Kommandos  enthoben  und  zum  Ge- 


*  Siehe  Nr.   15  527. 

309 


neralstabschef  ernannt  worden  sei,  habe  er  sich  dabei  beruhigt  und 
sich  von  Herzen  gefreut,  ganze  Angelegenheit  der  Militärmission  als 
erledigt  betrachten  zu  können.  Er  hofft  dringend,  daß  nicht  neuerdings 
von  Übertragung  fraglichen  Kommandos  an  deutschen  Offizier  die 
Rede,  oder  diese  Maßnahme  etwa  schon  erfolgt  sei.  Denn  er  fürchte, 
daß  eine  solche  neue  Aufrollung  der  Frage  der  Militärmission  hier 
große  Erregung  hervorrufen  und  auf  seinen  kaiserlichen  Herrn,  der 
sich  über  Beilegung  der  Angelegenheit  ebenfalls  aufrichtig  gefreut 
habe,  äußerst  peinlichen  Eindruck  machen  werde.  Ich  erwiderte,  daß 
von  neuer  Aufrollung  der  Frage  nur  dann  die  Rede  sein  könne,  wenn 
hier  und  in  Paris  wieder  angefangen  würde,  Lärm  zu  schlagen.  Herr 
Sasonow  ersuchte  mich,  Euerer  Exzellenz  seine  dringende  Bitte  zu 
übermitteln,  Euere  Exzellenz  möchten,  wenn  irgend  tunlich,  dahin 
wirken,  daß  fragliche  Maßnahme  unterbliebe.  Minister  erklärte,  er 
könne  sich  nicht  verpflichten,  eventuell  seine  Bedenken  in  Konstan- 
tinopel zu  verschweigen.  Er  halte  sich  zu  Schritt  bei  der  Pforte  um 
so  mehr  für  berechtigt,  als  Staatssekretär  Herrn  von  Sverwejew,  als 
dieser  vor  einigen  Wochen  Frage  Divisionskommandeurs  in  Skutari 
zur  Sprache  brachte,  zu  verstehen  gegeben  habe,  die  Einzelheiten  der 
Verwendung  der  in  den  türkischen  Dienst  getretenen  deutschen  Offi- 
ziere gehe  Deutschland  nichts  an,  „que  FAllemagne  s'en  lave  les 
mains".  Herr  von  Jagow  habe  damals  geäußert,  wenn  Rußland  etwas 
wolle,  möge  es  sich  an  die  Türkei  wenden. 

Ich  erwiderte,  wir  könnten  natürlich  Rußland  nicht  verbieten, 
Schritt  in  Konstantinopel  zu  tun,  ich  müsse  aber  in  ernster  Weise  auf 
sehr  übelen  Eindruck  hinweisen,  den  jeder  neue  Vorstoß  gegen  unsere 
Militärmission  bei  uns  hervorrufen  würde.  Minister  wies  demgegen- 
über auf  Eindruck  hin,  den  Übertragung  Divisionskommandos  in 
Skutari  an  deutschen  .  .  .*  hier  machen  würde.  Im  Interesse  der  ihm 
sehr  am  Herzen  liegenden  guten  Beziehungen  sprach  er  immer  wieder 
Hoffnung  aus,  daß  leidige  Angelegenheit  nicht  zu  neuer  Meinungs- 
verschiedenheit zwischen  uns  führen  möge. 

Sprache  Ministers  war  versöhnlich,  sein  Wunsch,  wenn  irgend 
möglich  neue  Differenzen  vermieden  zu  sehen,  schien  aufrichtig. 

Pourtales 


Randbemerkung  Zimmermanns: 

1  Grob  gelogen!  Zunächst  Pera  zwecks  Feststellung,  daß  Maßnahme  definitiv. 
Dann  nochmals  Petersburg.  Scharfer  erneuter  Protest  gegen  russische  Trei- 
bereien. 


•  Zifferngruppe  fehlt. 
310 


Nr.  15  529 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Botschafter  in  Petersburg  Grafen  von  Pourtales 

Konzept 
Nr.  157  Berlin,  den  19.  Februar  1914 

Wie  der  Kaiserliche  Geschäftsträger  in  Konstantinopel  meldet,  ist 
der  frühere  Kommandeur  der  Skutaridivision  Oberst  Bronsart  von 
Schellendorff  vor  etwa  vier  Wochen  zum  Souschef  im  Generalstab 
ernannt  und  schon  damals  Oberst  Nikolai  endgültig  mit  seiner 
Nachfolge  im  Divisionskommando  betraut  worden.  Das  Kommando 
in  Skutari  ist  hiernach  seit  dem  Beginn  der  Tätigkeit  der  Militärmission 
ohne  Unterbrechung  in  Händen  deutscher  Offiziere  gewesen.  Was 
stattgefunden  hat,  ist  lediglich  ein  Wechsel  in  der  Person  des  Kom- 
mandeurs, der  schwerlich  als  Wiederaufrollung  der  Militärmissionsfrage 
hingestellt  und  in  Rußland  als  Anlaß  zu  neuer  Erregung  aufgefaßt 
werden  kann.  Die  Bedenken,  die  hier  im  ersten  Stadium  der  Angelegen- 
heit von  der  russischen  Regierung  vorgebracht  wurden,  richteten  sich 
ausschließlich  gegen  die  Führung  des  Armeekorps  in  Konstantin opel 
durch  General  von  Liman.  Von  Einwendungen  gegen  die  Befehls- 
gewalt deutscher  Offiziere  an  anderen  türkischen  Plätzen  war  bis- 
her nicht  die  Rede.  Umgekehrt  ließ  die  russische  Regierung  erkennen, 
daß  sie  an  und  für  sich  auch  gegen  Kommandobefugnisse  des  Generals 
von  Liman  nichts  zu  sagen  habe,  wenn  sie  nur  nicht  gerade  in  Kon- 
stantinopel ausgeübt  würden.  Herr  Kokowzow  formulierte  mir  die 
russischen  Wünsche  ausdrücklich  dahin,  daß  General  Liman  entweder 
seine  Kommandobefugnisse  verlöre,  wenn  er  in  Konstantinopel  ver- 
bleibe, oder  aber  an  einem  anderen  Orte  als  Konstantinopel  stationiert 
werde,   wenn    er   Kommandobefugnisse   behalte*. 

Trotz  der  Schwierigkeit  unserer  Position  gegenüber  der  öffent- 
lichen Meinung  in  Deutschland  haben  wir  den  russischen  Bedenken 
gegen  die  Stellung  des  Generals  von  Liman  Rechnung  getragen. 
Wir  sind  aber  damit  an  der  äußersten  Grenze  unseres  Entgegen- 
kommens angelangt  und  müssen  erwarten,  daß  Rußland  die  Missions- 
frage nunmehr  ein  für  allemal  als  erledigt  betrachtet.  Um  jede  Trübung 
unseres  Verhältnisses  zu  Rußland  zu  vermeiden,  haben  wir  uns  bis- 
her bemüht,  die  Militärmission  als  eine  innere  Angelegenheit  der 
Türkei  anzusehen  und  zu  behandeln.  Die  russische  Regierung  muß 
sich  darüber  klar  sein,  daß  weitere  Treibereien  gegen  die  Militärmission 
es  uns  unmöglich  machen  würden,  an  diesem  Standpunkt  festzuhalten. 

Ew.  pp.  bitte  ich  vorstehendes  nachdrücklich  bei  Herrn  Sasonow 
zu  verwerten. 

v.   Bethmann  Hollweg 

*  Vgl.  Nr.   15  451. 

311 


Nr.  15  530 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Graf  von  Pourtal&s  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  72  St.  Petersburg,  den  28.  Februar  1914 

Euerer  Exzellenz  hohen  Erlaß  Nr.  157  vom  IQ.  d.  Mts.*,  be- 
treffend das  Kommando  der  Division  in  Skutari,  habe  ich  bei  Herrn 
Sasonow  eingehend  verwertet.  Der  Hinweis  darauf,  daß  das  Kom- 
mando in  Skutari  seit  dem  Beginn  der  Tätigkeit  der  Militärmission  ohne 
Unterbrechung  in  Händen  deutscher  Offiziere  gewesen  sei,  machte  auf 
den  Minister  den  meisten  Eindruck.  Er  erklärte,  daß  er  dies  nicht  ge- 
wußt habe,  als  er  wegen  des  Korpskommandos  in  Konstantinopel  Be- 
denken erhoben  habe.  Er  müsse  zugeben,  daß  es  nicht  recht  angängig 
sei,  jetzt  nachträglich  in  dieser  Frage  Schritte  zu  tun,  nachdem  er 
seinerzeit  wegen  des   Divisionskommandos   nichts   gesagt  habe. 

Ich  wies  den  Minister  von  neuem  auf  den  sehr  üblen  Eindruck  hin, 
den  solche  Schritte,  auch  wenn  sie  in  Konstantinopel  erfolgten,  bei  uns 
machen  würden.  Ich  verließ  Herrn  Sasonow  mit  dem  Gefühl,  daß, 
wenn  er  nicht  wieder  umgestimmt  wird,  er  die  Angelegenheit  nunmehr 
auf  sich  beruhen  lassen  wird**. 

F.  P  o  u  r  t  a  1  e  s 


•  Siehe  Nr.   15  529. 

**  Tatsächlich  blieb  die  Angelegenheit  der  Militärmission  nunmehr  auf  sich 
beruhen.  Daß  indessen  bei  Sasonow,  obwohl  er  sich  scheinbar  zufrieden  gab 
und  gegenüber  dem  deutschen  Botschafter  wiederholt,  so  noch  in  einer  Unter- 
redung vom  28.  April  (siehe  das  Telegramm  Nr.  96  des  Grafen  Pourtales  von 
diesem  Tage  in  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCIC,  Nr.  15  859)  die  versöhnliche  Haltung 
Deutschlands  in  der  Liman  Sanders-Affäre  anerkannte,  der  Groll  nachwirkte, 
lehren  die  folgenden  Schriftstücke  (Nr.  15  531,  15  532).  Auch  ergibt  das  Proto- 
koll über  die  Sonderkonferenz  vom  21.  Februar  (M.  Pokrowski,  Drei  Kon- 
ferenzen, S.  46  ff.;  Fr.  Stieve,  Iswolski  und  der  Weltkrieg,  S.  247  ff.),  daß 
Rußland  trotz  der  Beilegung  der  Liman  Sanders-Affäre  konsequent  in  der  mit 
dem  Sasonowschen  Immediatbericht  vom  8.  Dezember  1913  und  der  Sonder- 
konferenz vom  13.  Januar  1914  (vgl.  Nr.  15  522,  Fußnote'*)  inaugurierten  neuen 
und  letzten  Phase  seiner  Meerengenpolitik  vorschritt,  die  ungeachtet  der  Erkenntnis, 
„daß  der  Kampf  um  Konstantinopel  kaum  ohne  einen  allgemeinen  europäischen 
Krieg  möglich  wäre",  die  Eroberung  der  türkischen  Hauptstadt  als  Ziel  ins 
Auge  faßte.  Rußland  dachte,  wie  aus  dem  Geheimtelegramm  Paleologues  vom 
18.  April  (Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve, 
IV,  90)  hervorgeht,  sogar  dann  schon  zu  den  Waffen  zu  greifen,  wenn  die  Türkei 
im  Falle  des  Ausbruchs  neuer  Feindseligkeiten  mit  Griechenland  die  Meerengen 
schließen  würde,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  Deutschland  auf  die  Seite  der  Türkei 
treten  würde,  und  daß  es  darüber  zum  Weltkrieg  komme. 


312 


Nr.  15  531 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Freiherr  von  Lucius 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  120  St.  Petersburg,  den  11.  April  1914 

Ganz  vertraulich 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  in  der  Anlage*  Abschrift  einer 
Aufzeichnung  des  augenblicklich  hier  weilenden  Herausgebers  der 
„Grenzboten",  Herrn  G.  Cleinow,  über  seine  Unterredung  mit  Herrn 
Sasonow  gehorsamst  vorzulegen. 

Von  besonderem  Interesse  erscheint  mir  die  vielsagende  Bemerkung 
des  Ministers  über  Armenien:  Rußland  könne  eventuell  gezwungen 
werden,  in  Armenien  einzumarschieren,  und  dann  sei  es  schwierig 
„wieder  herauszugehen"  **. 

Ich  teile  die  Ansicht  des  Herrn  Cleinow  vollkommen,  daß  Herr 
Sasonow  die  Mission  des  Generals  Liman  nicht  verwunden  hat,  und 
daß  hier  die  Hauptquelle  seiner  latenten  Verstimmung  zu  suchen  ist, 
die  bei  jeder  Gelegenheit  zutage  tritt  und  Unfreundlichkeiten  gegen  uns 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  mindestens  zuläßt. 

Der  Minister  sprach  sich  mir  gegenüber  sehr  befriedigt  über  Herrn 
Cleinows  Besuch  aus  und  betonte  wiederholt,  daß  er  sich  ihm  gegen- 
über absichtlich  sehr  offen  ausgesprochen  habe.  Ich  hatte  den  Ein- 
druck, daß  Herr  Sasonow  wieder  über  sein  Lieblingsthema,  die  Mission 
Liman,  sprechen  wollte,  bin  aber  hierauf  nicht  eingegangen  und  lenkte 
das  Gespräch  auf  die  Presse  und  anderes.  Herr  Sasonow  hoffte,  daß 
„die  Zeit  die  unerfreulichen  Ereignisse  der  letzten  Monate  vergessen 
machen  würde".  Ich  brachte  daraufhin  die  Klagen  deutscher  In- 
dustrieller über  unfreundliche  Behandlung  in  Rußland  zur  Sprache, 
worüber  ich  Euerer  Exzellenz  besonders  zu  berichten  mich  beehrte. 


Lucius» 


Anlage 


Aufzeichnung  des  Herausgebers  der  „Grenzbotenu 

G.  Cleinow 

Abschrift 

Meine  Unterredung  mit  dem  russischen  Minister  der  Auswärtigen 
Angelegenheiten,  Herrn  Sasonow,  am  Mittwoch,  den  8.  April/26.  März 
1914  zu  St.  Petersburg. 


*  Siehe  Anlage. 

**  Vgl.  dazu  Kap.  CCLXXXIX,  Nr.   15  425,  S.  181,  Fußnote». 


313 


Durch  den  deutschen  Botschafter  Herrn  Grafen  Pourtales  münd- 
lich empfohlen,  wurde  ich  von  Herrn  Sasonow  um  51/2  Uhr  nachmittags 
empfangen  und  blieb  bei  ihm  in  angeregtem  Gespräch  bis  6Vk. 

Gleich  in  medias  res  gehend  sagte  ich,  daß  ich  nach  Petersburg 
gekommen  sei,  um  mich  darüber  bei  den  Russen  selbst  zu  informieren, 
ob  sie  uns  wirklich  verspeisen  wollten  und  um  zu  erfahren,  wie  maß- 
gebliche und  verantwortliche  Politiker  über  die  deutsch-russischen  Be- 
ziehungen dächten,  wobei  ich  auf  die  mehr  oder  weniger  ständig  vor- 
handenen „incidents"  und  diplomatischen  Reibereien  gar  kein  Gewicht 
lege.  Sasonow  erkundigte  sich  dann  nach  meinen  persönlichen  Be- 
ziehungen zu  Rußland;  meine  Angabe,  daß  ich  mich  vorwiegend  für 
die  innerrussische  Politik  interessiere,  und  daß  ich  bereits  von  1900  bis 
1902  und  von  1904  bis  1908  in  Rußland  gelebt  und  studiert  habe, 
unterstrich  er  mit  einem  „Aha,  also  gerade  während  der  Krisen". 
Auf  seine  Frage,  ob  ich  über  die  Unterredung  in  der  Zeitung  schreiben 
würde,  antwortete  ich:  „Besonders  nicht,  sondern  lediglich  im  Zu- 
sammenhang mit  den  gesamten  Eindrücken,  dagegen  hätte  ich  die 
Absicht,  Herrn  von  Jagow  von  dem  Gespräch  zu  erzählen,"  womit 
Sasonow  einverstanden  war. 

Dann  sprudelte  er  in  seiner  lebhaften  Art  los;  er  treibe  prinzipiell 
eine  offene  Politik,  eine  Politik  der  Aufrichtigkeit;  einmal  sei  es  eine 
Dummheit  zu  lügen,  wo  nach  48  Stunden  die  Wahrheit  doch  ans  Licht 
käme,  und  zweitens  sei  ihm  persönlich  die  Unaufrichtigkeit  zuwider. 

Ich  flocht  hier  ein,  Herr  von  Jagow  habe  eine  entsprechende  gute 
Meinung  von  ihm  und  habe  mir  noch  vor  einigen  Wochen  auf  meine 
Bedenken  wegen  der  amtlichen  Politik  Rußlands  ausdrücklich  gesagt: 
„Ich  habe  positive  Beweise  für  Herrn  Sasonows  Aufrichtigkeit  und 
diplomatischen  Anstand."  Worauf  Sasonow  auf  seine  freundschaftlichen 
Beziehungen  zu  Herrn  von  Jagow  in  Rom  hinwies  und  fortfuhr,  wie  er 
sich  gefreut  habe,  auch  in  Herrn  von  Bethmann  eine  gleichgesinnte 
Auffassung  von  der  Behandlung  der  Politik  zu  finden.  „Nun  aber 
denken  Sie  sich  meine  Lage,"  fuhr  er  fort,  „ich  komme  im  vorigen 
Herbst  (Oktober  1913)  nach  Berlin,  werde  von  Herrn  von  Bethmann 
mit  der  größten  Wärme  und  Herzlichkeit  empfangen,  wir  verabreden 
uns,  alle  Fragen  der  internationalen  Politik  mit  vollkommener  Offenheit 
zu  erörtern.  Von  Bethmann  greift  den  Vorschlag  freudig  auf  (Jagow 
war  nicht  anwesend).  Ich  erzählte  ihm  von  der  Stimmung  in  Frankreich, 
daß  dort  kein  ernsthafter  Mensch,  an  Krieg  gegen  Deutschland  und 
Revanche  denke,  was  ihn  sehr  beruhigte.  Dann  kamen  wir  auf  die 
türkischen  Angelegenheiten.  Wir  sprachen  über  alle  möglichen  Details; 
machen  aus,  in  der  Türkei  sollte  keine  Partei  ein  Sonderrecht  gegenüber 
den  anderen  erhalten,  beschließen  wegen  der  Reformen  in  Armenien, 
sind  mit  einem  Wort  scheinbar  einig  und  in  allem  offen  gegen  einander 
gewesen.  Nun  reise  ich  nach  der  Krim,  halte  dem  Kaiser  Vortrag  in 
Livadia;  er  ist  sehr  zufrieden.    Da  kommt  aus  geheimer  Quelle  in 

314 


Konstantinopel  die  Meldung,  Deutschland  entsende  nicht  nur  eine 
Militärmission  nach  Konstantinopel,  nein,  deutsche  Offiziere  übernähmen 
das  Kommando  über  die  Armee.  Ich  telegraphiere  an  den  Botschafter 
nach  Konstantinopel  und  erhalte  die  Bestätigung,  daß  die  ganze  Sache 
schon  seit  dem  Mai  abgemacht  sei;  denken  Sie  sich:  Konstantinopel 
eine  preußische  Garnison!  und  mir  sagt  man  nichts  davon.  Der  Kaiser 
wollte  zunächst  nichts  davon  glauben.  Sie  wissen,  wie  man  mich  dann 
angegriffen  hat." 

Ich:  „Sieht  man  aber  von  dem  persönlichen  Gekränktsein  ab,  so 
verstehe  ich  nicht,  wie  Exzellenz  sich  über  die  Sache  selbst  aufregen 
können.  Die  zwei  Dutzend  preußischen  Offiziere  in  Konstantinopel 
können  doch  nicht  ernstlich  beunruhigen." 

„64  [oder  54]!"  fiel  Sasonow  ein;  „Sie  wissen,  welches  Interesse 
wir  am  Bosporus  haben,  wie  empfindlich  wir  an  dieser  Stelle  sind. 
Ganz  Südrußland  hängt  davon  ab,  und  nun  setzen  Sie  uns  eine  preu- 
ßische Garnison  vor  die  Nase!" 

Ich:  „Ja,  wenn  Sie  das  britische  Flottenkommando  fürchteten, 
dann  würde  ich  das  verstehen,  mit  einem  Kahn  Ist  die  Durchfahrt 
gesperrt." 

„Die  türkische  Flotte  fürchten  wir  nicht;  die  Türken  werden 
niemals  eine  ernst  zu  nehmende  Flotte  bekommen.  Die  Türkei  ist 
fertig." 

„Nun  also.  Dasselbe  müßten  Sie  doch  auch  von  der  Armee 
denken." 

„Nein,  das  ist  etwas  anderes.  Dort  hat  Deutschland  eine  Macht." 
Dann  sprachen  wir  über  die  inneren  Verhältnisse  der  Türkei,  wobei 
Sasonow  den  Standpunkt  vertrat,  daß  die  Türkei  fertig  abgewirtschaftet 
sei,  und  daß  keine  Jungtürken  in  der  Lage  sein  würden,  den  Staat  wieder 
so  weit  aufzurichten,  daß  er  politisch  etwas  aus  sich  darstellen  könne. 
„Und  in  diesem  schwachen  Gebilde  ergreift  Deutschland  die  Macht 
über  die  Armee!" 

„Da  widersprechen  Sie  sich  selbst  und  ich  möchte  fast  glauben, 
daß  die  persönlich  empfundene  Kränkung  Euere  Exzellenz  viel  mehr 
beeinflußt  als  die  Sache." 

„Wenn  die  Türkei  stark  wäre,  wäre  die  Sache  nicht  so  schlimm." 
Herr  Sasonow  fuhr  dann  fort:  Armenien  sei  für  Rußland  höchst 
wichtig.  Die  Türkei  müsse  dort  Reformen  einführen.  Vorgänge  wie 
1909  (?)  dürften  sich  angesichts  der  Tatsache,  daß  in  Transkaukasien 
eine  Million  Armenier  als  russische  Untertanen  lebten,  nicht  wieder- 
holen. Rußland  könne  womöglich  gezwungen  werden,  in  Armenien 
einzurücken,  und  einmal  darin,  könnte  es  ihm  schwer  fallen,  den  Weg 
wieder  heraus  zu  finden.  Die  Liman  Sanders-Affäre  habe  hier  diese 
Verstimmung  in  allen  Kreisen  erzeugt. 
Ich:    „Das  verstehe  ich  gar  nicht." 

315 


Sasonow:  „Dann  wissen  Sie  nicht  Bescheid  in  Rußland.  Dann 
kennen  Sie  die  Stimmung  nicht.  Lassen  Sie  es  sich  von  Ihrem  Bot- 
schafter bestätigen." 

Ich:  „So  gibt  die  Presse,  besonders  , Russkoje  Slowo',  doch  die 
wahre  Stimmung  auch  der  Regierungskreise  wieder  und  Sie  nehmen 
das  Mißverständnis  aus  dem  Herbst  immer  noch  zum  Ausgangspunkt 
Ihrer  Haltung  gegen  uns?" 

Hier  wich  mir  der  Minister  aus,  meinte,  „Russkoje  Slowo" 
orientiere  sich  zwar  öfter  in  seinem  Ministerium,  aber  für  alles  könne 
er  nicht  einstehen.  Das  Blatt  markiere  manchmal  Opposition,  es 
seien  ihm  sogar  schon  Artikel  zurückgewiesen  worden.  Schließlich 
aber  gab  er  zu,  daß  die  Liman  Sanders-Sache  für  ihn  noch  nicht  er- 
ledigt sei,  sie  beschäftige  die  öffentliche  Meinung  zu  sehr.  Natürlich 
würde  es  deswegen  nicht  zum  Kriege  kommen. 

Dann  begann  Herr  Sasonow  vom  Handelsvertrag*  zu  sprechen 
und  meinte,  verschiedene  Positionen  müßten  geändert  werden.  Diese 
beunruhigten  die  Gemüter  im  steigenden  Maße.  Ich  meinte,  bei  uns 
sähe  man  den  kommenden  Dingen  ziemlich  gelassen  entgegen,  da  man 
die  Überzeugung  habe,  daß  die  beiderseitigen  realen  Interessen  gleich 
groß  seien,  und  daß  sich  daher  auch  ein  Modus  finden  \vürde,  die  An- 
gelegenheit friedlich  zu  regeln. 

Schließlich  ging  das  Gespräch  auf  innerrussische  Zustände  über, 
auf  Religion,  Gräfin  Ignatjew,  Sozialismus.  Der  Minister  führte  mich 
noch  ins  Vorzimmer,  wo  ich  mich,  von  ihm  eingeladen,  noch  einmal 
vorzusprechen,  nach  einigen  Worten  verabschiedete. 

Ziehe  ich  das  Fazit  aus  der  Unterhaltung,  so  möchte  ich  das 
Gehörte  dahin  zusammenfassen: 

Sasonow  und  mit  ihm  ein  wichtiger  Teil  der  Gesellschaft,  vielleicht 
auch  der  Zar,  ist  durch  die  Verschweigung  der  Liman  Sanders-Mission 
im  Herbst  1913  persönlich  gekränkt,  die  russischen  Militärs  und  Slawo- 
philen,  die  sich  den  Grund  des  Schweigens  unserer  Regierung  1913 
nicht  erklären  können,  wittern  tatsächlich  irgendeine  militärische  Ge- 
fahr, die  ihnen  durch  die  „preußische  Garnison  in  Konstantin opel" 
droht.  Sasonow,  dessen  Stellung  nach  Bekanntwerden  der  Liman 
Sanders-Mission  in  Petersburg  vorübergehend  gefährdet  gewesen  zu 
sein  scheint,  benutzt  nun  die  Stimmung,  um  um  so  „kräftiger"  gegen 
Deutschland    aufzutreten;    wenn    man    ihn    auch    persönlich    nicht 


*  Der  im  Jahre  1904  abgeschlossene  deutsch-russische  Handelsvertrag,  der 
in  weiten  russischen  Kreisen  als  eine  starke  Obervorteilung  empfunden  wurde 
und  so  viel  zu  der  Feindseligkeit  der  russischen  öffentlichen  Meinung  beitrug 
(vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCIC,  Nr.  15  858,  S.  580,  Fußnote"),  lief  zwar 
noch  bis  1916,  doch  waren  schon  seit  1911  in  Deutschland  wie  in  Rußland  Vor- 
arbeiten im  Hinblick  auf  die  spätere  Erneuerung  im  Gange.  Im  Frühjahr  1914 
wandte  sich  das  Interesse  der  russischen  öffentlichen  Meinung  dem  Gegenstand 
mit  auffälliger  Leidenschaftlichkeit  zu. 

316 


wird  für  alle  gegen  Deutschland  und  den  Dreibund  gerichteten  Artikel 
verantwortlich  machen  dürfen,  so  tut  er  auch  schwerlich  etwas,  um  die 
öffentliche  Meinung  und  besonders  die  Stimmung  in  den  maßgebenden 
Kreisen  zu  beruhigen.  Jedenfalls  tut  man  Herrn  Sasonow  sicher  kein 
Unrecht,  wenn  man  seine  persönliche  Haltung  als  den  Ausgangspunkt 
der  Preßkampagne  bezeichnet,  die  in  Rußland  gegen  Deutschland  ge- 
führt wird.  Innerpolitische  Stimmungen,  über  die  in  einigen  Tagen 
ausführlich  berichtet  werden  soll,  dürften  in  derselben  Richtung  ge- 
wirkt haben.  Bei  dieser  Kampagne  sind  dann  Vorkommnisse  wie 
Poljakow*  und  Berliner**  sicher  nicht  unwillkommen. 

(gez.)  Cleinow 


Nr.  15  532 

Der  Gesandte  in  Bukarest  von  Waldthaasen  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.   181  Bukarest,   den   16.   Juni   1914 

Bei  der  Audienz  des  Militärattaches  Major  Bronsart  von  Schellen- 
dorff  in  Konstanza  hat  Seine  Majestät  der  König  auch  das  Verhältnis 
zwischen  Deutschland  und  Rußland  berührt.  Höchstderselbe  erklärte, 
Herr  Sasonow***  habe  ihm  jetzt  folgendes  erzählt:  er  habe  sich  sehr 
gekränkt  gefühlt  dadurch,  daß  ihm  während  seines  Aufenthaltes  in 
Berlin  im  Herbst  v.  Js.  die  beabsichtigte  Entsendung  einer  deutschen 
Militärmission  nach  der  Türkei  nicht  mitgeteilt  worden  sei  K  Seine 
Majestät  der  Kaiser  habe  damals  zu  ihm  gesagt,  er  halte  offene  Aus- 
sprache über  alle  politischen  Fragen  für  das  Beste;  damit  komme  man 
am  weitesten,  und  es  würden  Mißverständnisse  vermieden.  Er,  Sa- 
sonow, habe  geantwortet,  er  glaube  Seiner  Majestät  versichern  zu 
können,  daß  seine  Regierung  die  Ansicht  Seiner  Majestät  voll  und 
ganz  teile 2.  In  Petersburg  angekommen,  sei  er  dann  durch  die 
Nachricht  überrascht  worden,  daß  General  Liman  von  Sanders  an  der 
Spitze  einer  großen  Militärmission  nach  Konstantinopel  gehen  solle. 
Dies  habe,  besonders  nach  den   erwähnten   Worten  Seiner  Majestät 


*  Im  März  1914  war  der  russische  Kapitän  Poljakow  in  Köln  unter  dem 
Verdacht  des  Diebstahls  verhaftet  worden,  der  sich  jedoch  nicht  bestätigte. 
Eine  Note  der  deutschen  Regierung  von  Ende  März  sprach  der  russischen 
Regierung  das  Bedauern  über  den  Mißgriff  der  Polizei  aus. 
•*  Bei  der  Affäre  Berliner  handelte  es  sich  um  die  schon  im  Februar  1914 
erfolgte  Verhaftung  der  deutschen  Luftschiffer  Berliner,  Haase  und  Nikolai, 
die  trotz  der  Bemühungen  der  Berliner  Amtsstellen  aufrechterhalten  wurde. 
•*•  Sasonow  hatte  den  Zaren  bei  seinen  Besuche  in  Konstanza  (14.  Juni  1914) 
begleitet.    Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCVI1I. 

317 


des  Kaisers,  ihn  und  die  russische  Regierung  sehr  verstimmt  und  ge- 
wissermaßen den  Anfang  zu  der  Verschlechterung  der  Beziehungen 
zwischen  den  beiderseitigen  Regierungen  gebildet3. 

Waldthausen 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Der    alte    Lügner!    Ich    hatte    es    im    Frühjahr    persönlich    dem    Zaren 
gesagt*  wenn  der  es  nicht  Sazonow  mittheilt  ist  das  nicht  meine  Sache! 

2  aber  niemals  ausführt 

3  Blödsinn! 
Schlußbemerkungen  des  Kaisers: 

1  Blagueur! 

2  Lauter    Flausen,    Ausreden    und    Lügen    um   seine    uns    gegenüber    verfolgte 
unqualifizirbare  Politik  der  Verläumdung  und  Verlogenheit  zu  bemänteln! 
Wenn  der  Zar  ihm  nichts  davon  erzählt  hat,  hat  er  die  Sache  für  nicht  der 
Erwähnung  wichtig  gehalten  und  für  ganz  natürlich! 


Vgl.   Nr.    15  450,  Fußnote 


318 


Kapitel  CCXCI 

Rußland,  die  Vereinigung  Serbiens  und 

Montenegros   und   die   Großserbische  Agitation 

Januar  bis  Juli  1914 


Nr.  15  533 

Der  Geschäftsträger  in  Belgrad  von  Scharf enberg  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  10  Belgrad,  den  30.  Januar  1914 

Während  in  der  hiesigen  Öffentlichkeit  die  Reise  des  Kronprinzen 
Alexander  nach  St.  Petersburg  genügend  motiviert  erschien  mit  der 
Vertretung  seines  Vaters  bei  den  dortigen  Tauffeierlichkeiten  *, 
hat  es  allgemein  überrascht,  daß  auch  Ministerpräsident  Paschitsch 
sich  nach  Rußland  begeben  hat.  Man  führt  seine  Reise  auf  politische 
Beweggründe  zurück  und  findet  diese  in  dem  Bedürfnis  des  greisen 
Staatsmanns,  sich  über  die  in  letzter  Zeit  von  neuem  auf  dem  Balkan 
eingetretene  Ungewißheit  der  Lage,  die  auch  auf  Serbien  schwer 
lastet,  mit  den  leitenden  Kreisen  an  der  Newa,  sowie  mit  den  dort 
weilenden  Vertretern  der  Balkanstaaten  näher  auszusprechen  und  wenn 
möglich  eine  Klärung  herbeizuführen.  Die  serbische  Regierungspresse 
hat  bereits  wiederholt  als  besonders  beunruhigende  Symptome  be- 
zeichnet: die  Weigerung  der  Türkei,  den  Friedensvertrag  mit  Serbien, 
der  vor  Wochen  bereits  so  gut  wie  perfekt  schien,  definitiv  zum  Ab- 
schluß zu  bringen  **;  die  Zusammenkünfte  und  Verabredungen  von  jung- 
türkischen Komiteemitgliedern  mit  Delegierten  der  mazedo-bulgarischen 
revolutionären  Organisation  sowie  die  Einsetzung  ständiger  Ausschüsse 
in  Sofia  und  Konstantinopel  behufs  gemeinsamer,  auf  Herstellung 
eines  autonomen  Mazedoniens  gerichteter  Bandenaktion;  die  türkischen 
Wühlereien  in  Albanien  und  endlich  die  Berufung  des  türkischen  Ge- 
sandten in  Sofia***  nach  Konstantinopel,  sowie  diejenige  des  bul- 
garischen Gesandten  in  Konstantinopel  f  nach  Sofia  zu  spezieller  Be- 
richterstattung. Daß  angesichts  dieser  Situation  den  Serben  an  einem 
möglichst   engen   Anschluß    an   Griechenland  und   Rumänien   gelegen 


*  Es  handelte  sich  um  die  Taufe  des  im  Januar  geborenen  Sohnes  der  Prinzessin 
Helene   Konstantinowitsch  von   Rußland,  Tochter  König  Peters  I.  von  Serbien. 
**  Der  Abschluß  des  serbisch-türkischen  Friedens  erfolgte  erst  am  14.  März  1914. 
***  Fethi  Bey. 
"f  A.  Toschew. 

21    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  321 


sein  muß,  liegt  auf  der  Hand.  Von  Griechenland  dürften  in  dieser  Be- 
ziehung kaum  Schwierigkeiten  zu  erwarten  sein.  Das  Mißliche  ist 
nur,  daß  seine  militärische  Leistungsfähigkeit  in  Serbien  nicht  be- 
sonders hoch  bewertet  wird.  Die  serbischen  Offiziere  weisen  in  in- 
timeren Gesprächen  immer  wieder  darauf  hin,  wie  im  letzten  Kriege 
25  000  Bulgaren  über  80  000  griechische  Soldaten  in  Schach  gehalten 
hätten.  Es  bliebe  also  als  Hauptfrage  die  Haltung  Rumäniens  bei 
künftigen  Verwickelungen.  Bisher  hat  Rumänien  trotz  aller  Geneigt- 
heit, für  die  Aufrechterhaltung  des  Friedens  auf  dem  Balkan  zu  wirken, 
sich  dort  sorgfältig  vor  jeder  vertragsmäßigen  Bindung  nach  irgend- 
einer Seite  hin  gehütet.  Ob  es  jetzt  den  Serben  und  Griechen  unter 
russischer  Ägide  gelingen  wird,  Rumänien  aus  seiner  Reserve  heraus- 
zulocken und  zu  Erklärungen  zu  bewegen,  durch  die  es  sich  an  eine 
der  beiden  europäischen  Mächtegruppen  entschieden  anschließen  würde, 
dürfte  zweifelhaft  sein. 

Vielfach  hört  man  hier  indessen  auch  die  Ansicht  äußern,  daß  es 
sich  in  Petersburg  noch  um  eine  andere  Kombination  handele,  die  für 
Rußland  wie  für  Serbien  von  großem  Wert  wäre,  nämlich  um  die 
Wiederaufrichtung  des  alten  Balkanbundes  oder  mit  anderen  Worten, 
um  die  Herstellung  eines  guten  Verhältnisses  zwischen  Serbien  und 
Bulgarien.  Daß  eine  Annäherung  beider  Länder  für  Serbien  von  außer- 
ordentlicher Wichtigkeit  wäre,  ist  ohne  weiteres  klar,  da  hiermit  die 
Hauptursache  seiner  jetzigen  Beunruhigung  beseitigt  würde.  Ist  man 
doch  in  Serbien  über  die  Hinzögerung  des  Friedensschlusses  mit  der 
Türkei  hauptsächlich  deshalb  so  verstimmt,  weil  man  argwöhnt,  daß 
Bulgarien  dahinter  stecke,  ebenso  wie  man  neue  Verwickelungen  in  der 
Türkei,  Albanien  und  Mazedonien  deshalb  fürchtet,  weil  Bulgarien  die- 
selben ausnützen  könnte  zum  Nachteile  Serbiens.  Daß  Herrn  Pa- 
schitsch  ein  Zusammengehen  mit  Bulgarien  sehr  am  Herzen  liegt, 
beweist  schon  die  Mühe,  welche  er  sich  sowohl  während  als  nach 
den  Bukarester  Friedensverhandlungen  gegeben  hat,  um  den  Bulgaren 
Entgegenkommen  zu  zeigen!  Für  Rußland  andererseits  ist  diese  Idee 
des  alten  Balkanbundes  außerordentlich  sympathisch,  weil  es  in  ihm 
zu  jeder  Zeit  einen  Sturmbock  gegen  die  österreichisch-ungarische  Mo- 
narchie  in    Bereitschaft   hat  oder   zu   haben   glaubt*.    Rußland   sucht 


*  Auch  amtliche  französische  Kreise  suchten  aus  austrophoben  Motiven  die 
Idee  einer  Wiederherstellung  des  Balkanbundes  zu  fördern.  In  einem  Berichte 
des  Botschafters  in  Wien  von  Tschirschky  vom  9.  Dezember  191 3  (Nr.  387) 
heißt  es  über  dahingehende  Bemühungen  des  französischen  Botschafters  Dumaine: 
„Dem  serbischen  Gesandten  Herrn  Jowanowitsch,  mit  dem  Herr  Dumaine  in 
engster  Fühlung  steht,  und  den  er  auch  mir  gegenüber  neulich  als  ,völlig  loyal' 
bezeichnete,  hat  der  französische  Botschafter  geraten,  Serbien  solle  sich  sobald 
als  möglich  mit  Bulgarien  verständigen.  Die  Basis  einer  Verständigung  würde 
leicht  gefunden  werden  können.  Serbien  solle  Bulgarien  die  Bezirke  von  Istip 
und  Kotschana  gegen  das  Versprechen  zusichern,  daß  Bulgarien  Serbien  bei  der 
Erwerbung  der  serbischen  Gebietsteile  Österreich-Ungarns  unterstütze." 

322 


daher  auch  mit  allen  Kräften  jetzt  seinen  vollen  Einfluß  in  Bulgarien 
wiederzugewinnen  und  die  Mitteilung  meines  englischen  Kollegen, 
daß  der  hiesige  russische  Gesandte  im  Verein  mit  den  Panslawisten 
auf  den  Sturz  des  Königs  Ferdinand  und  seine  Ersetzung  durch  einen 
Rußland  unbedingt  ergebenen  Fürsten  hinarbeite,  erscheint  mir  daher 
nicht  unglaubhaft.  Solange  aber  die  jetzige  Stimmung  in  Bulgarien 
andauert,  wird  es  schwer  halten,  es  für  einen  Bund  mit  Serbien  zu 
gewinnen.  Mit  kleinen  Zugeständnissen  Serbiens  ist  es  nicht  getan, 
und  großen  würden  sich,  selbst  wenn  die  hiesige  Regierung  dazu  ge- 
neigt wäre,  die  serbischen  Militärkreise  mit  aller  Energie  widersetzen. 
Das  gilt  in  erster  Reihe  für  Gebietsabtretungen,  dann  aber  auch  für 
Konzessionen  gegenüber  den  bulgarischen  Kirchen  und  Schulen  in 
Mazedonien.  Haben  doch  die  Militärkreise  es  der  Regierung  schon  vor 
Monaten  außerordentlich  verdacht,  daß  sie  nicht  ohne  weiteres  die 
Militärdiktatur  in  den  neuen  Provinzen  eingeführt  hat,  um  jeden  Ver- 
such einer  bulgarischen  Propaganda  im  Keime  zu  ersticken.  Unter 
diesen  Umständen  hält  man  hier  die  Aussichten  auf  eine  baldige  Ver- 
ständigung zwischen  Serbien  und  Bulgarien  für  sehr  geringe. 

Seh  a  rf  enberg 

Nr.  15  534 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Entzifferung 
Nr.  41  Wien,  den  11.  Februar  1914 

In  einer  Unterredung,  die  ein  sicherer  Gewährsmann  mit  dem 
russischen  Geschäftsträger  Fürsten  Kudaschew  dieser  Tage  hatte,  hat 
letzterer  zugegeben,  daß  zurzeit  in  Rußland  eine  tiefe  Erregung  durch 
alle  Schichten  der  oberen  Gesellschaft  und  des  Volkes  geht  wegen  der 
Gestaltung  der  politischen  Verhältnisse  im  nahen  Osten. 

Der  Grund  für  diese  Erscheinung  liege  hauptsächlich  darin,  daß 
Rußland  die  Versuche  der  Türkei,  sich  „unabhängig"  zu  machen 1#, 
mit  äußerstem  Mißtrauen  betrachten  müsse,  und  daß  das  russische 
Volk2  das  Ergebnis  des  Bukarester  Friedens  als  ein  definitives  niemals 
werde  annehmen  können  3. 

Die  heutigen  Grenzen  Serbiens  seien  für  dieses  unbestreitbar  nicht 
zu  ertragen.  Es  werde  sich  damit  nicht  abfinden  können  und  schließ- 
lich doch  Nordalbanien  mit  Durazzo  als  Kriegshafen  bekommen 
müssen4. 

Ebenso   müßte  in  Mazedonien  Ordnung5  geschaffen,   das   heißt, 


*  Wohl  Anspielung  auf  die  Mission  Liman  Sanders. 

21*  323 


der  von  Bulgaren  bewohnte  Teil  dieses  Landes  an  Bulgarien  gegeben 
werden. 

von  Ts  chirschky 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

Dann  sind  die  jetzigen  Ministeränderungen  in  Rußland  Vorläufer  kriegerischer 

Möglichkeiten  auf  dem  Balkan!? 
Randbemerkungen  des  Kaisers: 

1  Sehr  gut!   d[as]  h[eißt]  gesunder  zu  werden! 

2  das  weiß  gar  nichts  davon 

8  charmant!    Ebenso  nicht  den  Frieden  von  Frankfurt? 

4  aha 

5  von  Russland??!    Braucht  sie  selbst! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Also  Rußland  will  einen  Neuen  Balkankrieg! 

Nr.  15  535 

Der  Geschäftsträger  in  Belgrad  von  Scharf enberg  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  17  Belgrad,  den  14.  Februar  1914 

Nach  der  Rückkehr  des  Herrn  Paschitsch  bringt  das  hiesige  Re- 
gierungsorgan, welches  sich  bisher  über  die  Verhandlungen  in  Peters- 
burg vollkommen  ausgeschwiegen  hatte,  heute  einen  offenbar  in- 
spirierten Artikel  unter  der  Überschrift  „Dankesschuld".  Es  wird 
darin  zunächst  der  Dank  ausgesprochen  für  die  gastliche  Aufnahme, 
welche  der  serbische  Kronprinz  und  Ministerpräsident  am  Newastrande 
gefunden  haben,  sowie  für  die  ihnen  vom  Zaren  und  der  kaiserlichen 
Familie  bewiesene  besondere  Huld. 

Über  den  Inhalt  der  dort  geführten  Verhandlungen  —  heißt  e9  in 
dem  Artikel  weiter  —  sei  zwar  die  größte  Diskretion  geboten,  doch 
lasse  sich  „mit  Rücksicht  auf  die  fortgesetzten  Bemühungen  Rußlands 
um  die  Erhaltung  des  Friedens  während  der  ganzen  Balkankrise  das 
eine  mit  voller  Sicherheit  sagen:  Gegenstand  und  Ziel  dieser  Verhand- 
lungen sei  die  Frage  nach  Maßnahmen  zur  Aufrechterhaltung  des 
Friedens  gewesen  *.  Nach  dieser  Richtung  hin  seien  sowohl  Zar 
Nikolaus  als  seine  Regierung  vollkommen  erhaben  über  alle  Ver- 
dächtigungen." 


*  Das  war  doch  keineswegs  der  Fall.  Nach  dem  Berichte  Paschitschs  über  seine 
Audienz  bei  dem  Zaren  vom  2.  Februar  1914  (Weißbuch  betreffend  die  Ver- 
antwortlichkeit der  Urheber  des  Krieges,  S.  11 4  ff.)  betonte  Paschitsch  zwar, 
die  Politik  Serbiens  bestehe  darin,  daß  der  Frieden  auf  dem  Balkan  erhalten 
bleibe,  und  daß  neue  Verwicklungen  vermieden  würden,  denn  Serbien  benötige 
den  Frieden,  um  sich  zu  erholen  und  sich  von  neuem  zur  Verteidigung  der 
serbischen   Staatsinteressen  zu   rüsten.    Aber  im  weiteren  Verlauf   der  Audienz 

321 


Bei  dieser  Sachlage  —  fährt  das  Blatt  fort  —  würde  auch  eine 
Erneuerung  des  Balkanbundes  in  seiner  ursprünglichen  Form  und 
unter  der  Ägide  Rußlands,  auch  wenn  sie  jetzt  schon  möglich  wäre, 
nur  ein  Ausdruck  der  friedlichen  Tendenzen  Rußlands  und  daher  zu 
Unrecht  Gegenstand  des  Mißtrauens  gewisser  Mächte  sein.  Denn 
ein  solcher  Balkanbund  würde,  ohne  die  Absicht,  in  der  großen  euro- 
päischen Politik  eine  Rolle  spielen  zu  wollen,  für  den  Balkan  selbst 
eine  zuverlässige  Bürgschaft  des  Friedens  und  gesunder  Rechtsordnung 
sein,  damit  aber  auch  gleichzeitig  ein  Pfand  für  die  Interessen  der 
europäischen  Kultur  und  des  Handels  bilden.  Leider  sei  diese  Kom- 
bination infolge  der  Erregung,  die  nach  allen  großen  Kriegen  einzu- 
treten pflege,  für  jetzt  .noch  unmöglich.  Dennoch  aber  werde  die 
zutage  getretene  Solidarität  der  Interessen  Rumäniens,  Serbiens,  Grie- 
chenlands und  Montenegros  sowie  die  unter  dem  Einfluß  dieser  Soli- 
darität sich  immer  mehr  entwickelnden  Freundschaftsbande  zwischen 
diesen  Staaten  vorläufig  genügen  zur  Erhaltung  des  im  Bukarester 
Frieden  festgelegten  Gleichgewichtes  und  zur  Bekämpfung  eventueller 
Versuche,  diesen  Frieden  anzutasten.  Dieses  Ergebnis  der  Petersburger 
Verhandlungen  sei  von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung. 

Scharfen  berg 

Nr.  15  536 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky  an  den 

Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.  47  Wien,  den  15.  Februar  1914 

Ganz  geheim 

Die   Frage   einer   Union   zwischen   Serbien   und   Montenegro  be- 
schäftigt das  hiesige  auswärtige  Ministerium  schon  seit  längerer  Zeit*. 

nahm  die  Erörterung  doch  eine  durchaus  antiösterreichische  und  selbst  kriege- 
rische Wendung.  Der  Zar  fragte  Paschitsch,  wieviel  Soldaten  Serbien  jetzt 
aufstellen  könne,  und  auf  die  Antwort:  „Wir  glauben,  eine  halbe  Million  gut 
bekleideter  und  bewaffneter  Soldaten  aufstellen  zu  können,"  meinte  Nikolaus  II.: 
„Das  ist  genügend,  das  ist  keine  Kleinigkeit,  damit  kann  man  viel  ausrichten." 
Als  sich  dann  das  Gespräch  dem  Projekt  einer  Vermählung  des  serbischen 
Kronprinzen  mit  einer  Zarentochter  zuwandte,  äußerte  Paschitsch,  seine  innersten 
Gedanken  enthüllend:  „Wenn  es  uns  beschieden  ist,  eine  Tochter  des  Kaisers 
von  Rußland  zur  Königin  zu  haben,  dann  wird  sie  die  Sympathie  des  ganzen 
serbischen  Volkes  genießen,  und  sie  kann,  wenn  Gott  und  die  Verhältnisse  es 
zulassen,  die  Zarin  des  südslawischen,  serbisch-kroatischen  Volkes  werden. 
Ihr  Einfluß  und  ihr  Glanz  wird  die  ganze  Balkanhalbinsel  umfassen."  Noch 
drastischere  Äußerungen  Paschitschs  in  gleicher  Richtung  berichtet  Boghitsche- 
witsch  (Kriegsursachen,  S.  65  nebst  Fußnote).  Zu  den  in  der  Audienz 
Paschitschs  beim  Zaren  von  beiden  Seiten  gefallenen  Äußerungen  über  die 
Vereinigung  Montenegros  mit  Serbien  vgl.  Nr.  15  537,  S.  329,  Fußnote*. 
*  Die  Frage  der  Vereinigung  zwischen  Serbien  und  Montenegro  beschäftigte 
nicht  bloß  die   österreichische   Regierung  seit  längerer  Zeit,  sondern  auch  die 

325 


Gestern  sprach  mir  der  Minister  davon,  und  für  heute  ließ  mich  Graf 
Forgäch  im  Auftrage  des  Grafen  Berchtold  zu  sich  bitten,  um  mich 
eingehend  über  die  hiesigen  bezüglichen  Erwägungen  zu  informieren. 

Bereits  am  10.  November  ist  an  Herrn  von  Merey  ein  geheimer 
Erlaß  ergangen,  den  mir  Graf  Forgäch  heute  vorlas,  und  der  im 
großen    und    ganzen    nachstehendes    enthielt. 

Im  Eingange  wird  des  näheren  ausgeführt,  aus  welchen  Gründen 
die  Wahrscheinlichkeit  bestehe,  daß  über  kurz  oder  lang  mit  dem  Zu- 
sammenschlüsse Serbiens  und  Montenegros  gerechnet  werden  müsse. 
Angesichts  dieser  Sachlage  müsse  man  sich  darüber  klar  werden, 
welchen  Standpunkt  die  Monarchie  diesem  Ereignisse  gegenüber  ein- 
zunehmen haben  werde.  Als  grundlegenden  Gesichtspunkt  stellt  der 
Erlaß  die  These  auf,  daß  die  Frage  eines  Vorstoßes  Serbiens  an  das 
Meer  im  Wege  der  Verschmelzung  mit  Montenegro  von  der  Monarchie 
als  eine  Frage  der  Verschiebung  des  Gleichgewichts  im  Adriatischen 
Meere  zu  betrachten  sei,  die  mithin  im  Einvernehmen  mit 
Italien  zu  behandeln  und  zu  lösen  sein  werde.  Man  werde  demnach 
in  Wien  einen  Gebietszuwachs  für  die  Monarchie  als  Kompensation 
nicht  beanspruchen,  um  jede  Schwierigkeit  mit  Italien  zu  eliminieren. 
Eine  mögliche  Lösung  denke  man  sich  in  der  Weise,  daß  die  jetzige 
Küste  Montenegros  zu  Albanien  zu  schlagen,  alles  übrige  montene- 
grinische Land  aber  Serbien  zu  überlassen  sein  würde.  Albanien  werde 
damit  zwar  nicht  viel,  aber  dafür  fast  rein  albanische  Gegenden  —  in 
der  Hauptsache  die  beiden  Küstenplätze  Dulcigno  und  Antivari  —  er- 
halten. Serbien  als  slawischem  Vorposten  Rußlands  Zutritt  zum  Meere 
zu  lassen,  müsse  nach  wie  vor  verhindert  werden. 

Der  Erlaß  stellt  es  der  Erfahrung  und  dem  bewährten  Takte  des 
Herrn  von  Merey  anheim,  zu  welchem  Zeitpunkt  und  in  welcher  Form 
er  es  für  angezeigt  erachten  werde,  auf  der  Basis  dieses  Gedanken- 
ganges die  Frage  dem  Marquis  di  San  Giuliano  gegenüber  anzu- 
schneiden. Ganz  geheim  und  nur  zu  des  Botschafters  persönlicher  Orien- 
tierung wird  schließlich  hinzugefügt,  er  solle  es  vermeiden,  bei  seinen 
Besprechungen  die   Frage  des  Lovcen  zu  berühren.   Denn  in  betreff 


russische.  Schon  am  26.  Dezember  1912  hatte  Sasonow  zu  dem  serbischen 
Gesandten  Popowitsch  gesagt:  „Er  hege  nach  den  großen  Erfolgen  [Serbiens] 
Vertrauen  zu  unserer  Kraft  und  glaube,  daß  wir  Österreich-Ungarn  erschüttern 
werden.  Demgemäß  sollten  wir  uns  mit  dem  begnügen,  was  wir  bekommen 
werden,  und  dies  als  eine  Etappe  betrachten;  denn  die  Zukunft  sei  unser.  Die 
Hauptsache  sei,  sich  mit  Montenegro  zu  vereinigen."  Telegramm  Popowitschs 
vom  27.  Dezember  1912  (Weißbuch  betreffend  die  Verantwortlichkeit  der 
Urheber  des  Krieges,  S.  109).  Dabei  wußte  man  natürlich  in  Rußland  ganz 
genau,  daß  Österreich-Ungarn  in  eine  solche  Vereinigung  unter  keinen  Um- 
ständen willigen  werde.  In  der  Audienz,,  die  Kaiser  Nikolaus  am  4.  Februar 
dem  Prinzen  Gottfried  Hohenlohe  erteilte  (vgl.  dazu  Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXIX, 
Nr.  12  791),  gestand  er  ganz  offen  zu,  „natürlich  könne  Österreich-Ungarn  die 
Vereinigung   dieser  beiden   Staaten   niemals   zulassen". 

326 


dieses  heiklen  Punktes  würde  die  Monarchie  nicht  in  der  Lage  sein, 
der  italienischen  Regierung  diejenigen  Zusicherungen  zu  geben,  die 
voraussichtlich  von  Rom  aus  verlangt  werden  würden.  In  betreff  des 
Lovcen  bestehe  hier  der  Grundsatz,  daß  diese  strategisch  äußerst 
wichtige  Stellung  keinesfalls  in  serbischen  Besitz  übergehen  dürfe. 

Mir  gegenüber  bemerkte  Graf  Forgach  hierzu  noch,  Österreich- 
Ungarn  wolle  selbst  den  Lovcen  nicht  verlangen.  Vielleicht  könnte  er 
noch  Albanien  zugesprochen  werden,  wie  man  denn  auch  im  Laufe 
der  bezüglichen  Verhandlungen  noch  den  Versuch  werde  machen 
können,  von  Serbien  als  Kompensation  für  den  beträchtlichen  Ge- 
bietszuwachs im  Sandschak  und  Montenegro  einige  rein  albanesische 
Bezirke,  die  im  Bukarester  Frieden  Serbien  zugesprochen  worden 
seien  —  wie  Dibra  und  Diakowa  — ,  wieder  an  Albanien  anzugliedern  1. 

Herr  von  Merey  hat  nun  bis  heute  diese  Angelegenheit  beim 
Marquis  di  San  Giuliano  noch  nicht  angeregt.  Angesichts  der  sich  in 
der  allerletzten  Zeit  stärker  bemerkbar  machenden  Anzeichen  für  die 
wachsende  Wahrscheinlichkeit  einer  serbisch-montenegrinischen  Union 
ist  Herrn  von  Merey  dieser  Tage  telegraphisch  anheimgestellt  worden, 
nunmehr  nicht  länger  damit  zu  zögern.  Bestärkt  ist  man  worden  in 
diesem  Entschlüsse  durch  die  Tatsache,  daß  auch  der  Herzog  von 
Avarna  hier  mitgeteilt  hat,  daß  man  in  Rom  gleichfalls  beunruhigende 
Nachrichten  über  eine  serbisch-montenegrinische  Union  erhalten  habe*. 
Graf  Berchtold  ist  dem  italienischen  Botschafter  gegenüber  nicht  auf 
die  Details  dieser  Frage  eingegangen  —  die  in  Rom  behandelt  werden 
soll  — ,  hat  aber  dem  Herzog  von  Avarna  gesagt,  daß  man  sie  als 
eine  adriatische  nur  im  Einvernehmen  mit  Rom  zu  lösen  gedenke. 
Der  italienische  Botschafter  hat  dem  Minister  für  diese  Mitteilung  warm 
gedankt,  die  in  Rom  äußerst  beruhigend  wirken  werde. 

von  Tschirschky 


*  Auch  bei  Sasonow  brachte  der  neuernannte  Österreich-ungarische  Bot- 
schafter in  Petersburg  Graf  Szäparyi  kurz  darauf  die  Frage  der  Union  Serbiens 
und  Montenegros  warnend  zur  Sprache.  In  Sasonows  geheimem  Briefe  an  den 
Gesandten  in  Belgrad  von  Hartwig  vom  5.  März  (Diplomatische  Aktenstücke 
zur  Geschichte  der  Ententepolitik  der  Vorkriegsjahre,  ed.  B.  v.  Siebert, 
S.  626  f.)  heißt  es  darüber:  „Mit  der  Bemerkung,  daß  er  von  seiner  Re- 
gierung zu  diesem  Meinungsaustausche  nicht  beauftragt  worden  sei,  erwähnte 
Szäparyi,  daß  die  in  Montenegro  und  Serbien  bemerkbare  Neigung  zu  einer 
beiderseitigen  Annäherung  oder  Vereinigung  überall  die  größte  Beunruhigung 
hervorrufe.  Wenn  eine  solche  Vereinigung  stattfindet,  so  würde  Österreich 
nicht  stiller  Zuschauer  bleiben  können.  Die  Interessen  der  Monarchie  im  Adria- 
tischen  Meere  lassen  keine  Verschiebung  des  Gleichgewichtes  zu.  Das  Adria- 
tische Meer  bedeutet  für  Österreich-Ungarn  dasselbe,  was  das  Schwarze  Meer  für 
Rußland."  Die  Warnung  Graf  Szäpäryis  veranlaßte  Sasonow,  der  in  seinem 
Briefe  an  Hartwig  seine  Sympathie  für  den  Unionsgedanken  deutlich  hervor- 
treten läßt,  in  Belgrad  zu  äußerst  vorsichtiger  Behandlung  der  für  Serbien  so 
wichtigen  Frage  zu  raten. 

327 


Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Reichlich  spät  erkannt l    Ich  habe  das  vorigen  Sommer  schon  gerathenü 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Der  arme  Wied  kommt  in  einen  netten  Hex[en]kessel 


Nr.  15  537 

Der  Gesandte  in  Cetinje  von  Eckardt  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  21  Cetinje,  den  25.  Februar  1914 

Auf  Grund  meiner  zuverlässigen  Beziehungen  zum  Könige  bin  ich 
in  der  Lage  zu  behaupten,  daß  Seine  Majestät  jetzt  nicht  im  mindesten 
geneigt  ist,  es  zu  einer  Fusion  zwischen  Serbien  und  Montenegro 
kommen  zu  lassen.  Wenn  der  König  in  seiner  Thronrede*  von  einem 
Zusammengehen  beider  Länder  sprach,  so  tat  er  dies,  wie  er  mir 
schon  vorher  sagte,  um  der  Opposition,  die  dergleichen  verlangen  will, 
zuvorzukommen.  Die  Skupschtina  in  ihrer  überwiegenden  Mehrheit 
will  von  einer  Fusion  nichts  wissen.  Der  serbische  Gesandte,  Herr 
Gawrilowitsch,  unterläßt  jede  Agitation  und  beschränkt  sich  darauf,  die 
Entwickelung  der  Dinge  aufmerksam  zu  verfolgen.  Der  König,  selbst 
wenn  er  aus  St.  Petersburg  eine  Erhöhung  seiner  Apanage  erhalten 
sollte**,  wird  jetzt,  nachdem  er  über  die  Skutarikrisis ***  glücklich 
hinweggekommen  ist  und  seine  Anleihe  f  erhält,  nicht  im  entferntesten 


*  Es  war  in  der  am  12.  Februar  bei  der  Eröffnung  der  Skupschtina  verlesenen 
Thronrede  von  dem  „dauernden  Zusammenarbeiten  mit  unsern  serbischen 
Brüdern"  die  Rede. 

**  Tatsächlich  war  dem  Könige  von  Montenegro  für  den  Fall  seiner  engen  An- 
lehnung an  Rußland  nicht  nur  eine  Erhöhung  seiner  Apanage,  sondern  auch  eine 
weitgehende  militärische  Unterstützung  mit  Geld  und  Militärinstrukteuren  zu- 
gesagt worden.  In  dem  Bericht  des  russischen  Geschäftsträgers  in  Cetinje 
Obnorski  vom  23.  Februar  (M.  Boghitschewitsch,  Kriegsursachen,  S.  122  ff.) 
heißt  es  darüber:  „In  dem  in  diesen  Tagen  eingegangenen  neuen  Erlaß  Euerer 
Exzellenz  vom  23.  Januar  Nr.  61  wurden  mir  die  von  unserem  Kriegsministerium 
ausgearbeiteten  Berechnungen  über  die  Ausgaben  für  die  militärische  Unter- 
stützung Montenegros  mitgeteilt,  welche  mir  etwas  übertrieben  erscheinen.  Nach 
dem  Anschlag  unserer  Militärbehörde  sollen  diese  Ausgaben  jährlich  vier  Millio- 
nen Rubel  für  die  Unterhaltung  und  Versorgung  des  Heeres  und  500000  Rubel 
für  die  Instrukteure  betragen.  Außerdem  sind  fünfzehn  Millionen  Rubel  für  die 
Versorgung  der  montenegrinischen  Truppen  mit  Artillerie  und  Kriegsmaterial 
vorgesehen.  Diese  Ziffern  sind  so  bedeutend,  daß  das  Kriegsministerium  es  für 
nötig  hielt,  darauf  hinzuweisen,  daß  es  für  Rußland  äußerst  schwierig  sei, 
Montenegro  überhaupt  militärische  Unterstützung  auf  neuen  Grundlagen  zu 
gewähren." 

***  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIV,  Kap.  CCLXXI. 

f  Über  die  Montenegro  nach  langen,  auf  die  Londoner  Konferenz  zurückgehen- 
den Verhandlungen  bewilligte  Anleihe  in  Höhe  von  40  Millionen  Franken  vgl. 

328 


daran  denken,  auf  seinen  Thron  zu  verzichten.  In  den  letzten  Tagen 
sprach  seine  Majestät  während  mehrerer  Stunden  mit  mir  gerade  über 
hierher  gehörende  intime  Angelegenheiten  und  bewies  deutlich,  daß 
ihm  die  Sicherung  der  Zukunft  seiner  Dynastie  am  Herzen  liegt.  Spe- 
ziellen Anlaß  zu  diesen  Unterhaltungen  gab  das  Verlangen  des  Prinzen 
Mirko  und  seiner  Gemahlin,  der  Prinzeß  Natalie,  geschieden  zu  werden. 
Die  königliche  Familie  steht  auf  seiten  der  Prinzeß,  wünscht  aber 
eine  Lösung,  die  eine  Erziehung  des  jungen  Prinzen  in  Montenegro 
ermöglicht. 

Inwieweit  die  russische  Regierung  auf  eine  Fusion  hinarbeitet, 
kann  ich  nicht  beurteilen*. 

Meines  unmaßgeblichen  Dafürhaltens  hat  es  die  österreichische  Re- 
gierung noch  in  der  Hand,  etwaigen  diesbezüglichen  russischen  Intrigen 
wirksam  entgegenzutreten.  Man  muß  in  Wien  nur  den  Mut  haben,  sich 
die  in  der  Balkankrisis  und  hier  in  der  Skutarifrage  gemachten  Fehler 
und  Fiaskos  einzugestehen1.  Die  Bewilligung  einer  vernünftigen  Grenze 
zwischen  Montenegro  und  Albanien  würde,  so  will  es  mir  scheinen,  dem 
Prestige  der  Monarchie  keinen  Abbruch  tun 2.  F    k      d  t 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  Viel  verlangt! 

2  richtig 

Nr.  15  538 

Der  Gesandte  in  Sofia  Michahelles  an  den  Reichskanzler 
von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  30  Sofia,  den  10.  März  1914 

Die  gestrige  Ausgabe  des  hiesigen  Blattes  „Dnewnik"  brachte  den 
in  Übersetzung  beigefügten**  Abdruck  eines  Briefes,  der  aus  Belgrad 


Der  Diplomatische  Schriftwechsel  Iswolskis  1911—1914,  ed.  Fr.  Stieve,  III, 
422,  433,  436. 

*  Daß  die  russische  Regierung  einschließlich  des  Zaren  selbst  die  Fusion 
wünschte  und  sie  zu  fördern  bereit  war,  ergibt  sich  aus  den  Äußerungen,  die  der 
Zar  am  2.  Februar  zu  dem  serbischen  Ministerpräsidenten  Paschitsch  tat.  Vgl. 
den  Bericht  Paschitschs  vom  2.  Februar  (Weißbuch  betreffend  die  Verantwort- 
lichkeit der  Urheber  des  Krieges,  S.  116  f.).  Danach  sagte  der  Zar,  er  wisse,  daß 
das  ganze  montenegrinische  Volk  die  Vereinigung  mit  Serbien  wünsche.  Vgl. 
auch  Nr.  15  535,  Fußnote*.  Auch  aus  den  Äußerungen  Sasonows  zu  Graf 
Szäpäry  von  Anfang  März  (vgl.  Nr.  15  536,  S.  327,  Fußnote*)  geht  immerhin  her- 
vor, daß  der  russische  Außenminister,  wenngleich  er  in  Belgrad  vor  einer  Über- 
stürzung der  Frage  warnte,  auf  ihre  Förderung  doch  nicht  verzichten  wollte. 
Zu  einem  nahen  Bekannten  A.  Ballins  hat  sich  der  frühere  russische  Minister- 
präsident Witte  Anfang  Juli  1914  in  Bad  Salzschlirf  geäußert:  „Die  bevor- 
stehende Union  von  Serbien  und  Montenegro  ist  ausschließlich  das  Werk  von 
Hartwigs  in  Belgrad."  Ballin  an  Unterstaatssekretär  Wahnschaffe,  11.  Juli  1914. 
**  Siehe  Anlage. 

329 


an  den  russischen  Schriftsteller  und  Journalisten  Toporow  gerichtet 
ist,  der  aus  Sofia  dem  „Retsch"  und  anderen  russischen  Zeitungen  Be- 
richte liefert.  Daß  die  russische  Politik  auf  dem  Balkan  mit  großen 
Geldmitteln  arbeitet,  um  das  verlorene  Terrain  zurückzugewinnen,  ist 
schon  mehrfach  berichtet  worden,  und  diesem  Brief  zufolge  hätte  der 
neue  russische  Gesandte  in  Sofia,  Herr  Sawinsky,  direkt  den  Auftrag 
erhalten,  entweder  den  russischen  Einfluß  in  Bulgarien  wieder  her- 
zustellen oder  den  König  zu  stürzen.  Desgleichen  gehen  angeblich  die 
russischen  Wühlereien  in  Montenegro  weiter,  um  eine  Vereinigung  mit 
Serbien  vorzubereiten  und  auf  diese  Weise  den  Serben  den  von  Öster- 
reich verlegten  freien  Ausweg  an  das  Adriatische  Meer  zu  verschaffen. 

G.  Michahelles 


Anlage 

Übersetzung  aus  der  Zeitung  ,/)newnik" 
vom  24.  Februar/ 9.  März  1914 

Die  Rolle  der  russischen  Diplomatie  auf  dem  Balkan 

Wir  sind  im  Besitze  eines  Briefes,  der  unter  dem  18.  Februar  von 
Belgrad  aus  an  den  Korrespondenten  russischer  Blätter  in  Sofia,  Herrn 
Wladimir  Wiktorow-Toporow  gerichtet  ist,  und  dessen  Inhalt  wir  nach- 
stehend in  Übersetzung  wiedergeben,  während  wir  den  Brief  selbst 
morgen  in  Faksimile  zum  Abdruck  bringen  werden. 

Belgrad,  18.  Februar  1914 

Lieber  Wolodja! 

Den  Brief  und  die  Postkarte  aus  Philippopel  habe  ich  erhalten. 
Den  Auftrag  habe  ich  denselben  Tag  ausgeführt. 

Gentschitsch  *  ist  zufrieden  geblieben.  Er  hat  mir  streng  vertrau- 
lich mitgeteilt,  daß  Alexander  Alexandrowitsch,  der  neue  russische  Ge- 
sandte in  Sofia,  der  zwei  Tage  hier  weilte,  Herrn  Paschitsch  übermittelt 
habe,  daß  ihm  —  Sawinsky  —  von  Sasonow  selbst  der  Auftrag  erteilt 
worden  sei,  sich  zu  bemühen,  ohne  in  den  Mitteln  hierzu  wählerisch  zu 
sein,  entweder  Bulgarien  das  Halsjoch  aufzuzwingen  oder  dem  Fer- 
dinand die  Krone  vom  Haupt  zu  nehmen  und  dadurch  den!  Einfluß  der 
verdammten  Nemtzi  (Österreicher)  aus  diesem  mit  uns  durch  Bande 
des  Slawentums  verbundenen  Südlande  zu  verdrängen.  Außerdem  teilte 
Gentschitsch  noch  mit,  daß  am  5.  Februar  die  serbisch-rumänische 
Militärkonvention  in  Bukarest  unterzeichnet  worden  sei. 


*   Früherer  serbischer    Minister   des    Innern    (1900),   später   mehrfach   in   Ver- 
schwörungen verwickelt. 

330 


Die  Angelegenheiten  in  Montenegro  nehmen  ihren  Lauf.  Die 
Stellung  des  Königs  wird  jeden  Tag  schlechter.  Die  Erfolge  unserer 
Agitation  hinsichtlich  der  Angliederung  des  kleinen  Königreichs  an 
Serbien  sind  einfach  unglaubliche,  ohne  Rücksicht  auf  die  Entgegen- 
wirkung  von  Seiten  der  österreichischen  Geheimagenten. 

Meiner  tiefen  Überzeugung  nach  wird  König  Nikita  bald  entthront 
und  die  Annexion  eine  vollendete  Tatsache  werden. 

A  propos.  Gestern  wurden  auf  Befehl  aus  St.  Petersburg  aus 
der  Kasse  der  russischen  Gesandtschaft  in  Belgrad  zur  Verfügung  des 
Herrn  Sawinsky  145  000  francs  überwiesen,  die  für  Agitationszwecke 
in  Bulgarien  erforderlich  sind. 

Überdies  teilt  man  aus  Konstantinopel  mit,  daß  am  7.  Februar 
der  russische  Vizekonsul  in  Sofia  Djakelly  dort  gewesen  ist,  dem 
aus  der  Botschaftskasse  weitere  120  000  francs  gleichfalls  zu  Agi- 
tationszwecken übergeben  worden  seien! 

Das  verstehe  ich  nicht  mehr.  Gipfelt  denn  die  Politik  der  rus- 
sischen Regierung  in  Bulgarien  hauptsächlich  in  dem  Ausgeben  be- 
trächtlicher Geldsummen?    Das  ist  einfach  ein  Skandal! 

Morgen  fahre  ich  nach  Odessa,  von  der  Redaktion  telegraphisch 
berufen.  Schreibe  mir  dorthin  an  die  Redaktion  des  Journals  für  Luft- 
schiffahrt, Polizeiskaja  Nr.  18. 

Festen  Händedruck 

(gez.)   Kosja. 

Anmerkung  der  Redaktion:  Herr  Wiktorow-Toporow,  als 
guter  und  aufrichtiger  Freund  Bulgariens  bekannt,  an  den  der  obige 
Brief  gerichtet  ist,  kann  durch  den  Inhalt  des  Briefes  nicht  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  werden;  im  Gegenteil,  er  spricht  zu  seinen  Gun- 
sten, da  auch  sein  Freund  aus  Belgrad  über  das  Vorgehen  der  rus- 
sischen Diplomatie  in  den  Balkanländern  entrüstet  ist.  —  Durch  die 
Bekanntgabe  des  obigen  Briefes  verfolgen  wir  weder  eine  Tendenz,  noch 
wollen  wir  dieser  oder  jener  politischen  Richtung  einen  Dienst  erweisen. 
Das  Schriftstück  spricht  für  sich  selbst  und  ist  für  die  russische  Balkan- 
politik charakteristisch. 


Nr.  15  539 

Der  Gesandte  in  Belgrad  Freiherr  von  Griesinger  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.   29  Belgrad,  den   11.   März  1914 

Seitdem   in    der   montenegrinischen    Volksvertretung   der   Wunsch 
nach   einer   engeren   Vereinigung   mit   Serbien,   vorläufig  durch   Her- 

331 


Stellung  gemeinsamer  Heeres-  und  Zollverwaltung  sowie  diplomatischer 
Vertretung,  laut  geworden  ist,  beschäftigt  die  Frage  einer  Vereinigung 
beider  Länder  auch  die  Öffentlichkeit  in  Serbien  in  immer  steigendem 
Maße.  Neu  ist  diese  Idee  ja  nicht.  In  der  Geschichte  der  südslawischen 
Einheitsbestrebungen  ist  sie  wiederholt  aufgetaucht,  und  sogar  König 
Nikita  selbst  hat  in  jugendlichem  Überschwang  1866  dem  Fürsten 
Michael  Obrenowitsch  von  Serbien  gegenüber  sich  zum  Verzicht  auf 
seinen  Thron  bereit  erklärt,  wenn  es  diesem  gelänge,  die  unter  tür- 
kischer Herrschaft  befindlichen  Slawen  zu  befreien  und  mit  Serbien 
zu  vereinigen.  Heute  will  er  von  diesen  Jugendträumen  natürlich  nichts 
mehr  wissen.  Inzwischen  aber  ist  allmählich  die  Vereinigungsidee  von 
den  dynastischen  Höhen  in  die  Niederungen  des  Volkes  gedrungen, 
und  die  Ereignisse  der  letzten  zwei  Jahre  haben  ersichtlich  dazu  bei- 
getragen, ihr  in  diesen  Kreisen  immer  mehr  Anhänger  zu  gewinnen. 
Das  wichtigste  Motiv  dürfte  hier  die  Rücksicht  auf  die  materiellen 
Verhältnisse  sein.  Ein  guter  Teil  der  montenegrinischen  Volksvertreter 
ist  zu  der  Einsicht  gelangt,  daß  Montenegro  aus  eigenen  Kräften 
nimmermehr  die  Mittel  wird  aufbringen  können  1,  um  das  noch  gänzlich 
patriarchalische  Staatswesen  zu  einigermaßen  modernen  Zuständen 
hinüberzuleiten.  Als  Teil  eines  Großserbiens  hofft  man  diese  Moder- 
nisierung viel  billiger  und  wirksamer  zu  erreichen. 

Dazu  tritt  das  Verhältnis  des  Volkes  zur  Dynastie  Petrowitsch, 
die,  wie  mir  mein  österreichischer  Kollege*  nach  seinen  persönlichen 
Beobachtungen  in  Montenegro  mitteilt,  keineswegs  populär  ist.  Zwar 
der  greise  Nikita,  der  die  Tradition  verkörpere,  werde  noch  respektiert, 
und  es  sei  deshalb  nicht  wahrscheinlich,  daß,  solange  er  die  Zügel 
der  Regierung  führe,  eine  Staatskrise  ausbrechen  und  über  ihn  hinweg 
die  Vereinigung  mit  Serbien  sich  vollziehen  werde.  Aber  seinen  Söhnen 
werde  weder  Achtung  noch  Liebe  entgegengebracht.  Danilo  gelte  für 
verblödet,  Mirko  für  zügellos  und  moralisch  so  verkommen,  daß  seine 
Frau,  eine  nahe  Verwandte  der  Obrenowitsch,  sich  zur  Scheidung  von 
ihm  genötigt  sehe.  Der  dritte  Sohn  sei  ein  unreifer  Junge  und  im 
Volk  fast  unbekannt.  Das  Volk  werde  daher  nach  dem  Tode  Nikitas 
sicher  trachten,  sich  Serbien  anzuschließen.  —  Auf  meine  Frage,  wie 
sich  wohl  die  Nachbarmonarchie  zu  einer  solchen  Eventualität  stellen 
würde,  meinte  Freiherr  von  Giesl,  daß,  nachdem  Österreich-Ungarn 
als  Prinzip  aufgestellt  habe,  daß  Serbien  territorial  nicht  an  die  Adria 
dürfe2,  es  konsequenterweise  dies  auch  nicht  auf  dem  Umwege  über 
Montenegro  gestatten  könne 3  **.     Er  sehe  daher,  wenn  unerwarteter- 


*  E.  Otto. 

**  Dieselbe  Auffassung  vertrat  mit  aller  Energie  auch  General  von  Conrad  in 
einem  Schreiben  an  Graf  Berchtold  vom  11.  März  (Feldmarschall  Conrad,  Aus 
meiner  Dienstzeit,  III,  580).  Es  heißt  darin:  „Sollte  die  Fusion  Montenegros 
mit  Serbien  erfolgen,  so  erscheinen  dadurch  wesentliche  Interessen  der  Mon- 
archie, und  zwar  vor  allem  auch  militärische,  tangiert,  und  wäre  das  stets  ver- 

332 


weise  jetzt  schon  eine  Union  versucht  würde,  eine  Intervention  Österreich- 
Ungarns  voraus.  Was  aber  geschehen  würde,  wenn  die  Krise  erst  in  einer 
entfernteren  Zukunft  ausbrechen  sollte,  darüber  scheint  er  sich  keine  ab- 
schließende Meinung  gebildet  zu  haben.  Immerhin  glaube  ich  aus 
der  Haltung  der  österreichisch-ungarischen  Presse,  welche  sich  mehr- 
fach mit  dieser  Frage  beschäftigt  hat,  entnehmen  zu  dürfen,  daß  man 
bereits  gegenwärtig  in  der  Monarchie  eifrig  bemüht  ist,  diesen  An- 
schluß, wenn  irgend  möglich,  zu  verhindern4. 

Mein  italienischer  Kollege*,  der  ebenfalls  längere  Zeit  in  Cetinje 
tätig  war,  hält  es  fast  für  ein  Axiom,  daß,  sobald  König  Nikita  die 
Augen  schließe,  die  Vereinigung  beider  Länder  erfolgen  werde5.  Vor- 
her aber  hält  auch  er  sie  für  nicht  wahrscheinlich.  Die  italienische 
Regierung  würde  nach  seiner  Ansicht  einer  Union  keine  besonderen 
Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen6. 

Eigentümlich  ist  die  Haltung  der  offiziösen  Kreise  in  Serbien. 
Sie  legen  sich  in  dieser  Frage  bisher  die  größte  Reserve  auf.  Während 
die  private  Presse  das  Thema  mehrfach  besprochen  und  ihre  freudige 
Zustimmung  zu  den  in  der  montenegrinischen  Skupschtina  laut  geworde- 
nen Anschlußtendenzen  zu  erkennen  gegeben  hat,  schweigen  sich  die 
Regierungsorgane  völlig  darüber  aus.  Nur  indirekt  läßt  sich  ein  Schluß 
auf  ihre  Ansicht  ziehen,  insofern  als  sie  Stimmen  gewisser  auswärtiger 
Blätter  wiedergeben,  die  sich  scharf  gegen  eine  Annäherung  Mon- 
tenegros an  Österreich-Ungarn  aussprechen.  Auch  die  Zulassung  der 
gerade  in  diesen  Tagen  erfolgten  Gründung  eines  montenegrinischen 
Omladina-Vereins  in  Belgrad,  der  ausgesprochen  serbisch-montene- 
grinische Vereinigungstendenzen  verfolgt,  erscheint  mir  symptoma- 
tisch**.  HerrPaschitsch  selbst,  mit  dem  ich  Gelegenheit  hatte,  über  das 


tretene  Prinzip  durchbrochen,  Serbien  nicht  an  die  Adria  gelangen  zu  lassen.  — 
An  der  Monarchie  wäre  es  dann,  den  Küstenstreifen  von  Spizza  bis  zum  Anschluß 
an  Albanien  für  sich  in  Besitz  zu  nehmen.  Dadurch  wäre  auch  die  so  sehr 
erwünschte  direkte  Verbindung  mit  letzterem  Staate  geschaffen."  Am  12.  März 
hatte  Conrad  darauf  eine  Unterredung  mit  Graf  Berchtold,  in  der  er  wiederholte: 
„Wir  dürfen  Serbien  nicht  ans  Meer  gelangen  lassen."  Graf  Berchtold  glaubte 
indessen  nach  Conrads  Angabe  (a.  a.  O.,  III,  616)  nicht,  daß  die  Fusionierung 
Serbiens  mit  Montenegro  sich  in  einem  spontanen  politischen  Akt  vollziehen 
werde,  sondern  allmählich,  so  daß  es  nicht  möglich  sein  würde,  einzugreifen. 
Doch  hoffte  der  österreichische  Minister  noch,  mit  Italien  zu  einem  Einverständnis 
darüber  kommen  zu  können,  daß  das  montenegrinische  Küstenland  bei  einer 
Fusion  Serbiens  mit  Montenegro  Albanien  zugeteilt  werde. 
*  Squitti. 

**  Von  einer  starken  großserbischen  Propaganda  in  Montenegro  weiß  auch  der 
österreichische  Militärattache  in  Cetinje  Hauptmann  Hubka  am  18.  März  zu 
berichten:  „Gleichzeitig  wird  die  großserbische  Propaganda  mit  reichen,  eben- 
falls aus  Rußland  stammenden  Mitteln  fortgesetzt.  Sie  erstreckt  sich  in  erster 
Linie  auf  die  Intelligenz  im  Lande,  auf  die  Popen,  Lehrer,  Beamten  und  der- 
gleichen, aber  auch  auf  Kleinbauern  und  Gewerbetreibende,  indem  sie  ihnen 
beweist,  daß  Montenegro  als  selbständiger  Staat  wirtschaftlich  nicht  bestehen 
könne,  daß  dem  Ruin  aller  Steuerträger  einzig  und  allein  durch  die  Union  mit 

333 


Verhältnis  zwischen  beiden  Ländern  zu  sprechen,  betont  seine  Friedens- 
liebe und  leugnet  alle  Eroberungs-  oder  Vereinigungstendenzen  rund- 
weg ab*.   Doch  gibt  er  zu,  daß  die  Stellung  der  Dynastie  Petrowitsch- 


Serbien  vorgebeugt  werden  könne."  Feldmarschall  Conrad,  Aus  meiner  Dienst- 
zeit, III,  581. 

*  Die  Ableugnung  geschah  wider  besseres  Wissen;  hatte  Paschitsch  sich  doch 
in  seiner  Audienz  bei  dem  Zaren  am  2.  Februar  (vgl.  auch  Nr.  15  537,  S.  329,  Fuß- 
note *)  in  aller  Ausführlichkeit  über  die  Vereinigungstendenzen  ausgelassen. 
In  dem  Berichte  Paschitschs  über  seine  Audienz  (Weißbuch  betreffend  die  Ver- 
antwortlichkeit der  Urheber  des  Krieges,  S.  116  f.)  heißt  es  darüber:  „Hierauf 
ging  das  Gespräch  über  auf  Montenegro,  Bulgarien  und  Österreich.  —  Über 
Montenegro  sagte  er  [der  Zar]  mir,  er  wisse,  daß  dort  das  ganze  Volk  auf  unserer 
Seite  stehe  und  die  Vereinigung  mit  uns  wünsche.  Ich  erzählte  ihm,  was  zur 
Zeit  des  Krieges  und  später  getan  wurde,  und  was  der  montenegrinische  Ge- 
sandte in  Belgrad  Miuschkowitsch  darüber  spricht,  und  daß  Miuschko witsch 
darüber  mit  dem  König  sprechen  wird,  und  daß  er  ihm  raten  wird,  daß  er  selbst, 
solange  es  noch  Zeit  ist,  die  Frage  der  Personalunion  mit  Serbien  anregen  möge, 
da  nach  seinem  Tode  (nämlich  des  Königs  Nikolaus)  die  Sache  schwierig  und 
für  die  ganze  Dynastie  gefährlich  werden  könnte.  —  Der  Zar  kritisierte  sehr 
heftig  die  Haltung  Montenegros  und  sagte,  daß  Montenegro  nicht  aufrichtig 
handle,  wie  es  auch  jetzt  im  Einverständnisse  mit  Österreich  sei,  und  wie  er 
zufällig  erst  gestern  von  seinem  Minister  gehört  habe,  daß  Montenegro  irgend- 
welche Intrigen  gegen  Serbien  und  dessen  Dynastie  im  Sinne  habe,  und  daß 
man  daher  achtgeben  müsse,  daß  es  nicht  etwas  Schlimmes  anrichte.  Auch  er 
findet,  daß  die  Frage  der  Vereinigung  Serbiens  mit  Montenegro  eine  Frage  der 
Zeit  sei,  und  daß  sie  mit  möglichst  geringer  Erschütterung  und  Lärm  gelöst 
werden  müsse.  Ich  sagte  ihm,  auch  wir  seien  für  die  Union,  allein  wir  hätten 
Miuschkowitsch  erklärt,  wir  könnten  diese  Frage  nicht  aufwerfen,  denn  wir 
seien  die  Stärkeren,  und  da  könnte  man  sagen,  daß  wir  Miuschkowitsch  ver- 
gewaltigt hätten;  wir  warten  daher,  bis  sie  es  vorschlagen,  dann  werden  wir 
es  annehmen  und  so  entscheiden,  daß  die  Existenz  der  montenegrinischen 
Dynastie  gesichert  wird/'  —  Tatsächlich  entschloß  sich  König  Nikita  bald 
darauf,  wie  es  scheint,  auf  russischen  Druck,  in  der  Richtung  einer  Vereinigung 
Montenegros  mit  Serbien,  wenn  auch  unter  Erhaltung  seiner  Dynastie,  initiativ 
vorzugehen.  Vgl.  das  Telegramm  des  russischen  Geschäftsträgers  in  Cetinje 
Obnorski  vom  26.  März  (Diplomatische  Aktenstücke  zur  Geschichte  der 
Ententepolitik  der  Vorkriegsjahre,  ed.  B.  von  Siebert,  S.  624) :  „König 
Nikolaus  hat  in  diesen  Tagen  nach  langem  Zögern  den  Befehl  erteilt, 
sein  schon  vor  einiger  Zeit  nach  Belgrad  gesandtes  eigenhändiges  Schreiben 
König  Peter  zu  übergeben.  In  diesem  Schreiben  wird  Serbien  eingeladen,  un- 
verzüglich mit  Montenegro  eine  Abmachung  über  die  Vereinigung  beider  Nationen 
auf  militärischem,  diplomatischem  und  finanziellem  Gebiete  zu  treffen  unter  ,dem 
Vorbehalte  der  Unabhängigkeit  und  Eigenart  beider  Staaten  und  ihrer  Dynastien'. 
Am  Schlüsse  des  Schreibens  hebt  König  Nikolaus  hervor,  daß  eine  derartige 
Vereinbarung  ,für  das  noch  nicht  befreite  Serbentum  sehr  nützlich  sein  werde* 
und  im  Sinne  des  ewigen  Beschützers  der  Slawen  —  Rußlands  —  sei."  Vgl.  auch 
das  Telegramm  des  russischen  Gesandten  in  Belgrad  an  Sasonow  vom  30.  März, 
das  die  Angaben  Obnorskis  bestätigt,  v.  Siebert,  a.  a.  O.,  S.  626.  Der  weitere 
Verlauf,  den  die  Angelegenheit  nahm,  ergibt  sich  aus  dem  streng  vertraulichen 
Bericht  von  Hartwigs  vom  19.  Mai,  v.  Siebert,  a.  a.  O.,  S.  629  ff .  In  Öster- 
reich-Ungarn war  man  von  dem  Fortschreiten  des  Projekts  ziemlich  genau  unter- 
richtet; vgl.  den  Bericht  des  österreichischen   Militärattaches  in  Cetinje   Haupt- 

334 


Njegosch  eine  schwierige  sei.  Das  Volk  sei  unzufrieden,  weil  es  sich 
zur  Stagnation  verurteilt  sehe,  während  der  Bruderstaat,  dessen  Gren- 
zen es  jetzt  unmittelbar  berühre,  rüstig  fortschreite.  Kein  Wunder 
daher,  daß  die  Bevölkerung  Montenegros  sehnsüchtig  über  die  Grenze 
schaue,  und  naturgemäß  werde  dieser  Drang  auch  auf  Serbien  nicht 
ohne  Einfluß  bleiben  können.  Mit  einem  Wort,  der  serbische  Mi- 
nisterpräsident, dessen  Stellung  in  dieser  Frage  eine  besonders  heikle 
ist,  weil  sein  persönliches  Verhältnis  zu  dem  Könige  Montenegros  ein 
bekannt  schlechtes  ist,  möchte  die  Pose  eines  Mannes  annehmen,  der 
ruhig  abwartet,  daß  ihm  die  reife  Frucht  in  den  Schoß  fällt,  der  aber 
beileibe  nicht  das  geringste  getan  haben  will,  um  ihr  Abfallen  irgend- 
wie zu  beschleunigen. 

v.   Griesinger 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  Ebenso  wie  in  Albanien! 

2  Blödsinn 

3  unglaublich!    ist  nicht  zu  hindern! 

4  ist  gar  nicht  möglich 

5  ja 

6  ich  auch  nicht 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Die  Vereinigung  ist  absolut  nicht  zu  verhindern;  und  wenn  Wien  das  ver- 
suchen sollte,  so  macht  es  eine  große  Dummheit  und  beschwört  die  Gefahr 
eines  Krieges  herauf  mit  den  Slawen,  der  uns  ganz  kalt  lassen  würde 


Nr.  15  540 

Der  Gesandte  in  Athen  Graf  von  Quadt,  z.  Z.  in  Korfu, 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  2  Korfu,  den  2.  April  1914 

Streng  vertraulich 

Von  hoher  Seite  *  wird  mir  mitgeteilt,  König  von  Montenegro  stehe 
mit  Serbien  in  Unterhandlung,  um  sein  Land  dorthin  zu  verkaufen**. 

Quadt 


mann  Hubka  vom  20.  Mai.  Feldmarschall  Conrad,  Aus  meiner  Dienstzeit, 
III,  664  f. 

*  Gemeint  dürfte  Kaiser  Wilhelm  IL  sein,  der  seit  dem  29.  März  in  Korfu 
weilte.    Vgl.  das  folgende  Schriftstück. 

**  Das  Telegramm  Graf  Quadts  wurde  noch  am  2.  April  den  Botschaftern  in 
Wien  (Nr.  48)  und  Rom  (Nr.  48)  zu  „streng  vertraulicher  Verwertung"  mit- 
geteilt. 

335 


Nr.  15  541 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky* 

Konzept  von  der  Hand  des   Unterstaatssekretärs  Zimmermann 
Nr.  446  Berlin,  den   6.  April  1914 

Zur  streng  vertraulichen   Information. 

Seine  Majestät  der  Kaiser  und  König  hat  gestern  folgendes  Tele- 
gramm** an  mich  gerichtet: 

„Von  eingeweihter  authentischer  Quelle  ist  mir  hzute  streng 
vertraulich  folgendes  mitgeteilt  worden  zur  Weitergabe  an 
„meine  Regierung",  da  man  der  Ansicht  ist,  daß  gemeldeter  Vor- 
gang ihr  nicht  bekannt  ist  und  sie  gewarnt  werde,  recht- 
zeitig Entschlüsse  zu  fassen,  ohne  überrascht  zu  werden.  Letz- 
teres sei  beabsichtigt,  und  daher  werde  , hinter  den  Kulissen'  ge- 
arbeitet, um  Deutschland  vor  eine  unangenehme  Tatsache  zu  stellen. 
Es  handelt  sich  um  folgendes:  Rußland  weiß  genau,  daß  Österreich 
eine  Fusion  zwischen  Serbien  und  Montenegro  nicht  dulden  zu  kön- 
nen erklärt  und  sie  hindern  werde,  damit  nicht  durch  Serbiens  Er- 
reichen der  Meeresküste  Rußland  in  die  Lage  kommen  könne,  einen 
Hafen  an  der  Adria  zu  erhalten.  Da  nun  durch  Österreichs  Haltung 
der  politische*  Weg  zu  einer  Fusion  ungangbar  geworden  ist,  scheint 
man  auf  eine  andere  Lösung  verfallen  zu  sein.  Vermutlich  von  Herrn 
von  Hartwig  stammend,  wird  jetzt  der  Plan  ventiliert,  daß  der  König 
Nikita  sein  Land  an  Serbien  heimlich  verkaufen  soll,  Rußland 
würde  eventuell  die  Summe  vorschießen,  und  damit  auch  ein  Anrecht 
auf  eine  Kompensation  an  der  Küste  erhalten.  Das  soll  alles  heim- 
lich   gemacht    werden,    damit    Österreich-Italien   nicht    gleich    etwas 


*  Das  gleiche  Telegramm  ging  unter  Nr.  382  nach  Rom. 

**  Das  nicht  ganz  sicher  entzifferte  Telegramm  Kaiser  Wilhelms,  datiert  unter 
Nr.  4  vom  4.  April  vom  Achilleion  auf  Korfu  ist  nach  dem  bei  den  Akten  be- 
findlichen eigenhändigen  Konzept  des  Kaisers  korrigiert  worden.  Auf  das 
Telegramm  antwortete  der  Reichskanzler  am  5.  April  (Nr.  13):  „Euerer  Majestät 
danke  ich  ehrerbietigst  für  die  telegraphische  Mitteilung  der  angeblichen  monte- 
negrinischen Verkaufspläne.  Mit  Euerer  Majestät  halte  ich  die  Sache  einstweilen 
für  etwas  phantastisch,  habe  aber  Euerer  Majestät  Gesandten  in  Cetinje  streng 
vertraulich  informiert  und  zur  Meldung  aufgefordert."  Siehe  den  vollen 
Text  des  Telegramms  in  Bd.  XXXVI,  Kap.  CCLXXXI,  Nr.  14  333.  Die  vom 
Reichskanzler  angezogene  Weisung  an  den  Gesandten  von  Eckardt  vom  5.  lautete: 
„Streng  vertraulich  verlautet,  daß  König  von  Montenegro  mit  Serbien  ver- 
handele, um  sein  Land  dorthin  zu  verkaufen.  Rußland  solle  eventuell  die  Summe 
vorschießen.  Bitte  Sachverhalt  tunlichst  aufklären.  Drahtbericht/'  Darauf  ant- 
wortete Eckardt  noch  am  5.  (Nr.  10):  „Ich  muß  die  Nachricht  für  eine  jener 
böswilligen  Erfindungen  von  Intriganten  erklären,  die  den  König  kompro- 
mittieren wollen." 

336 


davon  erfahren.  Kommt  es  später  heraus  und  Österreich  wollte  dann 
dagegen  Front  machen  und  die  Serben  zur  Rechenschaft  ziehen,  so 
würde  Rußland  umgehend  Serbien  beispringen,  und  der  Weltkrieg  sei 
da.  Dafür  rüsteten  die  Russen  jetzt  so  stark.  Sie  hätten  in  den  letzten 
vier  Wochen  in  Ungarn  30  000  Pferde  aufgekauft  —  M.  Fürstenberg* 
hat  mir  am  Abreisetage  dieselbe  Zahl  gemeldet  —  und  bereitete[n]  ganz 
im  stillen  alles  auf  diesen  Coup  vor;  dafür  die  Einladung  der  Rumänen**; 
dafür  die  Agitation  in  Rumänien,  Serbien  und  Bulgarien.  Ich  gebe 
Nachricht  wieder,  wie  sie  mir  übermittelt  wurde.  —  Mir  scheint  die 
Sache  etwas  »orientalisch*  und  , merkwürdig',  aber  ich  glaube  wohl,  daß 
der  edle  Nikita  für  dergleichen  zu  haben  sein  könnte,  und  daß  Herr 
von  Hartwig  so  was  ä  Pinsu  von  Sasonow  einzubrocken  versuchen 
möchte. 

Die  Nachricht  stammt  nicht  vom   König***." 

Soeben  geht  mit  Bezug  auf  dieses  Telegramm  folgende  Meldung 
des  Herrn  von  Treutier  einf: 

„Seine  Majestät  wünschen,  daß  die  ihm  streng  vertraulich  mit- 
geteilte Nachricht  vom  heimlichen  Verkauf  Montenegros  an  Serbien 
unter  den  gebotenen  Vorsichtsmaßregeln  in  Wien  und  eventuell  auch 
in  Rom  mitgeteilt  werde.  Dieses  Verfahren  entspräche  dem  Wunsch, 
dem  Seiner  Majestät  gegenüber  in  Wien  von  Herrn  Tisza  Ausdruck 
gegeben  worden  sei  ff.  Seine  Majestät  erinnere  bei  dieser  Gelegenheit 
daran,  daß  zwar  Seine  Majestät  der  Kaiser  Franz  Joseph  und  Graf 
Berchtold  neulich  die  Vereinigung  Montenegros  mit  Serbien  als  in- 
akzeptabel bezeichnet  hätten,  daß  aber  Graf  Tisza  dieses  Ereignis  ohne 
weitere  Erregung  als  wahrscheinlich  bevorstehend  in  Rechnung  stellte. 
Es  sei  unbedingt  nötig,  daß  man  sich  in  Wien  mit  der  Eventualität  der 
angedeuteten  Entwickelung  nunmehr  ernsthaft  befasse  und  darüber  klar 
werde,  ob  man  unter  allen  Umständen  bei  dem  vom  Kaiser  und  Grafen 
Berchtold  eingenommenen  Standpunkt  bleibe  oder  der  Ansicht  Herrn 
Tiszas  sich  anschließen  wolle.  Ersteres  sei  nur  dann  möglich,  wenn 
man  absolut  fest  entschlossen  sei,  auch  mit  Waffengewalt  die  geplante 
Vereinigung  zu  hindern.  Keinenfalls  dürfe  Österreich  wiederum  sein 
Prestige  aufs  Spiel  setzen  und  auch  nach  außen  hin  Dinge  als  inakzep- 


*  Maximilian  Fürst  zu  Fürstenberg. 
**  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCVIII. 

***  D.  h.  vom  griechischen   König,  mit  dem  Kaiser  Wilhelm   II.  von  Korfu  aus 
in  naher  Verbindung  stand, 
f  Telegramm  Nr.  26  vom  5.  April. 

ff  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCV,  Nr.  15  715  und  15  716.  Graf  Tisza  hatte 
sich  dem  Kaiser  gegenüber  auf  den  Standpunkt  gestellt,  daß  man  den  Zusammen- 
schluß Serbiens  und  Montenegros  doch  nicht  hindern  könne  und  ihn  daher  gar 
nicht  erst  als  inakzeptabel  bezeichnen,  sondern  ihn  dadurch  unschädlich  machen 
möge,  daß  man,  und  zwar  in  engem  Einvernehmen  mit  Italien  und  auf  dem 
Wege  geschlossenen  Auftretens  des  Dreibundes,  das  montenegrinische  Küsten- 
land an  Albanien  gebe,  damit  Serbien  nicht  ans  Meer  gelange. 

22    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  337 


tabel  bezeichnen,  die  man  sich  schließlich  gefallen  lassen  werde. 
Schließe  man  sich  der  vernünftigen  Ansicht  Herrn  Tiszas  an,  so  werde 
sich  ohne  weiteres  für  die  österreichische  Politik  die  Möglichkeit  er- 
geben, den  veränderten  Verhältnissen  in  dem  Sinne  Rechnung  zu 
tragen,  die  wir  seit  Jahren  predigten.  Ein  für  Serbien  verlockender 
modus  vivendi  mit  der  Doppelmonarchie  müsse  gefunden  werden. 
Er  sei  gewiß  heute  teurer  als  zu  der  Zeit,  wo  wir  diese  Ansicht  zuerst 
vertraten,  er  würde  aber  unerschwinglich  werden,  wenn  Österreich  dabei 
beharre,  diesen  einzig  richtigen  Weg  als  ungangbar  zu  bezeichnen*." 

Zur  streng  vertraulichen  Verwertung  der  Nachricht  über  die  angeb- 
lichen Verkaufsverhandlungen  des  Königs  Nikita  mit  Serbien  sind 
Euere  Exzellenz  bereits  unterm  2.  d.  Mts.  ermächtigt  worden  **.  Der 
Kaiserliche  Gesandte  in  Cetinje,  der  zur  telegraphischen  Äußerung  zur 
Sache  aufgefordert  war,  meldet  darauf  heute: 

„Ich  muß  die  Nachricht  für  eine  jener  böswilligen  Erfindungen 
von  Intriganten  erklären,  die  den  König  kompromittieren  wollen." 

Ich  darf  anheimstellen,  auch  diese  Meldung  dort  streng  vertraulich 
zu  verwerten.  Es  dürfte  danach  kein  Anlaß  vorliegen,  die  Nachricht 
von  den  Verkaufsabsichten  des  Königs  Nikita  als  ernst  anzusehen. 
Immerhin  wird  es  sich  empfehlen,  daß  die  Möglichkeit  einer  zukünftigen 
Vereinigung  Montenegros  mit  Serbien  ins  Auge  gefaßt  wird  und  der 
Dreibund  seine  Entschließungen  für  diesen  Fall  vorbereitet.  Die  von 
Seiner  Majestät  in  dieser  Hinsicht  angedeuteten  Richtlinien  für  die 
Politik  Österreich-Ungarns  stellen  zweifellos  das  erstrebenswerte  Ziel 
auch  für  die  beiden  anderen  Dreibundmächte  dar.  Ob  indes  am  Ball- 
platze dafür  Verständnis  vorhanden  sein  wird,  muß  leider  dahingestellt 
bleiben.  Unsere  Aufgabe  wird  zunächst  darin  bestehen,  in  geeigneter 
unauffälliger  Weise  dahin  zu  wirken,  daß  das  Wiener  Kabinett  sich 
nicht  vorzeitig  bereits  in  entgegengesetztem  Sinne  festlegt. 

v.   Bethmann  Hollweg 


•  Auf  das  Treutlersche  Telegramm  vom  5.  telegraphierte  Reichskanzler  von 
Bethmann  Hollvveg  am  6.  April  an  den  Kaiser  unter  Bezugnahme  auf  die  in- 
zwischen eingelaufene  negative  Meldung  des  Gesandten  von  Eckardt  (vgl.  S.  336, 
Fußnote  *•) :  „Die  Nachricht  vom  heimlichen  Verkauf  Montenegros  an  Serbien 
erklärt  Euerer  Majestät  Gesandter  in  Cetinje  für  eine  jener  bößwilligen  Erfin- 
dungen von  Intriganten,  die  den  König  kompromittieren  wollen*.  —  Mit  Euerer 
Majestät  bin  ich  indessen  davon  überzeugt,  daß  wir  gleichwohl  die  Möglichkeit 
einer  künftigen  Vereinigung  Montenegros  mit  Serbien  ins  Auge  fassen  und  tun- 
lichst rechtzeitig  darauf  hinwirken  müssen,  daß  Wien  die  Angelegenheit  nicht 
zu  einer  Prestigefrage  aufbauscht.  Ich  habe  daher  nicht  verfehlt,  Euerer  Maje- 
stät huldreiche  Ausführungen  Herrn  von  Tschirschky  zwecks  entsprechender 
Regelung  seiner  Sprache  mitzuteilen." 
"  Vgl.  Nr.  15  540,  Fußnote»*. 


338 


Nr.  15  542 

Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  den  Reichskanzler 
von  Bethmann  Hollweg* 

Ausfertigung 
Nr.  99  Rom,  den  9.  April  1914 

Während  der  Marquis  di  San  Giuliano  sich  zum  Besuche  des  Grafen 
Berchtold  in  Abbazia  **  rüstet,  wird  er  durch  die  immer  bedrohlicher 
klingenden  Nachrichten  aus  Montenegro  beunruhigt.  Anscheinend  steigt 
die  wirtschaftliche  Not  des  kleinen  Landes  täglich,  und  die  Gefahr 
wächst,  daß  ein  Zusammenschluß  mit  Serbien  gewaltsam  herbei- 
geführt wird. 

Selbst  wenn  die  vertraulich  verwertete  Nachricht  von  den  Ver- 
kaufsabsichten des  Königs  Nikita***  sich  nicht  bestätigen  sollte,  so 
hält  der  Marquis  di  San  Giuliano  auch  die  durch  eine  anderweitige  Ver- 
einigung Montenegros  mit  Serbien  entstehende  Situation  für  eine  ernste. 
Nach  seiner  Ansicht  kann  die  Vereinigung  der  beiden  Länder  dauernd 
nicht  gewaltsam  gehindert  werden.  Wenn  aber  Österreich  bei  seiner 
Weigerung,  die  Serben  ans  Meer  zu  lassen,  beharren  sollte,  so  würde 
nichts  anderes  übrig  bleiben,  als  den  Küstenstrich  Montenegros  an 
Albanien  zu  geben.  Hier  würden  aber  nach  der  Ansicht  des  Ministers 
die  italienischen  Interessen  erheblich  berührt.  Denn  unter  keinen  Um- 
ständen könnte  Italien  die  dann  entstehende  geographische  Berührung 
Albaniens  mit  Österreich  zugeben.  Sie  würde  ein  Überwiegen  des 
österreichischen  Einflusses  auf  Albanien  anbahnen,  das  Italien  nicht 
ertragen  könne. 

Noch  ernster  würden  die  Dinge  nach  Ansicht  des  Ministers 
liegen,  wenn  wirklich  Österreich,  wie  behauptet  worden  sei,  Absichten 
auf  den  Berg  Lovcen  haben  sollte.  Nach  seiner  Lage  würde  der  öster- 
reichische Besitz  dieses  Berges  das  maritime  Gleichgewicht  in  der 
Adria  derartig  zugunsten  Österreichs  verschieben,  daß  Italien  unter 
keinen  Umständen  dieser  Veränderung  ruhig  zusehen  könne.  Der 
Marquis  di  San  Giuliano  wurde  bei  Erörterung  einer  solchen  Even- 
tualität in  einer  seiner  Natur  sonst  völlig1  fremden  Weise  erregt.  Ein 
solches  Vorgehen  Österreichs  würde  die  schlimmste  Krise  für  den 
Dreibund  bedeuten,  so  meinte  der  Minister;  selbst  die  stärkste  Re- 
gierung Italiens  könne  dann  nicht  an  der  österreichischen  Seite  bleiben, 
sie  werde  vielmehr  gezwungen  sein,  bei  Rußland  oder  anderen  Mächten 
Hilfe   zu   suchen. 


*  Der  Flotowsche  Bericht  wurde  durch  Erlaß  Nr.  498  nach  Wien  mitgeteilt. 
**  Der  Besuch   Marquis  di  San  Giulianos  bei  Graf  Berchtold  in  Abbazia  fand 
vom    14.  bis   18.  April  statt.    Näheres  darüber  in   Bd.  XXXIX,   Kap.  CCXCV. 
Vgl.  auch   Nr.   15  544,  Fußnote  ••. 
***  Vgl.  Nr.  15  541. 

22*  339 


Nur  mit  Mühe  gelang  es  mir,  den  Minister  mit  dem  Hinweise 
zur  Beruhigung  zurückzuführen,  daß  die  gefürchteten  Ereignisse  ja  noch 
nicht  vor  der  Tür  ständen,  und  daß,  wie  ich  annehme,  auch  der  öster- 
reichischen Staatsleitung  nicht  entgangen  sein  werde,  welcher  schweren 
Belastung  sie  den  Dreibund  durch  eine  Eröffnung  der  Lovcenfrage 
aussetzen  werde. 

Der  kluge  und  durch  dienstlichen  Aufenthalt  in  Montenegro  mit 
den  dortigen  Verhältnissen  wohlvertraute  bulgarische  Gesandte  *,  dessen 
Frau  Montenegrinerin  ist,  bestätigte  mir,  daß  die  Dinge  dort  zweifel- 
los auf  die  Vereinigung  mit  Serbien  zuliefen.  Die  Selbständigkeit  Mon- 
tenegros werde  den  jetzigen  König  nicht  überdauern.  Die  einzige 
Möglichkeit,  dieser  Entwickelung  zu  begegnen,  sei,  daß  Österreich 
mit  dem  König  von  Montenegro  eine  Art  Konvention  in  der  Art  ab- 
schließe, wie  sie  seinerzeit  mit  König  Milan  vereinbart  worden  sei, 
wonach  Österreich  die  Dynastie  schützen,  Montenegro  dagegen  der 
österreichischen  Politik  überall  folgen  würde.  Bei  der  ausgesprochen 
russenfeindlichen  Stimmung,  die  zurzeit  beim  König  und  im  Lande 
herrsche,  und  bei  der  Gefahr,  in  der  die  Dynastie  sich  befinde,  würde 
der  König  auf  solches  Abkommen  sofort  eingehen. 

Floto w 


Nr.  15  543 

Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  den  Reichskanzler 
von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.   106  Rom,   den  9.   April   1914 

Wie  ich  schon  berichtete,  erfüllt  den  Marquis  di  San  Giuliano  die 
Entwickelung  der  Dinge  in  Montenegro,  die  einer  Vereinigung  des 
Landes  mit  Serbien  zuzulaufen  scheint,  mit  Sorge.  Indessen  beschäftigt 
ihn  weniger  die  allgemein  europäische  Seite  der  Frage  als  die  Schwierig- 
keiten, die  sie  für  das  italienisch-österreichische  Verhältnis  mit  sich 
führen  könnte.  Dementsprechend  nahm  er  den  Gedanken,  daß  bei 
dieser  Gelegenheit  eine  allzulange  versäumte  Verständigung  Öster- 
reichs mit  Serbien  angestrebt  werden  müßte**,  nicht  mit  ganz  unge- 
teiltem Beifall  auf.  Gewiß  sei  eine  österreichisch-serbische  Verständi- 
gung an  sich  wünschenswert,  meinte  er,  nur  müßte  man  ihren  Cha- 
rakter kennen  und  vor  allem  sicher  sein,  daß  italienische  Interessen  nicht 


*  Rizow. 

**  Vgl.  die  Direktiven  des  Kaisers  in  seinem  Telegramm  an   Reichskanzler  von 

Bethmann  Hollweg  vom  4.  April  (in  Nr.  15  541). 

340 


dadurch  geschädigt  würden.  Das  könne  beispielsweise  eintreten,  wenn 
als  der  Preis  der  österreichischen  Zustimmung  zur  serbisch-montene- 
grinischen Vereinigung  die  Überlassung  des  Lovcen  an  Österreich 
ausbedungen  würde.  Hier  würde  man  einen  Punkt  berühren,  wo 
keine  auch  noch  so  starke  italienische  Regierung  imstande  sein  würde, 
eine  schwere  Erschütterung  des  italienisch-österreichischen  Bundes- 
verhältnisses und  damit  des  Dreibundes  zu  verhindern.  Auch  sei  er 
überzeugt,  daß  die  österreichische  Regierung  nicht  zu  einem  Abkom- 
men mit  Serbien  zu  bringen  sein  werde.  Die  Beziehungen  hätten  sich 
zu  sehr  verschärft.  Der  italienische  Minister  knüpfte  hieran  eine  wenig 
schmeichelhafte  Kritik  der  politischen  Leitung  Österreichs,  die  die  Zu- 
kunft nie  zu  erkennen  und  niemals  einen  rechtzeitigen  Entschluß  zu 
fassen  vermöge.  Aber  abgesehen  davon,  müsse  man  zugeben,  daß  ge- 
wichtige Gründe  in  Österreich  gegen  eine  Verständigung  mit  Serbien 
sprächen.  Serbien  sei  für  Österreich  wie  ein  Piemont  für  Italien,  es 
habe  eine  zu  starke  Anziehungskraft  für  die  angrenzenden  Gebiete  der 
Donaumonarchie,  und  es  sei  verständlich,  daß  Österreichs  Interessen 
auf  eine  Schwächung  viel  mehr  als  auf  eine  Erweiterung  Serbiens 
hinausgingen. 

Alles  in  allem  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  der  Minister  die  Frage 
der  Vereinigung  Montenegros  mit  Serbien  allzusehr  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte der  österreichisch-italienischen  Beziehungen  und  zu  wenig 
unter  dem  allgemein  europäischen  betrachtet.  Ich  habe  ihn  daher 
darauf  hingewiesen,  daß,  falls  Österreich  sich  der  Vereinigung  gewalt- 
sam widersetzte  und  andererseits  Rußland  für  Serbien  Partei  ergreife, 
ein  Weltkrieg  entstehen  könne,  der  doch  noch  von  ganz  anderer  Trag- 
weite sein  würde,  als  eine  Frage  der  österreichisch-italienischen  Grenz- 
verhältnisse. Aber  der  Minister  ist  namentlich  im  Hinblick  auf  seinen 
bevorstehenden  Besuch  in  Abbazia  und  auch  im  Hinblick  auf  die 
Möglichkeit  parlamentarischer  Kritiken  allzusehr  mit  der  Adriapolitik 
beschäftigt,  um  dem  entstehenden  Problem  in  seiner  ganzen  Aus- 
dehnung gerecht  zu  werden. 

Immerhin  war  auch  der  Minister  der  Ansicht,  daß  hier  eine  Frage 
auftauche,  die  die  ganze  Aufmerksamkeit  der  verbündeten  Mächte  er- 
heische und  eine  vorherige  Verständigung  unter  ihnen  wünschenswert 
mache.  Auch  interessierte  ihn  sehr  die  Stellung1  des  Grafen  Tisza  zu 
der  Frage,  da  er  gewöhnt  ist,  Graf  Tisza  als  den  bedeutendsten  staats- 
männischen Kopf  der  Doppelmonarchie  zu  betrachten.  Der  Marquis 
di  San  Giuliano  fand  es  außerordentlich  erfreulich,  daß  Seine  Majestät 
der  Kaiser  mit  dem  Grafen  Fühlung  genommen  und  auf  ihn  im  Sinne 
einer  verständigen  Orientierung  der  österreichisch-ungarischen  Politik 
eingewirkt  habe. 

Ich  halte  die  Erörterung  des  Gegenstandes  damit  noch  nicht  für 
abgeschlossen. 

F 1  o  t  o  w 

341 


Nr.  15  544 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg,  z.  Z.  in  Korfu, 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 

Achilleion,  den  21.  April  1914 

Seine  Majestät  ist  über  österreichische  Politik  gegenüber  Ru- 
mänien* und  über  Stellung  Berchtolds  gegenüber  Eventualität  einer 
Verständigung  oder  Verschmelzung  Serbiens  und  Montenegros**  so 
erregt,  daß  er  dringend  wünscht,  ich  möchte  über  Wien  rückreisen,  um 
mit  Berchtold,  namentlich  aber  im  Hinblick  auf  Erkrankung  des 
Kaisers  ***  mit  Thronfolger  zu  sprechen.  Habe  bisher  vergeblich  ver- 
sucht, Seiner  Majestät  diesen  Gedanken,  den  ich  für  wenig  opportun 
halte,  auszureden,  und  fürchte,  daß  ich  nachgeben  muß,  wenn  bis 
dahin  Gesundheit  Kaiser  Franz  Josephs  sich  so  weit  bessert,  daß  Ge- 
fahr beseitigt.  Ich  würde  alsdann  mit  „Breslau"  nach  Triest  fahren, 
wodurch  Rückweg  über  Wien  plausibel  und  Unhöflichkeit  gegen  Rom 
vermieden  würde.  Besondere  Teilnahme  Seiner  Majestät  an  Erkrankung 
Kaisers  müßte  zur  Motivierung  des  Besuchs  mitverwertet  werden. 


•  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCVIII. 

**  Die  Frage  einer  Verschmelzung  Serbiens  und  Montenegros  war  auf  der 
Zusammenkunft  Graf  Berchtolds  mit  Marquis  di  San  Giuliano  in  Abbazia 
(14.  bis  18.  April)  nur  obenhin  erörtert  worden.  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX, 
Kap.  CCXCV,  Nr.  15  729  und  15  730.  Nach  Graf  Berchtolds  Mitteilungen  an  Bot- 
schafter von  Tschirschky  vom  20.  April  hätte  er  dem  italienischen  Minister  in 
großen  Zügen  das  österreichische  Programm  dahin  entwickelt,  daß  die  Monarchie 
ein  Fußfassen  Serbiens  am  Adriatischen  Meere  nie  zulassen  könne,  daß  Öster- 
reich für  sich  selbst  indessen  keine  Erweiterung  seines  Gebiets  bei  einer  Fusion 
Serbiens  und  Montenegros  anstrebe,  sondern  daran  denke,  die  Lösung  dieser 
Frage  durch  Zuweisung  des  montenegrinischen  Küstengebietes  an  Albanien  her- 
beizuführen. Dagegen  hätte  Marquis  di  San  Giuliano  nichts  eingewandt  und 
nur  leichthin  bemerkt,  daß  es  vielleicht  gut  sein  würde,  hierüber  einen  Akkord 
zwischen  Wien  und  Rom  abzuschließen,  eine  Anregung,  der  er,  Graf  Berchtold, 
jedoch  ausgewichen  sei,  da  damit  wohl  die  Absicht  verbunden  gewesen  sei, 
der  Monarchie  besonders  im  Hinblick  auf  den  Lovcen  schon  jetzt  für  alle 
Zeiten  die  Hände  zu  binden.  Der  Bericht  Tschirschkys  vom  20.  April,  in  dem 
diese  Äußerungen  Graf  Berchtolds  mitgeteilt  waren,  wurde  am  22.  telegraphisch 
dem  Reichskanzler  nach  Korfu  übermittelt,  kann  also  auf  die  von  diesem  am  21. 
signalisierte  Erregung  des  Kaisers  noch  nicht  eingewirkt  haben.  In  Korfu  lag 
am  21.  lediglich  ein  Telegramm  Botschafters  von  Flotow  vom  20.  April 
(Nr.  117)  vor,  nach  dem  Marquis  di  San  Giuliano  nur  teilweise  befriedigt  aus 
Abbazia  zurückgekehrt  und  das  Ergebnis  der  Begegnung  gerade  auch  in  bezug 
auf  die  Vereinigung  Serbiens  und  Montenegros  unbefriedigend  geblieben  sei. 
Allerdings  hatte  der  Kaiser  bei  seinem  Aufenthalt  in  Wien  (23.  März)  den  in 
dieser  Schärfe  nicht  ganz  richtigen  Eindruck  davongetragen,  daß  Graf  Berch- 
told im  Gegensatz  zu  Graf  Tisza  von  der  Fusion  beider  Länder  nichts  wissen 
wolle. 

***  Kaiser  Franz  Joseph  war  kurz  vor  dem  21.  April  an  einer  Lungenentzündung 
erkrankt,  die  in  Anbetracht  seines  hohen  Alters  besorgniserregend  schien. 

342 


Erbitte  baldigst  Ew.  pp.  Ansicht. 

Genaue   Information,   insonderheit   über  österreichisch-italienische 
Differenz  in  Frage  Serbien-Montenegro  vorher  notwendig. 

v.  Bethmann  Hollweg 


Nr.  15  545 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an 

den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg, 

z.  Z.  in  Korfu 

Telegramm.    Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  9  Berlin,  den  22.  April  1914 

Schwerpunkt  rumänischer  Frage  scheint  mir  augenblicklich  weniger 
bei  Graf  Berchtold  als  in  Pest  zu  liegen.  An  Graf  Tiszas  Einsicht  ist 
wohl  nicht  zu  zweifeln,  die  Befriedigung  der  rumänischen  Wünsche  wird 
aber  durch  ungarische  innerpolitische  Verhältnisse  bedingt.  Rumäni- 
scher Irredentismus,  der  bisher  latent  war,  würde  auch  ohne  Öster- 
reichs Fehler  durch  Rumäniens  politischen  Aufstieg  erstarkt  sein.  Zu- 
nehmender Gegensatz  zwischen  Donaumonarchie  und  benachbartem 
rumänischen  Nationalstaat  liegt  daher  leider  bis  zu  gewissem  Grade 
in  der  natürlichen  Entwickelung  der  Dinge.  König  Karol,  Bratianu  und 
Beldiman  glauben,  daß  man  jetzige  Aufwallung  vorübergehen  lassen 
müsse. 

Über  italienisch-österreichische  Divergenzen  bezüglich  Serbien- 
Montenegro  vorliegen  noch  keine  detaillierten  Meldungen.  Fordere 
dieselben  telegraphisch  ein*. 

Zu  Verstimmung  in  Rom  würde  Euerer  Exzellenz  Rückreise  über 
Wien  meines  Erachtens  keinen  berechtigten  Anlaß  bieten.  Dagegen  er- 
scheint mir  zu  bedenken,  ob  Rücksprache  Euerer  Exzellenz  mit  Thron- 
folger im  Augenblick  der  Erkrankung  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
Franz  Joseph  bei  letzterem  nicht  Verstimmung  und  Verdruß  erregt, 
als  rechneten  wir  schon  zu  sehr  mit  Thronwechsel  und  Nachfolger. 

Nachrichten  über  Befinden  Seiner  Majestät  des  Kaisers  lauten  viel 
beruhigender. 

Anläßlich  englischen  Königsbesuchs  in  Paris**  haben  sich  Vor- 
stöße namentlich  russischerseits  bemerkbar  gemacht,  Entente  mit  Eng- 


*  Es  war  durch  Telegramm  Nr.  69  vom  22.  April  geschehen.  Darauf  antwortete 
Flotow  am  gleichen  Tage:  „Eigentliche  Differenzen  liegen  noch  nicht  vor,  da 
Graf  Berchtold  der  Diskussion  ausgewichen  ist.  Marquis  di  San  Giuliano  glaubte 
aber  an  Schwierigkeiten,  da  er  nicht  sieht,  wie  Einigung  zu  erzielen  sei. 
Italien  könne  nicht  zugeben,  daß  Albanien  an  Österreich  stoße." 
**  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCC. 

343 


land  zur  Allianz  zu  verdichten;  Versuche,  die  bisher  von  gesamter 
englischer  Presse  entschieden  zurückgewiesen  werden.  Anschein  zu- 
nehmender Aktivität,  wie  allzu  häufige  Zusammenkunft  seitens  der 
Dreibundleiter  könnte  uns  als  Nervosität  ausgelegt  und  als  Symptome 
für  Verhandlungen  über  Ausdehnung  der  Ziele  des  Dreibunds  ange- 
sehen werden.  Auf  gegnerischer  Seite  besteht  bereits  Verdacht,  daß 
weitgehendes  Mittelmeerabkommen  von  Dreibund  geschlossen  ist*. 
Solche  Befürchtungen  könnten  nur  Bestrebungen  auch  engeren  Zu- 
sammenschlusses der  Entente  fördern. 

Abgesehen  von  diesen  Bedenken  würde  ich  an  sich  Aussprache 
Euerer  Exzellenz  mit  Graf  Berchtold  nützlich  finden,  wenn  auch  posi- 
tives Ergebnis  kaum  zu  erwarten. 

Jago  w 

Nr.  15  546 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  118  Wien,  den  23.  April  1914 

Geheim 

Ich  habe  weisungsgemäß  **  den  angeblichen,  auf  Fusion  Serbiens 
mit  Montenegro  gerichteten  russischen  Plan  dem  Grafen  Berchtold 
ganz  vertraulich  und  mit  den  gebotenen  Vorsichtsmaßregeln  mitge- 
teilt. Der  Minister  nahm  die  Mitteilung  mit  Interesse  entgegen.  Er 
meinte,  wenn  er  auch  einen  heimlichen  Verkauf  des  Landes  für  aus- 
geschlossen halten  müsse,  so  sei  doch  nicht  so  ohne  weiteres  von  der 
Hand  zu  weisen,  daß  König  Nikita  für  sich  und  die  Seinen  gegen  das 
Versprechen  einer  guten  Versorgung  auf  seine  Krone  verzichten  könnte. 
Ähnliche  Gerüchte  seien  ihm,  dem  Minister,  auch  schon  früher  zu  Ohren 
gekommen.  Es  sei  aber  nicht  anzunehmen,  daß  die  Serben  ihren  gewiß 
bestehenden  Plan,  sich  Montenegro  anzugliedern,  durch  einen  in  die 
Augen  springenden  Akt  würden  verwirklichen  wollen;  sie  würden  es 
wohl  vorziehen,  möglichst  geräuschlos  und  nach  und  nach  Montenegro 
de  facto  unter  ihren  Einfluß  zu  bekommen,  um  es  der  Monarchie 
möglichst  zu  erschweren,  den  geeigneten  Moment  zu  einer  Gegenaktion 
zu  finden. 

Ich  habe  im  Anschluß  hieran  nochmals  Gelegenheit  genommen,  den 
Grafen  Berchtold  nachdrücklich  darauf  hinzuweisen,  daß  es  für  den 
Dreibund  unerläßlich  sei,  sich  über  die  der  eventuellen  Fusion  Serbiens 
und  Montenegros  gegenüber  zu  befolgende  Politik  vor  Eintritt  des  Er- 


*  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCV. 
**  Vgl.  Nr.   15  541. 

344 


eignisses  völlig  klar  zu  sein.  Österreich-Ungarn  müsse  genau  sein 
Programm  im  voraus  festlegen,  dessen  Grenzen  aber  auf  die  unbe- 
dingten Lebensinteressen  der  Monarchie  beschränken,  die  dann  aller- 
dings  mit  allen  Mitteln  zu  verteidigen  sein  würden. 

Graf  Berchtold  bemerkte  daraufhin,  der  Kaiser,  er  und  ebenso 
auch  Graf  Tisza  seien  fest  von  der  Notwendigkeit  überzeugt,  daß 
ein  Vordringen  Serbiens  an  die  Adria  und  damit  die  völlige  Umklam- 
merung der  Monarchie  auch  im  Südosten  durch  einen  feindlichen 
slawischen  Staat  im  vitalen  Interesse  Österreich-Ungarns  wie  in  dem- 
jenigen des  Dreibundes  unter  allen  Umständen  verhindert  werden 
müßte.  Er  habe  deshalb,  wie  er  mir  schon  früher  mitgeteilt,  den  Ge- 
danken, die  Vereinigung  des  größten  Teiles  von  Montenegro  mit  Serbien 
zwar  zuzulassen,  das  Küstengebiet  aber  Albanien  zuzuweisen.  Gleich- 
zeitig müsse  versucht  werden,  diejenigen  Bestimmungen  des  Bukarester 
Friedens,  die  in  sich  die  größte  Gefahr  für  Erneuerung  eines  Balkan- 
krieges darstellten,  also  die  Überlassung  Istips  und  Kotschanas  und 
der  rein  albanesischen  Bezirke  um  Prisren  und  Diakowa  an  Serbien 
wieder  rückgängig  zu  machen.  Ich  fragte  den  Minister,  ob  er  glaube, 
daß  Serbien  —  mit  Rußland  im  Hintergrunde  —  sich  ein  zweites  Mal, 
ohne  zu  den  Waffen  zu  greifen,  vom  Meere  abdrängen  lassen  würde, 
worauf  Graf  Berchtold  erwiderte,  Rußland  habe  so  oft  erklärt,  daß  es 
für  serbische  Interessen  nicht  eintreten  könne  und  wolle,  so  daß  er 
annehmen  könne,  daß  Serbien  —  auf  sich  allein  angewiesen  —  es 
nicht  zum  äußersten  kommen  lassen  werde.  Weiter  machte  ich  den 
Minister  darauf  aufmerksam,  daß  ich  Grund  zur  Annahme  hätte, 
daß  man  in  Rom  ein  Angrenzen  der  Monarchie  an  Albanien  kaum 
dulden  würde.  Graf  Berchtold  fand  diese  Prätention  der  Italiener  doch 
allzu  weitgehend  und  bezeichnete  sie  als  geradezu  „kindisch".  Ich  gab 
dann  dem  Minister  noch  zu  bedenken,  daß  die  Aufrollung  der  Fragen 
wegen  Istip,  Kotschana,  Prisren  und  Diakowa  den  ganzen  Balkan 
und  sämtliche  Großmächte  wieder  auf  dem  Plan  erscheinen  lassen 
würde. 

Ich  glaube,  den  vorstehenden  Erörterungen  über  die  Frage  der 
Stellungnahme  Österreich-Ungarns  zur  Eventualität  einer  serbisch-mon- 
tenegrinischen Fusion  entnehmen  zu  können,  daß  man  hier  mit  Aus- 
nahme des  Grundsatzes,  daß  Serbien  von  der  Adria  fernzuhalten  sei, 
sich  über  ein  ins  einzelne  gehendes  Programm  und  dessen  etwaige 
Konsequenzen  noch  nicht  klar  ist*.    Nach  Abschluß   der  Delegations- 


*  Daß  Graf  Berchtold  sich  in  der  Tat  noch  nicht  klar  darüber  war,  wie  er 
angesichts  der  drohenden  Vereinigung  Serbiens  und  Montenegros  vorgehen  solle, 
ergeben  die  Mitteilungen  Conrads  von  Hötzendorf  (Aus  meiner  Dienstzeit, 
III,  661  f.)  über  seine  Unterredung  mit  dem  Minister  vom  22.  April,  in  der  auch 
die  Mitteilungen  Kaiser  Wilhelms  II.  über  den  angeblich  geplanten  Verkauf 
des  montenegrinischen  Königreichs  gestreift  werden.  Es  heißt  da  unter  anderem: 
„Auf    meine    Bemerkung,    daß   wir   im   Falle    einer   serbisch-montenegrinischen 

345 


Verhandlungen,  die  augenblicklich  schon  die  Arbeitskraft  des  Mi- 
nisters und  seiner  Räte  voll  in  Anspruch  nimmt,  möchte  ich  mir  vor- 
behalten, bei  Graf  Berchtold  auf  dieses  Thema  zurückzukommen.  Was 
die  Frage  eines  für  beide  Teile  annehmbaren  modus  vivendi  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Serbien  anlangt,  durch  den  die  serbischen 
Aspirationen  auf  die  serbischen  Provinzen  der  Monarchie  dauernd  und 
legal  beseitigt  werden  müßten,  so  glaube  ich,  daß  wir  eine  solche 
Kombination  nicht  in  unsere  Politik  einsetzen  können.  Man  hält  einen 
solchen  hier,  wie  ich  schon  wiederholt  zu  berichten  die  Ehre  hatte,  für 
nicht  erreichbar. 

von  Tschirschky 

Nr.  15  547 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow  an 
den  Botschafter  in  Rom  von  Flotow 

Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  451  Berlin,  den  28.  April  1914 

Euerer  Exzellenz  Berichterstattung  zufolge  hat  sich  Marquis  di  San 
Giuliano  wenig  befriedigt  über  das  Resultat  der  Besprechungen  von 
Abbazia  gezeigt,  soweit  dasselbe  die  Eventualität  einer  Vereinigung 
Serbiens  mit  Montenegro  betrifft.  Der  Minister  hat  dabei  geäußert, 
Italien  werde  nie  dulden  können,  daß  Albanien  an  Österreich-Ungarn 
grenze. 

In -Wien  andrerseits  hält  man  ein  Vordringen  Serbiens  bis  zur 
Adria  für  inakzeptabel.  Dieser  Auffassung  hat  Österreich  auch  in  der 
letzten  Balkankrisis  bereits  Geltung  verschafft,  die  gemeinsam  mit 
Italien    durchgesetzte    Konstituierung   des    Fürstentums    Albanien    und 


Fusion  den  Landanschluß  an  Albanien,  also  den  Küstenstrich  verlangen  müßten, 
warf  Graf  Berchtold  ein,  daß  Italien  dem  entgegen  wäre.  Ich  meinte,  wir 
müßten  uns  klar  darüber  werden,  ob  wir  die  Fusion  hinnehmen  wollten,  dann 
sollten  wir  aber  überhaupt  nichts  dagegen  tun  und  auch  nicht  darüber  reden, 
oder  ob  wir  uns  gegen  die  Fusion  stellen  wollten,  dann  müßten  wir  auf  den 
Krieg  gefaßt  sein.  Dieser  dürfte  jedoch  nicht  einer  so  untergeordneten  Sache 
wegen  geführt  werden,  sondern  müßte  die  radikale  Lösung  der  serbischen  Frage 
zum  Ziele  haben.  Graf  Berchtold  wies  auf  Rußland  hin;  ich  erwiderte,  daß  ja 
Deutschland  und  Italien  uns  zur  Seite  stehen  müßten,  worauf  Graf  Berchtold 
äußerte:  ,Die  werden  uns  in  die  Arme  fallen';  er  fügte  bei,  er  habe  Nachricht, 
daß  Kaiser  Wilhelm  erfahren  hätte,  es  wären  unter  der  Ägide  Rußlands  Ver- 
einbarungen im  Zuge,  wonach  Serbien  dem  König  von  Montenegro  sein  Land 
abkaufen  würde.  Ich  bezeichnete  dies  als  ,Tartarennachrichten*.  Graf  Berchtold 
bemerkte,  Deutschland  hätte  uns  geraten,  uns  gegen  die  Fusion  auszusprechen 
und  die  Erhaltung  Montenegros  mit  seiner  Dynastie  zu  verlangen.  Ich  er- 
widerte, daß  damit  für  uns  nichts  erreicht  wäre;  die  Bewegung  wurzle  im 
Volke,  und  dieses  würde  die  Monarchie  entfernen,  wenn  sie  ihm  nicht  passen 
sollte." 

346 


die  Gewährung  nur  eines  wirtschaftlichen  Zugangs  zum  Meere  für 
Serbien  verfolgte  diesen  Zweck.  Es  muß  auch  zugegeben  werden,  daß 
wichtige  Interessen  der  Donaumonarchie  bedroht  wären,  wenn  sie 
im  Süden  von  einem  bis  zum  Meere  reichenden  großen  slawischen 
Staat  gleichsam  umklammert  würde.  Marquis  di  San  Giuliano  hat 
selbst  die  Gefahr  der  „Maree  Slave"  anerkannt  und  kann  ebensowenig 
wie  Österreich-Ungarn  wünschen,  daß  auf  dem  östlichen  Ufer  der 
Adria  ein  starkes  Serbien  Fuß  faßt,  welches  mehr  oder  weniger  stets 
eine  Vormacht  Rußlands  darstellen  wird.  Es  wäre  allerdings  wünschens- 
wert, daß  auch  die  öffentliche  Meinung  Italiens  mehr  zu  dieser  Ein- 
sicht gelangte,  statt  sich  immer  nur  von  der  „germanischen"  be- 
ziehungsweise österreichischen  Gefahr  hypnotisieren  zu  lassen. 

Mit  dem  Verschwinden  von  Montenegro  muß,  wie  die  Dinge 
liegen,  wenn  nicht  früher,  so  doch  nach  dem  Tode  König  Nikitas  ziem- 
lich bestimmt  gerechnet  werden.  Ich  will  zugeben,  daß  eine  weitere 
Ausdehnung  Österreichs  südwärts  an  der  adriatischen  Küste,  besonders 
die  Besitznahme  des  strategisch  wichtigen  Lovcen,  für  Italien  Gefahren 
involvieren  würde. 

Diesem  Gesichtspunkt  dürfte  jedoch  die  Wiener  Politik  genügend 
Rücksicht  tragen,  wenn  sie  —  soweit  hier  bekannt  —  nicht  selbst  einen 
Teil  Montenegros  beansprucht,  sondern  bei  einer  Auflösung  dieses 
Staates  das  Küstengebiet  zu  Albanien  schlagen,  sich  dem  Aufgehen 
des  übrigen  Teils  in  Serbien  aber  nicht  widersetzen  will.  Vorbedingung 
hierfür  bleibt  freilich,  daß  der  albanische  Staat  sich  als  lebensfähig 
erweist,  was  wir  alle  hoffen  und  unterstützen  müssen.  Es  ist  nicht 
ersichtlich,  warum  Italien  in  der  Vergrößerung  und  Erstarkung  des 
von  ihm  selbst  mitgeschaffenen  Albaniens  eine  Gefahr  erblicken  könnte, 
es  sei  denn,  daß  es  auch  mit  dem  Zusammenbruch  dieses  Staates 
rechnet  und  diesenfalls  Ansprüche  Österreichs  auf  die  nördlichen  Gebiete 
desselben  befürchtet*.  Die  Tätigkeit  italienischer  Agenten  und  Unter- 
agenten in  Albanien  hat  schon  jetzt  dem  Verdacht  auf  vielen  Seiten 
Nahrung  gegeben,  daß  Italien  sich  dort  selbst  eine  territoriale  Zukunft 
bereiten  möchte.  Ich  kann  jedoch  nicht  glauben,  daß  dies  dem  Willen 
der  Leiter  der  italienischen  Politik  entspricht.  Somit  kann  ich  keinen 
stichhaltigen  Grund  erkennen,  weshalb  Italien  einer  Angrenzung  Alba- 
niens an  die  Donaumonarchie  grundsätzlich  widerstehen  müßte.  Sie 
scheint  mir  vielmehr  unter  gewissen  Eventualitäten  der  einzige  Modus 
zu  sein,  der  den  österreichischen  Interessen  gerecht  würde,  ohne  die 
italienischen  zu  verletzen. 

Euere  Exzellenz  wollen  die  Frage  nicht  aus  dem  Auge  lassen  und  sie 
gelegentlich  wieder  in  unverbindlichen  Gesprächen  mit  dem  italienischen 
Minister  berühren,  wobei  es  von  Interesse  sein  wird  festzustellen,  wie 


Vgl.  dazu  Bd.  XXXVI,  Kap.  CCLXXXII. 

347 


derselbe  sich  die  Lösung  des  montenegrinischen  Problems  denkt.  Es 
muß  möglichst  verhütet  werden,  daß,  wenn  dasselbe  über  kurz  oder 
lang  aktuell  werden  sollte,  daraus  Anlaß  zu  Konflikten  zwischen  unseren 
Bundesgenossen  entsteht. 

J  agow 


Nr.  15  548 

Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  den  Reichskanzler 
von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.   133  Rom,  den  4.   Mai   1914 

Vertraulich 

Mein  österreichischer  Kollege  sprach  sich  heute  zu  mir  über  die 
Ministerbegegnung  in  Abbazia  und  speziell  über  die  Frage  der  Ver- 
einigung von  Serbien  und  Montenegro  aus.  Bei  dem  Gewicht,  das  die 
Stimme  des  Herrn  von  Merey  in  Wien  besitzt,  sind  seine  Äußerungen 
von  Interesse.  Der  Botschafter  gab  offen  zu,  daß  Graf  Berchtold 
in  Abbazia  dem  Marquis  di  San  Giuliano  in  dieser  Frage  ausgewichen  sei 
und  zwar  nach  Beratung  mit  ihm,  dem  Botschafter.  Denn  er  sei  der 
Ansicht,  daß  eine  Einigung  mit  Italien  darüber  garnicht  zu  erzielen 
sei.  Unter  keinen  Umständen  dürfe  dabei  noch  einmal  ein  großes 
Interesse  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  geopfert  werden. 
Es  sei  unvermeidlich,  daß  man  dabei  mit  Italien  in  Konflikt  gerate. 
Das  müsse  überwunden  werden,  in  Italien  werde  man  eine  Zeitlang 
schmollen  und  sich  dann  wieder  beruhigen.  Es  sei  unzeitgemäß  ge- 
wesen, daß  eine  österreichische  Militärzeitschrift  die  Forderung  des 
Lovcen  gestellt  habe*;  tatsächlich  aber  sei  der  Erwerb  des  Lovcen 
das  Minimum  dessen,  was  Österreich  dabei  fordern  müsse,  wahrschein- 
lich würden  seine  Ansprüche  weiter  gehen,  jedenfalls  dürfe  Serbien 
nicht  an  das  Meer  gelassen  werden. 

Bei  dem  Verhältnis,  in  dem  ich  zu  meinem  österreichischen  Kol- 
legen stehe,  das  bei  großer  persönlicher  Freundschaft  oft  sehr  heftige 
Diskussionen  mit  sich  bringt,  habe  ich  sofort  Gelegenheit  genommen, 
ihm  zu  sagen,  daß  diese  Behandlung  des  Bundesverhältnisses  zu  Italien 
mir  eine  außerordentlich  bedenkliche  erscheine.  Österreich  habe  die 
Pflicht,  einen  Weg  zur  Verständigung  mit  Italien  in  dieser  Frage  zu 
suchen.  Es  gebe  deren  auch.  Einmal  sei  eine  Zuteilung  des  montene- 
grinischen Küstenstriches  an  Albanien  möglich.  Dagegen  sträube  Italien 


•  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCVI,  Nr.  15  760,  S.   401,  Fußnote  ft- 
348 


sich  heute,  es  könne  sich  aber  schließlich  damit  abfinden,  wenn  nur 
der  Lovcen  nicht  österreichisch  würde.  Ein  anderer  Weg  sei,  wenn  nur 
die  österreichische  Regierung  eine  hinreichende  Initiative  entfalte,  Mon- 
tenegro durch  wirtschaftliche  Unterstützung  an  sich  zu  ziehen  und  damit 
den  Vereinigungsbestrebungen  das  Wasser  abzugraben.  Jedenfalls  hielte 
ich  es  auch  im  Dreibundsinteresse  für  unzulässig,  Italien  ohne  weiteres 
in  die  russisch-französischen  Arme  zu  treiben,  die  sich  sehr  leicht 
öffnen  könnten.  Deutschland  habe  jedenfalls  ein  wichtiges  eigenes 
Interesse,  Italien  in  seiner  Stellung  an  der  östlichen  Flanke  Frankreichs 
nicht  aus  der  Bundesgenossenschaft  gedrängt  zu  sehen,  nachdem  die 
österreichische  Politik  Rumänien  bereits  in  eine  nicht  mehr  unbedingt 
sichere  Stellung  getrieben  hätte. 

Wie  nach  seinem  ganzen  Charakter  zu  erwarten,  blieb  die  Schärfe 
meiner  Ausführungen  auf  den  Botschafter  nicht  ohne  günstige  Wirkung. 
Ich  möchte  glauben,  daß  es  nicht  unzweckmäßig  wäre,  auch  in  Wien 
zur  rechten  Zeit  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Bundesgenossenschaft 
Italiens  nicht  nur  für  Österreich,  sondern  auch  für  uns  einen  selb- 
ständigen Wert  hat,  den  wir  ohne  weiteres  nicht  preiszugeben  wünschen. 
Nur  wäre  ich  dankbar,  wenn  es  in  einer  Form  geschähe,  die  meine 
Beziehungen  zu  meinem  österreichischen  Kollegen  nicht  kompromittiert. 

Floto w 


Nr.  15  549 

Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Bethmann  Hollweg 
für  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow* 

Eigenhändig 

Berlin,   den   8.   Mai   1914 

Ich  halte  eine  klare  Aussprache  in  Wien  für  dringend  er- 
forderlich. Wien  beginnt  sich  in  seiner  gesamten  Politik  etwas  stark  von 
uns  zu  emanzipieren  und  muß  meo  vota  rechtzeitig  am  Zügel  gehalten 
werden. 

Falls  Sie  zustimmen,  bitte  ich,  mir  den  Erlaß  nach  Wien**  vor 
Abgang  zur  Kenntnis  vorzulegen. 

v.   Bethmann  Hollweg 


*   Die  Aufzeichnung   wurde   nach  einer  Aktennotiz  durch   den  voraufgehenden 
Bericht  des  Botschafters  von  Flotow  vom  4.  Mai  veranlaßt. 
**  Siehe  das  folgende  Schriftstück. 

349 


Nr.  15  550 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  an  den 
Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky 

Konzept 
Nr.  579  Berlin,  den  8.  Mai  1914 

Euer  pp.  lasse  ich  anbei  Abschrift  eines  Berichts  des  Kaiserlichen 
Botschafters  in  Rom*  über  eine  Unterredung  mit  dem  dortigen  öster- 
reichisch-ungarischen Botschafter  zur  gefälligen  Kenntnis  zugehen. 

Wenn  die  Ansichten  des  Herrn  von  Merey  in  Wien  maßgebend 
bleiben  sollten  —  so  wie  es  sein  Rat  in  Abbazia  gewesen  zu  sein 
scheint  — ,  so  würde  das  Bundesverhältnis  zwischen  der  Donau- 
monarchie und  Italien  schweren  Gefährdungen  ausgesetzt  sein.  Ich 
brauche  nicht  hinzuzufügen,  daß  durch  eine  derartige  Krise  im  Drei- 
bund auch  wir  in  ernste  Mitleidenschaft  gezogen  würden,  und  daß  wir 
also  ein  durchaus  berechtigtes  Interesse  an  der  Vermeidung  solcher 
Eventualitäten  haben.  Wir  müssen  um  der  Erhaltung  des  Dreibundes 
willen  darauf  dringen,  daß  zwischen  unseren  Bundesgenossen  eine 
Verständigung  über  die  drohende  montenegrinische  Frage  herbeigeführt 
wird.  Ich  kann  mir  die  diesbezüglichen  Ausführungen  Herrn  von 
Flotows  nur  zu  eigen  machen.  Ob  es  gelingen  wird,  Montenegro 
gegen  den  politischen  und  finanziellen  Einfluß  Rußlands  dauernd 
zu  Österreich  hinüberzuziehen,  mag  allerdings  fraglich  erscheinen.  Der 
österreichischen  Politik  pflegt  es  leider  auch  für  solche  Aufgaben  an 
der  nötigen  Geschmeidigkeit  zu  fehlen.  Jedenfalls  müßte  für  den  Fall, 
daß  derartige  Versuche  scheitern  sollten,  eine  vorherige  Verständigung 
zwischen  den  Kabinetten  von  Wien  und  Rom  über  die  Frage  terri- 
torialer Veränderungen  an  der  Adria  erzielt  werden.  Der  Ausbruch 
eines  Konflikts  zwischen  Österreich  und  Italien  —  bei  dem  auch 
Serbien  gegen  die  Donaumonarchie  stände  — ,  würde  für  Rußland 
zweifellos  Anlaß  zum  Eingreifen  bieten,  wir  würden  vor  die  Frage 
gestellt,  zwischen  unseren  Alliierten  optieren  zu  müssen  oder  bei 
passiver  Haltung  Österreich-Ungarn  einem  Angriff  von  zwei  Seiten 
preiszugeben.  Es  würde  das  einen  völligen  Zusammenbruch  des  Drei- 
bundes und  unseres  bisherigen  politischen  Systems  bedeuten. 

Euer  pp.  ersuche  ich  daher,  den  Grafen  Berchtold  gelegentlich 
—  ohne  jedoch  der  Unterredung  zwischen  Herrn  von  Flotow  und  von 
Merey  Erwähnung  zu  tun  —  auf  die  Frage  anzusprechen  und  ihn 
darauf  hinzuweisen,  daß  eine  Verständigung  mit  Italien  auch  für  unsere 
Interessen  unerläßlich  erscheint.  Was  die  bisher  vom  Marquis  di  San 
Giuliano  vertretene  These  betrifft,  daß  er  eine  Zuteilung  des  montene- 
grinischen Küstengebiets  an  Albanien  nicht  zulassen  könne,  so  habe 


•  Siehe  Nr.  15  548. 
350 


ich  den  Kaiserlichen  Botschafter  in  Rom  bereits  mit  Instruktion  versehen, 
dem   Minister   die    Unhaltbarkeit   dieses   Standpunktes   darzulegen*. 

v.  Bethmann  Hollweg 


Nr.  15  551 

Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow  an  den  Reichskanzler 
von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 

Nr.  137  Rom,  den  12.  Mai  1914 

Vertraulich 

Der  hier  auf  Urlaub  weilende  Herr  Bollati**  hat  mir  ganz  ver- 
traulich Kenntnis  gegeben  von  einer  Unterredung,  die  er  mit  dem 
Marquis  di  San  Giuliano  über  die  Beziehungen  Österreichs  zu  Italien  und 
speziell  auch  über  die  drohende  Vereinigung  Montenegros  mit  Serbien 
gehabt  hat.  Der  Minister  hat  sich  in  dieser  Frage  ziemlich  pessimistisch 
geäußert  und  die  Ansicht  zu  erkennen  gegeben,  daß  es  fast  unmöglich 
sein  werde,  in  dieser  Frage  eine  Einigung  mit  Österreich  zu  finden. 
Er  hat  wiederum  die  Ansicht  vertreten,  daß  Albanien  nicht  an  Österreich 
stoßen  dürfe  und  vor  allem,  daß  etwaige  österreichische  Ansprüche  auf 
den  Lovcen  von  keiner  Regierung  in  Italien  zugestanden  werden 
könnten1.  Der  Botschafter  selbst  ist  der  Ansicht,  daß  diese  Seite  der 
Frage  nicht  praktisch  werden  dürfte,  da  Serbien  unter  allen  Umständen 
das  an  das  Meer  grenzende  montenegrinische  Territorium  beanspruchen 
und  dafür  sogar  unbedingt  Krieg  führen  würde  2. 

Da  der  Botschafter  morgen  noch  eine  Unterredung  mit  dem  Mar- 
quis di  San  Giuliano  haben  wird,  so  habe  ich  Gelegenheit  genommen, 
ihn  noch  einmal  darauf  hinzuweisen,  wie  überaus  bedenklich  es  sei, 
wenn  die  beiden  verbündeten  Mächte  sich  nicht  beizeiten  über  diese 
ernste  Frage  aussprächen 3,  oder  wenn  sie  sogar  von  vornherein  er- 
klärten, sich  darüber  nicht  verständigen  zu  können. 

Die  österreichisch-italienischen  Beziehungen  sind  so  wie  so  nicht 
ganz  unbedenklich.  Die  Demonstrationen  und  Hetzereien  aus  Anlaß 
der  Vorgänge  in  den  Grenzgebieten  ***  hören  nicht  auf,  und  wenn  auch 
jeder  einzelne  Fall  ohne  große  Bedeutung  ist,  so  wird  doch  allmählich 
eine  unerfreuliche  Atmosphäre  geschaffen.  Dazu  kommt,  daß  sich 
deutlich  eine  Art  Preßbewegung  gegen  den  Marquis  di  San  Giuliano 
wegen  seiner  austrophilen  Politik  abzeichnet,  die  nicht  ohne  Eindruck 


Vgl.  Nr.   15  547. 

*  Italienischer  Botschafter  in  Berlin. 

*  Vgl.  dazu  Bd.  XXXIX,  Kap.  CCXCVI. 


351 


auf   den    Minister   bleibt.    Besonders   einige   scharfe   Angriffe   des  so 
einflußreichen  „Corriere  della  Sera"  haben  ihn  beunruhigt4. 

Floto w 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  t 

2  Also  die  alte  Situation  vom  Winter  12/13,  wo  es  nahe  daran  war 

3  richtig!    sie  müßten  sich  einige[n] 

4  sie  müßten  sich  verständigen! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Es  muß  eingesehen  werden,  daß  ä   la  longue  Serbien   und  Montenegro  doch 
zusammen  kommen  werden,  wie  Tisza  es  sagte 

Nr.  15  552 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 
an  Kaiser  Wilhelm  IL 

Eigenhändiges  Konzept 

Berlin,  den  25.  Mai  1914 

Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  wage  ich  anliegend 
Abschrift  eines  Berichts  des  österreichisch-ungarischen  Militärattaches  in 
Belgrad  *,  welchen  der  österreichisch-ungarische  Botschafter  mir  ver- 
traulich  mitgeteilt   hat,   alleruntertänigst   zu  unterbreiten. 

J  ago  w 

Anlage 

Bericht  des  Österreich-ungarischen  Militärattaches  in  Belgrad 

Majors  Gellinek 

Abschrift 

Nr.  69  Belgrad,  den  20.  April  1914 

Ebenso  wie  Kirche  und  die  Geistlichkeit  in  Serbien  haupt- 
sächlich nationalen  und  politischen  Zwecken  dient,  so  werden  hier 
auch  die  größeren  kirchlichen  Feste  zum  Anlaß  genommen,  um  dem 
nationalen  Empfinden  und  den  bezüglichen  Wünschen  und  Hoffnungen 
Ausdruck  zu  geben.  In  drastischer  Weise  trat  dies  in  den  diesjährigen 
Ostergrüßen  der  serbischen  Presse  zutage.  Allen  voran  hat  die 
„Politika",  das  angesehenste  serbische  Blatt,  in  ihrem  Leitartikel 
„Unsere  Auferstehung"  die  Genugtuung  der  Großserben  über  die 
Ereignisse  seit  dem  vorigen  Osterfeste  und  ihre  Erwartungen  betreffs 
der  Zukunft  zusammengefaßt: 

„In  Gracanica,  inmitten  des  befreiten  Volkes,  hat  der  Kronprinz 
heute    die   heilige    Kommunion    empfangen.    Schon    vor   einem    Jahre 


*  Major  Gellinek. 
352 


feierten  unsere  siegreichen  Truppen  dort  das  Osterfest,  aber  während 
damals  noch  die  Auseinandersetzung  mit  dem  treubrüchigen  Ver- 
bündeten bevorstand,  sind  heute  die  meisten  Länder  der  alten  serbischen 
Fürsten  unter  dem  serbischen  Szepter  vereint. 

Der  serbisch-türkische  Krieg  hat  die  Kraft  Serbiens  anwachsen 
lassen;  der  Krieg  gegen  Bulgarien  jedoch  gab  uns  erst  das  neue  Leben. 
Erst  nach  Bregalniza  konnte  Serbien  freudig  in  die  Zukunft  blicken, 
erst  dann  den  Glauben  an  die  Auferstehung  des  gesamten  Serben- 
volkes gewinnen.  Und  heute  feiert  man  in  Radoviste  bis  zum  Triglav, 
vom  Ochridasee  bis  zu  den  Werschetzer  Bergen  das  Osterfest  mit 
jener  Freude,  wie  in  den  hellsten  Tagen  des  alten  serbischen  Kaiser- 
reiches. Heute  fühlen  sich  diese  ganzen  serbischen  Länder  wie  eine 
Seele,  die  niemand  mehr  ersticken,  deren  Einheit  niemand  mehr  zer- 
stören kann. 

Es  liegt  gar  nichts  daran,  daß  Kroatien  heute  vielleicht  wieder 
nur  einen  Schritt  von  den  schweren  Zeiten  des  Kommissariates  ent- 
fernt ist,  —  es  liegt  nichts  daran,  daß  Dalmatien  legionenweise  von 
Schachern  überschwemmt,  Bosnien  und  der  Herzegowina  die  Hände 
gebunden  und  die  Kehle  zugeschnürt  ist;  heute  bilden  die  öster- 
reichischen und  die  ungarischen  Gendarmen,  welche  mit  ihren  Bajo- 
netten die  serbischen  Ortschaften  durchstreifen  und  jeden  ins  Ge- 
fängnis werfen,  der  mit  hellem  Auge  nach  dem  serbischen  Süden  blickt, 
für  die  Bevölkerung  keinen  Schrecken  mehr!  Denn  jedes  große  Werk 
verlangt  seine  Opfer,  jede  Befreiung  zählt  ihre  Märtyrer,  und  die  heutige 
serbische  Generation  auf  ihrem  großen  Territorium  hat  keinen  sehn- 
licheren Wunsch,  als  diese  Märtyrer  zu  geben." 

In  ähnlicher  Weise  äußert  sich  das  Organ  der  Fortschrittler,  die 
„Prawda": 

„.  .  .  An  uns  Serben  im  Königreiche,  die  wir  keine  Auferstehung 
mehr  zu  feiern  brauchen,  ist  es  heute,  daran  zu  denken,  welche  Wünsche 
unsere  Brüder  jenseits  der  Donau,  Save  und  Drina  haben  können. 
Die  Befreiung!  Sie  wünschen  das,  was  bis  vor  zwei  Jahren  unsere 
Brüder  beiderseits  des  Vardar  gewünscht  haben.  Aber  sie  sind  nicht 
kräftig  genug,  um  dies  alleine  auszuführen.  Sie  sind  zwar  reif  für 
die  Befreiung,  müssen  aber  von  außen  befreit  werden.  Daran  soll 
jeder  Serbe  zu  Ostern  denken;  wir  haben  unsere  nationale  Auferstehung 
schon  längst  gefeiert,  vollenden  wir  sie  auch  für  unsere  noch  unbe- 
freiten Brüder." 

Der  „Piemont",  das  Blatt  der  Offizierspartei,  sagt  nach  einem 
Überblick  der  beiden  Kriege  folgendes: 

„.  .  .  Mit  der  Befreiung  Mazedoniens  wurde  Serbien  nicht  nur  ver- 
größert, sondern  auch  die  Hoffnungen  auf  die  endgültige  Befreiung  des 
ganzen  serbischen  Volkes  sind  gewachsen.  Die  Auferstehung  des 
serbischen  Volkes  im  Süden  vergrößerte  bei  den  Stammesbrüdern  im 
Westen  und  im  Norden  den  Glauben  an  die  endliche  Befreiung,  ebenso 

23    Die  Große  Politik.    38.  Bd.  353 


wie  das  kleine  serbische  Königreich  seinerzeit  mit  seinem  Beispiel  ganz 
Mazedonien  ermutigt  hat  (?).  Die  Glocken,  welche  heute  morgens  in 
Eosnien,  der  Herzegowina,  Dalmatien,  Slawonien,  Syrmien,  in  der  Backa 
und  im  Banat  die  Auferstehung  des  Glaubens  und  des  Frühlings  ver- 
künden, werden  heller  erklingen  denn  je." 

Die  „Straza"  vergleicht  die  endliche  Befreiung  der  Serben  mit  der 
Leidensgeschichte  Christi: 

„.  .  .  Auch  das  Jahr  1908  bedeutet  für  uns  einen  Karfreitag, 
auf  welchen  1912/13  die  Auferstehung  folgte.  Das  Serbien  Dusans  hat 
seine  Auferstehung  gefeiert,  und  auch  das  Osterfest  des  ganzen  serbi- 
schen Volkes,  der  Tag  der  nationalen  Vereinigung,  welcher  alles,  was 
serbisch  spricht,  in  einen  Staat  zusammenfassen  wird,  ist  nicht  mehr 
ferne.  Wir  vertrauen  auch  weiter  in  die  Kraft  unseres  Volkes  und  in 
die  Güte  Gottes,  und  diese  Zuversicht  wird  uns  bald  dazu  verhelfen, 
daß  die  Serben  aller  serbischen  Länder  sich  zum  Osterfeste  mit  den 
Worten  begrüßen  werden:  Großserbien  ist  auferstanden!" 

Der  „Balkan"  sagt,  daß  die  großen  militärischen  Erfolge  Serbiens 
die  größten  Hoffnungen  im  Volke  erweckt  haben: 

„Der  Verwirklichung  der  großserbischen  Ideale,  welche  noch  vor 
kurzem  in  großer  Gefahr  stand,  eröffnen  sich  nun  neue  Perspektiven, 
und  die  serbischen  Standarten  erwarten  ungeduldig,  zu  neuem  Ruhme 
geführt  zu  werden,  um  auch  an  den  Ufern  der  Mariza,  der  Donau, 
der  Theiß  und  der  Una  freudige  Tage  zu  erleben.  Denn  dort,  jenseits 
der  Save-Donau,  an  den  Ufern  der  rauschenden  Narenta  und  an  der 
Adria  schmachten  Sklaven,  welche  an  dem  heutigen  großen  christlichen 
Freudenfeste  mit  Kummer  ausblicken,  ob  nicht  das  Blitzen  der  serbi- 
schen Bajonette  schon  sichtbar  sei,  denn  diese  bilden  ihre  einzige 
Hoffnung  auf  eine  endliche  Auferstehung.  Schließen  wir  uns  daher 
noch  fester  zusammen,  und  eilen  wir  denjenigen  zu  Hilfe,  welche  die 
Freude  des  heutigen   Auferstehungsfestes   noch  nicht  mitfühlen." 

In  ähnlichem  Sinne  äußern  sich  auch  die  meisten  übrigen  Tages- 
blätter. Der  in  allen  diesen  Leitartikeln  bekundete  heiße  Wunsch  nach 
der  Vereinigung  mit  unseren  Südslawen  bildet  auch  in  dieser  unge- 
schminkten Form  keine  Neuheit.  Hiezu  gesellt  sich  aber  jetzt  die 
immer  deutlicher  hervortretende  feste  Überzeugung,  daß  unsere  Serben, 
Kroaten  und  Slowenen  sich  politisch  überhaupt  mit  nichts  anderem 
beschäftigen,  als  sehnsüchtig  über  die  serbische  Grenze  zu  blicken 
und  die  serbischen  „Befreier"  herbeizuwünschen.  Diese  hier  allge- 
meine, selbst  in  den  gebildeten  Kreisen  verbreitete  Ansicht  muß 
als  ein  Faktor  betrachtet  werden,  der  Serbien  leicht  zu  einer  Abenteuer- 
politik  gegenüber   der  Monarchie   verleiten   könnte. 

(gez.)   G  e  1 1  i  n  e  k 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms   II.: 
Unerhört!  aber  begreiflich 

354 


Nr.  15  553 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschirschky,  z.Z.  in  Budapest, 
an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  von  Jagow 

Eigenhändiger  Privatbrief 

Budapest,  den  17.  Mai  1914 
[pr.  21.  Mai] 

pp.  *  Im  Laufe  unserer  ganz  vertraulichen  Unterhaltung  teilte  mir 
Avarna  noch  mit,  er  sei  beauftragt,  bei  Graf  Berchtold  den  Abschluß 
einer  Vereinbarung  für  den  Fall  einer  Fusion  Serbiens  mit  Montenegro 
zu  betreiben.  Vorschläge  habe  er  nicht  zu  machen.  Er  wisse  nur,  daß 
man  in  Rom  der  Ansicht  sei,  daß  ein  Angrenzen  der  Monarchie  an 
Albanien  im  Interesse  Serbiens  nicht  zugelassen  werden  könne,  weil 
dadurch  der  Einfluß  der  Monarchie  auf  Nordalbanien  zu  stark  werden 
würde.  Ich  habe  meinem  italienischen  Kollegen  angedeutet,  daß  wir 
diesen  Standpunkt  seiner  Regierung  nicht  teilen  könnten,  und  daß 
Herr  von  Flotow  in  dieser  Richtung  Instruktionen  erhalten  hätte. 
Avarna  meinte,  es  komme  jetzt  zunächst  darauf  an,  d'entamer  des 
negociations,  im  Laufe  der  Verhandlungen  werde  man  schon  einen 
Ausweg  finden.  Sobald  Avarna  mit  Berchtold  gesprochen  haben  wird, 
werde  ich  weisungsgemäß  den  Abschluß  einer  Vereinbarung  nach- 
drücklich unterstützen. 

Avarna  klagte  dann  noch  über  die  übertriebene  Nervosität  in  Rom 
in  bezug  auf  die  albanischen  Verhältnisse.  Diese  rühre  einerseits  von 
den  pessimistischen  Berichten  des  Gesandten  Aliotti  her,  andererseits 
habe  sie  ihren  Grund  darin,  daß  San  Giuliano  sich  um  die  albanischen 
Dinge  so  gut  wie  gar  nicht  kümmere,  sondern  deren  Beantwortung  fast 
ausschließlich  Herrn  de  Martino  überlasse.  „C'est  un  mauvais  garne- 
ment,"  meinte  der  Botschafter,  ein  schlechtes  Element,  der  anstatt 
zu  vermitteln  und  auszugleichen,  die  Schwierigkeiten  künstlich  ver- 
größere. 

Hier  in  Pest  ist  fast  die  ganze  „Gesellschaft"  in  scharfer  Opposition 
gegen  Tisza.  Die  großen  Familien  hassen  ihn  mit  der  ganzen  leiden- 
schaftlichen Glut,  deren  ein  Ungar  und  eine  Ungarin  in  politischen 
Dingen  fähig  ist.  Man  sieht  in  diesen  Kreisen  sehr  schwarz  und  pro- 
phezeit dem  Grafen  Tisza  kein  gutes  Ende.  Auch  über  Berchtold  hört 
man  nur  sehr  scharfe  Urteile.  Die  Anti-Dreibund-Tiraden  des  Grafen 
Kärolyi  werden  nirgends  ernst  genommen. 

von  Ts  chirschky 


*  Der  Anfang  des  Briefes,  der  die  Verhandlungen  über  die  antiösterreichischen 
Demonstrationen  in  Italien  betrifft,  ist  abgedruckt  in  Bd.  XXXIX,  Kap. 
CCXCVI,  Nr.   15  767. 


23*  355 


Nr.  15  554 

Der  Botschafter  in  Wien  von  Tschlrschky  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 

Ausfertigung 
Nr.   217  Wien,   den   4.   Juli   1914 

Ich  hatte  dieser  Tage  aus  Anlaß  des  „Figaro"-Artikels  über  die 
bevorstehende  Union  zwischen  Serbien  und  Montenegro*  Gelegenheit 
genommen,  den  Grafen  Berchtold  zu  fragen,  ob  er  etwa  seit  der  Be- 
gegnung mit  Marquis  di  San  Giuliano  in  Abbazia  in  dieser  Angelegen- 
heit mit  Rom  in  Verbindung  getreten  sei.  Ich  bemerkte,  daß,  wenn  mir 
auch  die  Nachricht  des  französischen  Blattes,  die  Union  sei  in  aller- 
nächster Zeit  zu  erwarten,  in  dieser  Form  kaum  glaubwürdig  erscheine, 
sie  doch  als  Anzeichen  dafür  gelten  könne,  daß  weiter  in  dieser  Rich- 
tung gearbeitet  werde,  und  daß  die  unerläßliche  Verständigung  mit 
Italien  nicht  so  lange  herausgeschoben  werden  sollte,  bis  es  eines 
Tages  zu  spät  sei. 

Graf  Berchtold  erwiderte,  er  habe  noch  keine  Gelegenheit  gehabt, 
seit  Abbazia  mit  Rom  über  diese  Frage  zu  verhandeln.  Übrigens  be- 
richte der  österreichisch-ungarische  Vertreter  in  Cetinje,  daß  die  Unions- 
idee in  Montenegro  keineswegs  populär  sei,  sondern  nur  von  einer 
kleinen  und  nicht  einflußreichen  Partei  betrieben  werde. 

Ich  habe  dann  dem  Minister  gegenüber  noch  bemerkt,  daß  die 
Kaiserliche  Regierung  dieser  Frage  und  ihrer  Regelung  zwischen  Wien 
und  Rom  ihr  dauerndes  Interesse  entgegenbringe,  vor  allem  im  Hin- 
blick auf  eine  notwendige  vorgängige  Verständigung  zwischen  unseren 
beiden  Bundesgenossen.  Euere  Exzellenz  hätten  auch  bereits  den  Kaiser- 
lichen Botschafter  in  Rom  dahin  instruiert,  daß  die  Kaiserliche  Regie- 
rung die  von  Marquis  di  San  Giuliano  bisher  vertretene  These,  Italien 
könne  eine  Zuteilung  des  montenegrinischen  Küstengebiets  an  Albanien 
nicht  zulassen,  für  nicht  haltbar  erachte.   Der  Minister  war  über  diese 


*  Am  1.  Juli  hatte  der  „Figaro"  folgende  Information  veröffentlicht:  „Wir 
sind  in  der  Lage  zu  melden,  daß  Serbien  und  Montenegro  den  Beschluß  gefaßt 
haben,  ihre  Vereinigung  zu  proklamieren.  Dieser  Beschluß  sollte  am  Jahrestage 
der  Schlacht  von  Kossowo,  also  vorgestern,  bekanntgegeben  werden.  Durch  die 
Ermordung  des  Erzherzogs  Franz  Ferdinand  und  seiner  Gemahlin  ist  jedoch 
das  Datum  der  Bekanntgabe  hinausgeschoben  worden,  es  handelt  sich  aber  nur 
um  eine  Verzögerung.  Die  Verhandlungen  sind  unter  Beobachtung  des  größten 
Stillschweigens  zwischen  den  Kabinetten  von  Belgrad  und  Cetinje  geführt 
worden  unter  der  ermunternden  Ägide  Rußlands,  das  von  Anfang  an  über  die 
Verhandlungen  auf  dem  laufenden  gehalten  wurde."  Gegenüber  einem  Dementi 
der  Berliner  serbischen  Gesandtschaft  hielt  der  „Figaro"  am  2.  Juli  seine 
Information  aufrecht.  Nach  anderen  Pressestimmen  sollte  es  sich  um  Her- 
stellung eines  bundesstaatlichen  Verhältnisses  handeln. 

356 


Stellungnahme    Euerer   Exzellenz  sichtlich   sehr  erfreut  und   ersuchte 
mich,  Euerer  Exzellenz  dafür  seinen  Dank  zu  übermitteln. 

Der  Herzog  von  Avarna  bestätigte  mir  auf  meine  Frage,  daß  seit 
Abbazia  über  die  Angelegenheit  der  Union  zwischen  Wien  und  Rom 
nicht  gesprochen  worden  sei.  Die  Unterhandlungen  über  die  albanische 
Frage*  hätten  alles  andere  in  den  Hintergrund  treten  lassen.  Er  werde 
aber  bei  nächster  Gelegenheit  die  Unionsfrage  dem  Grafen  Berchtold 
gegenüber  wieder  berühren. 

von  Tschirschky 

Nr.  15  555 

Der  Botschafter  in  Rom  von  Flotow,  z.  Z.  in  Fiuggi-Fonte, 
an  den  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg** 

Ausfertigung 

Nr.  4  Fiuggi,  den  10.  Juli  1914 

Ganz  vertraulich 

Da  die  italienische  Presse,  angeregt  durch  eine  österreichische 
Militärzeitschrift,  der  Frage  der  serbisch-montenegrinischen  Vereini- 
gung und  des  Lovcen  erneut  ihre  Aufmerksamkeit  zugewandt  hat, 
so  habe  ich  gelegentlich  das  Gespräch  mit  dem  Marquis  di  San 
Giuliano  auf  denselben  Gegenstand  gelenkt  und  ihn  gefragt,  ob  er 
nicht  rechtzeitig  mit  Österreich  zu  einer  Verständigung  darüber  ge- 
langen könne.  Der  Minister  verhehlte  sich  nicht  den  ganzen  Ernst 
dieser  Frage.  Leider  geht  er  immer  noch  davon  aus,  daß  eine  wirkliche 
Verständigung  zurzeit  nicht  möglich  sei,  es  sei  daher  besser,  diese 
Unmöglichkeit  heute  nicht  zu  konstatieren,  da  eine  derartige  Feststellung 
die  ernstesten  Konsequenzen  haben  könne.  Es  sei  schon  besser,  die 
Ereignisse  abzuwarten  und  zu  sehen,  was  seinerzeit  zu  tun  sei.  Er 
glaube  nicht,  daß  zu  Lebzeiten  des  Königs  Nikolaus  eine  völlige  Ver- 
einigung der  beiden  Länder  eintreten  werde.  Er  hoffe,  die  Vereinigung 
werde  so  allmählich  und  gradatim  vor  sich  gehen,  daß  Österreich,  wie 
so  häufig,  den  rechten  Augenblick  zum  Eingreifen  nicht  finden  werde. 
Zu  hindern  sei  die  Vereinigung  auf  die  Dauer  nicht. 

Als  die  schwierigste  Seite  der  Frage  bezeichnete  mir  der  Minister 
die  österreichischen  Aspirationen  auf  den  Lovcen.  Auf  meine  Be- 
merkung, daß  mir  allerdings  weite  österreichische  Kreise  den  Erwerb 
dieses  Berges  für  Österreich  bei  Gelegenheit  einer  Vereinigung  Serbiens 
mit  Montenegro  als  ein  vitales  österreichisches  Interesse  anzusehen 
schienen,  geriet  der  Minister  in  eine  seiner  kühlen  und  überlegenen  Art 
sonst  fremde  Erregung  und  sagte,  daß  wir  keinen  Augenblick  darüber 

*  Vgl.  dazu  Bd.  XXXVI,  Kap.  CCLXXXII. 

•*  Hier  angeschlossen  des  Zusammenhangs  halber. 

357 


im  Zweifel  sein  dürften,  daß  ein  solches  Vorgehen  Österreichs  nicht 
nur  das  Ende  des  Dreibundes,  sondern  den  italienischen  Krieg  mit 
Österreich  bedeuten  würde.  Dieser  Krieg  würde  mit  allen  Mitteln,  mit 
der  Revolutionierung  Österreichs  und  mit  Hilfe  der  Serben  und  Russen 
geführt  werden.  Die  letztere  Bemerkung,  die,  kaum  getan,  dem  Minister 
offenbar  leid  war,  war  mir  insofern  interessant,  als  der  österreichische 
Botschafter  in  letzter  Zeit  einen  ganz  besonders  intimen  und  häufigen 
Verkehr  des  Ministers  mit  dem  russischen  Botschafter  bemerkt  haben 
will.  Auch  war  mir  aufgefallen,  daß  der  russische  Botschafter  mich  mit 
dem  Anschein  guter  Orientierung  fragte,  ob  ich  denn  ernstlich  glaube, 
daß  die  italienischen  Bundesgenossen  im  Kriegsfalle  wirklich  mit  uns 
marschieren  würden. 

Als  ich  weiter  bei  dem  Marquis  di  San  Giuliano  insistierte,  ob 
er  denn  keine  der  der  italienischen  Mentalität  sonst  so  vertrauten 
Kombinationen  sähe,  die  selbst  beim  Übergang  des  Lovcen  auf  Öster- 
reich die  italienischen  Interessen  wahre,  kam  der  Minister  zögernd 
mit  dem  Gedanken  heraus,  daß  die  einzige  Möglichkeit,  diese  Even- 
tualität der  italienischen  öffentlichen  Meinung  annehmbar  zu  machen, 
eine  Gebietszession  im  Trentino  an  Italien  sein  würde.  Ich  habe  nicht 
unterlassen,  den  Minister  darauf  hinzuweisen,  wie  schwierig  es  nach 
allen  Vorgängen  der  Geschichte  für  den  alten  österreichischen  Kaiser- 
staat sein  würde,  den  Weg  einer  Gebietszession  an  Italien  zu  be- 
schreiten. Der  Minister  erwiderte,  dann  sähe  er  keine  friedliche  Lösung 
dieser  Frage. 

Man  wird  also  nicht  die  Augen  davor  verschließen  dürfen,  daß 
man  hier  vor  einer  ernsten  Frage  steht,  die  zum  mindesten  den  Drei- 
bund erschüttern,  vielleicht  sogar  zu  einer  europäischen  Konflagration 
führen  kann.  Ich  habe  daher  noch  einmal  den  Marquis  di  San  Giuliano 
mit  allem  Nachdruck  darauf  hingewiesen,  daß  er  in  seinem  erfindungs- 
reichen Kopfe  eine  Lösung  finden  müsse,  die  gestatte,  vor  dem  Eintritt 
der  zu  befürchtenden  Ereignisse  wenigstens  in  eine  Aussprache  mit 
Österreich  einzutreten. 

Floto w 

Nr.  15  556 
Der  Gesandte  in  Belgrad  Freiherr  von  Griesinger  an  den 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg* 

Ausfertigung 
Nr#  in  Belgrad,  den  6.  Juli  1914 

Die  schicksalsvollen   Ereignisse  der  vergangenen  Woche**  haben 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit  in  so  hohem  Maße  auf  die  Wirksamkeit 


•  Der   Bericht  ist  bereits  veröffentlicht  bei   K.   Kautsky,   Die   deutschen   Doku- 
mente zum  Kriegsausbruch,  I,  37  ff. 

•*  Gemeint  ist  die  Ermordung  des  Erzherzog-Thronfolgers  Franz  Ferdinand  am 
28.  Juni. 


358 


der  sogenannten  „Narodna  Odbrana"  (wörtlich  übersetzt  „Volkswehr") 
hingelenkt,  daß  eine  zusammenfassende  Übersicht  ihrer  Entstehung, 
Organisation,  Ziele  und  Mittel  im  gegenwärtigen  Zeitpunkt  von  be- 
sonderem Interesse  sein  dürfte. 

Das  Jahr  1908,  wo  Serbien  sich  gegen  die  Annexion  Bosniens 
und  der  Herzegowina  durch  die  Nachbarmonarchie  wild  aufbäumte, 
aber  dann,  von  Rußland  im  Stich  gelassen,  sich  mit  der  Einverleibung 
dieser  „echt  serbischen  Länder"  in  Österreich-Ungarn  abfinden  und 
sogar  vor  aller  Welt  erklären  mußte,  hierdurch  „nicht  beleidigt  zu 
sein",  hatte  der  serbischen  Volksseele  eine  nicht  vernarbende  Wunde 
geschlagen.  Kurz  zuvor  waren  durch  den  Ausbruch  der  jungtürkischen 
Revolution  die  Hoffnungen  Serbiens  auf  Erwerb  von  Mazedonien  und 
Altserbien  stark  verringert  worden  und  die  Früchte  einer  vieljährigen, 
kostspieligen  und  opferreichen  Propaganda  drohten  verloren  zu  gehen. 
Die  Politiker  aller  Parteien  sahen  die  Zukunft  des  Landes  auf  das 
äußerste  gefährdet;  sie  waren  überzeugt,  daß  Serbien  sich  nur  mit 
Einsatz  aller  Kräfte  der  Umklammerung  durch  den  übermächtigen  Nach- 
barn erwehren  könne.  Damals  begannen  die  radikalen  Regierungen 
in  Serbien  sich  ernstlich  für  einen  Entscheidungskampf  vorzubereiten 
und  eine  Rüstungsanleihe  nach  der  anderen  aufzunehmen.  Im  Zu- 
sammenhang damit  trat  die  Idee  der  „Narodna  Odbrana"  in  die  Er- 
scheinung. 

Sie  war  gedacht  als  ein  patriotisch-nationalistischer  Geheimbund, 
der  nicht  bloß  das  Königreich  Serbien,  sondern  sämtliche  Länder  mit 
serbischen  Bevölkerungselementen  umfassen  sollte,  und  bestimmt,  das 
Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  und  Stammeseinheit  zu  entwickeln 
und  zu  kräftigen  und  auf  dem  so  vorbereiteten  Boden  an  der  realen 
Durchführung  dieser  Vereinigung  mit  allen  Mitteln  zu  arbeiten.  Das 
Schlagwort  lautete:  „Arbeit  an  der  Befreiung  der  unterjochten  Brüder." 
In  die  Leitung  des  Geheimbundes,  als  dessen  Ehrenpräsident  der 
General  a.  D.  Bosidor  Jankowitsch,  später  Kommandant  der  Ibar- 
Division  im  serbisch-türkischen  Kriege,  fungierte,  traten  Männer  der 
verschiedensten  Berufsarten  ein:  Beamte,  Offiziere  (insbesondere  die- 
jenigen aus  der  Gruppe  der  viel  besprochenen  „Schwarzen  Hand"), 
Abgeordnete,  Kaufleute,  Handwerker  und  dergleichen.  Vertrauensmänner 
des  Bundes  wurden  wie  für  das  Innere  Serbiens,  so  auch  für  Südungarn, 
Bosnien  und  die  Herzegowina,  Dalmatien,  Altserbien  und  Mazedonien 
bestellt.  Aber  gewitzigt  durch  die  unangenehmen  Erfahrungen,  die  man 
mit  dem  früheren  „Jugoslowenski  Klub"  (Südslawischer  Verein)  in  Ser- 
bien gemacht  hatte,  vermied  es  der  neue  Geheimbund,  sich  durch 
schriftliche  Festsetzungen  der  Gefahr  einer  Kompromittierung  aus- 
zusetzen. Insbesondere  wurden  weder  schriftliche  Statuten  abgefaßt, 
noch  über  die  Sitzungen  schriftliche  Protokolle  aufgenommen.  Die 
Sitzungen  wurden  je  nach  Umständen  und  Verabredung  bei  dem  einen 
oder  andern  der  Vorstandsmitglieder  abgehalten. 

359 


Man  war  sich  darüber  einig,  daß  vor  allem  die  Jugend  mit  ihrer 
Begeisterungsfähigkeit  für  unklare  Freiheitsideen  gewonnen  werden 
mußte.  So  begann  die  „Narodna  Odbrana"  mit  der  systematischen 
Verhetzung  und  Fanatisierung  der  Jugend,  namentlich  der  Schuljugend. 
Im  Königreich  Serbien  eigneten  sich  trefflich  hierzu  die  Sokol-  und 
Duschanowzi-Vereine,  in  denen  mit  der  großserbischen  Agitation  prak- 
tische Unterweisung  im  Waffengebrauch  verbunden  wurde.  In  den 
südslawischen  Ländern  Österreich-Ungarns,  wo  derartige  öffentliche 
Verbindungen  auf  Widerstand  der  Behörden  stießen,  bildeten  sich 
überall  unter  den  Schülern  serbischer  Nationalität  geheime  Konven- 
tikel,  die  sich  an  der  Lektüre  aus  Serbien  eingeschmuggelter  chau- 
vinistischer und  auch  einheimischer  großserbischer  Blätter  berauschten. 
Solcher  großserbischer  Blätter  gibt  es  in  Serajewo,  Fiume,  Agram  die 
Fülle.  In  letzterer  Stadt  ist  es  zum  Beispiel  der„Srbobran",  ein  Organ  des 
kroatischen  Landtagsabgeordneten  und  großserbischen  Agitators  Sweto- 
sar  Pribitschewitsch,  eines  Bruders  des  jetzt  mit  dem  Attentat  in  Sara- 
jevo öffentlich  in  Verbindung  gebrachten  serbischen  „Majors  Milan 
Probitschewitsch. 

Ihren  Zielen  entsprechend,  wendete  die  „Narodna  Odbrana"  ferner 
dem  Bandenwesen  in  der  Türkei  ihre  besondere  Aufmerksamkeit  zu. 
Sie  hat  es  zwar  nicht  geschaffen,  denn  die  Komitadjis  bestanden  lange 
vor  ihr,  aber  sie  hat  zu  ihrer  Vermehrung  und  besseren  Ausrüstung 
viel  beigetragen.  Auf  ihre  Bearbeitung  der  Jugend  ist  es  mit  zurück- 
zuführen, wenn  fast  täglich  Schüler  aus  den  Gymnasien  und  Studenten 
von  der  Universität  verschwanden,  um  als  Freischärler  in  Mazedonien 
aufzutauchen,  oder  wenn  junge  Offiziere  aus  der  Armee  austraten  und 
mit  falschen  Pässen  versehen  nach  Altserbien  gingen.  Fragt  man, 
was  aus  diesen  Komitadjis  jetzt  nach  beendetem  Krieg  und  er- 
obertem Mazedonien  geworden  ist,  so  ist  die  Antwort:  ein  Teil  ist  vom 
Staat  bei  den  verschiedensten  Betrieben  (Eisenbahn,  Post,  Monopol, 
Zoll,  Polizeiverwaltung)  untergebracht,  wo  sie  meistens  kleine  Sine- 
kuren innehaben;  ein  anderer  Teil  strolcht  arbeitsscheu  und  wahr- 
scheinlich von  der  „Narodna  Odbrana"  unterstützt  umher,  auf  eine 
Gelegenheit  lauernd,  wieder  seine  wilden  Instinkte  zu  betätigen.  Es 
hat  nicht  an  warnenden  Stimmen  gefehlt,  die  auf  die  Gefahr  hinwiesen, 
jene  Komitadjis  möchten  sich,  nunmehr  ihre  Arbeit  in  der  Türkei  be- 
endet war,  Bosnien  und  Südungarn  zum  Feld  neuer  Tätigkeit  aussuchen. 

Was  die  Mittel  betrifft,  mit  welchen  die  „Narodna  Odbrana"  ihre 
mannigfachen  Ziele  bestreitet,  so  appelliert  sie  in  erster  Reihe  an  frei- 
willige Massenbeiträge  des  Publikums.  Sie  geht  dabei  von  der  gewiß 
richtigen  Ansicht  aus,  daß  kleine  Beiträge,  die  in  Massen  geleistet 
werden,  ein  ungleich  ergiebigeres  Erträgnis  liefern,  als  vereinzelte 
größere  Spenden.  Es  werden  daher  bei  gewissen  Gelegenheiten  und 
namentlich  an  dem  auf  den  15.  Juni  alten  Stils  fallenden  St.  Veitstage  (Wi- 
dowdan),  der  der  Erinnerung  an  den  Untergang  des  mittelalterlichen 

360 


Großserbiens  in  der  Schlacht  auf  dem  Amselfeld  gewidmet  ist,  öffent- 
liche Sammlungen  in  ganz  Serbien  veranstaltet,  die  regelmäßig  höchst 
respektable  Summen  einbringen.  Sodann  ist  es  Brauch  geworden,  bei 
letztwilligen  Verfügungen  die  „Narodna  Odbrana"  mit  Legaten  zu  be- 
denken, ebenso,  zum  Gedächtnis  an  verstorbene  Familienangehörige 
der  „Narodna  Odbrana"  Beiträge  zu  überweisen.  Doch  hat  es  mit 
diesen  freiwilligen  Beiträgen  keineswegs  sein  Bewenden.  Oft  genug 
entsendet  die  „Narodna  Odbrana"  ihre  Vertrauensmänner  zu  reichen 
Kaufleuten,  Banken  usw.,  auch  solchen,  die,  ohne  Serben  zu  sein, 
mit  Serben  in  dauernder  Geschäftsverbindung  stehen,  oder,  wie  man 
hier  zu  sagen  pflegt,  an  Serbien  „verdienen",  und  fordert  Beiträge.  So 
wurde  mir  erst  kürzlich  ein  Fall  erzählt,  wonach  ein  solcher  Ver- 
trauensmann bei  der  hiesigen  Filiale  der  Banque  Frauco-Serbe  einen 
Beitrag  verlangte  und,  als  ihm  bemerkt  wurde,  daß  die  Bank  ohne 
Genehmigung  der  Pariser  Zentrale  nicht  über  100  frs.  beisteuern 
könne,  ausfällig  und  drohend  wurde.  Der  Staat  selbst,  wenn  er  gleich, 
um  Verantwortlichkeiten  zu  vermeiden,  darauf  halten  muß,  daß  die 
„Narodna  Odbrana"  ihren  privaten  Charakter  bewahre,  beschränkt  sich 
indes  keineswegs  auf  die  Rolle  eines  passiven  Zuschauers.  Unter  harm- 
losen Titeln  sind  in  das  Staatsbudget  gewisse  Positionen  aufgenommen, 
die  der  „Narodna  Odbrana"  zugute  kommen.  Bezüglich  der  Anschaf- 
fung von  Flinten  für  Schüler,  von  Revolvern  für  Freischärler  ist  es 
notorisch,  daß  der  Staat  sie  geliefert  hat.  Charakteristisch  ist,  daß  als 
Zentralstelle  für  die  Verausgabung  von  Staatsmitteln  für  solche  Zwecke 
und  die  Abrechnung  weder  das  Ministerium  des  Äußern,  noch  das 
Kriegsministerium,  sondern  dasjenige  für  Kultus  und  Unterricht  mit- 
wirkt. 

Mag  daher  die  serbische  Regierung  noch  so  sehr  ihren  Ab- 
scheu und  ihre  Entrüstung  über  die  in  Serajewo  begangene  Bluttat 
kundgeben,  mag  sie  noch  so  sehr  ihre  Unschuld  beteuern  und  darauf 
hinweisen,  wie  sinn-  und  zwecklos  dieses  Verbrechen  sei,  und  wie  es 
der  Sache  des  Serbentums  viel  eher  geschadet  als  genützt  habe,  eines 
kann  sie  nicht  ableugnen:  Sie  hat  die  Atmosphäre  geschaffen,  in  der 
solche  Explosionen  des  blinden  Fanatismus  allein  möglich  sind.  In 
ihrem  Lande  und  unter  den  Augen  ihrer  Behörden  sind  die  Elemente 
großgezogen  worden,  die  Serbien  vor  der  ganzen  gesitteten  Welt 
bloßgestellt  und  auf  eine  Stufe  wieder  herabgedrückt  haben  wie  der 
verabscheuungswürdige  Königsmord  des  Jahres  1903. 

v.   Griesinger 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
Sehr  gut 


361 


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