THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
RIVERSIDE
Die
Diplomatischen Akten
des Auswärtigen Amtes
1871-1914
Herausgegeben
im Auftrage des Auswärtigen Amtes
Die
Grosse Politik der
Europäischen Kabinette
1871-1914
Sammlung der Diplomatischen
Akten des Auswärtigen Amtes
Im Auftrage des Auswärtigen Amtes
herausgegeben von
Johannes Lepsius *j*
Albrecht Mendelssohn Bartholdy
Friedrich Thimme
1
DEUTSCHE VERLAOSQESELLSCHAFT FÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M.B.H. IN BERLIN W 8
38. Band
V
Neue Gefahrenzonen
im Orient
1913—1914
i
DEUTSCHE VERLAGSGESELLSCHAFT FÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M.B.H. IN BERLIN W 8
^394
3?
1. Auflage
Alle Rechte, besonders das der Obersetzung,
vorbehalten / Für Rußland auf Grund der
deutsch-russischen Obereinkunft / Amerikanisches
Copyright 1926 by Deutsche Verlagsgesell-
schaft für Politik und Geschichte m. b. H. in
Berlin W 8 I Unter den Linden 17/18 /
Gesetzt und gedruckt in der Buchdruckerei
F. E. Haag in Melle i. H.
Inhaltsübersicht des achtunddreißigsten Bandes
KAPITEL CCLXXXIX
Die Frage der Armenischen Reformen. Januar 191 3 bis April 1914 1
KAPITEL CCXC
Die Liman Sanders-Affäre. Januar 1913 bis Juni 1914 191
KAPITEL CCXCI
Rußland, die Vereinigung Serbiens und Montenegros und die
Großserbische Agitation. Januar bis Juli 1914 319
Ein Namenverzeichnis für die Bände XXVI— XXXIX erscheint als
Band XL, ein ausführliches Namen- und Sachverzeichnis zum Schlüsse
des gesamten Werkes
Kapitel CCLXXXIX
Die Frage der Armenischen Reformen
Januar 1913 bis April 1914
1 Die Groß« Politik. 38. Bd.
Nr. 15 282
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 1 Pera, den 2. Januar 1913
Aus armenischen Kreisen erfahre ich zuverlässig folgendes:
Die russische Regierung hat vor einiger Zeit den armenischen
Katholikos in Etschmjadsin darauf aufmerksam gemacht, daß durch
die gegenwärtige Weltlage die Gelegenheit geboten sei, eine Bewegung
zur Besserung des Loses der in der Türkei lebenden Armenier herbeizu-
führen, und daß es sich empfehlen würde, zu dem gedachten Zwecke
ein Komitee in Paris einzusetzen *. Hier in Konstantinopel ist der
frühere armenische Patriarch Ormanian an die Spitze der Bewegung
* Die Initiative der russischen Regierung in der armenischen Frage, die sich
keineswegs auf den dem armenischen Katholikos gegebenen Wink beschränkte,
war nach dem im Jahre 1915 ausgegebenen Orangebuch über die armenischen
Reformen (Les Reformes en Armenie. 26 Novembre 1912 — 10 Mai 1914)
veranlaßt durch einen Bericht des russischen Botschafters in Konstantinopel
von Giers an den russischen Außenminister vom 9. Dezember 1912. Dieser Be-
richt wies auf die wachsende Gärung in der armenischen Bevölkerung hin, welche
immer ungestümer die Durchführung ernstlicher Reformen unter russischer Kon-
trolle, oder lieber noch die russische Okkupation verlange. Der Bericht schloß
mit den Worten: „Vu l'etat d'anarchie oü se trouve la Turquie, il faut compter
avec l'eventualite que les reformes n'apporteront pas l'apaisement attendu et se
preparer ä la necessite de l'entree de nos troupes dans ces regions." Am
13. Dezember erteilte Sasonow darauf dem Botschafter Giers den Auftrag, bei
der Pforte unter Hinweis auf die sonst drohende Zuspitzung der russisch-tür-
kischen Beziehungen und auf die Möglichkeit einer europäischen Intervention
wegen der armenischen Reformen vorstellig zu werden. Kurz darauf leitete
er einen Meinungsaustausch mit den Kabinetten von Paris und London, unter
geflissentlicher Umgehung des Berliner Kabinetts, über die armenische Frage
ein, der dahin gerichtet war, der russischen Regierung mit Hilfe ihrer Entente-
genossen den vorwiegenden Einfluß bei einer Lösung der armenischen Frage
zu sichern. Vgl. dazu Andre Mandelstam, Le Sort de l'Empire Ottoman, Paris
1917, p. 206 ss. und Djemal Pascha, Erinnerungen eines türkischen Staats-
mannes, S. 337 ff. Bei Mandelstam, der im Jahre 1913 erster Dragoman bei
der russischen Botschaft in Konstantinopel war und einen lebhaften Anteil
an den Reformprojekten nahm (vgl. Nr. 15 338 ff.), eine eingehende Analyse
der in dem Orangebuch über die armenische Frage enthaltenen Schriftstücke, die
größtenteils nur in russischer Sprache veröffentlicht sind.
getreten. Dieser hat sich zunächst an einige hiesige Botschafter und
auch an verschiedene Vertreter der Großmächte in fremden Haupt-
städten, so zum Beispiel an den französischen Botschafter in London,
Herrn Cambon, und an Marquis Imperiali, mit der Bitte um Unterstüt-
zung seiner Pläne gewandt.
Französischerseits ist ihm ausweichend, italienischerseits gar nicht
geantwortet worden. Dagegen hat er von dem hiesigen englischen
Botschafter durch Herrn Fitzmaurice* den Bescheid erhalten, daß das
armenische Vorgehen durchaus zeitgemäß sei, Und daß England sich
voraussichtlich allen Schritten, die Rußland etwa in der Sache unter-
nähme, anschließen würde.
Wangenheim
Nr. 15 283
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter In Konstantinopel
Freiherrn von Wangenhelm
Konzept
Nr. 34 Berlin, den 10. Januar 1913
[abgegangen am 11. Januar]
Auf den Bericht vom 2. d. Mts. Nr. 1 •*.
Zu Ew. pp. gefälliger Information und Regelung Ihrer Sprache.
Als Mitunterzeichner des Berliner Vertrages (Artikel 61) und
in Anbetracht unserer bedeutenden Interessen in der asiatischen Türkei
beabsichtigen wir nicht, der Tripelentente allein die Sorge für das
Schicksal der Armenier zu überlassen. Vielmehr werden wir und ver-
mutlich auch unsere Verbündeten Wert darauf legen, zu etwaigen Ver-
handlungen und Beschlüssen der Mächte über armenische Verhält-
nisse hinzugezogen zu werden.
Z im m erra ann
Nr. 15 284
Der Botschafter In Petersburg Graf von Pourtales
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 25 St. Petersburg, den 23. Januar 1913
Bei meinen letzten Unterredungen mit Herrn Sasonow fiel mir
auf, daß der Minister bei Besprechung der für den Fall der Fort-
* Chefdragoman bei der englischen Botschaft in Konstantinopel.
*• Siehe Nr. 15 282.
dauer des Balkankrieges drohenden Gefahren wiederholt auf Armenien
zu sprechen kam l und die Befürchtung äußerte, daß es dort zu Christen-
metzeleien kommen könnte2. „Unruhen in der unmittelbaren Nähe
unserer Grenzen", bemerkte der Minister, „können uns aber nicht
gleichgültig lassen, und wir würden eintretendenfalls nicht umhin
können einzuschreiten."
Wie ich von vertrauenswürdiger Seite höre, stehen in dieser Frage
in hiesigen maßgebenden Kreisen zwei Strömungen einander gegen-
über. Während die einen ein Vorgehen in Armenien befürworten,
damit Rußland bei der jetzigen Neuregelung der Verhältnisse im nahen
Orient nicht ganz leer ausgeht3, "wird eine solche Politik von anderer
Seite bekämpft.
Vielfach wird behauptet, daß das Ministerium des Äußern den
ersteren Standpunkt vertritt4. Bei der maßvollen Zurückhaltung, die
Herr Sasonow bisher während der Balkankrisis beobachtet hat, vermag
ich daran noch nicht recht zu glauben. Immerhin ist nicht zu bestreiten,
daß mehrere Zeitungen, deren Beziehungen zu der Sängerbrücke be-
kannt sind, offenkundig bestrebt sind, das Interesse für Armenien zu
erwecken und auf die eventuelle Notwendigkeit eines russischen Ein-
schreitens zum Schutze der dortigen Christen hinzuweisen5.
Zu den Gegnern einer aktiven russischen Politik in Armenien
scheint nach meinen Informationen der Generalgouverneur des Kau-
kasus zu gehören. Graf Woronzow-Daschkow hat, wie ein gut unter-
richteter hiesiger Diplomat in Erfahrung gebracht haben will, als er
um seine Ansicht befragt wurde, auf die Gefahren hingewiesen, welche
eine Aktion Rußlands in Armenien für das Kaukasusgebiet im Gefolge
haben könnte. Der Statthalter hat dabei folgenden Standpunkt ver-
treten:
Eine solche Aktion würde naturgemäß zunächst die Gewährung
von Reformen und von Autonomie zum Ziele haben müssen. Sobald
aber die zahlreichen im Kaukasus lebenden Armenier von den für ihre
Konnationalen auf türkischem Gebiet gewährten 'Vorrechten hören
würden, sei zu erwarten, daß sie für sich die gleichen Rechte bean-
spruchen, und daß dann im Kaukasus Unruhen ausbrechen würden.
Herr Sasonow hat gestern dem österreichisch-ungarischen Bot-
schaftsrat* gesagt, er habe, um zu verhindern, daß es in Armenien
zu Ruhestörungen kommt, dem hiesigen türkischen Botschafter drin-
gend geraten, seiner Regierung die 'Einführung von Reformen in
Armenien zu empfehlen 6. Turkhan Pascha hat mir von diesem rus-
sischen Rat nichts mitgeteilt, sich aber bezüglich der russischen Ab-
sichten in Armenien mir gegenüber äußerst mißtrauisch gezeigt7.
Während der Botschafter noch vor einigen Wochen die maßvolle und
loyale Haltung der russischen Politik voll anerkannte, sprach er mir
* Graf Czernin.
gestern von einer entschieden veränderten Haltung des Ministers ihm
gegenüber8, die ihn mit großem Mißtrauen erfülle. Er könne die Be-
fürchtung nicht loswerden, daß Rußland sich mit irgendwelchen Plänen
trägt, mit denen es noch nicht heraustreten wolle 9. Turkhan Pascha
erklärte auf das entschiedenste, daß die Behauptung, die Lage der
Christen in Armenien sei eine gefährliche, völlig haltlos sei; dagegen
bestehe nicht der geringste Zweifel, daß die Russen es vollkommen
in der Hand hätten, wenn es ihnen passe, vom Kaukasus aus in
Armenien Unruhen anzuzetteln 10.
Auffällig war mir, daß der sonst ausgesprochen russophile italie-
nische Geschäftsträger*, der bis jetzt das größte Vertrauen in die
Uneigennützigkeit der russischen Politik zeigte11, mir ebenfalls Besorg-
nisse wegen der russischen Absichten in Kleinasien äußerte. Auf
meine Bemerkung, daß Rußland immerhin bei etwaigen Expansions-
bestrebungen in Kleinasien auf England würde Rücksicht nehmen
müssen12, erwiderte Marquis Torretia: „Warum sollten sich die Mächte
der Tripelentente nicht über diese Frage geeinigt haben13?" Der Ge-
schäftsträger wies dabei auf das bemerkenswerte Interesse hin, das
Frankreich neuerdings für Syrien zeige14**, und hielt es als nicht aus-
geschlossen, daß England sein Auge 'auf die arabische Küste des Roten
Meeres geworfen habe15.
Bestimmte Anhaltspunkte für solche Abmachungen der Mitglieder
der Tripelentente unter sich versicherte Marquis Torretta allerdings
nicht zu besitzen, und auch ich vermag keine Tatsachen anzuführen.
* Tommasi della Torretta.
** Auch der italienische Botschafter in London Marquis Imperiali brachte um
die Mitte Januar gegenüber Sir E. Grey zur Sprache, daß Frankreich Absichten
auf Syrien habe. Der italienische Argwohn, der in England geteilt (vgl.
dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXVIII), französischerseits aber für unbegründet
erklärt wurde, begreift sich aus der in Rom gehegten Besorgnis um die Auf-
rechterhaltung des Oleichgewichts im Ägäischen Meer. Vgl. das Geheimtelegramm
des russischen Geschäftsträgers in Paris Sewastopulo Nr. 14 vom 16. Januar 1913,
Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911 — 1914, ed. Fr. Sieve, III, 31. Um
die gleiche Zeit beargwöhnte die italienische Politik den österreichischen Bundes-
genossen, aus egoistischen Motiven die kleinasiatische Frage auf der Londoner
Konferenz aufrollen zu wollen. Graf Berchtold stellte eine solche Absicht ent-
schieden in Abrede; er befürwortete lediglich, daß die Dreibundmächte sich,
wenn die kleinasiatische Frage von anderer Seite angeschnitten werden sollte,
daran nicht desinteressieren, d. h. nicht zulassen sollten, daß die asiatische
Frage einseitig von anderen Mächten in Angriff genommen würde. Deutscher-
seits sprach man sich nachdrücklich dagegen aus, daß die asiatische Frage vor
die Botschaf terreunion gebracht werde: „Stellen wir die asiatische Frage erst
zur Diskussion und geben wir scheinbar damit zu, daß es sich um ein akutes
Problem handelt, so ermuntern wir Rußland und Frankreich, mit verborgenen
Wünschen hervorzutreten, regen die Ententemächte zu einer entsprechenden
vertraulichen Verständigung untereinander förmlich an und laufen daher Gefahr,
das Gegenteil des beabsichtigten Effekts zu erreichen." Siehe Bd. XXXIV,
Kap. CCLXVIII, Nr. 12 701, 12 706, 12 714.
die auf Abmachungen dieser oder ähnlicher Art schließen ließen; ich
habe aber doch geglaubt, das Mißtrauen, welches sich in hiesigen diplo-
matischen Kreisen gegen die russischen Pläne zu regen beginnt16, in
meiner Berichterstattung nicht unerwähnt lassen zu dürfen.
F. Pourtales
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Das ist doch schon eine alte Geschichte!
2 d[as] h[eißt] sie werden von Rußland organisirt, um Grund zum Eingreifen
und damit zur Annexion zu haben! Dazu sollte die Flottendemonstration
dienen!
3 i
4 das kann er gar nicht anders!
5 mit Speck fängt man Mäuse!
6 wie in Mazedonien? also gerade das was Woronzow befürchtet!
' mit Recht
8 natürlich! Weil es in Stambul so bunt aussieht
9 seit Wochen für alle nichtdiplomaten mit Händen zu greifen
10 richtig werden sie auch!
11 CameelU
12 umgekehrt ist es der Fall brauchen sie nicht! London thut was Benken-
dorf f will!
13 richtig!
14 Schlag gegen die Bagdadbahn!
16 richtig
16 kommt reichlich spät! Ich habe es schon lange! Aber mir glaubt man niemals!
Endlich kommt Petersb[ur]g in die Position des Störenfrieds der All-
gemeines Mißtrauen erweckt!
Schlußbemerkung des Kaisers:
sehr richtig
Nr. 15 285
Der Botschafter in Paris Freiherr von Schoen an den
Reichskanzler von Bethmann Mollweg
Ausfertigung
Nr. 42 Paris, den 6. Februar 1913
Aus einer in der Regel gut unterrichteten und vertrauenswürdigen
Quelle höre ich, daß die englische Regierung kürzlich, als von rus-
sischen Absichten des Einschreitens in Armenien verlautete*, hier
nahegelegt habe, abmahnend auf den russischen Verbündeten mit dem
Hinweise darauf einzuwirken, daß England durch den Zypernvertrag
vom 4. Juni 1878 verpflichtet ist, etwaiger russischer Besitzergreifung
türkischer Landesteile in Asien mit bewaffneter Hand entgegenzu-
treten. Aus dieser englischen Warnung erkläre sich die hiesige Be-
tonung einer Politik strengster Neutralität gegenüber der durch das
Wiederaufkommen der Jungtürken geschaffenen Lage.
• Vgl. darüber Bd. XXXIV, Kap. CCLXVIII.
Der Zypernvertrag enthält allerdings die Bestimmung, „que si
aucune tentative serait faite ä une epoque quelconque par la Russie
de s'emparer d'aucune autre portion des territoires de Sa Majeste Impe-
riale le Sultan en Asie, fixes par le traite definitif de paix, l'Angleterre
s'engage ä s'unir ä Sa Majeste Imperiale le Sultan pour la defense des
territoires en question par force d'armes". Damit ist zweifellos eine eng-
lische Garantie des türkischen Besitzstandes in Asien gegenüber russi-
schen Eroberungsgelüsten ausgesprochen. Es dürfte aber namentlich mit
Rücksicht auf das heutige Verhältnis zwischen England und Rußland
fraglich erscheinen, ob England ein russisches Vorgehen bezüglich Ar-
meniens, das sich unterhalb der Linie einer Besitzergreifung halten
würde, als dem Geiste jenes Vertrages widersprechend ansehen würde.
v. Schoen
Nr. 15 286
Der Botschafter in Paris Freiherr von Schoen an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 48 Paris, den 8. Februar 1913
Boghos Pascha Nubar, ein Sohn des bekannten ägyptischen Staats-
mannes Nubar Pascha*, hat mich aufgesucht und sich mir als der
Mann vorgestellt, der von dem armenischen Katholikos und dem frühe-
ren Patriarchen Ormanian beauftragt sei, bei den Großmächten zu-
gunsten schleuniger Verwirklichung der Reformen für Armenien zu
wirken.
Boghos Pascha führte mir aus, seine armenischen Auftraggeber
und Landsleute seien sich vollkommen klar darüber, daß das zu er-
strebende Ziel nicht etwa Lostrennung von der Türkei, auch nicht
Autonomie sein dürfe, sondern lediglich Verbesserung der Lebens-
bedingungen für das armenische Volk. Die jetzige Lage der Armenier,
die unter türkischer Willkürherrschaft und Halbbarbarei litten, sei
unerträglich und bringe unausgesetzt die Gefahr von Unruhen und
Massakers mit sich, die nur zu leicht den Russen einen Vorwand zum
Eingreifen bieten würden. Die führenden Geister der Armenier wollten
aber von russischer Bevormundung oder Herrschaft nichts wissen, sie
wünschten unter türkischer Herrschaft zu bleiben, aber der Fürsorge
der Großmächte teilhaftig zu werden, die allein ihnen Sicherheit von
Gut und Blut und Wohlfahrt verbürgen könnten. Die im Berliner
Vertrag feierlich zugesagten und seitdem auch in Angriff genommenen,
aber nie zur Ausführung gelangten Reformen müßten nun endlich zur
* Der langjährige und wiederholte Vorsitzende des ägyptischen Ministeriums;
er entstammte einer armenischen Familie.
Verwirklichung kommen. Der Augenblick scheine um so günstiger, als
die Großmächte offenbar in dem Grundsatze der Aufrechterhaltung des
Status quo der asiatischen Türkei einig seien, die Reformen aber eine
wesentliche Stütze des Status quo sein würden.
Die Pforte sei endlich von der Nützlichkeit armenischer Reformen
überzeugt, schon deshalb, weil sie den Vorwand zu Interventionen be-
seitigen und den Status quo stützen würden. Allerdings sträube sich
die Pforte gegen europäische Kontrolle, werde aber wohl auch hierin,
durch die bitteren Erfahrungen in der europäischen Türkei belehrt,
nachgeben.
Was die Stellung der Mächte betreffe, so seien in Rußland wohl
Neigungen zur Annexion Armeniens aufgetaucht, die russische Regierung
wisse aber zu genau, daß dem die Verpflichtung, die sie im Artikel 61 des
Berliner Vertrages mitunterschrieben, sowie der englisch-türkische Zy-
pernvertrag entgegenstehe. Sie sei daher der armenischen Reform-
bewegung im Prinzip günstig gestimmt, habe aber dem Katholikos
bedeutet, daß sie den gegenwärtigen Augenblick für ihre Unterstützung
nicht für geeignet halte. Hinter dieser Zurückhaltung verberge sich
offenbar die Annahme, daß einzelne Mächte, vor allen Deutschland,
ihre Mitwirkung versagen würden. Den gleichen zurückhaltenden
Standpunkt nehme auch die französische Regierung ein. Über die
Stellungnahme des englischen Kabinetts sei er nicht unterrichtet, nehme
aber an, daß sie eine ähnliche wie die der anderen, Ententemächte sein
werde.
Boghos Pascha meint nun, daß die Reformbewegung nur in
Fluß kommen könne, wenn sich Deutschland an ihr tätig beteilige.
Deutschland habe an den Reformen in Großarmenien, das heißt in den
sechs armenischen Wilajets, allerdings kein direktes Interesse, wohl
aber daran, daß die Reformen auch in dem stark von armenischejn
Elementen durchsetzten Cilicien eingeführt würden, und zwar hier
unter deutscher Kontrolle. Deutschland, das dort durch die Bagdad-
bahn und industrielle Unternehmungen schon bedeutende Interessen
besitze, würde sich auf diese Weise in jenen zukunftsreichen Ge-
genden einen erheblichen wirtschaftlichen und moralischen Einfluß
sichern und mit seiner Kulturkraft unendlich viel für Entwickelung
von Land und Leuten tun können.
Boghos Pascha hat mir zur Erläuterung seiner Ausführungen die
beiliegende „note sur Particle 61 du Traite de Berlin" und ein
Exemplar des nach seiner Aussage von der Kaiserlichen Regierung
seinerzeit gutgeheißenen Memorandum vom 11. Mai 1895 über ein
Reformprogramm übergeben, ferner noch eine Karte, auf welcher das
eigentliche Armenien und das armenische Cilicien kenntlich ge-
macht ist*.
Die Anlagen gelangen hier nicht zum Abdruck.
Ich habe Boghos Pascha gesagt, ich könne nur mit Befriedigung
davon Akt nehmen, daß er von dem Gedanken ausgehe, daß die
armenische Frage nicht etwa von einer Mächtegruppe gelöst werden
könne, sondern nur von allen Kongreßmächten gemeinsam. Im übri-
gen könne ich der Stellungnahme meiner Regierung nicht vorgreifen
und beschränke mich auf die rein persönliche Meinungsäußerung, daß
die Kabinette zurzeit bereits so überreichlich mit schwierigen Fragen
belastet seien, daß es sich schon aus diesem Grunde empfehle, die
armenische Reformfrage nicht zu überstürzen. Dabei sei auch zu be-
denken, daß eine Reformaktion, so sehr sie auch durch die tat-
sächlichen Mißstände gerechtfertigt sein würde, wie die Erfahrungen
bezüglich Mazedoniens lehrten, eine zweischneidige Sache sei, die
auf der einen Seite Gutes scharfen wolle, auf der anderen aber
Schlimmes wirke. Reformen im Einvernehmen mit der Pforte hielte
ich für nützlich, Reformen gegen tlen Willen der türkischen Regierung
für schädlich.
Boghos Pascha ist jederzeit bereit, Euerer Exzellenz seine Auf-
wartung zu machen, wenn dies genehm sein würde1.
v. Schoen
Randbemerkung Zimmermanns:
1 Der Standpunkt des Botschafters erscheint mir zutreffend. Auf den Besuch
von Boghos Pascha werden wir gern verzichten*. Z. 1 1./2.
Nr. 15 287
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 58 Pera, den 24. Februar 1913
Kaum ist die Nationalitätenfrage auf dem Balkan zum Nachteil der
Türkei entschieden worden, da erwächst dem asiatischen Besitzstand des
Reiches eine neue und kaum weniger schwere Gefahr durch das Akut-
• In diesem Sinne wurde Freiherr von Schoen durch Erlaß Nr. 215 vom
14. Februar verständigt. Auch von russischer Seite erhielt Boghos Nubar Pascha
um die gleiche Zeit einen Wink, zunächst noch zu warten und von einer Reise
nach London, um dort vor der Botschafterkonferenz die Frage der armenischen
Reformen zur Sprache zu bringen, Abstand zu nehmen. Um die Mitte März
wandte sich Boghos Nubar von neuem an Iswolsky mit der Anfrage, ob der
günstige Moment nicht gekommen sei, um die Mächte an die Not des armenischen
Volkes zu erinnern. Nach einem Brief Iswolskys an Sasonow vom 13. März (Der
Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 91 f.)
erklärte ihm der armenische Sachwalter, daß die Armenier ihre ganze Hoff-
nung auf die mächtige Hilfe Rußlands setzten und die feste Absicht hätten,
in allem den Anweisungen der russischen Regierung zu folgen.
10
werden der armenischen Frage. Die Armenier können sich zwar in
ihren Sonderbestrebungen nicht wie Südslawen und Griechen auf die
Hilfe eines unabhängigen Staates eigener Nationalität stützen; aber
sie haben an dem benachbarten Rußland einen ebenso rührigen und
zielbewußten Bundesgenossen gefunden wie jene.
Die Motive, welche zum Zusammenschluß zweier so heterogener
Elemente führten, liegen, soweit Rußland in Frage kommt, natürlich
klar zu Tage. Die über ganz Kleinasien und Nordpersien verbreiteten
Armenier, welche aus religiösen und ethnographischen Gründen in
einem natürlichen Gegensatz zu ihren mohammedanischen Herren
stehen, sind das gegebene Element zum Aufbau einer engmaschigen
politischen Propaganda in Vorderasien. In dem Augenblick, wo die
Liquidation der asiatischen Türkei in greifbare Nähe rückte, mußte
es von großem Werte sein, über ein solches Agitationsinstrument ver-
fügen zu können. Darum brach man neuerdings mit dem seit 1878
betriebenen Russifizierungssystem und begann das gestern noch unter-
drückte armenische Volk zu verhätscheln.
An Organen zur Anknüpfung von Beziehungen fehlte es den
Russen nicht. Schon durch den Umstand, daß das Haupt der ortho-
doxen (schismatischen) armenischen Kirche seinen Sitz in Etschmjadsin
auf russischem Gebiet hat, sind manche Fäden hinüber und herüber
geknüpft. Rußland unterhält aber ferner in Anatolien und Nordwest-
persien nicht weniger als 15 Konsulate und Konsularagenturen. Das
bedeutet ebenso viele russische Propagandaherde, von denen aus den
Armeniern durch Geld und gute Worte die Idee suggeriert werden
soll, daß ihre Stammesgenossen unter dem Szepter des Zaren alle
Wohltaten eines geordneten Rechtsstaates genössen, und daß daher
die Aufnahme der ganzen armenischen Nation in den russischen Unter-
tanenverband ein erstrebenswertes Ziel sei. Nach den Angaben von
ziemlich glaubwürdiger armenischer Seite hat Rußland im letzten Jahre
nicht weniger als zweieinhalb Millionen Rubel für Propagandazwecke
allein in Ostanatolien verausgabt. Die gesamte armenische Bevölke-
rung soll dort mit modernen Waffen versehen und jederzeit bereit
sein, auf einen Wink Rußlands gegen die Türken loszuschlagen. Wenn
man sich vergegenwärtigt, welche Schwierigkeiten der türkischen Re-
gierung die Niederwerfung der im Jahre 1904 aus Rußland herüber-
gekommenen armenischen Banden machte, so kann man ermessen,
welche Gefahr dem Besitzstande des Reiches hier droht.
Die Armenier wissen zwar ganz genau, welchen Motiven die ihnen
von Rußland gezeigten Aufmerksamkeiten entspringen. Was sie unter
russischer Herrschaft erwartet, haben sie im Jahre 1903 gesehen, als
die armenischen Kirchengüter eingezogen und durch die planmäßige
Russifizierungsarbeit Pobjedonoszews die armenische Revolutionspartei
ins Leben gerufen wurde. Der Armenier will ebensowenig Russe
werden, wie er sich jahrhundertelang gewehrt hat, Byzantiner,
11
Araber, Perser oder Türke zu werden. Wenn er trotz der früheren
schlechten Erfahrung dem russischen Lockruf gefolgt ist, so geschah
das lediglich deshalb, weil die russische Regierung bisher die einzige ist,
welche für ihn mehr übrig gehabt hat als rein platonische Ratschläge
und Versprechungen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der
Armenier auf türkischem Boden gegen Willkür und Unterdrückung
nicht genügend geschützt ist. Wer ihm diesen Schutz in Aussicht
stellt, der ist heute sein Mann, ganz gleich, welche Nebenabsichten er
außerdem verfolgt. (Ein Armenier verglich mir gegenüber die heutige
Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden. Dieser ergriffe un-
willkürlich die Hand eines jeden, der ihm zu Hilfe komme, selbst
wenn der Retter ihm nur in der Absicht beispringe, ihn nachher ge-
fangen zu nehmen.)
Bei uns in Deutschland hat man sich daran gewöhnt, in den
periodisch wiederkehrenden Armeniermassakers nur die natürliche Re-
aktion auf das Aussaugesystem der armenischen Geschäftsleute zu
sehen. Man nannte die Armenier die Juden des Orients und vergaß
darüber, daß es in Anatolien auch einen starken armenischen Bauern-
stamm gibt, der alle guten Eigenschaften einer gesunden Landbevölkerung
besitzt, und dessen ganzes Unrecht darin besteht, daß er seine Religion,
seine Sprache und seinen Besitz zähe gegen die ihn umgebenden
Fremdvölker verteidigt.
Der Mangel an organisatorischem Talent, die Unfähigkeit zu einer
wirklich durchgreifenden Reformarbeit im modernen Sinne ist bei den
Türken in den letzten Monaten so klar zu Tage getreten, daß das Ver-
hältnis zwischen Türken und Armeniern dadurch beeinflußt werden
muß. Die Schaffung eines großen selbständigen Armenien bleibt natür-
lich auch unter den heutigen Verhältnissen eine Utopie. Das arme-
nische Element verfügt fast nirgends über einheitlich geschlossene
Sprachgebiete, sondern lebt der Mehrzahl nach zerstreut unter fremden
Volksstämmen. Es würde also völlig unmöglich sein, auf ethno-
graphischer oder historischer Basis die Grenzen für ein autonomes
Armenien zu bestimmen. Sogar die Einrichtung einer lokalen Selbst-
verwaltung in Gebieten, wo das armenische Element überwiegt, würde
heute auf Schwierigkeiten stoßen. Besonnene Armenier geben frei-
mütig zu, daß es unter ihren Volksgenossen an einem Stamm ver-
waltungstechnisch geschulter Personen völlig mangelt, daß also die
Gewährung der Selbstverwaltung an die Armenier nur zu einem un-
erwünschten Fiasko führen kann. Andererseits ist es aber undenkbar,
daß die Türken in ihrem buntscheckigen Reich fortfahren können,
die Rolle der kraft Erobererrecht allein herrschenden Nation zu spielen.
Wie immer sich auch das Schicksal der Türkei nach dem Friedens-
schluß gestalten mag, so viel ist sicher, daß das numerisch starke und
wirtschaftlich tüchtige armenische Element sich mehr und mehr eman-
zipieren wird. Jeder, der wirtschaftliche «oder politische Ziele in
12
Anatolien verfolgt, wird nicht umhin können, mit dieser Tatsache zu
rechnen.
Solche Erwägungen müssen uns dazu führen, unsere bisher den
Armeniern gegenüber eingenommene Haltung zu ändern. Die radi-
kalen Elemente, welche utopische Ziele verfolgen und mit nihilistischen
Mitteln arbeiten, werden wir selbstverständlich nach wie vor von uns
fernhalten müssen. Unser Ziel muß es vielmehr sein, das Vertrauen
der armenischen Bauern und Kaufleute zu gewinnen, indem wir die
erreichbaren Wünsche der ruhig denkenden armenischen Kreise —
und dazu rechnet noch immer die große Mehrzahl des Volkes —
fördern. Diese Wünsche kann man \n zwei Punkten zusammenfassen:
1) Wirksame Garantien für die Sicherheit von Leben, Eigentum
und Religion.
2) Anteil an der lokalen Verwaltung entsprechend der Kopfzahl
und dem Bildungsgrade des armenischen Elements.
Das sind Forderungen, denen sich die Türkei nicht mehr wird
entziehen können. Die jetzt am Ruder befindliche Regierung ist sich
darüber auch vollkommen klar. Mahmud Schewket brachte neulich
selbst das Gespräch auf die armenische Frage und sprach mir gegen-
über den Wunsch aus, die deutsche Regierung möchte ihm bei der
Lösung der hier bestehenden Schwierigkeiten behilflich sein. Dem
Großwesir schwebt ohne Zweifel der Gedanke vor, durch eine An-
näherung der Armenier an die loyalen deutschen Vertretungen der de-
struktiven russischen Propaganda das Wasser abzugraben und da-
durch das armenische Element zur praktischen Mitarbeit am Wieder-
aufbau des zerrütteten Staates zu gewinnen. Ihm darin behilflich zu
sein, ist meines Erachtens eine ebenso ehrenhafte wie unseren Inter-
essen förderliche Aufgabe.
Die praktische Ausführung denke ich mir im einzelnen folgender-
maßen:
1) Die türkische Regierung arbeitet — nötigenfalls unter Ein-
holung unseres Rates — ein Reformprojekt aus, welches den oben
angeführten Forderungen der Armenier entgegenkommt. Damit das
Projekt nicht wie so viele seiner Vorgänger auf dem Papier stehen
bleibt oder gar von übelwollenden und verständnislosen Unterbeamten
in sein Gegenteil verkehrt wird, ergeht an alle deutschen Vertretungen
in der Türkei die Anweisung, Interesse für die armenischen Angelegen-
heiten zu zeigen, nötigenfalls auf ein friedliches Zusammenleben zwi-
schen Türken und Armeniern hinzuarbeiten und, wenn sie von offen-
baren Verletzungen der Reformgesetze hören, die betreffenden Fälle
zu untersuchen und über das Ergebnis an die Botschaft zu berichten,
damit diese zwecks Abstellung der Mißstände intervenieren kann.
Diese beratende Tätigkeit der Konsuln müßte natürlich in sehr takt-
voller Form und in voller Übereinstimmung mit der türkischen Zentral-
regierung, aber doch mit so viel Nachdruck ausgeübt werden, daß die
13
Armenier die deutschen Behörden als unparteiische, im Notfall aber
auch wirklich wirksame Beschützer kennen lernen.
2) Zur wirksamen Durchführung dieses Planes ist eine Vermehrung
der deutschen Vertretungen in Anatolien anzustreben. Vielleicht läßt
sich das ohne Vermehrung der deutschen Konsulate erreichen, wenn
nämlich der Friedensschluß die wohl nicht zu umgehende Erweiterung
der Finanzkontrolle bringt und es auf diesem Wege gelingt, einige
geeignete deutsche Persönlichkeiten als Angestellte der türkischen Re-
gierung nach Anatolien hereinzubringen. Sollte sich das nicht erreichen
lassen, so möchte ich auf die Notwendigkeit hinweisen, wenigstens in
Erserum eine deutsche Vertretung zu unterhalten, da diese Stadt als
Beobachtungspunkt und handelspolitischer Vorposten gleich wichtig
ist. Das nächste deutsche Konsulat in Trapezunt ist reichlich weit von
Erzerum entfernt und außerdem während der Wintermonate fast völlig
von der armenischen Hochebene abgeschlossen.
3) Uns wird mit Recht der Vorwurf gemacht, daß unser Schulwesen
in Anatolien in keiner Weise mit der Entwickelung unserer dortigen
Interessen Schritt gehalten hat. Vermutlich wird es uns bei unseren
knappen Mitteln auch ferner nicht möglich sein, gegen die Franzosen
in deren eigener Interessensphäre anzukämpfen. Dort aber, wo die
Brennpunkte unserer eigenen Interessen liegen, müssen wir unbedingt
künftig energischer vorgehen. Es ist ein großes Manko, daß noch
immer keine deutsche Schule in Adana besteht. Mit Errichtung einer
solchen würden wir zwei Zwecken zugleich dienen. Einmal brauchen
wir deutsche Erziehungsanstalten im Bereich der Bagdadbahn, um das
eingeborene Personal für unsere großen wirtschaftlichen Unter-
nehmungen heranbilden zu können. Da ferner der Schwerpunkt des
armenischen Volkes heute mehr in Adana als in Hocharmenien liegt
und eine dort entstehende deutsche Schule auf zahlreichen Besuch
seitens dieses bildungsfähigen und lerneifrigen Elements mit Sicherheit
rechnen kann, so bekämen wir durch das Mittel einer deutschen Er-
ziehungsanstalt Einfluß auf die maßgebenden armenischen Kreise oder,
was dasselbe bedeutet, auf die Mehrzahl der dortigen Kaufleute und
Gewerbetreibenden. Die Unkosten der Schule würden sich bald nicht
nur durch das Wachsen des deutschen Prestiges, sondern auch durch
eine Steigerung der deutschen Einfuhr bezahlt machen.
4) Die deutsche Presse müßte ihre bisherige ablehnende Haltung
gegen alles Armenische aufgeben und durch maßvolle und verständnis-
volle Stellungnahme ihr Interesse an den Wünschen der Armenier be-
kunden. Das würde einen großen Eindruck auf die zahlreichen euro-
päisch gebildeten Armenier machen, die in Frankreich, England und
Amerika leben und dort über eigene Preßorgane verfügen.
Die armenische Frage steht heute entschieden an einem Scheide-
wege. Stoßen die Armenier mit ihren berechtigten Wünschen auch
künftig bei uns auf verschlossene Türen, so werden sie sich nolens
14
volens den Russen gänzlich in die Arme werfen. Geschieht das, so ist
wenig Hoffnung für eine friedliche Lösung des kleinasiatischen Pro-
blems oder gar für eine Regeneration der Türkei vorhanden. Bekommen
wir andererseits auf dem oben skizzierten Wege Einfluß auf die
armenische Bewegung, so haben wir ein wirksames Mittel in der
Hand, um unter Wahrung und Erweiterung unserer eigenen Interessen
die Türken in ihrer Reformarbeit zu unterstützen und die im geheimen
an der Zersetzung des osmanisches Reiches arbeitenden Kräfte lahm-
zulegen. Sollte es sich aber in Zukunft herausstellen, daß der Auf-
lösungsprozeß der Türkei nicht mehr aufzuhalten ist, so wird es für
uns von großem Werte sein, bei der Geltendmachung unserer Rechte
in Kleinasien das einheimische armenische Element hinter uns zu haben.
Wa ngenh ei m
Nr. 15 288
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 75 Pera, den 13. März 1913
Kelikian Effendi, der Redakteur des „Sabah", eine der führenden
Persönlichkeiten der ottomanischen Armenier, suchte mich heute
auf und sprach mir von der Lage seiner Stammesgenossen in Klein-
asien.
Im Laufe der Unterhaltung klagte er über die fortgesetzte Wühl-
arbeit der russischen Agitatoren, die überall Unfrieden stiften, um
armenische Unruhen zu veranlassen. Die Zahl dieser Agitatoren habe
sich in letzter Zeit verdreifacht.
Die Reformaktion, so wie sie jetzt geplant sei, habe wenig Wert.
Sie würde die Armenier nicht abhalten, in Rußland ihre einzige Ret-
tung zu erblicken. Er selbst aber wie viele der einflußreichsten seiner
Stammesgenossen hätten die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Deutsch-
land endlich zur Überzeugung käme, daß es die armenische Frage
nicht zu einer russischen werden lassen könne.
Hinsichtlich des Reformprogramms von 1895 meinte Kelikian,
dieses sei nichts weiter als ein russisches Aktionsprogramm. Es sollte
nicht den armenischen Interessen, sondern der russischen Politik
dienen. Unter den heutigen Verhältnissen könne die Kontrollkom-
mission von 1895 nicht funktionieren. Wollte man ihre Unabhängig-
keit sicherstellen und ihr Einfluß verschaffen, so müßten ihr unbe-
dingt zwei Mitglieder der Dette Publique angehören.
Ich habe Kelikian im Sinne der von uns in letzter Zeit zur arme-
nischen Frage eingenommenen Haltung geantwortet.
15
Ein einflußreiches Mitglied des armenischen Komitees, Aknounie,
hat sich ferner einem Mitglied der Botschaft gegenüber folgender-
maßen geäußert: Nach Einführung der Verfassung hätten die Führer
der armenischen Organisation mit dem jungtürkischen Komitee ein
Abkommen unterzeichnet, durch das sich beide Teile zur Aufgabe
der Feindseligkeiten und zur gemeinsamen Mitarbeit verpflichteten.
Von diesem Augenblicke an hätten die Armenier ihre Propaganda der
Tat völlig aufgegeben. Zwar habe man auch nach diesem Bruch des
Vertrages sich gescheut, zu terroristischen Mitteln zurückzukehren,
wie denn überhaupt seine Landsleute ihrer großen Mehrzahl nach
trotz aller Enttäuschungen für die Erhaltung des türkischen Reiches
einträten. Dazu seien aber unbedingt wirksame Reformen nötig. Irgend-
eine Macht oder eine Gruppe von Mächten müsse dafür eintreten,
daß die dauernden Ausschreitungen gegen die Armenier aufhörten.
Mit Vorstellungen bei der Pforte sei es nicht getan, denn diese habe
selbst nicht genügend Machtmittel, um ihre unruhigen Elemente in
den entfernten Winkeln des Reiches im Zaum zu halten. Nur mit
genügenden Machtmitteln ausgestattete europäische Beamte wären dazu
imstande. Wenn es auch dieses Mal nicht zur Einführung solcher
Reformen komme, so bleibe nur noch die Hilfe Rußlands übrig. Zwar
habe die russische Regierung vor zirka zehn Jahren mit Abdul Hamid
ein Abkommen zur gegenseitigen Unterstützung gegen die armenische Be-
wegung getroffen. Seitdem aber habe Rußland seinen Standpunkt
völlig geändert und im Oktober v. Js. mit dem armenischem Katholikos
in Etschmjadsin die „Befreiung" Armeniens in aller Form verabredet.
Vor kurzem sei der Katholikos dahin verständigt worden, daß die Be-
freiung noch nicht stattfinden könne, es würden aber Reformen in
Armenien eingeführt werden. Die gleiche Versicherung habe die
russische Regierung einer armenischen Deputation in Petersburg ge-
geben. In Paris sei diese Deputation auf die Zeit nach dem Frieden
vertröstet worden; in Berlin habe man in ziemlich unbestimmter Form
Inangriffnahme von Reformen im Einverständnis mit England in Aus-
sicht gestellt.
Aknounie bestätigte dann meine schon früher gemachten Angaben
über die russischen Umtriebe in Armenien, behauptete aber außerdem,
daß Rußland neuerdings auch die Kurden zum Abfall von der Türkei
aufreize und unter anderem kürzlich mehrere einflußreiche Kurden-
häuptlinge zu einer Besprechung nach Tiflis geladen habe.
Ferner meinte Aknounie, daß nach dem Friedensschluß Armenier-
massakers im Wilajet Wan mit Sicherheit zu erwarten seien. Dort sei
kürzlich ein Kurde Izzet Bey zum Wali ernannt worden. Auch1 habe
man Briefe von einem auf dem Kriegsschauplatz befindlichen hoch-
gestellten Kurden abgefangen, in denen ganz offen von Armenier-
massakers nach Rückkehr in die Heimat gesprochen wurde.
Wangenheim
16
Nr. 15 289
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 215 Berlin, den 6. April 1913
Chef der englischen Mittelmeerflotte hat Admiral Trummler ge-
raten, Augenmerk auf Vorgänge in Syrien zu richten und Schiffe dort-
hin zu beordern*.
Wir wären bereit, nötigenfalls zwei weitere Kleine Kreuzer ins
östliche Mittelmeer zu entsenden. Ew. pp. wollen jedoch Sir E. Grey
zunächst vertraulich fragen, worauf sich englische Besorgnisse gründen.
J ago w
* Der Chef der englischen Mittelmeerflotte Admiral Sir Berkeley Milne, in dem
die englischen Besorgnisse wegen französischer Absichten auf Syrien (vgl.
Bd. XXXIV, Kap. CCLXVII) nachwirkten, mochte fürchten, daß die zunehmende
Gärung in dem Libanongebiete, die durch die Reformfrage hervorgerufen wurde,
den Franzosen Anlaß bieten könnte, zur Verwirklichung ihrer Absichten zu
schreiten, und glaubte dieser Gefahr am ehesten durch einen Wink an die
deutsche Adresse zu begegnen. So wandte er sich gelegentlich der Beisetzungs-
feierlichkeiten für König Georg von Griechenland Anfang April an den Kom-
mandanten von S. M. S. „Goeben" und Chef der mit der Entsendung dieses
Großen Kreuzers sowie des Kleinen Kreuzers S. M. S. „Breslau" nach den tür-
kischen Gewässern — Anfang November 1912 — gebildeten Mittelmeerdivision,
Admiral Trummler. Näheres darüber bietet eine vom 4. April datierte Auf-
zeichnung Trummlers, die der zu den Beisetzungsfeierlichkeiten nach Athen ent-
sandte Prinz Heinrich von Preußen nach erfolgter Rückkehr dem Kaiser am
7. April in Homburg v. d. H. übergab, und die von diesem abschriftlich dem
Auswärtigen Amt zugestellt wurde. Sie lautet: „Am 1. April beim Dienstbesuch
auf .Inflexible* sowie am 2. April während der Beisetzungsfeierlichkeiten in
Athen hatte ich Gelegenheit, mich längere Zeit eingehend mit Admiral Sir
Berkeley Milne zu unterhalten. —
Wir besprachen die bisherigen Ereignisse im nahen Osten sowie die gegen-
wärtige Lage, streiften auch die Aussichten für die Zukunft. —
Admiral Milne sprach über alles sehr cffen mit mir und riet mir im Laufe der
Unterhaltung wiederholt in eindringlichster Weise, dafür zu sorgen, daß wir
Kriegsschiffe nach Alexandretta und Mersina schicken möchten. —
Da Admiral Milne an beiden Tagen wiederholt auf diese Frage zurückkam,
suchte ich seine Gründe für diesen Wink zu erforschen, er wich jedoch geschickt
aus, äußerte sich indessen dahin, daß nach seiner Meinung in nächster Zeit sich
Dinge ereignen könnten, bei denen es für uns höchst wünschenswert sein müsse,
an der syrischen Küste genügend vertreten zu sein. —
Dieser Vorgang hat mich angesichts der augenblicklichen Lage, die die Anwesen-
heit von Kriegsschiffen in der Adria und in Konstantinopel bedingt, veranlaßt,
die Entsendung von zwei Kleinen Kreuzern in das Mittelmeer zu veranlassen."
2 Die Große Politik. 38. Bd. 17
Nr. 15 290
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 208 Konstantinopel, den 9. April 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 116*.
Nach Meldung der Konsuln hat sich die Lage in Syrien neuerdings
eher gebessert. Separatistische Tendenzen treten nur in Palästina
schärfer hervor. Beirut betont größere Zurückhaltung französischen
Konsulats, macht aber darauf aufmerksam, daß Reformbewegung
ernster werden könne, wenn Türkei weiter geschwächt wird. In Haifa
ist Redakteur des „Temps" erschienen und vermehrter Verkehr zwi-
schen den russischen Konsulaten bemerkbar.
Die Demarche des englischen Admirals **, über welche Seine
Königliche Hoheit Prinz Heinrich wohl inzwischen Seiner Majestät
dem Kaiser Vortrag gehalten hat, entspricht der unter dem Eindruck
des slawischen Vorgehens hier sich kundgebenden Deutschfreundlich-
keit der englischen Marine. Admiral hat Herrn Trummler In kamerad-
schaftlicher Weise andeuten wollen, Deutschland möge rechtzeitig seine
kleinasiatischen Ansprüche anmelden und äußerlich dokumentieren.
Bezeichnend Hinweis auf Mersina und Alexandretta, was eher ein
„hands off" bezüglich Syriens und Palästinas bedeuten könnte, wo
englische Interessen mit französischen streiten.
Daß der englischen Anregung schleunigst und mit Nachdruck
Folge gegeben wird, ist um so erwünschter, da nach Meldung des Kon-
sulats Adana vom 4. d. Mts. plötzlich zwei französische Kreuzer
in Mersina eingetroffen sind. Dauer ihres Aufenthalts unbekannt.
Grund: angebliche Berichte französischen Konsuls über bevorstehende
Unruhen.
Weniger opportun erscheint demonstratives Auftreten unserer
Schiffe in den eigentlichen syrischen Häfen, was Reibungen mit Frank-
reich und falsche Vorstellungen bei uns und der Türkei erwecken
könnte.
Nachdem Nachrichten aus Sofia über Angriff auf Tschataldja sich
als unrichtig oder wenigstens verfrüht erwiesen***, genügt für hier
zunächst ein Kreuzer. Ich darf mir vorbehalten, Verstärkung zu er-
* Durch Telegramm Nr. 116 vom 8. April war Freiherr von Wangenheim von
der Absicht des Admiralstabes verständigt worden, von den beiden neu aus-
zusendenden Kreuzern den einen nach Konstantinopel zu dirigieren, um S. M. S.
„Goeben" abzulösen, die nach Syrien gehen sollte.
** Siehe Nr. 15 289.
*** Vgl. dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXIX.
18
bitten, falls Tschataldja bedroht ist. Auch für letztere Eventualität
erwünscht, daß Geschwader in erreichbarer Nähe bleibt.
Wangenh e i m
Nr. 15 291
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 171 London, den 9. April 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 215*.
Sir E. Grey hatte über angebliche Vorgänge in Syrien nichts ge-
hört, will sich aber erkundigen. Auf kürzliche Anfrage bei Herrn
Lowther, ob er britische ....** an irgendeinem besonderen Punkt
für gefährdet halte, hatte dieser auf Smyrna hingewiesen, wo Unruhen
möglich schienen, von Syrien aber nichts erwähnt.
Lichnowsky
Nr. 15 292
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 174 London, den 12. April 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 171 ***.
Sir E. Grey gab mir gestern Bericht der Admiralität über Schiffs-
bewegungen im Mittelmeer zu lesen. Danach soll eine Zeitlang ein
verdächtiges Schiff mit etwa 300 Mann an Bord vor Alexandrerta
gelegen haben, angeblich im Dienst der armenischen Umsturzpartei.
Die Aufmerksamkeit der Admiralität sei auf Umtriebe der Armenier
in Syrien hingelenkt worden und auf etwa bevorstehende Unruhen in
Beirut bei Einsetzung des neuen Walis. Diese Umstände schienen
Admiral Milne vorgeschwebt zu haben, weil etwas anderes hier nicht
in Erfahrung gebracht wurde. Ich unterließ, nochmals etwaige fran-
zösische Absichten auf Syrien zu berühren, da Sir E. Grey mir hier-
über erst vor kurzem bestimmte Erklärungen gegeben hatte, und um
nicht den Anschein zu erwecken, als hätten wir Verdacht.
Lichnowsky
* Siehe Nr. 15 289.
** Zifferngruppe fehlt.
*** Siehe Nr. 15 291.
2* 19
Nr. 15 293
Der Botschafter in /(onstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Privatbrief. Ausfertigung
Ganz geheim Pera, den 10. April 1913
[pr. 15. April]
Admiral Trummler ist nach seiner Begegnung mit dem Prinzen
Heinrich und der Aussprache mit dem englischen Admiral, die zur
Entsendung zweier weiterer Kreuzer nach der Levante Veranlassung
gegeben hat, hierher mit weittragenden und nach meiner Ansicht
recht gefährlichen Ideen zurückgekehrt. Er glaubt, daß es demnächst
in Syrien losgehen werde, und daß er bei einer daraus sich ent-
wickelnden größeren maritimen Aktion Deutschlands sich auszeichnen
könne*.
* Am 26. April empfahl Admiral Trummler in einem ,,ganz geheimen" Immediat-
bericht, die jeweiligen Mittelmeerstreitkräfte, die zunächst nur vorübergehend zu
einer Division vereinigt waren, ständig in einem Divisionskommando zu ver-
einigen. Kaiser Wilhelm nahm den Gedanken, die deutsche Flagge fortan ständig
und in größerem Rahmen im Mittelmeer zu zeigen, eifrig auf. In einer Schluß-
bemerkung zu dem Trummlerschen Immediatbericht erklärte er sich am 8. Mai
mit den Vorschlägen des Admirals vollkommen einverstanden: „Reichsmarineamt
hat sich mit Herrn von Jagow in Verbindung zu setzen und das Auswärtige Amt
zu veranlassen, in dieser Hinsicht beim Reichstag zu wirken, um für die Etats-
vorbereitung im Herbst mir die nötigen Vorschläge zu machen. Wir müssen
unbedingt den günstigen Umstand ausnutzen, daß eine deutsche Mittelmeer-
division, unbeanstandet, unbestritten, ja sogar gern gesehen, sechs Monate bereits
dort anwesend ist, um diese Einrichtung zu einer ständigen werden zu lassen.
Die Türkei wird darin eine Stärkung und Stütze für ihre Sanierung erblicken
und das deutsche Element (Bagdadbahn pp.) wieder festes Vertrauen in die
Zukunft fassen. Charakteristisch für die Verhältnisse ist es, daß die
Formation der eigentlichen Division durch Hinaussendung der Verstär-
kung auf Anregung des englischen Admirals erfolgte, also von England
gewünscht. Nun wir mal auf englische Anregung hin im Mittelmeer sind,
bleiben wir auch dort. Dadurch wird auch Englands hypnotisches Stieren
auf die Nordsee wesentlich eingeschränkt und ihre Aufmerksamkeit auf andere
Gewässer abgelenkt. Selbstverständlich lehnt sich in ernsten Zeiten die Division
an die Dreibundsmächteflotte an. Eine Kreuzerdivision im Mittelmeer muß nun-
mehr als zu den Imponderabilien unserer Marine wie unserer auswärtigen
Orientpolitik gehören. Das Reichsmarineamt hat mir baldmöglichst darüber zu
berichten." Am 15. Mai berichtete darauf Großadmiral von Tirpitz an den
Kaiser: ,,Wenn Euere Majestät die Bildung einer ständigen Mittelmeerdivision
allergnädigst befehlen wollen, dürfte diese meines alleruntertänigsten Erachtens
am zweckmäßigsten dadurch erfolgen, daß die zurzeit bestehende Dislozierung
einfach weiter bestehen bleibt, solange es Euerer Majestät wünschenswert
erscheint. Besondere formelle Maßnahmen vorzunehmen, würde leicht zu Miß-
verständnissen und Mißdeutungen Anlaß geben können. Auch läßt es sich jetzt
noch nicht übersehen, in welcher Weise die Herbstablösungen geregelt werden
20
Ich persönlich begrüße es mit Freuden, daß wir durch die Ver-
mehrung unserer Schiffe ein erhöhtes Interesse an Kleinasien bekunden.
Wenn wir uns bei der dereinstigen Aufteilung Kleinasiens beteiligen
wollen, so ist es nützlich, wenn die Miterben schon jetzt erfahren, daß
wir uns nicht beiseite schieben lassen. Nur müßten sich diese navalen
Demonstrationen auf solche Punkte beschränken, die unzweifelhaft
zu unserer zukünftigen Interessensphäre, wenn ich diesen verpönten
Ausdruck gebrauchen darf, gehören. Niemand weiß zwar bis heute
genau, was wir eigentlich von Kleinasien einmal beanspruchen sollen.
Eine Ausnahme machen nur Alexandretta und Mersina, und dorthin
vor allem sollte Herr Trummler mit seinen Schiffen gehen. Auch ein
Besuch des Admirals in Adana und eine Anknüpfung mit dem dortigen
armenischen Metropoliten scheint mir ganz opportun, vorausgesetzt,
daß dabei nicht das türkische Gefühl verletzt wird. Ein Erscheinen des Ge-
schwaders in Syrien, zum Beispiel in Beirut, wäre dagegen bedenklich.
Höchstens könnte dorthin ein einzelnes Schiff gelegentlich geschickt
werden. Ich habe dem Admiral meine Ansichten eingehend ausein-
andergesetzt, befürchte aber, daß derselbe eine zu weitgehende
Unternehmungslust entwickelt, wenn ich ihn hier nicht mehr an der
Leine habe. Es wäre daher dringend wünschenswert, wenn ihm auch
von der ihm vorgesetzten Marinebehörde, in letzter Linie von Seiner
Majestät dem Kaiser selbst, zur größten Vorsicht geraten und ihm
nahegelegt würde, seine Bewegungen nicht ohne vorheriges Befragen
der Botschaft vorzunehmen. Meines Erachtens sind in Syrien vorläufig
keine Umwälzungen zu erwarten, wenn nicht Frankreich oder Eng-
land eine Initiative dazu ergreifen. Der Rat des englischen Admirals
bezieht sich wohl auch mehr auf die Zukunft und nicht auf aktuelle
Notwendigkeiten. Er meint — und darin hat er recht — , daß wir mit
der „Loreley" allein von jetzt ab in der Levante nicht mehr auskommen
werden, und daß unsere Mittelmeerstation verstärkt werden muß.
Auch ich glaube, daß wir von jetzt ab mindestens einen zweiten
Stationär (Kreuzer) in Konstantinopel brauchen, der gegebenenfalls
in der Levante verwendet werden könnte. Die Behandlungen dieser
und ähnlicher Fragen habe ich mir bis nach dem Friedensschluß auf-
gespart, pp. *
Wangenheim
können. Mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts werde ich nach dessen
Rückkehr aus Wien über die Angelegenheit Rücksprache nehmen." Mit dieser
Abschwächung seiner Wünsche erklärte sich der Monarch durch ein „ja!" am
Rande des Tirpitzschen Berichts einverstanden.
* Der Schluß des Briefes betrifft die Frage der türkischen Kriegsentschädigung
und die der ägäischen Inseln. Vgl. dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXVIII.
21
Nr. 15 294
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 106 Pera, den 12. April 1913
Je mehr die Türkei durch das lange Hinziehen des Krieges in
ihrem politischen Ansehen und ihrer Finanzkraft geschwächt wird,
um so mehr regen sich die Kräfte, welche auf den Zerfall der asiatischen
Türkei hinarbeiten. Hier und da ist der Ursprung dieser Bewegungen
auf die Selbständigkeitsbestrebungen einzelner Nationalitäten zurück-
zuführen, in der Hauptsache aber wohl auf die Propaganda der am
türkischen Erbe interessierten Mächte, welche geschickt die Unzu-
friedenheit der Bevölkerung ihren Zwecken dienstbar machen. Wie
in ganz Asien ist es auch hier Rußland, das am offensten und am rück-
sichtslosesten zugreift. Bei dem Fehlen von konsularischen Vertre-
tungen in der russischen Interessensphäre der Türkei ist es zwar außer-
ordentlich schwer, wirklich zuverlässige Nachrichten zu erhalten oder
die über die russische Propaganda umlaufenden Gerüchte auf ihre
Glaubwürdigkeit zu prüfen. Immerhin steht aber so viel fest, daß dort
dem Fortbestehen der Türkei eine schwere Gefahr erwächst. Über die
Unterstützung, welche die armenische Bewegung von russischer Seite
findet, habe ich bereits früher berichtet*. Neuerdings mehren sich nun
die Zeichen, daß auch die Kurden für die russischen Pläne ge-
wonnen worden sind. Von der praktisch zur russischen Provinz ge-
wordenen persischen Landschaft Aserbeidjan aus können die Fühler
leicht bis ins Herz von Türkisch-Kurdistan ausgestreckt werden. Die
noch immer ungelöste türkisch-persische Grenzfrage bietet hier tausend
Vorwände zum Einmischen in die Angelegenheiten der zwischen türki-
schem und persischem Gebiet hin und her ziehenden Kurden.
In den Gegenden südlich des Wansees bestand bisher ein Gegen-
satz zwischen zwei großen Häuptlingsfamilien, der Familie Beder
Chan Sadehs, die stets antitürkische Tendenzen hatte, und der Familie
des als Senator in Konstantinopel weilenden Abdul Kader. Letzterer
gilt hier als eine Art Souverän der türkischen Kurden und genießt
wegen seiner politischen Bedeutung und seiner angeblich loyalen Ge-
sinnung eine bevorzugte Stellung. Neuerdings soll nun sein Neffe und
Stellvertreter — wie man sagt, gegen den Willen seines Onkels — mit
dem Vertreter der Familie Beder Chans Abdul Risak unter russischer
Ägide ein Übereinkommen geschlossen haben, durch das die be-
stehenden Zwistigkeiten ausgeglichen und ein gemeinsames Zusammen-
* Vgl. Nr. 15 282.
22
arbeiten zur Lostrennung Kurdistans von der Türkei beschlossen wurde.
Eine solche Lostrennung kann natürlich nur den Anschluß an Ruß-
land bedeuten.
Andererseits sollen die russischen Agenten alle Annäherungs-
versuche zwischen Kurden und Armeniern zu verhindern suchen. Der
Zweck ist, die Kurden zu Armeniermassakers zu veranlassen, damit ein
Grund zum russischen Einschreiten gegeben wird. Ich kann, wie ge-
sagt, nicht nachprüfen, was an diesen Nachrichten wahr, was über-
trieben oder erfunden ist. Immerhin deuten die sich häufig wieder-
holenden — offenbar aus russischer Quelle stammenden — Gerüchte
über Armeniermassakers darauf hin, daß bei den Urhebern dieser Ge-
rüchte der Wunsch der Vater des Gedankens ist, und daß vielleicht
über kurz oder lang das so oft vorher verkündete Ereignis mit seinen
nicht übersehbaren Folgen eintreten wird.
Das stimmt zwar nicht ganz mit den friedlichen Versicherungen
überein, die man uns in Petersburg gibt. In der Praxis kommt es
aber auf dasselbe heraus, ob eine Maßregel von der russischen Re-
gierung unternommen wird oder von ehrgeizigen Unterorganen, welche
hoffen, die Regierung selbst gegen ihren Willen mit sich fortreißeni
zu können. Die schönen Erfolge, welche diese politischen Speku-
lanten stets in Russisch-Asien und zum Beispiel in letzter Zeit in
Nordpersien erzielten, werden den Appetit auf weitere fette Bissen
nicht gerade vermindert haben.
Ich habe nicht verfehlt, Mahmud Schewket gelegentlich auf die hier
drohende Gefahr aufmerksam zu machen und ihm vorbeugende Maß-
regeln, besonders betreffs der Armeniermassakers, ans Herz zu legen.
Der Großwesir gab mir zu, daß zurzeit eine militärische Expedition
gegen Midijat (nordöstlich Mardin) im Gange wäre, wo eine im
russischen Solde stehende Persönlichkeit im Verein mit Angehörigen
der Familie Beder Chans Unruhen stiftet. Der Großwesir fügte
hinzu, er wäre in der Lage, erforderlichenfalls auch mehr Truppen
dorthin zu schicken. Er sei dort allen Eventualitäten gewachsen. Ich
habe den Eindruck, daß Mahmud Schewket, wenn er auch bisher mir
gegenüber stets offen gewesen ist, sich scheut, mir alle seine Sorgen
zu enthüllen, und daher bemüht ist, die Lage an der Ostgrenze harm-
loser darzustellen, als sie tatsächlich ist. Mehr denn je endet heute
die Macht der Türken an den kurdischen Bergen. Ob und wann dort
das Pulverfaß auffliegt, das entzieht sich der Willensbestimmung der
Konstantinopler Regierung.
Ich habe den Dragoman Holstein, welcher am 11. d. Mts. von
hier nach Mosul abgereist ist, besonders angewiesen, unterwegs sorg-
fältige Beobachtungen über die Stimmung unter Kurden und Arme-
niern anzustellen und zu diesem Zweck auf der Strecke Aleppo— Mosul
den etwas weiteren Weg über Diarbekr zu nehmen. Ich darf wohl auf
Genehmigung der hieraus erwachsenden Mehrkosten rechnen. Ebenso
23
bitte ich um die Ermächtigung, Dragoman Holstein mit Beobachtungs-
touren innerhalb seines Bezirks beauftragen zu dürfen *. Diese ließen
sich unauffällig mit der Reise nach dem Sommersitz des Konsulats in
Wan verbinden. Ich hoffe, auf diese Weise wenigstens zum Teil die
zwischen Trapezunt, Mosul und Täbris klaffende Beobachtungslücke
schließen zu können.
Auf die politischen Strömungen in Westanatolien möchte ich hier
nicht näher eingehen. Diese hängen eng mit der griechischen Frage
zusammen, und ihre Weiterentwickelung wird wesentlich dadurch be-
stimmt werden, welche Lösung die Inselfrage beim Friedensschluß
finden wird.
Unsere aufmerksame Beobachtung verdient dagegen die separa-
tistische Bewegung in dem ganzen großen Gebiet, in welchem das
arabische Element vorherrscht. Der Umfang und die Ziele der dortigen
sich zum Teil widerstreitenden englischen und französischen Propa-
ganda sind ja in ihren großen Linien zu bekannt, als daß ich hier
besonders darauf eingehen müßte. Einige ergänzende Nachrichten
sind mir in letzter Zeit aus anscheinend zuverlässiger Quelle zu-
gegangen.
Danach könne man von den etwa 25 000 Maroniten sagen, daß
sie unbeeinflußt Frankreich anhängen. Die nördlich Beirut lebenden
60 000 orthodoxen Griechen würden hauptsächlich für englische Inter-
essen zu gewinnen gesucht; sie hielten viel weniger fest an den Fran-
zosen als die Maroniten. Eine große Anzahl dieser Orthodoxen, nament-
lich südlich von Beirut, neige beeinflußt durch die Schulen
des deutsch-katholischen Palästinavereins dazu, in
Deutschland ihre Zukunft zu sehen.
Die Drusen (zirka 60 000) seien vollständig unter englischem
Einfluß.
Die übrigen Christen (zirka 40 000) hätten keine bestimmte
Richtung.
Die Mohammedaner, worunter die Metawile den größten Einfluß
besitzen, seien in letzter Zeit durch englische Agenten ganz bedeutend
beeinflußt worden.
Frankreich suche in letzter Zeit hauptsächlich Einfluß im süd-
lichen Teil Syriens zu gewinnen und habe eine große Zahl der an-
gesehensten Metawile der Provinz nach Beirut zu geheimen Be-
sprechungen eingeladen. Der Zufall habe es gewollt, daß einige dieser
Leute, die ganz besonders fanatisch seien und streng an den mohamme-
danischen Sitten festhielten, Zeugen von Auftritten auf der Straße von
Beirut wurden, bei welchen Matrosen eines französischen Kriegs-
schiffes verschleierte mohammedanische Frauen angriffen und be-
lästigten, nachdem sie ihnen die Schleier abgerissen hatten. Die
Metawile sagten nun mit Recht: Wenn die Franzosen sich jetzt schon
so benehmen, wie wird es erst werden, wenn wir ihnen die Tore
24
öffnen? und brachen alle Beziehungen zum französischen Konsulat
ab. Auch erhoffen sie von den Engländern eine viel größere Gewähr
für die freie Ausübung ihrer Religion. Der englische Konsul habe
hieraus Nutzen gezogen und eine Anzahl der angesehensten Männer
der mohammedanischen Bevölkerung der Provinz nach Beirut kommen
lassen und verabredet, eine Bittschrift an die englische Regierung zu
senden, in der die Okkupierung des Landes verlangt wird. Eine
gleiche Eingabe soll ohne Wissen des englischen Konsuls nach Berlin
gegangen sein.
Eine schärfere Note ist in letzter Zeit dadurch in die Bewegung
hineingekommen, daß die Bevölkerung, welche sich früher wenig um
politische Ideen kümmerte, immer weiter für die separatistische
Bewegung gewonnen wird. Ein gewisses Licht auf die Leiter und die
Ziele dieser Bewegung wirft der beiliegende Artikel, der auf speziellen
Wunsch des Verfassers und mit der ausgesprochenen Absicht, die ge-
heimen Drahtzieher zu kompromittieren, im „Osmanischen Lloyd"
veröffentlicht wurde*. (Mohammed Farid Bey gehört zur Partei der
ägyptischen Nationalisten. Diese betrachtet den Khediven wegen seiner
Abhängigkeit von England als unwürdig des Kalifats und wünscht dem
Hause Osman diese Würde zu erhalten.)
Die anliegenden Telegramme aus Beirut, Jerusalem, Haifa und
Adana ** geben ein ungefähres Bild über den jetzigen Stand und die
Ausdehnung der Bewegung. Beirut ist danach als Zentrum der Agi-
tation zu betrachten. Als praktisch greifbares Resultat ist dort bereits
das Reformprogramm zutage gekommen, welches Euerer Exzellenz
vom Konsulat Beirut in der Anlage des Berichts vom 20. v. Mts. zu-
gegangen ist***.
Die Türkei befindet sich diesen von allen Seiten an sie heran-
tretenden Forderungen gegenüber in einer schwierigen Lage. So weit-
gehende Konzessionen wie sie zum Beispiel das Reformprogramm for-
dert, kann sie nie bewilligen, ohne sich selbst aufzugeben. Anderer-
seits ist sie gezwungen zu handeln und schnell zu handeln, will sie
nicht allzuviele ihrer unzufriedenen Untertanen in das feindliche Lager
treiben. Den ersten Schritt in dieser Richtung hat sie durch Erlaß des
provisorischen Wilajetgesetzes getan. Dasselbe ist noch nicht vollständig
zur Veröffentlichung gelangt, so daß ein abschließendes Urteil noch
nicht gefällt werden kann. Es steht aber bereits jetzt fest, daß das
* „Osmanischer Lloyd" vom 9. April 1913: „Die Umtriebe des Scheichs Ali
Jussuf", von Mohammed Farid Bey. Es ist darin von einem Geheimkomitee in
Kairo die Rede, das angeblich den Zweck verfolge, Syrien und andere arabische
Provinzen von der Türkei loszureißen und an Ägypten anzugliedern.
** Hier nicht abgedruckt.
*** Dem Bericht des Konsuls in Beirut von Mutius vom 20. März lag der von den
Vertretungen der verschiedenen religiösen Gemeinden in Beirut verfaßte Entwurf
eines Reformprojekts für das Wilajet Beirut bei, das wesentlich weiter ging als
ein amtlicher Entwurf.
25
neue Gesetz die Erwartungen der Armenier sowohl wie der Araber
schwer enttäuscht hat und eigentlich niemand befriedigt. Ein Vertreter
des armenischen Komitees hat es einem Botschaftsmitglied gegenüber
offen ausgesprochen, man wäre sehr unzufrieden über das Gesetz.
Man habe die interessierten Kreise bei der Abfassung nicht, wie
versprochen, zu Rate gezogen. Die türkischen Regierungskreise gäben
jetzt schon selbst zu, daß sie damit einen Fehler begangen hätten,
und stellten baldige Änderung in Aussicht.
Ich behalte mir einen weiteren Bericht in der Angelegenheit vor,
sobald sich ein klares Bild gewinnen läßt. Mein Gesamteindruck ist
jedenfalls, daß die Aussichten für die Konsolidierung der Türkei nach
Friedensschluß keineswegs rosig sind, und daß jede weitere politische
oder finanzielle Schwächung die Schwierigkeiten vergrößern wird.
Wangenheim
Randbemerkung Zimmermanns:
1 Ja
Nr. 15 295
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 109 Pera, den 15. April 1913
Über die Beiruter Reformbewegung und die gegen das Reform-
komitee vom Generalgouverneur getroffenen Maßregeln sprach sich
der Minister des Innern* gestern einem Mitglied der Botschaft gegen-
über eingehend und in durchaus zuversichtlicher Weise aus. Der Wali
stehe bei seinem Vorgehen unbedingt auf dem Boden der Gesetz-
lichkeit, da das Reformkomitee sich 'den Vorschriften des Vereins-
gesetzes nicht habe unterwerfen wollen. Der Minister glaubt nicht,
daß die von der Regierung bewiesene Energie weitere Ruhestörungen
zur Folge haben werde. Der über Beirut verhängte Belagerungs-
zustand erleichtere die schnelle Verfolgung und Bestrafung aller Un-
ruhestifter.
In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Interesse, daß der eng-
lische Generalkonsul in Beirut** bei Sir Gerard Lowther eine diplo-
matische Verwendung bei der Pforte angeregt hat, um eine mildere
Behandlung des Reformkomitees zu erwirken. Ob Sir Gerard diesem
Vorschlage Folge leisten und damit auch das wohlwollende Interesse
Englands an den syrischen Sonderbestrebungen dokumentieren wird,
bleibt noch abzuwarten.
Talaat Bey.
' Cumberbatch.
26
Daß die Regierung aufs schärfste gegen eine Bewegung Front
macht, die tatsächlich nur die Erlangung autonomer Verwaltung zum
Ziele hat, erscheint verständlich. Worauf die „Reform" in Wirklichkeit
hinausläuft, geht aus dem vom Kaiserlichen Konsul in Beirut* seiner-
zeit eingereichten „Projet de Reformes" klar hervor und wurde auch
vom Minister des Innern im Laufe des erwähnten Gespräches nicht
verkannt. Nach diesem Entwurf würde die Regierungsgewalt den
Händen des Wali tatsächlich entzogen sein; der Provinziallandtag
(Conseil General) würde mit Befugnissen ausgestattet sein, die es ihm
ermöglichen, seine Entscheidungen auch gegen den Willen des Wali
zur Geltung zu bringen und diesen unter Umständen sogar abzusetzen 1.
Sein ausführendes Organ ist der aus den Landtagsmitgliedern hervor-
gehende ständige Ausschuß (Commission departementale), in dem
bezeichnenderweise der dem Landtag beigegebene ausländische
Berater von Rechts wegen den Vorsitz führen soll.
Der Minister hob in diesem Zusammenhang hervor, daß das
neue provisorische Wilajetsgesetz vom 13./26. März d. Js. einen sehr
erheblichen Fortschritt im Wege der Selbstverwaltung darstellt und
allen Anforderungen genügen müßte, die man unter den heutigen
Verhältnissen in der Türkei an eine gesunde Dezentralisationspolitik
stellen darf.
So sieht in der Tat auch das neue Gesetz die Schaffung eines
Provinziallandtages vor, dem ein aus dessen Mitte gewählter ständiger
Ausschuß zur Seite stehen soll. Doch sind die Rechte der Regierung
gegenüber der berufenen Vertretung der Provinzeingesessenen hier
wirksam gewahrt. Der Wali hat die oberste Leitung und Aufsicht
über die Geschäfte des Landtages und führt in den Sitzungen den
Vorsitz. Die Beschlüsse bedürfen seiner Bestätigung; doch ist er ge-
halten, etwaigen Widerspruch binnen kurzer Frist zu formulieren, und
diesbezügliche Streitfragen werden erforderlichenfalls der Entscheidung
des Staatsrates unterworfen. Dem Wali steht das Recht, die Sitzungen
des Landtages auf kurze Zeit zu vertagen, der Zentralregierung das
Recht zur Auflösung zu. Der ständige Ausschuß, der im wesentlichen
die Ausführung der Beschlüsse der letzten Sitzungsperiode zu über-
wachen und die Vorlagen für die kommende Sitzungsperiode vor-
zubereiten hat, arbeitet unter der unmittelbaren Leitung des Wali.
Das Gesetz stellt weiter ausführlich fest, daß die Wilajetsregierung
als solche ein selbständiges Rechtssubjekt ist, als dessen Organe Wali,
Landtag und Ausschuß gelten; die Exekutivgewalt steht ersterem allein
zu. Mit der rechtlichen Unabhängigkeit erlangt die Provinz auch weit-
gehende Befugnisse in inneren Verwaltungsangelegenheiten. Sie führt
ein besonderes Budget und darf innerhalb gewisser Grenzen Anleihen
* von Mutius.
27
aufnehmen. Sie hat unter gewissen Beschränkungen das Recht, Kon-
zessionen zu erteilen.
Schon diese kurzen Andeutungen lassen erkennen, daß sich die
heutige Komiteeregierung zu weitgehenden Zugeständnissen an die von
der liberalen Partei so lebhaft verfochtene Dezentralisationspolitik
entschlossen hat. Hiernach wird in Zukunft die wirtschaftliche Ent-
wickelung des Landes in weit größerem Maße, als es bisher der Fall
war, von der Initiative und der Tatkraft der einzelnen General-
gouverneure abhängen. Tüchtige Verwaltungsbeamte haben aber auch
bisher, auch ohne ähnliche gesetzliche Befugnisse zu besitzen, oft
immerhin Ersprießliches für ihre Provinz leisten können. Die Frage
liegt daher nahe, ob mit Verwaltungsreformen allein der Erfolg schon
gesichert sei. Auch darüber wird ein Zweifel gestattet sein, ob das
ausländische Kapital, auf dessen Hilfe die Provinzen zur Verwirklichung
der ihnen gestellten Aufgaben in erster Linie angewiesen sein werden,
den Neuerungen das nötige Vertrauen ohne weiteres entgegenbringen
wird. Allerdings besteht auch andererseits die Befürchtung, daß die
wirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen Provinzen bei geschickt
geleiteter Beteiligung des fremden Kapitals dazu ausgenutzt werden
könnte, um noch intensivere wirtschaftliche Interessen einzelner Mächte
zu schaffen und damit auch den auf die künftige Aufteilung der
asiatischen Türkei gerichteten Bestrebungen die Wege zu ebnen.
Man wird unter diesen Umständen der Ansicht des Ministers nur
beipflichten können, daß das neue Gesetz nach Lage der Dinge das
Äußerste darstellt, was ohne Gefährdung höherer politischer Staats-
interessen zugestanden werden konnte.
Wangenheim
Randbemerkung Kaiser Wilhelms IL:
1 I
Schlußbemerkung des Kaisers:
Daher sind dort Schiffe nöthig
Nr. 15 296
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 224 Konstantinopel, den 17. April 1913
Konsul Adana telegraphiert:
„Ich erfahre, daß französischer1 Dragoman, welcher kürzlich ge-
schäftlich in London war, von Sir E. Grey empfangen wurde. Sir
E. Grey soll abgelehnt haben, armenische Frage aufzurollen 2. Die
hier seit gestern bestehende Panik dürfte auf armenischen Einflüssen 3
basieren, welche Intervention Mächte herbeiführen wollen.
28
Auffallend ist, daß Demarche bei fremden Konsuln nicht vom
Hauptinteressenten, gregorianischen Katholikos, sondern vom katholi-
schen Bischof ausging."
Ich habe erwidert:
„Warnen Sie ohne Berufung auf Auftrag betreffende armenische
Stelle vor Treibereien, die nur geeignet wären, Sache der Armenier
zu schaden. Ihres Wissens bestände keine Möglichkeit, armenische
Frage vor Friedensschluß zu behandeln. Unbedachte Schritte könnten
nur die Mächte verstimmen, welche selbstloses Interesse an Sache
der Armenier nähmen. Incidenter erwähnen Sie, daß demnächst
,Goeben' in Mersina erscheinen wird."
Wangen heim
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 ;
2 Ist also von Frankreich vorgeschl[a]gen hinter unserem Rücken! Daher die
Warnung Milne's!*
3 von Russland und Frankreich angestiftet!
Nr. 15 297
Der Botschafter in Rom von Flotow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 108 Rom, den 17. April 1913
Nach Meldung italienischen Botschafters in Konstantinopel** hat
Großwesir geäußert, bei Fortdauer der Unruhen in Syrien werde er
gezwungen sein, Kriegsschiffe der Mächte im Mittelmeer herbeizu-
rufen. Marquis di San Giuliano fürchtet, daß Frankreich dabei mit
Rücksicht auf „bevorzugte Stellung" in Syrien Komplikationen hervor-
rufen könne.
Flotow
Nr. 15 298
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr vonW angenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 229 Konstantinopel, den 20. April 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 134***.
Meldung Marquis Garronis in dieser Form unrichtig. Großwesir
hatte nur vertraulich Wunsch geäußert, daß zur Kontrolle der Fran-
* Vgl. Nr. 15 289.
** Marquis Garroni.
*** Durch Telegramm Nr. 134 vom 18. April war das Telegramm aus Rom vom
17. April (siehe Nr. 15 297) nach Konstantinopel mitgeteilt worden.
29
zosen gelegentlich Schiff Dreibunds in Syrien erscheine. Verhalten
Italiens verdient einige Aufmerksamkeit. Marquis Garroni hatte mir
kürzlich gesagt, Italien müßte, um Kleinasien schützen zu können,
sich irgendwo an der kleinasiatischen Küste solidere Interessen
schaffen.
Wangenheim
Nr. 15 299
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Konzept *
Nr. 369 Berlin, den 22. April 1913
Auf den Bericht Nr. 58 vom 24. Februar d. Js.**
Ew. pp. und dem Großwesir kann ich nur darin beipflichten,
daß es nach dem Zusammenbruch der europäischen Türkei eine
wichtige Aufgabe der türkischen Regierung sein wird, das arme-
nische Element durch wirksame Reformen und Heranziehung zur
lokalen Verwaltung für die praktische Mitarbeit am Wiederaufbau
des Reiches in Asien zu gewinnen. Da uns die Erhaltung und Kon-
solidierung der asiatischen Türkei ebenso am Herzen liegt wie den
Machthabern am Goldenen Hörn, erheischt es unser eigenstes In-
teresse, der Pforte bei der Erfüllung dieser Aufgabe behilflich zu
sein. Das Recht und die Pflicht hierzu gibt uns Artikel 61 des Ber-
liner Vertrags, der die Pforte zur Einführung von Reformen in den
armenischen Provinzen anhält und den Mächten ein Überwachungsrecht
einräumt.
Getreu unserer bisherigen Politik werden wir es uns indessen
versagen müssen, in der armenischen Frage die Führung zu er-
greifen. Wir würden hierdurch das Mißtrauen der Ententemächte
erregen und uns in Gegensatz zu Rußland bringen, ohne der arme-
nischen Sache zu nützen. Gemeinsam mit den übrigen Mäch-
ten*** werden wir der türkischen Regierung bei der Ausarbeitung des
* Das Konzept beruhte auf einer bereits am 5. März niedergeschriebenen Auf-
zeichnung des Unterstaatssekretärs Zimmermann.
** Siehe Nr. 15 287.
*** Man wäre deutscherseits gern bereit gewesen, in der armenischen Frage
gerade auch mit Frankreich zusammenzugehen. Als Anfang April der Außen-
minister Pichon den Wunsch zu erkennen gab, mit Botschafter Freiherrn von
Schoen über die Balkanfragen eingehend zu sprechen, wurde er bezüglich der
armenischen Frage am 2. April durch Telegramm Nr. 98 dahin instruiert:
„Sollte Herr Pichon armenische Frage anschneiden, bitte zu sagen, daß wir
30
Reformprojekts gern mit Rat und Tat zur Seite stehen, auf eine be-
sondere Beraterrolle werden wir im allgemeinen besser verzichten.
Mit Ew. pp. halte ich es für erwünscht, daß die Kaiserlichen
Vertretungen in der Türkei den armenischen Angelegenheiten dauernd
ihre Aufmerksamkeit schenken und der Kaiserlichen Botschaft über
alle Wahrnehmungen fortlaufend berichten. Dagegen würde es mir
bedenklich erscheinen, unsere Konsuln mit der Wahrnehmung und
dem Schutz armenischer Interessen zu betrauen. Denn die Übernahme
eines derartigen Patronats birgt die Gefahr, daß wir uns zwischen
zwei Stühle setzen und das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung er-
zielen: die Türkei würde sich versucht fühlen, uns für die Sünden der
radikalen armenischen Elemente verantwortlich zu machen, während
unsere Schutzbefohlenen geneigt sein würden, es uns entgelten zu
lassen, wenn wir in Konstantinopel ihre oft utopischen Prätentionen
nicht durchsetzen.
Auch bei der Beeinflussung unserer Presse zugunsten der arme-
nischen Bewegung dürfte Vorsicht geboten sein.
Der Ausbau des deutschen Schulwesens in Anatolien und die
Vermehrung unserer Konsulate daselbst erscheint dagegen auch mir
erwünscht. Von meiner Bereitwilligkeit, der Gründung einer Schule
in Adana näherzutreten, sind Ew. pp. anderweit unterrichtet. Vor-
schlägen über eventuelle weitere Schulgründungen werde ich gern ent-
gegensehen. Hierbei wird bei der Beschränktheit unserer Mittel die
Bedürfnis- und Kostenfrage natürlich eine sorgfältige Prüfung und Be-
rücksichtigung erfordern. Mit der Einrichtung einer konsularischen Ver-
tretung in Erserum bin ich grundsätzlich gleichfalls einverstanden. Auch
wäre ich nicht abgeneigt, die Neuschaffung eines weiteren Konsulats in
Anatolien ins Auge zu fassen. Wegen des dafür in Aussicht zu nehmen-
den Ortes darf ich einem baldgefälligen Vorschlage Euerer Exzellenz
ergebenst entgegensehen.
J agow
keine Interessen in Armenien hätten, eventuelles einseitiges Vorgehen Rußlands
aber nicht dulden könnten, da hierdurch Frage der asiatischen Türkei aufgerollt
werden könnte. Statut für Armenien dürfte nur international geregelt werden. —
Wir hoffen, daß Frankreich ebenso wie wir allen Einfluß aufbietet, um asia-
tischen Bestand der Türkei zu erhalten, und sind auf Basis obiger Gesichtspunkte
zu Zusammenwirken mit Pariser Kabinett stets gern bereit." Vgl. Bd. XXXIV,
Kap. CCLXXI, Nr. 13 064. Nach Freiherrn von Schoens Antwort vom gleichen
Tage (daselbst Nr. 13 072) war Pichon ebenso wie die deutsche Regierung
gegen die Anschneidung der armenischen Frage. Pichons Vorgänger Jonnart
hatte sich allerdings erst wenige Wochen vorher zu Iswolski im gegenteiligen
Sinne geäußert: die Mächte müßten unbedingt, wenn sie gefährlichen Verwick-
lungen in Kleinasien zuvorkommen wollten, die augenblickliche Lage ausnutzen,
um die Bestimmungen des Berliner Vertrags und die Pläne von 1895 zu ver-
wirklichen. Iswolsky an Sasonow, 13. März 1913, Der Diplomatische Schrift-
wechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 92.
31
Nr. 15 300
Der Botschafter in Konstantino pcl Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 233 Konstantinopel, den 21. April 1913
[pr. 22. April]
Großwesir teilte mir streng vertraulich mit, daß er die englische
Regierung um Überlassung von Gendarmerieoffizieren für Ostana-
tolien, von acht Beiräten für die demnächst einzurichtenden, aus ver-
schiedenen Wilajets bestehenden Verwaltungsbezirke in Ost- und Nord-
anatolien ersucht habe. Aus der Antwort der englischen Regierung
sei zu erkennen, daß diese geneigt sei, auf das türkische Anliegen
einzugehen. Hauptsache ist, meinte der Großwesir, daß Rußland
nichts erfährt.
Wangenheim
Nr. 15 301
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 138 Berlin, den 23. April 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 233*.
Gegen englische Gendarmerieoffiziere und Beiräte in Ost- und
Nordanatolien haben wir nichts einzuwenden. Für Fall Verwirk-
lichung des Plans würden wir aber erwarten, daß uns in West-
anatolien analoge Vertrauensstellung eingeräumt wird. Euerer Exzel-
lenz stelle ich entsprechende Andeutung bei Großwesir anheim.
Jagow
Nr. 15 302
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 255 Konstantinopel, den 7. Mai 1913
Armenischer Patriarch ließ mir durch Beamten Dank aussprechen
für Entsendung deutscher Kriegsschiffe nach Cilicien**, wodurch wahr-
* Siehe Nr. 15 300.
** Am 4. Mai war S. M. S. „Goeben" mit dem Chef der Mittelmeerdivision
Konteradmiral Trummler an Bord auf einer ihrer wiederholten Rundfahrten in
32
scheinlich ernstere Ruhestörungen in Adana verhütet worden seien.
Er hoffe, daß auch späterhin recht häufig deutsche Schiffe in Mersina
und Alexandretta erscheinen würden, und daß Deutschland in irgend-
einer Weise an dem Reformwerk in Cilicien beteiligt werde.
Wangenheim
Nr. 15 303
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 269 Konstantinopel, den 17. Mai 1913
Vertraulich
Unter Bezugnahme auf Erlasse Nr. 437 und 438*.
Nachdem ich Großwesir die Entwicklung der Inselfrage und
unseren Standpunkt dazu** auseinandergesetzt hatte, zeigte mir Mah-
mud Schewket ein vorgestriges Telegramm Nabi Beys *** etwa fol-
genden Wortlauts:
„Obwohl Marquis di San Giuliano mir fortwährend versichert,
daß Italien mit seinen Bundesgenossen für das Verbleiben der Inseln
bei der Türkei eintreten werde, fällt es mir auf, daß der Minister immer
wieder betont, daß England die Inseln an Griechenland geben wolle.
Aus anderen sicheren Quellen und von meinen Kollegen erfahre ich
vertraulich, daß Italien die Inseln als Kompensation für eine Aus-
dehnung der albanischen Grenze nach Süden Griechenland überlassen
will. Infolgedessen ist anzunehmen, daß der Dreibund seine türken-
freundliche Haltung in der Frage ändern wird oder schon geändert
hat. England allein kann uns die Inseln noch retten."
Auf dieses Telegramm hin hat Großwesir Tewfik Pascha tele-
graphisch ersucht, unter Berufung auf den Zypernvertrag die eng-
lische Regierung um Instrukteure, wie sie bereits für Ost- und Nord-
anatolien von England bewilligt seien, auch für Westen und Süden
zu bitten. Seinen Entschluß motivierte Mahmud Schewket folgender-
maßen: England gebe als Grund seiner Abneigung gegen die Rück-
gabe der Inseln an die Türkei die Besorgnis . . . f daß die Türken an
Mersina angelangt, wo sie bis 10. Mai vor Anker ging. Zu gleicher Zeit weilten
dort die beiden Kleinen Kreuzer S. M. S. „Straßburg" und S. M. S. „Geier".
* Erlaß Nr. 437 vom 12. Mai gab den Erlaß nach Rom Nr. 607 vom gleichen
Tage (siehe Bd. XXXIV, Kap. CCLXXII, Nr. 13 293 nebst Fußnote*) nach
Konstantinopel; den Erlaß Nr. 438 vom 12. Mai siehe Bd. XXXIV, Kap.
CCLXXII, Nr. 13 294. Beide Erlasse betreffen das Schicksal der Ägäischen
Inseln, die sogenannte Inselfrage.
*• Vgl. dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXXII.
*** Türkischer Botschafter in Rom.
f Zifferngruppe fehlt.
3 Die Große Politik. 38. Bd. 33
den Insulanern Rache nehmen könnten. In Wirklichkeit aber rechne
... * mit dem Untergang der asiatischen Türkei und wolle die Inseln
unter griechischer Obhut wissen, damit sie nicht später von einer
Großmacht reklamiert würden.
Die Inseln gehörten administrativ zu Anatolien. Wenn England
dort überall und also auch auf den Inseln Verwaltungsbeamte und
Gendarmen unterhalte, so könne es nicht nur Massakers verhindern,
sondern werde sich auch sehr bald von der Ehrlichkeit der türkischen
Reformbestrebungen überzeugen. Es werde dann den Untergang der
Türkei aus seinen Berechnungen streichen und sich demgemäß auch
mit der Fortdauer der türkischen Herrschaft auf den Inseln abfinden.
England soll also durch das Anerbieten einer Kontrolle über
unser anatolisches Arbeitsfeld zu einer Schwenkung in der Inselfrage
gebracht werden. Wenn der Großwesir auch hinzufügte, daß die
Engländer hauptsächlich dahin geschickt werden würden, wo Reibungen
mit griechischen Armeniern zu erwarten seien, so bezeichnete er
andererseits Konia, Adana und Mersina als solche bedrohten Örtlich-
keiten.
Ich habe Mahmud Schewket erwidert, sein Ersuchen an England
überrasche mich, nachdem ich ihm erst kürzlich mitgeteilt, die Kaiser-
liche Regierung erwarte, daß in Westanatolien Deutschland mit den
Verwaltungsreformen betraut werde. Die Berufung von Engländern
in das Gebiet der Bagdadbahn werde bei uns den allerschlechtesten
Eindruck machen und als ein Sieg Englands über Deutschland gedeutet
werden. Damit wäre der Ausgleich zwischen England und Deutsch-
land, als dessen Vermittler er sich bisher bekannt und betätigt habe,
in Frage gestellt, wenn nicht ganz vereitelt. Eine Verschärfung des
deutsch-englischen Gegensatzes müsse, wie er ja selbst erkannt habe,
die Türkei zugrunde richten. Ganz undenkbar sei es, die deutsche
Bahnverwaltung in allen administrativen Fragen an englische Beamte
zu verweisen.
Mahmud Schewket entgegnete, er halte an dem Gedanken fest,
daß die Türkei nur durch ein harmonisches Zusammenarbeiten Eng-
lands, Deutschlands Erfolg . . . * könne. Er sei jetzt fest entschlossen,
alle anderen Mächte von dem Reformwerk auszuschließen. Nur die
französischen Reformer im Finanzministerium sollten bleiben. Uns sei
die Reform der Armee unter der fast diktatorischen Oberleitung eines
deutschen Generals zugedacht und ebenso die Reorganisation des
gesamten Unterrichtswesens**. Der Einfluß, der uns dadurch ein-
geräumt werde, sei bedeutend größer als der etwaige englische. Er
werde mit Detailanträgen an uns herantreten, sobald die Demobili-
sierung vollendet sei.
* Zifferngruppe fehlt.
** Vgl. dazu Kap. CCXC.
34
Großwesir sagte mir schließlich zu, daß das Resultat der Ver-
handlungen mit England über die Reformer nicht eher veröffentlicht
werden würde als die Abmachung mit uns wegen Armee und Unter-
richt.
Euerer Exzellenz Entscheidung darf ich anheimstellen, ob ich
gegen die Bevorzugung Englands zum Nachteil der Bagdadbahn hier
formell Protest einlegen soll.
Mahmud Schewket bat mich, sich über die militärische NeutraÜ-
sierung der Inseln erst nach Eintreffen der englischen Antwort äußern
zu dürfen.
Wangenheim
Nr. 15 304
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept
Nr. 159 Berlin, den 19. Mai 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 269*.
Spekulation der Pforte auf englischen Beistand in Inselfrage er-
scheint illusorisch, da England nicht nur Ententefreunden, sondern auch
Dreibund gegenüber bereits Absicht zu erkennen gegeben hat, sämt-
liche Inseln Griechenland zu überlassen. England würde Angebot
wegen Instrukteuren wohl annehmen, Großwesir dagegen durch Be-
rufung englischer Instrukteure auch für West- und Südanatolien
schwerlich seinen Zweck in London erreichen, durch Maßnahme aber
zweifellos Sturm der Entrüstung in Deutschland hervorrufen und uns
Fortführung bisheriger türkenfreundlicher Politik unmöglich machen.
Bitte Großwesir entsprechend verständigen und Antwort drahten.
J ago w
Nr. 15 305
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 274 Konstantinopel, den 20. Mai 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 159**.
Auf meine Vorhaltung erwiderte mir Großwesir, der Entschluß,
* Siehe Nr. 15 303.
** Siehe Nr. 15 304.
3* 35
Engländer für Westen und Süden zu berufen, sei durch Inselfrage
zwar aktuell geworden, beruhe aber auf einer allgemeinen Entschei-
dung, welche der Ministerrat aus Gründen der höheren Politik schon
vor längerer Zeit gefaßt habe. Ursprünglich seien die Meinungen der
Minister geteilt gewesen. Die einen hätten überhaupt keine fremden
Reformer mehr haben wollen, während die anderen eine regionali-
stische Verteilung des Reformwerks an sämtliche Großmächte ge-
wünscht hätten. Licht in die Frage sei erst durch einen Bericht Tewfik
Paschas gebracht worden, der vor der Schaffung von Interessen-
sphären gewarnt und den Grundsatz aufgestellt habe, daß das Reform-
werk nur durch England und Deutschland geleitet werden dürfe.
Diese Mächte seien die einzigen, welche an dem Fortbestehen der
Türkei ein eigenes Interesse hätten. Durch die gemeinsame Arbeit
würden England und Deutschland zusammengeführt, was die Türkei
vor allen späteren Gefahren schützen werde. England müsse mit
den Reformen des Zivildienstes, Deutschland mit denen des Heeres
betraut werden. Er, der Großwesir, habe sich die Gedanken Tewfiks
zu eigen gemacht und auch seine Kollegen dafür gewonnen. Letztere
hätten sofort englische Instrukteure für die gesamte Türkei verlangt.
Er habe aber nur langsam vorgehen wollen und deshalb zunächst; nur
für Ostanatolien Reformer beantragt. Die englische Regierung sei
auf seinen Wunsch nur zögernd eingegangen. Zu dem jetzt gestellten
Antrag wegen des Westens und des Südens habe Sir E. Grey sich da-
gegen sehr erfreut geäußert und bemerkt, das frühere Ersuchen
habe ihn in Verlegenheit Rußland gegenüber versetzt. Die Ausdeh-
nung des Mandats auf andere Gebiete Kleinasiens erleichtere ihm
seine Aufgabe und beweise gleichzeitig, daß die Türkei nicht einen
politischen Schachzug, sondern wirkliche Reformen beabsichtige. Groß-
wesir glaubt nicht, daß die Engländer besonderen Wert auf die Kon-
trolle des Bagdadgebiets legen. Er habe nicht an die Möglichkeit ge-
glaubt, daß die deutsche öffentliche Meinung über Zivilreformer sich
aufregen könne, wenn überall an der Seite der Engländer Deutsche
als Reformer erschienen. Nach türkischer Auffassung sei die Armee der
ausschlaggebende Faktor im Staat. Er bedaure jetzt, mich nicht früher
zu Rate gezogen zu haben. Er werde selbstverständlich unserem Be-
denken so weit als nur irgend möglich Rechnung tragen und sofort
an Tewfik telegraphieren, damit dieser anstatt für Angora, Konia
und Adana Reformer für Smyrna, Brussa, Konstantinopel und Ka-
stamuni beantrage, wo eine Kollision zwischen englischer Kontrolle
und deutschen Interessen vollständig ausgeschlossen sei.
Die von mir geäußerte Besorgnis, daß er sich etwas zu weit
mit den Engländern zum Nachteil Deutschlands eingelassen habe, wies
Mahmud Schewket lebhaft von sich. Er werde immer mehr deutsch
als englisch fühlen. Deutschland allein könne aber der Türkei ebenso-
wenig helfen wie England allein.
36
Großwesir berührte im Gespräch die Inselfrage nur obenhin. Viel-
leicht ist ihm von London aus schon abgewinkt worden.
Wangenheim
Nr. 15 306
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 275 Konstantinopel, den 20. Mai 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 274*.
Es werden im Osten zwei, im Westen eine Generalinspektion ge-
bildet. Diesen sind je vier Inspektionen untergeordnet für Justiz, Gen-
darmerie, öffentliche Arbeiten und Inneres. Generalinspekteuren und
Inspekteuren wird je ein englischer Berater beigegeben. Infolge
unseres Einspruchs muß die Pforte es unterlassen, in gewisse Zentren
der armenischen Bewegung zum Beispiel nach Adana, Reformer zu
schicken, worüber Armenier sich beklagen werden. Nichtenglische
Zivilreformer kann die Regierung nicht verwenden, weil sonst sofort
Rußland für Ostanatolien und Frankreich für Syrien eigene Instruk-
teure beantragen würden.
Wangen heim
Nr. 15 307
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 163 Berlin, den 22. Mai 1913
Antwort auf Telegramme Nr. 274, 275 **.
Zur Verwertung bei Großwesir.
Dadurch, daß unser Arbeitsfeld überhaupt keine Reformer erhält,
ist weder deutschen noch türkischen Interessen gedient. Natürliche
Lösung wäre, daß uns im Gebiet der Bagdadbahn gleiche Stellung
eingeräumt wird wie Engländern in übrigen Wilajets. Erscheint dies
Pforte nicht durchführbar, so müßten wir neben bereits zugesagter
Mitwirkung in Armee und Unterrichtswesen mindestens noch Be-
teiligung bei öffentlichen Arbeiten verlangen. Dementsprechend würden
* Siehe Nr. 15 305.
•* Siehe Nr. 15 305 und 15 306.
37
allen Inspektionen englische Berater für Justiz, Gendarmerie und
Inneres, deutsche Berater für Armee, Unterricht und öffentliche Arbeiten
beizugeben — also je drei — und Beraterstellen bei General-
inspektionen unter Deutschland und England zu teilen sein.
Jagow
Nr. 15 308
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 157 Pera, den 20. Mai 1913
[pr. 23. Mai]
Euerer Exzellenz beehre ich mich in der Anlage ein Telegramm
des Kaiserlichen Vizekonsulats in Mosul vorzulegen *.
Die darin angegebene Zahl von 150 000 bewaffneten Kurden ist
natürlich eine der üblichen, ins Vielfache gehenden orientalischen
Übertreibungen.
Beachtung verdient die Nachricht aber doch, da frühere Erfah-
rungen lehren, daß die Kurdenhäuptlinge häufig sehr offen und naiv
ihre Pläne ausplaudern. Wir müßten also damit rechnen, daß trotz
der loyalen Versicherungen, welche uns aus Petersburg zugehen, die
russischen Behörden im Kaukasus und Nordwestpersien planmäßig
an einer Lostrennung Ostanatoliens von der Türkei arbeiten. Eine Be-
stätigung dieser Auffassung erhielt ich durch ein Mitglied des Ver-
waltungsrats des armenischen Patriarchats, welcher mir vor einigen
Tagen mitteilte, Rußland arbeite in Ostanatolien an einer Versöhnung
der Armenier und Kurden analog der unter russischer Ägide erfolgten
Verständigung zwischen Griechen, Serben und Bulgaren über Maze-
donien. Eine von Rußland protegierte Versöhnung zwischen Kurden
und Armeniern könne natürlich nur gegen die Türkei gerichtet sein.
Sobald sie zustande gekommen wäre, solle die Autonomie Ost-
anatoliens erklärt werden.
Die Kurden verständen die Sache aber vorläufig falsch und sähen
in den russischen Bemühungen mehr eine Ermunterung zu Armenier-
massakers, ohne die ihnen eine politische oder kriegerische Aktion un-
denkbar erscheine.
Wangenh eim
* In dem Telegramm vom 17. Mai berichtete der Konsul Holstein über ein
Gespräch mit Hassan Bey, einem einflußreichen Mitgliede der Familie Bederhan,
wonach Rußland die Autonomiebestrebungen der Bederhans durch Waffen-
schmuggel und Geldmittel gegen Zusicherung wirtschaftlicher Vorteile in dem
zu separierenden Gebiet unterstützt habe, so daß der Aufstand der Botan-
Kurden in spätestens einem Monat ausbrechen könne.
38
Nr. 15 309
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 284 Konstantinopel, den 23. Mai 1913
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 163*.
Mandat an England beruht auf Zypernvertrag**. Eintreten
Deutschlands in dieses Mandat würde dessen Charakter verändern
und Forderung russischer und französischer Beteiligung zur Folge
haben, wodurch Interessensphären entständen und Untergang der
Türkei vorbereitet würde. Hier erscheint als möglicher Ausweg, daß
Pforte sich an England und Deutschland als die auf Grund Zypern-
vertrags und militärischen Traditionen am meisten an dem Fort-
bestehen der Türkei interessierten Mächte mit der Bitte wendet, die
Reformen gemeinschaftlich in die Hand zu nehmen und sich über die
Teilung der Arbeiten zu verständigen.
Wangenheim
Nr. 15 310
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 168 Berlin, den 25. Mai 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 284 ***.
Zypernvertrag hindert Pforte nicht, uns Armee und Unterricht,
Frankreich Finanzwesen anzubieten. Prinzipiell dürfte daher Zuwen-
dung öffentlicher Arbeiten an Deutschland nichts entgegenstehen. Wir
wären jedoch mit von Ew. pp. angedeutetem Ausweg einverstanden,
wenn Pforte entsprechende Anregung gibt.
Jagow
* Siehe Nr. 15 307.
** Der Zypernvertrag vom Jahre 1878 enthielt unter anderem die Bestimmung:
„S. M. I. le Sultan promet ä PAngleterre d'introduire les reformes necessaires
(ä etre arretees plus tard par les deux Puissances) ayant trait ä la bonne
administration et ä la protection des sujets chretiens." Vgl. Nr. 15 318.
•*• Siehe Nr. 15 309.
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Nr. 15 311
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 286 Konstantinopel, den 25. Mai 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 284*.
Zu der Anregung in Telegramm Nr. 163** meinte Großwesir,
aus der Tatsache, daß England wider alles Erwarten zur Entsendung
von Instrukteuren nach Ostanatolien sich bereit erklärt habe, gehe
hervor, daß die russisch-englische Entente sich nicht auf die Türkei
erstrecke, und daß England noch heute auf dem Boden des Zypern-
vertrags stehe. Dies sei um so interessanter, als England nach wie
vor mit Frankreich hier zusammengehen wolle. Sir E. Grey habe,
als er Tewfik Pascha die Reformer zusagte, hinzugefügt, daß in jedem
Falle die Anzahl der französischen Instrukteure im Finanzministerium
um zwei bis drei vermehrt werden müsse. Wenn nunmehr die Pforte
dem Foreign Office eine deutsche Beteiligung an der England über-
tragenen Aufgabe vorschlage, sei zu befürchten, daß England miß-
trauisch werde und sich wieder zurückziehe, oder daß Rußland und
Frankreich die gleiche Beteiligung verlangten wie Deutschland ***.
* Siehe Nr. 15 309.
•* Siehe Nr. 15 307.
**• Tatsächlich setzten eben damals Erörterungen und Verhandlungen unter den
Ententemächten ein, die darauf abzielten, die Dreibundmächte von der Heran-
ziehung zu der Reformtätigkeit auszuschließen. Zunächst verständigten sich
Rußland und Frankreich darüber, daß die Ausarbeitung bestimmter Vorschläge
zu Reformen in Kleinasien den Botschaftern von Rußland, Frankreich und Eng-
land reserviert werden solle. Geheimtelegramm Iswolskys an Sasonow vom
22. Mai 1913, Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr.
Stieve, III, 160. Dann erhob Rußland, das sich schon durch den türkischen Vor-
schlag der Entsendung englischer Instrukteure nach dem kleinasiatischen Ar-
menien in der von ihm beanspruchten Präponderanz beeinträchtigt fühlte, den An-
spruch, bei den Reformen allein, mindestens aber in erster Linie unter den Mächten
der Tripelentente berücksichtigt zu werden. In einem Telegramm Sasonows an Graf
Benckendorff vom 25. Mai (a. a. O., III, 165 f.) hieß es: „Mit Rücksicht auf
die Stimmung der Armenier stellen Reformen, von Rußland allein oder zusammen
mit Frankreich gewährleistet, das einzige Mittel dar, diese Gegenden zu be-
ruhigen und die Gefahr eines allgemeinen Aufstandes zu beschwören." Der von
England aus geäußerten Besorgnis, daß die Türkei sich wegen der Reformen
an Deutschland wenden könne, glaubte Sasonow durch einen gemeinsamen
Schritt der Tripelententemächte bei der Pforte begegnen zu können: „Was die
Besorgnis anbetrifft, die Türkei könne sich an Deutschland wenden, so scheint
es uns, daß eine freimütige und herzliche Aussprache mit der Pforte ihr klar-
machen sollte, daß sie nur die Wahl zwischen einer Zusammenarbeit mit uns
auf Grund der Gemeinsamkeit der Interessen oder einem Rußland hätte, das
frei jeglicher Verpflichtung und nur darauf bedacht wäre, seine Interessen in
dem den Umständen angepaßten Maße zu wahren." Eine deutsche Beteiligung
40
Sein Ideal sei die englisch-deutsche Kooperation. Falls England und
Deutschland sich über ein Reformprogramm verständigten, so werde
er dasselbe freudig annehmen. Nur könne er aus den erwähnten
Gründen keine Initiative nach dieser Richtung hin ergreifen. Im
übrigen verstehe er, daß die deutsche öffentliche Meinung die Be-
rufung der Engländer mißverstehen und die Bedeutung der Deutsch-
land übertragenen ... * unterschätzen könne. Um uns entgegen-
zukommen, schlage ich vor, vorläufig erstens, daß für die Gebiete der
Bagdadbahn keine englischen Instrukteure für öffentliche Arbeiten
berufen würden, und zweitens, daß an verschiedenen Orten mit Aus-
nahme der russischen Grenzgebiete deutsche Inspekteure für Schul-
wesen angestellt würden.
Aus den Ausführungen Mahmud Schewkets entnehme ich, daß
Generalinspekteur und Inspekteure keinen türkischen Beamten neben
sich haben werden und nur als Kontrolleure, nicht als Exekutivbeamte
gedacht sind. Im ganzen sollen 17 Engländer kommen.
Wangenheim
Nr. 15 312
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 159 Pera, den 21. Mai 1913
[pr. 26. Mai]
Durch den Balkankrieg ist die orientalische Frage in zwei Teile
zerlegt worden, einen europäischen und einen asiatischen. Für die
bisherige europäische Türkei lautet die Frage jetzt: „Wie wird sich
das Verhältnis zwischen den der Türkei substituierten Balkanstaaten
gestalten, und welche Rückwirkungen wird dieses Verhältnis auf die
Beziehungen der Balkanvölker zu den Großmächten und auf deren
Beziehungen untereinander ausüben ?" Die orientalische Frage, soweit
sie Kleinasien betrifft, läßt sich in die Worte kleiden: „Ist der übrig-
gebliebene Teil der Türkei noch lebensfähig oder dem Untergange
geweiht?"
an der Reformertätigkeit wollte Sasonow allenfalls nur „nach vorhergehender
Übereinkunft mit Frankreich und England" zulassen, um „Widerstände von
deutscher Seite auszuschalten". Geheimtelegramm Sasonows an Graf Bencken-
dorff vom 28. Mai, a. a. O., III, 170. Diese Haltung Sasonows veranlaßte Sir
E. Grey, die bereits ausgesprochene Bereitwilligkeit zur Entsendung englischer
Instrukteure nach Ostanatolien wieder zurückzuziehen. Vgl. Nr. 15 314.
• Zifferngruppe unverständlich.
41
Die Welt war daran gewöhnt, die asiatische Türkei als ein Annex
der europäischen Türkei zu betrachten. Da man die Existenz der
letzteren durch den österreichisch-russischen Gegensatz als hinläng-
lich gesichert erachtete, so hielt man auch die asiatische Türkei für
mehr oder weniger unangreifbar. Alle diese Theorien sind nun durch
die Kriegsereignisse vollkommen über den Haufen geworfen worden.
Die europäische Türkei ist verschwunden, und keine Macht wird den
zerrissenen Berliner Vertrag wieder aus dem Papierkorbe hervor-
holen wollen, nur um behaupten zu können, daß der Status quo nun
wenigstens für Kleinasien weiterbestehen müsse. Die kleinasiatische
Frage erscheint daher als jungfräuliches Problem, das, losgelöst von
den Traditionen und Dogmen der bisherigen Orientpolitik der Mächte,
behandelt werden muß. Günstig für die neue Türkei ist es, daß sie
nur von verhältnismäßig wenigen nach Befreiung von der osmanischen
Herrschaft strebenden Angehörigen fremder Staaten bewohnt ist. Von
den Balkanvölkern haben nur noch die Griechen ethnographische In-
teressen in Kleinasien. Dieselben liegen aber hauptsächlich an der
Peripherie des Landes und bedrohen vielleicht nicht ganz so ernstlich,
wie Mahmud Schewket es annimmt, die Existenz des türkischen
Reiches, besonders da die auf den Besitz Konstantinopels gerichtete
griechische Propaganda mit dem slawischen Widerstand zu rechnen
hat. Als Vorwand für Eroberungsgelüste eines Staates dient aber
heutzutage nicht nur das ethnographische Prinzip. Eine Intervention
kann schon damit begründet werden, daß in dem fremden Lande Un-
ruhen herrschen, welche die Ordnung im eigenen Lande affizieren,
oder durch welche wirtschaftliche Werte, die von dem einen Lande
in dem anderen investiert sind, gefährdet werden. Die Möglichkeit der
Einmischung besteht für Rußland in Ostanatolien, für Frankreich in
Syrien und für England im Gebiet des Persischen Golfes und in
Arabien. Sie würde auch für uns theoretisch im Gebiete der Bagdad-
bahn bestehen. Tatsächlich sucht Rußland schon heute die Armenier
und Kurden aufzuwiegeln, um sich den Vorwand für eine Intervention
zu schaffen. In Südarabien benutzt England die Streitereien zwischen
den einzelnen Stämmen, um seinen Einfluß langsam in der Richtung
auf die heiligen Stätten vorzuschieben. Überall zeigen sich unter den
von den Osmanen beherrschten Volksstämmen autonome und separati-
stische Tendenzen, die entweder von fremden Mächten ins Leben ge-
rufen oder aus der Hoffnung der Eingeborenen entstanden sind, daß
sich irgendeine fremde Macht ihrer annehmen möchte. Ja selbst
unter den eigentlichen Türken gibt es heute schon viele, die an der
Zukunft ihrer Rasse verzweifeln und eine fremde Okkupation herbei-
wünschen. Von dem türkischen Volke ist der intelligentere Teil von
tiefer Depression erfaßt, der andere in stumpfe Gleichgültigkeit ver-
sunken. Die Finanzen des Landes sind schwer erschüttert, die Steuer-
lasten unerträglich geworden. Die Armee ist demoralisiert, das Offi-
42
zierkorps in sich politisch gespalten. Eine Beamtenhierarchie gibt es
nicht mehr. Seit der Einführung der Verfassung halten sich alle Be-
amten für gleichberechtigt und führen die Befehle der höheren Stellen
nicht mehr aus. Es gibt keinen Padischah mehr, welchem die Armee
und die Beamten blind gehorchten. Die Vorzüge des hamidischen
Systems sind verschwunden, seine Nachteile dagegen geblieben und
machen sich jetzt doppelt fühlbar. An der Spitze der Regierung be-
findet sich zwar gegenwärtig ein starker und intelligenter Mann. Hinter
ihm steht das Komitee, die einzige Partei, welche sich seit Einführung
der Verfassung einigermaßen regierungsfähig erwiesen hat. Das Ko-
mitee ist aber fast der einzige konservative Faktor, welchen man
gegenüber den im ganzen Reiche tätigen zersetzenden Faktoren in
Berechnung stellen könnte. Ein einfaches Subtraktionsexempel genügt,
um das Urteil zu begründen: Die asiatische Türkei kann sich
aus eigener Kraft nicht mehr erhalten.
Daß die Katastrophe dort wie in der europäischen Türkei einige
Hunderte von Jahren auf sich warten lassen wird, ist kaum anzu-
nehmen, nachdem die Balkanstaaten mit dem heiligen Dogma der
Integrität der Türkei aufgeräumt haben. Die Dinge werden vielmehr,
wenn keine Hilfe von außen kommt, in Kleinasien einen weit rascheren
Lauf nehmen. Schon wenn Mahmud Schewket fallen sollte, dürfte
in Konstantinopel eine vollkommene Anarchie eintreten, die in Klein-
asien zur Auflösung führen würde. Mahmud Schewket aber kann
leicht gestürzt werden, wenn ihm zugemutet werden sollte, eine
Kriegsentschädigung oder den Verlust der Inseln vor dem Volke ver-
treten zu müssen.
Bürgerkriege und Anarchie in der Türkei werden unbedingt zu
einer Intervention der Mächte und zur Aufrollung der Teilungsfrage
Veranlassung geben. Nun liegt es aber, wie ich bereits in einem
früheren Berichte ausführlich nachzuweisen versucht habe, durchaus
nicht im deutschen Interesse, wenn das Teilungsproblem schon in der
nächsten Zeit angeschnitten würde. Wir haben in der Türkei zwar
immer nur wirtschaftliche Interessen verfolgt. Das deutsche Volk
würde es aber nicht verstehen, wenn diese Interessen und die Werte,
welche wir geschaffen haben, unter die Kontrolle anderer, uns feindlich
gesinnter Mächte übergingen. Nicht das wirtschaftliche, sondern das
politische Prestige Deutschlands steht bei einer Teilung Kleinasiens
auf dem Spiele. Nun würden wir aber durch eine Festsetzung in Klein-
asien zu einer Mittelmeermacht werden. Wir müßten, um unseren
neuen Besitz an den Weltverkehr anzuschließen, einen Hafen erwerben,
der mit der Zeit zu einem Flottenstützpunkte sich entwickeln würde.
Bei der gegenwärtigen Weltlage wird England kaum bereit sein,
uns die militärische Etablierung in der Nähe Ägyptens zu konzedieren.
Die Teilung der Türkei könnte uns daher leicht in einen schweren
43
Konflikt mit England verwickeln, den wir unter für uns sehr un-
günstigen Verhältnissen auszufechten hätten. Ferner sind wir bisher
nicht im geringsten für eine Etablierung in Kleinasien vorbereitet.
Wir wissen noch nicht einmal genau, wo wir uns eigentlich festsetzen
sollten. Rußland, Frankreich und England haben ausgesprochene Inter-
essensphären. Unsere Interessen laufen längs der Bagdadbahn und
durchziehen ganz Kleinasien. Sie sind aber in Wirklichkeit mehr
kapitalistischer als reeller Natur. Was wir an Schulen, Ordensnieder-
lassungen etc. in der Türkei besitzen, kann sich nicht mit dem ver-
gleichen, was Frankreich, Rußland und England im Laufe der Jahr-
hunderte sich hier an bodenständigen Werten geschaffen haben, und
liegt außerdem in Gebieten, die zum großen Teil einmal anderen
Ländern zufallen müssen. Unsererseits ist vieles nachzuholen, und
dazu brauchen wir eine lange Zeit emsigster Arbeit. Das Ziel unserer
Politik kann daher nur sein, die Auflösung der Türkei so lange als nur
möglich, wenigstens aber vorläufig aufzuhalten.
Hierzu gibt es nur ein einziges Mittel, die Reorganisation
der Türkei durch fremde Mächte, welche gleichzeitig eine
Garantie für den kleinasiatischen Status quo für einen längeren Zeit-
raum, wenn nicht vertragsmäßig, so doch durch ihr Prestige über-
nehmen. Die bloße Berufung von Reformern mit beratender Stimme
würde in keiner Weise ausreichen. Es handelt sich vielmehr um die
Einführung einer wirklichen Kontrolle der staatlichen Funktionen durch
fremde Beamte und Militärs, deren Anordnungen verbindlich sind für
die nachstehenden Stellen und Personen. Je mehr sich ein solches
Regime dem ägyptischen nähern würde, um so besser wäre es für die
Türkei. Am durchgreifendsten würde die fremde Kontrolle sein, wenn
sie von einer einzigen Macht ausgeübt würde. Es gibt hier eine ganze
Gruppe von Leuten, welche die Türkei vollständig unter die Leitung
deutscher Instrukteure mit weitgehendsten Machtbefugnissen stellen
möchten. Ein großer Teil des Offizierkorps, einflußreiche Männer wie
Munir Pascha* und angeblich auch der gegenwärtige Minister des
Auswärtigen ** sind für die Idee gewonnen. Dieselbe ist natürlich
unausführbar, da die deutsche Reformtätigkeit auf den Widerstand
sämtlicher anderen Mächte stoßen würde. Ebensowenig wie Deutsch-
land würden Frankreich oder England allein die Reorganisation durch-
* Auf Munir Pascha, den ehemaligen türkischen Botschafter in Paris, wäre
nach einem Bericht des Österreich-ungarischen Militärattaches in Konstantinopel
Oberst Pomiankowski vom 28. Januar (Feldmarschall Conrad, Aus meiner
Dienstzeit, III, 40) der grundlegende Gedanke zurückzuführen, durch die Drei-
bundmächte eine Reorganisation des ganzen türkischen Staatswesens in die Hand
nehmen zu lassen und speziell zur Reorganisation des Heerwesens einen deut-
schen Kommandierenden General mit entsprechendem Stab nach Konstantinopel
zu berufen. Vgl. dazu Kap. CCXC, Nr. 15 435, Fußnote*.
** Said Halim Pascha.
44
führen können. Die Übertragung des Reformwerkes an sämtliche
Mächte aber würde der Erneuerung des Berliner Vertrages gleich-
kommen. Unter dem Schutze der neuen Vereinbarung würde jede
Macht ihren Sonderbestrebungen nachhängen und, wenn der geeignete
Zeitpunkt gekommen ist, rücksichtslos das Prinzip der Integrität der
Türkei zu ihren Gunsten umwerfen in dem sicheren Gefühle, daß der
Bruch der internationalen Abmachungen nach modernen völkerrecht-
lichen Anschauungen die Mitkontrahenten keineswegs verpflichtet,
ihrerseits zum Schwerte zu greifen. Eine Wiederbelebung des Berliner
Vertrages würde aber nicht viel mehr bedeuten als die internationale
Besiegelung der Überzeugung, daß die Türkei zum Untergange ver-
urteilt ist. Das Reformwerk und damit die vorläufige Rettung der
Türkei kann deshalb nur durch den ehrlichen Zusammenschluß der-
jenigen Mächte erfolgen, welche an dem Fortbestehen der Türkei ein
wirkliches Interesse haben. Rußland scheidet von vornherein aus, da
die Eroberung von Konstantinopel das Endziel seiner Politik ist.
Frankreich bezeichnet sich selbst neuerdings als den Sachwalter Ruß-
lands und kann seitdem kaum mehr als eine konservative Macht in
der Türkei gelten. Österreich und Italien haben durch ihr Verhalten in
der albanischen Frage* bewiesen, daß die Türkei nicht auf sie zählen
kann. Als Reorganisatoren bleiben daher nur Deutschland und England
übrig. England mag den Untergang der Türkei befürchten. Ihn wün-
schen kann es ebensowenig wie Deutschland. Denn die Teilung würde
die Russen nach Konstantinopel und die Deutschen an die Küste des
Mittelländischen Meeres führen. Es könnte der einen Macht kaum ver-
bieten, was es der anderen gestattet. Die Aufteilung würde die strate-
gische Lage Englands im Mittelmeer in jedem Falle schwächen und
damit seine Weltstellung bedrohen. Wohl oder übel wird also England
in der Frage der Zukunft Kleinasiens durch seine vitalen Interessen an
die Seite Deutschlands geführt. Das hat auch Mahmud Schewket richtig
erkannt, und seine kluge Politik ist deshalb darauf gerichtet, Deutsch-
land und England in der Türkei zu versöhnen, damit diese beiden
Länder die Stützen und Leiter der Wiederaufrichtung der Türkei werden
können. Bei der Verfolgung seines Planes macht der Großwesir neuer-
dings Fehler, die ersten seit seinem Regierungsantritt. Ich hoffe, daß
dieselben noch zu korrigieren sein werden. Es kommt darauf an, der
Pforte die Überzeugung beizubringen, daß nicht die Inselfrage, sondern
die Harmonie zwischen Deutschland und England die für die Zukunft
der Türkei entscheidende Frage ist. Vom hiesigen deutschen Arbeits-
felde aus betrachtet, erscheint die englisch-deutsche Kooperation als
die ideale, ja als die allein mögliche Lösung des kleinasiatischen Pro-
blems. Daß England nicht abgeneigt ist, sich der Türkei anzunehmen
Vgl. dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXVIII u. ff.
45
und dabei sogar eine Verletzung russischer Interessen mit in den Kauf
zu nehmen, geht schon daraus hervor, daß es die Entsendung englischer
Instrukteure in die russische Interessensphäre im Osten zugestanden
hat. Auch die Sprache der englischen Blätter gegen die französischen
Bestrebungen in Syrien ist bezeichnend. England scheint tatsächlich
gewillt, die Türkei zu halten, selbst auf die Gefahr eines Kon-
fliktes mit denjenigen Mächten hin, welche die Aufteilung der Türkei
auf ihr Programm geschrieben haben. Ob die politische Notwendigkeit,
die Türkei zu erhalten, welche ebenso für Deutschland wie für England
besteht, zu einer Verständigung über eine gemeinsame Reform der
Türkei führen wird oder kann, ist von hier aus nicht zu beurteilen.
Kommt es zu einem solchen prinzipiellen Einverständnis, so würde
sofort die Inselfrage und auch die Frage der Kriegsentschädigung an
Bedeutung für die Türkei verlieren. Der Türke würde dann ein so
starkes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit seiner Protektoren haben,
daß er von diesen die Heilung aller Schäden, welche der Krieg der
Türkei zugefügt hat, bestimmt erwarten würde. Überhaupt ist die
Stimmung des türkischen Volkes jetzt eine derartige, daß England und
Deutschland das Maß des Einflusses, welches sie hier gemeinsam
auszuüben wünschen, selbst bestimmen könnten. Selbst eine Kontrolle,
welche sich allmählich dem Vorbilde der englischen über Ägypten
näherte, würde von der Bevölkerung hingenommen werden.
Der Gedanke an eine englisch-deutsche Zusammenarbeit auf tür-
kischem Boden, die der Anfangspunkt einer definitiven Versöhnung
werden könnte, darf für den praktischen Politiker selbstverständlich
zunächst nicht mehr sein als eine Hoffnung und ein erstrebenswertes
Ziel. Daß Frankreich und Rußland das Äußerste daran setzen werden,
den Plan zu verhindern, geht schon aus der Nervosität hervor, welche
auf den hiesigen Botschaften dieser Länder anläßlich der deutsch-
englischen Verhandlungen über Bagdad herrscht. Der langsame, zähe
und mißtrauische Engländer wird sich schwer aus den Maschen loslösen
lassen, in welche ihn die langjährige Interessengemeinschaft mit Frank-
reich und Rußland verstrickt hat. Es wäre nun gewagt, unsere Politik
auf den günstigsten Fall einzustellen. Wir müssen vielmehr damit
rechnen, daß noch Jahre vergehen werden, bevor die Abneigung
Englands gegen eine politische Geschäftsverbindung mit uns völlig
geschwunden ist. Daraus folgt, daß wir uns vorläufig auf die
schlimmste Eventualität vorbereiten müssen, das heißt auf die Tei-
lung der Türkei, die unvermeidlich wird, wenn England und Deutsch-
land noch lange getrennt marschieren.
Wir werden gezwungen sein zu prüfen, welche Gebiete inner-
halb der kleinasiatischen Türkei eventuell als unsere Interessensphäre
in Betracht kommen. Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen
ersten Versuch der Orientierung auf diesem Gebiete darstellen.
Unsere wirtschaftlichen Interessen dehnen sich zwar fast über
46
die gesamte asiatische Türkei aus. Als unsere eigentliche Interessen-
sphäre können aber naturgemäß nur solche Gebiete in Betracht kom-
men, wo noch keine wichtigen Interessen maßgebender Konkurrenten
bestehen. Nach dieser Formel scheidet für uns von vornherein aus
1) das Küstengebiet des Schwarzen und Marmara-Meeres, wo wir
mit Rußland kollidieren würden,
2) das westliche Küstenland Anatoliens, soweit es hauptsächlich
von Griechen bewohnt ist,
3) Syrien und Palästina, wo französischer Einfluß überwiegt,
4) das Gebiet, welches England mit Rücksicht auf seinen ägypti-
schen und indischen Besitz gegen fremde Einflüsse verschließt, also
Arabien und die Umgebung des Persischen Golfes.
Nach Abzug dieser Gebiete bliebe für uns ein Landstreifen,
welcher sich von der Linie Eski-Schehir — Adalia in ungefährer Breite
von 400 Kilometern nach Osten bis zur persischen Grenze erstreckt,
also ausschließlich solche Gegenden, welche durch Bahnbauten unter
deutscher Führung erschlossen worden sind oder demnächst er-
schlossen werden. Sein Kernpunkt ist das nach dem Golf von Alexan-
dretta gravitierende Gebiet. Hier haben wir schon so viel Kulturarbeit
geleistet, so viele Werte investiert, daß unsere Interessen stellenweise
wie in Cilicien und der Koniaebene schon einen monopolähnlichen
Charakter annehmen. Nach Fertigstellung der Bagdadbahn könnte bei
entsprechendem Unternehmungsgeist das ganze übrige Hinterland des
Golfs von Alexandretta ebenso unter den deutschen Einfluß gebracht
werden.
Die Grenzen dieses Hinterlandes sind offenbar dort zu suchen, wo
der Warenaustausch seinen Weg nicht mehr über Alexandretta, son-
dern bequemer und billiger über einen anderen Seehafen nimmt.
Diese politische Verkehrsscheide liegt im Nordwesten etwa bei Ak-
schehir, im Südosten bei Kerkuk. Alles dazwischen liegende Gebiet in
der Ausdehnung, wie es durch Zweiglinien der Bagdadbahn erschlossen
werden wird, muß zum Hinterland von Alexandretta gerechnet werden.
Soll der Zukunftshafen Alexandretta die seiner glänzenden geographi-
schen Lage entsprechende Bedeutung erlangen, so darf dieses sein
Hinterland nicht durch fremde Interessensphären eingeengt werden
und muß daher uneingeschränkt dem deutschen politischen Einfluß
vorbehalten werden. Die Ausdehnung dieses Gebietes ist auf der an-
liegenden Karte* durch rote Schraffierung kenntlich gemacht. An
zwei Punkten streift es fremde Interessen: in Aleppo, wohin fran-
zösische Einflüsse von Süden her vorgedrungen sind, und in der Ge-
gend des Wansees, wo die Russen schwer abzugrenzende politische
• Hier nicht reproduziert.
47
Ansprüche geltend machen könnten. Aleppo kann aber für Frankreich
nur sekundäres Interesse haben, da schon Damaskus und das als
Kompensationsobjekt überaus wertvolle Haifa seiner Einflußzone zu-
fallen. Für die Bagdadbahn ist dagegen Aleppo als der gegebene
Zentralpunkt für die Verwaltung der ganzen mittleren Bahnstrecke
unentbehrlich.
Ein möglichst weites Vorschieben unserer Interessensphäre nach
Nordosten ist andererseits aus zwei Gründen geboten: In dem Ge-
birgsland nördlich der mesopotamischen Ebene befinden sich überaus
reiche Erzlager. Bei Arghana nordöstlich Diarbekr sind Kupferlager
gefunden worden, welche wahrscheinlich Rio Tinto und Katanga an
Mächtigkeit und Gehalt übertreffen. Am Großen Zab und im per-
sischen Randgebirge findet sich Petroleum und Holz, zwei Artikel,
deren Beschaffung für die Bagdadbahn geradezu eine Lebensfrage ist.
Nach sorgfältiger Prüfung und genauer Besprechung mit sachver-
ständigen Interessenten bin ich daher zu dem Resultat gekommen,
daß das auf der Karte rot schraffierte Gebiet als unsere engere In-
teressensphäre behauptet werden und bei einer eventuellen Liquidation
der Türkei uns zufallen muß.
Der Rest des Landstreifens — auf der Karte durch blaue Schraf-
fierung kenntlich gemacht — kann als unsere weitere Interessen-
sphäre bezeichnet werden. Diese umschließt zwei sehr wertvolle Ge-
biete: das für europäische Ansiedler geeignete westanatolische Hoch-
land und das als Baumwolland einer glänzenden Zukunft entgegen-
gehende mittlere Mesopotamien. Ob und wie weit wir unsere engere
Interessensphäre einmal in diese Gegenden vorschieben können, wird
von unserer wirtschaftlichen Expansionskraft und von unserer Stel-
lung zu unseren Konkurrenten abhängen.
Endlich gibt es in Türkisch-Asien noch eine Zone, wo wir dank
unseren Bahnbauten resp. Konzessionen zwar wesentliche wirtschaft-
liche Interessen besitzen, wo aber vitale fremde Interessen mit den
unsrigen kollidieren, so daß die Ausdehnung unseres politischen
Einflusses auf diese Gebiete unter den heutigen Umständen wohl als
ausgeschlossen gelten muß (auf der Karte rot und blau punktiert).
Ohne Zweifel bringen wir ein schweres Opfer, wenn wir uns sowohl
für die Anfangs- wie für die Endstrecke der Bagdadbahn politisch
desinteressieren. Wirksame Garantien gegen jede wirtschaftliche Be-
nachteiligung und loyale Unterstützung unserer anderweitigen An-
sprüche könnten allein als annehmbare Gegenleistung für diesen
unseren Verzicht in Betracht kommen.
Wangen heim
48
Nr. 15 313
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 288 Therapia, den 26. Mai 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 168 vom 25. d. Mts. *
Da Pforte zu Wünschen Anregung aus den in Telegramm Nr. 286**
entwickelten Gründen nicht geben wird, könnte in Frage kommen, ob
unsererseits in London auf Notwendigkeit deutsch-englischen Zusam-
menwirkens hingewiesen werden kann.
Da England mit Rücksicht auf seine Verbündeten kaum zugeben
wird, daß es eine durchgreifende Reorganisation der ganzen Türkei
betreibt, und sich immer auf Spezialmandat nach Zypernvertrag be-
rufen wird, so müßte zwischen uns und England wie zwischen Auguren
verhandelt werden unter Zugrundelegung etwa folgenden Gedanken-
ganges:
Verwaltung und Gendarmerie brauchen in hiesigen unentwickelten
Verhältnissen unbedingt Rückhalt an Armee. Daher grundsätzliche
deutsch-englische Verständigung über Reformwerk geboten.
Es ist von der Pforte in London bekanntgegeben worden, daß Re-
organisation Armee und Unterricht an Deutschland fallen soll.
Englischer Botschaftsrat*** sagte mir vorgestern spontan:
„Deutschland und England mögen wollen oder nicht, sie werden
durch die Notwendigkeit, die Türkei zu erhalten, zusammengeführt."
Wangenheim
Nr. 15 314
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 289 Konstantinopel, den 26. Mai 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 288 f.
Großwesir sagte mir heute, Hakki Pascha habe telegraphiert, daß
Sir E. Grey seine Zusage bezüglich Entsendung von Reformern für
Süd- bezw. Westanatolien gänzlich, für Osten und Norden teil-
* Siehe Nr. 15 310.
** Siehe Nr. 15 311.
**• C. M. Marling.
t Siehe Nr. 15 313.
4 Die Große Politik. 38. Bd. 49
weise zurückgezogen habe. England wolle nunmehr nur noch für die
Wilajets im Osten und Norden je einen Gendarmerieoffizier sowie
zwei Gendarmerieinspekteure und außerdem einen dem Minister des
Innern zu unterstellenden Generalinspekteur zur Verfügung stellen,
lehne aber die erbetene Entsendung von zwei Generalinspekteuren
für Osten und Norden sowie von je zwei Inspekteuren für Justiz,
öffentliche Arbeiten und Ackerbau ab. Seine veränderte Haltung moti-
viere Sir E. Grey mit der Rücksicht auf die Empfindlichkeit anderer
Nationen, womit nach Mahmud Schewkets Ansicht Frankreich und
Rußland gemeint sind*. Außerdem hat Sir E. Grey Hakki Pascha ge-
sagt, daß mit den Reformen im kleineren und zunächst an den be-
drohtesten Stellen angefangen werden müsse. Spätere Ausdehnung
sei möglich.
Mahmud Schewket ist mit diesem Bescheid insofern nicht zu-
frieden, als er gehofft hatte, daß namhafte Persönlichkeiten zu Ge-
neralinspekteuren ernannt werden und als Kronzeugen gegen russische
Verleumdungen der türkischen Verwaltung in den armenischen Gebieten
dienen würden. Er hat nunmehr nochmals wenigstens um zwei Justiz-
reformer gebeten. Andererseits verkennt Großwesir nicht, daß der
englische Rückzug die deutschen Bedenken zum Teil hinfällig macht
und uns für die Verständigung mit England einen größeren Zeit- und
Spielraum läßt.
Wangenheim
Nr. 15 315
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Konzept
Nr. 950 Berlin, den 27. Mai 1913
[abgegangen am 28. Mai]
Wie Euerer Durchlaucht bekannt, hatte die türkische Regierung
Sir E. Grey kürzlich unter Berufung auf den Zypernvertrag um In-
strukteure, wie sie von England für Ost- und Nordanatolien bereits be-
willigt worden waren, auch für den Westen und Süden Anatoliens
gebeten. Die Reform des gesamten Zivildienstes wurde auf diese
Weise in die Hände Englands gelegt. Im Osten sollten zwei, im
Westen eine Generalinspektion gebildet und den Generaünspektionen
je vier Inspektionen für Justiz, Gendarmerie, öffentliche Arbeiten
und Inneres untergeordnet werden. Den Generalinspekteuren und
Inspekteuren, die keinen türkischen Beamten neben sich haben und
* Vgl. Nr. 15 311, Fußnote*".
50
nur als Kontrolleure, nicht als Exekutivbeamte tätig sein sollten, wollte
man je einen englischen Berater beigeben. Im ganzen war die An-
stellung von siebzehn Engländern beabsichtigt.
Nachdem Sir E. Grey sich ursprünglich zur Annahme des türkischen
Angebots bereit gezeigt hatte, hat er nach einer heute eingegangenen tele-
graphischen Meldung des Kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel*
nunmehr seine Zusagen wegen Entsendung von Reformern für Süd-
und Westanatolien ganz, für den Osten und Norden Anatoliens teilweise
zurückgezogen. Wie der Großwesir Baron Wangenheim mitteilt, will
England jetzt nur noch für die Wilajets im Osten und Norden je einen
Gendarmerieoffizier sowie zwei Gendarmerieinspekteure und außerdem
einen dem Minister des Innern zu unterstellenden Generalinspekteur
zur Verfügung stellen. Die Entsendung von zwei Generalinspekteuren
für den Osten und Norden sowie von je zwei Inspekteuren für Justiz,
öffentliche Arbeiten und Ackerbau lehnt das englische Kabinett ab.
Sir E. Grey motiviert seine veränderte Haltung mit der Rücksicht auf
die Empfindlichkeit anderer Nationen, womit in erster Linie wohl
Frankreich und Rußland gemeint sind. Ferner hat Sir E. Grey Hakki
Pascha gesagt, daß die Reformen in kleinerem Maßstabe und zunächst
an den am meisten bedrohten Stellen in Angriff genommen werden
müßten; später könnten sie dann ausgedehnt werden. Der Großwesir
hat die englische Absage hingenommen und nur noch um die Über-
lassung von zwei Justizreformern gebeten.
Hiernach dürften sich die mit Euerer Durchlaucht hier mündlich
verabredeten förmlichen Vorstellungen bei Sir E. Grey erübrigen. Ew.
pp. wollen sich statt dessen dem englischen Minister gegenüber mehr
akademisch etwa im nachstehenden Sinne aussprechen.
Wir hätten aus Konstantinopel gehört, daß die Pforte der eng-
lischen Regierung die Reform des Zivildienstes nicht nur in Nord-
und Ostanatolien, sondern auch im Westen und Süden des Landes
angeboten, und daß England, nachdem es anfänglich geneigt gewesen
sei, auf dieses Angebot einzugehen, sich schließlich für Ablehnung
entschlossen habe. Wir könnten diesen Entschluß nur dankbar be-
grüßen; denn nach den Vorschlägen der türkischen Regierung würde
sich das englische Reformwerk auch auf solche Gebiete erstreckt
haben, wo Deutschland auf Grund der von ihm geleisteten Kulturarbeit
begründeten Anspruch auf eine ausschlaggebende Rolle bei den Re-
formen hätte erheben müssen. Wären diese Gebiete dem englischen
Einfluß ohne genügende deutsche Beteiligung ausgeliefert worden, so
würde im Volk und in der öffentliühen Meinung Deutschlands ein
Sturm der Entrüstung entstanden sein, dem gegenüber die Regierung
machtlos gewesen wäre. Eine derartige Entwicklung der Dinge würde
die deutsch-englischen Beziehungen in fataler Weise beeinflußt und
• Vgl. Nr. 15 314.
4* 51
die geplanten Abmachungen über Bagdad in Frage gestellt haben. Wir
wüßten uns mit dem englischen Kabinett eins in dem Wunsche, den
asiatischen Besitzstand der Türkei zu erhalten und zu seiner Konsoli-
dierung nach Kräften beizutragen. Dieses Ziel könne aber nur durch
ein enges und loyales Zusammenwirken Deutschlands und Englands
erreicht werden. Hierzu gehöre, daß die beiden Mächte sich über
die Natur der etwa erforderlichen Reformen und die Art und Weise
ihrer Durchführung vorher verständigten und auf jedes Sondervorgehen
verzichteten, das auch nur den Anschein eines Eingriffs in das Arbeits-
feld der anderen Macht erwecke.
König Georg hat Seiner Majestät dem Kaiser ebenfalls mitgeteilt*,
daß die Türkei wegen Gestellung von Reformern sich an England
gewandt und letzteres den türkischen Wünschen zwar nicht voll ent-
sprochen, aber die Stellung von Gendarmerieoffizieren in Aussicht
gestellt habe. Seine Majestät der Kaiser hat hierauf dem König ge-
sagt, daß die Türkei von uns Armeereformer erbeten und allerhöchster
dies zugesagt habe.
J ago w
Nr. 15 316
Der Geschäftsträger in London von Kühlmann an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 341 London, den 28. Mai 1913
Die Frage nach der Zukunft des türkischen Reiches, das von nun
an seinen Schwerpunkt in Asien haben wird, wirft ihre Schatten schon
in die schwebenden Besprechungen über den Friedensschluß. Von
allen Gefahren, die der asiatischen Türkei drohen, ist die aus den
armenischen Verhältnissen entspringende bei weitem die dringendste.
Die Armenier, ein hochbegabtes, aber unruhiges Volk, das nicht
unähnlich den Juden handeltreibend sich über den größten Teil der
bewohnten Erde ausgebreitet hat, lebten ursprünglich mit den kriege-
rischen und grausamen Kurden in einer Art Lehen- und Schutzverhältnis,
bei dem relative Sicherheit für Leben und Eigentum durch ständige
Abgaben erkauft wurde. Die rege, insbesondere von Amerikanern
geleitete Missionstätigkeit, welche durch zahlreiche Schulen und An-
stalten eine junge, mit westlichen Ideen und Bestrebungen erfüllte
Jugend herangezogen hatte, ist sicher für die bedrohliche Unrast der
heutigen Armenier mitverantwortlich, wenn auch nicht zu leugnen
* Gelegentlich der Anwesenheit des englischen Königspaares bei der Vermählung
der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit Herzog Ernst August zu Braun-
schweig und Lüneburg (24. Mai).
52
ist, daß die Armenier von den Kurden häufig schweres Ungemach zu
erdulden haben. Die große Schwierigkeit des armenischen Problems
liegt vor allem in der Geographie und der Verteilung des armenischen
Volkes. Schon jetzt sind die Gebiete, die man als armenisch bezeichnen
kann, zwischen drei Reichen geteilt: der Türkei, Persien und dem
russischen Kaukasus. In der öffentlichen Diskussion wird immer nur
von den türkischen Armeniern gesprochen. Es wäre aber durchaus
falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß es mit den russischen
Armeniern sehr glatt gehe. Jeder, der die Verhältnisse in den kauka-
sischen Gouvernements auch nur einigermaßen studiert hat, weiß,
daß das armenische Element sich dort in ständiger Gärung befindet,
die besten Kerntruppen zu allen räuberischen und revolutionären Unter-
nehmungen liefert und nur mit eiserner Faust niedergehalten wird.
Ein großer Teil der an der persischen Revolution beteiligten Frei-
schärler waren solche kaukasischen Armenier.
All die unzähligen Pläne für die Verbesserung des Loses der
türkischen Armenier scheitern daran, daß nirgends in Türkisch-Asien,
selbst nicht in den gewöhnlich als armenisch bezeichneten Wilajets,
sie auch nur annähernd die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Als
armenisch gelten gewöhnlich die Wilajets von Wan, Diarbekr, Bitlis
und Mamuret. In diesen kommen in Wan auf 424 000 Muselmänner,
Griechen und Christen 81 000 Armenier; sie bilden ein Fünftel der Be-
völkerung. In Diarbekr bilden sie mit 79 000 unter 463 000 Angehörigen
anderer Stämme ein Sechstel, in Bitlis mit 131 000 ein Drittel und in
Mamuret mit 70 000 ein Achtel der nichtarmenischen Bevölkerung (diese
Ziffern sind armenischen Quellen entnommen und sicher eher zu hoch
als zu niedrig gegriffen). Auf die ungefähr 14 500 000 betragende Ge-
samteinwohnerzahl der kleinasiatischen und syrischen Wilajets kommen
im ganzen etwa 1 200 000 Armenier. Es ergibt sich also, daß selbst
da, wo sie am dichtesten wohnen, sie nicht ein Drittel der Bevölkerung
ausmachen, in den anderen Bezirken aber nur eine relativ kleine
Minderheit. Dies läßt den Ausblick für erhebliche Reformaktionen
nicht sehr hoffnungsvoll erscheinen.
Herr Paul Cambon hat, als er noch Botschafter in Konstantinopel
war, am 20. Februar 1894 einen noch immer in hohem Grade lesens-
werten zusammenfassenden Bericht über die gesamte armenische Frage
verfaßt, der zu der melancholischen Schlußfolgerung gelangt: es gibt
keine Lösung der armenischen Frage (Gelbbuch: Affaires armeniennes
1893/97, Seite 11).
Was der armenischen Frage eine erhöhte internationale Bedeutung
gibt, ist der Umstand, daß die Türkei für kleinasiatische Wilajets, vor
allem die armenischen, englische Beamte und Reformer erbeten und
— gutem Vernehmen nach — auch zugesagt erhalten hat. Die einzige
Großmacht, die von Unruhen in Armenien unmittelbar Nutzen ziehen
könnte, ist Rußland, und ein russischer Einmarsch in armenisches Gebiet
53
unter dem Vorwande gefährlicher Unruhen war eine Möglichkeit, mit
der jederzeit gerechnet werden mußte. Niemand weiß dies besser als
die durchschnittlich recht gut unterrichtete englische Regierung.
Andererseits liegt es auf der Hand, daß mit der Entsendung englischer
Reformatoren in großem Umfange England für die Erhaltung der asia-
tischen Türkei eine große moralische Verantwortung übernimmt, die
seinerzeit auch die Möglichkeit von Konflikten mit Rußland in sich
birgt. Die offizielle russische Politik setzt sich ja ebenso wie die eng-
lische für die Erhaltung des Status quo in der asiatischen Türkei ein,
aber die gerade in der russischen Politik besonders häufigen mächtigen
Unterströmungen werden sicher früher oder später eine Politik der
Ausdehnung in Türkisch-Armenien befürworten. Englische Instruktoren,
welche sich auch auf die etwa 70 000 Seelen betragenden, englisch-
amerikanisch erzogenen armenischen Protestanten stützen können,
bilden da einen starken Wall gegen russisches Vorgehen. Von diesem
Gesichtspunkte aus hat die Entsendung englischer Reformer in die
kleinasiatische Verwaltung der Türkei symptomatische Bedeutung. Es
ist sehr gut denkbar, daß neben der nur zeitweise ruhenden persischen
Frage auch die armenische zu einer englisch-russischen Reibungsfläche
werden könnte. Die Zahl der Freunde der russischen Entente ist nicht
im Zunehmen begriffen. Deshalb verdient jedes Symptom doppelte
Beachtung, das darauf hindeutet, daß die Periode des bedingungslosen
dauernden Zurückweichens vor Rußland in Asien sich vielleicht ihrem
Ende nähert.
R. v. Kühlmann
Nr. 15 317
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Privatbrief. Konzept
Berlin, den 31. Mai 1913
[abgegangen am 1. Juni]
Ich erhalte eben den abschriftlich beigefügten Brief von Sir
E. Goschen*. Ich werde, sobald ich Goschen sehe, ihm sagen, daß ein
Mißverständnis vorliegen müsse, da wir eine derartige „impression"
keineswegs hätten. Denn, nachdem uns Grey im Januar versichert
* Der vom 31. Mai datierte Brief des englischen Botschafters lautete: „Sir
Edward Orey teils me that he has been given to understand by Prince Lich-
nowsky that there is an impression in Berlin that England, Russia and France
might have come to some secret agreement for the partition of Asia Minor.
He has asked me to teil that there is no truth whatever in this rumour."
54
hat, daß kein agreement über Asia Minor zwischen den Tripelentente-
mächten bestände, können wir nicht gut an der Loyalität dieser Er-
klärung zweifeln. Ich tue es auch nicht, sondern bin überzeugt, daß
ein solches agreement nicht besteht*.
Andererseits wäre es uns natürlich nicht unerwünscht, einmal
mit England vertraulich über die Zukunft Kleinasiens etc. in einen
Gedankenaustausch zu treten, mit der völlig loyalen und ohne reservatio
verstandenen Absicht, die Türkei in ihrem jetzigen Bestände so lange
als irgend möglich zu erhalten. Letzteres ist unser eigenstes
Interesse, denn eine Liquidation der asiatischen Türkei würde uns
nur in unserer Arbeit stören und große Verlegenheiten bereiten. Aber
die Sache kann bei der Morschheit der türkischen Verhältnisse ohne
unseren Willen anders kommen und der Zerfall schneller eintreten,
als wir wünschen. Für diesen Fall wäre es gut zu wissen, woran wir
mit England sind. Wir haben so große Interessen in Anatolien und
Mesopotamien, daß wir dieselben nicht ohne weiteres anderen
preisgeben können. Man mag über Marschalls Werk der Anatolischen
und Bagdadbahn denken, wie man will, sie wird von unserer öffent-
lichen Meinung als das einzige Fazit unserer Politik der letzten De-
zennien betrachtet. Ein Leerausgehen würde für uns ein zweites
Marokko sein.
* Im gleichen Sinne hatte sich Fürst Lichnowsky schon am 30. gegenüber Sir
E. Grey ausgelassen. In einem Berichte des Botschafters vom 30. Mai (Nr. 346)
heißt es darüber: „Ich fand Gelegenheit, mich dahin auszusprechen, daß uns
an der Erhaltung der asiatischen Türkei außerordentlich viel gelegen sei, und
daß wir auch in dieser Hinsicht auf die britische Mitwirkung rechneten; auch
seien wir davon überzeugt, daß über eine Einteilung in Interessensphären
zwischen Großbritannien und der russischen und der französischen Regierung
nicht verhandelt worden sei, da wir gegebenenfalls auch unsern Anteil in An-
spruch nehmen müßten.
Sir Edward bestätigte vollkommen meine Auffassung und wiederholte mir,
daß er bestrebt sei, die asiatische Türkei zu erhalten, und daß keinerlei
geheime Abmachungen bestünden. Reformen müßten eingeführt werden, doch
sei dies Sache aller Regierungen.
In ähnlichem Sinne hat sich der Minister übrigens gestern auch im House of
Commons ausgesprochen, wo er sagte: ,The question of reforms in Asiatic
Turkey is a matter which concerns all the European Powers who have interests
in Asiatic Turkey.' Von anderer Seite höre ich, daß die hiesige Regierung durch
entsprechende Schritte in Konstantinopel, die von der Gesamtheit aller Mächte
zu erfolgen hätten, sich die Einführung von Reformen für das gesamte Klein-
asien und nicht nur für Armenien verspricht. Die Reform des türkischen Zivil-
dienstes aber durch englische Beamte sei niemals beabsichtigt gewesen, und die
britische Betätigung beschränke sich auf einige wenige Gendarmerieoffiziere,
deren Entsendung man hier mit Rücksicht auf den Zypernvertrag nicht gut
habe ablehnen können.
Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß Sir Edward auch in diesen Fragen
vollkommen offen und aufrichtig mit uns verfahren wird, und daß wir keine
unangenehmen Überraschungen zu gewärtigen haben."
55
Ich schrieb Ihnen, daß Cambon mir angedeutet hat, er wünschte
mit mir über die asiatischen Interessen zu „causer", und daß ich ihn
dilatorisch behandelt habe und weiter zu behandeln gedenke*. Ich
habe dabei im besonderen das Gefühl, daß England wegen seiner
ägyptischen Interessen nicht den Wunsch hat, Syrien und Palästina
einmal an Frankreich zu überlassen. Ich möchte aber in der asiatischen
Türkei mit und nicht ohne England arbeiten.
Ich möchte Sie bitten, von Cambons Anregung Grey gegenüber
nichts zu verlautbaren; denn die Kerls sind doch zu intim, als
daß Grey deswegen nicht in Paris anfragen sollte, und dann fände
die Explikation voraussichtlich auf unsere Kosten statt.
Einstweilen haben sich Revoil und Helfferich in Paris über die
Bagdadbahn unterhalten**; das Resultat werde ich von Helfferich
am Montag erfahren. Eine Unterhaltung über diese Frage ent-
spricht aber auch den Wünschen Greys, wie er neulich an Kühlmann
gesagt hat. Und es ist ein großer Unterschied, ob wir mit Frank-
reich über die Bahn reden oder uns über „Interessensphären" mit
späteren Konsequenzen verständigen.
Jago w
Nr. 15 318
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 172 Therapia, den 29. Mai 1913
[pr. 1. Juni]
Euerer Exzellenz beehre ich mich über die türkischen Pläne
einer Verwaltungsreform für die asiatischen Provinzen, wie sich die
Frage nach meinen verschiedenen Besprechungen mit dem Großwesir
darstellt, noch einmal im Zusammenhang folgendes zu berichten. Es
wird hierbei von wenn auch nur noch retrospektivem Interesse sein,
auf die Rolle, die hierbei England zugedacht war, näher einzugehen.
Zum richtigen Verständnis ist die auf den ersten Blick vielleicht
überflüssig erscheinende Feststellung vorauszuschicken, daß es der
türkischen Regierung bei ihrem Vorgehen in erster Linie darauf ankam,
in den durch fortwährende innere Unruhen aufgewühlten und daher
etwaigen Begehrlichkeiten gewisser Großmächte besonders leicht aus-
gesetzten Teilen des Reiches geordnete Verwaltungszustände zu
schaffen und hierdurch allen unzufriedenen Elementen allen weiteren
♦Vgl. Bd. XXXVII, Kap. CCLXXXVI, Nr. 14 917.
•• Vgl. Bd. XXXVII, Kap. CCLXXXVIII.
56
Grund zur Beschwerde zu nehmen. Die Sorge um die sogenannten
armenischen Wilajets stand hierbei obenan.
Was nach Ansicht der Regierung zur Herstellung besserer Ver-
hältnisse in den von Kurden und Armeniern bewohnten ostanatolischen
Provinzen aber vor allem not tut, ist
1) Regelung der sogenannten Agrarfrage und Versöhnung der hier-
aus zwischen Kurden und Armeniern entstandenen Gegensätze; im
Zusammenhang damit stehen Sanierung und Hebung der Landwirtschaft
im allgemeinen.
2) Bau guter Verkehrswege.
3) Schaffung einer ausreichenden, gut disziplinierten Gendarmerie.
4) Reform des Justizwesens.
Die Pforte begann ihre diesbezügliche Reformtätigkeit bekannt-
lich damit, daß sie den von früheren jungtürkischen Kabinetten aus-
gearbeiteten und der Kammer auch bereits zugegangenen Entwurf
zu einem Wilajetsgesetz in Form eines provisorischen, also noch von
der Genehmigung der künftigen Volksvertretung abhängigen Gesetzes
in Kraft setzte. Über dessen Hauptbestimmungen, die der dezentralisti-
schen Richtung nicht unbedeutende Konzessionen machen, habe ich
unter dem 15. v. Mts. Nr. 109* kurz zu berichten die Ehre gehabt.
Um bei dem Übergang aus dem System strenger Zentralisation in ein
solches mit erweiterten Selbstverwaltungsrechten der einzelnen Pro-
vinzen alles Sprunghafte zu vermeiden, waren dem Wali und der
Zentralregierung gegenüber dem Provinziallandtag noch wesentliche
Rechte vorbehalten worden. Diese an sich durchaus gerechtfertigte
Vorsicht konnte den Vertretern der radikalen Opposition und den
auf eine versteckte Autonomie hinarbeitenden Wühlern nicht passen;
die von der Regierungsmaßregel erwartete wohltuende Wirkung
blieb daher aus. Weder die armenischen Gravamina noch die Be-
wegung an den beiden Unruhezentren Syrien und Basra wurden zum
Schweigen gebracht. Die Armenier insbesondere, die wiederholt die
Erfahrung hatten machen müssen, daß ihnen durch Staatsgesetze
und internationale Verträge feierlich zugesicherte Reformen immer
wieder toter Buchstabe blieben, brachten dem neuen Gesetze von
vornherein wenig Vertrauen entgegen. Immer deutlicher erklang der
Ruf nach einer wirksamen, das heißt europäischen Garantie für die
tatsächliche Durchführung der versprochenen Wohltaten.
Unter diesen Umständen entschloß sich Mahmud Schewket Pascha,
aus eigener Initiative zu demjenigen Mittel zu greifen, welchem er
sich im weiteren Verlauf der Dinge auf ausländischen Druck hin ver-
mutlich doch wohl hätte anbequemen müssen. Die Regierung faßte
den Beschluß, an Stelle der anfangs geplanten Entsendung einer
Spezialkommission unter Leitung eines Ministers, der nur eine vorüber-
• Siehe Nr. 15 295.
57
gehende Aufgabe zufallen konnte, eine Reihe ständiger General-
inspektionen mit bestimmt abgegrenzten Amtsbezirken ins Leben zu
rufen und an die Spitze einiger dieser Aufsichtsbehörden ausländische
Beamte zu berufen.
Es ist zweifellos, vom türkischen Standpunkt aus betrachtet, ein
politisch kluger Schachzug gewesen, daß der Großwesir sich hierbei
zunächst an England gewandt hat. Der Zypernvertrag bestimmt be-
kanntlich als Gegenleistung für die formelle Erklärung Englands, den
türkischen Besitz in Ostanatolien unter Umständen mit Waffengewalt
verteidigen zu wollen, daß „Sa Majeste Imperiale le Sultan promet
ä l'Angleterre d'introduire les reformes necessaires (ä etre
arretees plus tard par les deux Puissances) ayant trait,
ä la bonne administration et ä la protection des sujets chretiens".
Die Anrufung dieses schon vor 35 Jahren geschaffenen casus
foederis mußte England unbequem sein. Doch ging Sir E. Grey zu-
nächst, wenn auch anscheinend widerwillig, auf den Vorschlag ein.
Jede Form, die die englische Aktion ihrer alten antirussischen Ten-
denz entkleiden könnte, mußte aber der englischen Politik willkommen
sein. Andererseits sprachen auf türkischer Seite gewisse Erwägungen
dafür, die englische Mitwirkung bei der geplanten Reform nicht nur
auf Nordostanatolien zu beschränken. Das von einer armenischen
Bevölkerung gleichfalls reich durchsetzte Adana ließ sich schwer aus-
schließen, ohne dort tiefe Mißstimmung zu erregen. Gleichzeitig ver-
sprach sich der Großwesir wesentliche politische Vorteile von dem
Gedanken, Englands Unterstützung für eine Regelung der Inselfrage
möglichst nach türkischen Wünschen dadurch zu gewinnen, daß ihm
die gleiche Reformtätigkeit auch für die westanatolischen Wilajets
eingeräumt würde. Aus einer auf Grund des Zypernvertrages zunächst
nur für Ostanatolien in Aussicht genommenen englischen Mitwirkung
entwickelte sich daher erst im weiteren Verlauf der Plan, England
ein allgemeines Mandat zu übertragen.
Ausschließlich war dieses England zugedachte Mandat jedoch
insofern nicht, als nur ein Teil (drei) der zu gründenden sieben Ge-
neralinspektionen von englischen Beamten besetzt werden sollten. Was
die Zahl und die Aufgaben der dem Generalinspekteur beigegebenen
fremden Hilfsbeamten betrifft, so ergeben sie sich logisch aus dem für
die armenischen Provinzen vorgezeichneten, oben angedeuteten Ar-
beitsprogramm; hierbei ist hervorzuheben, daß der für die innere Ver-
waltung zu berufende Inspekteur nach türkischer Auffassung vorzugs-
weise mit der Aufsicht über das Landwirtschaftswesen betraut werden
sollte.
Der Entschluß, eine Großmacht, und zwar gerade England mit
der Reformaufgabe zu betrauen, wird Mahmud Schewket sicher nicht
leicht gefallen sein. Er ging hierbei von der meiner Ansicht nach
richtigen Erwägung aus, daß die Einräumung entsprechender Rechte
58
an irgendeine zweite Macht sofort zur Kollektivaktion aller Großmächte
führen müßte; hiermit wäre aber den an der türkischen Erbschaft in
erster Linie interessierten Staaten allzu leicht eine Handhabe zur
Schaffung besonderer Einflußsphären gegeben. Wohlerworbene Rechte
sollten jedoch unangetastet bleiben; so verblieb die Armeeorganisation
deutsches, das Gebiet der Finanzreform französisches Arbeitsfeld. Dar-
über hinaus war er noch bereit, uns mit der Reform des Unterrichts-
wesens zu betrauen und auch unseren Sonderwünschen hinsichtlich der
Bagdadbahngebiete insofern entgegenzukommen, als dort von der An-
stellung englischer Inspekteure für öffentliche Arbeiten abgesehen
werden sollte. Das deutsche und französische Reformwerk auf den
ihnen besonders zugewiesenen Gebieten sollte neben und unabhängig
von der englischen Aktion einhergehen.
Durch die in letzter Stunde erfolgte englische Absage werden
Mahmud Schewkets Pläne durchkreuzt. Welches die wahren Beweg-
gründe für die unerwartete Schwenkung Sir E. Greys gewesen sind,
vermag ich von hier aus nur zu vermuten. Es liegt meiner Ansicht
nach in der jetzigen Situation die nicht zu unterschätzende Gefahr, daß
das namentlich von armenischer Seite formulierte Verlangen nach einer
europäischen Garantie für eine wirksame Inangriffnahme der
Reformen schließlich doch noch den Vorwand abgeben wird, euro-
päische Beamte, diesmal aber in neuer Form und unter Be-
teiligung anderer Großmächte, namentlich Rußlands,
der Pforte aufzudrängen.
Mit der vorgeschlagenen Heranziehung englischer Reformer unter
den angedeuteten Bedingungen hätten wir uns meines gehorsamsten
Dafürhaltens zur Not abfinden können. Da, wie ich bereits in meinem
Bericht Nr. 159 vom 21. d. Mts. * hervorhob, Deutschland für die
England zugedacht gewesene Rolle nicht ernstlich in Betracht kommen
konnte, erschien die von Mahmud Schewket gewählte Lösung immerhin
als das geringere Übel. Sie bot jedenfalls den Vorteil, daß ähnlichen
Bestrebungen anderer Mächte und in weiterer Linie auch den auf
Beschleunigung des Zersetzungsprozesses hinarbeitenden Kräften tun-
lichst vorgebeugt wurde. Sie eröffnete uns außerdem Aussichten auf
eine Verständigung mit England oder wenigstens die Möglichkeit zu
einer gemeinsamen, auf die Erhaltung des türkischen Reiches ge-
richteten Arbeit. Andererseits hätte England, falls es sich einem solchen
Zusammenwirken mit uns entziehen wollte, denjenigen Einfluß nicht
ignorieren können, den wir durch unsere maßgebende Stellung in
militärischen Dingen und auf dem Gebiete der Jugenderziehung erlangt
hätten. Wir würden immer in der Lage gewesen sein, durch geschickte
Verwendung der deutschen Militärreformer etwaige englische Sonder-
bestrebungen zu kontrollieren und zu paralysieren.
• Siehe Nr. 15 312.
59
Mahmud Schewket Pascha wird nunmehr darauf angewiesen sein,
das von ihm geplante Reformwerk im wesentlichen ohne ausländische
Beihilfe auszuführen. Türkische Beamte werden jetzt, wenn nicht noch
Unvorhergesehenes eintrifft, auch die den englischen Instrukteuren zu-
gewiesenen Aufgaben allein zu erfüllen haben. Nach den Absichten,
die die türkische Regierung mit der Schaffung der gedachten General-
inspektionen verfolgt, und der Art und Weise zu urteilen, wie deren
Tätigkeit sich zu entfalten haben wird, sollte man zunächst wohl zur
Hoffnung berechtigt sein, daß auch der allein gelassenen Türkei
wenigstens ein gewisser Erfolg nicht ganz versagt bleiben wird.
Die Regierung ist durch die Neuorganisation einen Schritt weiter
auf dem Wege der Dezentralisation gegangen. Zwar nicht in dem von
gegnerischer Seite angeregten Sinne, daß die Befugnisse der provin-
zialen Wahlkörperschaften eine Erweiterung erfahren, in dieser Hinsicht
bleiben die Bestimmungen des Wilajetsgesetzes unberührt. Aber sie
schafft zwischen Provinzialverwaltung und Zentralregierung eine Zwi-
scheninstanz, der ein Teil der früher der Pforte allein zustehenden
Regierungsgewalt übertragen wird. Der Generalinspekteur wird künftig
an Ort und Stelle, ohne an zeitraubende Korrespondenz mit der Zentral-
instanz unbedingt gebunden zu sein, auf Grund seiner Kenntnis der
örtlichen Verhältnisse direkt eingreifen und entscheiden können. In
der richtigen Erkenntnis, daß die verschiedenen Reichsteile nach ihrer
nationalen Eigenart sowie nach ihrer ganzen kulturellen und poli-
tischen Entwickelung erhebliche Unterschiede aufweisen, hat die Re-
gierung ferner die Absicht, die einzelnen Inspektionszonen in erster
Linie nach obigen Gesichtspunkten abzugrenzen und die einzelnen
Generalinspekteure je nach den Umständen mit weiteren oder ge-
ringeren Machtvollkommenheiten auszustatten.
Der Entschluß der Komiteepartei, den früher begangenen Weg
zu verlassen und an Stelle der bisher beliebten Methode, sämtliche
Bewohner des Reiches als gleichberechtigte „Osmanen" nach gleichen
Grundsätzen und Gesetzen regieren zu wollen, eine vernünftige Dif-
ferenzierung der verschiedenartigen Bevölkerung eintreten zu lassen,
ist ein wesentlicher Schritt zur Besserung auf Grund voraufgegangener
trauriger Erfahrungen.
Trotzdem wird man der weiteren Entwickelung nicht ohne Be-
sorgnis entgegensehen müssen. An Gesetzen und Reformprogrammen
hat es der Türkei von jeher viel weniger gefehlt als an den Männern,
die an richtiger Stelle das Richtige zu leisten imstande waren. Daß
mit der Einrichtung einer Reihe von Inspektionsbehörden diesem
Kardinalfehler ohne weiteres abgeholfen sein wird, daran glaubt im
Ernste niemand. Von einigen hervorragenden Persönlichkeiten abge-
sehen — ich denke beispielsweise an Hussein Hilmi Pascha, der an-
geblich für das syrische Generalinspektorat gewonnen sein soll —
dürften die türkischen Inspekteure mit dem neuen Amt schwerlich
60
auch diejenige Unabhängigkeit des Urteils, die Arbeitskraft und Ent-
schlossenheit sowie dasjenige Verantwortlichkeitsgefühl verliehen er-
halten, welche einen vollen Erfolg allein sichern könnten. Schlägt aber
auch dieser Versuch einer Verwaltungsreform fehl, so sind die Folgen
für die Türkei nicht abzusehen.
Wangen heim
Nr. 15 319
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an den
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Privatbrief. Ausfertigung
London, den 2. Juni 1913
Den Ausführungen Ihres Briefes vom 29. v. Mts. * vermag ich
vollkommen zuzustimmen. Auch ich würde es für äußerst bedenk-
lich halten, mit Cambon oder Pichon sich in Unterhaltungen einzu-
lassen, die eine Einteilung Kleinasiens in Interessensphären zum Ziele
hätten, oder bei denen wir gar durchblicken ließen, daß wir dem Ge-
danken einer späteren Aufteilung des türkischen Besitzstandes näher
treten wollten. Daß die Franzosen Absichten auf Syrien haben, ist
ebenso bekannt, als daß von englischer Seite diesen Absichten ent-
gegengetreten worden ist. Wenn Kitchener von Ägypten aus ver-
sucht hat, englische Propaganda in Syrien zu machen und die dort
vorhandenen starken britischen Sympathien zu beleben, so ist das
sicherlich in Paris übel vermerkt worden. Aber auch von hier aus hat
man ihm bedeutet, daß die britische Regierung derartigen Plänen
ablehnend gegenübersteht und wünscht, wie ich wiederholt fest-
gestellt habe, in Gemeinschaft mit uns an der Erhaltung der
asiatischen Türkei zu arbeiten. Der Zerfall der letzteren würde den
britischen Wünschen schon deshalb nicht entsprechen, weil sie unsere
Festsetzung als Mittelmeermacht ungern sehen würde und es auch
schon aus geographischen Gründen schwer fiele, ein für Großbritan-
nien geeignetes Stück herauszuschälen. Nachdem wir nun immerfort
hier betont haben, daß die Erhaltung des türkischen Besitzstandes
in Kleinasien uns unbedingt erforderlich erscheint, würde es den
allerungünstigsten Eindruck machen, wenn es bekannt würde, daß
wir hinter dem Rücken der Engländer mit Frankreich in Unterhand-
lungen uns einlassen, die die Teilung Kleinasiews bezweckten. Bei
dem Abhängigkeitsverhältnis, in dem Frankreich sich zu England be-
findet, ist, wie Sie auch sagen, kaum anzunehmen, daß derartige Be-
* Bei dem Briefe Staatssekretärs v. Jagow vom 29. Mai handelte es sich um
eine Abschrift seines am gleichen Tage an den Botschafter in Paris Freiherrn
von Schoen gerichteten Briefes. Siehe dessen Wortlaut in Bd. XXXVII, Kap.
CCLXXXVI, Nr. 14 917.
61
sprechungen geheim bleiben. Grey ist gerade im Begriff, sich mit
uns über die Bagdadbahnfrage zu verständigen und unseren Wünschen
ein weitgehendes Entgegenkommen zu zeigen *, und würde es als
unfair betrachten, wenn wir gleichzeitig geheime Unterhandlungen
hinter seinem Rücken mit Frankreich führten.
Wenn wir also mit Frankreich in Besprechungen eintreten, so
können dieselben nur allgemein wirtschaftliche Fragen, namentlich
aber die Bagdadbahn und deren Finanzierung betreffen. Hier wünscht
Grey, daß wir uns mit Paris einigen, und hat auch in diestem Sinne
sich Cambon gegenüber ausgesprochen **. Jedenfalls dürfte der Augen-
blick hierfür sehr günstig sein, da die Franzosen wohl teils auf die
englische Anregung hin, teils aber vielleicht auch aus Furcht, daß
wir uns allein mit England verständigen, einer Einigung nicht abgeneigt
zu sein scheinen. Was Sie aber auch tun mögen, vermeiden Sie vor
allem, sich auf Dinge einzulassen, die angeblich hinter dem Rücken
der Engländer verhandelt werden sollen. Damit würden wir bestimmt
hereinfallen, denn es ist doch ganz klar, daß man in Paris, ganz ab-
gesehen von der von Ihnen erwähnten Unzuverlässigkeit der dortigen
Machthaber, nur auf eine Gelegenheit lauert, um wieder Mißtrauen
zwischen uns und den Engländern zu säen. Greys Natur liegt die
Intrige vollkommen fern, aber gerade deshalb würde er sie auch
uns besonders verübeln.
Lichnowsky
Nachschrift
Eben kommt Ihr zweiter Brief***. Ich habe Grey nur gesagt, die
Franzosen scheinen sich mit uns seinen Wünschen entsprechend über
Bagdadbahn und Finanzfragen verständigen zu wollen. Es liegt ihm
dies sehr am Herzen.
Nr. 15 320
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept
Nr. 175 Berlin, den 4. Juni 1913
Zur schleunigen Verwertung:
Fürst Lichnowsky ist beauftragt!, in nächster Botschaftersitzung
• Vgl. dazu Bd. XXXVII, Kap. CCLXXXV.
•• Vgl. dazu Bd. XXXVII, Kap. CCLXXXVI.
*** Hier handelt es sich um den Privatbrief Staatssekretärs v. Jagow vom
31. Mai; siehe Nr. 15 317.
f Es war durch Telegramm Nr. 314 vom 3. Juni geschehen, nachdem Fürst
62
zu beantragen, daß angesichts ihrer Dringlichkeit armenische Reform-
frage auf Programm der Versammlung gesetzt wird. Wir haben uns zu
diesem Schritt entschlossen, weil wir Grund zur Annahme haben, daß
sonst andere, nicht türkenfreundliche Mächte armenische Frage in
die Hand nehmen wollen*, und wir es im türkischen Interesse für
notwendig halten, das Prävenire zu spielen. Wir hoffen, daß Groß-
wesir einverstanden ist.
Jagow
Lichnowsky mittels Bericht Nr. 350 vom 31. Mai (siehe Bd. XXXIV, Kap.
CCLXX1I, Nr. 13 354), das weitere Programm der Botschaf terreunion mitgeteilt
hatte.
* Ursprünglich scheint Sir E. Grey selbst die Absicht gehabt zu haben, die
armenische Frage auf der Londoner Botschaf terreunion vorzubringen; er fügte
sich aber dem Einspruch der russischen Regierung, die sich mehr von Be-
sprechungen der Frage durch die Konstantinopeler Botschafter versprach. Vgl.
das Geheimtelegramm Sasonows an Graf Benckendorff vom 25. Mai 1913, Der
Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 166. Es heißt
darin: „Wie wir hoffen, wird er — Sir E. Grey — verstehen, daß, obwohl wir
gern seinem Wunsche nach der Wahl Londons als Ort der Besprechungen statt-
geben möchten, Gründe politischer und praktischer Art uns zwingen, auf Kon-
stantinopel zu bestehen, wo die Botschafter besser unterrichtet und in Fühlung
mit der Pforte und den Armeniern eher in der Lage sind, die ihnen zu über-
tragende Aufgabe zu erledigen." Ein zweites Geheimtelegramm Sasonows an
Benckendorff vom 28. Mai (a. a. O., III, 170) beweist, daß die russische
Regierung gar nicht an allgemeine Botschafterbesprechungen, sondern an
Besprechungen der Ententebotschafter unter Ausschluß vor allem Deutschlands
dachte: „Bitte fragen Sie Grey, ob er keine Bedenken dagegen hat, daß unser
Botschafter in Konstantinopel sich mit der Pforte in freundlichem, aber be-
stimmtem Ton ausspricht, ohne England zu nennen, indem er aber auf jede
Macht Bezug nimmt, die von der Türkei unter Ausschluß von uns eingeladen
werden könnte. Ein derartiger Schritt würde das beste Mittel sein, um der
Gefahr der Einladung deutscher Offiziere durch die türkische Regierung vor-
zubeugen. Eine Auseinandersetzung mit dem Berliner Kabinett erscheint uns
verfrüht. Denn es würde unmöglich sein, Deutschland an der Initiative, die wir
den Dreiverbandsmächten vorbehalten möchten, nicht zu beteiligen." Tatsäch-
lich traten in Konstantinopel zunächst die Botschafter der Tripelentente zu Vor-
besprechungen zusammen. Am 7. Juni meldete Botschafter von Giers anSasonow:
„Mir wäre es sehr erwünscht, wenn vor der Erörterung der Frage auf einer
Sitzung aller Botschafter zwischen uns dreien ein volles Einverständnis erzielt
wäre, und zwar um so mehr, als ich einen starken Widerstand von seiten der
Botschafter Österreichs und Italiens voraussehe, namentlich von seiten des
ersteren, obwohl es keinerlei österreichische und italienische Interessen in
Armenien gibt, aber weil beide der Türkei gefällig sein wollen." A. a. O., III,
172. Kurz darauf entschloß sich die russische Regierung wohl auf englisches
Andringen doch, die Mächte zu Botschafterbesprechungen in Konstantinopel
einzuladen. Vgl. Nr. 15 331.
63
Nr. 15 321
Der Botschafter in Rom von Flotow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 153 Rom, den 4. Juni 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 193*.
Marquis di San Giuliano, lebhaft überrascht durch Absicht Kaiser-
licher Regierung, armenische Reformfrage auf Programm Botschafter-
reunion zu setzen, bittet zunächst um einige Aufklärung über Motive.
Anschneiden armenischer Reformfrage bedeute Aufrollen aller asiati-
schen Fragen und sei von unübersehbarer Tragweite.
Flotow
Nr. 15 322
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Rom von Flotow
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 194 Berlin, den 4. Juni 1913
Bitte Marquis di San Giuliano streng vertraulich mitteilen, daß wir
uns der Gefahr des Anschneidens armenischer Reformfrage wohl be-
wußt sind, aber Grund zur Annahme haben, daß sonst Rußland Frage
allein bezw. mit Entente ohne Dreibund zu lösen sucht, wir daher
für besser halten, unverzüglich Prävenire zu spielen. Hiesiger tür-
kischer Botschafter ist gleicher Ansicht. Bitte Marquis di San Giuliano,
diese Motive geheimzuhalten.
Jagow
Nr. 15 323
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 139 Wien, den 4. Juni 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 229**.
Graf Berchtold wird österreichisch-ungarischen Vertreter in Lon-
don entsprechend instruieren.
Tsch irs chky
* Durch Telegramm Nr. 193 vom 3. Juni war Flotow von der Absicht in
Kenntnis gesetzt, die armenische Reformfrage auf das Programm der Bot-
schafterreunion zu setzen, und angewiesen, die italienische Regierung um Unter-
stützung dieses Vorhabens anzugehen. Ein Gleiches geschah durch Telegramm
Nr. 229 nach Wien.
•• Vgl. Nr. 15 321, Fußnote*.
64
Nr. 15 324
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 354 London, den 2. Juni 1913
[pr. 5. Juni]
Bei meinem heutigen Besuch bei Sir Edward Grey brachte ich die
Sprache nochmals auf die Frage der anatolischen Reformen und hob
dabei hervor, wie großen Wert wir darauf legten, in völliger Über-
einstimmung mit der britischen Regierung vorzugehen, damit auch
jeder Anschein vermieden werde, als wolle eine der Mächte der anderen
gegenüber eine Vorzugsstellung einnehmen. Wir hätten es daher
dankbar begrüßt, daß der Minister es abgelehnt habe, der Türkei
ein zahlreiches Reformerpersonal zur Verfügung zu stellen, welches
auch die Zivilverwaltung erhalten sollte. Eine derartige Ausdehnung
des britischen Einflusses würde bei uns mißverstanden werden und
könnte der öffentlichen Meinung Anlaß zu Beunruhigungen geben.
Wir stünden nach wie vor auf dem Standpunkt, daß die europäische*
Türkei erhalten werden müsse, und ich hätte Euerer Exzellenz ver-
sichert, daß die britische Regierung dieselben Absichten verfolge und
ihr jeder Plan einer Aufteilung Kleinasiens vollkommen fernläge. So-
lange auch Großbritannien diesen Gedanken verträte, würden wir
die bisherige Zurückhaltung bewahren und uns auf unsere wirtschaft-
lichen Interessen beschränken, sollte aber jemals, was wir nicht
wünschten, eine Teilung der Türkei eintreten, so würden auch wir
unseren Anteil beanspruchen und könnten nicht leer ausgehen.
Was die Frage der Reformen beträfe, so seien auch wir von der
Notwendigkeit derselben überzeugt; namentlich müsse etwas, und zwar
möglichst schleunigst, in Armenien geschehen, da dort unhaltbare Zu-
stände herrschten. Wir seien bereit, uns hierüber wie in der Frage
der Allgemeinreformen mit Großbritannien zu verständigen. Auch
hätten wir aus seiner Rede mit Genugtuung ersehen, daß er diese
Frage als eine Angelegenheit aller Mächte betrachte, mithin keine
Vorzugsstellung einer einzelnen anstrebe.
Sir Edward erwiderte, daß die Türkei ihn mit der Bitte um Ge-
währung eines zahlreichen Stabes von Beamten und Offizieren an-
gegangen habe. Mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit und die Rechte
anderer Mächte, namentlich auch auf uns, habe er es abgelehnt, den
türkischen Wünschen zu willfahren. Er habe sich darauf beschränkt,
einige wenige Offiziere für die Gendarmerie in Aussicht zu stellen,
* Wohl verschrieben für „kleinasiatische".
5 Die Große Politik. 38. Bd. 65
die aber nur provisorisch hingeschickt werden sollten und vielleicht
in den Rahmen eines späteren größeren Reformwerks hineingepaßt
werden könnten. Auch sollten diese nicht für die ganze Türkei, son-
dern nur für einige Provinzen Verwendung finden. Er habe diese Bitte
schon deshalb nicht ablehnen können, weil er sonst die Verantwortung
für etwaige Massakers auf sich genommen hätte. Reformen müßten
von den Mächten gemeinsam ausgehen und könnten vielleicht in
Armenien ihren Anfang nehmen. Vielleicht ließe sich das armenische
Statut nach den Vorschlägen der Botschafter des Jahres 1895 als
Grundlage verwenden auch für die anderen Provinzen. Er frug mich,
ob wir hinsichtlich der Reformen irgendwelche Vorschläge zu machen
hätten. Ich verneinte dies und forderte ihn auf, seinerseits mit An-
regungen hervorzutreten. Er wiederholte, daß er die Türkei erhalten
wolle und keine Teilungspläne hege.
Sir Edward scheint sich noch nicht ganz im klaren zu sein, nach
welchen Grundsätzen die Mächte zu Reformen ihre Hand bieten sollen,
ob nach Verwaltungszweigen oder Interessensphären. Ich warnte vor
letzterer Lösung und hob hervor, daß die Abgrenzung von Interessen-
sphären auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen und leicht zu uner-
wünschten Folgen führen könne. Jedenfalls beschäftigt ihn der Ge-
danke der Interessensphären und ist es auch bezeichnend für seinen
guten Willen, daß er mit uns davon spricht, unter Umständen also
bereit ist, unsere Interessensphären anzuerkennen.
Li ch no ws ky
Nr. 15 325
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 226 London, den 5. Juni 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 317*.
Habe gestern Sir E. Grey, der hier speiste, vertraulich von unseren
Wünschen in Kenntnis gesetzt. Der Minister schien Verhandlung
armenischer oder anatolischer Reformen hier nicht zu wünschen, da
sonst der ganze Sommer darüber hingehen werde. Er bezeichnete
Botschafter in Konstantinopel als geeignetes Forum, wollte mich aber
noch heute vor Sitzung darüber sprechen.
Li ch no ws ky
• Durch Telegramm Nr. 317 vom 4. Juni war Fürst Lichnowsky im An-
schluß an Telegramm Nr. 314 (siehe Nr. 15 320, Fußnote f) angewiesen
worden: „Bitte vor Anschneiden armenischer Reformfrage weitere Instruktion
abwarten, da wir noch Antwort aus Konstantinopel erwarten."
66
Nr. 15 326
Der Botschafter in Rom von Flotow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 154 Rom, der* 5. Juni 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 194*.
Sehr ungern und nach längerem Drängen hat Marquis di San
Giuliano seinen Widerstand gegen Aufnahme armenischer Reform-
frage in London fallen lassen. Er argwöhnte, daß Kaiserliche Regierung
zu Vorgehen nur durch türkischen Botschafter Berlin bewogen worden
sei. Aktion sei gefährlich und zweischneidig. Jedenfalls müsse man
in London so vorgehen, daß Empfindlichkeit der Türkei geschont und
Dinge so dargestellt würden, als handle es sich um Schutz der
Türkei. Habe ihn darauf hingewiesen, daß unsere ganze Politik auf
Erhaltung und Schutz der Türkei gehe. Minister meinte, nach seinen
Informationen sei Lage in Armenien zurzeit weniger schlecht.
Flotow
Nr. 15 327
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 300 Therapia, den 5. Juni 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 175**.
Oroßwesir erwiderte sichtlich betreten, nach seinen bisherigen
Informationen läge bei anderen Mächten keine Absicht vor, Armenier-
frage auf Programm Botschafterversammlung zu setzen. Er werde
Tewfik Pascha telegraphisch um seine Ansicht bitten und morgen
nachmittag mir näher Rede stehen.
Wenn unsere Anregung auch dringend geboten erscheint, sobald
Anschneidung der Frage von türkenfeindlicher Seite feststeht — was
ich Mahmud Schewket gegenüber vertreten habe — , so hängt ihr Er-
folg doch ausschließlich von der Form ab, in welche sie von Fürst
Lichnowsky gekleidet wird. Enthält sie eine Kritik der Türkei und
eine Anerkennung der maßlos übertriebenen armenischen Ansprüche,
so würde dies das Selbstgefühl der Armenier steigern und könnte leicht
zu Provokationen führen, die, wie seinerzeit in Adana, mit Massakers
enden würden. Die armenischen Provinzen sind gegenwärtig von
Truppen fast gänzlich entblößt.
Wangenh eim
* Siehe Nr. 15 322.
•* Siehe Nr. 15 320.
5* 67
Nr. 15 328
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 177 Berlin, den 6. Juni 1913
Unsere Anregung ausgeht nur von dem Wunsch, eine unvermeid-
liche Frage möglichst schonend für Türkei zu gestalten. Sir Edward
Grey scheint wenig geneigt, Frage in London zu verhandeln, um Aus-
dehnung dortiger Konferenz zu vermeiden, und würde voraussicht-
lich Konstantinopel vorschlagen.
Falls dies Wünschen des Oroßwesirs entspricht, würden wir dies-
bezüglichen Antrag stellen. Bitte Großwesir nach seinen Wünschen
betreffend Form fragen, da wir uns möglichst danach richten wollen.
J ago w
Nr. 15 329
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 326 Berlin, den 7. Juni 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 324*.
Baron Wangenheim telegraphiert**:
„Großwesir sagte mir, er habe wegen Anregung der armenischen
Frage durch uns mit verschiedenen politischen Freunden gesprochen.
Letztere hätten übereinstimmend die Meinung geäußert, daß Deutsch-
land sich von den Mohammedanern ab- und den Armeniern zuwende,
worauf auch schon der Flottenbesuch in Mersina und Alexandretta ***
hingedeutet hätte. Er persönlich wisse ja, daß es uns nur darauf an-
komme, die Armenier nicht ganz unter russischen Einfluß fallen zu
lassen. Die Feinheit einer solchen Politik könne er aber kaum einem
Kollegen, geschweige denn dem Volk verständlich machen. Ihm schiene
es mehr im deutschen und türkischen Interesse zu liegen, wenn die
Frage von türkenfeindlicher Seite angeschnitten würde. In einem
solchen Falle würde er sofort durch amtliche Kundgebung darauf hin-
weisen können, daß die armenischen Schwierigkeiten lediglich durch
die Weigerung Rußlands hervorgerufen seien, Straßen und Eisenbahnen
* Durch Telegramm Nr. 324 waren das Konstantinopeler Telegramm Nr. 300
(siehe Nr. 15 327) und der Erlaß Jagows nach Konstantinopel Nr. 177 (siehe
Nr. 15 328) dem Fürsten Lichnowsky mitgeteilt worden.
•* Telegramm Nr. 302 vom 6. Juni.
*** Vgl. Nr. 15 289, 15 302. Vom 12. April ab war durch die Kreuzer „Straß-
burg" und „Dresden" ein regelmäßiger stationärer Dienst vor Alexandretta
und Mersina aufgenommen worden.
68
in den bedrohten Gebieten bauen zu lassen. Zu einer deutschen
Initiative müsse die Türkei schweigen. Welche Wirkung unser Vor-
gehen auf die Armenier ausüben werde, brauche er mir nicht zu sagen."
Unter diesen Umständen bitte von Anregung der Frage auf Kon-
ferenz absehen, da wir wegen unserer vielfachen Interessen in der
Türkei auf deren Wohlwollen angewiesen sind. Sollte Frage von
anderer, das heißt Tripelentente-Seite angeregt werden, bitte zu erklären,
daß armenische Reformen Mitwirkung aller Großmächte erfordern.
Bitte ferner Sir Edward Grey vertraulich sagen, daß wir von Anregung
armenischer Reformfrage auf dringende Warnung des Kaiserlichen
Botschafters in Konstantinopel Abstand nähmen, der von solcher An-
regung eine Ermutigung der Armenier zu erneuter Agitation und Ver-
schlechterung der Zustände in Armenien, wo jetzt relative Ruhe
herrsche, befürchtet. Sollte aber Anregung der Reformfrage von anderer
Seite nicht zu vermeiden sein, so müßten wir selbstverständlich Teil-
nahme an Beratungen und Beschlüssen verlangen.
Jagow
Nr. 15 330
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 178 Berlin, den 7. Juni 1913
Auf Telegramm Nr. 302*.
Bitte Großwesir folgendes sagen: Obwohl wir glaubten, daß eine
von uns ausgehende Anregung der armenischen Reformfrage für Türkei
nur vorteilhaft gewesen wäre, wollten wir doch davon Abstand nehmen,
um Wünschen des Großwesirs zu entsprechen.
Jagow
Nr. 15 331
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 182 Berlin, den 8. Juni 1913
[abgegangen am 9. Juni]
Russischer Botschafter mitteilte mir heute **, da Nachrichten über
Zustände in armenischen Wilajets immer bedrohlicher lauteten, fordere
• Vgl. Nr. 15 329 nebst Fußnote**.
** Der mündlichen Mitteilung vom 8. Juni folgte am 11. die Übergabe eines
schriftlichen Aide-memoire. Bei dieser Gelegenheit hatte Staatssekretär von
69
Rußland, welches als Grenzstaat und wegen seiner eigenen armenischen
Bevölkerung am meisten an Aufrechterhaltung der Ruhe interessiert
sei, die Großmächte durch Zirkularnote auf, ihre Botschafter in Kon-
stantinopel anzuweisen, daß sie in Beratungen über Reformen träten.
Grundlage der Beratungen würde am zweckmäßigsten Statut von
1895 sein.
Da Reformwerk sonst zweifellos ohne uns nur seitens Tripelentente
in Angriff genommen würde, habe ich zugesagt, Euerer Exzellenz ent-
sprechende Weisungen zu erteilen, und hinzugefügt, daß ich als
selbstverständlich annehme, daß Pforte zu Botschafterberatungen zu-
gezogen wird.
Euere Exzellenz wollen mit Ihren Kollegen ins Benehmen treten und
Großwesir vertraulich informieren.
J ago w
Nr. 15 332
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 307 Therapia, den 9. Juni 1913
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 178*.
Großwesir meinte, unsere Anregung sei durch das russische Vor-
gehen gegenstandslos geworden. Für die Türkei wäre die deutsche
Initiative, deren gute Absicht er jetzt erst recht erkenne, vorteilhafter
gewesen; der deutschen Stellung in der Türkei werde unsere Zurück-
haltung nur nützlich sein.
Wangenh eim
Jagow mit dem russischen Botschafter Sverwejew eine ernstliche Aussprache,
bezüglich deren es in einem Telegramm Sverwejews an Sasonow vom 11. Juni
(Russisches Orangebuch: Les Reformes en Armenie, p. 45s., Mandelstam, Le
Sort de l'Empire Ottoman, p. 215 s.) heißt: „Le secretaire d'Etat etait
visiblement contraria de ce que le gouvernement imperial, en prenant l'initiative
dans cette question, avait devance Paction que se proposait l'Allemagne . . .
Cependant, M. von Jagow promit d'autoriser le Baron von Wangenheim ä entrer
en Communications avec ses collegues, mais il fit observer en meme temps,
que l'areopage des ambassadeurs ne devrait pas prendre vis-ä-vis de la Porte
la forme d'un tribunal sans appel, et que la Turquie devrait etre appelee a
prendre une certaine part ä l'elaboration des reformes." Am 12. beantwortete
Staatssekretär von Jagow das russische Aide-memoire auch schriftlich: „Je vois
que nos Allies" — gemeint war Italien — „ont ou vont ajouter ä leur reponse
qu'il faudra eviter tout ce qui pourrait porter prejudice ä l'integrite de l'Empire
Ottoman et ä la souverainete du Sultan. — J'ai considere cette reserve comme
selbstverständlich' — d'autant plus qu'elle me semble conforme ä l'esprit de
votre proposition — , je n'hesite toutefois pas ä declarer que nous partageons
entierement les points de vue de cette reserve."
* Siehe Nr. 15 330.
70
Nr. 15 333
Der Botschaf ter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Privatbrief. Ausfertigung
Therapia, den 7. Juni 1913
[pr. 11. Juni]
Nach Empfang Ihrer für mich hochinteressanten Zeilen vom
2. d. Mts. * habe ich sofort mein Urlaubsgesuch zurückgezogen. Ich
verstehe vollkommen, daß Ihnen aus meiner auch nur kurzen Ab-
wesenheit von hier Unbequemlichkeiten entstehen könnten, besonders
angesichts der jetzt wieder schärfer einsetzenden alldeutschen Hetze-
reien. Andererseits hätte ich den dringenden Wunsch gehabt, Sie auch
nur für eine Stunde zu sprechen. Ich bin hier gar nicht im Bilde unserer
gegenwärtigen Stellung zu England, von der ja unsere Stellung zur
Orientfrage gegenwärtig in erster Linie abhängt. Ferner fühle ich das
dringende Bedürfnis, mit Ihnen die wirkliche Lage der Türkei zu
besprechen. Ich glaube, daß wir dieselbe zu pessimistisch beurteilen
und uns zu sehr mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, daß die
geschlagene Türkei ihren Gegnern gänzlich wehrlos gegenüberstehe.
Ich weiß, daß Giers, Bompard und Lowther etwa in diesem Sinne be-
richten. Das muß auf die bei der Londoner Konferenz herrschende
Stimmung abfärben. Ich befürchte, daß dort Beschlüsse gefaßt werden,
die ohne Gewaltmaßregeln nicht durchzuführen sind. Sehr zweifelhaft
ist es mir, ob mein Einfluß ausreichen wird, Mahmud Schewket zum
Verzicht auf die Inseln zu bestimmen**. Ich fürchte immer, daß er
schließlich der Sache müde wird und sein Amt niederlegt***. Dann
kommt es hier zur Anarchie, und die Katastrophe ist da. Sind wir
auf dieselbe vorbereitet und sicher, daß England uns eine zunächst
administrative Festsetzung in Cilicien gestattet?
Ihnen steht gegenwärtig kein Berater zur Seite, der die Türkei
aus eigener Anschauung wirklich kennt. Da ich diesen Mangel durch
meine Berichterstattung nur unvollkommen und durch einen münd-
lichen Vortrag nicht ersetzen kann, so würde ich es mit Freuden be-
grüßen, wenn einer Ihrer Herrn wenigstens für ein paar Tage mich
hier besuchen wollte, damit ich ihm an der lebenden Materie meine
Auffassung erläutern könnte. Meine Frau bittet heute Mirbach f , meine
Schwiegermutter hierher zu bringen. Vielleicht könnten Sie ihn oder
irgendeinen anderen für kurze Zeit entbehren. Selbstverständlich würde
der Betreffende hier mein Gast sein.
* Nicht bei den Akten.
** Vgl. dazu Bd. XXXV, Kap. CCLXXV.
*** Er wurde wenige Tage darauf (11. Juni) ermordet.
t Graf Mirbach, Vortragender Rat im Auswärtigen Amt.
71
Besonders erwünscht wäre mir die Rücksprache wegen der arme-
nischen Frage. Ich durfte Ihnen schon schreiben, daß unsere Initiative
mir geboten scheint, wenn dieselbe tatsächlich der gefährlicheren
Initiative anderer Mächte zuvorkommt. Wir leisten dann der Türkei
einen Dienst und beweisen gleichzeitig, daß wir in allen kleinasiatischen
Fragen jetzt mitreden wollen. Ich vermutete, daß die Armenierange-
legenheit auf der Botschafterkonferenz als eine unter vielen Fragen ge-
prüft werden solle. Nunmehr will aber Sir E. Grey, wie es scheint,
eine wirkliche Armenierkonferenz in Konstantinopel abhalten. Ich halte
dies für einen außerordentlich gefährlichen Gedanken. Was Ruß-
land und natürlich auch Frankreich bezüglich der Armenier anstreben,
geht aus der Druckschrift (Programm der cilicischen Armenier*) her-
vor, die mir mit dem gestrigen Depeschenkasten zugegangen ist. Die
Schrift ist auf dem hiesigen Patriarchat verfaßt, das von Rußland
finanziell unterstützt wird. Was in der Schrift steht, sind also russische
Wünsche. Rußland soll das Recht bekommen, die Ostprovinzen so
lange zu annektieren, bis die Reform durchgeführt ist. Cilicien aber
soll autonome Provinz werden, also nicht nur für jetzt, sondern auch
im Hinblick auf spätere Eventualitäten unserm Einfluß gänzlich ent-
zogen werden. Welche Stellung sollen wir nun einnehmen, wenn Ruß-
land unterstützt von Frankreich auf der hiesigen Konferenz mit der-
artigen Gedanken hervortritt? Es muß dann zu einem Konflikt zwischen
uns und dem Zweibund kommen, wobei England lau zur Seite stehen
würde. Danach wäre es zu vermeiden, daß unsere Beratungen sich zu
einer die ganze Türkei erschütternden Vorbereitung einer Intervention
auswachsen. Ich würde meine Aufgabe darin erblicken müssen, von
vorneherein das Niveau unseres Konsiliums herabzudrücken und die
Verhandlungen auf ein ungefährliches Geleise zu schieben. Zunächst
würde ich beantragen, daß den Botschaften zum gründlichen Studium
der Frage einige Monate Zeit gelassen werde. Tatsächlich wissen wir
ja nichts über Ostanatolien und müßten erst einmal einen Konsul dort-
hin schicken, damit er sich genau informiert. Dann würde ich be-
antragen, daß die Beratungen nicht zwischen den Botschaftern,
sondern zwischen den Dragomans stattfinden. Im Plenum würde
es sicher zu harten Zusammenstößen kommen, da ja Rußland
von Straßen- und Wegebau nichts wissen will. In London, wo niemand
außer Cambon sachverständig ist, würde es sich wahrscheinlich leichter
verhandeln lassen. Hier ständen unsere Besprechungen unter dem
Drucke der Armenier. Kommt dabei nichts heraus, so wird Rußland
dafür sorgen, daß seine Forderungen durch Bomben und Massakers
illustriert werden. Werden dagegen die Armenier befriedigt, so be-
ginnen sofort die Syrier und Araber sich zu rühren. Die Konferenz
kann also sehr leicht zu dem Kataklysmus führen, der durch unsere
* Näheres darüber bei A. Mandelstara, Le Sort de l'Empire Ottoman, p. 212 s.
72
Anregung gerade vermieden werden soll. Es dürfte demnach in unserem
Interesse liegen, wenn das Programm von vorneherein auf das äußerste
beschränkt wird. Vielleicht kommt dabei doch etwas für die Armenier
heraus. Eine radikale Lösung der Frage ist ohne Zusammenbruch der
Türkei ausgeschlossen.
Wangenheim
Nr. 15 334
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 182 Therapia, den 10. Juni 1913
Niemand wird behaupten können, daß es den Armeniern im
türkischen Reiche besonders gut geht. Auf der anderen Seite aber
wird kaum jemand zu beweisen vermögen, daß es den übrigen Be-
wohnern der Türkei und namentlich den Türken selbst besser geht
als den Armeniern, oder daß die Lage der Armenier heute schlechter
sei als zu irgendeinem früheren Zeitpunkte der türkischen Geschichte.
Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß die jetzige türkische Regierung
von der Notwendigkeit, etwas für die Armenier zu tun, vollkommen
überzeugt und gewillt ist, den armenischen Wünschen so weit ent-
gegenzukommen, als dies ohne Sprengung des Zusammenhangs zwi-
schen den einzelnen Teilen des Reiches überhaupt möglich ist. Die
Armenier sind in der Türkei heute immer noch verhältnismäßig besser
daran als die Juden, Polen und Finnen in Rußland. Trotzdem ist
heute eine mit den radikalsten Mitteln arbeitende Propaganda damit
beschäftigt, überall auf der Welt den Eindruck hervorzurufen, als
ob die Leiden der Armenier sich von Tag zu Tag steigerten und jetzt
einen Höhepunkt erreicht hätten, der das Eingreifen Europas nötig
machte. Delegierte der Armenier bereisen wehklagend die europäischen
Hauptstädte, und hier ist ein Bureau errichtet, in welchem die Be-
schwerden der Armenier aus allen türkischen Provinzen zusammen-
laufen, um dann geschickt redigiert in Tausenden von Bulletins über
die ganze Welt verbreitet zu werden. Der Kaiserlichen Botschaft gingen
solche gedruckte Anklagen früher etwa einmal wöchentlich zu. Jetzt
erhalte ich sie ein- bis zweimal täglich. Es ist deutlich eine syste-
matische Steigerung der Agitation zu bemerken, ohne daß aus anderen
als aus armenischen Quellen irgend etwas über eine Zunahme türki-
scher Ausschreitungen verlautete. Die Gründe der Hochspannung der
armenischen Agitation liegen ziemlich klar zutage. Die christlichen
73
Stämme in der europäischen Türkei sind vom Türkenjoche befreit
worden. Nunmehr wollen auch die kleinasiatischen Christen befreit
werden. Speziell den Armeniern aber fehlt es an dem befreienden
Bruderlande, das für sie zum Schwerte greifen könnte. Sie sind daher
auf den guten Willen der Großmächte angewiesen. Nach ihrer An-
sicht darf der Moment, wo die Kabinette sich mit der Liquidation der
europäischen und mit der Zukunft der asiatischen Türkei beschäftigen,
nicht unbenutzt vorübergehen. Wären die Armenier vernünftig, so wäre
eine Einigung zwischen den Mächten und der Türkei über eine Ver-
besserung ihres Loses bei den heutigen Verhältnissen leicht erzielbar.
Nun gehen aber die armenischen Forderungen weit über das Maß des-
jenigen hinaus, was die Türkei, ohne ihre eigene Existenz zu gefähr-
den, gewähren kann. Die Macht, welche die Ansprüche der Armenier
in die Höhe schraubt, ist Rußland. Mit Hilfe des Katholikos, des hiesigen
armenischen Patriarchen und zahlloser Agenten in allen armenischen
Gebieten sowie unter Aufwand bedeutender Geldmittel schürt Ruß-
land seit Jahren die Unzufriedenheit der Armenier. Es verhindert, daß
in Ostanatolien Wege und Eisenbahnen gebaut werden, ohne welche
die türkische Regierung gar nicht in der Lage ist, zwischen Kurden
und Armeniern Ruhe zu stiften. Ja, es unterstützt neben den Armeniern
auch die Kurden mit Geld und Waffen, damit diese ihr Räuberleben
auf Kosten der Armenier fortsetzen können. Auch das hiesige arme-
nische Zentralkomitee empfängt Geld und Ratschläge von der russischen
Botschaft. Die armenische Bewegung ist das Mittel, durch welches
Rußland die asiatische Türkei in steter Aufregung und in einem Zu-
stande erhält, welcher es Rußland in dem gegebenen Augenblicke
gestattet, als interessierter Grenzstaat für sich das Recht der Inter-
vention in Anspruch zu nehmen. Mit Hilfe der armenischen Frage
will Rußland sich den Weg nach Konstantinopel offen halten. Sie ist
der Schlüssel, der dereinst die Meerengen öffnen soll. Meerengen-
und armenische Frage hängen für Rußland zusammen, und man
kann mit Bestimmtheit annehmen, daß, sobald von St. Petersburg aus
über die Not der Armenier geklagt wird, ein neuer russischer Vorstoß
in der Richtung auf Konstantinopel bevorsteht. Ich vermag daher die
Ansicht mehrerer meiner Kollegen nicht zu teilen, welche die jetzige
Anregung Rußlands auf den Wunsch dieser Macht zurückführen, das,
was ihr mit dem Scheitern des Balkanbundes an Prestige in Europa
verloren gehen könne, in Kleinasien wieder zu erobern. Es handelt
sich zweifellos nicht um eine spontane Regung der russischen Politik,
sondern um die letzte Etappe einer sorgfältig vorbereiteten Aktion
größten Stils. Die Armenier wurden von Rußland schon mit Hoch-
druck bearbeitet, als die Balkanvölker noch gemeinsame Siegesorgien
feierten.
Russische Vorstöße auf Konstantinopel wiederholen sich neuer-
dings in immer rascherer Folge. Der letzte war derjenige des Herrn
74
Tscharykow, den wir mit Österreich zum Scheitern gebracht haben *.
Herr Tscharykow ist daraufhin entlassen worden. Vestigia terrent.
Herr von Giers hat den Plan seines Vorgängers in großzügigerer
Form wieder aufgenommen und versucht nun auf dem Landwege, was
vor zwei Jahren auf dem Wasserwege mißlungen war.
Die Anregung des Petersburger Kabinetts kann daher zweifellos
gar nicht ernst genug aufgefaßt werden. Wird Rußland freier Lauf
gelassen, so muß sich aus dem verhältnismäßig anodinen Programme,
welches es für die Konferenz aufstellt, eine große Aktion entwickeln,
die zur Auflösung der Türkei führen kann. In den Armeniern hat
Herr von Giers ein starkes Druckmittel auf seine Kollegen in der
Hand. Gehen die Verhandlungen nicht vorwärts, so werden auf
russischen Wink in allen Gebieten Unruhen ausbrechen, die auf die
Entscheidungen der Konferenz nicht ohne Einfluß bleiben würden.
Das erste Massaker an der russischen Grenze könnte Rußland den
Vorwand zum Einmarsch bieten.
Trotzdem teile ich nicht die Ansicht des Markgrafen Pallavicini,
daß die Teilung der Türkei von der Tripelentente beschlossen sei,
und daß der Vorhang über dem Schlußakte des türkischen Drama9 sich
demnächst heben werde. Daß Rußland und Frankreich mit der Türkei
ein Ende machen möchten, ist hier allerdings ziemlich deutlich zu er-
kennen. Erst gestern wiederholte mir Herr von Giers die Bitte, ich
möchte Euerer Exzellenz nahelegen, sich schleunigst mit der russischen
Regierung über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessenzonen zu
verständigen. Es sei die höchste Zeit dazu. Auch Herr Bompard be-
zeichnete es mir kürzlich als wünschenswert, daß wir uns mit Frank-
reich über eine räumliche Scheidung unserer Interessen auseinander-
setzten. Rußland und Frankreich möchten also Kleinasien teilen, ohne
darüber mit uns in Händel zu geraten. Ob indes die dunklen Ab-
sichten dieser beiden Mächte zur Ausführung gelangen, und ob die
Konferenz über die armenische Frage sich schließlich in ein Erb-
schaftsgericht umwandeln wird, das hängt nicht nur von Frankreich
und Rußland, sondern in erster Linie von England ab. Geht die
Tripelentente solidarisch vor, so steht Deutschland wie in der Insel-
frage mit seinem Wunsche, die Türkei zu erhalten, so gut wie allein.
Auf die Unterstützung seiner Verbündeten wird es nur in beschränktem
Maße zählen können. Das scheint mir selbst die Ansicht meines
österreichischen Kollegen zu sein. Allein kann Deutschland die
Türkei nicht retten. Soweit ich nun aber von hier aus die englische
Politik in den letzten Monaten zu beobachten Gelegenheit gehabt
habe, möchte ich nicht glauben, daß England so ohne weiteres Ruß-
land und Frankreich bezüglich der Türkei freie Hand lassen wird. Eng-
land kann nach den Erfahrungen, die es in Persien gemacht hat, nicht
' Vgl. dazu Bd. XXX, Kap. CCXXXVI.
75
wünschen, mit Rußland ein Teilungsgeschäft zu machen, dessen Vor-
teile lediglich auf russischer Seite lägen. Es muß mit der Möglichkeit
rechnen, daß Deutschland sich bei der Teilung nicht ausschließen läßt.
Alles, was England in der letzten Zeit getan hat, läßt eher darauf schlie-
ßen, daß es, „der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb", sich für
die Erhaltung der Türkei einsetzen will und nur zu diesem Zwecke eine
gewisse Annäherung an Deutschland gesucht hat. Es würde sich
kaum entschlossen haben, der Türkei Reformer für Armenier in Aus-
sicht zu stellen, wenn es mit dem Übergange Ostanatoliens in rus-
sischen Besitz ernsthaft rechnete.
Ich möchte daher, Euerer Exzellenz Einverständnis vorausgesetzt,
meine Haltung bei der bevorstehenden Botschafterkonferenz nach
diesem Gesichtspunkte einrichten. England wird voraussichtlich
wünschen, daß Deutschland sich extremen russischen Wünschen wider-
setzt, damit dieses Geschäft nicht von England selbst besorgt werden
muß. Es wäre nun zweifellos ein Fehler, wenn wir die Kastanien
für England aus dem Feuer holen wollten. Ich möchte mich deshalb
bei den Verhandlungen in Reservestellung hinter England halten, so-
lange nicht feststeht, daß letztere Macht sich in dem Fahrwaser extremer
russischer Wünsche befindet. Will England den Untergang der Türkei,
dann bleibt uns allerdings nichts übrig, als unsere Erbschaftsansprüche
offiziell anzumelden. Vorläufig dürfte die bisher befolgte Methode,
durch konkludente Tatsachen unser Interesse an gewissen Teilen der
Erbschaftsmasse zu bekunden, genügen, um England für die Erhal-
tung der Türkei zu interessieren.
Wangenheim
Nr. 15 335
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 178 St. Petersburg, den 12. Juni 1913
Bei meiner gestrigen Unterredung mit Herrn Sasonow wurde auch
die armenische Frage berührt. Der Minister sprach seine Genugtuung
darüber aus, daß die Kaiserliche Regierung sich bereit erklärt habe,
an Schritten in Konstantinopel teilzunehmen, äußerte aber seine Be-
denken gegen die von Euerer Exzellenz gewünschte Teilnahme der
Pforte an den Beratungen über die einzuführenden Reformen.
Herr Sasonow betonte dabei, daß er die Reformaktion keines-
wegs gegen die Türkei durchgeführt sehen möchte, sondern im Ge-
genteil mit Zustimmung der türkischen Regierung und unter Mit-
76
Wirkung derselben. Er fürchte aber nach den in ähnlichen Fällen ge-
machten Erfahrungen, daß die Teilnahme der Pforte an den Botschafter-
beratungen nur zu einer Verschleppung derselben führen und das
Ergebnis derselben beeinträchtigen werde. Nach Ansicht des Ministers
sollten zunächst die Mächte unter sich über die einzuführenden Re-
formen einig werden und dann das Resultat ihrer Beratungen der
Pforte mitteilen. Es handele sich darum, wirksame Reformen und für
die Durchführung derselben eine europäische Kontrolle einzuführen. Dies
liege im eigenen Interesse der Türkei.
Herr Sasonow legte sichtlich Wert darauf, mich davon zu über-
zeugen, daß Rußland bei diesen Reformvorschlägen von keinerlei
Hintergedanken geleitet werde. Die Armenier seien weder Slawen noch
Glaubensgenossen der Russen, die sentimentale Seite der Frage, welche
bei den Reformen in Mazedonien eine bedeutende Rolle gespielt
habe, komme daher hier nicht in Betracht. Rußland habe nur als
Grenzstaat und im Hinblick auf die große Zahl seiner eigenen arme-
nischen Untertanen ein sehr reales Interesse daran, daß in den arme-
nischen Wilajets Ruhe und Ordnung geschaffen werde. An irgend-
welche Expansion in jenen Gegenden auf Kosten der Türkei denke
Rußland nicht, es habe vielmehr den aufrichtigen Wunsch, daß die
Türkei in ihrem jetzigen Besitzstande erhalten bleibe und sich kon-
solidiere.
F. Pourtales
Nr. 15 336
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 350 Berlin, den 23. Juni 1913
Herr Sasonow hat Graf Pourtales gesagt, daß ihm Zuziehung der
Türken zu Beratungen über armenische Reformen unmöglich er-
scheine*. Wir möchten vor allem alles vermeiden, was Autorität des
Sultans und der türkischen Regierung mindern könnte, weil wir Zu-
sammenbruch der Türkei unter allen Umständen zu vermeiden wün-
schen. Ich kann daher meinen Standpunkt vorderhand noch nicht
aufgeben. Wie denkt Sir E. Grey über Frage?
* Vgl. Nr. 15 335. Nach einem Telegramm des russischen Botschafters in Ber-
lin Sverwejew an das russische Außenministerium vom 21. Juni (Russisches
Orangebuch: Les Reformes en Armenie, p. 69, Mandelstam, Le Sort de l'Empire
Ottoman, p. 217) hätte Staatssekretär von Jagow an diesem Tage dem russischen
Botschafter erklärt, daß Deutschland nicht weiter auf der Teilnahme eines
türkischen Delegierten bei den Botschafterkonferenzen über die armenische
Frage bestehe.
77
Aus einer Andeutung hiesigen russischen Botschafters glaube ich
entnehmen zu können, daß Sir E. Qrey Vorschläge betreffend arme-
nische Reformen plant oder schon gemacht hat. Dieselben sind mir
unbekannt. Es wäre mir erwünscht, Ansichten des englischen Mi-
nisters über armenische Frage und modus procedendi zu kennen.
J ago w
Nr. 15 337
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 337 Therapia, den 23. Juni 1913
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 182*.
Herr von Giers hat gestern meinem österreichischen Kollegen ge-
sagt, er habe durch Herrn Mandelstam ** ein Projekt ausarbeiten lassen,
nach welchem die sechs östlichen Wilajets nach Vorbild des Libanon
einem Generalgouverneur unterstellt werden sollten. Dieses Projekt
werde er den Botschaftern als Verhandlungsbasis unterbreiten. Mark-
graf Pallavicini hat in seiner Antwort zu erkennen gegeben, daß er sich
die Führung der Verhandlungen als Doyen nicht aus der Hand nehmen
lassen und keinem Plan zustimmen werde, der in . . .*** Herr von
Giers erwiderte hierauf verstimmt, dann werde wohl aus der ganzen
Sache nichts werden.
Die Schaffung eines administrativ selbständigen Armeniergebiets
unter russischer Kontrolle im Osten würde die unter direkter türkischer
Herrschaft verbleibenden Christenstämme eifersüchtig machen und
namentlich die separatistische Bewegung in Syrien fördern. Auch die
längs der Bagdadbahn lebenden Armenier würden unruhig werden, was
mit Verkehrs- und Geschäftsstörungen zum Nachteil unserer In-
teressen verbunden wäre. Letztere dürften es erheischen, daß die
Reform auf sämtliche Armenier und besser noch auf die ganze
Türkei ausgedehnt werde. Eine tatkräftige Unterstützung aller von
• Siehe Nr. 15 331.
** Erster Dragoman bei der russischen Botschaft in Konstantinopel. Siehe
den Wortlaut des Mandelstamschen Projekts im Russischen Orangebuch: Les
Reformes en Armenie, p. 52 ss. und bei Mandelstam, Le Sort de PEmpire
Ottoman, p. 218 ss.; deutsche Übersetzung bei Djemal Pascha, Erinnerungen
eines türkischen Staatsmannes, S. 340 ff. Eine eingehende Kritik des Mandel-
stamschen Projekts findet sich in Freiherrn von Wangenheims Bericht vom
3. Juli: siehe Nr. 15 347.
*•• Zifferngruppen fehlen.
78
der Pforte begonnenen Reformen würde auch die Armenierfrage lösen
helfen.
Wangenheim
Nr. 15 338
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 249 London, den 24. Juni 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 350*.
Sir E. Grey hat für bevorstehende Botschafterberatungen in Kon-
stantinopel über armenische Frage kein eignes Programm, möchte
aber Beschlüsse der Botschafter vom Jahre 1895 als Grundlage be-
trachten. Da er außerdem in Erfahrung gebracht, daß die Pforte
ihrerseits Reformplan ausgearbeitet, halte er es für wünschenswert,
die Pforte aufzufordern, ihr Programm vorzulegen, damit es von
Botschaftern mit in Betracht gezogen werde.
Sofortige Zuziehung türkischen Vertreters hält der Minister für
unzweckmäßig, weil dadurch leicht ganze Frage der Verschleppung
anheimfallen könnte. Er meint vielmehr, erst sollten Botschafter sich
über Reformprogramm einigen und dann erst die Pforte auffordern,
Vertreter zu entsenden, mit dem alsdann Verständigung zu erzielen
wäre. Er halte diesen Mittelweg auch für geeignet, um türkische
Empfindlichkeit zu schonen und Bedenken des Herrn Sasonow ge-
recht zu werden.
Lichnowsky
Nr. 15 339
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 193 St. Petersburg, den 26. Juni 1913
Zu dem mir unter Nr. 794 geneigtest mitgeteilten interessanten
Bericht des Kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel** wollen mir
Euere Exzellenz gestatten nachstehendes auf Grund meiner hiesigen
Beobachtungen anzuführen.
• Siehe Nr. 15 336.
*• Es handelt sich um den unter Nr. 15 334 abgedruckten Bericht Freiherrn
von Wangenheims vom 10. Juni, der unter Nr. 794 nach Petersburg über-
mittelt und auch den Botschaftern in London, Paris, Wien und Rom zur Kennt-
nis gebracht wurde.
79
Ich teile die Ansicht des Freiherrn von Wangenheim, daß Ruß-
land sich der armenischen Frage bedient, um die asiatische Türkei
in einem Zustande zu erhalten, welcher gegebenenfalls ein Einschreiten
Rußlands als interessierter Qrenzstaat rechtfertigen würde. Auch die
Sätze, daß Rußland sich mit Hilfe der armenischen Frage den Weg
nach Konstantinopel offen halten will, und daß diese Frage der
Schlüssel ist, welcher dereinst die Meerengen öffnen soll, entspricht
im allgemeinen meiner Auffassung. Die einzige dem russischen In-
teresse wirklich entsprechende Lösung der Meerengenfrage erscheint
mir die, daß Rußland am Südufer des Schwarzen Meeres bis zum
Bosporus vordringt und das Schwarze Meer auf diese Weise zu einem
russischen Binnenmeer macht, bezüglich dessen es sich nur mit den
anderen Uferstaaten Rumänien und Bulgarien zu verständigen braucht.
Daß mit dem Augenblick, wo Rußland im Besitz des Ostufers des
Bosporus wäre, der letzte Rest der türkischen Herrschaft in Europa
ein Ende haben würde, bedarf kaum der Erwähnung. Die dereinstige
Regelung der Meerengenfrage auf dem angedeuteten Wege ist daher
auch nach meiner Überzeugung in großen Linien das der russischen
Politik vorschwebende Ziel, und ich halte es für höchst wahrscheinlich,
daß die Herstellung der Ordnung in den armenischen Wilajets die
erste Etappe auf dem Wege sein wird, auf welchem die Erreichung
dieses Zieles erstrebt werden wird.
Eine andere Frage aber erscheint mir die, ob Rußland jetzt schon
den Augenblick für gekommen erachtet, um die Verwirklichung seiner
Pläne in Kleinasien zur Ausführung zu bringen. Was Herr SasonOfW
bis jetzt getan hat, spricht dafür, daß er als besonnener Staatsmann
im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute der russischen Politik nicht
zu viele Ziele auf einmal stecken will. Herr Sasonow ist nach meiner
Überzeugung bona fide, wenn er es als seinen Wunsch und sein Ziel be-
zeichnet, Rußland zunächst eine Reihe von Jahren ruhiger und fried-
licher Entwickelung zu verschaffen. Er geht von der Ansicht aus, daß
es eine Anzahl wichtiger Fragen für Rußland gibt, die nicht überstürzt
werden dürfen, und die Rußland ruhig heranreifen lassen kann, ohne
etwas dabei zu verlieren. Daß der Minister zu diesen Fragen die Meer-
engenfrage rechnet, hat er mir wiederholt versichert. Ich möchte auch
daran erinnern, mit welcher Energie der Minister vor zwei Jahren
nach seiner Wiedergenesung von schwerer Krankheit von Paris aus
den Machenschaften ein Ende machte, welche die Meerengenfrage auf-
zurollen bestrebt waren *.
Ich kann mich daher der Ansicht des Freiherrn von Wangenheim
nicht anschließen, welcher glaubt, daß, weil von Petersburg aus neuer-
dings in erhöhtem Maße über die Not der Armenier geklagt wird, ein
neuer russischer Vorstoß in der Richtung auf Konstantinopel bevor-
• Vgl. dazu Bd. XXX, Kap. CCXXXVI.
80
steht. An einen solchen Vorstoß in der nächsten Zeit glaube ich
nicht. Ich möchte vielmehr annehmen, daß Rußland jetzt an seiner
Grenze in Kleinasien Ruhe haben und aus diesem Grunde in jenen
Gegenden Maßregeln getroffen sehen möchte, welche die Ruhe für
eine Reihe von Jahren möglichst gewährleisten.
Den Hauptgrund, weswegen Rußland nach meinem Dafürhalten
den Stein jetzt noch nicht ins Rollen bringen möchte, erblicke ich darin,
daß, wie mein Konstantinopeler Kollege im weiteren Verlauf seines Be-
richts auch selbst hervorhebt, England, was Herrn Sasonow nicht ver-
borgen sein dürfte, zurzeit einer Aufteilung des kleinasiatischen Besitzes
der Türkei nicht geneigt ist.
Aber auch andere Gründe, die teils mit dem gegenwärtigen Stand
der russischen Rüstungen zu Lande und zu Wasser, teils mit den inneren
Zuständen im russischen Reich zusammenhängen, halten Herrn Sasonow
im gegenwärtigen Augenblick davon ab, Fragen anzuschneiden, welche
die russische Politik immerhin auf eine gefährliche Bahn bringen
könnten.
Allerdings wird man auch bei der vorliegenden Frage die Rolle
nicht außer acht lassen dürfen, welche inoffizielle Kreise erfahrungs-
gemäß in der russischen Politik spielen. Diese Kreise, welche überall
das Tempo der russischen Expansionspolitik beschleunigt sehen
möchten und kein Verständnis dafür besitzen, daß es vorteilhafter ist,
die Früchte reif werden zu lassen, arbeiten zweifellos daran, Rußland
zu einem Vorgehen in Kleinasien zu veranlassen. Daß es an amtlichen
Organen der russischen Politik nicht fehlt, welche mit jenen Kreisen
sympathisieren und ihnen mehr oder minder versteckt ihre Unter-
stützung zuteil werden lassen, beweist die Geschichte aller Balkankrisen
der Neuzeit. Ich halte es daher für durchaus wahrscheinlich, daß
russische Agenten, die mit amtlichen Stellen Fühlung haben, in den
armenischen Wilajets wühlen, um womöglich ein Einschreiten Ruß-
lands herbeizuführen. Daß aber diese Wühlereien auf einen bestimmten
wohldurchdachten Plan der gegenwärtigen Leitung der auswärtigen
russischen Politik zurückzuführen sind, vermag ich im gegenwärtigen
Augenblick nicht zu glauben.
F. Pourtales
Nr. 15 340
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 347 Therapia, den 28. Juni 1913
Auf Antrag Herrn von Giers wird Markgraf Pallavicini die Bot-
schafter für 30. d. Mts. zu einer vorläufigen Besprechung einladen.
6 Die Große Politik. 38. Bd. 81
Englischer Botschafter hat gestern Instruktionen erhalten. Markgraf
Pallavicini beabsichtigte schon Montag zu erklären, daß er Projekte wie
das Mandelstamsche* a limine ablehnen müsse. Damit würde die
Konferenz wahrscheinlich sofort gesprengt sein. Nach armenischen
Erklärungen, die gestern auf der Botschaft abgegeben wurden, muß ich
indessen befürchten, daß ein Scheitern der Konferenz Armenierunruhen
zu unmittelbarer Folge haben würde. Ich habe deshalb meinen öster-
reichischen Kollegen gebeten, nicht gleich anfangs zu schroff auf-
zutreten. Wir müßten wenigstens versuchen, ob nicht eine mit unseren
Instruktionen vereinbare Verständigung zugunsten der Armenier zu
erreichen sei. Markgraf Pallavicini wird demgemäß vorschlagen, das
Projekt Mandelstam zusammen mit dem Material, welches die Pforte
auf meinen vertraulichen Rat den Botschaftern noch heute zur Ver-
fügung stellen wird (Reformprojekt, fremde Instrukteure etc.) zunächst
einer Kommission von Delegierten der Botschaften zur Prüfung zu
überweisen •*.
Wangenh eim
Nr. 15 341
Aide-memoire
Reinschrift. Von der türkischen Botschaft in Berlin dem Auswärtigen Amt
übersandt
Berlin, le 28 Juin 1913
L'Ambassade Imperiale Ottomane a Phonneur d'exposer au De-
partement Imperial des Affaires Etrangeres pour son orientation les
renseignements suivants au sujet des reformes qui ont ete dejä mises
en vigueur par le cabinet Mahmoud Chevket Pacha dont le programme
sera aussi suivi par le cabinet actuel:
Le cabinet Mahmoud Chevket Pacha qui, ainsi que le Departement
Imperial des Affaires Etrangeres le sait sans doute, avait assume la
responsabilite' du pouvoir dans les circonstances tres critiques que
traversait le pays, s'etait efforce de donner aux Operations de guerre
une tournure aussi favorable que possible.
En meme temps, les reformes interieures avaient fait Pobjet de
sa constante preoccupation.
C'est ainsi que conformement ä la loi provisoire sur l'administration
generale des vilayets, il avait ete accorde au conseil general le droit de
dccision pour les affaires d'interet locaux, les budgets des vilayets
* Vgl. Nr. 15 337 nebst Fußnote •• und Nr. 15 344.
** Durch Telegramm Nr. 210 vom 29. Juni sprach das Auswärtige Amt sein
Einverständnis mit diesem Modus aus.
82
avaient ete separes, les attributions et les devoirs des fonctionnaires
elargis et precises; la loi sur les justices de paix ainsi que le principe
des tribunaux avait ete adoptee en vue de faciliter le jugement des
proces de moindre importance qui surgissent frequemment entre les
habitants d'une meme localite; des tribunaux judiciaires avaient ete
organises dans 15 sandjaks en Anatolie et dans 100 cazas dans les
provinces orientales; la cour d'appel des vilajets de Bagdad et de
Beyrouth avait ete divisee en deux; la nomination et la promotion des
nai'bs, des juges et des fonctionnaires judiciaires avaient ete regle-
mentees par la loi; par l'application des lois sur l'hypotheque et le
transfert des immeubles et sur la suppression des „guedik", la circu-
lation de la richesse immobiliere avait ete assuree; par l'application
de la loi qui confere le droit de propriete aux personnes morales, la
formation des societes qui pourront faire des transactions sur les
immeubles, avait ete autorisee; la loi elargissant le droit de propriete
sur les immeubles avait rendu possible le payement des dettes sur les
biens vakoufs et miri; par cette meme loi un large credit pour l'agri-
culture avait ete institue, ce qui permettra l'adoption des mesures qui
assureront la prosperite des villes et le developpement de l'agriculture.
En outre, des corps d'inspecteurs de gendarmerie sous la presidence
de Boman Pacha avait ete envoyes dans chaque vilayet ä l'effet
d'etudier sur place le nombre de gendarmes necessaires ä chaque vilayet
pour y assurer l'ordre et la tranquillite; des gendarmes de Roumelie
avaient ete envoyes dans plusieurs endroits et d'autres seront bientöt
envoyes pour completer les cadres. En vue d'assurer la parfaite appli-
cation des lois et reglements ci-haut mentionnes 1' Empire avait ete"
divise en six secteurs d'inspection generale. Les secteurs importants
comme ceux comprenant les vilayets orientaux devaient avoir ä leur
tete des inspecteurs generaux Prangers qui auraient sous leurs ordres
des specialistes etrangers et ottomans pour la gendarmerie, justice,
travaux-publics et agriculture. Pour les Ministeres, un conseiller et un
inspecteur etranger devaient etre engag^s et pour certains departements
des fonctionnaires etrangers seraient nommes. Le cabinet Mahmoud Chev-
ket Pacha etait en correspondance au sujet de Tengagement de tous ces
fonctionnaires etrangers. Le cabinet actuel ayant adopte les memes prin-
cipes, les pourparlers pour Fengagement des commandants de gen-
darmerie pour les sept regiments des vilayets orientaux et de deux
inspecteurs de gendarmerie pour leur conferer secteurs comprenant
ces vilayets etant termines, ces fonctionnaires pourront bientot prendre
possession de leur fonction. Des demarches ont ete faites en vue
d'assurer l'engagement des inspecteurs generaux et des autres fonc-
tionnaires etrangers. Le nombre des membres de la commission finan-
ciere instituee au Ministere des Finances a ete augmente et ses attri-
butions ont ete etendues ä l'elaboration du budget et ä la surveillance
de la stricte application des lois et reglements financiers.
6* 83
Nr. 15 342
Der Botschafter in London Fürst von Llchnowsky an den
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Privatbrief. Ausfertigung
London, am 26. Juni 1913
{pr. 30. Juni]
Wie ich vertraulich erfahre, wird heute Sir Edward Grey dem
Präsidenten Poincare * sagen, daß man hier nicht willens ist, sich
auf irgendwelche Teilungspläne für Kleinasien einzulassen und den
türkischen Besitzstand in seiner heutigen Gestalt unversehrt zu er-
halten wünscht. Man rechnet hierbei auf unsere Unterstützung und
darauf, daß wir den gleichen Standpunkt einnehmen. Ich habe, wie
Sie wissen, im Einverständnis mit Ihnen und dem Herrn Reichskanzler
wiederholt Sir Edward Grey erklärt, daß wir, solange die britische
Regierung in gleichem Sinne vorgeht, die Türkei als Ganzes erhalten
wollen ; daß wir aber, falls andere Mächte Ansprüche an die türkische
Erbschaft stellen sollten, auch verlangen würden, unsere Interessen
und Rechte zur Geltung zu bringen.
Leider scheint Herr von Gwinner während seines hiesigen
Aufenthalts** Äußerungen gemacht zu haben, die den Eindruck er-
weckten, als beabsichtigten wir schon jetzt, dem Gedanken der Tei-
lung Kleinasiens näherzutreten. Diese Auslassungen haben hier Auf-
sehen erregt und zu Beunruhigung Anlaß gegeben. Ich bin seither
von verschiedenen Seiten (nicht von Sir Edward Grey) auf diese
Tatsache hingewiesen worden, und ich habe, schon um zu ver-
hindern, daß Sir Edward Grey in seiner Aussprache mit den fran-
zösischen Staatsmännern unter dem Einfluß der Meinung, daß unser
Standpunkt sich verändert habe, den französischen Wünschen Vor-
schub leiste, von neuem erklärt, daß eine Wandlung unserer An-
schauungen in keiner Weise Platz gegriffen habe.
Es ist von großer Wichtigkeit, daß hier nicht der Verdacht ent-
steht, als ob wir der britischen Regierung gegenüber es an der
nötigen Aufrichtigkeit fehlen ließen. Meine Stellung zu Sir Edward
Grey würde empfindlich darunter leiden, wenn er zu der Meinung1
käme, daß er sich nicht auf meine Erklärungen verlassen kann. Ich
* Am 23. Juni war der Präsident der französischen Republik Poincare in Be-
gleitung des Außenministers Pichon zu mehrtägigem offiziellen Besuch nach
England gefahren. Über die Besprechungen zwischen den französischen und
englischen Staatsmännern vgl. Nr. 15 343, ferner: Diplomatische Akten-
stücke zur Geschichte der Vorkriegsjahre, ed. B. v. Siebert, S. 804 f. und
R. Poincare, Au Service de la France, III, 253 ss.
** Der Direktor der Deutschen Bank A. von Gwinner hatte im Juni in London
in Sachen der Bagdadbahn geweilt. Vgl. Kap. CCLXXXV.
84
möchte Sie daher bitten, Gwinner oder anderen Persönlichkeiten, die
hier Fühlung haben, gelegentlich zu bedeuten, daß unsere Haltung
sich in keiner Weise verändert hat, und daß es daher bedenklich wäre,
entgegenstehende Auffassungen zu begünstigen.
Lichnowsky
Nachschrift
Ich werde zu verhindern suchen, daß man mit dem naval holiday*
an uns herantritt, verhindern Sie aber, daß in Berlin über die Sache
allzu viel geredet und geschimpft wird! L.
Nr. 15 343
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 388 London, den 27. Juni 1913
[pr. 30. Juni]
Sir Edward Grey ließ mich soeben zu sich bitten, um mit mir
über die Ergebnisse seiner Besprechungen mit den französischen
Staatsmännern zu reden. Er bezeichnete dieselben als durchaus be-
friedigend. Er habe feststellen können, daß auf französischer Seite
das gleiche Bestreben bestehe wie hier nach Aufrechterhaltung des
Friedens und gemeinschaftlicher Arbeit für möglichste Beschränkung
des Krieges, falls dieser wiederum ausbrechen sollte. Alle Unter-
haltungen hätten sich auf der Grundlage der bekannt gewordenen
Tischreden bewegt und nichts enthalten, was die Mitwirkung anderer
Mächte ausschlösse. Er wies hierbei namentlich auf die entsprechende
Stelle der Rede des Herrn Poincare in der Guildhall hin und deutete
an, daß diese Äußerung in gemeinsamem Einverständnis erfolgt sei.
Die Besprechungen mit den französischen Staatsmännern hätten
sich nicht auf das allgemeine Gebiet des Friedens beschränkt, sondern
sich auch mit der Türkei und deren Zukunft, das heißt mit der klein-
asiatischen Frage befaßt. Es seien hierbei zwei Wege als gangbar
bezeichnet worden: Entweder die Mächte einigten sich, die Türkei
wiederherzustellen, sie finanziell möglichst wenig zu belasten bezw.
sie finanziell zu unterstützen und ihr bei der Neuordnung ihrer Ver-
waltung behilflich zu sein, oder aber sie verständigten sich über In-
teressensphären1, was jedoch der Anfang vom Ende der Türkei über-
haupt sein würde. Er sei mit Herrn Poincare und Herrn Pichon über-
eingekommen, daß der erstere Weg der richtige sei, und daß man die
* Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCII.
85
Türkei erhalten und wiederaufrichten müsse (retablir). Von Syrien
sei mit keinem Worte die Rede gewesen. Ich benutzte diesen Anlaß,
um dem Minister zu versichern, daß auch wir diese Auffassung* teilten
und teilen würden, solange wir uns des Einvernehmens der britischen
Regierung vergewissern könnten. Alle entgegenstehenden Meinungen
entsprächen vielleicht privaten oder kaufmännischen Interessen, nicht
aber den Auffassungen der maßgebenden Stellen. Die Nachrichten
über die Stimmung in Arabien, Syrien und anderen nichttürkischen
Landesteilen böten zwar keine überaus günstigen Aussichten, aber wir
glaubten, daß es dem Zusammenwirken aller Mächte gelingen werde,
das türkische Reich in seiner heutigen Gestalt am Leben zu erhalten.
Bei dieser Gelegenheit wiederholte Sir Edward von neuem, daß unsere
Interessen, falls es jemals zur Zerlegung Kleinasiens kommen sollte,
jedenfalls Berücksichtigung finden müßten2.
Lichnowsky
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
i D[as] h[eißt] Auftheilen
2 natürlich! werde schon dafür sorgen
Nr. 15 344
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheini
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 351 Therapia, den 30. Juni 1913
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 210*.
Bei heutiger Vereinigung der Botschafter erklärte Herr von Giers,
1) daß die Anregung zu der Konferenz von Rußland ausgeht,
2) daß Rußland in Ostanatolien und an der Armenierfrage mehr
als andere Mächte interessiert sei und
3) daß die Verhandlungen mit möglichster Beschleunigung ge-
führt werden müßten.
Sodann unterbreitete Herr von Giers das Projekt Mandelstam. Nach
demselben sollen die sechs Wilajets unter einem vom Sultan zu
ernennenden türkischen oder besser noch europäischen Generalgou-
verneur zu einer Provinz zusammengeschlossen werden. Diese Pro-
vinz wird vom türkischen Reich administrativ und militärisch so gut
wie vollkommen abgetrennt. Beamte und Richter werden ausschließlich
von Generalgouverneur ernannt. Truppen rekrutieren sich nur aus
Armenien und dürfen in Friedenszeiten nur dort verwendet werden.
Das Projekt geht weit über das Programm von 1895 und selbst
über Libanonstatut** hinaus. Seine Realisierung würde aus der Hälfte
Anatoliens ein mit der Türkei nur noch lose durch die Souveränität des
* Vgl. Nr. 15 340, S. 82, Fußnote
*• Vgl. dazu Nr. 15 295.
86
Sultans verbundenes Armenien scharfen, auf welches Rußland schon
deshalb den ersten Anspruch hätte, weil die andere Hälfte der Armenier
in Rußland lebt. Es wäre der Beginn der Aufteilung. Frankreich würde
in Syrien folgen, und auch wir wären, falls wir nicht Kleinasien auf-
geben wollen, genötigt, ein ähnliches Regime für unsere Interessen-
sphäre zu verlangen. Das russische Projekt nimmt übrigens das teil-
weise zu unserer Zone gehörige Wilajet Diarbekr für Armenien in
Anspruch *.
Auf Antrag Doyens wurde das Projekt einer Kommission von De-
legierten der Botschaften zur Prüfung überwiesen. Ich beabsichtige,
mich durch Dragoman Schönberg vertreten zu lassen. Markgraf Pal-
lavicini und ich werden unsere Vertreter instruieren, sich auf keinerlei
Diskussion der Prinzipfrage einzulassen, dagegen aber auf einer ganz
ausführlichen Diskussion der einzelnen Punkte des russischen Pro-
gramms und einer gründlichen Prüfung der türkischen Vorschläge**
zu bestehen. Es kommt zunächst darauf an, Zeit zu gewinnen, damit
die auf dem Rückmarsch begriffenen Truppen wieder in Armenien
eintreffen können, und damit ein Anhalt gewonnen wird über die Hal-
tung Englands. Stimmt letzteres dem russischen Vorschlag zu, so ist
damit bewiesen, daß es die Aufteilung zu verhindern nicht gewillt ist.
Wangenheim
Nr. 15 345
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in Konstantinopel
Freiherrn von Wangenheim
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen Botho von Wedel
Nr. 675 Berlin, den 4. Juli 1913
Auf Grund Euerer Exzellenz Telegramm 351*** hatte ich den Kaiser-
lichen Botschafter in Paris beauftragt f, Herrn Pichon vorsichtig auf
die Gefahr des russischen Vorschlags hinzuweisen und zu sondieren.
• Telegramm Nr. 351 wurde mittels Telegrammen 164 bzw. 192 nach Peters-
burg und Paris mitgeteilt. Staatssekretär von Jagow bemerkte dabei in Tele-
gramm Nr. 164: „Was Armenien eingeräumt wird, würde bald auch für andere
türkische Gebietsteile verlangt und nicht abgeschlagen werden können. Damit
würde de facto Aufteilung der Türkei eingeleitet, die wir absolut zu vermeiden
wünschen. Bitte Herrn Sasonow auf diese Gefahr hinweisen und ihm unseren
Wunsch mitteilen, daß auch türkische Vorschläge berücksichtigt werden." Fürst
Lichnowsky erhielt durch Telegramm Nr. 362 analoge Weisung: „Bitte Sir
E. Grey auf Gefahren dieses Vorgehens hinweisen und seine Ansicht erfragen.
Gleiches Regime würde voraussichtlich bald für Syrien und andere türkische
Gebietsteile verlangt werden. Damit würde de facto Aufteilung, die wir nicht
wünschen, in die Wege geleitet."
" Vgl. Nr. 15 341.
•*• Siehe Nr. 15 344.
t Vgl. Nr. 15 344, S. 87, Fußnote*.
87
Herr von Schoen telegraphiert unter dem 2. d. Mts.*:
„Herr Pichon will über russischen Vorschlag noch nicht so er-
schöpfend unterrichtet sein, daß er Tragweite voll übersehen könne.
Ziel müsse Ausarbeitung Reform programms sein, das auch für die
übrige Türkei maßgebende Grundlage böte. An Grundsatz der Inte-
grität asiatischer Türkei halte Frankreich fest."
Zimmermann
Nr. 15 346
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhetm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 356 Konstantinopel, den 3. Juli 1913
[pr. 4. Juli]
In heutiger Sitzung der Botschaftsdelegierten ** beantragten Öster-
reicher, unterstützt von Schönberg und Italiener, dem neuen Faktum
des Pfortezirkulars*** Rechnung zu tragen und Diskussion mit Prüfung
der soeben von der türkischen Regierung veröffentlichten Reformen
zu beginnen. Russen, Engländer und Franzosen wollten dagegen von
dem russischen Projekt ausgehen. Mangels Einigung wurde beschlossen,
Sitzung zu vertagen und Streitfragen den Chefs zu unterbreiten.
Meines Erachtens verdient schon mit Rücksicht auf Autorität
Sultans organische Weiterentwickelung des türkischen Reformplanes
vor Aufoktroyierung des gefährlichen russischen Projekts den Vorzug.
Die Lücken des ersteren könnten durch Rückgriff auf Beschlüsse und
Dekret von 1895 sowie durch Benutzung russischen Projekts ausgefüllt
werden. Großwesir ist hiermit einverstanden und erklärt, er werde
selbst europäische Kontrollkommission für Armenien in annehmbarer
Form akzeptieren. Auffallend ist, daß Haltung des englischen Dele-
gierten Fitzmaurice mit den Erklärungen Sir E. Greys an Fürst Lich-
nowsky nicht harmoniert f.
• Telegramm Nr. 255.
** Mit der Sitzung der Botschaftsdelegierten vom 3. Juli begannen die offi-
ziellen Beratungen der ,,Commission des Reformes Armeniennes". Es fanden
im ganzen acht Sitzungen, die letzte am 24. Juli statt. Die Protokolle der
Kommissionssitzungen befinden sich — in französischeer Sprache — im Rus-
sischen Orangebuch: Les Reformes en Armenie, p. 190 ss.
••* Identisch mit Nr. 15 341.
t Am 4. Juli fügte Freiherr von Wangenheim zu diesem Punkte durch Tele-
gramm Nr. 358 nach: „Englischer Geschäftsträger sagte mir zur Erklärung der
englischen Haltung gestriger Konferenz, daß seine Instruktionen ihn nur er-
mächtigten, über das russische Projekt zu verhandeln, nicht aber über die
türkischen Reformpläne."
88
Bericht über russische und türkische Projekte abgeht Sonnabend
mit Feldjäger*.
Wangenheim
Nr. 15 347
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg**
Ausfertigung
Nr. 208 Therapia, den 3. Juli 1913
[pr. 9. Juli]
Der Mandelstamsche Entwurf faßt in Artikel I § 1 die sechs
Wilajets Erserum, Wan, Bitlis, Diarbekr, Charput und Siwas zu einer
Verwaltungszone, einem Wilajet zusammen, von dem indessen die
südlichen Partien, nämlich die Gegenden von Hakkiari (Wilajet Wan),
die südlichen Teile der Distrikte Sert, Biredjik, Malatia sowie der
nordwestliche Teil des Wilajets Siwas ausgeschlossen sein sollen.
Dieser Vorschlag führt in die Geschichte der armenischen Reformen
in zweifacher Hinsicht ein Novum ein.
Zunächst hat bisher nie die Schaffung eines einzigen großen Ver-
waltungskomplexes in Armenien zur Erörterung gestanden. Das eng-
lisch-französisch-russische Memorandum vom März/April 1895 be-
schränkte sich in Artikel I darauf, die Verringerung der Zahl der ge-
nannten Provinzen anzuregen: „. . . il y aurait lieu d'etudier la question
de la reduction du nombre de ces provinces." Ais Grund wird an-
geführt, daß eine Neueinteilung der Wilajets
1) gewisse Ersparnisse in den allgemeinen Verwaltungsausgaben
ermöglichen,
2) die Auswahl der Walis durch Verringerung ihrer Zahl er-
leichtern,
3) deren Autorität durch Verbesserung ihrer materiellen Lage
stärken würde.
Die beiden letzten Gründe sind so vager Natur, daß ein näheres
Eingehen darauf überflüssig erscheint. Hinsichtlich des ersten dürfte
es zweifelhaft sein, ob die Ersparnis an Waligehältern nicht durch
Entschädigung für die ausgedehnteren Dienstreisen des Walis oder
seines Stellvertreters aufgewogen wird. Auf keinen Fall aber dürften
die Ersparnisse so beträchtlich sein, daß sie allein schon als genügender
Grund für eine so einschneidende Maßnahme wie die Zusammen-
legung zweier oder mehrerer Provinzen gelten könnten.
* Siehe das folgende Schriftstück.
** Hier eingereiht des Zusammenhangs halber.
89
Dem gegenüber stehen zunächst die allgemeinen Bedenken gegen
die Schaffung allzu großer Provinzen in Armenien; die außerordentlich
geringe Zahl von Wegen würde namentlich im Winter, wo die tele-
graphischen Verbindungen fast stets unterbrochen und die meisten
Gebirgsübergänge unpassierbar sind, mit Notwendigkeit dahin führen,
daß ganze Regierungsbezirke Monate hindurch von der Verwaltungs-
zentrale der Provinz abgeschnitten werden. Die unausbleibliche Folge
wäre ein Stocken der Verwaltung, das gerade in Gebieten, in denen
ein neuer Administrationsmodus in Einführung begriffen ist, und wo
daher das dem Kontinuitätsgesetz entsprechende automatische Weiter-
laufen der gewohnten Verwaltungsmaschinerie wegfällt, mit Sicherheit
zum baldigen Chaos führen müßte.
Ein weiteres Argument gegen die Schaffung allzu großer Ver-
waltungseinheiten liegt in dem Umstände, daß zur Herstellung und
Aufrechterhaltung der Ordnung in dem von Nationalitätenkämpfen
durchwühlten Lande die dauernde Anwesenheit verhältnismäßig sehr
starker militärischer Garnisonen erforderlich sein wird. Das würde
zur Folge haben, daß in den wichtigsten Städten des Landes, die nicht
der Sitz eines Walis wären, der Militärkommandant in höherem Range
stände als der Chef der lokalen Zivilbehörde, ein Zustand, der das
zur Beruhigung des Landes unerläßliche Zusammenarbeiten beider
Faktoren wesentlich erschweren müßte.
Wenn diese Gründe schon die Zusammenlegung zweier arme-
nischer Wilajets als ein bedenkliches Unternehmen erscheinen lassen,
so wirken sie mit potenzierter Kraft gegenüber dem Mandelstamschen
Vorschlage, alle sechs genannten Wilajets, das heißt etwa den siebenten
Teil der ganzen Türkei, zu einer Verwaltungseinheit zusammenzu-
fassen und so eine Provinz zu schaffen, die an Flächeninhalt etwa halb
so groß wie Deutschland und ebenso groß wäre wie Rumänien und
Bulgarien zusammengenommen. Berücksichtigt man, daß dieses Ge-
biet zum größten Teil aus schwer zugänglichem Hochgebirge be-
steht, von keiner Eisenbahn durchzogen wird und, von wenigen Ver-
kehrsstraßen abgesehen, keine nennenswerten Kommunikationen be-
sitzt, so wird ohne weiteres klar, daß in einem derartigen Länder-
komplexe eine einheitliche, von einer einzigen Stelle ausgehende Pro-
vinzialverwaltung zu denjenigen Dingen gehört, deren Verwirklichung
der praktischen Vernunft als unmöglich erscheinen muß. Ein Ver-
such in dieser Richtung würde binnen kurzem dahin führen, daß sich
für die Sandschaks in praxi eine ähnliche Selbständigkeit heraus-
bilden würde, wie sie jetzt für die Wilajets besteht, und daß, da die
Sandschakzahl vermutlich größer als sechs sein wird, statt der be-
absichtigten Verringerung eine Vermehrung der selbständigen Ver-
waltungsgebiete Platz greifen würde.
Das zweite Novum an der Mandelstamschen Begrenzung der Re-
formzone liegt darin, daß von dem durch die sechs Wilajets gegebenen
90
Gebiete der südliche und der nordwestliche Teil ausgeschlossen werden
sollen. Aus dem Bestreben, die Lebensbedingungen der armenischen
Nation zu erleichtern, dürfte sich ein plausibler Grund für die Be-
schneidung der Reformzone nicht herleiten lassen; denn in den aus-
geschlossenen Gebieten sind Armenier gleichfalls in großer Zahl an-
sässig. Seit 1895 hat sogar ein Vordringen der von den im Norden
wohnenden Kurden gedrängten armenischen Nation in südlicher und
namentlich südwestlicher Richtung eingesetzt, und es ist heute eine
nicht zu bestreitende Tatsache, daß das Wilajet Adana, die nördlichen
Distrikte des Wilajets Aleppo sowie die Gegend von Malatia zu den-
jenigen Bezirken gehören, in denen das armenische Element am zahl-
reichsten und am dichtesten ansässig ist. Wäre es daher dem russi-
schen Vorschlage wirklich nur um die Besserstellung der Armenier
zu tun, so hätte er das Gebiet der bereits 1895 berücksichtigten Wila-
jets nicht verkleinern dürfen, sondern hätte ihm im Gegenteil noch
große Teile der Wilajets Aleppo, Mosul, Adana und Angora hinzu-
fügen müssen.
Für die in dem Mandelstamschen Entwürfe ausgeschlossenen Teile
der sechs Wilajets ist charakteristisch, daß in ihnen neben dem
armenischen auch das muhamedanische Element stark vertreten ist.
Hieraus läßt sich unschwer erkennen, daß Rußland mit seinem Vor-
schlage auf die Schaffung eines Verwaltungsgebildes mit vorwiegend
christlich-armenischer Bevölkerung abzielt, offenbar in der Erwartung,
daß ein solches an dem schnell erreichbaren, mit ethnologisch und
religiös verwandten Völkerschaften angrenzenden Rußland seinen natür-
lichen Rückhalt wird suchen müssen.
Hier ist nun der Punkt, an dem das deutsche Interesse dem
russischen diametral zuwiderläuft. Wie ein Blick auf die meinem
Bericht Nr. 159 vom 21. Mai* beigefügte Kartenskizze zeigt, liegt
die ganze südliche Hälfte der von Rußland vorgeschlagenen Reform-
zone in dem Gebiete, das sich durch die vorgesehenen Zweiglinien
der Bagdadbahn als unsere Interessensphäre charakterisiert. Würde
nun der Zusammenhang dieses Teiles unserer Interessensphäre mit
der übrigen Türkei gelockert, so würde sich nach Durchführung der
Reformen innerhalb der von Rußland vorgeschlagenen Zone eine
Differenzierung des dort belegenen Teils unserer Interessensphäre zu
Ungunsten des übrigen größeren Teiles derselben ergeben. Die Folge
davon wäre im ganzen Umfange unseres Interessengebietes für uns
außerordentlich abträglich; denn die Einwohner des in der Reform-
zone belegenen Teiles würden sich für die Vorteile der reformierten
Verwaltung nicht bei uns, sondern bei Rußland bedanken, das für
die breiteste Bekanntgabe seiner Urheberschaft an dem Reformprojekte
geflissentlich sorgen wird. Die Bewohner des übrigen Teiles unserer
• Siehe Nr. 15 312.
91
Interessensphäre aber würden durch den Vergleich mit ihren besser
gestellten Stammesgenossen einer stetig wachsenden Unzufriedenheit
in die Arme getrieben werden und sehr bald der alsdann unkorrigier-
baren Ansicht verfallen, daß Deutschland nicht imstande sei, ihr Los
zu verbessern, und daß der russische Schutz ihnen eine größere Ge-
währ für die Zukunft biete.
Unser Interesse dürfte uns daher mit Notwendigkeit darauf hin-
weisen, die in dem russischen Reformprojekte enthaltene Beschränkung
auf die darin vorgesehenen Gebiete abzulehnen.
Damit stehen wir vor der Frage, ob überhaupt eine Beschränkung
der einzuführenden Reformen auf einen bestimmten Teil der Türkei
im Interesse der Erhaltung desselben tunlich ist. Hier ist zunächst
zu berücksichtigen, daß das türkische Reich nach Abtrennung der
europäischen Wilajets eine hinsichtlich der Kulturstufe seiner Be-
völkerung weit homogenere Masse darstellt als vordem. Die Besser-
stellung derjenigen Bevölkerungszone, die sich bisher durch ihre un-
ruhige Haltung besonders hervorgetan hat, müßte den ruhigeren Volks-
teilen des türkischen Reiches als eine Prämie auf Unbotmäßigkeit
gegen die Staatsgewalt erscheinen und könnte daher auf dieselben
nicht anders als in hohem Grade aufreizend wirken. Die nächste
Folge müßte sein, daß ähnliche Vorgänge wie in Armenien sich auch
in Arabien, Mesopotamien, Syrien und 'im westlichen Kleinasien zeigen
würden, so daß sich auch dort die Einführung ähnlicher Reformen auf
die Dauer nicht umgehen ließe. Es kann kein Zweifel über die Wir-
kung bestehen, die sich aus einer derartig erzwungenen parzellierten
Entwicklung der Reformfrage für den Bestand des türkischen Reiches
ergeben müßte. Die Erhaltung der Türkei und die Einführung von Re-
formen lassen sich nur dann miteinander vereinbaren, wenn die letzteren
auf das gesamte türkische Staatsgebiet ausgedehnt werden.
In richtiger Erkenntnis der aus jeder anderen Modalität drohenden
Gefahr hat daher die türkische Regierung das Prävenire gespielt und
sich zu durchgreifenden Reformen im ganzen Reiche entschlossen.
Die Grundlage dazu war bereits durch das neue Wilajetsgesetz gelegt,
über das an anderer Stelle berichtet worden ist, und das sich einer
Reihe neuer Reformgesetze, insbesondere auf dem Gebiete des Im-
mobiliarrechts, angliedert, die unstreitig geeignet sind, eine Reform
des türkischen Wirtschaftslebens in die Wege zu leiten.
Die Pforte hat sich indessen auch der weiteren Erkenntnis nicht
verschlossen, daß es ihr nie an guten Gesetzen, stets aber an Per-
sonen gefehlt hat, die imstande waren, diese sachgemäß anzuwenden.
Um dem abzuhelfen, hat sie sich, wie aus dem abschriftlich anliegenden
Zirkulartelegramme an die türkischen Botschafter* und den gleich-
* Wesentlich identisch mit Nr. 15 341. Die übrigen genannten Schriftstücke
hier nicht abgedruckt.
92
falls anliegenden Zusatzartikeln zum neuen Wilajetsgesetz nebst den
anliegenden Instruktionen über Befugnisse und Zuständigkeit der Ge-
neralinspektoren ersichtlich ist, entschlossen, die gesamte Türkei in
sechs Generalinspektionen zu teilen und für die wichtigsten derselben,
besonders die östlichen, fremde Generalinspektoren anzustellen und
diesen fremde und türkische Spezialisten für Gendarmerie, Justiz,
öffentliche Arbeiten und Landwirtschaft beizugeben. Auch sollen in
den Ministerien ein Vortragender Rat und ein Inspektor Fremde sein
und für gewisse Departements fremde Beamte ernannt werden.
Diese neue Reformaktion der Türkei geht insofern weit über das
armenische Reformdekret vom 20. Oktober 1895 hinaus, als es sich,
wie bemerkt, auf die ganze Türkei erstreckt und die Mitwirkung euro-
päischer Kräfte nicht nur in beratender, sondern in leitender Stellung
vorsieht. Dagegen ging das Dekret von 1895 insofern weiter, als es
in Artikel 32 eine ständige Reformkommission schaffen wollte, die
auf der Pforte tagend und zur Hälfte aus muhamedanischen, zur
Hälfte aus nichtmuhamedanischen Mitgliedern bestehend die Durch-
führung der Reformen überwachen sollte. Zudem schrieb das Dekret
in Artikel 1 bis 3 die Anstellung nichtmuhamedanischer Beamten für
gewisse Stellen vor.
Die Mächte stehen nunmehr vor zwei Reformprojekten, dem
russischen, das außer der räumlichen Begrenzung auch andere in
einem späteren Berichte darzulegende Gefahren in sich birgt, und
dessen Verwirklichung die Auflösung der Türkei beschleunigen muß,
und dem türkischen, dessen Ausführung mit der Anwendung des
Wilajetsgesetzes und der anderen Reformgesetze teilweise bereits zu
einem fait accompli geworden ist.
Bei der Frage, welche Haltung wir angesichts dieser Situation
beobachten müssen, wird davon auszugehen sein, daß wir ent-
schlossen sind, den Zusammenbruch der Türkei möglichst lange auf-
zuhalten. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß das russische
Projekt für uns unannehmbar ist, und wir werden nur darauf Bedacht
zu nehmen haben, eine Form der Ablehnung zu finden, welche die
russische Empfindlichkeit nach Möglichkeit schont. Wir könnten zu
diesem Zwecke vielleicht darauf hinweisen, daß durch den jüngsten,
erst nach Mitteilung des Mandelstamschen Projekts erfolgten Reform-
schritt der Pforte ein neues Faktum in die Frage hineingetragen sei,
daß unter diesen Umständen der Türkei Zeit gelassen werden müsse,
die von ihr beabsichtigte und bereits begonnene Reformaktion durch-
zuführen, und daß wir erst bei einem Fehlschlagen der letzteren in
Erwägungen über weitergehende Reformvorschläge eintreten möchten.
Damit diese Eventualität nach Möglichkeit vermieden wird, wer-
den wir der Pforte dringend raten müssen, ihre Reformaktion so
durchgreifend und vollständig wie möglich zu gestalten. Oben ist
bereits angedeutet worden, daß dieselbe hinter dem Reformplan von
93
1895 in einigen Punkten zurückbleibt. Wir werden daher der Pforte
nahelegen müssen, ihr jetziges Projekt in dieser Richtung zu ergänzen
und diejenigen Teile des Reformplanes von 1895 zu berücksichtigen,
die nicht inzwischen durch die Weiterentwickelung der türkischen
Gesetzgebung gegenstandslos geworden sind. Wir können uns meines
Erachtens zu diesem Vorgehen um so leichter entschließen, als wir
dabei England zur Seite haben, das nach einem anderweitigen Er-
lasse Euerer Exzellenz die Beschlüsse der Botschafter vom Jahre 1895
als Grundlage haben möchte.
Wenn ich empfehlen möchte, nicht von den Botschafterbeschlüssen,
sondern von dem türkischen Reformdekret vom 20. Oktober 1895 aus-
zugehen, so liegt darin nur eine geringfügige Abweichung von dem
Standpunkte Sir E. Greys, da beide Schriftstücke im wesentlichen auf
dasselbe hinauskommen und sich sogar in ihrem Texte vielfach decken.
Für die Zugrundelegung des Dekretes spricht zunächst die Erwägung,
daß es leichter sein wird, die Pforte zur Durchführung von Bestim-
mungen zu veranlassen, die einem vom Sultan durch Iradee sanktio-
nierten, also bereits mit Gesetzeskraft versehenen Dekrete entnommen
sind, als von solchen, die von den Botschaftern beschlossen sind. Der
Hauptgrund indessen, der für die Berücksichtigung des Reformdekretes
spricht, beruht auf einer anderen Überlegung:
Sowohl das deutsche wie das türkische Interesse erfordern meines
Erachtens, daß die bereits oben erwähnte, nur in dem Dekret von
1895 vorgesehene ständige Kontrollkommission in erweiterter Form
ins Leben gerufen wird.
Wir haben meines Erachtens das dringendste Interesse daran
zu verhindern, daß Rußland sich nach dem Scheitern seines Reform-
projektes der armenischen Nation gegenüber als den eifrig bemühten,
wenn auch augenblicklich durch die Intrigen anderer Mächte erfolglosen
Retter aus dem türkischen Joche aufspielt, eine Charakterrolle, deren
Einstudierung ihm durch die Enttäuschung der Armenier über die
ihnen erst vorgehaltene und dann im Augenblick des Zuschnappens
weggezogene Extrawurst wesentlich erleichtert werden würde. Wir
werden daher gut tun, für die armenischen Provinzen (nicht nur für
die sechs ursprünglichen Wilajets, sondern auch die angrenzenden
Teile von Adana, Angora, Aleppo und Mosul) eine Einrichtung vor-
zuschlagen, die, ohne den Bestand der Türkei ernstlich zu gefährden,
den Armeniern doch zeigt, daß sie sich unseres ganz besonderen In-
teresses erfreuen. Hierzu eignet sich 'in hohem Maße eine auf der
Pforte unter türkischem Vorsitz tagende, zur Hälfte aus Türken, zur
Hälfte aus Delegierten der Großmächte bestehende ständige Kontroll-
kommission, deren Aufgabe es wäre, alle armenischen Beschwerden
und Desiderata zu prüfen und den Walis bezw. Generalinspektoren
entsprechende Informationen und Instruktionen zugehen zu lassen und
sich durch Reisen in den armenischen Wilajets, die von Unterkommis-
94
sionen ausgeführt werden können, von der Durchführung der Re-
formen und den Zuständen in Armenien zu überzeugen.
Für die Türkei böte diese Einrichtung den außerordentlichen Vor-
teil, daß sie als Ventil am armenischen Dampfkessel wirken würde.
Die Mächte würden nicht wie jetzt gezwungen sein, bei jedem
Mord oder sonstigen an einem Armenier begangenen Verbrechen die
ganze Klaviatur der erregten armenischen Volksseele und der er-
regteren armenischen Auslandskomitees über sich ergehen zu lassen,
sondern könnten diese alsdann auf die allein zuständige internationale
Kontrollkommission in Konstantinopel verweisen. Alle armenischen
Bedürfnisse würden auf diese Weise auf voraussichtlich lange Zeit der
diplomatischen Erörterung entzogen und in die kühlere Zone rein admi-
nistrativer Behandlung hinübergeführt werden.
Wenn es außerdem gelänge, die Pforte zur Anstellung der im
Reformdekret von 1895 vorgesehenen christlichen Muawins (Gehilfen
für Wali, Mutessarif usw.) zu bewegen, so würde das türkische Re-
formprojekt sich meines Erachtens als erheblich brauchbarer erweisen
als das russische und auch seine beruhigende Wirkung auf die arme-
nische Frage nicht verfehlen können. Den russischen Wünschen könnte
dabei dadurch entgegengekommen werden, daß der Pforte seitens der
Mächte nahegelegt wird, diejenigen Bestimmungen des russischen
Projekts zu berücksichtigen, die sich mit dem Dekret von 1895 ver-
einbaren lassen.
Ich darf bitten, mich nach Eingang dieses Berichts baldmöglichst
telegraphisch verständigen zu wollen, ob die vorstehend angedeuteten
Richtlinien den Intentionen Euerer Exzellenz entsprechen*. Ich werde
es bis zum Eintreffen des Drahterlasses Euerer Exzellenz vermeiden,
mich auf irgendwelche grundsätzlichen Fragen festzulegen, und habe
daher den Dragoman Dr. Schönberg für die heutige erste Sitzung
der Botschaftsdelegierten dahin instruiert, die Diskussion über das
russische Projekt dilatorisch zu behandeln und zunächst nur auf die
allgemeinen Bedenken hinzuweisen, die einer räumlichen Begrenzung
der Reformaktion entgegenstehen. Doch werde ich in der heutigen
Sitzung bereits erklären lassen, daß wir uns vorbehalten, der neuen
Situation, die durch Zustellung des türkischen Reformprojektes ge-
schaffen sei, Rechnung zu tragen. Ich werde ferner dahin wirken,
daß die nächste Sitzung nicht vor Donnerstag, den 10. d. Mts., statt-
findet, in der Annahme, daß ich mich bis dahin im Besitze der In-
struktionen Euerer Exzellenz befinde.
Wangenheim
* Das Einverständnis des Auswärtigen Amts wurde durch Telegramm Nr. 224
vom 9. Juli ausgesprochen.
95
Nr. 15 348
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 359 Konstantinopel, den 4. Juli 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 358*.
Herr von Giers ließ gestern durch russischen Botschaftsrat Mark-
grafen Pallavicini sagen, daß er über die Ergebnislosigkeit der ersten
Beratung der Botschaftsdelegierten wenig erfreut sei. Die Botschafter
müßten sofort zusammentreten. Markgraf Pallavicini erwiderte, Öster-
reich und, wie er wisse, auch Deutschland und Italien seien durchaus
reformfreundlich. Wegen des gestrigen Zwischenfalls brauche keine
Konferenz der Botschafter stattzufinden. Einer gleichzeitigen Beratung
der beiden Projekte stehe nichts im Wege.
Markgraf Pallavicini sprach dann von englischem Oberkommissar,
worauf Botschaftsrat entgegnete, daß der Haut Commissaire doch wohl
von Rußland zu geben sei. Ein geeigneter Mann sei der frühere hiesige
Militärattache General Holmsen.
Wangenheim
Nr. 15 349
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Entzifferung
Nr. 208 St. Petersburg, den 3. Juli 1913
[pr. 5. Juli]
Antwort auf Telegramm Nr. 164**.
Als ich gestern weisungsgemäß Herrn Sasonow auf die bedenk-
lichen Seiten des russischen Reform projekts für die armenischen Wi-
lajets hinwies, vertrat der Minister den Standpunkt, daß das Programm
von 1895 im Hinblick auf die Entwickelung, welche die Verhältnisse
seit jener Zeit genommen hätten, nicht mehr ausreiche. Er habe bereits
in seiner Zirkularnote*** über die Notwendigkeit von Reformen in
Armenien angedeutet, daß die einzuführenden Reformen zwar von dem
Programm von 1895 ausgehen, den jetzigen Verhältnissen aber an-
gepaßt werden müßten. Als unbedingt erforderlich bezeichnete Herr
• Vgl. Nr. 15 346, Fußnote f.
"Vgl. Nr. 13 344, S. 87, Fußnote \
•*• Vgl. Nr. 15 331 nebst Fußnote".
96
Sasonow die Ernennung eines christlichen, womöglich nichttürkischen
Generalgouverneurs. Eine Berücksichtigung türkischer Vorschläge er-
schien ihm äußerst bedenklich, da es der Türkei mit ihrem Wunsch,
Reformen in Armenien einzuführen, nicht Ernst sei. Man dürfe um
keinen Preis halbe Maßregeln ergreifen, sondern [müsse] sich der in
Mazedonien gemachten schlechten Erfahrungen erinnern und alles daran-
setzen, um ein wirksames Reformwerk durchzuführen. Meine Ein-
wände, insbesondere auch der Hinweis darauf, daß andere Gebietsteile
der Türkei die den Armeniern eingeräumten Zugeständnisse auch für
sich beanspruchen würden, und daß damit die Aufteilung der Türkei
beginnen werde, suchte der Minister zu entkräften. Dabei beteuerte er
auf das feierlichste, daß auch er weit davon entfernt sei, die Aufteilung
des türkischen Besitzes in Kleinasien anzustreben. Im Gegenteil
wünsche er, daß gerade, um einer solchen Aufteilung vorzubeugen,
ruhige und geordnete Verhältnisse in Armenien geschaffen würden.
Den Weg hierzu erblicke er in dem russischen Programm, sei aber
gern bereit, über die Einzelheiten desselben in Diskussion einzutreten.
Der Minister protestierte auf das nachdrücklichste gegen die hie
und da in der Presse aufgetauchten Insinuationen, daß Rußland die
armenischen Unruhen zu Expansionszwecken benutzen wolle. Rußland
habe den Kaukasus und brauche nichts weiter. Auf eine mit Tausenden
von Unterschriften bedeckte, vor kurzem von türkischen Armeniern an
den Zaren gerichtete Bittschrift, in welcher die Annexion der arme-
nischen Wilajets erbeten wurde, sei die sehr bestimmte Antwort er-
gangen, daß eine solche Annexion den Zielen der russischen Politik
durchaus fernliege.
Rußland habe aber das größte Interesse daran, daß an seiner
Grenze keine Revolution ausbreche, die sich auch auf die Armenier
in Rußland ausdehnen würde. Daher müsse Rußland auf Einführung
energischer Reformen bestehen, denn im Falle ernstlicherer Unruhen
würde Rußland, allerdings sehr gegen seinen Wunsch, aus Gründen der
Selbsterhaltung gezwungen sein, einzuschreiten. Dieser Notwendigkeit
möchte Herr Sasonow, wie er sagte, um jeden Preis vorbeugen*.
Pourtales
* Ähnlich äußerte sich Sasonow von neuem am 9. Juli unter Überlas-
sung eines Aide-memoires — siehe dasselbe in dem Russischen Orange-
buch: Les Reformes en Armenie, p. 74 — gegenüber Graf Pourtales,
worüber dieser am 10. eingehend (Nr. 216) berichtete. Der deutsche
Botschafter erwiderte bei dieser Gelegenheit dem russischen Minister, er wolle
an der Aufrichtigkeit der Sasonowschen Politik in der Frage der armenischen
Reformen nicht zweifeln, könne aber nicht verschweigen, daß in Deutschland
vielfach die Ansicht verbreitet sei, die Unruhen würden von russischen Agenten
angestiftet und geschürt. Er selbst, Pourtales, wolle zwar gern glauben, daß
die Agenten nicht im Auftrage der russischen Regierung handelten, immerhin
scheine es in vielen Fällen, als ob sie mit amtlichen russischen Organen Fühlung
hätten. Sasonow bestritt in seiner Antwort nicht, „daß in den armenischen
7 Die Große Politik. 38. Bd. 97
Nr. 15 350
Der Botschafter in Konstantinopel F reiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 365 Konstantinopel, den 5. Juli 1913
Großwesir schreibt mir soeben ganz vertraulich, daß die englische
Regierung sich endlich entschlossen habe, die beiden für Ost- und
Nordanatolien erbetenen Generalinspekteure zur Verfügung zu stellen.
Wangenheim
Nr. 15 351
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 369 Konstantinopel, den 7. Juli 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 356*.
In heutiger Sitzung beschloß Armenierkommission, russischen und
türkischen Reformplan nebeneinander zu beraten. Allseits wurde an-
erkannt, daß die Delegierten nicht berufen sind, Beschlüsse zu fassen
oder Regierungserklärungen abzugeben, sondern daß es sich lediglich
um Gedankenaustausch handelt, dessen Ergebnis eventuell späteren
Beschlüssen der Botschafter als Material dienen könnte.
Russe befürwortete alsdann Punkt I seines Entwurfs, Bildung
einer einzigen armenischen Provinz. Österreicher wandte ein, daß
dadurch eine privilegierte Zone geschaffen würde, wodurch auch andere
Teile der Türkei zu Sonderbestrebungen ermutigt würden. Schönberg
wies auf die in Bericht 208** erwähnten Schwierigkeiten hin, ein so
großes Gebiet als Provinz zu verwalten, und fragte, warum nicht auch
Cilicien in Reformzone einbegriffen sei***. Engländer und Russen be-
gründeten dies damit, daß Armenier in Cilicien von denen in den sechs
Wilajets Agenten tätig seien, und daß sich darunter auch russische Untertanen
befänden. Dies seien aber selbst Armenier, welche allerdings ein Einrücken
Rußlands in das türkische Grenzgebiet herbeiführen möchten. Daß russische
Konsuln mit diesen Machenschaften etwas zu tun hätten, stellte der Minister
auf das allerentschiedenste in Abrede".
* Siehe Nr. 15 346.
*• Siehe Nr. 15 347.
*** Gegen diese Anregung sprach Staatssekretär von Jagow durch Telegramm
Nr. 222 vom 8. Juli Bedenken aus. „Unsere öffentliche Meinung würde in der
Leitung der Reformaktion in Cilicien durch Angehörige dritter Mächte zweifel-
los einen deutschen Echec erblicken."
98
Wilajets durch einen Gebietsstreifen mit nur schwacher armenischer
Bevölkerung getrennt seien, was Schönberg in Abrede stellte. Italiener
schloß sich allen deutschen, österreichischen Ausführungen an.
Engländer erklärte sich auffallenderweise für russischen Vorschlag
einer einzigen Provinz, was mit Bewilligung der beiden englischen
Generalinspektoren nicht in Einklang zu bringen ist. England dürfte
mit Widerstand gegen russisches Projekt so lange zurückhalten, als es
dieser Notwendigkeit durch Haltung der Dreibundmächte enthoben ist.
Wangenheim
Nr. 15 352
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 267 London, den 8. Juli 1913
Hatte Sir E. Grey auftragsgemäß (Telegramm 362 *) auf Gefahr zu
weitgehender Vorschläge für künftige Gestaltung Armeniens hinge-
wiesen. Der Minister hat hierauf nach Petersburg Anregung über-
mittelt, 95er Botschaftervorschläge zur Grundlage Armeniens Neu-
gestaltung zu nehmen, wobei auch türkische und russische Vorschläge
Berücksichtigung finden sollten. Für übrige Türkei könnten türkische
Vorschläge als Grundlage dienen. Ich habe gleichzeitig Inhalt Erlasse
1219 und 1222** verwertet, worauf der Minister mir sagte, er habe
seither erneute Weisungen nach Konstantinopel gesandt.
Lichnowsky
Nr. 15 353
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 374 Therapia, den 8. Juli 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 222***.
Schönbergs Antrag hat nur taktische Bedeutung. An seine An-
nahme ist nicht zu denken, tia die Tripelentente das russische Projekt
* Vgl. Nr. 15 344, S. 87, Fußnote *.
*• Erlasse Nr. 1219 und 1222 (4. Juli) hatten die beiden Konstantinopeler
Telegramme Nr. 356 und 358 (siehe Nr. 15 346 nebst Fußnote f) nach
London mitgeteilt.
••* Vgl. Nr. 15 351, Fußnote"*.
7* 99
als ein ensemble ä laisser ou ä prendre behandelt. Fällt der russische
Antrag, so wird Pforte Reformwerk auf Grund ihrer Zoneneinteilung
weiterführen. Für die cilicische Zone hatte schon Mahmud Schewket
auf englische Reformer verzichtet (vgl. Telegramm Nr. 275 und 286*);
ich glaube erreichen zu können, daß dort und für Syrien ein türkischer
Generalinspekteur bestellt wird. Dagegen würde es nicht unbedenklich
sein, deutsche Reformer gerade für dieses Gebiet zu verlangen, da
die äußerlichen Kennzeichen der deutschen Interessensphäre ent-
sprechende Forderungen Frankreichs für Syrien, Rußlands für Arme-
nien und Englands für Golfgebiet etc. zur Folge haben würden. Pforte
würde sich einer solchen administrativen Verteilung des Landes an die
Interessenten auf das äußerste widersetzen. Die Anzahl der deutschen
Reformer einschließlich Offiziere innerhalb des ganzen Reformgebiets
dürfte in jedem Falle größer werden als die der Reformer irgend-
eines anderen Landes.
Es ist unmöglich, gleichzeitig die Schaffung einer russischen Inter-
essensphäre zu bekämpfen und diejenige einer deutschen vorzubereiten**.
Wangenheim
Nr. 15 354
Der Botschafter in Paris Freiherr von Schoen an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 266 Paris, den 10. Juli 1913
Höre streng vertraulich von meinem englischen Kollegen ***, daß
seine Regierung unter keinen Umständen für russisches Reformprojekt
Armeniens zu haben sein werde. Sie habe dies auch in Petersburg
und hier deutlich zu erkennen gegeben.
Herr Pichon hat gestern meinem österreichisch-ungarischen Kol-
legen erklärt, er sei entschieden gegen Aufrollung der kleinasiatischen
Frage.
Schoen
* Siehe Nr. 15 306 und 15 311.
** Auf das obige Telegramm antwortete Staatssekretär von Jagow am 9. Juli
(Nr. 225) : „An deutsehe Reformer ist unsererseits gar nicht gedacht. Mit
Türken einverstanden."
*** Sir F. L. Bertie.
100
Nr. 15 355
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 375 Konstantinopel, den Q.Juli 1913
[pr. 11. Juli]
Im Anschluß an Telegramm Nr. 369 *.
In heutiger Sitzung der Armenierkommission befürworteten Russen
Ernennung eines Generalgouverneurs auf fünf Jahre durch Sultan mit
Zustimmung der Mächte. Österreicher treten ein für Beibehaltung der
Wali, Ernennung der fremden Generalinspektoren ohne Zustimmung
der Mächte und Kontrolle durch die Mächte in verstärkterer Form,
als Reformdekret 1895 vorsah. Souveränität des Sultans werde durch
Verwirklichung des russischen Projekts geschmälert, was unzulässig.
Schönberg schloß sich diesen Ausführungen an und hinwies darauf, daß
russischer Vorschlag aus Armenien eine autonome Provinz machen
wolle, was nach allen bisherigen Erfahrungen territorialen Status quo
der Türkei gefährden müsse. Man dürfe nicht Einrichtung des Libanon
auf 80 mal größeres Gebiet übertragen. Engländer und Franzosen er-
klärten russischen Vorschlag für einfacher und den lokalen Bedürfnissen
entsprechend. Italiener traten deutsch-österreichischen Ausführungen
bei.
Wangenheim
Nr. 15 356
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 376 Therapia, den 9. Juli 1913
[pr. 11. Juli]
Im Anschluß an Telegramm Nr. 374**.
Im Laufe eines Gesprächs, welches ich heute mit Großwesir hatte,
führte ich folgendes aus: Mir lägen Nachrichten vor, nach welchen
Pforte sich wegen Überlassung von Zivilreformern nicht nur an England,
sondern auch an andere Mächte, zum Beispiel Belgien, gewandt habe.
Wir seien bisher offiziell nicht angegangen worden. Nun habe aber
gerade die deutsche Arbeit die Türkei mit wichtigen Wirtschaftsadern
* Siehe Nr. 15 351.
** Siehe Nr. 15 353.
101
durchzogen. Das deutsche Volk werde es nicht verstehen, wenn unsere
Tätigkeit ausschließlich unter nichtdeutsche fremde Kontrolle gestellt
werde. Namentlich gelte dies für Cilicien, wo der Brennpunkt unserer
Tätigkeit liege, in zweiter Linie auch für Gebiete, welche anderer Re-
formzone zugeteilt seien, zum Beispiel für Diarbekr und Aleppo. Said
Halim erwiderte, er wisse, daß ich ähnliche Bedenken schon Mahmud
Schewket gegenüber geltend gemacht habe. Er sei durchaus geneigt,
unserem Standpunkt Rechnung zu tragen, und werde die Verteilung
der fremden Reformer nur im Einverständnis mit mir vornehmen. Vor-
läufig werde er nur die verschiedenen Regierungen um Überlassung
von Reformern bitten, ohne deren hiesige Verwendung zu präzisieren.
Solche Verhandlungen nähmen erfahrungsgemäß längere Zeit in An-
spruch. Die Verteilung könne erst nach Friedensschluß vorgenommen
werden.
Wangenheim
Nr. 15 357
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 377 Therapia, den 9. Juli 1913
[pr. 11. Juli]
Im Anschluß an Telegramm Nr. 374*.
Der französische Geschäftsträger** erzählte mir, nach einem Tele-
gramm Cambons sei diesem von dem Kaiserlichen Unterstaatssekretär
gesagt worden, das russische Projekt werfe die Frage auf, ob geteilt
werden solle oder nicht1. Ich erwiderte, ich sei vollkommen der An-
sicht Herrn Zimmermanns. Die Abtretung der russischen Zone werde
die übrigen Mächte zwingen, gleiches Regime für ihre Interessen-
sphäre zu verlangen. Im übrigen sei das Projekt Mandelstam bei der
Türkei nur durch eine gemeinsame Zwangsaktion aller Mächte durch-
zusetzen. Es sei doch viel einfacher, auf dem weiterzubauen, was die
Türkei freiwillig geben wolle. Ich sei überzeugt, daß gegenwärtig
bei den türkischen Staatsleitern der aufrichtige Wille besteht, unter
fremder Mitwirkung und selbst Kontrolle Reformen durchzuführen.
Erweise sich das türkische Projekt als unzulänglich, so sei immer noch
Zeit, zu schärferen Mitteln zu 'greifen. Das russische Projekt könne
als epouvantail im Hintergrund bleiben. Kontrolle der Mächte sei mit
• Siehe Nr. 15 353.
** Botschaftsrat A. Boppe.
102
Hilfe der 1895 vorgesehenen Kommission oder noch besser dadurch zu
bewerkstelligen, daß der Generalinspekteur über nicht zu beseitigende
Mißstände an die Botschafterkonferenz berichtete, die sich dann wegen
Remedur an die Pforte wenden würde. Letzteres sei auch die An-
sicht Markgraf Pallavicinis. Herr Boppe schien persönlich meiner
Auffassung zuzuneigen. Wenigstens sagte er mir, die Anregung der
Teilung sei gefährlich und jedenfalls verfrüht. Ob ich nicht einmal
mit Herrn von Giers sprechen wollte? Ich sagte, daß ich keinen Grund
hätte, meine Ansicht vor dem russischen Botschafter geheimzuhalten,
daß ich mir aber von einer Aussprache mit ihm wenig verspreche.
Wangenheim
Randbemerkung Zimmermanns:
1 Neue Phantasien Herrn Cambons!
Nr. 15 358
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 383 Konstantinopel, den 12. Juli 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 375 *.
In heutiger Sitzung der Armenierkommission erklärte Österreicher
für den grundsätzlich auch von ihm bekämpften Fall der Einsetzung
eines Generalgouverneurs der vereinigten armenischen Provinzen sich
damit einverstanden, daß diesem das Recht der Ernennung und Ab-
setzung der Beamten gegeben werde. Schönberg widersprach dem
Ernennungsrecht, durch welches Souveränität des Sultans geschmälert
würde.
Für Verwaltungsrat erhofft Russe gleiche Zahl der wählbaren
Mitglieder für Christen und Mohammedaner. Schönberg befürwortet
Proportionalität. Desgleichen für Provinzialversammlung. Österreicher
nahm das russische Prinzip an und bekämpft nur technische Einzel-
heiten. Italiener trat Österreicher bei.
Haltung österreichischen Vertreters beruht, wie nachträglich fest-
gestellt, auf Instruktion des Markgrafen Pallavicini, der russischen Ent-
wurf nach Ablehnung des Hauptpunktes als gefallen ansieht und in
Nebenfragen Entgegenkommen zeigen möchte. Diese Taktik scheint
bedenklich, da Österreich später jetzige Erklärungen entgegengehalten
werden können, und da Anschein von Meinungsverschiedenheiten
zwischen Dreibundvertretern vermieden werden sollte. Ich werde da-
• Siehe Nr. 15 355.
103
her bei österreichischem und italienischem Kollegen eingehende Ver-
ständigung unserer drei Delegierten vor jeder Sitzung anregen*.
Wangenheim
Nr. 15 359
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales**
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen Botho von Wedel
Nr. 923 Berlin, den 14. Juli 1913
[abgegangen am 18. Juli]
Euerer Exzellenz beehre ich mich im Anschluß an den Erlaß
vom 9. d. Mts. — Nr. 895*** — zur Regelung Ihrer Sprache nach-
stehende Gesichtspunkte hinsichtlich unserer Auffassung über die arme-
nische Reformfrage mitzuteilen.
Die russische Initiative betreffend die armenischen Reformen haben
wir schon deshalb freudig begrüßt, weil auch wir selbst von der Not-
wendigkeit überzeugt waren, daß zur Erzielung geordneter Verhält-
nisse in dem seit Jahrzehnten von Unruhen heimgesuchten Gebiete
etwas geschehen mußte. Diese Initiative hat auch bereits das glück-
liche Ergebnis gehabt, der Türkei die Notwendigkeit von Reformen
vor Augen zu rücken und sie zur Ausarbeitung eines eigenen Reform-
projektes zu veranlassen.
Das russische (Mandelstamsche) Reformprojekt gibt uns indessen
zu den ernstesten Bedenken Anlaß.
Die Zusammenfassung der sechs türkischen Wilajets zu einem
einheitlichen Armenien, welches überdies nicht einmal alle Armenier
einschließen würde, wäre der erste Schritt zur ethnologisch-geogra-
phischen Aufteilung der Türkei, denn es würde kaum ausbleiben, daß
• Das obige Telegramm wurde mittels Erlaß Nr. 1060 bzw. 961 nach Wien
und Rom mitgeteilt. Daran schloß sich die Bemerkung: „Derartigen Meinungs-
verschiedenheiten zwischen den Dreibundvertretern in der Armenierkommission
muß unter allen Umständen für die Zukunft vorgebeugt werden. Ich habe mich
daher mit der Schlußanregung des Kaiserlichen Botschafters telegraphisch ein-
verstanden erklärt. — Euere Exzellenz bitte ich, sich dort in gleichem Sinne
auszusprechen und auf entsprechende Instruktionen nach Konstantinopel hin-
zuwirken."
** Der gleiche Erlaß ging mutatis mutandis an die Botschafter in London
(Nr. 1308), Paris (Nr. 1233), Wien (Nr. 1067) und Rom (Nr. 968).
*** Durch Erlaß Nr. 895 vom 9. Juli war dem Grafen Pourtales der große Be-
richt Freiherrn von Wangenheims vom 3. Juli über das Mandelstamsche und das
türkische Reformprojekt (siehe Nr. 15 347) mit dem Bemerken mitgeteilt
worden, daß das Auswärtige Amt mit den von Freiherrn von Wangenheim
angedeuteten Richtlinien einverstanden sei.
104
auch die übrigen Volksteile Kleinasiens, Syriens, Arabiens dieselben
Vorteile einer eigenen zentralen Verwaltung für sich anstreben würden,
was ja auch den Absichten Herrn Sasonows zuwiderläuft. Aus dieser
Erwägung heraus und unter dem Gesichtspunkte, daß man schließ-
lich die Selbstbestimmung in Verwaltungsangelegenheiten der Regie-
rung eines Landes selbst überlassen soll, erscheint zunächst eine Prü-
fung des türkischen Reformprojektes und seine tunlichste Be-
rücksichtigung und Anwendung empfehlenswert. Wir sind der An-
sicht, daß man erst beim Fehlschlagen der türkischen Aktion auf
Abänderungen bezw. auf der Einführung von Reformen nach einem
von den Mächten auszuarbeitenden Projekte bestehen sollte. Gegen-
wärtig würden wir der Türkei nur die Ergänzung ihres eigenen Pro-
jektes gemäß dem türkischen Dekrete von 1895 empfehlen können.
Diese Ergänzung würde sich unseres Erachtens vor allem auf Schaf-
fung einer zur Hälfte aus Türken, zur Hälfte aus Delegierten der
Großmächte bestehenden und unter türkischem Vorsitz tagenden Kon-
trollkommission zu richten haben. Eine solche Kontrollkommission,
bei welcher armenische Beschwerden und Wünsche zu prüfen und
Informationen sowie Instruktionen für die Verwaltungsorgane auszu-
arbeiten wären, würde gleichzeitig der Türkei die erwünschte Unter-
stützung gewähren und den Mächten Gelegenheit bieten, sich von
der Art der Durchführung der geplanten Reformen dauernd zu über-
zeugen. Ein derartig erweitertes türkisches Reformprojekt, welches
wenn möglich noch durch Einführung der im türkischen Dekret von
1895 bereits vorgesehenen christlichen Gehilfen für die oberen Ver-
waltungsorgane zu ergänzen wäre, scheint uns in jeder Weise vor dem
russischen Mandelstamschen Projekte den Vorzug zu verdienen.
Ich habe in obigem Sinne bereits mit dem Botschafter Sver-
wejew vor seiner Abreise nach Petersburg gesprochen und ihn ge-
beten, meine Bedenken gegen das russische Projekt Herrn Sasonow
mitzuteilen*. Dabei habe ich betont, daß ich von der ehrlichen Ab-
sicht Herrn Sasonows, die Integrität der Türkei zu erhalten, fest
überzeugt sei**, es mir aber zweifelhaft erschiene, ob das russische
Projekt das geeignete Mittel hierzu darstelle.
Jagow
* Bei dieser Gelegenheit war der deutsche Standpunkt bezüglich des Man-
delstamschen Projekts auch schriftlich durch ein Aide-memoire zum Ausdruck
gebracht worden. Siehe dasselbe in dem Russischen Orangebuch: Les Reformes
en Armenie, p. 75 s.
** Ob wirklich auf Seiten der russischen Staatsmänner die ehrliche Absicht
bestand, die Integrität der Türkei zu erhalten, wird doch zweifelhaft, wenn man
das Geheimtelegramm Nr. 543 des russischen Botschafters in Konstantinopel
Giers vom 11. Juli (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914,
ed. Fr. Stieve, III, 201 f.) liest: „Ich bin mit Benckendorff völlig gleicher
105
Nr. 15 360
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den italienischen Botschafter in Berlin Bollati
Eigenhändiges Konzept
Tres confidentielle Berlin, le 16 juillet 1913
Sur votre desir je viens vous repeter ce que j'ai dit ä Monsieur
le Marquis di San Giuliano l'autre jour ä Kiel par rapport ä nos
interets en Asie Mineure.
Les constructions des chemins de fer d'Anatolie et de Bagdad
et les differents travaux qui s'y rattachent (mines, irrigations, con-
structions de ports etc.), poursuivis depuis des annees par le capital
allemand, representent un ensemble de concessions et d'interets qui
s'etendent sur une certaine partie de la Turquie asiatique et y forment
une zone de travail allemande. Cette zone de travail va aussi jusqu'ä
la cote meridionale de l'Asie Mineure oü se trouvent precisement
plusieurs entreprises des plus importantes. Vers l'Est cette zone s'etend
ä peu pres jusqu'ä Akra ou meme jusqu'ä Ladikije, tandis que ä
l'Ouest eile va jusqu'ä Alaja. De lä sa limite monte vers le Nord-Ouest
et suit la ligne du Taurus en comprenant le lac de Kirili (Lacus
Carolis) qui doit fournir l'eau pour l'irrigation de la planie de Konia.
Plus loin, ä l'Est et au Nord, la limite ne saurait etre tracee avec pre-
cision, des interets francais et russes pas encore fixes se trouvant en
cause.
En appuyant une fois de plus sur le caractere strictement
confidentiel de cette communication, je vous prie, mon eher
Ambassadeur, de me croire votre sincerement devoue
Jagow
Meinung, daß jetzt unser Verhältnis zu den kleinasiatischen Fragen mit
England und Frankreich geklärt werden muß. Die Aufrechterhaltung der
Integrität der Türkei in Asien liegt in unserer Hand, und wenn der gänz-
liche Zerfall des ottomanischen Reiches auch noch ferne ist, so kann er
doch schnell eintreten, und dafür sind wir nicht vorbereitet. Zwar gehen
die armenischen Reformen nicht darauf aus, den Verfall zu verhindern,
aber sie sind praktisch nicht durchführbar, wenn sie nicht die Be-
teiligung Europas durch die Ernennung eines Generalgouverneurs und seine
Kontrolle über die Durchführung der Reformen gewährleisten." Es zeigt sich
hier der grundlegende Unterschied in der deutschen und in der russischen
Haltung in der armenischen Frage: Deutschland sah in den armenischen Re-
formen ein Mittel, die Integrität der Türkei zu erhalten, Rußland ein Mittel,
den Stein ins Rollen zu bringen, um den Zerfall des türkischen Reiches, wenn
nicht herbeizuführen, so doch zu russischen Zwecken auszunützen.
106
Nr. 15 361
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Privatbrief. Ausfertigung
Therapia, den 15. Juli 1913
[pr. 17. Juli]
Ihre freundlichen Zeilen vom 8. d. Mts.* erhöhen mein Bedauern,
nicht zu einer Rücksprache nach Berlin haben kommen zu dürfen. Es
ist kaum möglich, während eines längeren Zeitraums die verwickelten
hiesigen Verhältnisse schriftlich oder telegraphisch in einer Weise zu
behandeln, die jede Unklarheit und jedes Mißverständnis ausschließt.
Vieles, was hier natürlich und selbstverständlich ist, erscheint am
anderen Ende des Kabels oder der Postverbindung seltsam und un-
erklärlich. Leider werden ja immer noch Wochen, wenn nicht Monate
vergehen, bevor ich an einen Urlaub denken kann.
Quoad Armenien waren wir Dreibundkollegen der Meinung ge-
wesen, daß diejenigen Mächte, welche das russische Projekt annähmen,
damit gleichzeitig ihren Entschluß, das Ende der Türkei herbeizuführen,
bekunden würden, und daß, wenn England dem Projekte zustimmte,
jeder Versuch der übrigen Mächte, den Zusammenbruch aufzuhalten,
vergeblich sein würde. Nachdem England die zwei Oeneralinspekteure
für den Osten und Norden zugesagt hatte, hegten wir die Hoffnung,
daß die englische Botschaft das Projekt Mandelstam um so lebhafter
bekämpfen würde, je größere Zurückhaltung wir selbst üben würden.
Diese Voraussicht hat sich nicht erfüllt. Wie ich jetzt weiß, hatte Sir
G. Lowther seiner Regierung schon vor Beginn der Beratungen tele-
graphiert, daß die Dreibundmächte Bedenken gegen den russischen
Antrag äußern würden. Fitzmaurice dürfte danach in die Verhand-
lungen mit der Instruktion eingetreten sein, in allen von uns be-
kämpften Punkten für Rußland zu stimmen und damit die Verant-
wortung für das Scheitern des Projekts auf den Dreibund abzuwälzen.
Vielleicht wäre es taktisch richtiger gewesen, England, Frankreich und
Rußland, welche schon 1895 ohne uns den Reformplan ausgearbeitet
hatten, zunächst ä trois ein neues Projekt aufstellen zu lassen unter
Vorbehalt unserer späteren Stellungnahme dazu. Dann hätte England
wahrscheinlich Farbe bekennen müssen. Wie die Dinge sich entwickelt
haben, konnte von einem Vorschieben Englands durch den Dreibund
keine Rede sein. Da wir an den Verhandlungen teilnahmen, konnten
wir nicht schweigen, sondern mußten unsere abweichenden Ansichten
äußern, wodurch England entlastet wurde. Ob England nach dem Falle
des Projekts Mandelstam aus seinem Fuchsbau herauskommen wird?
Nicht bei den Akten. Vgl. Nr. 15 333.
107
Wenn es sich dann wenigstens auf den Standpunkt stellen wollte, daß
bei der Unmöglichkeit, den russischen Reformplan durchzusetzen, das
nächst schlechtere Projekt zur Sanierung Armeniens, das heißt das
türkische Programm durchgeführt werden müsse. Daß Sir E. Grey an
so etwas denkt, ist vielleicht aus seinem Entgegenkommen in der Frage
der Generalinspekteure zu entnehmen, die ja durch das Projekt Mandel-
stam in Wegfall kommen würden. Auf diesem Wege könnten wir
England freudig folgen und selbst weites Entgegenkommen in betreff
der Kontrolle beweisen. Vorläufig sehe ich allerdings noch nicht, wie
England sich dann mit Rußland auseinandersetzen würde. Unter Ruß-
land verstehe ich nicht Herrn Sasonow, der mir ein verständiger und
extremen Wendungen abgeneigter Mann zu sein scheint. Rußland im
Sinne der Orientfrage ist die hiesige russische Botschaft. Diese be-
trachtet sich von jeher als ein Institut zur Verwirklichung des letzten
Willens Peters des Großen und arbeitet als solches fast ganz unabhängig
von St. Petersburg. Die Traditionen sind auf der russischen Botschaft
immer stärker gewesen als die Einflüsse des jeweilig leitenden Bot-
schafters. Die Traditionen verkörpern sich in der großen Anzahl der
seit vielen Jahren hier tätigen Botschaftsbeamten und in den weltlichen
und kirchlichen Organen, die von der Botschaft hier und in der übrigen
Türkei ressortieren. So vollzieht sich das hiesige amtliche Treiben
Rußlands in einer Atmosphäre von religiösem und politischem Fana-
tismus, über welchem eine Wolke von Mystizismus und gelegentlich
auch von Alkohol schwebt. Es hat noch keinen russischen Botschafter
— Sinoview vielleicht ausgenommen — gegeben, der in diesem Milieu
nicht bald selbst zu einem Fanatiker geworden wäre. Jeder Botschafter
fühlt sich nach einiger Zeit als Testamentsvollstrecker und betrachtet
seine Mission als ein heiliges Kommissorium, in welches er sich nicht
hineinreden läßt. Er macht also eigene Politik, deren Endzweck
selbstverständlich nur der Sturz der türkischen Herrschaft sein kann.
Auch Herr von Giers hat diese Wandlung durchgemacht. In Bukarest
soll er noch ganz vernünftig gewesen sein. Jetzt geriert er sich als
Apostel und wirkt auf Nichtrussen ebenso komisch wie die Peters-
burger Lebemänner, die während der Osternacht in der Isaakkirche
verzückte Grimassen schneiden. Trotzdem ist er in seinem Wirken
äußerst ernst zu nehmen. Kurz nach der Zeichnung des Londoner
Präliminarfriedens hat er Markgraf Pallavicini halb ernst halb scherzend
gesagt, daß nunmehr für Rußland der Weg nach Konstantinopel ge-
öffnet sei. Das Projekt Mandelstam ist das Produkt dieser Über-
zeugung. Nach dem Bilde, welches mir von Herrn Sasonow entworfen
worden ist, bezweifle ich, daß er sich von der Tragweite der Giersschen
Pläne Rechenschaft ablegt. Ist er aber wie die meisten russischen
Staatsmänner empfindlich, so wird er die Ablehnung des Projekts
Mandelstam persönlich übelnehmen und sich vielleicht mit demselben
identifizieren. Dann würde Giers Oberwasser bekommen und wahr-
108
scheinlich Massakers provozieren. Alles kommt daher darauf an, daß
Sasonow uns rechtzeitig die Hand zu einem Ausgleich — türkischer
Reformplan und weitgehende europäische Kontrolle — bietet*.
Schönberg hat nicht die Ausdehnung der Reformen auf Cilicien
beantragt. Unter den Delegierten der Dreibundmächte war verab-
redet worden, Herrn Mandelstam recht gründlich ins Verhör zu nehmen
und ihn auch zu fragen, welche Gründe ihn bewogen hätten, gewisse
von Armeniern bewohnte Gebiete, darunter auch solche, welche zu
den sechs Wilajets gehören, von den Reformen auszuschließen. Tat-
sächlich hat sich Mandelstam eine armenische Zone für spezifisch
russische Zwecke zurechtgeschnitten. Nur Frankreich ist noch durch
Einbegreifen von Charput-Diarbekr mit Bezug auf seine Eisenbahn-
pläne bedacht. Da wir die Einheitsprovinz schon vorher bekämpft
hatten, so konnte in der Konferenz niemand auf den Gedanken kommen,
daß wir ein Großarmenien annehmen würden, wenn Cilicien dazu
käme. Außerdem ist vor Beginn der Verhandlungen ausdrücklich
festgestellt worden, daß die Dragomans nur unverbindliche Unter-
haltungen zur gegenseitigen Aufklärung führen sollten. Falls es zur
Durchführung der türkischen Zonenpolitik kommt, so würde unsere
Interessensphäre auf vier Zonen verteilt werden. Ohne fremde In-
strukteure können diese Zonen nicht bleiben. Ich werde später be-
müht sein zu erreichen, daß unserer öffentlichen Meinung durch Be-
rufung einiger Deutschen Rechnung getragen wird. Eventuell können
wir nach Adana einen deutschen Offizier als Kommandanten der
dortigen Truppen schicken. Bleibt die jetzige Regierung, so wird
kaum etwas ohne uns oder gegen uns geschehen.
Es wäre nützlich, wenn General Liman möglichst bald, zunächst
inkognito auf Urlaub, hierher käme**, damit er bei der Aufstellung der
Reformpläne und seines Kontrakts mitwirken und sich außerdem orien-
tieren könnte.
Wangen heim
* Auf den obigen Brief Freiherrn von Wangenheims antwortete Staatssekretär
von Jagow in einem vom 28. Juli datierten Privatbriefe, in dem es in bezug
auf das Mandelstamsche Projekt hieß: „Was das Mandelstamsche Projekt be-
trifft, so hoffe ich, daß es schließlich doch zu einer Einigung darüber zwischen
den Mächten kommen wird. Jedenfalls muß es unser Bestreben sein, mit allen
Mitteln auf einen Ausgleich hinzuarbeiten. Denn, kommt das Mandelstamsche
Projekt durch den Widerstand zu Fall, den w i r und unsere Bundesgenossen
demselben entgegensetzen, so ist mit Bestimmtheit zu erwarten, daß Rußland
und die ihm affiliierten Mächte bemüht sein werden, ihrerseits eine von uns
ausgehende Aktion zu Fall zu bringen. In unserem Interesse liegt es daher,
eine schroffe Stellungnahme gegen die russischen Vorschläge zu vermeiden und
nur den Versuch zu machen, im Kompromißwege den allerbedenklichsten Punkten
die Spitze abzubrechen."
** Vgl. dazu Kap. CCXC.
109
Nr. 15 362
Der Botschaf ter in Konstantinopel F reiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 222 Therapia, den 18. Juli 1913
Wiederholt habe ich bereits auf die Gefahr des russischen Reform-
projekts hingewiesen, als es bei ausschließlicher Bevorzugung der
sechs Wilajets leicht sowohl bei der Bevölkerung anderer türkischer
Gebietsteile separatistische Tendenzen auslösen wie in diesen eine
Einmischung anderer fremder Mächte begründen könne. Daß letzteres
Ziel speziell Frankreich nicht fernliegt, scheint mir aus der Äußerung
des Herrn Pichon gegenüber Freiherrn Von Schoen hervorzugehen,
wenn er meint, daß das Reformprojekt eine auch für die übrige Türkei
maßgebende Grundlage bieten müsse.
Wangen h eim
Nr. 15 363
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 247 Berlin, den 24. Juli 1913
Zu Euerer Exzellenz vertraulicher Information.
Nach Mitteilung des hiesigen englischen Geschäftsträgers* hat
Sir E. Grey in Petersburg mitteilen lassen, daß Projekt der Mächte be-
treffend armenische Reformen von türkischer Regierung ohne Zwangs-
maßregeln angenommen werden sollte, und daß wünschenswert sei,
* Die am 18. Juli überreichte Mitteilung des englischen Geschäftsträgers Lord
Granville lautete:
„Sir Edward Grey has impressed upon M. Sazonoff that two conditions are
essential to the success of reforms:
1) Unanimity amongst the Powers;
2) Acceptance of their scheme by the Ottoman Government without coercion.
Sir E. Grey has urged that both schemes of reform, namely that proposed by
Russia for the Armenian Vilayets and the general scheme proposed by Turkey,
should be discursed by the Ambassadors. It may be admitted, in Sir E. Grey's
opinion, that the reforms cannot be perfectly uniform for all provinces and
that the adoption of reforms in the Armenian provinces is the most urgent
consideration.
Sir Edward Grey hopes, that the necessary agreement to enable the discussion
to begin may be reached on these lines."
110
russisches und türkisches Projekt zu prüfen. Nach Greys Ansicht
sei zuzugeben, daß Reformen nicht in allen Provinzen ganz gleich-
artig sein könnten und für Armenien am dringendsten seien.
Wien und Rom sind betreffs Reformen sachlich mit uns einverstan-
den, doch wünschen beide, bei Beratung des Projekts russische Emp-
findlichkeit möglichst zu schonen. Dies erscheint auch uns angezeigt.
Jagow
Nr. 15 364
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 404 Konstantinopel, den 23. Juli 1913
[pr. 24. Juli]
In heutiger Sitzung der Armenierkommission herrschte Einig-
keit darüber, daß Kontrolle der armenischen Reformen nicht durch
ständige Kommission, sondern auf diplomatischem Wege, wie in Be-
richt 217* dargelegt, ausgeübt werden müsse. Damit war Diskussion
des russischen Projekts beendigt.
Dreibunddelegierte gaben alsdann gemeinsam Erklärung ab, daß
es ratsamer sei, den armenischen Reformen die türkischen Reform-
gesetze zugrunde zu legen, die in mehreren von ihnen fixierten Punkten
zu ergänzen wären. Russe will hierauf in morgiger Sitzung antworten.
Erklärung der Dreibunddelegierten abgeht mit nächster Post Sonn-
abend **.
Wangenh eim
Nr. 15 365
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 405 therapia, den 24. Juli 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 404***.
In heutiger Sitzung der Armenierkommission erklärten Dele-
gierte der Tripelentente als Antwort auf die gemeldete Erklärung
* Bericht Freiherrn von Wangenheims Nr. 217 vom 14. Juli — hier nicht ab-
gedruckt — unterzog die administrativen Bestimmungen des Mandelstamschen
Projekts einer sehr eingehenden Kritik.
** Vgl. Nr. 15 369.
*** Siehe Nr. 15 364.
111
der Dreibunddelegierten, sie hätten an ihren während der Besprechung
des russischen Projekts gegebenen Darlegungen nichts zu ändern.
Damit sind Vorbesprechungen beendigt.
Wange nh eim
Nr. 15 366
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 227 St. Petersburg, den 24. Juli 1913
Die mir mitgeteilten Gesichtspunkte betreffend die armenische
Reformfrage* habe ich in meinen Gesprächen mit Herrn Sasonow ver-
wertet und ihm die Bedenken Euerer Exzellenz gegen das Mandel-
stamsche Reformprojekt vorgehalten. Der Minister suchte diese Be-
denken dadurch zu entkräften, daß, wie er behauptete, das gedachte
russische Reformprojekt keine wesentlichen Neuerungen gegenüber
denjenigen Reformen enthalte, denen die türkische Regierung im Jahre
1895 im Prinzip bereits zugestimmt habe. Es gehe dies aus einer
Note hervor, welche die Türkei damals an die Botschafter gerichtet
habe.
Gestern berührte Herr Sasonow mir gegenüber von neuem die
Frage der armenischen Reformen und erzählte mir, daß vor kurzem
wieder einflußreiche Armenier, darunter auch ein Dumaabgeordneter,
bei ihm gewesen seien, um ihm die Unhaltbarkeit der Zustände in
den armenischen Wilajets zu schildern und ihm mitzuteilen, daß man
dort nur auf einen Wink der russischen Regierung warte, um den
Aufstand ausbrechen zu lassen. Der Minister will sehr ernst geant-
wortet haben, die russische Regierung denke gar nicht daran, einen
solchen Wink zu erteilen, er würde es vielmehr für ein Verbrechen
halten, die Armenier von hier aus zu hetzen.
Herr Sasonow bemerkte hierzu, ich könne daraus ersehen, in welch
schwieriger Lage sich die russische Regierung der Lage in Armenien
gegenüber befinde, und wie sie schließlich den Dingen nur ihren Lauf
zu lassen brauche, falls sie nach einem Vorwande suchen wollte,
um in türkisches Gebiet einzurücken.
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Herr Sasonow diese
Äußerungen in demselben Gespräch tat, in welchem er kurz vorher von
den Pressionsmitteln gesprochen hatte, die Rußland sich eventuell
genötigt sehen werde selbständig anzuwenden, um die Türkei in der
Frage der Grenze in Thrazien zum Nachgeben zu veranlassen **.
F. Pourtales
* Vgl. Nr. 15 359.
•• Vgl. darüber Bd. XXXV, Kap. CCLXXIV, Nr. 13 569.
112
Nr. 15 367
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow,
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 249 Berlin, den 27. Juli 1913
Auf Bericht Nr. 217 vom 14. d. Mts. *
Die Bedenken Ew. pp. gegen die russischerseits vorgeschlagene
Ausgestaltung der Stellung des Generalgouverneurs erscheinen zu-
treffend, solange man nur Armenien im Auge hat. Gebe aber zu be-
denken, ob bei Ausdehnung des Reformwerks auf ganz Kleinasien,
wie wir sie erstreben müssen, nicht auch in unserer Arbeitszone der
deutsche Einfluß in einer mit starken Machtbefugnissen ausgestatteten
Zentralstelle wirksamer zum Ausdruck kommen würde als in einer
größeren Zahl von untergeordneten Stellungen. Die Institution der
Generalinspektoren, wie sie der türkische Entwurf vorsieht, dürfte
hierfür kaum ausreichenden Ersatz bieten**.
Die Anwendung des Proportionalitätsprinzips bei Besetzung der
Verwaltungsräte und Provinzialversammlungen erscheint mir mangels
einer anerkannten Statistik und bei der Fluktuation des christlichen
* Vgl. Nr. 15 364, Fußnote*.
"Ausführlicher verbreitete sich Staatssekretär von Jagow über diesen Punkt
noch in seinem Privatbriefe an Freiherrn von Wangenheim vom 28. Juli (vgl.
Nr. 15 361, S. 109, Fußnote*). Es heißt da: „Die Frage der armenischen Re-
formen ist natürlich sehr schwer von hier aus zu beurteilen. Was den .General-
inspekteur oder -gouverneur' betrifft, so ist die Errichtung einer solchen Be-
hörde — solange es sich nur um Armenien handelt — natürlich von mehr wie
zweifelhaftem Werte, da die Sonderstellung Armeniens, gewissermaßen seine
Loslösung vom Ganzen, dadurch schärfer akzentuiert würde. Will man aber
mit den armenischen Reformen ein Schema auch für die anderen Teile der asia-
tischen Türkei finden, so frage ich mich doch, ob eine derartige Institution für
die Zukunft nicht auch in unserem Interesse liegen kann. Kommt es zur Liqui-
dation des türkischen Reiches, sei es aus innerem Zerfall oder infolge äußeren
Anstoßes, so würde es gewiß wichtig für uns sein, in unseren Interessengebieten
Organe zu finden, unter denen diese Teile ohne die Konstantinopeler Zentral-
gewalt fortbestehen könnten. Wir wären schwerlich imstande, große Gebiete
einfach zu annektieren und sie mit preußischen Landräten und anderen Admini-
strativorganen zu überschwemmen. Die Franzosen haben in Algier ein Haar
darin gefunden und daher in Tunis den Bey und die lokale eingeborene Admini-
stration fortbestehen lassen; das ist praktischer und billiger. Das Ideal ist
jedenfalls Ägypten mit dem Khedive. Bilden sich nun in den einzelnen Teilen
der Türkei Behörden aus, die gewissermaßen als Vizekönige oder Generalgouver-
neure funktionieren, so wäre die Etablierung eines Protektorates, unter
dem diese Vizefürsten weiterbestehen könnten, jedenfalls leichter. Es ist das
ein Gedanke, den ich zur Erwägung gebe."
8 Die Große Politik. 38. Bd. 113
und mohammedanischen Elements sehr bedenklich und droht Quelle
dauernder Reibungen zu werden. Fester Schlüssel, eventuell im Ver-
hältnis 3:2, für Mohammedaner und Christen, empfehlenswerter.
Ausführungen Ew. pp. in Bericht Nr. 208* und 217 ** über Kontroll-
kommission widersprechen sich. Generell glaube ich, daß baldiges
Zustandekommen eines Reformprojekts wünschenswert ist, um Ruß-
land jeden Vorwand zum Eingreifen in Armenien zu nehmen.
Jago w
Nr. 15 368
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow*
Privatbrief. Ausfertigung
Therapia, den 22. Juli 1913
[pr. 29. Juli]
Zwischen unserer türkischen Politik und derjenigen der hiesigen
russischen Botschaft gibt es keine Brücke. Der Gegensatz existiert,
seitdem wir angefangen haben, uns eine „Arbeitszone" in Kleinasien
zu begründen. Er war schon unter Marschall so prononciert, daß kaum
ein gesellschaftlicher Verkehr zwischen den beiden Botschaften mög-
lich war. Bei Übernahme des Postens riet mir Marschall, meine Be-
ziehungen zu Giers auf das äußerst Notwendige zu beschränken. Ich
habe diesen Rat nicht befolgt, sondern versucht, mich wenigstens
sozial Herrn von Giers zu nähern. Dieser wollte daraus sofort eine
politische Annäherung machen mit dem erkennbaren Zwecke, mich
von Pallavicini zu trennen. Der 'Balkankrieg hat dann einen Graben
* Siehe Nr. 15 347.
** Vgl. Nr. 15 364, Fußnote*.
*** Der obige Brief Freiherrn von Wangenheims war die Antwort auf einen
Jagowschen Brief vom 14. Juli, der zur Kenntnis des Botschafters brachte,
daß Sasonow sich gegenüber Graf Pourtales bitter über seine, Wangenheims,
„Russophobie" beklagt und gebeten habe, diese Klage an den Staatssekretär
gelangen zu lassen. Es hieß in dem Jagowschen Briefe: „Sasonow klagt
darüber, daß Sie Ihrer Russophobie ganz offen in türkischen und diploma-
tischen Kreisen Ausdruck gäben. Wenn wir uns im Kriegszustande befänden,
könnte ein deutscher Botschafter sich über Rußland kaum anders aussprechen.
Da die russisch-deutschen Beziehungen jetzt gute seien, besser als seit langen
Jahren, so könne man nicht umhin eine derartige Haltung befremdlich zu
finden. In der armenischen Frage behaupteten Sie fortgesetzt, daß Rußland nur
einen Vorwand suche, um die armenischen Wilajets zu annektieren, und warnten
die Türkei fortgesetzt vor den russischen Plänen. Ich halte es für richtig, diese
Äußerungen Sasonows, die Pourtales mir in einem Privatbrief mitteilt, zu Ihrer
vertraulichen Kenntnis zu bringen, da es für Sie wertvoll sein muß zu wissen,
wie man Ihre Haltung beobachtet und beurteilt." Am Schlüsse dieses Briefes
sprach Jagow seine eigene Auffassung dahin aus: „Ich bin mit Pourtales der
Ansicht, daß Sasonow selbst und die offizielle russische Leitung bona
114
zwischen Giers und mir gezogen, der durch die Armenierfrage noch
verbreitert worden ist. Giers schreibt sich ein Verdienst an der Be-
gründung des Balkanbundes zu und an dem Zusammenbruch der
europäischen Türkei. Jetzt benützt er die Armenierfrage, um den
Untergang auch der kleinasiatischen Türkei vorzubereiten. Da wir
letztere erhalten wollen, besteht zwischen mir und der russischen Bot-
schaft ein Kriegszustand. Unterstützt von Bompard bemüht sich Giers,
mir die Erfüllung meiner Aufgaben zu erschweren. Dafür bekämpfe ich
ihn jetzt in der Armenierfrage. Die Türken wissen, daß ich in dieser
Sache auf ihrer Seite stehe; daß sie dies bisweilen dem Russen gegen-
über verwerten, ist selbstverständlich und unvermeidbar. Meine Drei-
bundkollegen suche ich fest an der Strippe zu halten. Die Italiener
unterhalten hier immer einen geheimen Flirt mit den Russen. Ich
bezweifle nicht, daß sie ihre Stellung zum Projekt Mandelstam mit
dem Hinweis auf den deutschen „auch Italien verpflichtenden" Wider-
stand zu entschuldigen versuchen. Den direkten Anlaß zur Giersschen
Beschwerde scheint mir aber die Haltung der Armenier selbst ge-
geben zu haben. In den letzten Wochen erhielt ich wiederholt Be-
suche von Führern der armenischen Bewegung, die mich dazu be-
wegen wollten, für das Mandelstamsche Projekt zu stimmen. Von
einigen dieser Herren weiß ich sicher, daß sie vom russischen Bot-
schafter zu mir geschickt waren. Ich habe die Abgesandten nicht
darüber im Zweifel gelassen, daß ich das russische Projekt als eine
Gefahr für die Türkei und 'deshalb als unannehmbar für eine an dem
Fortbestande der Türkei interessierte Macht ansehe. Ich habe den
Armeniern ferner gesagt, sie handelten töricht, wenn sie sich für eine
wahrscheinlich unrealisierbare lex ferenda einsetzten, anstatt darauf zu
fide sind, wenn sie die Integrität der Türkei fürs erste erhalten zu wollen
erklären." Ähnlich äußerte sich Jagow in einem Briefe vom 24. Juli an den
preußischen Gesandten in Karlsruhe von Eisendecher, der angefragt hatte, ob ihm
für seinen bevorstehenden Aufenthalt bei den Cowes-Regatten, wo er mit dem
englischen König und englischen Staatsmännern zusammentreffe, irgendwelche
Winke gegeben werden könnten: „Ich halte es für nützlich, wenn Euere Exzellenz
dem König oder den englischen Politikern, denen Sie dort begegnen mögen, es
aussprechen, mit welcher Befriedigung wir das vertrauensvolle Zusammen-
arbeiten mit der englischen Regierung in allen den äußeren Orient bezüglichen
Fragen empfinden. Als allgemeine Richtlinien unserer Politik könnten Sie dabei
auf die Notwendigkeit der Erhaltung der asiatischen Türkei in ihrem jetzigen
Bestände hinweisen, ein Ziel, das auch Sir E. Grey wiederholt und bestimmt
als die Grundlage der englischen Politik bezeichnet hat. Daß dem amtlichen
Rußland zurzeit der Gedanke fernliegt, etwa durch vorzeitiges Aufrollen der
armenischen Frage auch die Integrität des der Türkei in Asien verbleibenden
Besitzstandes in Frage zu stellen, davon sind wir überzeugt. Es ist aber genug-
sam bekannt, wie leicht inoffizielle, chauvinistische Strömungen in Rußland die
Oberhand gewinnen und dann die amtlichen Kreise mit fortreißen. Für diesen
Fall auf England zählen zu können und sicher sein zu dürfen, daß es in einer
solchen Eventualität mäßigend auf den Ententefreund wirken würde, würde uns
von großem Werte sein."
8* 115
dringen, daß die lex lata, das heißt die türkischen Reformen unter der
Kontrolle der Mächte, so rasch wie möglich verwirklicht würde. Ein
Sperling in der Hand sei besser als eine Taube auf dem Dache. Genau
ebenso sind die Armenier von Pallavicini beschieden worden. Die Folge
ist, daß jetzt im Lager der Armenier Zweifel entstanden sind, ob man
durch Rußland in der Sache richtig geführt werde. Alles dies ist
Herrn von Giers bekannt geworden. Er sieht seine Politik bedroht.
Anstatt sich aber zu nähern, beschwert er sich bei seinem großen
Bruder darüber, daß er Schläge bekommen hat. Ich hätte im ver-
gangenen Jahre wiederholt Gelegenheit gehabt, die Haltung meines
russischen Kollegen zu beanstanden. Zum Romanowfest* waren nur
der englische und der französische Botschafter, nicht aber der Ver-
treter des verwandten deutschen Kaiserhauses eingeladen. Beim Re-
gierungsjubiläum ** haben alle Botschafter mir gratuliert mit Aus-
nahme des französischen und des russischen. Es widerspricht meinem
Naturell, mich über derartige Dinge zu beschweren. Aber Herrn
Sasonow könnte vielleicht mit Bezug auf Herrn von Giers doch ge-
sagt werden, daß, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen zu werfen
braucht. Im übrigen bin ich durchaus kein prinzipieller Russophobe.
Daß wir gute Beziehungen zu Rußland und namentlich die dynastischen
Beziehungen pflegen, halte ich für durchaus nützlich, wie ich es für
wenig erwünscht ansehe, daß bei uns der germanisch-slawische Gegen-
satz publizistisch breitgetreten wird. Allerdings bin ich kein Anhänger
einer intimeren Bindung an Rußland, weil dort der bündnisfähige
Faktor fehlt, solange die Geschicke Rußlands weniger durch den
Zaren und die Regierung als durch unberechenbare Volksströmungen
bestimmt werden. Hier in der Türkei aber ist es ausgeschlossen, sich
mit Rußland über andere als nebensächliche Fragen dauernd zu ver-
ständigen. Denn, wie ich Ihnen schon einmal schrieb, liegt die Leitung
der russischen Orientpolitik in den Händen hiesiger Fanatiker, zwischen
deren Zielen und den unsrigen sich eine Diagonale nicht finden läßt.
Solang ich hier mit Giers um das Schicksal der Türkei mich raufen
muß, werde ich meinem Kollegen immer ein Dorn im Auge sein. Nach
dem Kriege, und wenn die Armeniersache gesettelt ist, werden die
Gegensätze wieder unter der Oberfläche verschwinden. Vorläufig bitte
ich um eine kleine Kriegszulage an Vertrauen und Geduld.
Quoad Armenier, werden wir demnächst vor die Frage gestellt
werden, was geschehen soll, wenn 'das Projekt Mandelstam fällt, und
falls Rußland dann boudiert. Pallavicini und ich sind der Meinung
(Garroni *** wird uns ohne weiteres folgen), daß dann unsererseits etwas
* Am 5. März 1913 war das 300jährige Regierungsjubiläum der Romanows
feierlich begangen worden.
•* Gemeint ist das fünfundzwanzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II.
(15. Juni 1913).
*** Marquis Garroni, italienischer Botschafter in Konstantinopel.
116
geschehen muß, damit keine Massakers stattfinden, und damit wir nicht
die Verantwortung für das Scheitern der Reformen den Armeniern
gegenüber zu tragen haben. Halten Sie es für opportun, daß dann der
Dreibund die Sache in die Hand nimmt und dafür eintritt, daß die
Pforte zur Durchführung der Reformen angehalten wird, und daß der
Türkei die unerläßliche Unterstützung durch fremde Instrukteure ge-
währt wird? England könnte sich der Anregung wohl anschließen,
nachdem es bisher so bundestreu für Mandelstam eingetreten ist. Die
Aussicht, daß der Dreibund die Reformer stellen könnte, würde die
Entente vielleicht dazu bringen, sich auf den Boden des türkischen
Projekts zu stellen.
Wangenheim
Nr. 15 369
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 228 Therapia, den 24. Juli 1913
[pr. 29. Juli]
Im Anschluß an meine anderweitige Meldung* beehre ich mich
Euerer Exzellenz in der Anlage Abschrift der Erklärung** vorzulegen,
welche die Delegierten der Dreibundbotschaften in der Sitzung vom
23. d. Mts. betreffend die armenischen Reformprojekte abgegeben
haben.
Wangenheim
Anlage
Maintenant notre point de vue qu'il serait plus opportun de baser
les reformes ä introduire dans les Vilayets habites par les Armeniens
sur les lois ottomanes existantes ainsi que sur les Instructions pour les
Inspecteurs Generaux et la Circulaire de la Sublime Porte aux Am-
bassadeurs ottomans communiquees aux Ambassades par la Note du
1er juillet ct. nous estimons qu'il serait necessaire de demander au
Gouvernement Imperial de completer les lois et reglements en vigueur
par certaines dispositions supplementaires.
Nous sommes d'avis qu'il faudrait demander ä la Sublime Porte:
I. d'acquiescer ä l'etablissement d'un contröle europeen pour la
stricte et juste application des lois et reglements existants et ä introduire
sur la proposition des Inspecteurs Generaux. Le contröle aura de meme
* Siehe Nr. 15 364.
** Siehe Anlage.
117
pour but de veiller ä *ce que suite soit donnee aux propositions des
Inspecteurs Generaux. Quant ä la forme du controle, nous nous
referons ä ce que nous avons eu l'occasion d'exposer lor9 de la dis-
cussion de l'article XXII de l'avant-projet russe*.
II. a) d'admettre les conseillers techniques assistants des chefs
des departements du Vilayet au sein du Conseil administratif du
Vilayet.
b) d'assurer, dans les Vilayets oü les non-musulmans sont en
nombre, ä ceux-ci une representation, parmi les membres electifs du
Consei! administratif, correspondant ä leur proportion dans la popu-
lation du Vilayet.
III. a) d'assurer, dans tous les Vilayets oü les non-musulmans se
trouvent en nombre, ä ces derniers dans les Conseils Generaux la
representation ä laquelle ils peuvent pretendre.
Quant ä la repartition des sieges entre les differentes populations,
nous nous reportons aux declarations faites lors de la discussion de
l'article V de l'avant-projet russe.
b) d'obliger les Valis de convoquer le Conseil General en Session
extraordinaire ä la demande de deux tiers des membres.
c) de fixer la competence legislative et budgetaire du Conseil
General conformement aux articles 82 — 93 du projet elabore en 1880
par la Commission Europeenne.
IV. a) d'assurer, dans les Sandjacs et Kazas oü les non-musulmans
sont en nombre, ä ceux-ci une representation parmi les membres
electifs du Conseil administratif, correspondant ä leur proportion dans
la population du Sandjac et Kaza respectivement.
b) de fixer la competence des Conseils administratifs des Sandjacs
et Kazas conformement aux articles 115, 116, 139 et 140 du projet
elabore en 1880 par la Commission Europeenne.
V. a) de creer dans les Vilayets oü les Armeniens habitent en
masses compactes un corps de police et un corps de gendarmerie.
Ces corps seront recrutes parmi les habitants musulmans et non-
musulmans en tenant compte du principe de la proportionale.
b) d'engager des specialistes etrangers pour l'organisation de la
police et de la gendarmerie.
VI. de licencier les regiments 'de la cavallerie legere kurde.
VII. a) d'adopter, dans les provinces oü les Armeniens habitent
en masses compactes, le Systeme de la proportionalite dans lea cadres
des fonctionnaires et des juges.
b) de nommer des valis, mutessarifs et cai'macams appartenant ä
la religion de la majorite de la population des Vilayets, Sandjacs,
Kazas respectivement, ainsi que de leur adjoindre des muavins apparte-
nant ä l'autre religion.
* Es ist dies das Mandelstamsche Reformprojekt.
118
Nous recommandons en outre de proposer ä la Sublime Porte
l'acceptation integrale des dispositions contenues dans les articles XIV,
XV, § 1, 2, 3, et 5 de Tarticle XVI et article XVIII de l'avant-projet
russe.
En outre, il conviendrait ä notre avis, de recommander ä la Sublime
Porte de donner une Solution urgente ä la question agraire dans les
Vilayets de PAnatolie Orientale.
Nr. 15 370
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 423 Therapia, den 30. Juli 1913
Unter Bezug auf Telegramme Nr. 247* und 249**.
Italienischer Botschafter mitteilte mir vertraulich Telegramm seiner
Regierung vom 9. d. Mts., wonach Herr Pichon dem italienischen Bot-
schafter in Paris gesagt hat, er halte das Projekt Mandelstam für
unannehmbar. Herr Pichon habe sich ungefähr ebenso ausgesprochen
wie Herr von Flotow und hinzugefügt, daß seine Ansicht auch von
Sir E. Grey geteilt werde.
Hiesiger englischer Geschäftsträger sagte mir dagegen, er stehe
vollkommen auf dem Standpunkt des russischen Vorschlags. Eine
Beruhigung Armeniens sei die sicherste Gewähr gegen russische Er-
oberungsgelüste. Auch ein russischer Oberkommissar, der die nötige
Qualifikation besitze, sei durchaus annehmbar. Herr Marling steht
selbst nach Ansicht seiner eigenen Kolonie vollkommen unter dem
Einfluß Fitzmaurices, dem es vor allem darauf ankommt, die jetzige
Regierung mit Hilfe der armenischen Schwierigkeiten zu stürzen und
durch eine Kiamil Paschasche zu ersetzen.
Wangenheim
Nr. 15 371
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 425 Konstantinopel, den 31. Juli 1913
Aus dem Telegramm Nr. 249*** ersehe ich, daß Euere Exzellenz
eventuell geneigt wären, einen mit weitgehenden Machtbefugnissen
* Siehe Nr. 15 363.
** Siehe Nr. 15 367.
••* Siehe Nr. 15 367.
119
ausgestatteten Oberkommissar für Armenien unter der Voraussetzung
zuzulassen, daß für unsere Arbeitszone ein deutschen Einflüssen . . .*
Oberkommissar mit analogen Befugnissen ernannt wird. Hierzu wäre
zunächst erforderlich, daß das auf fünf Zonen verteilte deutsche Arbeits-
gebiet zu einer Provinz vereinigt würde. Dem würde sich die Pforte
auf das äußerste widersetzen. Denn durch die türkische Zoneneintei-
lung soll gerade der Bildung von Interessensphären vorgebeugt werden.
Auch liegt es in der Absicht der türkischen Regierung, in den einzelnen
Zonen den Einfluß derjenigen Nationen möglichst auszuschalten, welche
in diesen Gebieten besondere Interessen haben. Der türkische Wider-
stand würde nur mit demselben Mittel zu überwinden sein, welches
zur Durchsetzung des Projekts Mandelstam angewendet werden muß,
nämlich mittels einer Kollektiv-, wahrscheinlich sogar einer Zwangs-
aktion sämtlicher Mächte. Wir müßten also zunächst von den Entente-
mächten als Kompensation für unser Eintreten für das Projekt Mandel-
stam die Zusage extrahieren, ihrerseits für die Schaffung einer deut-
schen Zone sich einsetzen zu wollen. Mit dem Verlangen nach einer
Interessensphäre würden wir uns aber denjenigen Mächten anschließen,
welche zielbewußt auf die Aufteilung hinarbeiten. Die Zerlegung der
Türkei in Interessensphären bedeutet den vorletzten Akt der Tragödie.
Nun bin ich zwar der Meinung, daß die Türkei sich nur unter ganz
bestimmten Voraussetzungen halten lassen wird, und daß selbst die-
jenigen Mächte, welche die Türkei konservieren wollen, durch ihre
Bemühungen, Rußland an das europäische Konzert zu fesseln, ge-
zwungen sind, die zersetzende russische Orientpolitik teilweise mit-
zumachen wie England oder ihr wenigstens nur vorsichtig entgegen-
zutreten wie Deutschland. Ob aber gerade für uns der Zeitpunkt
gekommen ist, die Situation mit Bezug auf die Zukunft der Türkei
durch die Anregung von Interessensphären zu klären, möchte ich be-
zweifeln. Der Entschluß dazu würde einen entscheidenden Wende-
punkt in unserer türkischen Politik bedeuten. Letztere war bisher auf
die Erhaltung und Konsolidierung der asiatischen Türkei gerichtet und
verfolgte dieses Ziel, indem sie für die Autorität der türkischen Re-
gierung eintrat und Zwangsmaßregeln der (europäischen Mächte tun-
lichst verhinderte. Lediglich auf diesem Zusammengehen mit der Türkei
beruhte der deutsche Einfluß in Konstantinopel. Dieser Politik ver-
danken wir unsere politischen Erfolge. Ich bin dementsprechend auch
in der Armenierfrage davon ausgegangen, daß ein Zwang der Pforte
zu vermeiden und daß auf dem von der Pforte daselbst vorgelegten
Reformprogramm weiterzubauen sei. Eine entgegengesetzte Politik
birgt die Gefahr, daß wir von unseren Gegnern als die Aufteilungs-
lustigen hingestellt werden, und daß unser Kredit bei der Türkei damit
vorzeitig völlig untergraben wird. Es kommt hinzu, daß Österreich
* Zifferngruppe fehlt.
120
und Italien sich gegen eine Aufteilungspolitik, bei der sie zu kurz
kommen müßten, lebhaft sträuben, und daß wir uns daher in dieser
Frage von den anderen Mitgliedern des Dreibundes trennen müßten.
Trotz der Haltung der hiesigen englischen Botschaft nehme ich nach
den Äußerungen Sir E. Greys an, daß auch England im Grunde die
Erhaltung der Türkei will. Wir würden daher durch Propagierung
von Interessensphären nur russische Politik machen und uns zu den
letzten Absichten der englischen Politik in Widerspruch setzen.
Aus allen diesen Erwägungen komme ich zu dem Schluß, daß wir
unseren Widerstand gegen die gefährlichen Punkte des Projekts nicht
aufgeben dürfen, dagegen aber mit Nachdruck für die Durchführung
des türkischen Reformprogramms eintreten müssen, wobei wir Ruß-
land dadurch entgegenkommen können, daß wir uns für eine mög-
lichst unabhängige und starke Stellung der Generalinspekteure und
eine Kontrolle der Reformen durch die Botschaften einsetzen. Auf
diesem Wege können wir zu einer Verständigung mit der Pforte ge-
langen, während der andere Weg ins Ungewisse führt. Eine einseitige
Unterstützung des russischen Programms scheint mir schon durch
Rücksicht auf unsere öffentliche Meinung ausgeschlossen.
Die Gefahr, daß Rußland eines Tages in Armenien einrückt, be-
steht ganz unabhängig von der Armenierfrage, die doch nur als Vor-
wand dient. Wird Rußland den Mut haben, sich von dem europäischen
Konzert zu trennen und damit die Gefahr eines europäischen Kon-
flikts heraufzubeschwören? Ohne England wird Rußland den Schritt
kaum wagen, und wenn England den Untergang der Türkei will, so
können wir sie allein nicht retten. Nach meiner unmaßgeblichen Mei^
nung gibt es für uns nur ein sicheres Mittel, die Türkei vorläufig zu
retten, die offene Erklärung, daß wir uns bei der Teilung nicht aus-
schließen lassen. Letzteres war auch die Meinung Mahmud Schewkets.
Wangenh eim
Nr. 15 372
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 239 Therapia, den 1. August 1913
Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg hat unter dem 10. Juli
über eine Unterredung berichtet*, die er mit Herrn Sasonow über die
* Vgl. Nr. 15 349, S. 97, Fußnote*. Der fragliche Bericht Graf Pourtales' war
durch Zirkularerlaß vom 15. Juli den Botschaften in Konstantinopel, London,
Paris, Wien und Rom mitgeteilt worden.
121
armenische Frage gepflogen, und in welcher sich der russische Minister
des Auswärtigen energisch dagegen verwahrt hat, daß die russische
Politik irgendwelche Sonderbestrebungen in Armenien verfolge oder
gar auf die Aufteilung der Türkei hinarbeite. Lediglich das Ziel, in
dem benachbarten Armenien geordnete Verhältnisse einziehen zu sehen,
bestimme die russische Regierung, die Frage der armenischen Re-
formen als dringlich zu betreiben.
Es liegt mir fern, die subjektive Aufrichtigkeit in den Erklärungen
des Herrn Sasonow irgendwie anzuzweifeln. Herr Sasonow hat sich
bisher als ein zuverlässiger und gewissen populären russischen Strö-
mungen gegenüber bemerkenswert unabhängiger Staatsmann erwiesen.
Ich glaube daher gern, daß ihm persönlich der Gedanke einer russischen
Expansion in Armenien gegenwärtig fernliegt.
Aber ein anderes ist die Ansicht eines Ministers, der vielleicht
bald von seinem Posten zurücktritt, ein anderes die säkulare Tradition
der russischen Politik. Man hört oft von intelligenten Russen darüber
klagen, daß Rußland durch die Nachbarschaft unzivilisierter Länder
zu immer weiterer Ausbreitung genötigt und damit von seinen inneren
Angelegenheiten abgelenkt werde. In Wahrheit liegt diese Ausbrei-
tungstendenz tief im Wesen der noch halb theokratischen russischen
Staatsidee, und der Russe müßte erst wirklich Europäer werden, das
heißt seine alten Ideale aufgeben, damit eine europäisch nüchterne
Politik auf die Dauer möglich würde.
So liegt auch die Sache mit Armenien und dem Bestand der Türkei.
Es ist ja ohne weiteres zuzugeben, daß irgendein greifbares real-
politisches Interesse Rußland weder zum Erwerb von Armenien noch
zur Zertrümmerung der Türkei treibt. Rußland ist schon heute eine
sich selbst genügende Welt, die nur kulturell entwickelt zu werden
brauchte, um zu einem Machtfaktor von erdrückender Größe anzu-
wachsen. Trotzdem wird sich keine russische Politik auf die Dauer
von jenen halb religiös empfundenen Zielen lossagen können, welche
man gemeinhin als das Testament Peters des Großen bezeichnet. Auch
wenn einzelne Minister sich gegen diese Richtung sträuben, so lebt
sie doch in der russischen öffentlichen Meinung, in Diplomaten, Kon-
suln, Militärs, Agenten aller Art fort, und selbst ein willensstarker
Kaiser könnte ihr auf die Dauer nicht widerstehen.
Die Verhältnisse liegen heute in Armenien nicht schlechter als
früher. Irgendein besonders dringlicher Anlaß, die armenische Frage
jetzt anzuschneiden, ist nicht vorhanden. Lediglich der Wunsch Ruß-
lands, aus der Schwäche der Türkei und der europäischen Konstellation
zwecks Erweiterung seiner Einflußsphäre Vorteil zu ziehen, ist da-
für maßgebend gewesen. Rußland will die Autonomie Armeniens,
die Reformen sind der russischen Politik an sich gleichgültig. Die
Autonomie Armeniens ist gedacht als ein Schritt auf dem Wege nach
Konstantinopel.
122
Auch mein russischer Kollege beteuert mir immer wieder, daß
Rußland selbstsüchtige Absichten in Armenien nicht verfolge. Als wir
aber neulich einmal vor meinem Hause stehend auf den Bosporus
blickten, sagte Herr von Giers zu mir: „Dies alles muß einmal unser
werden." Es ist klar, daß, wer dies Ziel will, auch die Mittel dazu
wollen muß. Ohne die Herrschaft über die Südküste des Schwarzen
Meeres wäre auch der Besitz Konstantinopels für Rußland wertlos.
Ebensowenig wie die katholische Kirche ihren Weltherrschafts-
anspruch oder Frankreich den Wunsch nach Wiedererlangung Elsaß-
Lothringens aufgeben kann, wird auch die russische Politik von ihrem
Traum loskommen, das Kreuz auf der Hagia Sofia neu zu errichten.
Nüchterne russische Staatsmänner, welche sich von diesem Ziele ab-
wenden, mögen das Tempo dieser Politik verlangsamen; die Richtung
wird immer dieselbe bleiben, solange der Halbmond noch in Kon-
stantinopel herrscht.
Wangenheim
Nr. 15 373
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 216 St. Petersburg, den 5. August 1913
Sasonow sagte mir heute, der russische Vorschlag, aus den sechs
armenischen Wilajets eine administrative Einheit zu machen, greife
auf eine von der Türkei selbst im Jahre 1895 gemachte Anregung
zurück. Türkei könne daher gegen diesen Vorschlag nicht gut Ein-
wendungen erheben. Da indessen Vereinigung der sechs Wilajets zu
einem administrativen Ganzen bei uns auf Bedenken stoße, würde er
auch nichts dagegen haben, wenn aus diesem Wilajet zwei Ein-
heiten unter je einem christlichen vom Sultan mit Zustimmung der
Mächte zu ernennenden Gouverneur gebildet würden. Minister würde
es für das beste halten, daß Gouverneure nicht türkische Untertanen
wären, da gegen Griechen, die voraussichtlich dann in Frage kämen, bei
Armeniern Vorurteile beständen. Sasonow würde großen Wert darauf
legen, daß Besprechungen unter Botschaftern in Konstantinopel über
armenische Frage möglichst bald wieder aufgenommen würden. Er be-
merkte dabei, daß unser Gegenvorschlag* mehrere Punkte enthalte,
die ihm durchaus annehmbar erschienen.
Pourtales
• Vgl. Nr. 15 369, Anlage.
123
Nr. 15 374
Aide-memoire
Reinschrift
Von der Österreich-ungarischen Botschaft in Berlin dem Auswärtigen Amt
übersandt
Berlin, am 9. August 1913
Marquis di San Giuliano hat dem Wiener Kabinett den Vorschlag
gemacht, vorläufig bloß die Durchführung der nachbenannten Punkte
des von den Delegierten Österreich-Ungarns und Deutschlands in der
armenischen Reformkommission vorgebrachten Resumes*
zu versuchen:
1) Zustimmung der Pforte zur europäischen Kontrolle (Punkt 1
des Resumes),
2) Kreierung von Polizei und Gendarmerie in den armenischen
Wilajets unter Heranziehung fremder Elemente (Punkt 5 des
Resumes) und
3) Entlassung der Hamidje-Regimenter (Punkt 6 des Resumes).
Nr. 15 375
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 241 Therapia, den 4. August 1913
[pr. 10. August]
In dem der Kaiserlichen Botschaft in Petersburg überreichten
Aide-memoire** weist die russische Regierung darauf hin, daß die
Reformen in Armenien äußerst dringlich seien, daß die Beruhigung des
Landes nur möglich sei, wenn die Mächte die Ausführung derselben
überwachen, und daß daher eine schnelle und möglichst vollständige
Verständigung zwischen den Mächten über diese Frage allein im-
stande sei, der drohenden Gefahr von Unruhen in Armenien vorzu-
beugen.
Auch vom Standpunkt unserer Interessen erscheint eine möglichst
baldige Verständigung der Mächte über die armenischen Reformen
dringend geboten, schon um durch Verwirklichung eines gemeinsamen
Reformplanes, dessen wichtigster Punkt die im Prinzip von allen
Mächten gewünschte internationale Kontrolle wäre, eine Handhabe
zu gewinnen zur Beobachtung und Bekämpfung der immer unver-
* Vgl. Nr. 15 369, Anlage.
** Vgl. Nr. 15 349, S. 97, Fußnote*.
124
hüllter zutage tretenden russischen Hetzarbeit unter der armenischen
Bevölkerung.
Die Prüfung des russischen und des türkischen Reformplanes
durch die Delegierten der hiesigen Botschaften hat dazu geführt, daß
die Delegierten des Dreibundes, wie aus dem Protokoll der 7. Sitzung
vom 23. v. Mts. ersichtlich ist, eine Reformaktion auf einer neuen Basis
angeregt haben, die als Mittellinie zwischen dem zu weitgehenden
russischen und dem ungenügenden türkischen Projekte angesehen
werden kann *. Von dem Gedanken ausgehend, daß der von der
Türkei in Aussicht genommene Reformplan eine Reihe sehr zweck-
mäßiger und zum Teil auch im russischen Entwurf enthaltener Maß-
nahmen vorsieht und daher schon mit Rücksicht auf die Empfind-
lichkeit der türkischen Regierung nicht einfach beiseite gesetzt werden
kann, nimmt der Vorschlag der Dreibunddelegierten das türkische
Projekt als Grundlage und ergänzt es durch eine Anzahl von Bestim-
mungen, die dem russischen Projekt entnommen sind, nämlich
1) Europäische Kontrolle der Reformaktion,
2) Zulassung der technischen Beiräte zum Verwaltungsrat des
Wilajets,
3) Verpflichtung des Walis, die Provinzialversammlung auf An-
trag einer Zweidrittelmehrheit einzuberufen,
4) Abgrenzung der Zuständigkeit der Provinzialversammlung und
der Verwaltungsräte der Sandschaks und Kasas gemäß den entsprechen-
den Bestimmungen des 1880 von der europäischen Kommission aus-
gearbeiteten Entwurfs,
5) Organisierung eines Polizei- und eines Gendarmeriekorps durch
fremde Spezialisten,
6) Auflösung der kurdischen Kavallerieregimenter,
7) Ausschließung der Nomaden vom aktiven und passiven Wahl-
recht,
8) Gleichstellung der drei Hauptsprachen (türkisch, armenisch,
kurdisch),
9) Freiheit der Schulgründung für alle Bevölkerungselemente,
10) Anerkennung der Rechte und Privilegien der armenischen
Kultusgemeinschaft (Sahmanatrutiun von 1863),
11) Baldige Lösung der Agrarfrage.
Hierzu kommt als weiterer Vorschlag noch die Durchführung des
Grundsatzes der Proportionalität bei der Anstellung der Beamten und
der Zusammensetzung der die Bevölkerung vertretenden Körperschaften,
ein Prinzip, das mir, wie ich in dem Berichte Nr. 236 vom 31. v.Mts. **
* Vgl. die Erklärung der Dreibunddelegierten vom 23. Juli in Nr. 15 369, Anlage.
** Der — nicht abgedruckte — Bericht Freiherrn von Wangenheims vom 31. Juli
hatte in sehr detaillierter Weise das Thema behandelt, in welcher Art bei der
Zusammensetzung des Beamtenkörpers sowie bei der Vertretung der Bevölkerung
125
auszuführen die Ehre hatte, vom Standpunkte unserer Interessen vor
der von Rußland vorgeschlagenen absoluten Stimmengleichheit den
Vorzug zu verdienen scheint.
Um zu der gewünschten Einigung mit Rußland zu gelangen, wird
es sich nunmehr darum handeln, die russische Regierung zur Annahme
dieses dem russischen Entwürfe, wie ersichtlich, in zahlreichen und
wichtigen Punkten Rechnung tragenden Reformplanes zu veranlassen.
Sollten wir hierbei auf Schwierigkeiten stoßen, so würde zur Be-
seitigung derselben viel gewonnen sein, wenn es gelänge, uns mit
England über die Frage ins Einvernehmen zu setzen.
Sowohl die englische wie die französische Regierung haben nach
Mitteilungen Euerer Exzellenz ihrer Abneigung gegen das russische
Projekt Ausdruck gegeben*, was allerdings in der bisherigen Haltung
ihrer hiesigen Botschaften noch keine Bestätigung gefunden. Ob diese
Abneigung so weit geht, daß sie England und Frankreich bewegen
könnten, sich in der Frage der armenischen Reformen von Rußland,
offen zu trennen und unserem Vorschlage zuzustimmen, läßt sich von
hier aus nicht beurteilen.
Für den Fall, daß es uns nicht gelingt, die Regierungen des
dreifachen Einvernehmens zu einem gemeinsamen Vorgehen mit den-
jenigen des Dreibundes zu veranlassen, käme als äußerstes Mittel in
Betracht, der Pforte durch eine gemeinschaftliche Aktion der Drei-
bundvertreter die Durchführung des vorstehenden Reformplanes nahe-
zulegen. Die Andeutung der Absicht eines derartigen Schrittes würde
auf die russische Regierung voraussichtlich als starkes Stimulans wirken,
sich unserem Vorgehen anzuschließen; denn sie dürfte sich nicht im
unklaren sein, daß ein Beiseitestehen bei einem Druck auf die Pforte
im Sinne armenischer Reformen Rußland die Sympathien der Armenier,
auf die es neuerdings so großen Wert legt, gründlich entfremden müßte,
und daß ihm dadurch für seine weiteren Pläne der Wind aus den Segeln
genommen werden würde.
Auf jeden Fall scheint es mir dringend geboten, daß wir die
Frage der armenischen Reformen diesmal nicht wieder im Sande ver-
laufen lassen, sondern zur Sicherung der Durchführung des von uns als
praktisch anerkannten Reformplanes die Initiative ergreifen, schon um
nicht bei den Armeniern die bei ihnen bereits im Entstehen begriffene
Meinung zu verstärken, als sei es uns um die Reformen in Armenien
nicht Ernst, und als stellten wir das Wohlwollen der türkischen Re-
gierung höher als das Interesse für die Armenier. Daß unter den
letzteren gewisse Kreise geneigt sind, einer derartigen Ansicht Raum
in den Provinzialversammlungen das Verhältnis der beiden Hauptreligionen des
Landes, der mohammedanischen und der christlichen, zu berücksichtigen sei.
• Vgl. das Telegramm Freiherrn von Schoens Nr. 266 vom 10. Juli (siehe
Nr. 15 354), das am 12. Juli nach Konstantinopel mitgeteilt war.
126
zu geben, habe ich aus verschiedenen Anzeichen ersehen können.
Auch ist es nicht schwer, die trübe Quelle zu erkennen, aus welcher
diese Meinung entsprungen ist: die hiesige russische Botschaft scheint
bereits ausgiebig dafür gesorgt zu haben, daß die Vorbesprechungen
der Botschaftsdelegierten bis in die Einzelheiten hinein in armenischen
Kreisen bekannt wurden. Daß bei dieser Darstellung Rußland als der
uneigennützige Befreier aus türkischem Joche erscheint, während wir
dagegen als die allen Reformen, welche den überwiegenden türkischen
Einfluß brechen könnten, feindlichen Freunde der im Grunde zentra-
listisch gesinnten Komiteepartei hingestellt werden, ist selbstver-
ständlich.
Wir würden meines Erachtens gut daran tun, diese Legende zu
zerstören, indem wir unsere Anhängerschaft an den Reformgedanken
durch positives Eintreten dafür dartäten. Ein Sinken unserer Sympathien
bei der Pforte wäre aus einem solchen Schritte kaum zu befürchten;
denn wir könnten dieser gegenüber durchblicken lassen, daß wir uns
für unseren Reformplan nur deswegen einsetzten, um Rußland zu ver-
hindern, mit seinem viel weiter gehenden, den Bestand der Türkei ge-
fährdenden Reformprojekt hervorzutreten.
Die hiesigen Botschaften von Österreich-Ungarn und Italien haben
ihren Regierungen in ähnlichem Sinne berichtet.
Wangenheim
Nr. 15 376
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow*
Privatbrief. Ausfertigung
Therapia, den 8. August 1913
[pr. 10. August]
Jeder Fremde wird schon nach kurzem Aufenthalt in der Türkei
zu der Überzeugung gelangen, daß unter den Völkerschaften, welche
die heutige Türkei bewohnen, die Türken noch die besten sind. „Le
Türe est le seul gentleman de l'Orient." Diesen Satz würden Sie hier
ebenso unterschreiben, wie es mit mir meine sämtlichen Kollegen
inklusive Giers und Bompard tun. Die verhältnismäßige Türken-
freundlichkeit, wie ich sie hier zum Ausdruck bringe, beruht indessen
keineswegs auf Regungen des Herzens, sondern auf kühler politischer
Erwägung. Die Türkei ist unserer direkten politischen Einwirkung
• Der sehr eingehende Privatbrief Wangenheims wird mit Ausnahme einiger
Ausführungen über die Frage von Adrianopel und über das türkische Partei-
wesen, die mit der armenischen bzw. Aufteilungsfrage nichts zu tun haben,
zum Abdruck gebracht.
127
entzogen. Wir können ihr unseren Willen weder zu Lande noch von
der See aus aufzwingen, wie es Rußland, England und Frankreich
vermögen. Wir können unseren Einfluß nur geltend machen, wenn wir
als die uneigennützigen Freunde der Türkei auftreten und uns dadurch
ihr Vertrauen erwerben. Dem Vertrauen in die Uneigennützigkeit
Deutschlands ganz allein verdankte Marschall seine Erfolge. Ohne
dasselbe hätte er die Bagdadbahn nicht durchsetzen können. Es
mag fraglich sein, ob es klug war, deutsche Kapitalien und deutsches
Prestige in einem solchen Umfange in einem Lande zu investieren,
das unserer politischen Einwirkung so gut wie gänzlich entzogen
ist. Ich habe auf die tönernen Füße, auf denen unsere kleinasiatische
Tätigkeit ruht, schon vor zehn Jahren als Geschäftsträger in einem
längeren Berichte hingewiesen und die Vermutung ausgesprochen,
daß wir einmal in Schwierigkeiten kommen müßten, wenn es sich
darum handelte, das von uns Geschaffene zu verteidigen. Schon
damals riet ich zu einer Vertiefung unserer geistigen Penetrations-
arbeit, um die Mängel unserer geographischen Lage auszugleichen.
Mein Bericht ist damals zu den Akten geschrieben worden. Die Ver-
hältnisse aber, welche ich zu jener Zeit voraussah, sind inzwischen
eingetreten. Unsere wirtschaftliche Arbeit ist gerade so weit ge-
fördert, daß wir dieselbe ohne Einbuße an Ansehen nicht im Stiche
lassen können. Aber vieles ist noch zu tun. Die Bagdadbahn mit
ihren Zweiglinien muß erst noch fertig gebaut werden. Die Gebiete,
welche wir für uns bei einer Teilung in Anspruch nehmen müssen,
sind noch nicht in einer unsere Ansprüche begründenden Weise von
unserem Einflüsse durchzogen, wie es beispielsweise Syrien durch
den französischen Einfluß ist. Die Aufgaben, welche wir noch zu
erfüllen haben, sind nun aber nicht zu lösen, wenn wir dieselben gegen
die Türkei durchführen wollen. Sobald wir uns auf die Plattform stellen,
von welcher aus die Ententemächte ihre hiesige Politik betreiben, ist
es mit unserem Einflüsse aus. Wir sind dann plötzlich die schwächeren
gegenüber den mit uns konkurrierenden Ländern. Frankreich würde
dann, mit England zusammenarbeitend, imstande sein, die Weiter-
führung unserer Arbeiten überhaupt zu verhindern. Jedes Interesse
Englands, sich mit uns über Kleinasien im weiteren zu verständigen,
würde erlöschen. Was würde dann aus den Anatoliern in ihrem
Kampfe mit den Franzosen werden? Was würde unsere öffentliche
Meinung und Krupp dazu sagen, wenn die Instruktion der Armee
plötzlich an Frankreich verloren ginge? Was unser Handel, der pari
passu mit unserem Einfluß fortschreitet? Welche unendlichen Schwierig-
keiten würden uns in allen Kapitulationsfragen entstehen, wo wir
jetzt in den meisten Fällen mit unseren Wünschen durchdringen, ohne
drohen zu müssen? Unser Einfluß auf die türkische Regierung ist ein
sehr bedeutendes Aktivum, über welches wir bei dem Wettstreite der
Nationen im Orient verfügen. Ich muß es als meine vornehmste Auf-
128
gäbe hier betrachten, über dieses Aktivum zu wachen und zu ver-
hüten, daß es sich in ein Passivum verwandelt. Letzteres würde ge-
schehen, wenn wir mit einem Male anfingen, die Türkei zu bedrohen
und an uns irre zu machen. Solange wir nicht ganz sicher sind, daß
die Teilung unvermeidbar ist, daß die anderen Mächte unsere Nieder-
lassung in Kleinasien zulassen, und daß wir als willkommene Nachfolger
der Osmanen in unsere Arbeitszone einziehen können, scheint mir
eine Fortsetzung unserer bisherigen türkenfreundlichen Haltung absolut
geboten. Ich weiß, daß die Befürwortung einer solchen Politik mir
bei manchen Stellen den Vorwurf eintragen wird, ich sei bereits ebenso
vertürkt wie Marschall. Man müsse die Türken auf den Kopf schlagen,
sie würden uns doch immer wieder kommen. Daß die Pforte in ihren
Geldnöten uns immer wieder kommen wird, ebenso wie unseren
Gegnern, ist selbstverständlich. Wir würden uns aber dann alles das,
was wir jetzt an Konzessionen und sonstigen Vergünstigungen als
freie Gabe erhalten, jedesmal durch eine Anleihe erkaufen müssen.
Unseren Endzielen dagegen würden unüberwindliche Hindernisse
nicht nur von der Pforte, sondern auch von den konkurrierenden
Mächten entgegengestellt werden, die eine Trübung des deutsch-
türkischen Vertrauensverhältnisses sofort für sich ausnutzen würden.
Ich sehe die Ziele unserer Politik klar vor mir: Wir müssen die Türkei
so lange wie möglich zu erhalten suchen und durch Beteiligung an
dem Reformwerke der Türkei nicht nur ehrliche Hilfe leisten, sondern
gleichzeitig auch unseren Einfluß in der gesamten Türkei zu stärken
suchen. Gleichzeitig aber hätten wir uns auf den schlimmsten Fall,
die Teilung, vorzubereiten, indem wir in unserer Arbeitszone
durch Schulen, Krankenhäuser, Entsendung von Ärzten etc. die Be-
völkerung an uns fesseln und gleichzeitig damit auch den Mächten
gegenüber den festen Entschluß bekunden, die von uns markierten Ge-
biete keiner anderen Macht zu überlassen. Ich bin ganz entschieden
dafür, daß wir den Mächten kein Hehl aus unseren Plänen machen,
ja daß wir ihnen sogar klipp und klar sagen, was wir im Teilungs-
falle beanspruchen würden, und daß wir den Teilungsprozeß als be-
gonnen ansehen würden, wenn eine andere Macht türkische Gebiete
Kleinasiens auch nur vorübergehend besetzt. Eine solche Kundgebung
würde die Lage wahrscheinlich in sehr erfreulicher Weise klären.
Die wahrscheinliche Folge wäre, daß die Länder, welche unsere
Niederlassung am Mittelmeere nicht wünschen, gezwungen wären,
für die Erhaltung der Türkei zu wirken. Den Türken würde eine
derartige Kundgebung durchaus verständlich und willkommen sein.
Mahmud Schewket, der ein sehr kluger Mann war, hat mich wieder-
holt und eindringlich gebeten, für eine öffentliche Feststellung der
deutschen Ziele Sorge zu tragen. Voraussetzung einer Politik, wie
ich sie skizziert habe, bleibt aber immer, daß wir uns das Vertrauen
der Türkei erhalten. Ich möchte jedenfalls der Botschafter nicht sein,
9 Die Große Politik. 38. Bd. 129
unter dem hier die bewährte Basis unserer Politik verlassen wird,
ohne daß dafür ein praktischer Gewinn eingeheimst wird. Die türken-
freundliche Richtung unserer Politik schließt übrigens keineswegs aus,
daß wir den Türken gelegentlich auch deutlich werden. So kann ich
hier in einzelnen Fragen, wo die Türken sich Unverschämtheiten er-
lauben, viel energischer auftreten als andere Botschafter, nur weil
die Türken überzeugt sind, daß ich es gut mit ihnen meine. Aus dem-
selben Grunde hat der Rat Deutschlands in politischen Dingen ein
ganz anderes Gewicht als der anderer Länder. Wenn unser Einfluß
einmal wie jetzt bei der Adrianopler Frage* versagt, so hat das darin
seinen Grund, daß wir da einer dem Siedepunkt nahen Volksbewegung
gegenüberstehen, deren Leitung der Regierung selbst entglitten ist.
Wäre rechtzeitig eingegriffen worden, so wäre es dem deutschen Ein-
fluß, aber auch nur diesem, gelungen, die Regierung auf die Bahn
der Kompensationen zu leiten, pp.
Was die armenischen Reformen betrifft, so bin ich von An-
fang an bemüht gewesen, vermittelnd zu wirken. Österreich und Italien
wollten sich ja zuerst nicht einmal auf eine Diskussion des Projekts
Mandelstam einlassen. Wir sind nunmehr bei den Besprechungen in
so vielen Punkten zu einer Einigung gelangt, daß sich daraus wohl
ein Vermittelungsprogramm konstruieren ließe. In den entscheidenden
Punkten können wir freilich nicht nachgeben; aber selbst wenn wir
es tun wollten, würden Österreich und Italien sich auf das schärfste
widersetzen, da sie ja mangels genügenden Anspruchs auf Berück-
sichtigung bei der Teilung mehr als wir an der Erhaltung der Türkei
interessiert sind. Andererseits sehe ich nicht, daß Rußland von seinem
Projekte etwas ablassen will. Vorläufig läßt Giers in den armenischen
Zeitungen Artikel veröffentlichen, die, auf genauer Kenntnis der Sit-
zungsprotokolle beruhend, die Schuld an dem Scheitern seiner edlen
Absichten uns zuschreiben. Ich frage mich gelegentlich, ob Rußland
es mit den Reformen überhaupt ernst meint. Seine Initiative steht im
Widerspruch mit der russischen Tradition, die ja gerade eine Besserung
der türkischen Zustände verhindern will, damit Rußland den Vorwand
zur Einmischung behält. Da Rußland sein Verbot, in Armenien Eisen-
bahnen und Wege zu bauen, aufrecht erhält, so sind Zweifel an der
Ehrlichkeit seiner Reformpläne wohl berechtigt, von denen Herr von
Giers wissen mußte, daß sie auf den starken Widerstand anderer
Mächte stoßen würden. Augenblicklich weilt hier Dr. Lepsius, der
bekannte Armenierfreund. Er hat großen Einfluß auf die Armenier
und versucht in diesem Augenblicke, die letzteren dahin zu bringen,
daß sie sich angesichts der schweren Durchführbarkeit des russischen
Projekts an die Botschaften mit der Bitte wenden, wenigstens für eine
Durchführung und Verbesserung des türkischen Projekts Sorge zu
* Vgl. dazu Bd. XXXVI, Kap. CCLXXVII.
130
tragen. Eine solche armenische Demarche würde eine Erleichterung
für die meisten Mächte bedeuten, auch für England. Behält Rußland
die Armenier unter seiner Kontrolle, so wird es die Frage wohl vor-
läufig offen halten, um zu dem geeigneten Zeitpunkt aus der Situation
seine Konsequenzen zu ziehen. Jedenfalls ist die Lage undurchsichtig
und bedarf aufmerksamer Beobachtung. Bei aller Anerkennung Sa-
sonows traue ich den hiesigen Russen nicht über den Weg. Augenblick-
lich spricht Giers nicht von den Armeniern, da er noch auf ein
europäisches Mandat an Rußland spekuliert, pp.
Die Richtlinie, welche ich mir hier gezogen habe, kann ich in
einem Satze zusammenfassen: „Die deutschen Sympathien gehören
nicht politischen Parteien, sondern der gesamten Türkei. " Nur auf
einer derartigen Basis können wir als Großmacht hier operieren.
Wir vermeiden dadurch den Fehler, den England begeht, indem es
Botschaftsbeamte an Verschwörungen gegen eine ihr unsympathische
Regierung sich beteiligen läßt. Andererseits werden wir in die Lage
versetzt, leicht den Übergang von einem Regime zum andern finden
zu können. Käme morgen Kiamil wieder ans Ruder, so würde ich
mit ihm an demselben Punkte wieder anknüpfen können, wo unsere amt-
lichen Beziehungen aufgehört haben. Ich habe es in der Zwischenzeit
strengstens vermieden, mich irgendwie in die inneren politischen Streitig-
keiten einzumischen. Trotzdem habe ich mit den Jungtürken verhältnis-
mäßig gute Geschäfte machen können. Letztere mögen den Mächten
ihrer Halsstarrigkeit wegen unbequem sein. In London wird man ge-
wünscht haben, daß die Türken sich weiter als die verfaulte und
elende Gesellschaft erweisen würden, als welche sie sich bei Beginn
des Krieges gezeigt haben. Daß die Türkei noch nicht fertig ist und
nach zweijährigem Kriege noch eines Elans fähig ist, wie ihn der
jetzige Vormarsch nach Norden beweist, ist natürlich ein schweres
Hindernis für alle Friedensbemühungen der Mächte; und ich ver-.
stehe vollkommen, daß alle Kabinette wütend sind. Sie möchten nun
endlich mit der Balkanschweinerei zu Ende kommen. Hier sieht die
Sache aber etwas anders aus. Es zeigt sich, daß die Türkei eben doch
noch ein lebender Körper und entschlossen ist, sich nicht wie ein
Haufen von Lumpen behandeln zu lassen. Was Enver und Talaat
jetzt tun, ist Europa unbequem und vielleicht auch für die Türkei ver-
hängnisvoll, der sie möglicherweise nur einen schönen Opfertod vor-
bereiten. Wir werden die Führer der jetzigen Volks- und Armee-
bewegung und ihre Ziele nicht unterstützen können, da wir sonst
uns von den Mächten trennen und die Kriegsgefahr näher rücken
würden. Wenn aber die Jungtürken schließlich ohne unser Zutun doch
Erfolge haben sollten, so würde ich dies im deutschen Interesse nur
begrüßen können. Bleibt Adrianopel der Türkei erhalten, so werden
die Unionisten für eine unabsehbare Zeit Herren der Lage in der
Türkei. Sie sind die einzigen, von denen man eine Rettung der Türkei
9* 131
erwarten kann, und mit deren Hilfe Deutschland seine Pläne hier
durchsetzen könnte.
Wangenh eim
Nr. 15 377
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 450 Therapia, den 10. August 1913
Dr. Lepsius hat hier mit dem armenischen Aktionskomitee ver-
handelt* und erreicht, daß armenischerseits das Projekt Mandelstam
in seinen wesentlichen Punkten im Prinzip fallen gelassen, dagegen
gefordert wird, daß die Mächte für die Durchführung des türkischen
Programms mit den in der Dragomankommission einstimmig angenom-
menen Punkten des russischen Projekts und folgende Zusätze bei der
Pforte eintreten:
1) Mitwirkung der Mächte bei der Auswahl der General-
inspekteure.
2) Parität statt Proportionalität.
3) Regionaler Militärdienst mit der Beschränkung, daß bei inneren
Unruhen Truppen auch außerhalb Armeniens verwendet werden können.
4) Ansiedelung von Mohadschirs nur mit Einverständnis der Ge-
neralinspekteure.
Spezieller Verzicht Armenier auf neue Zoneneinteilung und Ober-
kommissar mit Recht der Beamtenernennung.
Verhandlungen werden fortgesetzt und dürften zu einer Aussprache
zwischen . . . ** und Armeniern führen. Meinerseits wird unter der
Hand auf Entgegenkommen der Türkei hingearbeitet. Das verabredete
Programm soll dann zunächst russischem Botschafter als armenisches
Petitum unterbreitet werden. Damit wäre vielleicht ein Ausgleich
gefunden, dem auch Dreibund schließlich zustimmen könnte.
Wangenh eim
* Über diese Verhandlungen meldete Freiherr von Wangenheim am 31. August
(Telegramm Nr. 496) : „Seine Verhandlungen mit Armeniern haben mit Wissen
Großwesirs stattgefunden. Um russisches Mißtrauen nicht zu erregen, hatte
ich Lepsius mit Mandelstam zusammengeführt."
•* Zifferngruppe fehlt.
132
Nr. 15 378
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 251 St. Petersburg, den 22. August 1913
Von dem mir unter Nr. 990 geneigtest mitgeteilten Bericht des
Kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel vom 1. d. Mts. * habe ich
mit Interesse Kenntnis genommen. Jeder, der mit der russischen Ge-
schichte und der russischen Politik der letzten zwei Jahrhunderte
einigermaßen vertraut ist, wird den Betrachtungen des Freiherrn von
Wangenheim über die traditionellen Ziele und Wünsche Rußlands
ohne weiteres zustimmen können. Es ist eine allgemein bekannte Tat-
sache, daß der Drang nach Expansion eine in dem russischen Volks-
charakter begründete Eigenschaft ist, welche auch in der russischen
Politik immer wieder zum Ausdruck gelangt. Ein geistreicher russischer
Staatsmann verglich einmal mir gegenüber die Tendenzen der tradi-
tionellen russischen Politik mit dem Bestreben des russischen Bauern,
immer mehr Land zu bekommen, obgleich er schon das Land, das
er besitze, nicht ordentlich bearbeite und bearbeiten könne. „Wir ver-
stehen es eben nicht, intensiv zu wirtschaften. Anstatt die unermeß-
lichen Schätze zu heben, über welche Rußland in seinem Innern ver-
fügt, ist unser Auge immer auf die Peripherie gerichtet."
Man wird aber billigerweise auch zugeben müssen, daß der Drang
Rußlands nach dem offenen Meer und der Wunsch, in den Besitz eis-
freier Häfen zu gelangen, der Berechtigung nicht ganz entbehren.
Ich darf gehorsamst daran erinnern, daß ich diese Gesichtspunkte
in meiner Berichterstattung stets hervorgehoben habe. Auch im Ver-
laufe der jüngsten Krisis habe ich wiederholt die Überzeugung ausge-
sprochen, daß die russische Politik ihre alten Ideale keineswegs auf-
gegeben hat, daß vielmehr der Erwerb von Konstantinopel und die
Besitzergreifung der Meerengen nach wie vor das Ziel bildet, dessen
einstige Erreichung wohl die meisten Russen ihrem Vaterlande
wünschen.
Zugleich aber habe ich mir wiederholt gestattet, die Ansicht zu
äußern, welche ich auch heute in vollem Umfange aufrecht erhalte,
daß Rußland jetzt die Meerengenfrage nicht aufzurollen beabsichtigt
und auch nicht nach einem Vorwande sucht, um in die armenischen
Wilajets einzurücken.
Ich glaube auch nicht, daß Herr Sasonow, der übrigens noch lange
russischer Minister des Äußern bleiben kann, der einzige Vertreter
dieser Ansicht ist. Gewiß ist es möglich, daß im Falle seines baldigen
* Siehe Nr. 15 372.
133
Rücktritts ein abenteuerlustiger Minister an seine Stelle tritt und dieser
die traditionelle Expansionspolitik wiederaufnimmt. Die Wahrscheinlich-
keit aber spricht im gegenwärtigen Augenblicke nicht dafür. Ich
möchte viel eher glauben, daß von denjenigen Persönlichkeiten, welche
in den nächsten Jahren Aussicht haben, hier in leitende Stellungen zu
gelangen, die meisten die Ansichten des Herrn Sasonow teilen, daß
nämlich Rußland aus militärischen und finanziellen Gründen sowie
aus Gründen der inneren Politik eine längere Zeit der Ruhe dringend
braucht.
Noch bei der letzten Unterredung, die ich mit Herrn Sasonow
hatte, versicherte mir der Minister, daß bei allen maßgebenden
hiesigen Kreisen sowohl aus militärischen wie aus innerpolitischen
Gründen eine ausgesprochene Abneigung gegen die Annexion von Ge-
bieten mit armenischer Bevölkerung bestehe.
F. Pourtales
Nr. 15 379
Promemorla
Reinschrift
Vom russischen Geschäftsträger in Berlin Bronewsky am 30. August 1913
dem Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm überreicht
Berlin, 16/29 Aoüt 1913
II y a plus d'un mois que la Commission des Reformes Arme-
niennes, composee des Delegues des Ambassades des Grandes Puis-
sances ä Constantinople a acheve ses travaux.
II est ä regretter que les deux principaux articles de l'avant-projet
russe — la formation d'une seule province armenienne et la nomination
du Gouverneur General avec l'assentiment des Grandes Puissances —
n'aient pas reuni l'unanimite des Delegues; malgre les arguments
tant historiques que pratiques mis en avant par le Delegue Russe et
militant en faveur de la reunion des six vilayets armeniens en une seule
province, les Delegues Allemand, Autrichien et Italien se sont ranges
au projet turc, divisant le pays en six secteurs avec, ä la lete, six valis
soumis eux-memes ä deux Inspecteurs, nommes sans le consentement
des Puissances.
Le Gouvernement Imperial estime qu'ecarter l'assentiment des
Puissances ä la nomination du Gouverneur General equivaudrait ä
renoncer ä l'ceuvre meme des reformes, car cet element est, selon lui,
essentiel comme la seule garantie efficace des reformes.
Quan* ä la formation d'une seule province armenienne, eile a ete
envisagee tant par le Traite de Berlin que par le decret de la Sublime
Porte de 1895 et ne presente donc — comme principe — aucun
caractere d'innovation dangereuse.
134
Nr. 15 380
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 262 Therapia, den 27. August 1913
Den Vorschlag, den Marquis di San Giuliano in der armenischen
Reformfrage dem Wiener Kabinett gemacht hat*, vermag ich weder
nach seinem Inhalte noch nach dem Zeitpunkt, der dafür gewählt ist,
als glücklich zu bezeichnen.
Inhaltlich läßt er eine Reihe von Forderungen unberücksichtigt,
welche, wie die Vorbesprechung der hiesigen Botschaftsdelegierten
ergeben hat, von allen Mächten übereinstimmend als notwendig an-
gesehen werden, und gegen die seitens der Pforte voraussichtlich
keinerlei Widerstand erhoben werden dürfte, wie Gleichberechtigung
der drei Hauptsprachen, Freiheit der Schulgründung, Versuch der
Lösung der Agrarfrage usw. Das Fallenlassen dieser berechtigten und
zum Teil leicht erfüllbaren Forderungen würde in allen armenischen
Kreisen zweifellos eine gewaltige Enttäuschung hervorrufen und die-
selben unfehlbar in die Arme Rußlands treiben als derjenigen Macht,
von der sie die weitgehendste Vertretung ihrer Wünsche glauben er-
warten zu dürfen.
Der Zeitpunkt der italienischen Anregung scheint mir deshalb
schlecht gewählt, weil bisher noch nicht feststeht, ob der in der
7. Sitzung der Armenierkommission von deutscher und österreichischer
Seite gemachte Vorschlag**, dem sich auch der italienische Delegierte
angeschlossen hatte, von den übrigen Mächten angenommen werden
wird oder nicht.
Auch aus allgemeinen Gesichtspunkten dürfte eine italienische
Initiative in der armenischen Frage kaum in unserem Interesse liegen.
Deutschland und Rußland sind die einzigen Mächte, die ein unmittel-
bares Interesse an der Beruhigung Armeniens haben. Die natürliche
Entwickelung muß uns daher darauf hinweisen, uns in dieser Frage
die Führung nicht durch andere, weniger interessierte Staaten aus der
Hand nehmen zu lassen, sondern zu versuchen, mit Rußland möglichst
zu einer Verständigung über ein gemeinsames Programm zu gelangen.
Von diesem Gedanken ausgehend, bin ich zurzeit bestrebt, im
Anschluß an die stattgehabten Vorbesprechungen der Botschaftsdele-
gierten und unter Zugrundelegung der von diesen geltend gemachten
Gesichtspunkte mit meinem hiesigen russischen Kollegen eine mittlere
* Vgl. Nr. 15 374.
** Vgl. Nr. 15 369, Anlage.
135
Linie zu finden zwischen dem ursprünglichen russischen Entwürfe
und dem von den Dreibunddelegierten gemachten Gegenvorschlage.
Nach den bisherigen Besprechungen hat es den Anschein, als ob
Rußland sich dazu verstehen würde, den Gedanken einer einzigen, ganz
Armenien umfassenden Reformzone fallen zu lassen und in eine Teilung
in einen nördlichen und einen südlichen Sektor zu willigen. Als
Gegenleistung könnten wir dem russischen Standpunkte vielleicht in
der Frage der proportionellen Volksvertretung bis zu einem gewissen
Grade entgegenkommen.
Ich hoffe, auf diese Weise zu einem gemeinsamen deutsch-russi-
schen Programm zu kommen, das voraussichtlich auch bei den übrigen
Mächten gute Aufnahme finden würde. Sobald die Vorbesprechungen
hierüber, die zunächst den Charakter eines rein persönlichen Gedanken-
austausches tragen, beendet sind, werde ich nicht verfehlen, Euerer
Exzellenz darüber zu berichten.
Wangenheim
Nr. 15 381
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 494 Therapia, den 30. August 1913
Sprache des russischen Botschafters und der Umstand, daß nach
mehrwöchiger Pause den Botschaftern wieder täglich Bulletins des
armenischen Patriarchats über angebliche türkische Grausamkeiten zu-
gehen, weisen darauf hin, daß Rußland die armenische Frage mit
erhöhtem Nachdruck betreiben will, um angesichts seiner voraus-
sichtlichen Niederlage in der Adrianopelfrage * sich wenigstens einen
Erfolg bezüglich Armeniens zu sichern.
Bei den unverbindlichen Besprechungen zwischen Schönberg und
Mandelstam hat letzterer als einzige eventuelle Konzession einen Ver-
zicht Rußlands auf ein einheitliches Armenien angeboten, besteht aber
auf Beseitigung der Wilajets, auf Generalinspekteure, die mit Zu-
stimmung der Mächte ernannt werden sollen, und auf Beamten-
ernennungsrecht der Generalinspekteure.
Diese drei Punkte bedeuten einen so starken Eingriff in die tür-
kischen Souveränitätsrechte, daß auf eine Einigkeit der Mächte darüber
nicht zu rechnen ist und noch weniger auf die türkische Zustimmung.
Die russischen Forderungen sind nur erfüllbar, wenn alle Mächte ent-
schlossen sind, diese Forderungen nötigenfalls unter Anwendung von Ge-
walt durchzusetzen. Würden wir uns an das russische Programm binden,
• Vgl. dazu Bd. XXXVI, Kap. CCLXXVII.
136
so wäre mit Sicherheit zu erwarten, daß andere Mächte, zum Beispiel
Italien, vorher abschwenken und uns das Odium überlassen würden.
Ein weiteres Eingehen auf die russischen Pläne würde daher nur unter
der Voraussetzung erfolgen können, daß wir vorher die Mächte ver-
ständigten, wir würden uns an einem Druck gegen die Türkei nicht
beteiligen.
Ich habe heute die Lage mit Großwesir besprochen und ihn auf
die Forderungen aufmerksam gemacht, mit denen die Mächte eventuell
an die Pforte herantreten könnten. Es liege im Interesse Türkei, dem
Schritt der Mächte zuvorzukommen und aus eigener Initiative Reformen
einzuführen, die in ihren Hauptlinien den Wünschen Europas ent-
sprächen. Die Pforte könne dabei, ohne sich selbst etwas zu vergeben,
sehr weit gehen, jedenfalls weiter als unter dem Druck der Mächte.
Großwesir erwiderte, er habe, meinen früheren Ratschlägen
folgend, schon vor längerer Zeit Verhandlungen mit den Armeniern
eröffnet und hoffe bestimmt, mit ihnen zu einer direkten Verständigung
zu gelangen. Einem Versuch der Mächte, sich in die inneren ... *
der Türkei einzumischen, werde er den äußersten Widerstand entgegen-
setzen. Veränderung der Zoneneinteilung, von den Mächten bestellten
Oberkommissar etc. werde er in jedem Falle auch einem geschlossenen
Europa gegenüber ablehnen, da die Zulassung derartiger Eingriffe
das Ende der Türkei bedeuten würde. Die Einrichtung der Reformen
sei ausschließlich Sache der Türkei; das Recht der Mächte, die Aus-
führung der Reformen zu kontrollieren, erkenne er an und werde dar-
über mit sich reden lassen.
Wangenh eim
Nr. 15 382
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 834 Berlin, den 1. September 1913
Auf den Bericht Nr. 262 vom 27. v. Mts.**
Der russische Geschäftsträger hat hier am 30. v. Mts. das in
Abschrift anliegende Promemoria zur armenischen Frage*** überreicht
und mündlich hinzugefügt, Herrn Sasonow schwebe als Kompromiß
vor: Einteilung Armeniens in zwei Sektoren mit je einem von
* Zifferngruppe fehlt.
•• Siehe Nr. 15 380.
••• Siehe Nr. 15 379.
137
der Pforte mit Zustimmung der Mächte einzusetzenden, mit dem
Recht der Beamtenernennung auszurüstenden Generalgouverneur an
der Spitze. Dabei müsse vermieden werden, daß die Türkei den
beiden Sektoren vorwiegend von Mohammedanern bevölkerte Ge-
biete zuschlage, um die Armenier in die Minorität zu versetzen.
Ew. pp. bitte ich, sich zu dem russischen Vorschlag tunlichst
umgehend telegraphisch äußern zu wollen.
J a g o w
Nr. 15 383
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 515 Konstantinopel, den 8. September 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 308*.
Die Verhandlungen zwischen Schönberg und Mandelstam sind
vorläufig ins Stocken gekommen, weil Rußland nur in einem einzigen
Punkt nachgegeben hat, indem es die Forderung einer einheitlichen
armenischen Provinz fallen ließ. Mandelstam verlangt aber dagegen,
daß die Terraineinteilung in eine nördliche und eine südliche Zone
umgeworfen und daß statt dessen ein Ost- und Westsektor geschaffen
würde. Die Grenze zwischen beiden soll eine Linie sein, die von der
Küste des Schwarzen Meeres zwischen Kerasonda und Tireboli direkt
nach Süden verläuft. Der leicht zu durchschauende . . . ** Rußlands
ist, zunächst einen östlichen, ausschließlich unter russischem Einfluß
stehenden Sektor zu schaffen und damit uns aus dem Gebiet von Diar-
bekr auszuschließen. Da unser Interesse die Beibehaltung der tür-
kischen Präfekturen erheischt, deren gemeinsame Grenzlinie ungefähr
als die nördliche Grenze unserer Arbeitszone . . . ** kann, hat Schön-
berg den Mandelstamschen Vorschlag nicht akzeptieren können.
Ursache*** der russischen Forderung, daß die zwei Generalgouver-
neure mit Zustimmung der Mächte ernannt werden, könnte zur Folge
haben, daß beide Posten Russen oder von Rußland abhängigen Klein-
* Telegramm Nr. 308 vom 7. September brachte die Rückäußerung auf Erlaß
Nr. 834 (siehe Nr. 15 382) in Eünnerung; weiterhin erbat es Nachricht dar-
über, welchen Erfolg die von Freiherrn von Wangenheim im Bericht vom
27. August — siehe Nr. 15 380 — gemeldeten Bemühungen gehabt hätten, ge-
meinsam mit dem russischen Botschafter eine mittlere Linie zwischen dem
Mandelstamschen Projekte und dem Gegenprojekte der Dreibundmächte zu
finden.
** Zifferngruppe fehlt.
*** Statt „Ursache" ist wohl zu lesen „Ausführung".
138
staatlern wie in Persien übertragen werden. Herr von Giers hat die
hiesigen Verhandlungen mit der Erklärung eingeleitet, daß er vorzugs-
weise die Führung in der Angelegenheit für sich beanspruche. Dringt
er mit seinem Programm durch, so wird ihm auch in der Personen-
frage so leicht keine Macht entgegentreten.
Das Resultat wäre die Schaffung einer tatsächlichen Herrschaft
Rußlands über Gebiete, die teilweise zu unserer Arbeitszone gehören.
Unserer öffentlichen Meinung gegenüber wäre es kaum vertretbar,
wenn wir unsere Kraft zur Kreierung einer russischen Interessensphäre
einsetzten und damit zu einer einseitigen Lösung des Teilungsproblems
beitrügen. Ein besonderes Regime für Cilicien, wie es Rußland an-
bietet, würde unsere Ansprüche nicht annähernd befriedigen.
Meinen früheren Ausführungen über das Beamtenernennungsrecht
der Generalgouverneure habe ich nichts hinzuzufügen.
Von meinen Kollegen spricht sich der Österreicher entschieden
gegen jede Konzession an das russische Programm aus. Italienischer
Botschafter teilt vollkommen meine Auffassung. Herr Bompard be-
zeichnete mir gestern das ganze Projekt als absurd, fügte aber hinzu,
daß seine Regierung durch Bündnisrücksichten gebunden sei und
irgendeine Verständigung wünsche. Aus den Worten Bompards konnte
ich die Befriedigung heraushören, daß Frankreich die Bekämpfung des
Projekts durch andere Mächte abgenommen wird. Englischer Geschäfts-
träger ist für das russische Projekt, was nicht in Einklang zu bringen ist
mit den hier bekannt gewordenen Äußerungen Sir E. Greys.
Soweit ich aus der Haltung meiner Kollegen schließen kann, wird
sich weder eine Einigung der Mächte über das russische Projekt noch
über etwaige Zwangsmaßregeln gegen die Türkei erzielen lassen.
Ganz bestimmt und in jedem Falle wird der Vorschlag der Mächte von
der Pforte abgelehnt werden. Großwesir hat darüber erst heute un-
zweideutige Erklärungen auch anderen Botschaftern abgegeben. Wenn
wir uns also dem russischen Vorgehen anschließen, so müssen wir
darauf gefaßt sein, das Projekt Mandelstam eventuell auch gegen unsere
Bundesgenossen mit Gewalt hier vertreten oder wenigstens einem
Einmarsch der Russen in Armenien zustimmen zu müssen.
Rußland sind von uns während der bisherigen Beratungen die
weitgehendsten Konzessionen gemacht worden. Ich bin dabei im
Interesse unserer Beziehungen zu Rußland so weit gegangen, als ich
es mit den mir anvertrauten Interessen nur irgend vereinbaren konnte.
Rußland hat aber an seinem ausschließlich russischen Interessen dienen-
den und die Türkei ebenso wie die deutsche Stellung hier schwer be-
drohenden Programm keinen wesentlichen Punkt geändert. Meine Be-
mühungen, die Armenier und die Türken zusammenzuführen, werden
dadurch erschwert, daß Herr von Giers den Armeniern ihr im Jahre
1908 mit Rußland geschlossenes Abkommen, welches die Regelung
der armenischen Frage in die Hände Rußlands legt, ins Gedächtnis
139
gerufen hat und ihnen gedroht hat, Rußland werde sich für einen
Abfall an den russischen Armeniern rächen.
Aus alledem habe ich den bestimmten Eindruck gewonnen,
daß Rußland entweder die armenische Frage in spezifisch russischem
Sinne lösen oder die Reformen zum Scheitern bringen will.
Gegenwärtig ist Rußland bemüht, uns vorzuschieben. Herr von
Giers sagt mir, daß, wenn Deutschland und Rußland einig wären,
die Bundesgenossen folgen müßten. — Ich halte aber eine entscheidende
Erklärung Deutschlands, bevor die anderen Mächte gesprochen haben,
für höchst bedenklich. Lehnen wir ab, so wird Rußland uns den
Armeniern gegenüber als das Hindernis ihrer Bestrebungen hin-
stellen. Stimmen wir zu, so werden Herr von Giers und auch andere
Kollegen schon am nächsten Tage in den türkischen Zeitungen ver-
kündigen lassen, daß Deutschland sich von der Türkei abgewandt
habe. Mir scheint es daher dringend geboten, die russische Anfrage in
dem von mir vorgeschlagenen Sinne zu beantworten, mindestens aber
über die Antwort und die daraus sich ergebenden weittragenden Kon-
sequenzen mit unseren Bundesgenossen uns zu verständigen. Was
Österreich und Italien, die an dem Fortbestehen der Türkei mehr in-
teressiert sind als wir, annehmen, können auch wir akzeptieren.
Wangenh eim
Nr. 15 384
Promemorla
Dem russischen Geschäftsträger in Berlin Bronewsky vom Auswärtigen Amt
übersandt
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Berlin, le 10 septembre 1913
Dans un Promemoria en date du 29 aoüt er.*, TAmbassade Im-
periale de Russie a constate avec regret le resultat negatif des travaux
de la Commission des Reformes Armeniennes reunie ä Constantinople.
Le Gouvernement Imperial, d'aecord avec le Gouvernement Im-
perial de Russie dans le desir de voir ameliorer la Situation en Armenie,
est cependant d'avis que, malgre les divergences des vues qui se sont
fait sentir, il devrait etre possible de trouver une Solution satisfaisante
pour les Puissances et acceptable pour la Turquie.
Plusieurs points importants du projet russe peuvent dejä etre
consideres comme acquis. Si, sur d'autres points, non moins interes-
sants sans doute, mais dont Pacceptation, selon nous, ne devrait
pas etre consideree comme condition „sine qua non", une partie des
• Siehe Nr. 15 379.
140
delegues a cru devoir s'eloigner des propositions russes, la consi-
deration en a ete responsable que ces propositions ne trouveraient
pas le consentement de la Sublime Porte. D'apres les informations
arrivees de Constantinople, ce prognostic ne manque pas de fondement.
Or, le Gouvernement Imperial ne voit pas de moyen et ne croit pas
opportun d'imposer ä la Turquie une Solution qu'elle n'accepterait pas
de bon gre.
Dans ces circonstances, le Gouvernement Imperial pense que la
Commission devrait reprendre ses travaux sur la base du projet turc.
Le Gouvernement Imperial croit savoir que le Gouvernement Ottoman,
anime des meilleures dispositions, ne se refusera pas ä introduire dans
son projet des amendements, surtout ceux repondant aux propositions
russes qui ont reuni Funanimite de la Commission, et qu'il admettra
le principe d'un contröle efficace des reformes par les Puissances. Le
Gouvernement Imperial ne doute pas qu'en adoptant le procede, les
Puissances ne reussissent ä tomber d'accord avec la Turquie sur un
ensemble de reformes repondant aux besoins du moment et qui, avec
le temps, pourra etre complete et perfectionne.
Nr. 15 385
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Rosenberg*
Reinschrift
Berlin, den 10. September 1913
Wir haben seinerzeit die russische Initiative in der armenischen
Reformfrage schon deshalb freudig begrüßt, weil auch wir selbst von
der Notwendigkeit überzeugt waren, daß zur Erzielung geordneter
Verhältnisse in dem seit Jahrzehnten von Unruhen heimgesuchten
Gebiet etwas geschehen müsse. Die russische Initiative hat auch bereits
das glückliche Ergebnis gezeitigt, der Türkei die Notwendigkeit von
Reformen vor Augen zu rücken und sie zur Ausarbeitung eines eigenen
Reformprojekts zu veranlassen. Wir sind überzeugt, daß die Be-
sprechungen in Konstantinopel bei Zugrundelegung des türkischen
Projekts durchaus brauchbare Vorschläge zu Tage fördern werden. Man
sollte sich jedoch davor hüten, einer vielleicht radikaleren, aber für
den Augenblick bei der Pforte nicht durchzusetzenden Lösung zuliebe
die schon jetzt erreichbaren Vorteile zu gefährden.
Was die Einzelheiten anlangt, so ist uns grundsätzlich jede Lösung
recht, die den Armeniern hilft und gleichzeitig Aussicht hat, ohne An-
• Die Aufzeichnung war nach einer Notiz Rosenbergs zur mündlichen Verwertung
gegenüber dem russischen Geschäftsträger gelegentlich der Besprechung des
Promemorias vom 10. (siehe Nr. 15 384) bestimmt.
141
wendung anderer Mittel als gütlichen Zuredens von der Pforte ange-
nommen zu werden. Ob der mündlich mitgeteilte Kompromißvorschlag
des Herrn Sasonow die letztere Bedingung erfüllt, erscheint uns
zweifelhaft. Die Pforte will sich in die Frage der Einteilung
der asiatischen Verwaltungsbezirke nicht hineinreden lassen, da
sie dies nicht mit Unrecht als einen Eingriff in ihre Sou-
veränitätsrechte betrachtet. Uns scheint die Frage, ob zwei, drei oder
noch mehr Verwaltungszonen geschaffen werden, gegenüber der Not-
wendigkeit, daß es überhaupt zu Reformen kommt, von untergeordneter
Bedeutung. Ähnliches gilt für den Modus der Ernennung der
Generalgouverneure. Die Hauptsache ist, daß von der Pforte
geeignete Männer gewählt werden. Dies dürfte sich aber auch auf
andere Weise erreichen lassen als dadurch, daß die Pforte in jedem
Einzelfall an die Zustimmung der Mächte gebunden ist. Man könnte
zum Beispiel der Pforte grundsätzlich und ein für allemal das Versprechen
abnehmen, daß als Generalgouverneure nur Männer von bestimmten,
vorher zu vereinbarenden Eigenschaften eingesetzt werden sollen. Uns
scheint zum Beispiel erwünscht, daß nur solche türkische Staatsmänner
gewählt werden, die sich zur christlichen Religion bekennen. Die den
Generalgouverneuren von Rußland zugedachte Befugnis der Be-
amtenernennung wird von der Pforte deshalb perhorresziert, weil
sie den Einfluß der Zentralregierung für jedermann erkennbar in einer
mit der Souveränität der Pforte nicht zu vereinbarenden Weise lahm-
legen würde. Der Hinweis auf das Libanonreglement, das den Gou-
verneur gleichfalls zur Ernennung von Beamten und Richtern er-
mächtigt, scheint uns nicht durchschlagend. Abgesehen davon, daß
Armenien etwa achtzigmal größer ist als die Libanonprovinz, und daß
die dort bestehenden Einrichtungen nicht ohne weiteres auf ein so viel
größeres Gebiet übertragen werden können, scheinen uns die in Libanon
gemachten Erfahrungen keineswegs zu einer Wiederholung des Ex-
periments zu ermutigen. Jeder Gouverneurwechsel würde, wie dies im
Libanon schon jetzt geschieht, ein allgemeines Revirement der Beamten
und Richter nach sich ziehen und die in einem reformbedürftigen Ge-
biete doppelt unentbehrliche Kontinuität in Verwaltung und Recht-
sprechung gefährden. Das einzig Wesentliche dürfte auch hier sein,
daß geeignete Leute zu Beamten und Richtern ernannt werden. Dies
sicherzustellen, sollte nach unserer Meinung auch dann möglich sein,
wenn das Ernennungsrecht bei der Pforte verbleibt. Die Großmächte,
die das Recht der Kontrolle für sich in Anspruch nehmen, werden
schon auf Grund dieses Kontrollrechtes in der Lage sein, auf die Aus-
wahl geeigneter Persönlichkeiten hinzuwirken.
Wir würden es im Interesse der armenischen Sache lebhaft be-
dauern, wenn Rußland aus seinen der Pforte nicht annehmbaren
Spezialforderungen eine conditio sine qua non machen und so das
unter seiner dankenswerten Initiative begonnene Werk zum Scheitern
142
bringen würde. Bisher haben in Konstantinopel nur die Delegierten
der Botschafter verhandelt. Vielleicht würde es das Zustandekommen
einer Einigung erleichtern, wenn nunmehr die Botschafter selbst die
Angelegenheit in die Hand nähmen.
Rosenberg
Nr. 15 386
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 535 Therapia, den 15. September 1913
Im Anschluß an Telegramm 515*.
Herr von Giers hatte mich für heute um eine Zusammenkunft zur
Besprechung der armenischen Frage gebeten.
Es wurde folgendes Kompromiß verabredet, für welches Herr
von Giers zunächst die Genehmigung seiner Regierung nachsuchen
wird:
1. Rußland akzeptiert äußerstenfalls die türkische Zoneneinteilung.
2. Es wird versucht, durch freundliche Verständigung mit dem
Großwesir dessen Einverständnis damit zu erreichen, daß die General-
inspekteure apres une entente . . .** amicale avec les Puissances vom
Sultan ernannt werden.
3. Deutschland akzeptiert gleiche Vertretung der Nationalitäten an-
statt Proportionalität.
4. Einrichtung einer besonderen Kontrolle ist unnötig, da eine
solche auf Grund Artikels 61 ohne weiteres durch Botschaften und
Konsulate ausgeübt werden kann.
5. . . . ** Verhandlungen mit Großwesir werden zunächst getrennt
durch Hern von Giers und mich geführt.
Falls Großwesir wegen Ernennung der Generalinspekteure nach
Benehmen mit den Mächten Schwierigkeiten macht, beabsichtigen ich
und Herr von Giers folgende Lösung zu probieren: Die Pforte wird die
Mächte bitten, geeignete Generalgouverneure auszuwählen, vorbehalte
sich aber ein Einspruchsrecht.
Da nach den Reformgesetzen die Türkei sowieso die Mächte um
Generalinspekteure bitten kann und wollte, so kann sie schließlich,
ohne sich etwas zu vergeben, sich statt an einzelne Mächte an die Ge-
samtheit derselben wenden.
Siehe Nr. 15 383.
* Zifferngruppe unverständlich.
143
Auf meine Bemerkung, daß Frankreich mit dem Projekt Mandel-
stam nicht einverstanden sei, erwiderte Herr von Giers: „Gerade des-
halb wende ich mich an Sie."
Wangenh eim
Nr. 15 387
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 319 Berlin, den 16. September 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 535*.
Einverstanden. In Frage Beamtenernennung wäre eintretenden-
falls mittlere Lösung auf folgender Basis denkbar: Pforte ernennt höhere
Beamten nach Anhörung, mittlere auf Vorschlag der Generalr
inspekteure, untere Beamte werden von Generalinspekteuren ernannt.
Jagow
Nr. 15 388
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Wien von Tschirschky'**
Konzept
Nr. 1357 Berlin, den 20. September 1913
Die russische Regierung, die in unserem Botschafter in Kon-
stantinopel den Hauptgegner ihres armenischen Reformprojekts zu
vermuten scheint, hat sich unter Hinweis auf ihr vorliegende be-
unruhigende Nachrichten aus Armenien mehrfach hierher gewandt,
um einen Ausgleich der bei den Beratungen in Konstantinopel zwischen
Dreibund und Dreiverband hervorgetretenen Gegensätze zu versuchen.
Zu dem gleichen Zwecke ist kürzlich Herr von Giers mit Baron
Wangenheim ins Benehmen getreten. Das Ergebnis ist aus dem ab-
schriftlich anliegenden Telegramm unseres Botschafters vom 15. d.
Mts. *** ersichtlich. Wir halten eine baldige Einigung mit dem Peters-
burger Kabinett für erwünscht, da dieses in der Lage ist, die Ereignisse
in Armenien so zu beeinflussen, daß Rußland als Grenznachbar einen
Vorwand zu selbständigem Vorgehen erhält und das Reformwerk
• Siehe Nr. 15 386.
•* Der gleiche Erlaß ging unter Nr. 1190 nach Rom.
••• Vgl. Nr. 15 386.
144
den anderen Mächten aus der Hand genommen wird. Falls der von
Baron Wangenheim und Herrn von Giers vereinbarte Kompromiß in
Petersburg akzeptiert wird, dürfte eine Basis gewonnen sein, auf der
sich eine für alle Beteiligten annehmbare Lösung finden läßt. Der
Hauptforderung des Dreibunds, daß die türkische Einteilung Armeniens
in Sektoren und Wilajets aufrechterhalten bleiben soll, trägt der Kom-
promiß Rechnung. Eine Mitwirkung der Mächte bei der Ernennung der
Generalinspektoren erscheint an und für sich zweckmäßig, da auf
diese Weise die Auswahl geeigneter Persönlichkeiten sichergestellt
werden kann. Nur wird darauf Bedacht zu nehmen sein, daß diese
Mitwirkung in eine Form gekleidet wird, welche die türkische Emp-
findlichkeit schont und die Souveränität der Pforte tunlichst unbe-
einträchtigt läßt. Diesem Erfordernis dürfte der in dem Kompromiß
vorgesehene modus procedendi entsprechen.
Ew. pp. bitte ich, vorstehendes bei der dortigen Regierung ver-
traulich zu verwerten und deren Ansicht festzustellen.
Jago w
Nr. 15 389
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 549 Therapia, den 22. September 1913
Geheim
Im Anschluß an unsere heutige Unterredung über die armenische
Frage führte Herr von Giere aus, er hoffe, daß unser Zusammenarbeiten
der Ausgang nicht nur einer deutsch-russischen Kooperation zum
Zweck der Erhaltung der Türkei werden möge. Von allen Mächten
sei Rußland am meisten an dem Fortbestand der Türkei interessiert (!),
nächst ihm Deutschland, welches bei der Teilung vor schwieriges Pro-
blem gestellt werde. Ziel der deutsch-russischen Politik müsse also
sein: Verhinderung der Teilung und Reform zur Verhütung von inneren
Revolutionen. Ausschließlich letztere Ziele habe die armenische Politik
Rußlands im Auge. Zur Konsolidierung der türkischen Herrschaft sei
es erwünscht, daß die Kleinasien vorgelagerten Inseln türkisch blieben \
Leider habe man die Absicht der Mächte, die Inseln den Griechen zu
belassen, zu früh in Athen bekannt gegeben. Der griechische Hoch-
mut sei grenzenlos; die Katastrophe werde über Griechenland be-
stimmt einmal hereinbrechen, könne aber aufgehalten werden, wenn
die Hauptinseln der Türkei verblieben. Die Wiedereroberung der In-
• Vgl. dazu Bd. XXXVI, Kap. CCLXXVIII.
10 Die Große Politik. 38. Bd. 145
sein sei das durchaus berechtigte Ziel der heutigen türkischen Politik,
von dem keine türkische Regierung ablassen könne.
Herr von Giers beabsichtigt mit seiner Sprache zunächst mein
Vertrauen für unsere gemeinsame Aktion zu gewinnen. Nebenbei
spricht aus seinen Worten die russische Besorgnis vor deutscher Fest-
setzung in Kleinasien und vor der griechischen Konkurrenz mit Be-
zug auf den Besitz von Konstantinopel.
Wangenheim
Nr. 15 390
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 550 Therapia, den 22. September 1913
Ich habe mit Herrn von Giers in der Frage der armenischen Re-
formen als gemeinsames Endziel folgendes nähere Programm ver-
einbart:
„1. La Sublime Porte a decide de s'adresser aux Puissances pour
leur demander de lui recommander deux inspecteurs generaux pour
lesdeux secteursde l'Anatolie Orientale: a) Erzeroum, Trebizonde, Sivas
et b) Van, Bitlis, Carpoud, Diarbekir, avec lesquels eile pourrait con-
clure un contrat de cinq ans; la Sublime Porte manifeste en meme
temps sa resolution de s'adresser au concours des puissances toutes
les fois oü les contrats auraient pris fin.
2. La Sublime Porte reconnait ä 'ces deux inspecteurs le droit de
presenter ä la nomination du gouvernement de Sa Majeste le Sultan les
fonctionnaires superieurs et les juges, de nommer les autres fonction-
naires ainsi que de destituer librement sans exception aucune tous les
fonctionnaires de leur secteur.
3. II y aura dans chacun des deux secteurs une assemblee elective
composee par la moitie de musulmans et de chretiens.
4. Ce meme principe d'egalite sera applique pour la repartition
de toutes les fonctions dans les deux secteurs.
5. La Sublime Porte invite les Grandes Puissances ä contröler elles-
memes l'application des reformes par l'entremise des ambassadeurs ä
Cospoli et de leurs consuls sur les lieux.
6. La Sublime Porte se propose de s'entendre avec les puissances
sur les autres reformes a appliquer dans les fdeux secteurs de l'Anatolie
Orientale."
Hinsichtlich der taktischen Durchführung sind wir der Meinung,
daß es nicht ratsam erscheint, der Pforte schon jetzt das ganze Pro
146
gramm bekannt zu geben, sondern daß das Terrain dafür allmählich
vorbereitet werden müsse.
Wir beabsichtigen daher zunächst, den Oroßvvesir zu veranlassen,
die Mächte mittels Note um Empfehlung zweier Generalinspekteure
zu bitten. In der Antwortnote könnten dann der Pforte die übrigen
Punkte des Programms als Wunsch der Mächte mitgeteilt werden.
In der Zwischenzeit müßte Großwesir von uns entsprechend bearbeitet
werden. Oberster, nunmehr auch von Herrn von Giers anerkannter
Grundsatz muß bleiben, daß die Pforte zu Annahme des Programms
ohne gewaltsamen Druck lediglich durch Überredung veranlaßt und
daß nur auf Durchführung derjenigen Punkte bestanden wird, zu denen
die Pforte ihre Zustimmung gibt.
Nur unter dieser Voraussetzung habe ich Punkt 3 des Programms
angenommen, der gegenüber unserem bisherigen Reformplan eine
wesentliche Neuerung enthält und von der Pforte voraussichtlich ab-
gelehnt werden wird. Herr von Giers und ich sind übereingekommen,
uns über das Ergebnis unserer künftigen Besprechungen mit Groß-
wesir gegenseitig auf dem laufenden zu halten *.
Wangenheim
Nr. 15 391
Der Geschäftsträger in Wien Prinz zu Stolberg an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 292 Wien, den 24. September 1913
Auf Erlaß Nr. 1357 vom 20. d. Mts.**
Baron Macchio, bei dem ich den Inhalt des oben bezeichneten Er-
lasses verwertet habe, sagt mir, der österreichisch-ungarische Ge-
schäftsträger in Berlin sei bereits angewiesen worden, sich über die
Ansicht der hiesigen Regierung dahin auszusprechen, daß Österreich-
Ungarn an sich kein direktes Interesse an der armenischen Frage habe,
daß es aber eine Einigung zwischen Deutschland und Rußland über
diesen Punkt im Interesse des allgemeinen Friedens lebhaft begrüßen
und deshalb mit allem, was die Kabinette von Berlin und St. Peters-
burg hierüber vereinbaren, einverstanden sein würde. Sollte es sich
bei dem Reformwerk auch um Berufung fremder Sachverständiger, Rat-
• Am 24. September wurde das obige Telegramm mittels Erlaß Nr. 1366 bzw.
1199 nach Wien bzw. Rom mit dem Bemerken mitgeteilt: „Wir sind geneigt,
uns mit den in Konstantinopel vereinbarten Richtlinien einverstanden zu erklären,
sofern unsere Verbündeten gleichfalls zustimmen."
♦• Siehe Nr. 15 388.
io« 147
geber oder Beamten handeln, so würde die österreichisch-ungarische
Regierung Wert darauf legen, hierbei nicht übergangen zu werden.
W. Prz. Stolberg
Nr. 15 392
Der Geschäftsträger in Wien Prinz zu Stolberg an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 205 Wien, den 28. September 1913
Unter Bezugnahme auf Erlaß vom 24. September Nr. 1366*.
Hiesige Regierung erhebt gegen das mitgeteilte Projekt keinen
Einwand und ist auch bereit, dasselbe zu unterstützen.
Sie legt jedoch Gewicht darauf, daß im Falle der Berufung aus-
ländischer Reformorgane für die beiden anatolischen Sektoren auch
die Heranziehung eines Angehörigen der Monarchie in Betracht ge-
zogen werde. Sollte für die Generalinspektorsstellen kein Angehöriger
der Monarchie gewählt werden, so müßte sie darauf bestehen, daß
ein solcher für die gleichen Funktionen in einem der anderen Teile des
ottomanischen Reiches bestimmt werde.
Stolberg
Nr. 15 393
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Wien von Tschirschky
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 1390 Berlin, den 30. September 1913
Angehörige der Großmächte werden als Generalinspekteure für die
beiden anatolischen Sektoren voraussichtlich nicht in Frage kommen.
England hatte sich bekanntlich im Frühjahr d. Js. auf Wunsch der
Pforte zur Entsendung von Generalinspekteuren für Nord- und Ost-
anatolien bereit erklärt, mußte dann aber seine Zusage wegen russischer
und französischer Empfindlichkeiten zurückziehen. Da wohl die Kan-
didatur jeder anderen Großmacht gleichfalls bei einem oder mehreren
Mitgliedern des Mächtekonzerts auf Widerstand stoßen würde **, dürfte
die Wahl schließlich auf Angehörige kleinerer neutraler Staaten fallen.
• Vgl. Nr. 15 390, S. 147, Fußnote \
•* Vgl. dazu das Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Paris Sewastopulo
an Neratow vom 27. September (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis,
148
Für die vier nichtanatolischen Sektoren hat die Pforte unseres
Wissens nicht europäische, sondern türkische Oeneralinspektoren in
Aussicht genommen.
Was die unteren Reformorgane für Anatolien anlangt, so fragt
es sich, ob nicht auch diese sich aus Angehörigen neutraler Staaten
rekrutieren werden. Sollten Angehörige der Großmächte hierfür in
Betracht kommen, so werden wir gern für Berücksichtigung Öster-
reichs eintreten.
Ew. pp. ersuche ich ergebenst, vorstehendes bei Graf Berchtold
vertraulich zu verwerten.
Jagow
Nr. 15 394
Der Botschaf ter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim,
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 575 Therapia, den 29. September 1913
[pr. 30. September]
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 550*.
Großwesir hat erste vorsichtige Sondierung nicht ungünstig auf-
genommen und namentlich Punkt 1 als diskutabel bezeichnet. Bei
zweiter Besprechung äußerte er, er hoffte, eine alle Balkanstaaten
befriedigende Formel zu finden.
Dagegen sagte mir Dschawid, er glaube nicht, daß seine Partei
eine dauernde Mitwirkung der Mächte bei der Einsetzung der Ge-
meralinspekteure akzeptieren werde.
Herr Bompard bat mich gestern um nähere Auskunft über die
gemeinschaftliche russisch-deutsche Aktion, die ihm zu mißfallen schien.
Er betont Frankreichs Interesse an der Armenierfrage. Ich bezeichnete
meinem Kollegen die Erklärungen, die ihm bereits von Herrn von
Giers über den Charakter der gemeinsamen Demarche abgegeben
waren, als zutreffend.
Wangenheim
1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 291), wonach es im französischen Außenministe-
rium als sehr lästig betrachtet wurde, wenn für das südliche Gebiet Klein-
asiens ein Deutscher zum Oeneralinspektor ernannt werden sollte, da Frankreich
gerade dort bedeutende Eisenbahninteressen habe.
• Siehe Nr. 15 390.
149
Nr. 15 395
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 579 Therapia, den 29. September 1913
[pr. 30. September]
Im Anschluß an Telegramm Nr. 575*.
Herr Bompard hat heute Großwesir wegen der armenischen Frage
in derselben Weise sondiert wie Herr von Giers und ich. Said Halim
war leicht erstaunt über diesen unerwarteten Schritt, welchen er auf
französische Eifersucht zurückführt.
Wangenheim
Nr. 15 396
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 601 Konstantinopel, den 14. Oktober 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 579**.
Bezüglich des deutsch-russischen Projekts, welches dem Groß-
wesir kürzlich überreicht worden war, sagte mir dieser heute, daß
auch nach diesem Vorschlag die Generalinspektoren als Delegierte
der Mächte erschienen, an welche die Türkei gewisse Souveränitäts-
rechte abzutreten habe. Es solle eine rein politische, nicht aber die
administrative Frage, um die es sich bei den Reformen ausschließlich
handle, aufgeworfen werden. Bei einem Konflikt zwischen General-
inspektor und Pforte würden sich die Mächte oder einzelne derselben
hinter den Generalinspektor stellen. Europa wolle sich also auf Um-
wegen das Recht der Intervention sichern. Speziell Rußland beab-
sichtige, im Schafpelz in Armenien einzuziehen, um später dort als
Wolf hausen zu können. Da die Privilegierung Armeniens ähnliche
Ansprüche anderer Provinzen zur Folge haben würde, so bedeute sie
den Anfang der Aufteilung. Nach der Auffassung der Pforte und seiner
Partei müßten die Generalinspektoren türkische Beamte bleiben und
im Falle eines Konflikts von der Pforte abgesetzt werden können. Die
Reformen seien eine rein türkische Angelegenheit. Die Mächte seien
befugt, die Reformen zu kontrollieren, nicht aber sie kraft eigenen
• Siehe Nr. 15 394.
•* Siehe Nr. 15 395.
150
Rechts einzuführen. Zum erstenmal, seitdem das türkische Reich be-
stehe, habe die Pforte den ehrlichen Willen zu erkennen gegeben, mit
europäischer Hilfe zu reformieren. Anstatt aber die während des
Balkankriegs feierlich zugesagte Hilfe zu leisten, hätten die Mächte
aus gegenseitiger Eifersucht bisher nicht erlaubt, daß fremde Be-
amte als Reformer angestellt würden. An politischen Gründen solle
also das Reformwerk scheitern, damit Rußland unter der Eskorte der
übrigen Mächte in Armenien festen Fuß fassen könne. Falls die
Mächte unter den türkischen Bedingungen keine Reformer stellen
wollten, so werde er sich bemühen, unter Umgehung der Regierungen
Reformer zu engagieren, und falls auch dieser Versuch mißlinge,
türkische Generalinspektoren ernennen. Während der Schneezeit werde
in Armenien sowieso keine Revolution ausbrechen. Bis zum Frühjahr
hoffe er die Reformen bereits so weit gefördert zu haben, daß jn
Armenien Ruhe eintrete.
Ich habe dem Großwesir erwidert, es berühre mich peinlich, daß
sein anfängliches Entgegenkommen sich nunmehr in das Gegenteil
verwandelt zu haben schiene. Wenn ich auch nicht bestreiten wolle,
daß die Ernennung selbständiger Generalinspektoren der Pforte ge-
wisse innere Schwierigkeiten bereiten könne, so erschienen mir doch
die Gefahren aus einer rein negativen Haltung die größeren. Durch
Deutschlands Vermittlung und Eingreifen sei das Projekt Mandelstam
auf ein Minimum reduziert worden. Auf letzteres hätten sich aber
sämtliche Mächte geeinigt, so daß die Türkei jetzt dem geschlossenen
Europa gegenüberstehe. Rußland selbst habe sich überraschend konzi-
liant erwiesen. Aus diesem Entgegenkommen und der türkischen In-
transigenz könne es im Falle von Unruhen in Armenien leicht die
moralische Berechtigung herleiten, dort Ordnung zu stiften. Außerdem
verhandele die Pforte gegenwärtig mit den Mächten wegen der vier-
prozentigen Zollerhöhung. Es sei zu befürchten, daß eine oder die
andere Macht ihre Zustimmung dazu Von der vorherigen Regelung der
armenischen Frage abhängig mache. Ohne Zollerhöhung sei aber keine
Anleihe und ohne Anleihe keine Reformaktion möglich.
Auf meine schließliche Frage, ob ich die Äußerungen des Groß-
wesirs als eine definitive Ablehnung unseres Vorschlags aufzufassen
hätte, erwiderte mir Großwesir: „Non! Nous nous trouvons dans
la premiere phase des discussions. J'ai seulement voulu vous repeter
ce que j'ai dit hier ä Monsieur de Giers*."
Wangenh eim
* Auf das obige Telegramm erhielt Freiherr von Wangenheim durch Tele-
gramm Nr. 344 vom 15. Oktober zur Antwort: „Mit Euerer Exzellenz Sprache
einverstanden. Bitte weiterhin betonen, daß ablehnende Haltung eigensten
Interessen der Pforte direkt zuwiderläuft/'
151
Nr. 15 397
Der Geschäftsträger in London von Kühlmann an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 570 London, den 16. Oktober 1913
Die vertraulichen Besprechungen in Konstantinopel zwischen dem
Freiherrn von Wangenheim und dem dortigen russischen Botschafter
werden von der russischen Diplomatie mit großer Aufmerksamkeit
verfolgt, und man verspricht sich im Falle des Gelingens von diesem
Gedankenaustausch die günstigste Rückwirkung auf das deutsch-rus-
sische Verhältnis im allgemeinen.
Eine mit den Anschauungen der leitenden russischen Kreise wohl-
vertraute Persönlichkeit betonte, daß Rußland ebenso sehr wie England
und Deutschland von der Notwendigkeit durchdrungen sei, alles für
die Erhaltung der asiatischen Türkei zu tun. Über diesen grundlegenden
Punkt herrsche vollkommene Übereinstimmung. Kein verantwortlicher
Mann in Rußland sei so töricht, die Angliederung türkischen Gebietes
zu wünschen, das nichts anderes bedeuten könne als Vermehrung des
armenischen Elements in Rußland. Die Armenier hätten sich in noch
weit höherem Grade als die Juden als Elemente der Zersetzung et-
wiesen und überall der Revolution die gefährlichsten Kämpfer gestellt.
Der Kaukasus befinde sich trotz leidlicher äußerlicher Ruhe dauernd
im Zustande der Gärung, und gerade das armenische Element zwinge
die russischen Behörden zur strengsten Wachsamkeit. Diese Zustände
ließen jeden Gedanken einer Vergrößerung auf Kosten der asiatischen
Türkei unsinnig erscheinen, erklärten aber andererseits auch, warum
Rußland darauf dringen müsse, daß im türkischen Grenzgebiet Ruhe
und Ordnung herrsche, da sonst ein Übergreifen der Bewegung auf den
Kaukasus zu befürchten sei.
R. v. Kühlmann
Nr. 15 398
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in Konstantinopel
Freiherrn von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung
Wilhelm von Stumm
Nr. 352 Berlin, den 22. Oktober 1913
Herr Sasonow hat sich bei hiesigem Aufenthalt* auf das be-
stimmteste dahin ausgesprochen, daß Rußland Absichten auf Türkisch-
• Ober den Aufenthalt des russischen Außenministers in Berlin am 22. Oktober
und seine Besprechungen mit den deutschen Staatsmännern vgl. Bd. XXXVI».
152
Armenien durchaus fernlägen. Die russische Regierung könne Ver-
mehrung dieser revolutionären Elemente nicht wünschen, müsse aber
mit Rücksicht auf eigene Armenier Wert auf Einführung von Reformen
legen. Er begrüßt Euerer Exzellenz Zusammengehen mit Herrn von
Giers und wird letzteren anweisen, Ew. pp. die Führung zu überlassen
bei den Versuchen, der Pforte die vereinbarten Vorschläge schmack-
haft zu machen.
Zimmermann
Nr. 15 399
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 613 Konstantinopel, den 23. Oktober 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 352*.
Herr Sasonow hat in Berlin schon über die letzten Unterredungen
Herrn von Giers' mit dem Großwesir und Dschawid unterrichtet sein
müssen, nach welchen die Türkei es nunmehr kategorisch ablehnt, sich
irgendwelcher Souveränsrechte zugunsten von mit der Zustimmung der
Mächte ernannten Generalinspekteuren zu entäußern. Rußlands Absicht
könnte wo möglich sein, uns für die so gut wie verlorene Sache vor-
zuschieben, deren Odium wir dann gleichzeitig Russen, Türken und
Armeniern gegenüber zu tragen hätten. Ich gedenke daher, die mir
zugedachte Führung erst dann zu übernehmen, wenn Großwesir seine
Ablehnung Herrn von Giers und mir gegenüber schriftlich begründet
hat. Was wir dann später noch etwa von der Pforte erreichen würden,
hätten Rußland und Armenier ausschließlich uns zu danken. Meine
Hoffnung auf Einlenken der Pforte schwindet indes täglich mehr. —
Die Schwierigkeit liegt darin, daß wir nicht mit Sultan oder einer
Persönlichkeit von überragendem Prestige wie Mahmud Schewket zu
verhandeln haben, sondern mit dem Komitee, das heißt einer Gruppe,
in welcher Ideen, aber keine Persönlichkeiten regieren. Der leitende
Gedanke im Komitee ist gegenwärtig, die Türkei lieber zugrunde gehen
Kap. CCLXXX, Nr. 14193. In seinem Bericht an den Zaren vom 6. No-
vember über seinen Aufenthalt in Berlin (Der Diplomatische Schriftwechsel
Iswolskis 1911 bis 1914, ed. Fr. Stieve, III, 330) äußert sich Sasonow über
das Gespräch mit Bethmann Hollweg bezüglich der Frage der armenischen
Reformen: „Ober unser Einverständnis, die Frage der Reformen in den ar-
menischen Wilajets des osmanischen Reiches mit Deutschland zu erörtern,
drückte der Reichskanzler mir seine höchste Befriedigung aus. Er ver-
sprach mir, sein Möglichstes zu tun, um unsere beiderseitigen Ansichten über
diese Frage in den wesentlichsten Punkten in Einklang zu bringen, und bat mich
nur, die Mittel zur Verwirklichung der Reformen möchten derart sein, daß sie
den Stolz der Türkei so wenig wie möglich verletzen."
• Siehe Nr. 15 398.
153
zu lassen, als sie noch weiter unter der politischen Kontrolle der Mächte
zu belassen. Selbst der versöhnliche, besonnene und von seinen Partei-
genossen geschätzte Großvvesir hat sich der herrschenden Strömung
schließlich allmählich unterwerfen müssen, obwohl er die Gefahr der
türkischen Intransigenz vollkommen erkennt. Erschwerend für die Ver-
handlungen wirkt die Niederlage des europäischen Konzerts in der
Frage von Adrianopel, die Annäherung an Bulgarien, der Triumph der
türkischen Zähigkeit in den Verhandlungen mit Griechenland und der
Umstand *, daß mehrere Mächte, darunter Rußland, gegenwärtig mit
der Türkei Spezialabkommen treffen und deshalb es mit ihr nicht
verderben wollen. Selbst Herrn von Giers' Haltung ist von Tag zu
Tage versöhnlicher geworden. Neuerdings will er sogar türkische Ge-
neralinspekteure und Mitwirkung der Pforte bei Absetzung der General-
inspekteure konzedieren. — Ich habe öfters den Eindruck, als ob
Rußland nur nach einem Wege suchte, um aus der Sache heraus-
zukommen. Auch Frankreich ist neuerdings viel weniger empressiert,
während England schweigt, Italien und Österreich aber erkennen zu
geben scheinen, daß sie nicht mehr verlangen, als die Türkei selbst
konzedieren würde **. — Aus alledem muß die Pforte die Überzeugung
gewinnen, daß sie auch in diesem Falle nicht viel riskiert, wenn sie
sich dem angeblich einigen Europa widersetzt.
Wan gen h e im
Nr. 15 400
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in Konstantinopel
Freiherrn von Wangenheim
Konzept
Nr. 984 Berlin, den 24. Oktober 1913
[abgegangen am 25. Oktober]
Antwort auf Telegramm Nr. 613***.
Nach hiesigen Eindrücken liegt es keinenfalls in Rußlands Absicht,
uns in der armenischen Frage vorzuschieben, um das Odium eines
etwaigen Scheiterns der Reformen auf uns abzuwälzen. Herr Sa-
* Vgl. zu allem diesem Bd. XXXVI, Kap. CCLXXVII und CCLXXVIII.
** In ähnlichem Sinne hatte Freiherr von Wangenheim schon am 20. Oktober
privatim an Unterstaatssekretär Zimmermann geschrieben: ,,Ich muß unbedingt
vermeiden, daß Rußland gegen uns mißtrauisch wird und den türkischen Wider-
.stand auf eine geheime deutsche Einwirkung zurückführt. Dieser Punkt ist
wichtiger als das ganze armenische Programm. Qiers selbst ist gegenwärtig
nicht sehr pressiert, da er vor allen Dingen seinen Akkord durchbringen möchte.
Außer Rußland machen gegenwärtig auch Frankreich, Österreich und Italien
der Türkei stark den Hof. Nur England ist wie in einer Versenkung ver-
schwunden."
*" Siehe Nr. 15 399.
154
sonovv zeigte sich ehrlich erfreut über die vertrauensvolle Kooperation
Euerer Exzellenz mit Herrn von Giers und wollte an dieser gemein-
samen Arbeit nichts ändern. Er stimmte aber unserer Ansicht zu, daß
man die Pforte zur Annahme des vereinbarten Programms mit mög-
lichster Schonung bewegen müsse, und versprach in diesem Zu-
sammenhang, Herrn von Giers anzuweisen, daß er nicht schärfer
vorgehen solle als sein deutscher Kollege: bei den Versuchen, der
Pforte die verabredeten Vorschläge schmackhaft zu machen, sollten
Euer pp. das Maß der Dringlichkeit der Einwirkung bestimmen. Nur
in diesem Sinne sollte Ihnen die Führung zufallen, im übrigen aber
sollte die Angelegenheit selbstverständlich auch dem Großwesir gegen-
über weiter von Ihnen und Herrn von Giers gemeinsam betrieben
werden.
Wie Euer pp. telegraphisch mitgeteilt ist, stellte Herr Sasonow
auf das bestimmteste und in durchaus überzeugender Weise in Abrede,
daß Rußland auf Türkisch-Armenien Absichten hätte. Die Schwierig-
keiten, die den russischen Behörden von den bereits zu Rußland ge-
hörigen Armeniern gemacht werden, ließen dem Petersburger Kabinett
eine Vermehrung dieses revolutionären Elements nur unerwünscht
erscheinen. Dagegen müßte Rußland allerdings sowohl mit Rücksicht
auf seine armenische Bevölkerung wie im eigenen Interesse der Türkei
auf Reformen in den armenischen Wilajets Wert legen. Das Beispiel
Mazedoniens zeigte, daß zur erfolgreichen Durchführung des Reform-
werks eine gewisse Mitwirkung der Mächte bei der Bestellung der
Generalinspekteure unerläßlich sei. Das Fehlen einer solchen Mit-
wirkung wäre nach Herrn Sasonows Ansicht in erster Linie für das
Scheitern der mazedonischen Reformen verantwortlich. Der Minister
bezeichnete das von Euer pp. mit dem russischen Botschafter aus-
gearbeitete Reformprogramm als geeignete Basis und gab der Hoffnung
Ausdruck, daß die Pforte bei ruhiger Weiterarbeit unserer beiden
Vertreter schließlich für die Annahme wenigstens der wesentlichen
Forderungen des Programms zu gewinnen sein werde.
Euer pp. darf ich hiernach bitten, in der armenischen Frage weiter
möglichst vertrauensvoll mit Ihrem russischen Kollegen zusammen-
zugehen. Die in letzter Zeit zutage tretende versöhnlichere Haltung
des Herrn von Giers dürfte der Kooperation nur zugute kommen. Denn
diese wurde anfangs hauptsächlich dadurch erschwert, daß Rußland
für die von uns beobachteten Rücksichten auf die Empfindlichkeit
und Eigenliebe der Türkei nicht genügendes Verständnis zeigte. Im
armenischen Interesse schärfere Forderungen zu stellen oder größeres
Empressement an den Tag zu legen als Rußland, haben wir keinen
Anlaß.
Mit der Absicht Euer pp., vom Großwesir zunächst eine schriftliche
Rückäußerung zu verlangen, sind wir vollkommen einverstanden.
Zimmermann
155
Nr. 15 401
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 616 Konstantinopel, den 28. Oktober 1913
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 613*.
Die Herrn von Giers und mir vom Großwesir in Aussicht gestellte
Erklärung über die Stellung der türkischen Regierung zu armenischen
Reformen lautet:
„Le Gouvernement Imperial etant resolu d'entreprendre les re-
formes dont le besoin se fait sentir de facon la plus pressante dans tout
Tempire appliquera incessamment les lois et reglements qu'il a ela-
bores ä cet effet et dont la mise en vigueur complete fut retardee jus-
qu'ici par les evenements balkaniques.
Afin de mettre rapidement ä bonne fin les reformes desirees il
compte profiter dans la mesure la plus large de l'aide morale et materielle
que les Grandes Puissances ont bien voulue lui promettre ä maintes
reprises et leur demandera de lui procurer les personnes dont il desire
s'assurer le concours qu'il considere indispensable pour son oeuvre de
relevement.
Le Gouvernement de Sa Majeste Imperiale le Sultan est decide
ä faire tout ce qui sera necessaire pour rendre ce precieux concours
le plus efficace et le plus productif possible tout en veillant avec un
soin jaloux ä ce qu'en aucun cas et sous aucun pretexte il soit porte
la moindre atteinte aux droits souverains de Sa Majeste Imperiale le
Sultan et ä l'independance du pays."
Großwesir bemerkt hierzu, daß er nach der Verweigerung eng-
lischer Reformer aus innerpolitischen Gründen zwar außerstande wäre,
andere als türkische Generalinspekteure einzusetzen; es läge in seiner
Hand, hierzu gefügige Persönlichkeiten zu ernennen, so daß eigentliche
Leitung der Reformen dem jedem Generalinspekteur beizugebenden euro-
päischen Gehilfen und dessen technischen Unterorganen (gleichfalls
Europäer) zufallen müsse. Erfolg läge dann ausschließlich in den
Händen der Reformer, deren Mithilfe er lebhaft begrüßen würde.
Großwesir wies hin auf Reform des Zollwesens durch Crawford als
beweiskräftiges Analogon. Crawford habe sich geweigert, oberste
Leitung zu übernehmen, da seine Arbeit nur unter Deckmantel tür-
kischer Oberleitung Erfolg verspräche.
Vorschlag von Gehilfen als Substitute der Generalinspekteure ist
neu und erscheint mir diskutabel. Derselbe ist vorläufig nur mir als
ganz vertraulich unterbreitet worden.
Wangenh eim
• Siehe Nr. 15 399.
156
Nr. 15 402
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 622 Konstantinopel, den 29. Oktober 1913
Antwort auf Erlaß Nr. 984*.
Herr von Giers sagte mir, er habe aus einer Unterredung mit
Großwesir den bestimmten Eindruck gewonnen, daß Said Halim, ob-
wohl persönlich entgegenkommend, unter dem chauvinistischen Druck
des Komitees steht und unser Programm deshalb nicht annehmen könne
und werde. Ein zwischen Herrn von Giers und mir verabredeter
weiterer Vermittelungsvorschlag — Pforte wählt Generalinspektoren
aus je drei von den Mächten bezeichneten Kandidaten — wurde vom
Großwesir kategorisch abgelehnt. Letzterer will nur zugestehen — dies
ist überhaupt das erste Zugeständnis, welches die Türkei amtlich
vindiziert — ,
1. daß den Generalinspekteuren je ein europäischer Berater bei-
gegeben wird, und daß die Pforte sich verpflichtet, diese Berater von
derjenigen Macht zu erbitten, welche ihr von der Gesamtheit der
Mächte empfohlen wird, ,
2. daß die Generalinspekteure sich den Ratschlägen der Berater
unterzuordnen haben, und
3. daß das Mandat der Berater fünf Jahre währt und einmal,
höchstens zweimal, erneuert wird.
Herr von Giers meint, dieser Vorschlag, den wir vorläufig natür-
lich bekämpfen müßten, und der wahrscheinlich auch Herrn Sasonow
mißfallen werde, sei schließlich als äußerstes Minimum akzeptierbar,
wenn die Berater nicht von einer, sondern von allen Mächten vor-
geschlagen würden.
Wangenheim
Nr. 15 403
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter In Petersburg Grafen
von Pourtal&s
Telegramm. Konzept
Nr. 215 Berlin, den 4. November 1913
Der Kaiserliche Botschafter in Konstantinopel meldet**:
„Großwesir sagte mir, daß er aus heutiger Unterhaltung mit Herrn
von Giers den Eindruck gewonnen habe, daß Rußland die Einsetzung
Siehe Nr. 15 400.
• Telegramm Nr. 633 vom 3. November.
157
von Generalinspekteuren unter Garantie der Mächte fallen lasse. Herr
von Giers habe ihn um eine schriftliche Fixierung der Gerechtsame
ersucht, welche den den Generalinspekteuren beizugebenden europäi-
schen Beamten zugedacht seien. Großwesir glaubt, daß wir uns der
Lösung der Frage nähern."
Ew. pp. wollen sich ohne besonderes Empressement bei ge-
eigneter Gelegenheit für Annahme des türkischen Vorschlags aus-
sprechen. Der gleiche Standpunkt wird hier Herrn Sverwejew gegenr
über vertreten.
Zimmermann
Nr. 15 404
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 641 Konstantinopel, den 7. November 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 633*.
Von Giers und ich sind über folgenden weiteren Vermittelungs-
vorschlag übereingekommen und haben ihn unter Hinweis auf den
rein persönlichen Charakter unseres Schrittes sondierend mit dem
Großwesir besprochen:
„1) La Sublime Porte a decide de s'adresser aux Puissances pour
leur demander de lui recommander deux conseillere qui devront pssister
les deux inspecteurs generaux que le Gouvernement Imperial Ottoman
a places ä la tete des deux secteurs de l'Anatolie Orientale: a) Erzeroum,
Trebizonde, Sivas et b) Van, Bitlis, Carpoud, Diarbekir.
La Sublime Porte d£clare vouloir conclure avec ces conseillere
un eontrat et manifeste en meme temps de sa resolution de s'adresser
dans Fespace de dix ans au concours des Puissances toutes les fois
oü ces contrats auraient pris fin.
2) La Sublime Porte reconnait aux deux inspecteurs generaux et
ä leure conseillere le droit de nommer et de destituer conjointement tous
les fonctionnaires et tous les juges de leurs secteurs.
3) Les instructions ä donner aux inspecteurs generaux seront ela-
borees par la Sublime Porte apres entente avec les ambassades.
4) Tous les pouvoirs conferes aux inspecteurs generaux par leurs
instructions seront exerces par eux de concert avec les conseillere.
Aucun acte emanant de Pinspecteur general ne sera valable s'il est
pris sans accord avec le conseiller. En cas de divergence entre l'in-
specteur general et le conseiller, la question sera portee par devant la
Sublime Porte qui statuera apres entente avec les ambassades.
* Vgl. Nr. 15 403 nebst Fußnote.
158
5) II y aura dans chacun des deux secteurs de l'Anatolie Orientale
une assemblee elective composee par la moitie de musulmans et de
chretiens.
6) Ce meine principe d'egalite sera applique pour la repartition de
toutes les fonctions dans les deux secteurs."
Punkt 1 ist von Said Halim so gut wie angenommen. In den
übrigen Punkten werden wir noch verschiedenes nachlassen müssen.
Wangenheim
Nr. 15 405
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 333 Pera, den 19. November 1913
In den Verhandlungen, welche Herr von Giers und ich mit dem
Großwesir wegen der armenischen Reformen führen, ist wiederum
ein nicht unwichtiger Fortschritt zu verzeichnen.
Auf unseren Wunsch hatte der Großwesir uns eine Aufzeichnung
seiner Ansichten über die den Generalinspekteuren beizugebenden
europäischen Berater und deren Gerechtsame zugehen lassen. Das
Memoire, von welchem ich Abschrift beifüge*, trägt den Charakter
eines Gegen pro jektes zu unserem letzten Vermittelungsvorschlage. Um
dem Großwesir entgegenzukommen, haben wir die Verhandlungen zu-
nächst auf Grund seiner Denkschrift aufgenommen. Herrn von Giers
ist es dabei gelungen, Said Halim zu folgenden Zugeständnissen zu
bringen, die Seine Hoheit persönlich mit Bleistift in ein jetzt im Be-
sitze des russischen Botschafters befindliches Exemplar der Denk-
schrift eingetragen hat. Dem Artikel 1 wurde hinzugefügt: „La Sublime
Porte s'adressera aux Grandes Puissances pour leur demander de lui
reccmmander ce conseiller." Dagegen erhielt der Artikel 5 nach
„Grand Vezirat" den Zusatz: „qui lui donnera la suite qu'elle comporte.
L'inspecteur general ne prendra pas de disposition administrative sans
accord prealable avec le conseiller. En cas de divergence entre l'in-
specteur general et le conseiller, si dans un delai d'un mois le differend
n'est pas tranche, c'est l'avis du conseiller qui prevaudra."
Hiernach besteht heute schon ein Einverständnis zwischen der
Pforte und uns darüber,
1) daß die türkische Souveränität nach außen hin vollkommen
gewahrt bleiben soll. Die Generalinspekteure werden Türken sein
und von der Pforte ein- und abgesetzt werden.
• Siehe Anlage.
159
2) daß die eigentliche Verwaltung Armeniens in die Hände zweier
von den Mächten bestellter „Berater" gelegt werden soll.
Die Hauptschwierigkeit des Problems dürfte damit überwunden
sein, und ich glaube, daß es nunmehr hauptsächlich darauf ankommt
zu verhindern, daß bei den Diskussionen über die weiteren Punkte
unseres Programms uns der Großwesir wieder ausbricht. Ich wirke
in diesem Sinne auf Herrn von Giers ein, der eine gewisse Neigung
für Paragraphen und Formeln hat. Ich glaube, daß wir weiter kommen,
wenn wir die Frage mehr politisch als administrativ behandeln, nicht
nur den Türken gegenüber, sondern auch im Hinblick auf die spätere
Verwaltung Armeniens. Es erscheint mir bedenklich, die zukünftige
Verwaltung allzu eng an ein bestimmtes Programm zu binden, zu
dessen Abänderung dann doch wieder der schwerfällige Apparat des
Meinungsaustausches zwischen den Mächten in Bewegung gesetzt
werden müßte. Nützlicher wäre es, die europäischen Berater zunächst
— etwa ein Jahr — praktische Erfahrungen sammeln zu lassen und
dann ihre Vorschläge anzuhören. Namentlich gilt dies in der Frage
der „assemblees electives" und von deren Zusammensetzung. Niemand
kann heute mit Bestimmtheit sagen, ob es praktischer wäre, derartige
beratende Körperschaften in den Sektoren oder in den einzelnen Wi-
lajets zusammentreten zu lassen. Auch ob und wo die Proportionalität
oder die Gleichheit bezüglich der christlichen und mohammedanischen
Vertretung in den elektiven Körpern und bei der Verteilung der ad-
ministrativen Funktionen vorzuziehen ist, wird sich nur auf Grund
längerer Erfahrungen an Ort und Stelle feststellen lassen. Fraglich ist
es auch, ob wir absolut auf dem Rechte der Generalinspekteure und
ihrer Adjoints, die Beamten zu ernennen und abzusetzen, bestehen
sollen. Nach der Stellung, welche die Pforte den fremden Beratern ein-
räumen will, wären diese ohne weiteres in der Lage, einen ungeeigneten
Beamten zu suspendieren und seine Stelle vorläufig zu besetzen. Der
Pforte würde nichts übrig bleiben, als eine derartige Handlung später
zu sanktionieren. Würden wir jetzt der Pforte zumuten, den General-
inspekteuren das Recht der Ernennung und Absetzung feierlich zuzu-
erkennen, so würden wir dabei wahrscheinlich auf einen nicht zu über-
windenden Widerstand stoßen, an welchem schließlich die ganze Re-
form scheitern könnte. Meine Taktik geht daher dahin, einerseits den
Türken zu raten, unseren Vorschlägen weitmöglichst entgegenzukom-
men, andererseits aber Herrn von Giers nahezulegen, das bereits Er-
reichte nicht nun durch zu scharfes Bestehen auf rein formalistischen
Forderungen zu kompromittieren und uns lieber das Recht zu reser-
vieren, nach einem Jahre auf Grund praktischer Vorschläge der Ge-
neralinspektionen auf die Sache zurückzukommen.
Alles kommt darauf an, daß so schnell wie möglich die General-
inspektionen eingerichtet werden. Ich bin überzeugt, daß die gegen-
wärtige türkische Regierung alles daran setzen wird, um dem neuen
160
Regime in Armenien zu einem Erfolge zu verhelfen. Denn sie kennt
zu gut die Gefahren, welche die Türkei bei einem Mißlingen der Re-
formen bedrohen würden. Durch rasches, praktisches Angreifen wird
das armenische Problem leichter gelöst werden als durch langwierige
Diskussionen über Prinzipienfragen.
Wangenhei m
Anlage
Des conseillers etrangers qui seront adjoints aux inspecteurs generaux.
Article 1
A chaque inspecteur general il sera adjoint pour un delai de dix
ans un conseiller etranger ayant des connaissances speciales.
Article 2
Le conseiller a pour attributions de seconder l'inspecteur general
dans les inspections et reformes generales de la competence de l'in-
specteur general. II est l'autorite immediate des inspecteurs en chef
des sections administratives de la circonscription inspectorale et preside
la commission d'inspection et de reformes composee par ces inspecteurs.
Article 3
Le conseiller examine les rapports d'inspection dresses par ces in-
specteurs, et les transmet ä l'inspecteur general soit directement soit
apres en avoir fait discuter par la commission d'inspection les parties
qu'il jugerait necessaires d'y referer. Le conseiller ajoutera son avis
personnel sur les questions faisant l'objet de ces rapports.
Article 4
L'inspecteur general mettra en application les decisions de ladite
commission ou les rapports d'inspection qui lui sont directement trans-
mis par le conseiller, en tant que leur objet serait de sa competence.
II s'en referera aux Departements interesses pour les questions neces-
sitant des Instructions.
Article 5
En cas de divergence de vue entre l'inspecteur general et le con-
seiller, sur des questions se rapportant aux inspections et aux rapports,
la question en litige sera soumise au Grand Vezirat accompagne d'un
expose de motifs. C'est le Conseil des Ministres qui examine et decide
la Solution ä y apporter.
11 Die Große Politik. 38. Bd. 161
Nr. 15 406
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 335 Pera, den 21. November 1913
Oberst Dschemal Bey, der Referent und die ausschlaggebende Per-
sönlichkeit des Komitees ,, Union et Progres" in allen armenischen
Fragen, dinierte gestern auf der Kaiserlichen Botschaft. Nach Tische
redete er mich auf das Reformprojekt an. Seine Auslassungen waren
schwer mit der bisherigen versöhnlichen Haltung des Großwesirs in
Einklang zu bringen. Dschemal meinte, daß seine Partei die europäische
Intervention, auch wenn sie nur in versteckter Form wie bei der Be-
stellung von Beratern der Generalinspekteure durch die Mächte zum
Ausdruck komme, entschieden ablehne. Dagegen sei das Komitee
durchaus bereit, europäischen Generalinspekteuren, welche die Türkei
selbst gewählt habe, eine vollkommene administrative Unabhängig-
keit zu konzedieren und dieselben mit allen Gerechtsamen auszu-
statten, welche die Mächte jetzt für die europäischen Berater ver-
langten. In ihr souveränes Recht, ihre Beamten selbst zu ernennen,
werde sie sich aber durch keine Macht, auch nicht durch die Gesamt-
heit der Mächte hineinreden lassen. Außerdem würde ein General-
inspekteur oder Berater, welcher als Organ der Mächte erschiene, so-
fort die gesamte muselmanische Bevölkerung gegen sich haben, woran
das ganze Reformwerk Schiffbruch leiden würde*.
Auf meine Bemerkung, daß er sich früher viel weniger intransigent
gezeigt habe, erwiderte Dschemal, daß sich inzwischen die Lage be-
deutend verändert habe. Die Erwartungen, welche die Bevölkerung
an die Leistungen des Komitees knüpfe, seien nach den diplomatischen
Erfolgen der Türkei bei den letzten Friedensschlüssen bedeutend ge-
stiegen. Die Enttäuschung dieser Hoffnungen würde sich bei den be-
vorstehenden Wahlen geltend machen und das Komitee vielleicht in
die Minorität bringen. Dann sei seine Partei vor die Alternative ge-
stellt, entweder eine Gewaltherrschaft einzurichten oder das Land
einer vollkommenen Anarchie zu überlassen, da eine andere regierungs-
fähige Partei nicht vorhanden sei. Bis vor kurzem habe das Komitee
noch an die Ehrlichkeit Rußlands in der armenischen Frage deshalb
geglaubt, weil Deutschland sich an Rußlands Seite gestellt habe. In-
zwischen seien aber seiner Partei über die wahren Absichten Rußlands
die Augen aufgegangen. Nach dem Attentat gegen Mahmud Schewket
habe er außer den kompromittierten Ententisten auch einige Leute
* Vgl. dazu auch das spätere Urteil Dschemal Paschas in seinen „Erinnerungen
eines türkischen Staatsmannes", S. 67 ff.
162
seiner Partei nach Sinope verbannt, die dort Spionendienste geleistet
hätten. Von einem dieser Vertrauensleute sei ihm nun vor einigen
Wochen gemeldet worden, daß er nebst fünf anderen Verbannten mit
dem russischen Konsul eine Zusammenkunft gehabt habe. Von dem
Konsul sei ihnen eröffnet worden, daß Herr von Giers ihn beauftragt
habe, die Korrespondenz der Verbannten mit ihren auswärtigen Freun-
den zu vermitteln. Die Antworten der letzteren müßten in Kuverten,
die durch besondere Buchstaben gekennzeichnet seien, an das Kon-
sulat adressiert werden. Durch die Spione sei ein Teil der auf die ge-
schilderte Weise entstandenen Korrespondenz in seinen Besitz gelangt.
Darunter befänden sich verschiedene Briefe, welche der bekannte, zum
Tode verurteilte Agitator Scherif Pascha von Paris nach Sinope ge-
richtet habe. Vor einigen Tagen sei es dem Konsul sogar gelungen,
einem der Exilierten zur Flucht zu verhelfen. Wegen aller dieser Vor-
gänge habe er Herrn Mandelstam zur Rede gestellt, von welchem
die Schuld auf den Konsul abgewälzt worden sei. Selbstverständlich
werde er sich damit nicht zufrieden geben, sondern zu dem geeigneten
Momente die Berichte seiner Vertrauensleute und die beschlagnahmten
Dokumente in der Presse veröffentlichen. Jedenfalls stände es nach
dem Vorgefallenen für seine Partei fest, daß die freundliche Haltung,
welche Herr von Giers gegenwärtig seiner Partei gegenüber zur Schau
trage, nichts als Heuchelei sei. Rußland betrachte das Komitee als
seinen Gegner und arbeite mit verwerflichen Mitteln an seinem Sturz.
Es sei deshalb begreiflich, wenn das Komitee den russischen Reform-
vorschlägen nunmehr mit dem äußersten Mißtrauen gegenüberstehe.
Bei den Verhandlungen mit dem Großwesir, die morgen fort-
gesetzt werden sollen, wird es sich bald herausstellen, ob die Besorg-
nisse Dschemals sich inzwischen auch der Regierung mitgeteilt haben.
Einige erregte Äußerungen des Großwesirs zu Markgraf Pallavicini
lassen dies befürchten.
Soeben berichtet mir Herr von Tyszka* über Äußerungen, welche
der Direktor der Politischen Abteilung im Ministerium des Äußern
Salih Bey ihm gegenüber in einer vertraulichen Unterredung über
Dschemal Bey getan hat:
„Die Militärdiktatur ist schon da. Dschemal Bey ordnet an, und die
anderen gehorchen. Dschemal ist sehr fähig und wie Talaat außerordent-
lich energisch. Aber nicht Talaat ist der Diktator, sondern Dschemal Bey.
Die Kiamil Pascha und Gabriel Noradunghian, der zitternd zu den
Botschaftern lief und um Schiffe bat, da die Bulgaren in Konstantinopel
einrücken würden, wären nie zum Vormarsch der Armee entschlossen
gewesen, wie es Dschemal und Talaat waren. Wenn auch Not am Mann
ist, so weit darf ein Minister des Äußern nie gehen. Ein solches
Dementi darf er sich nie geben . . .
* Deutscher Journalist in Konstantinopel.
11* 163
Die Furcht, die früher war, nur ja keinem Christen ein Haar
krümmen, lieber alle Türken opfern, gibt es jetzt nicht mehr. Die Zeit
ist jetzt vorbei. Dschemal und Talaat wollen und handeln auch. Ich be-
wundere sie doch." —
Tyszka fügt dem hinzu:
„Dieses letzte Geständnis trotz aller Ausstellungen eines so vor-
trefflichen, ehrlichen Mannes wie Salih Bey ist sehr bezeichnend. Das
System wird verurteilt, die Erfolge werden aber bewundert." —
Wangenheim
Nr. 15 407
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 1113 Berlin, den 30. November 1913
Ew. pp. beehre ich mich zu benachrichtigen, daß ich die in dem
gefälligen Bericht Nr. 333 vom 19. d. Mts.* entwickelten Ansichten über
die armenische Reformfrage teile und den Kaiserlichen Geschäftsträger
in St. Petersburg angewiesen habe, Sie bei den weiteren Verhandlungen
durch entsprechende Einwirkung auf die russische Regierung nach Mög-
lichkeit zu unterstützen.
Jagow
Nr. 15 408
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 339 Pera, den 26. November 1913
[pr. 30. November]
In der armenischen Frage waren meine Bemühungen in den letzten
Tagen hauptsächlich darauf gerichtet, das plötzlich neu erwachte
türkische Mißtrauen gegen Rußland und die Zweifel zu bekämpfen,
die infolge unseres Zusammengehens mit Rußland an der Aufrichtig-
keit der deutschen Armenierpolitik entstanden waren. Bei einer längeren
vertraulichen Aussprache mit dem Großwesir führte ich aus, daß der
Pforte bei der Beurteilung des Vorgehens der Mächte wegen Arme-
niens der wichtigste Punkt bisher vollkommen entgangen sei. Bisher
* Siehe Nr. 15 405.
164
und besonders seit 1908 sei die armenische Angelegenheit eine zwischen
Rußland und der Türkei schwebende Spezialfrage gewesen, aus der
Rußland jederzeit einen Vorwand zu bewaffnetem Einschreiten hätte
herleiten können. Mit der Vorlegung des Projekts Mandelstam hätte
Rußland seinen bisherigen Standpunkt aufgegeben und die Frage zu
einer internationalen gemacht. Diese Wendung bedeute einen Glücks-
zufall für die Türkei und sei als solcher von allen wirklichen Freunden
der Türkei und deshalb auch von der Kaiserlichen Regierung begrüßt
worden. Nachdem Rußland anerkannt habe, daß in Armenien alle
Mächte ein Wort mitzusprechen hätten, sei es für Rußland gänzlich
ausgeschlossen, ohne Verständigung mit den übrigen Mächten Ge-
waltmaßnahmen wegen armenischer Vorgänge gegen die Türkei zu
ergreifen. Die zuständige politische Stelle bezüglich Armeniens sei
nunmehr das europäische Konzert, in welchem die Freunde der Türkei
zu Worte kommen würden. Daß die Pforte mit der Gesamtheit der
Mächte sich eher abzufinden weiß als mit einzelnen Mächten, habe
der türkische Erfolg in der Adrianopler Frage bewiesen.
Der Großwesir stimmte meinen Ausführungen schließlich bei,
bemerkte aber, daß seine Parteifreunde und das türkische Volk noch
nicht aufgeklärt genug seien, um den von mir geschilderten Zusam-
menhang der Dinge zu verstehen. Das Volk glaube, daß die Mächte
sich zu einem Vorstoß gegen die türkische Souveränität zusammen-
getan hätten, um damit das Demembrement des Reiches vorzubereiten.
Er selbst stehe auf dem Standpunkte, daß seine Verhandlungen mit
Herrn von Giers und mir unbedingt zu einem praktischen Resultat
führen müßten. Unannehmbar für ihn seien geschriebene Programme,
wie sie ihm wiederholt von Herrn von Giers vorgelegt worden seien, und
in denen die Ingerenz der Mächte in einer das türkische Gefühl ver-
letzenden Weise zum Ausdruck gebracht werde. Derartige Programme
könne er nicht einmal dem Komitee gegenüber, geschweige denn in
der Kammer, die das letzte Wort in der Sache zu sprechen habe,
vertreten. Es müßte eine Formel gefunden werden, welche unseren
Ansprüchen gerecht werde, ohne das türkische Selbstgefühl zu ver-
letzen.
Die Bemerkung des Großwesirs über die wiederholte Vorlegung1
von Programmen bezieht sich auf den in Abschrift beigefügten Vor-
schlag*, welchen Herr von Giers, ohne sich vorher mit mir zu ver-
ständigen, dem Großwesir unterbreitet hat, und in welchem nach seiner
(Giers') Ansicht der türkische Standpunkt in der Frage zum Ausdruck
gebracht worden ist. Die genaue Präzisierung unserer Forderungen
in diesem Projekte macht letzteres für die Pforte von vornherein unan-
nehmbar.
Wangenheim
• Siehe Anlage.
165
Anlage
Article I
La Sublime Porte a decide de s'adresser aux Puissances pour
leur demander de lui recommander deux Conseillers qui seront ad-
joints aux deux Inspecteurs Generaux que le Gouvernement Imperial
Ottoman a places ä la tet& des deux secteurs de l'Anatolie Orientale:
a) Erzeroum, Trebizonde, Sivas et b) Van, Bitlis, Carpoud, Diarbekir.
La Sublime Porte declare vouloir conclure avec ces Conseillers
des contrats et manifeste en meme temps de sa resolution d'avoir
recours dans l'espace de dix ans ä la recommandation des Puissances
toutes les fois oü ces contrats auraient pris fin.
Article II
Toutes les mesures ordonnees d'un commun accord par Tlnspec-
teur General et le Conseiller dans les questions administratives, finan-
cieres ou judiciaires sont definitives et devront etre executees par les
autorites civiles et militaires de qui depend leur execution.
Article III
Les Inspecteurs Generaux exercent le droit de revoquer tous les
fonctionnaires de leurs secteurs, droit qui leur a ete accorde par les
Instructions annexees ä la Note Circulaire de la Sublime Porte en date
du 1er juillet 1913, conjointement avec les Conseillers.
Ils auront egalement le droit de nommer conjointement tous les
fonctionnaires et juges dont la nomination n'a pas besoin d'un Irade
Imperial. Quant aux fonctionnaires et juges dont la nomination exige
la sanction souveraine, ils auront le droit de presenter leurs candidats
ä l'approbation de Sa Majeste le Sultan.
Article IV
Les „Instructions relatives aux devoirs et attributions des Inspec-
teurs Generaux" annexees ä la Note Circulaire de la Sublime Porte du
1er juillet 1913 sub No 34 233—75 seront revues et mises en con-
cordance avec les intentions de la Sublime Porte dans la presente Note.
Article V
Le Conseiller est l'autorite immediate de laquelle depend le Service
d'inspection du secteur. II preside la Commission d'inspection formee
par les Inspecteurs en chef toutes les fois qu'il juge ä propos de les
convoquer.
Article VI
Le Conseiller verifiera, soit en personne soit par les Inspecteurs
places sous ses ordres, la Situation des vilayets de son secteur, de meme
166
qu'il verifiera tous les incidents et les questions administratives, finan-
cieres ou judiciaires d'ordre general ou de caractere particulier ou prive
qui pourraient surgir. Le Conseiller examinera les rapports dresses par
les Inspecteurs et les transmettra ä Tlnspecteur General, soit directe-
ment, soit apres avoir fait discuter, par la Commission d'Inspection,
les parties qu'il jugerait necessaire d'y referer. Le Conseiller ajoutera
toujours son avis personnel sur les questions faisant l'objet de ces
rapports.
Article VII
L'Inspecteur General mettra en execution les rapports d'inspection
et les decisions de la Commission approuves par le Conseiller et
soumis par lui.
Article VIII
L'Ir.specteur General ne prendra aucune mesure d'ordre admini-
strativ financier ou judiciaire sans accord prealable avec le Conseiller.
En cas de divergence entre PInspecteur General et le Conseiller, la
question en litige sera soumise au Grand Vezirat qui lui donnera la
suite qu'elle comporte (apres entente avec les Ambassades). Si le
differend n'est pas tranche dans le delai d'un mois, c'est l'avis du
Conseiller qui prevaudra.
Article IX
En ce qui concerne les decisions prises par le Conseiller relative-
ment aux questions 1) touchant ä l'application des lois ou 2) n'ayant
pas un caractere general ou 3) presentant un caractere d'urgence, elles
seront executees sans delai et sans recours au Grand Vezirat.
Article X
Les membres elus aux Assemblers Generales et aux Conseils Ad-
ministratifs seront par moitie musulmans et non-musulmans.
Ce meme principe d'egalite sera applique pour la repartition de
toutes les fonctions publiques dans les deux secteurs.
Article XI
La competence legislative et budgetaire des Assemblers Generales
sera etendue dans la mesure prevue par le projet de loi de 1880.
Article XII
Les recrues domiciliees dans chaque secteur y feront, en temps
de paix, leur Service militaire. Les regiments Hamidie seront licencies.
Article XIII
Les lois, decrets et avis officiels seront publies dans chaque secteur
dans les langues locales. Chaque particulier aura le droit devant les
tribunaux et devant l'administration de faire usage de sa langue. Les
167
jugements des tribunaux seront libelles en turc et accompagnes, si
possible, d'une traduction dans la langue des parties.
Article XIV
Chaque nation a le droit de creer des taxes speciales pour pourvoir
aux besoins de ses ecoles. La perception aura lieu sous forme de
Centimes additionnels.
Article XV
Lc Conseiller presidera la Commission qui sera chargee de trancher
les conflits agraires et de restituer aux Armeniens les terres dont ils
ont ete depossedes.
Article XVI
La justice sera reorganisee.
Nr. 15 409
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 351 Pera, den 3. Dezember 1913
Der Großwesir hatte mich kürzlich gebeten, ihm als seinem persön-
lichen Freunde* einen Rat zu erteilen, wie er aus dem schwierigen Di-
lemma, in welchem er sich in der Armenierfrage gegenüber seiner
Partei und den Mächten befinde, herauskommen könne, ohne sich etwas
zu vergeben. Ich hatte dem Großwesir darauf als meine ganz persön-
liche Ansicht folgendes ausgeführt: Der Pforte sei seinerzeit von den
Mächten aktive Unterstützung bei der Konsolidierung der kleinasia-
tischen Verhältnisse nach Friedensschluß versprochen worden. Anderer-
seits habe die Pforte bereits weitgehende Reformpläne ausgearbeitet
und teilweise zu Gesetzen erhoben, nach welchen fremde Instrukteure
zur Unterstützung der türkischen Stellen bei dem Reorganisationswerke
berufen werden sollten. Es wäre daher ganz natürlich und könne die
türkische Eigenliebe in keiner Weise verletzen, wenn die Pforte sich
nunmehr gleichzeitig an sämtliche Kabinette mit der Bitte wende, die
Mächte möchten ihre gegebene Zusage nunmehr erfüllen und der Pforte
für jeden der armenischen Sektoren je eine oder mehrere Persönlich-
keiten bezeichnen, welche nach Ansicht der Regierungen geeignet seien,
den türkischen Generalinspekteuren als Berater zur Seite zu stehen.
In dem Schreiben an die Kabinette möge die Pforte dann im einzelnen
die Rechte aufführen, welche den Generalinspektoren und den Beratern
zustehen sollten. Bei der Privilegierung dieser Beamten könne die
Pforte leicht bis an die Grenze dessen gehen, was Herr von Giers
• sie!
168
und ich verlangten. Denn sie handle ja aus eigener Initiative und behalte
sich die Anstellung der fremden Berater als türkische Beamte ausdrück-
lich vor. Die Mächte würden dann vielleicht dem Antrage der Pforte
mit der Erklärung entsprechen, daß sie von den Zusicherungen Akt
nähmen, welche die Pforte bezüglich der Stellung der Berater gegeben
habe.
Wie mir Prinz Said Halim gestern sagte, hat er Herrn von Giers
in dem von mir suggerierten Sinne sondiert. Der Botschafter sei sicht-
lich erfreut gewesen und habe die Anregung als ein Entgegenkommen
der Türkei aufgefaßt, jedoch darauf bestanden, daß bei Meinungs-
verschiedenheiten zwischen Generalinspekteur und Berater der Groß-
wesir nach Anhörung der Botschafter zu entscheiden habe. Die direkte
Intervention der Botschafter könne er — der Großwesir — nicht
akzeptieren. Dagegen wolle er ausdrücklich anerkennen, daß der Para-
graph 61 des Berliner Vertrags den Mächten das Kontrollrecht eingeräumt
habe. Bemerkungen, die ihm von den Botschaftern bezüglich des Ganges
der Reformen gemacht würden, müsse er Rechnung tragen. Nur hätten
sich die Botschafter an ihn zu wenden, nicht aber er sich selbst an die
Botschafter.
Herr von Giers hat sich dem englischen und dem österreichischen
Botschafter gegenüber sehr befriedigt über seine Unterhaltung mit
dem Großwesir geäußert und der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß
eine Verständigung sich nunmehr erzielen lassen werde. Mit mir hat
Herr von Giers noch nicht gesprochen. Er boudiert noch wegen der
Armeereform.
Wangenheim
Nr. 15 410
Der Geschäftsträger in London von Kühlmann an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 691 London, den 9. Dezember 1913
Sir Edward Grey sagte mir heute im Laufe eines längeren Ge-
sprächs, es sei sein dringender Wunsch, die armenischen Reformen
angenommen zu sehen, da er überzeugt sei, daß dies in hohem Maße
zur Konsolidierung der asiatischen Türkei beitragen werde. Es sei ihm
von gewisser Seite zugemutet worden, die vierprozentige Zollerhöhung
mit der Annahme des armenischen Reformprogramms zu verquicken.
Er habe dies aber abgelehnt. Seit langer Zeit sei der Türkei englischer-
seits gesagt worden, daß die Zollerhöhung bewilligt würde, sobald
die Bagdadbahn und die damit zusammenhängenden Fragen in Ordnung
seien, und daran halte er fest. Zeitungsnachrichten hätten davon ge-
169
sprochen, daß die Türkei geneigt wäre, das Reformprogramm anzu-
nehmen, falls man den Titel der europäischen Generalinspektoren ab-
ändere. Er sei sehr dafür, den Türken in allen formalen Fragen mög-
lichst entgegenzukommen, wenn nur das Prinzip einer wirksamen
europäischen Kontrolle, unter welchem Namen auch immer, gewahrt
bleibe.
R. v. Kühlmann
Nr. 15 411
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 697 Konstantinopel, den 20. Dezember 1913
Heute und morgen finden die entscheidenden Beratungen des
Ministerrats statt über die Antwort auf die deutsch-russischen Vor-
schläge zur Armenierfrage. Großwesir wird dort mit seinem Rat zu
Entgegenkommen auf den Widerstand seiner jüngeren Kollegen stoßen,
die durch die russischen Drohungen wegen der Militärmission* schwer
gereizt sind. Ich habe vorgestern Talaat, Halil und Kriegsminister
und heute noch den Großwesir nachdrücklich auf den Zusammenhang
zwischen Armenierfrage und der Frage der deutschen Mission auf-
merksam gemacht. Ein deutsch-russisch-türkischer Akkord betreffs Ar-
meniens werde vermutlich auch dem Zwist wegen der Mission seine
Schärfe nehmen. Weise die Pforte die deutsch-russischen Anträge
zurück, so werde Rußland die armenische Frage als Vorwand benutzen,
um sich an der Türkei wegen der Berufung des Generals Liman zu
rächen. Deutschland könne dann der Türkei nicht beispringen, da es
ja in der Armenierfrage an Rußland gebunden sei.
Wangenh eim
Nr. 15 412
Der Botschafter In Konstantlnopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 704 Konstantinopel, den 25. Dezember 1913
Auf meine Anregung begaben sich Herr von Giers und ich heute
auf die Pforte, um mit Großwesir gemeinsam die armenische Frage
zu besprechen. Es wurde ein prinzipielles Einverständnis auf der im
Bericht 351 ** dargelegten Basis erzielt. Großwesir wird sich mündlich
• Vgl. dazu Kap. CCXC.
*• Siehe Nr. 15 409.
170
oder schriftlich an sämtliche Botschafter mit der Bitte wenden, für
jeden der armenischen Sektoren je zwei europäische Generalinspekteure
oder Berater zu bezeichnen. Großwesir zieht jetzt Generalinspekteure
vor, damit die Frage, was bei Konflikten zwischen Generalinspekteur
und Berater zu geschehen habe, nicht besonders geregelt zu werden
braucht Bei Stellung des Antrags wird Großwesir die Privilegien
mitteilen, mit welchen die Pforte die Generalinspekteure bezw. Berater
auszustatten beabsichtigt. Sobald die Mächte die betreffenden Persön-
lichkeiten bezeichnet haben, wird die Pforte den Botschaftern eröffnen,
daß sie bereit sei, mit den von ihr ausgewählten Personen Verträge auf
zehn Jahre abzuschließen, indem sie sich gleichzeitig verpflichtet, bei
innerhalb dieser zehn Jahre eintretenden Vakanzen „de s'adresser ä
nouveau au concours bienveillant des Puissances".
Herr von Giers bestand zunächst darauf, daß die 16 Punkte seines
letzten Programms (vgl. Bericht 339*) in den Erklärungen der Pforte
aufgenommen würden. Großwesir erwiderte, daß er in einigen Punkten
vielleicht sogar noch über unsere Forderungen hinausgehen werde.
Wir möchten es ihm überlassen, entsprechende Vorschläge zu machen.
Dies wurde unsererseits konzediert.
Heutige Beratung dürfte entscheidend gewesen sein. Herr von
Giers wird die gefundene Lösung in Petersburg befürworten1. Groß-
wesir glaubt, daß er mit dem jetzigen Programm den Widerstand im
Ministerrate beseitigen wird. Deutscherseits könnten noch bei der
Feststellung der Attributionen . . .** entstehen. Aber auch diese
dürften zu überwinden sein.
Wangenheim
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II. auf einer modifizierten Abschrift der Ent-
zifferung:
1 Der Temps u[nd] Wremja werden traurig sein
Schlußbemerkung des Kaisers:
Sehr erfreulich. Wangenheim hat seine Sache gut gemacht
Meine Zufriedenheit telegraphieren W.
Nr. 15 413
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 709 Konstantinopel, den 29. Dezember 1913
Großwesir hat heute Herrn von Giers und mir mitgeteilt, daß der
Ministerrat ihn ermächtigt habe, in der im Telegramm Nr. 704*** skiz-
zierten Weise vorzugehen.
• Siehe Nr. 15 408, Anlage.
** Zifferngruppe fehlt.
"* Siehe Nr. 15 412.
171
Er würde sich danach mündlich und offiziös an die hiesigen Bot-
schafter mit der Bitte wenden, für jeden der armenischen Sektoren
europäische Inspekteure vorzuschlagen. Gleichzeitig wird er in offiziöser
Form die den Inspekteuren von der Pforte zu gewährenden Befugnisse
mitteilen. Wenn die Mächte dann ihre Vorschläge gemacht haben werden,
wird die Pforte schriftlich mitteilen, wen sie zum Generalinspektcur
mit den erwähnten Befugnissen ernannt habe.
Herr von Giers ist mit den Vorschlägen des Großwesirs ein-
verstanden und hofft auch, daß über die den Inspekteuren zu erteilenden
Vollmachten eine Einigung zu erzielen sein wird.
Ein Punkt, auf den er noch entscheidenden Wert legt, ist sein Ver-
langen, daß es für den Fall einer innerhalb 10 Jahren eintretenden
Vakanz heißen soll: „de s'adresser au meme concours des Puis-
sances"; nur dann könne man den Armeniern sagen, daß sie für
zehn Jahre Ruhe hätten.
Ich habe Herrn von Giers zugesagt, für diese letztere Fassung beim
Großwesir einzutreten, im übrigen aber ihm nahegelegt, nicht durch
zu viel Handeln um einzelne Positionen die beinahe schon erzielte
Einigung in Frage zu stellen. Die Hauptsache sei, daß europäische
Inspekteure zunächst einmal nach Armenien kämen.
Mutius
Nr. 15 414
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 10 Pera, den 5. Januar 1914
Im Anschluß an Telegramm Nr. 709*.
Ich fand den Großwesir heute sehr erregt über die letzten Vor-
schläge des Herrn von Giers in der Armenierfrage. Nachdem in den
letzten Tagen auch zwischen Herrn von Giers und mir immer nur da-
von die Rede gewesen war, daß die Pforte in der nach Abschluß der
offiziellen Verhandlungen an die Mächte zu richtenden Note die Be-
stellung der beiden Generalinspekteure und ihre Befugnisse mitteilen
solle, hat Herr von Giers gestern dem Großwesir den Entwurf einer
solchen Note vorgelegt, in der auch noch gewisse Prinzipien, nach
denen die Inspekteure regieren sollen, festgelegt werden (Mitglieder der
Selbstverwaltungskörper zur Hälfte Muselmanen und Nichtmuselmanen.
Die Budget- und Gesetzgebungsfunktionen der Generalversammlungen
sollen im Sinne des Gesetzentwurfs von 1880 ausgedehnt werden, die
ausgehobenen Soldaten sollen in Friedenszeit innerhalb des Sektors,
aus dem sie stammen, dienen. Gebrauch der Landessprache für Gesetze,
* Siehe Nr. 15 413.
172
Dekrete und vor Gericht, Recht der Bevölkerung, besondere Abgaben
für ihre Schulen zu erheben). Diese Forderungen entsprechen dem
früheren Programm des Herrn von Giers (Bericht 339*). Großwesir
erklärt mir heute, diese Prinzipien enthalten völlig unannehmbare Ein-
griffe in innere türkische Gesetzgebung.
Ich habe Herrn von Giers dringend geraten, durch Überspannung
seiner Forderungen nicht im letzten Augenblick das ganze Reformwerk
scheitern zu lassen.
Mutius
Nr. 15 415
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 11 Konstantinopel, den 6. Januar 1914
Im Anschluß an Telegramm Nr. 10**.
Auf meine nachdrücklichen Vorstellungen hin, die auch durch
Markgraf Pallavicini unterstützt wurden, hat Herr von Giers heute dem
Großwesir gegenüber ganz wesentlich in seinen Forderungen nach-
gelassen (Selbstverwaltungskörper sollen nur bis zu der von den Ge-
neralinspektoren vorzunehmenden Volkszählung halb aus Muselmanen,
halb aus Nichtmuselmanen bestehen; die budgetären und gesetz-
geberischen Funktionen der Generalversammlungen sollen auf die Basis
des Wilajetgesetzes gestellt werden; der Passus über den Dienst der
ausgehobenen Soldaten in Friedenszeiten ist ganz gestrichen. Nur
die Hamidije-Regimenter sollen entlassen werden. Großwesir hält per-
sönlich die so gefundene Basis für annehmbar, muß aber noch Minister-
rat befragen.
Mutius
Nr. 15 416
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 18 Konstantinopel, den 9. Januar 1914
Im Anschluß an Telegramm Nr. 11 ***.
Nachdem in den letzten Tagen mit meiner Unterstützung sich eine
* Siehe Nr. 15 408 nebst Anlage.
** Siehe Nr. 15 414.
*** Siehe Nr. 15 415.
173
weitere Annäherung zwischen der Pforte und dem russischen Bot-
schafter in der Armenierfrage vollzogen hatte, so daß Herr von Giers
hoffte, vor seiner auf den 11. festgesetzten Urlaubsreise die Verhand-
lungen zu Ende führen zu können, sind heute so scharfe Instruktionen
aus Petersburg eingetroffen, daß die ganze bisherige Arbeit in Frage
gestellt scheint.
Mutius
Nr. 15 417
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 22 Konstantinopel, den 10. Januar 1914
Im Anschluß an Telegramm Nr. 18*.
Herr von Giers teilt mir mit, daß seine gestrigen Petersburger
Instruktionen fordern:
1. Vorschlagsrecht der Generalinspekteure für die vom Sultan zu
ernennenden Beamten.
2. Das Verhältnis halb muselmanisch halb nichtmuselmanisch in
den Selbstverwaltungskörpern soll nicht nur vorübergehend, sondern
auch für die Zukunft festgelegt werden.
3. Ausgehobene Soldaten sollen in Friedenszeiten innerhalb ihrer
Sektoren dienen.
4. Justizreform.
Punkt 1 und 4 sind gegenüber den letzten Verhandlungen neue
Forderungen. Punkt 2 und 3 werden sicher von der Pforte abgelehnt.
Markgraf Pallavicini ist der Meinung, daß Petersburg eine Einigung
in der Armenierfrage mit Rücksicht auf politische Lage (Militärmission **,
Enver Pascha***) nicht wünscht.
Mutius
* Siehe Nr. 15 416.
•* Vgl. darüber Kap. CCXC.
•** Oberst Enver Bey war Anfang Januar 1914 zum türkischen Kriegsminister
ernannt worden, was in Rußland sehr Übeln Eindruck hervorrief. Vgl. dazu
Kap. CCXC.
174
Nr. 15 418
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 5 St. Petersburg, den 11. Januar 1914
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 5*.
Ich habe den Eindruck, daß sich in der Behandlung der arme-
nischen Reformfrage durch die russische Regierung die gegenwärtig
hier gegen uns und die Türkei herrschende üble Laune widerspiegelt.
Noch vor etwa vierzehn Tagen zeigte sich Herr Sasonow sehr entgegen-
kommend und erklärte, es komme ihm nur auf die Wahrung des
Prinzips der europäischen Kontrolle in Armenien an. Als ich ihn vor-
gestern auf die Bedenken gegen eine Verschärfung des zwischen unsern
beiderseitigen Vertretern und dem Großwesir mühsam erreichten Kom-
promisses hinwies, fand ich seine Sprache ganz verändert. Mit einer
Regierung wie der türkischen müsse man äußerst vorsichtig sein und
ihr jede Möglichkeit nehmen, Ausflüchte zu finden, um sich ihren ein-
gegangenen Verpflichtungen zu entziehen. Auf bona fides sei bei den
heutigen Machthabern in Konstantinopel, zu denen jetzt auch der
„Mörder" Enver Pascha getreten sei, nicht zu rechnen. Minister be-
stritt, daß letzte russische Forderungen Verschärfung der früheren
bedeuteten. Sie bildeten nur durchaus notwendige Ergänzung der-
selben. Er habe diese Forderungen jetzt in fünf Punkte zusammen-
gefaßt, die auch Herrn von Sverwejew mitgeteilt worden seien, und
die das Mindestmaß dessen darstellten, was Rußland verlangen müsse.
Herr Sasonow erwähnte, daß Herr von Giers sich über die geringe
Unterstützung deutschen Geschäftsträgers beklage. Ich drückte mein
lebhaftes Erstaunen über diese Bemerkung aus, da vollständiges Ein-
vernehmen zwischen unseren beiden Vertretungen bereits erzielt ge-
wesen sei. Ich glaubte aber, daß wir neueste Schwenkung Rußlands
um so weniger mitmachen könnten, als uns durch die russischerseit9
verlangte Verschärfung ganze Reformaktion in äußerster Weise ge-
fährdet erscheine.
Pourtales;
• Durch Telegramm Nr. 5 vom 10. Januar war das Konstantinopeler Telegramm
Nr. 18 (siehe Nr. 15 416) nach Petersburg mitgeteilt worden.
175
Nr. 15 419
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 26 Pera, den 11. Januar 1914
Im Anschluß an Telegramm Nr. 22*.
In Armenierfrage hat sich zwischen Herrn von Giers, der seinen
Urlaubsantritt erneut verschoben hat, und dem Großwesir wieder eine
Annäherung vollzogen. Von beiden Seiten ist wieder etwas nach-
gegeben worden, und die Verhandlungen dauern fort.
Mutius
Nr. 15 420
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 34 Konstantinopel, den 16. Januar 1914
In der Frage der Armenierreformen scheint Einigung zwischen
Pforte und Herrn von Giers auf allen bis auf einen Punkt so gut wie
erreicht. Dieser Punkt ist die russische Forderung, daß bis zur nächsten
Volkszählung die Selbstverwaltungskörper halb aus Muselmanen, halb
aus Nichtmuselmanen bestehen sollen.
Pforte ist bereit, dies für die Wilajets Wan und Bitlis zuzugestehen,
wo Verhältnis der Bevölkerung dem annähernd entsprechen würde,
weigert sich aber bestimmt, dies auf die anderen Wilajets auszudehnen.
Herr von Giers ist nur geneigt, das Wilajet Trapezunt, wo nur wenig
Armenier, von seiner Forderung auszunehmen.
Mutius
Nr. 15 421
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 13 Berlin, den 17. Januar 1914
Russischer Botschafter hatte hier angeblich ernste Nachrichten aus
Erserum über Erregung dortiger Armenier gegen Reformprojekt und
* Siehe Nr. 15 417.
176
bevorstehende Massakers mitgeteilt, eine Warnung der Pforte durch
russischen Botschafter angekündigt und um Unterstützung dieses
Schrittes gebeten. Ich hatte Geschäftsträger Konstantinopel hierzu
ermächtigt, gleichzeitig aber zum Bericht über Tatbestand aufgefordert.
Herr von Mutius antwortet hierauf*:
„Kaiserlicher Vizekonsul Erserum drahtet:
, Petersburger Nachrichten sehr übertrieben. Jungtürkischer Sport-
klub veranstaltet heute Revolverpreisschießen. Unwissende armenische
Bevölkerung erblickt hierin Vorübung für Massakers. Daß muhame-
danische Bevölkerung infolge Haltung türkischer Presse gegen Kon-
trolle agitiert, ist natürlich. Erachte bis Entscheidung über Reform-
projekt Lage als vollkommen ruhig. ' "
Jagow
Nr. 15 422
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 21 Pera, den 20. Januar 1914
Herr von Giers hat vorgestern Konstantinopel mit Urlaub nach
Paris und Petersburg verlassen, ohne vorher die Frage der Armenier-
reformen zum formellen Abschluß gebracht zu haben. Immerhin äußerte
sich der Großwesir mir gegenüber, wie wenn er dieselbe materiell so
gut wie beendigt betrachte. Er betonte, jetzt komme es vor allem
auf die Wahl geeigneter Persönlichkeiten für die Posten der General-
inspekteure an.
Daß die hiesige russische Botschaft die Verhandlungen nun auch
bald zu Ende bringen möchte, entnehme ich der ganzen Haltung des
russischen Botschafters und des Geschäftsträgers**.
Zweifelhaft bleibt mir aber, ob sie gegenüber der schrofferen
Haltung des Petersburger Kabinetts durchdringen werden. Herr von
Giers hat telegraphisch dringend zum Abschluß geraten. Trotzdem
sind wieder ziemlich bestimmt lautende Instruktionen aus Petersburg
eingetroffen, ja, wie mir Herr Gulkewitsch ganz vertraulich erzählt,
ist die Abreise des Herrn von Giers nur dadurch möglich geworden,
daß ein Telegramm, welches sein weiteres Verbleiben hier wünschte,
verstümmelt und undechiffrierbar eintraf. Bei dieser Sachlage wird
man sich vorläufig noch vor einem zu weitgehenden Optimismus hüten
müssen.
Mutius
• Telegramm Nr. 36 vom 17. Januar.
•* Gulkewitsch.
12 Die Große Politik. 38. Bd. 177
Nr. 15 423
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 47 Konstantinopel, den 26. Januar 1914
Russischer Geschäftsträger hat zunächst rein persönlich der Pforte
über die noch streitigen Punkte nachstehenden Vermittelungsvorschlag
gemacht:
„En attendant qu'un recensement definitif auquel il sera procede
sous la surveillance des inspecteurs generaux dans le plus bref delai,
lequel, autant que possible, ne depasserait pas un an, etablisse la
Proportion exacte des differentes religions, nationalites et langues,
les membres elus aux assemblees generales seront dans les Vilayets
Erzeroum, Van et Bitlis par moitie musulmans et non-musulmans et
dans ceux de Sivas, Carpout et Diarbekir par deux tiers musulmans et
par un tiers non-musulmans. Les membres elus aux conseils admini-
stratifs seront comme par le passe dans tous les sept Vilayets par moitie
musulmans et non-musulmans. Le principe d'egalite entre musul-
mans et non-musulmans sera applique strictement pour le recru-
tement de la police et de la gendarmerie et, autant que possible,
pour la repartition de toutes les autres fonctions publiques dans les
deux secteurs."
Pforte will das fanatische muselmanische Wilajet Erserum anders
als Wan und Bitlis behandeln und die Gleichheit in der Vertretung der
Muselmanen und Nichtmuselmanen in den Generalversammlungen für
Erserum nur zugestehen, wenn die dort innerhalb Jahresfrist vorzu-
nehmende Volkszählung noch nicht stattgefunden habe. Hiermit würde
russischer Geschäftsträger vorbehaltlich Petersburger Zustimmung sich
allenfalls einverstanden erklären. Er beabsichtigt ferner der Pforte
Zustimmung zum letzten Absatz betreffend Polizei- und Gendarmerie-
posten durch Einschiebung des Satzes „A la mesure que les places
deviendront vacantes" zu erleichtern.
Auf beiden Punkten scheint Einigung wahrscheinlich. Jedoch will
Pforte für Siwas, Karput, Diarbekr aus grundsätzlichen Bedenken auch
das Verhältnis 2 zu 1 nicht zugestehen.
Vielleicht wäre in Petersburg nachgiebigere Stimmung durch fol-
gende Erwägungen zu erreichen: Pforte befinde sich zweifellos in
schwieriger Lage. Einmal müsse sie Zustimmung Parlaments zu Ab-
machungen erwirken, andererseits würde sie sich jeder Autorität über
muselmanische Bevölkerung in Ostanatolien begeben. Ferner bestände
Gefahr, daß Horte bei weiterem russischen Druck sich wieder an alle
sechs Mächte wende. In diesem Falle, auf den österreichischer und
italienischer Botschafter bereits seit einiger Zeit hinwiesen, würde Ruß-
178
Iand aber, falls es nicht vorziehe, dann aus dem Konzert der Mächte
auszuscheiden, weniger erreichen als bei gegenwärtigen Verhandlungen.
Mutius
Nr. 15 424
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 60 Konstantinopel, den 2. Februar 1914
Russischer Geschäftsträger, der vor einigen Tagen mit der Pforte
Einigung über Armenierreform erzielt hatte, ist mit seiner Auffassung
in Petersburg nicht durchgedrungen. Petersburg besteht darauf, daß
in Wan, Bitlis, Erserum Generalversammlungen halb aus Muselmanen,
halb aus Nichtmuselmanen bestehen sollen, während für Siwas, Kar-
put, Diarbekr Festlegung des Verhältnisses 2 zu 1 gefordert wird.
Russischer Geschäftsträger beabsichtigt, wie er mir streng ver-
traulich sagt, für seine Auffassung weiter in Petersburg nachdrück-
lich einzutreten.
Mutius
Nr. 15 425
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg*
Ausfertigung
Nr. 58 Pera, den 9. Februar 1914
Gestern ist endlich durch Nachgeben der Petersburger Regierung
eine Einigung zwischen Rußland und der Pforte über die in Ost-
anatolien einzuführenden Reformen erreicht worden. Der Großwesir
wird nunmehr offiziös die Mächte bitten, ihm Generalinspekteure vor-
zuschlagen. Wenn die Pforte dann unter den vorgeschlagenen Männern
ihre Wahl getroffen haben wird, so wird der Großwesir deren Er-
nennung durch die im Entwurf beigefügte Note**, welche mir mein
russischer Kollege übermittelt hat, zur Kenntnis der Mächte bringen.
Um den Text dieser Note, in der nun schließlich doch alle Punkte
zusammengefaßt worden sind, ist in den letzten Wochen in wahrhaft
• Hier eingereiht des Zusammenhangs wegen.
•* Hier nicht abgedruckt; siehe den Wortlaut im Russischen Orangebuch: Les
R£formes en Armenie, p. 158ss.; A. Mandelstam, Le Sort de l'Empire Ottoman,
p. 236 ss.; deutsche Übersetzung in Djemal Pascha, Erinnerungen eines
türkischen Staatsmannes, S. 349 ff.
12* 179
orientalischem Geiste von beiden Seiten verhandelt worden. Rußland
hatte ebensowenig ein klares Minimalprogramm wie die Pforte; die
Verhandelnden wechselten immer wieder ihren Standpunkt und ser-
vierten sich tropfenweise gegenseitig ihre Wünsche und Bedenken.
Es war das richtige bazarlik. Mit Herrn von Giers ständen wir ge-
wiß noch lange nicht am Ende der Verhandlungen. Es ist meines Er-
achtens wesentlich der viel gewandteren und biegsameren Art des
russischen Geschäftsträgers Gulkewitsch den Türken gegenüber und
seiner viel bestimmteren Sprache nach Petersburg hin zu danken,
wenn heute die Einigung erreicht ist.
Das Dokument, welches als die Frucht dieser Bemühungen er-
scheint, hat indessen meines Erachtens keine so große praktische Be-
deutung, wie man nach den beiderseitigen Anstrengungen annehmen
sollte.
Es enthält vielfach auch in der Form bloße Wünsche, nicht
bindende Verpflichtungen. Ob alles, was darin steht, ausführbar sein
wird, kann man zudem bezweifeln. Das praktisch Wesentliche war
erreicht, als die Pforte sich zur Bestellung zweier europäischer Ge-
neralinspekteure mit ernsthaften Kontroll- und Verwaltungsbefugnissen
entschlossen hatte. Rußlands Bestreben nach allerhand Detailbestim-
mungen erklärt sich einerseits wohl daraus, daß man den Armeniern
eine möglichst große Liste erreichter Vorteile präsentieren, anderer-
seits Stoff zu Armenierkonversationen mit der Pforte auch nach der
Bestellung der Generalinspekteure sich vorbehalten wollte*. Es ist
den türkischen Unterhändlern indessen doch gelungen, die schärfsten
Widerhaken zu entfernen oder wenigstens abzuschleifen.
Der Großwesir legt, wie er mir neulich aussprach, mit Recht nun-
mehr den größten Wert auf die Wahl der Personen, welche General-
inspekteure werden sollen. Er hoffe, daß ihm fähige und charakter-
feste Männer vorgeschlagen würden, welche sich zu keinerlei politischen
Intrigen hergeben würden.
Wenn man die Stärke des fordernden Rußland mit der gegen-
wärtigen Schwäche der Türkei und andererseits das Mandelstamsche
Projekt mit dem erreichten Resultat vergleicht, so muß man sagen,
daß die Pforte einen bemerkenswerten diplomatischen Erfolg davon-
getragen hat, der geeignet ist, dem gegenwärtigen Regime überall in
Europa Kredit zu verschaffen. Fast noch höher als die feste Hal-
* Die Absicht der russischen Regierung war wohl noch weitausschauender, als
Legationsrat von Mutius hier voraussetzt: mit dem armenischen Abkommen
sicherte sich Rußland einen Hebel, um mittels der armenischen Frage jederzeit
eine Auseinandersetzung mit der Türkei und damit die Erreichung seiner
„historischen Ziele" in Angriff nehmen zu können. Vgl. die Äußerungen Saso-
nows zu dem Herausgeber der „Grenzboten" G. Cleinow vom 8. April: Rußland
könne eventuell gezwungen werden, in Armenien einzumarschieren, und dann
sei es schwierig, wieder herauszukommen (Kap. CCXC, Nr. 15 531 nebst
Anlage).
180
tung Rußland gegenüber ist die Selbstüberwindung zu bewerten, die
die Pforte in dieser Frage an den Tag gelegt hat. Bei dem unausrott-
baren Mißtrauen Rußland gegenüber und bei der bedrohten Stellung
der Regierung im Innern muß es als eine wirkliche Tat angesehen
werden, daß es gelungen ist, einen so versöhnlichen Abschluß der
Verhandlungen zu erzielen.
Alles dies wäre nicht erfolgt ohne die Vermittelung Deutschlands.
Die Vertrauensstellung, welche sich Freiherr von Wangenheim
bei der Pforte, speziell bei dem Großwesir, erworben hat, hat es ihm
ermöglicht, die türkische Politik in dieser Frage in eine Richtung zu
lenken, welche gleichzeitig dem wohlverstandenen Interesse der Türkei,
Deutschlands und den deutsch-russischen Beziehungen förderlich sein
muß. Die Türkei ist mit einem gewissen politisch-moralischen Erfolg
aus ihrer Bedrängnis hervorgegangen. Andererseits ist auch für die
in unserer Arbeitszone so wichtigen Armenier eine Besserung ihrer
Existenzbedingungen erreicht. Schließlich kann es mit Rücksicht auf
die ungewisse Zukunft der Türkei doch nur als ein erfreuliches Symptom
und als erwünschter Präzedenzfall angesehen werden, daß ein deutsch-
russisches Zusammenarbeiten in einer wichtigen Frage der Orient-
politik zu einem positiven Resultat geführt hat.
Ob man von russischer Seite unserer Mitarbeit den verdienten Dank
entgegenbringen wird, erscheint mir allerdings zweifelhaft. Aber
immerhin läßt sich auch vom russischen Standpunkt die Einigung
mit der Türkei als ein Erfolg buchen. — Bei guten Geschäften können
eben alle Teile ihren Vorteil finden *.
Mutius
* Zu diesen Bemerkungen des deutschen Geschäftsträgers vergleiche den Schluß-
bericht seines russischen Kollegen Gulkewitsch vom 9. Februar 1914 (Rus-
sisches Orangebuch: Les Reformes en Armenie, p. 170ss.; A. Mandelstam,
Le Sort de l'Empire Ottoman, p. 236 ss.; deutsche Obersetzung im Auszuge
bei Djemal Pascha, Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes, S. 351 f.).
Die Auslassungen Gulkewitschs, der den russischen Erfolg sehr hoch ein-
schätzt, geben zugleich schon die Antwort auf die zweifelnde Frage Mutius', ob
man von russischer Seite Deutschland wohl Dank für dessen Mitwirkung wissen
werde, die tatsächlich erst den russischen Erfolg möglich gemacht hatte. Es
heißt in dem Bericht Gulkewitschs u. a.: „Die führende Rolle Rußlands in der
armenischen Frage ist nun in aller Form unterstrichen und Artikel 16 des Ver-
trages von San Stefano gewissermaßen bestätigt. Dieser Umstand wird sicher-
lich nicht verfehlen, die günstigste Rückwirkung auf das internationale An-
sehen Rußlands zu haben, und seinen Monarchen in den Augen der Christen
des nahen Orients mit einem neuen Glorienschein zu umgeben." Sehr unfreund-
lich lauten die Äußerungen Gulkewitschs über die deutsche Mitwirkung bei
dem Zustandekommen des Abkommens: „Was Deutschland anbetrifft, so ver-
folgte die Verständigung mit uns einen doppelten Zweck; erstlich den, die
Pforte glauben zu machen, daß durch die Einwilligung in diese gemäßigten, für
sie weniger bedrohlichen Reformen Deutschland die türkische Regierung vor
weitgehenderen Reformen bewahrt habe; zweitens den, die Sympathien der Ar-
menier zu gewinnen, an denen ihnen wegen Cilicien, das sie als zu ihrer Ein-
181
Nr. 15 426
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 238 Berlin, den 14. Februar 1914
Der Kaiserliche Geschäftsträger in Pera meldet*:
„Großwesir hat mündlich mich ebenso wie die anderen Bot-
schaften der Großmächte nunmehr um Namhaftmachung von je zwei,
also im ganzen vier Kandidaten für die Stellen als Generalinspekteure
In den beiden östlichen anatolischen Sektoren ersucht. Er hat weder
mir noch, soviel mir bekannt, anderen Mächten Wunsch bezüglich
deren Nationalität geäußert, aber um Beschleunigung gebeten. Nach
früheren gelegentlichen Äußerungen nehme ich an, daß ihm Ange-
hörige kleinerer Staaten vorschweben."
Wir würden Angehörige der Niederlande oder der Schweiz für am
besten geeignet halten. Bitte festzustellen, wie die dortige Regierung
über die Angelegenheit denkt, und ob sie bereits bestimmte Kandidaten
im Auge hat**.
J agow
flußsphäre gehörend ansehen, viel liegt." Wenn so ein russischer Diplomat
dachte, der unmittelbar Zeuge der aufrichtigen Bestrebungen Deutschlands zu
einem Zusammenwirken mit Rußland gewesen war, so konnte freilich von einer
günstigen Rückwirkung des in gemeinsamem deutsch-russischen Zusammenwirken
erzielten armenischen Abkommens auf die Beziehungen beider Länder kaum eine
Rede sein. Allerdings entwickelte der russische Botschafter in Konstantinopel
von Giers seinem deutschen Kollegen bald nach dem Abschluß des armenischen
Abkommens den Gedanken einer harmonischen Zusammenarbeit Deutschlands
und Rußlands bei der Wiedererhebung der Türkei. In gleichem Atem aber
sagte Giers zu Wangenheim: Deutschland sei Rußland als Nachbar in Klein-
asien durchaus nicht willkommen! Bericht Freiherrn von Wangenheims Nr. 102
vom 26. März 1914; Bd. XXXIX, Kap. CCIC, Nr. 15 856. Ober die wirk-
liche Gestaltung der deutsch-russischen Beziehungen in den letzten Monaten
vor Ausbruch des Weltkrieges vgl. Bd. XXXIX.
* Telegramm Nr. 75 vom 12. Februar.
** Am 16. Februar telegraphierte Fürst Lichnowsky zurück: „Hiesige Regierung
hat keine Kandidaten; es ist ihr auch ganz gleichgültig, welcher Nationalität sie
entstammen, solange es sich um Kleinstaat handelt. Mit Niederländern schien
man besonders einverstanden, doch will man uns und Rußland hierin den Vor-
tritt lassen." Am 28. Februar wurde darauf Graf Pourtales durch Erlaß Nr. 186
angewiesen, die russische Stellungnahme zu erkunden. Die deutsche Auffassung
wurde dahin präzisiert: „Unseres Erachtens würde es sich empfehlen, je einen
Holländer, Schweizer, Belgier und einen Norweger oder Schweden namhaft zu
machen." Die russische Regierung brachte dagegen unter der Hand zunächst
den belgischen General Deguise und den Vizegouverneur des Kongostaats
Henry, demnächst noch zwei Holländer, den Chef der Provinzialverwaltung in
Niederländisch-lndien Westenenk und den Generalsekretär im holländischen
Kriegsministerium Doormann in Vorschlag. Türkischerseits bestanden aber Be-
182
Nr. 15 427
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtalös an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 53 St. Petersburg, den 14. Februar 1914
Als ich neulich Herrn Sasonovv meine Freude darüber ausdrückte,
daß es gelungen sei, die Verhandlungen über die armenischen Re-
formen zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen, erwiderte der
Minister, befriedigt sei er nicht ganz; denn er habe in dem letzten
Stadium der Verhandlungen schließlich nur nachgegeben, weil die
Armenier selbst ihn hätten darum bitten lassen. Sie hätten nämlich
befürchtet, daß sie sonst Schwierigkeiten haben würden, bei den
Wahlen ihre Kandidaten für die Kammer durchzubringen.
Aus der Haltung, die Herr Sasonow bei den gedachten Verhand-
lungen besonders in der letzten Zeit eingenommen hat, geht von
neuem der Haß und das Mißtrauen hervor, von dem der Minister
gegen die Türkei und besonders gegen das jungtürkische Regime be-
seelt ist.
Er erklärte mir neulich, er sei durchaus damit einverstanden, daß
die Türkei in ihrem jetzigen Bestände belassen werde, man dürfe die
Türken aber nicht zu sanft anfassen. „On aura toujours la Turquie
qu'on voudra avoir." Wenn man die Türkei zu freundlich behandele,
werde sie immer Mittel finden, sich in allen Fragen dem Willen der
Mächte zu entziehen.
Bei dieser Gelegenheit klagte Herr Sasonow, daß die Mächte sich
nicht schon jetzt zu dem Entschluß aufraffen könnten, der Pforte mit
einer Flortendemonstration zu drohen für den Fall, daß sie sich dem
Willen der Mächte in der Inselfrage* nicht fügen wolle. Das Verhalten
der Mächte sei „une degradation de TEurope". Ich bemerkte, wenn
von einer solchen „degradation" überhaupt die Rede sein könne, so
scheine mir dieselbe doch wohl mit dem Augenblicke begonnen zu
haben, als Europa der berühmten Formel des Status quo untreu ge-
worden sei. Herr Sasonow erwiderte, die Status quo-Formel habe im
denken gegen die „von Frankreich abhängigen Belgier", insbesondere gegen
frühere Beamte des Kongostaats. Die deutsche Regierung verwandte sich nun
für die Wahl eines Schweizers, von der aber wieder Sasonow nichts wissen
wollte. Schließlich einigte man sich unter den Mächten, der Pforte fünf Kan-
didaten, neben den beiden Holländern und Belgiern noch einen Norweger,
Major Hoff, zu präsentieren. Die Wahl der Pforte fiel am 15. April auf den
Holländer Westenenk und den Norweger Hoff. Vgl. auch die folgenden
Schriftstücke.
• Vgl. dazu Bd. XXXVI, Kap. CCLXXXI.
183
gegebenen Moment ihre Schuldigkeit getan. Diese Formel, deren Autor
er und Herr Poincare gewesen seien, habe nur beim Ausbruch des
Balkankrieges die Mächte unter einem Losungsworte vereinigen und
eventuell verhindern sollen, daß im Falle eines Sieges der Türken
die Türkei sich auf Kosten der christlichen Balkanstaaten vergrößere.
F. P o u r t a 1 e s
Nr. 15 428
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt*
Telegramm. Entzifferung
Nr. 100 Konstantinopel, den 27. Februar 1914
Minister des Innern Halil Bey suchte mich soeben auf, um mir zu
sagen, daß nach amtlichen Meldungen aus Armenien russische Agenten
dort eine intensive Tätigkeit entfalten, um die türkische Bevölkerung
gegen die Reformen aufzuhetzen. Die Bezeichnung der Generalinspek-
teure verzögere sich offenbar, weil Rußland ein Designierungsrecht für
sich in Anspruch nehme und über die Regierungen gewisser Klein-
staaten mit Persönlichkeiten verhandele, die Garantien böten, daß sie
als Generalinspekteure in spezifisch russischem Sinne arbeiten würden.
Die Türkei wolle sich nicht dirigieren lassen. Sie verlangt für die
beiden wichtigsten Posten tätige und unparteiische Männer, die auch
in ihren Ländern sich des allgemeinen Vertrauens erfreuten. Gelängen
Rußland seine dunkeln Pläne, so werde es bald in Armenien zu einer
Katastrophe kommen. Die Pforte nehme an, daß die ihr befreundeten
Mächte die Wichtigkeit der Sache bereits erkannt hätten und ent-
schlossen seien, Rußland nicht die ausschließliche Designierung zu
überlassen.
Auch Markgraf Pallavicini und Marquis Garroni besorgen russische
Intrigen und sind mit mir der Meinung, daß es für die Dreibund-
mächte schwierig sein würde, etwa von Rußland vorgeschlagene und
von Frankreich und England akzeptierte Kandidaten** zu refüsieren.
Uns erscheint als die praktischste Lösung, wenn mit den Verhand-
lungen eine Botschafterreunion betraut würde, die nach Ausscheidung
* Das Telegramm Freiherrn von Wangenheims wurde durch Zirkularerlaß vom
28. Februar nach Wien, Rom, London, Paris und Petersburg mit dem Bemerken
mitgeteilt, daß die von dem Botschafter am Schlüsse des Telegramms empfohlene
Lösung auch dem Auswärtigen Amt zweckmäßig erscheine.
** Tatsächlich erhielten der französische und der englische Botschafter in Kon-
stantinopel die Weisung, sich für die russischen Kandidaten einzusetzen. Ge-
heimtelegramm Iswolskys an von Giers vom 23. März. Der Diplomatische
Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, IV, 77.
184
von zwei der fünf in Betracht kommenden Kleinstaaten durch das
Los sich an die Vertreter der Kleinstaaten mit der Bitte um Desig-
nierung wenden würden.
Wangenheim
Nr. 15 429
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 114 London, den 3. März 1914
Bei meinem heutigen Besuche bei Sir Edward Qrey brachte ich
auch die Angelegenheit der armenischen Generalinspekteure zur Sprache
und meinte, daß auf türkischer Seite die Befürchtung bestände, daß
Rußland besteht sei, durch die Ernennung russisch gesinnter An-
wärter für diese Posten vermehrten Einfluß in Ostanatolien zu ge-
winnen. Es würde sich daher empfehlen, eine Botschaftervereinigung
mit der Aufgabe zu betrauen, sich an die in Betracht kommenden fünf
Kleinstaaten mit der Bitte zu wenden, geeignete Persönlichkeiten nam-
haft zu machen. Sir Edward entgegnete, daß er sich über diese Frage
näher unterrichten müsse, da er bisher der Meinung gewesen sei, daß
man sich auf Holland als geeigneten Kleinstaat geeinigt habe und er
kaum annehmen könne, daß holländische Beamte vorzugsweise in
russischem Sinne tätig sein würden. Im übrigen sei er vollkommen
damit einverstanden, daß eine Botschafterversammlung nötigenfalls mit
dieser Aufgabe betraut werde, nur möchte er nicht die hiesige, sondern
die in Konstantinopel als hierfür geeignet betrachten.
Lichnowsky
Nr. 15 430
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 50 London, den 14. März 1914
Im Anschluß an Bericht Nr. 114*.
Sir E. Grey sagte mir gestern abend, daß, falls, wie er annehme,
in der Angelegenheit der armenischen Generalinspekteure die Wahl
auf Holland falle, es ihm am geeignetsten erschiene, die dortigen Ge-
sandten mit der Aufgabe zu betrauen, mit der holländischen Regie-
rung in Verbindung zu treten. Unter diesen Umständen schien ihm
• Siehe Nr. 15 429.
185
die Befassung der Konstantinopeler Botschafter mit dieser Frage
überflüssig zu sein.
Zu meinem russischen Kollegen hat der Minister sich ähnlich aus-
gesprochen.
Lichno wsky
Nr. 15 431
Der Botschafter in Petersburg Graf von PourtaUs an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Entzifferung
Nr. 91 St. Petersburg, den 18. März 1914
Antwort auf Erlaß Nr. 225 *.
Sasonow ist mit dem italienischen Vorschlag, die Missionen in
Konstantinopel mit den Verhandlungen über die der Türkei bezüglich
der Generalinspekteure in Armenien zu machenden Vorschläge zu
betrauen, nicht einverstanden. Er findet, daß die Kabinette sich zu-
nächst unter sich über die der Pforte vorzulegende Kandidatenliste
verständigen sollten, erst in letzter Instanz, das heißt, wenn es sich darum
handeln werde, die Kandidaten der Pforte namhaft zu machen, sollten
nach seiner Ansicht die Botschafter in Konstanünopel mit der Ange-
legenheit befaßt werden.
Der Minister beruft sich auf sein Zirkular an die Mächte, in
welchem er den modus procedendi, wie er sich ihn denke, vorgeschlagen
hat, und gegen welchen von keiner Seite Einwendungen erhoben worden
sind. Diesem Vorschlag entsprechend wird Sasonow demnächst den
Kabinetten wahrscheinlich fünf Kandidaten, die ihm geeignet erscheinen,
nämlich zwei Belgier und drei Holländer vorschlagen.
Pourtales
Nr. 15 432
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 83 Berlin, den 22. März 1914
Vertraulich
Rußland hat zwei Belgier und zwei Holländer als Kandidaten
für Armenien vorgeschlagen und wünscht Übereinstimmung der Mächte,
bevor Kandidaten der Pforte präsentiert werden.
• Durch Erlaß Nr. 225 vom 12. März war der Bericht aus London Nr. 114
(siehe Nr. 15 429) nach Petersburg mitgeteilt worden.
186
Es bittet uns um schleunige Zustimmung*, da angeblich Pforte
auf schnelle Entscheidung dränge. Ist letzteres richtig?
Jagow
Nr. 15 433
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 132 Konstantinopel, den 24. März 1914
Antwort auf Telegramm Nr. 83**.
Großwesir bestreitet energisch, irgend jemand um beschleunigte
Nominierung der Kandidaten gebeten zu haben. Dazu habe er schon
deshalb keine Veranlassung gehabt, weil in Armenien vollkommene
Ruhe herrsche. Wenn er gelegentlich einzelne Botschafter an die Sache
erinnert habe, so sei dies nur geschehen, um russischen Intrigen vor-
zubeugen. Trotzdem sei es Rußland gelungen, sich der Führung in der
Sache zu bemächtigen. Rußland habe in enger Fühlung mit Nubar***
die Kandidaten ausgewählt und wolle sie nunmehr den Mächten und
der Türkei oktroyieren. Das russische Vorgehen sei hier bekannt. Bei
den Türken in Armenien bestände schon jetzt das größte Mißtrauen
gegen die russischen armenischen Kandidaturen. Besonders verstimmt
sei er wegen der Nominierung von Belgiern, nachdem er schon vor
Monaten zum Ausdruck gebracht habe, daß er keinenfalls Belgier und
am allerwenigsten frühere Beamte des Kongostaates wolle. Die Auf-
stellung der belgischen Kandidaturen beschränke daher die Pforte in
ihrer freien Wahl und zwinge sie geradezu die Holländer zu wählen.
Ob es nicht möglich sei, zwei oder einen Schweizer vorzuschlagen?
Er werde sich dann für einen Holländer und einen Schweizer ent-
scheiden.
Rußland hat sich über den Wunsch des Dreibunds, daß die Frage
als eine alle Mächte gleichmäßig interessierende Angelegenheit von
der hiesigen Botschafterkonferenz behandelt werde, ebenso hinweg-
gesetzt wie über die Tatsache, daß das armenische Reformprogramm
ein Produkt deutsch-russischer Kooperation ist. Unterwerfen sich die
Mächte jetzt der russischen Initiative, so erkennen sie damit auch für
spätere Zeit an, daß Rußland in den armenischen Angelegenheiten die
Führung zusteht. Da in unserer Arbeitszone zahlreiche Armenier
* Es war am 20. März durch den russischen Botschafter Sverwejew geschehen.
•* Siehe Nr. 15 432.
•** Vgl. über ihn Nr. 15 286, ferner den Diplomatischen Schriftwechsel Iswols-
kis 1911 — 1914, ed. Fr. Stieve, IV, 11, 49, 61 f., aus dem die enge Fühlung
Nubar Paschas mit Rußland klar hervorgeht.
187
wohnen, können wir beanspruchen, daß nächst der russischen auch
unsere Stimme gehört wird. Ich möchte daher anheimstellen, für den
Ersatz der Kandidatur Henry durch eine schweizerische Kandidatur
einzutreten *.
Wangenheim
Nr. 15 434
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 152 Konstantinopel, den 6. April 1914
Halil Bey, Präsident des Staatsrats und gegenwärtig das einfluß-
reichste Mitglied des Kabinetts in auswärtigen Angelegenheiten, sagte
mir nach einem Diner bei Enver Pascha, der Dreibund habe es nicht
zu verhindern gewußt, daß für die Generalinspektion in Ostanatolien
nur russisch-armenische Kandidaten vorgeschlagen würden. Ich be-
gegnete diesem Vorwurf mit dem Hinweis auf den hinzugekommenen
Norweger. Kurz darauf sagte Halil meinem österreichischen Kollegen,
die Pforte sei durch die neuesten Vorgänge über zwei Dinge belehrt
worden: 1. daß die Tripelentente und namentlich Rußland stärker
und willenskräftiger sei als der Dreibund, und 2. daß die Türkei von
dem Dreibund nicht gegen Rußland geschützt werden würde. Daraus
ergebe sich für die Türkei die Notwendigkeit, mit Rußland und
seinen Verbündeten [sich] zu verständigen.
Markgraf Pallavicini hält ein russisch-türkisches Geheimabkommen
ebenso für bevorstehend wie den Abfall Rumäniens**. Ich schloß aus
* In der Tat hat die deutsche Regierung sich ernstlich bemüht, einer schweize-
rischen Kandidatur den Boden zu ebnen, da aber Sasonow einerseits an seinem
Widerstreben gegen die Nominierung eines Schweizer Kandidaten festhielt,
andererseits doch ein gewisses Entgegenkommen bezeigte, indem er durch Ein-
beziehung eines norwegischen Kandidaten der Pforte einen etwas größeren
Spielraum für die Auswahl einräumte, so insistierte die deutsche Regierung nicht
weiter, sondern akzeptierte die im wesentlichen doch von Sasonow ausgegangene,
nur infolge der deutschen Bemühungen etwas erweiterte Liste. Die deutsche
Nachgiebigkeit entsprang vor allem dem Wunsch, endlich die volle Einigkeit
der Mächte in der dornigen armenischen Frage herzustellen, hinterließ jedoch
bei den türkischen Staatsmännern einen Stachel, der sich in dem mehrfach laut-
werdenden Vorwurf kundgab, daß der Dreibund es nicht vermocht habe, die
Türkei gegen Rußland zu schützen. Siehe auch das folgende Schriftstück.
** Wesentlich skeptischer urteilte in dieser Beziehung der deutsche Botschafter.
In einem Bericht vom 26. März 1914 (siehe Bd. XXXIX, Kap. CCIC, Nr.
15 856) hieß es: ,,Daß die Bemühungen der russischen Botschaft [für die Bes-
188
den Äußerungen Halil Beys zunächst nur auf Bemühungen unserer
Gegner, die deutsche Zurückhaltung in der Inspektionsfrage in gleicher
Weise gegen uns auszunutzen wie unsere Griechenfreundlichkeit.
Wangenheim
serung der russisch-türkischen Beziehungen] in absehbarer Zeit zu einem prak-
tischen Ziele führen werden, glaube ich nicht. Dazu ist das türkische Mißtrauen
gegen Rußland viel zu tief eingewurzelt. Sollte Rußland Geduld haben, so
könnte allerdings im Laufe der Jahre ein Wechsel eintreten, dem wir von un-
serem Standpunkte aus nur mit Sorge entgegensehen könnten. . . . Ein so ner-
vöses und in sich selbst so wenig gefestigtes Land wie Rußland wird aber kaum
imstande sein, eine zielbewußte Politik der Selbstverleugnung jahrelang durch-
zuhalten. Es wird vielmehr zu früh anfangen, die Früchte seiner Bemühungen
um die Türkei einheimsen zu wollen." Betreffs des Abfalls Rumäniens vgl
Bd. XXXIX, Kap. CCXCVIII.
189
Kapitel CCXC
Die Liman Sanders-Affäre
Januar 1913 bis Juni 1914
Nr. 15 435
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 3 Konstantinopel, den 2. Januar 1913
Noradunghian bat streng vertraulich, ihm so schnell wie möglich
Kenntnis von den Bedingungen zu verschaffen, unter denen der General
Eydoux* engagiert sei, und von der Stellung, welche der General dienst-
* General Eydoux stand seit Anfang Februar 1911 an der Spitze der französi-
schen Militärmission in Athen. Wie Freiherr von Wangenheim am 5. Januar
(Nr. 9) dem obigen Telegramm ergänzend hinzufügte, wünschte die Pforte Aus-
kunft über die Kompetenzen des Generals Eydoux, „weil sie erwägt, deutschen
General als Oberkommandierenden im Frieden zu erbitten, hauptsächlich um die
Armee außerhalb der Politik zu stellen". Über die Beweggründe, aus denen der
türkische Wunsch entsprang, im kommenden Frieden einen Deutschen mit der
Reorganisation des türkischen Heerwesens zu betrauen, heißt es in einem
Berichte Freiherrn von Wangenheims vom 21. Januar 1913 (Nr. 24): „Glück-
licherweise bricht sich neuerdings überall unter den Türken selbst die Über-
zeugung Bahn, daß die Türkei sich nicht aus eigenen Mitteln zu erheben und
zu reorganisieren vermag. In allen Verwaltungsbranchen, ebenso wie in der
Armee und der Marine erschallt jetzt der Ruf nach fremden Reorganisatoren
und zwar nicht mehr nach solchen, die den türkischen Stellen als Ratgeber
zur Seite stehen, sondern solchen, die mit den weitgehendsten Befugnissen
ausgestattet an die Spitze der einzelnen Ressorts gestellt werden sollen. Einer
der einsichtsvollsten Leute der heutigen Türkei, der jetzige Scheich-ul-Islam
Dschemaleddin Bey, ein Alttürke besten Gepräges, der früher ein ausgesprochener
Fremdenhasser war, hat sich seinen Freunden gegenüber kürzlich bereit erklärt,
das Großwesirat unter der Bedingung zu übernehmen, daß Verwaltung und Heer
unter die Leitung von Ausländern gestellt werden. Er selbst wolle ,mit dem
Turban auf dem Kopfe* den Muselmanen gegenüber die Ingerenz von Christen
in die inneren Angelegenheiten des Reiches vertreten. Ähnliche Anschauungen
herrschen gegenwärtig auch in den Kreisen der Unionisten, die bald wieder zur
Herrschaft gelangen werden. Dem Bedürfnis nach fremder Hilfe bei dem Werke
der Aufrichtung könnte nun vielleicht der Dreibund entgegenkommen. ... Im
großen ganzen ist die türkische Stimmung heute dem Dreibund günstig, wenn
auch der auf dem Aussterbeetat stehende Kiamil noch weiter mit England
kokettieren möchte. Frankreich und Rußland haben wohl für lange Zeit das
13 Die Große Politik. 38. Bd. 193
lieh der griechischen Armee gegenüber einnehme. Anheimstelle, falls
keine Bedenken, Graf von Quadt zu direkter Mitteilung gewünschter
Information an mich zu veranlassen.
Wangenheim
Vertrauen der Türken verloren. An erster Stelle in den türkischen Sympathien
steht heute ohne Zweifel Deutschland, das einzige Land, welches bei der Ab-
wickelung mit den Balkanstaaten eine Initiative zugunsten des türkischen Stand-
punktes ergriffen hat. Man erwartet daher auch von uns, daß wir der Türkei
auf dem wichtigsten Gebiete des Reformwerkes, bei der Reorganisation der
Armee, zur Seite stehen. Man hofft, daß Seine Majestät der Kaiser sich bereit
finden lassen werde, der Türkei einen besonders befähigten General zur Ver-
fügung zu stellen, damit dieser, von jeder Verantwortlichkeit gegenüber dem
Ministerium entbunden, als Oberkommandierender an die Spitze der Armee trete
und dieselbe mit Hilfe von deutschen Offizieren von Grund aus reorganisiere
und namentlich auch das Offizierkorps den politischen Einflüssen entziehe. In
welchen Branchen Österreicher und Italiener verwendet werden sollen, steht
noch nicht fest. Die Flotte möchte man am liebsten auch einem deutschen
Admiral unterstellen. Hier könnte es aber zu einem Konflikte mit England
kommen, der absolut zu vermeiden wäre." Die später mehrfach auftauchende,
auch von Liman von Sanders (Fünf Jahre Türkei, S. 12, 25) übernommene
Version, Wangenheim habe selbst der Pforte den Gedanken souffliert, die
türkische Armee mittels einer deutschen Militärmission nach dem Muster der
Mission Eydoux' zu reorganisieren, findet in den deutschen Akten keine
Grundlage. Vgl. dazu den Bericht des k. und k. Militärattaches in Kon-
stantinopel Pomiankowski vom 28. Januar 1913 (Feldmarschall Conrad, Aus
meiner Dienstzeit, III, 40): „Wie ich nun aus sicherer türkischer Quelle
erfahre, stammt dieser Reorganisationsplan nicht von Baron Wangenheim,
sondern vom ehemaligen türkischen Botschafter in Paris Münir Pascha. Der
letztere hat seine Ansichten in einem Memoire niedergelegt und dasselbe
sowohl seinen Freunden als auch Mahmud Schewket Pascha zur sofortigen
Annahme empfohlen. Wie mir Münir mitteilt, haben sich sowohl Enver
als auch Talaat Bey mit dem Plane einverstanden erklärt; auch der Minister-
rat hat denselben im Prinzip angenommen, will jedoch dessen Ausführung
erst nach dem Friedensschluß beginnen." Ausdrücklich bestätigt auch Dschemal
Pascha in seinen Memoiren (Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes,
S. 67 ff.), daß die Initiative zu der Berufung der deutschen Militärmission von
türkischer Seite selbst, und zwar von Mahmud Schewket Pascha, nicht da-
gegen von Enver Bey, der ebenfalls oft als der Inspirator des Plans hinge-
stellt worden ist, ausgegangen sei. In aller Ausführlichkeit gibt Dschemal
Pascha die Gründe wieder, die Mahmud Schewket in einem Gespräch mit
ihm, Dschemal, für die Berufung einer deutschen Militärmission nach dem
Muster der französischen in Griechenland ins Feld geführt habe: „Was
unsere Armee betrifft, so glaube ich, daß wir uns den Methoden der Deut-
schen nicht mehr verschließen können. Seit mehr als dreißig Jahren haben wir
in unserer Armee deutsche Instruktoren, unser Offizierkorps ist durchaus nach
den deutschen militärischen Methoden erzogen worden, unsere Armee ist
mit dem Geiste deutscher Erziehung und deutscher Instruktion auf das engste
vertraut. Dies jetzt zu ändern, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich habe
daher die Absicht, eine deutsche Militärmission großen Stils kommen zu lassen
und selbst, falls dies notwendig sein sollte, das Kommando eines türkischen
Armeekorps einem deutschen General anzuvertrauen, an die Spitze einer jeden
Einheit desselben deutsche Stabs- und Subalternoffiziere zu stellen und auf
194
Nr. 15 436
Der Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandter von Treutier,
z.Z. in Homburg v.d.H., an das Auswärtige Amt
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 7 Homburg, den 2. April 1913
Vertraulich
Der Großwesir hat Seine Majestät durch Herrn von Strempel*
bitten lassen, der Türkei gleich nach dem Friedensschluß einen geeig-
neten preußischen Offizier zur Verfügung zu stellen, der die Neu-
befestigung von Konstantinopel ins Werk zu setzen hätte. Seine Ma-
jestät haben mir befohlen, Euere Exzellenz davon in Kenntnis zu setzen,
mit dem Hinzufügen, daß allerhöchstderselbe geneigt ist, diesen Wunsch
zu erfüllen. Es würde dadurch am besten dokumentiert, wie die
Türken über das ihnen von den deutschen Militärs Geleistete dächten;
auch würde dieser Offizier in der Lage sein, bedeutende Bestellungen
nach Deutschland zu leiten. Außerdem aber würde ganz Europa ein
großer Dienst erwiesen, wenn die beabsichtigte Befestigung Kon-
stantinopels so gut wie denkbar ausgeführt werde. Da die Entsendung
des Offiziers erst für nach dem Frieden in Aussicht genommen
ist, so erscheint der Fall an sich nicht dringend. Seine Majestät haben
aber bereits Befehl gegeben, daß der morgen hier eintreffende General
Mudra** geeignete Persönlichkeiten vorschlagen soll. Ich habe die be-
teiligten Herren gebeten, die Angelegenheit sehr diskret zu behandeln,
und werde morgen den gleichen Schritt bei General Mudra tun.
Treutier
diese Art ein Musterarmeekorps zu bilden. In ihm hätten die Stabs- und
Subalternoffiziere der anderen Korps eine bestimmte Zeit lang Dienst zu tun,
um ihre Ausbildung zu erweitern und zu vervollkommnen. Auch will ich mit
dieser Mission viele Spezialisten kommen lassen, die die Aufgabe hätten, die
verschiedenen Abteilungen des Kriegsministeriums, den Generalstab, die Mili-
tärschulen und Militärfabriken zu reorganisieren. Ich glaube übrigens, daß wir
für lange Zeit keine Veranlassung zu einem Kriege haben werden. Ich werde
daher durch möglichste Verringerung der Kaders der Armee und Wieder-
zurückführung auf den Friedensstand eine Ersparnis erzielen, die es mir er-
lauben wird, die Kosten für die Organisationsmission zu decken. Ich werde
dem türkischen Reiche eine Armee geben, die zwar klein, aber gut organisiert
und wohl ausgebildet sein wird. Im Kriegsfalle wird es nicht schwer sein,
diese Armee durch Erweiterung der Kaders auf die größtmöglichste Stärke zu
bringen. Ich bin somit im Begriffe, die Deutschen zu fragen, unter welchen
Bedingungen sie bereit wären, uns eine solche Mission zu schicken, und halte
es für angebracht, ihnen selbst die Wahl der Bedingungen zu überlassen."
* Militärattache in Konstantinopel.
*• General der Infanterie Mudra war als Chef des Ingenieur- und Pionier-Korps,
sowie als Generalinspekteur der Festungen die gegebene Persönlichkeit, um
geeignete Vorschläge im Hinblick auf die Befestigung Konstantinopels zu machen.
13* 195
Nr. 15 437
Der Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandter von Treutier
z, Z. in Homburg v. d. H., an das Auswärtige Amt
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 13 Homburg v. d. H., den 4. April 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 7*.
Seine Majestät erwartet schon jetzt eine prinzipielle Äußerung, ob
Euere Exzellenz mit der Entsendung eines Offiziers für die Befestigung
Konstantinopels nach Friedensschluß einverstanden sind.
Ich darf um hochgeneigte Weisung bitten.
Treutier
Nr. 15 438
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an
den Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandten von Treutier,
z. Z. in Homburg v. d. H.
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 7 Berlin, den 5. April 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 13**.
Gegen Entsendung eines Offiziers nach Friedensschluß ist dies-
seits nichts einzuwenden.
Jagow
Nr. 15 439
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 125 Pera, den 26. April 1913
Die neue Ära jungtürkischer Herrschaft nach dem Sturze Kiamil
Paschas *** hat zunächst mit dem Mißtrauen sämtlicher Großmächte
zu kämpfen gehabt. Überall in Europa bestanden nicht unbegründete
• Siehe Nr. 15 436.
*• Siehe Nr. 15 437.
*** Der Sturz Großwesir Kiamil Paschas war am 23. Januar 1913 erfolgt; sein
Nachfolger Mahmud Schewket blieb am Ruder, bis er am 11. Juni 1913 ermordet
wurde.
196
Zweifel, ob Mahmud Schewket den Schwierigkeiten der inneren und
äußeren Lage der Türkei auch nur einigermaßen gewachsen sein würde.
Mein russischer Kollege brachte die damalige Stimmung mit den Worten
zum Ausdruck: „Mahmud Schewket wird alles in Stücke schlagen.
Seine Regierung kann höchstens acht Tage dauern." Seitdem sind
drei Monate vergangen, und jeder unbefangene Beobachter wird zu-
geben müssen, daß die allgemeine Situation der Türkei sich in dieser
Zeit nicht verschlechtert, sondern wesentlich gebessert hat. Das gilt
zunächst von der militärischen Lage. Jännina, Adrianopel und Skutari
haben zwar inzwischen kapituliert. Ihr zäher Widerstand spricht aber
mindestens ebensosehr für die Verteidiger als für die an Zahl weit über-
legenen Belagerer1. Abgesehen von der Eroberung der genannten
Plätze haben die Alliierten seit Monaten nicht einen einzigen nennens-
werten Erfolg auf ihr Konto zu schreiben vermocht. In Tschataldja
und Bulair halten die Türken Stand, und ihre Flotte brauchte nur die
Kommandanten zu wechseln, um den Kampf gegen die griechische
Flotte mit Aussicht auf Sieg wiederaufnehmen zu können. Niemand,
der die hier gamisonierenden jungen Truppen bei der Arbeit sieht, wird
den Eindruck bekommen, daß die Türkei ein militärisch erschöpftes
Land sei2. Auch die finanzielle Lage der Türkei ist heute eine andere
als vor drei Monaten. Damals drohte die Pforte in ihrer Verzweiflung
mit Gewaltstreichen auf die verpfändeten Einnahmen. Heute hört man
überhaupt nicht mehr über Geldbedürfnisse sprechen. Nachdem der
Ring, welchen Frankreich zum Zwecke der finanziellen Isolierung der
Türkei um diese gezogen hatte, gesprengt worden ist, fließen der
Pforte unter der Hand von überall her genügende Mittel zu, um den
Krieg fortsetzen zu können. Die Schuldenlast des Landes vermehrt sich
dabei. Die Geldgeber müssen aber doch wohl heute ein größeres;
Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der späteren Türkei setzen als
früher unter Kiamil. Auch die innere Lage erscheint heute weniger
beunruhigend wie im Anfang dieses Jahres. Wenn sich auch in Klein-
asien hie und da separatistische Bewegungen geltend machen, so sind
doch nirgends die von Frankreich und Rußland angekündigten größeren
Ruhestörungen eingetreten, und ebensowenig sind die auf den Sturz des
Kabinetts gerichteten Bestrebungen in der Hauptstadt von irgendeinem
Erfolge begleitet gewesen. Alle diese Momente haben zusammen-
gewirkt, um das schwer erschütterte Ansehen der Türkei in Europa
einigermaßen zu rehabilitieren und wieder ein gewisses Interesse für
die Türkei zu erregen, wie dies ja auch bei den Londoner Verhand-
lungen* mehr und mehr zum Ausdruck gekommen ist.
Den geschilderten Umschwung zum Besseren hat die Türkei haupt-
sächlich Mahmud Schewket zu danken. In einem früheren Berichte
durfte ich bereits hervorheben, in welch geschickter Weise der Groß-
* Siehe dazu Bd. XXXIV.
197
wesir die türkische Friedensstimmung zu fördern verstanden hat, ohne
es dabei mit den kriegslustigen Offizieren in der Front zu verderben.
Ebenso erfolgreich ist sein Bestreben gewesen, sich mit den hiesigen
Vertretern der Großmächte auf einen guten Fuß zu stellen. Augen-
scheinlich wird ihm heute von allen Kabinetten ein gewisses Wohl-
wollen entgegengebracht, wenn sich dasselbe bisher auch nur auf seine
Person erstreckt und noch nicht auf die Partei, welcher er angehört*.
Manche meiner Kollegen erklären Mahmud Schewket bereits für den
ersten wirklichen Staatsmann der Türkei im europäischen Sinne. Zwei-
fellos ist, daß er die Grenzen der ihm gegebenen Möglichkeiten mit
kühlem Verstände zu erkunden sucht, dann aber innerhalb dieser
Grenzen seine Ziele mit rücksichtsloser Energie, ja Kühnheit verfolgt.
Bleiben die Jungtürken am Ruder, so wird die türkische Politik
bis auf weiteres diejenige Mahmud Schewkets sein. Wie sich derselbe
die weitere innere und äußere Entwickelung der Türkei denkt, hat er
mir kürzlich in einem längeren Vortrag wie folgt auseinandergesetzt:
„Bisher haben die türkischen Politiker immer davon geredet, daß
die Türkei sich dieser oder jener Mächtegruppe anschließen müsse.
Die Leute vergessen, daß die Türkei in einer Weise verelendet ist,
welche die Bundesgenossenschaft zu einer Last für ihre Alliierten
machen würde. Wir brauchen vorläufig keine Allianzen, sondern das
Gegenteil von solchen, das heißt, daß wir von allen Großmächten für
mindestens zehn Jahre vollkommen in Ruhe gelassen werden, damit
wir uns reorganisieren können. Ich werde daher bemüht sein, die
Reibungsflächen, die zwischen der Türkei und anderen Mächten be-
stehen, möglichst zu beseitigen. Mit Rußland und England haben
wir eine Reihe von Grenzregulierungen zu erledigen. Dabei handelt
es sich meistens um Punkte, die für uns an und für sich bedeutungslos,
die aber von der Pforte zu großen Fragen aufgebauscht worden sind.
Ganze Archive sind durch diese Verhandlungen entstanden. Ich werde
jetzt die Papiere einfach verbrennen lassen. Den berechtigten Wünschen
Englands bezüglich des Golfs, den russischen bezüglich Armeniens
und den französischen wegen Syriens werde ich nachzukommen suchen.
Im Geheimen werde ich mich aber stets von dem Gedanken leiten
lassen, daß die Türkei ihre Resurrektion nur durchzuführen vermag,
wenn sie auf Deutschland und England zählen kann 3. Daß sich diese
beiden Länder bisher bekämpft haben, ist die Hauptursache unseres
Unglücks geworden. Ich muß dafür sorgen, daß die Türkei der Boden
wird, auf dem die deutsch-englische Verständigung zusammenkommt.
Schon jetzt widerstehe ich England überall da, wo es in deutsche In-
teressen einzugreifen versucht, und weise auf die Notwendigkeit einer
Auseinandersetzung mit Deutschland hin.
Bezüglich der inneren Politik stehe ich vor schwierigen Problemen.
* Mahmud Schewket war einer der Führer der Partei „Union et Progres".
198
Es hat sich herausgestellt, daß die heutige Verfassung durchaus nicht
den Bedürfnissen des Landes und dem intellektuellen Niveau der Be-
völkerung entspricht4. Die Stellung des Sultans muß erhöht, die Be-
deutung der Kammer herabgesetzt werden5. Mit dem jetzigen System
läßt sich überhaupt nicht regieren. Meine Absicht ist daher, eine
konstituierende Kammer einzuberufen, die sich ausschließlich mit der
Verfassungsrevision beschäftigen wird. Diese Arbeit wird sie mehrere
Jahre in Anspruch nehmen. Inzwischen gewinne ich die Zeit, um
unabhängig von der Kammer die wichtigsten administrativen Reformen
durchzuführen. Durch die bitteren Erfahrungen der letzten Jahre bin
ich ein Anhänger der dezentralistischen Regierungsmethode geworden 6.
Es war falsch, die Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten in
der Türkei zuerst gewaltsam zu Ottomanen machen und sie danach
erst zufriedenstellen zu wollen. Der umgekehrte Weg ist der richtige.
Das jetzt erlassene Wilajetsgesetz läßt bereits den Weg erkennen,
den ich mir vorgezeichnet habe. Die Provinzen sollen sich im wesent-
lichen selbst regieren, später auch die Gemeinden 7. Gesetze allein
werden freilich nicht genügen. Es kommt darauf an, die Männer zu
finden, welche die Gesetze richtig anwenden8. An solchen Persön-
lichkeiten fehlt es bei uns so gut wie gänzlich. Wir verfügen über
keinen geschulten und integren Beamtenstand. Hier muß das Ausland
helfen. Ich werde mich daher an die verschiedenen Kabinette mit
der Bitte um Überlassung von Reformern wenden. Für die Reorgani-
sation der Armee rechne ich bestimmt auf Deutschland. Dies ist der
wichtigste Punkt meines Programms. Die Armee muß von Grund aus
reformiert, der politische Geist dem Offizierskorps ausgetrieben werden.
Dazu wird die Tätigkeit von Instruktionsoffizieren, wie sie jetzt hier und
da als bloße Ratgeber in unsere Organisation eingeschoben sind, nicht
genügen. Auch für die Reform des Unterrichtswesens rechne ich
auf die Unterstützung der deutschen Regierung. Italien werde ich um
Gendarmerieoffiziere für Syrien bitten, Frankreich um Reorganisatoren
für die Finanzen und für das Ressort der Posten und Telegraphen.
Auf Österreichs Hilfe möchte ich am liebsten verzichten. Dagegen
brauche ich Engländer bei den einzelnen Verwaltungszweigen in den
ost- und nordanatolischen Provinzen. Die englische Regierung hat
bereits im Prinzip sieben Regimentskommandeure für die Gendarmerie
und je zwei Beamte als Justizreformer und für das Ressort der öffent-
lichen Arbeiten in Armenien bewilligt9*. Auch die Flotte wird weiter
• Näheres darüber in Kap. CCLXXXIX. Nach einem Telegramm Freiherrn von
Wangenheims vom 17. Mai (siehe daselbst Nr. 15 303) gedachte Mahmud
Schewket auch in West- und Südanatolien englische Reformer anzustellen. Dem
Einwand des Botschafters, daß Deutschland, das dort durch die Bagdadbahn
interessiert sei, die Anwesenheit englischer Beamte nicht angenehm empfinden
könne, suchte Mahmud Schewket mit dem Hinweis zu begegnen: „Uns sei die
Reform der Armee unter der fast diktatorischen Oberleitung eines deutschen
199
von England reformiert werden. Die Schiffe werden auf Grund eines
Vorschlages des Admirals Limpus inaktive englische Offiziere als Kom-
mandanten erhalten 10."
England wird von Mahmud Schewket etwas reichlich u bedacht und
wird, wenn die Ideen des Großwesirs sich realisieren sollten, einen sehr
weitgehenden Einfluß in der Türkei auszuüben vermögen. Da derselbe
sich aber in der Hauptsache auf Armenien erstreckt und wohl oder
übel gegen Rußland sich entfalten muß, so können wir uns wohl damit
abfinden 12, um so mehr, als wir den entscheidenden Einfluß in der Armee
erhalten sollen13. Die Macht, welche die Armee kon-
trolliert, wird in der Türkei immer die stärkste sein.
Es wird keiner deutschfeindlichen Regierung möglich sein, sich am
Ruder zu halten, wenn die Armee von uns kontrolliert ist. Diese
Erwägung mag auch Mahmud Schewket vorschweben. Er scheint damit
zu rechnen, daß die von uns beeinflußte Armee zu einer Stärke der
jungtürkischen Herrschaft14 wird. Auch die Betrauung Deutschlands
mit der Reform des Unterrichtswesens eröffnet uns vorläufig noch gar
nicht absehbare Möglichkeiten, das türkische Volk mit deutschem Geiste
zu durchdringen und mittels der türkischen Staatsmaschine Aufgaben
zu erfüllen, für welche wir bisher unsere Schulen in der Türkei mit
Reichsmitteln haben ausstatten müssen.
Im großen ganzen scheint es mir daher im deutschen Interesse
zu liegen, daß Mahmud Schewket die Zügel der Regierung möglichst
lange in seiner Hand behält und sein Programm zur Ausführung bringt.
Der Großwesir spricht so, als ob er die Stellung des jungtürkischen
Kabinetts für lange Zeit hinaus als gesichert ansähe. Wiederholt er-
klärte er mir, daß seine Partei nicht noch einmal den Fehler begehen
werde, sich durch Putsche und Straßendemonstrationen beiseiteschieben
zu lassen. Auch ich sehe augenblicklich nirgends eine Gefahr für
Mahmud Schewket. Gegen den Dolch eines Verschwörers ist er natür-
lich nicht gesichert. Seine politischen Gegner, die Ententisten, dürften
vorläufig ausgespielt haben, trotz aller englischen Intrigen. Der An-
hang Kiamils rekrutierte sich hauptsächlich aus den europäischen Pro-
vinzen, die verloren gegangen sind. Ein Imponderabile bleibt nur Enver
Bey, von dem ich aber annehme, daß er bald wieder nach Afrika
zurückkehren wird15.
Ob die Jungtürken sich halten können, wird weniger von inneren
Fragen als davon abhängen, ob die Türkei in Kleinasien sich zu
konsolidieren vermag. Andererseits hängt die Zukunft Kleinasiens
wesentlich davon ab, ob die Jungtürken am Ruder bleiben. Deutschland,
welches die Türkei erhalten will, hat daher nach meiner unmaßgeblichen
Generals zugedacht, und ebenso die Reorganisation des gesamten Unterrichts-
wesens; der Einfluß, der uns dadurch eingeräumt werde, sei bedeutend größer
als der etwaige englische."
200
Ansicht ein hervorragendes Interesse daran, die Reformbestrebungen
Mahmud Schewkets tatkräftig zu unterstützen.
Wangenheim
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
i ?
2 Die haben keine Offiziere mehr!
3 geht nicht an!
entweder oder!
4 umwerfen!
6 richtig! bei uns auch!
6 nur bis zu einem gewissen Orade!
7 na na!?!
8 giebts nicht!
9 II
10 sehr bedauerlich und unpraktisch
11 übermäßig!
12 ?j
13 der wird auch gegen uns, Bagdadbahn pp. benutzt werden
14 hoffentlich nicht
15 Nein! der soll demnächst hängen!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Viel guter Wille, aber viel Phantasterei!
In Wirklichkeit ist diese Zuweisung von verschiedenen Europäischen]
Nationen für inner-Türk[ische] Aufgaben, eine großartige Brücke für gegen-
seitige Intriguen und für eine Auftheilung der Türkei! So einfach lassen sich
die Mächte nicht abgrenzen und auf ihre Aufgabe beschränken! Zumal die
Briten nicht.
Nr. 15 440
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt*
Telegramm. Entzifferung
Nr. 282 Konstantinopel, den 22. Mai 1913
Aus der Überzeugung, daß Deutschlands Politik aufrichtig und
ernst auf die Konsolidierung der asiatischen Türkei gerichtet ist, daß
aber nur durch eine gründliche Reorganisation der türkischen Armee
dieses Ziel sichergestellt werden kann, ersucht mich der Großwesir,
Seiner Majestät dem Kaiser die Bitte um einen leitenden deutschen
General für die türkische Armee zu unterbreiten.
Einzelheiten noch nicht festgelegt. Gedacht ist diese Stellung aber,
ungefähr ähnlich der des französischen Generals Eydoux in Griechen-
land, als die einer mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Autori-
tät in allen militärtechnischen Fragen. General müßte an der Spitze
aller anderen deutschen Reformer stehen und wäre für die gleich-
* Im wesentlichen bereits veröffentlicht bei Liman von Sanders, Fünf Jahre
Türkei, S. 9 f.
201
mäßige und zweckentsprechende Durchführung der Reform in der
türkischen Armee verantwortlich. Seine Vorschläge müßten Grund-
lage abgeben für die Mobilmachungsarbeiten und Operationen in einem
späteren Kriege. — Für eine solche Stellung käme naturgemäß nur
eine allererste militärische Kraft in Frage, die namentlich über große
Erfahrung im Truppengeneralstab verfügt. Da Generalität und Ge-
neralstab im letzten Kriege besonders versagt haben, wäre seine
Hauptaufgabe, diesen Mißständen durch gründliche und praktische
Ausbildung des Generalstabes abzuhelfen. Dafür wäre namentlich Vor-
aussetzung, daß der betreffende General als Chef des Generalstabes
eines Armeekorps selbständig mit besonderem Erfolg Generalstabs-
reisen geleitet hat. Im übrigen muß er ein fester Charakter sein, der
sich durchzusetzen versteht. Sprach- und Landkenntnis nicht unbedingt
erforderlich, da in der Person des Majors von Strempel eine in den
lokalen Verhältnissen voll erfahrene Hilfskraft ihm zur Seite gestellt
werden könnte.
Meines Erachtens würde die Berufung eines deutschen Generals
alle Stimmen, welche die deutschen Reformer für die türkischen Nieder-
lagen verantwortlich machen, zum Schweigen bringen. — Außerdem
würde sie das beste Gegengewicht gegen den durch Berufung eng-
lischer Verwaltungsreformer vordringenden englischen Einfluß bilden.
Im Falle einer Ablehnung ist zu befürchten, daß die Pforte, welche
mit dem bisherigen ungenügenden Militärreformsystem zu brechen
entschlossen ist, sich an andere Mächte wenden würde. Höre streng
vertraulich, daß seitens des österreichischen Militärattaches * für die
Berufung österreichischer Reformer Propaganda gemacht wird. Ge-
heimhaltung vorläufig dringend erbeten.
Wangenheim
Nr. 15 441
Der Chef des Militärkabinetts General Freiherr von Lyncker
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Vertraulich Berlin, den 30. Juni 1913
Euerer Exzellenz beehre ich mich unter Bezugnahme auf das Tele-
gramm des deutschen Botschafters in Konstantinopel vom 22. Mai
d. Js. — dortige Nr. A 10443** — und auf den Militärbericht Nr. 714
des Militärattaches in der Türkei vom 21. Mai d. Js. — dortige Nr.
• Oberst von Pomiankowski.
•* Siehe Nr. 15 440.
202
A 10 697* — sehr ergebenst mitzuteilen, daß Seine Majestät der
Kaiser und König der darin zum Ausdruck gebrachten Bitte der türki-
schen Regierung um Entsendung eines Generals als Missionschef
nach der Türkei entsprechen wollen.
Wenn auch nicht ohne Schwierigkeit, so ist es aber dennoch ge-
lungen, einen General ausfindig zu machen, der seine Bereitwilligkeit
erklärt hat, sich dieser Aufgabe zu unterziehen. Es ist dies der Ge-
neralleutnant Liman von Sanders, Kommandeur der 22. Division
in Kassel, ein vorzüglicher Divisionskommandeur, der sich für diese
Stellung nach jeder Richtung hin besonders eignen würde.
General Liman von Sanders ist eine elegante militärische Erschei-
nung, von gewandten Formen und militärisch vielseitig gebildet. Er
gehörte lange Jahre dem Generalstabe an und ist in den verschieden-
sten Stellungen der Armee mit bestem Erfolge tätig gewesen.
Euerer Exzellenz beehre ich mich von dieser Sachlage sehr er-
gebenst Kenntnis zu geben. Sowohl das zuständige Generalkommando
als auch der General Liman von Sanders sind auf strengste Geheim-
haltung hingewiesen und ist ihnen mitgeteilt worden, zunächst keine
weiteren Schritte zu unternehmen, bis Nachricht von mir eintrifft.
Freiherr von Lyncker
Nr. 15 442
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 223 Therapia, den 18. Juli 1913
Von dem Inhalte des von Euerer Exzellenz mir mitgeteilten
Schreibens des Herrn Chefs des Militärkabinetts vom 30. v. Mts. *•
habe ich dem Großwesir zunächst mündlich vertraulich Kenntnis ge-
geben, auf seine Bitte dann aber ihm auch eine schriftliche Mit-
teilung gemacht. Said Halim Pascha wünschte, daß durch letztere
eine für die Türkei bindende Abmachung geschaffen würde.
Bei dieser Gelegenheit bat mich Said Halim, Euerer Exzellenz
seinen Wunsch zu übermitteln, General Liman von Sanders möchte
nicht vor Vertragsabschluß herkommen. Er würde dann leicht mit
allerlei Persönlichkeiten in Berührung kommen, deren Beziehungen
ihm später vielleicht nicht erwünscht sein würden. Um den Eindruck
seines Erscheinens auf dem Felde seiner hiesigen Tätigkeit nicht ab-
* Nicht bei den Akten.
•• Siehe Nr. 15 441.
203
zuschwächen, würde er es vielmehr für nützlich halten, wenn der
General bei seiner Ankunft gleich in seiner vollen Würde und mit
ganzer Autorität hier auftreten würde.
Wangenheim
Nr. 15 443
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an
den Botschafter In Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 290 Berlin, den 24. August 1913
Seine Majestät wünschen, daß Verhandlungen wegen Übernahme
General Liman und Oberst Weber beschleunigt werden. Natürlich
kann Übertritt erst nach Erledigung türkisch-bulgarischer Differenz
erfolgen. Bis dahin müssen Verhandlungen geheim bleiben, da Be-
kanntwerden uns Vorwurf Parteinahme zuziehen und politische Schwie-
rigkeiten bereiten würde. Im Interesse Geheimhaltung scheint uns
erwünscht, daß Verhandlungen verläufig dort und nicht durch hiesigen
türkischen Botschafter geführt werden.
Ew. pp. wollen Besprechungen mit Großwesir eröffnen und ins-
besondere Vorschläge erbitten über Gehalt, Kommandostellung, Macht-
befugnisse und Zahl der Offiziere, die unsere Herren mitbringen.
Drahtbericht.
J ago w
Nr. 15 444
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Rominten
Telegramm. Entzifferung
Nr. 259 Berlin, den 20. September 1913
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät Botschafter in Kon-
stantinopel meldet*:
„Ganz geheim.
Nach langen Verhandlungen ist folgendes Projekt über die deutsche
Militärreorganisationskommission zustandegekommen.
• Telegramm Nr. 543 vom 19. September 1913.
204
Um die bisher immer vergeblich angestrebte Einheitlichkeit des
deutschen Reorganisationswerks zu erreichen, wird General Liman
direkter Vorgesetzter aller deutschen Offiziere in türkischen Diensten1.
Ihm wird das Recht verliehen, überall in der Türkei Besichtigungen
vorzunehmen. Ohne ihn darf kein ausländischer Offizier für die
türkische Armee engagiert werden.
Ihm wird das ganze Militärerziehungs- und Bildungswesen —
einschließlich Schießschule, Übungslager und Lehrtruppen — unmittel-
bar unterstellt, was für die Zukunft der Türkei und die Verbreitung
deutscher Art und Sprache ganz besonders wichtig ist.
General Liman wird Mitglied des Obersten Kriegsrats. Sein Ein-
fluß auf die Beförderungen türkischer Offiziere, namentlich zu Ge-
neralen, wird festgelegt. Er erhält die Strafbefugnis eines kommandie-
renden Generals.
Dadurch, daß schließlich — im Gegensatz zu bisherigen hiesigen
englischen Marinemissionen — der Vertrag auf fünf Jahre statt auf
zwei abgeschlossen werden soll, und daß Versetzungen und Verab-
schiedungen höherer türkischer Offiziere innerhalb von sechs Monaten
nach Kabinetts- bezw. Kriegsministerwechsel nur mit Einwilligung des
deutschen Generals stattfinden dürfen, wird die erforderliche Kon-
tinuität der militärischen Arbeit gewährleistet und das unerschütterte
Vertrauen in Seine Majestät den Kaiser und die deutschen militärischen
Grundsätze bewiesen2. Das Fehlen von Kontinuität verschuldete be-
kanntlich die Katastrophen im Anfang des Krieges.
Für die Ausbildung der Generale, die theoretische Fortbildung
aller Generalstabsoffiziere, Abhaltung von Generalstabsreisen und ähn-
liche Bedürfnisse wird General Liman eine Pauschalsumme von an-
nähernd einer Million Mark im Jahre zur freien Verfügung gestellt,
während alle deutschen Offiziere zusammen bisher mit weniger als
30 000 Mark haushalten mußten.
Alles Weitere empfehle ich in Deutschland bei den zuständigen
Behörden und bei General Liman durch den Militärattache regeln zu
lassen, damit die ganze Angelegenheit in kürzester Zeit erledigt wird.
Major von Strempel könnte 26. in Berlin sein 3."
Euerer Majestät Militärkabinett habe ich Abschrift des Telegramms
zugehen lassen.
Alleruntertänigst
Jago w
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Habe ich von vornherein als Bedingung aufgestellt!
2 heiliger „Matin"!
3 ja
205
Nr. 15 445
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 285 St. Petersburg, den 7. November 1913
Herr Neratow ließ mich zu sich bitten und sagte mir sichtlich be-
unruhigt folgendes:
Er habe aus türkischer guter Quelle die Nachricht, daß eine un-
gewöhnlich große Anzahl deutscher Generalstabs- und anderer Offi-
ziere, darunter Generäle, zur Reorganisation der türkischen Armee
und zwar besonders der Garnison von Konstantinopel
in türkischen Dienst demnächst treten werden. In Konstantinopel
solle eine Art Musterdivision ganz nach deutschem Vorbilde und unter
dem Kommando eines deutschen Generals errichtet werden. Die Aus-
bildung von türkischen Provinzialtruppen im üblichen Rahmen würde
ihn nicht beunruhigt haben, hier handele es sich aber um eine Maß-
nahme, welche Rußland nicht anders als gegen sich gerichtet auf-
fassen könne. Alles, was sich in Konstantinopel und an der Meerenge
ereigne, sei für Rußland von der höchsten Bedeutung. Ministergehilfe
hob noch hervor, daß nach seinen Informationen der deutsche Militär-
attache in Konstantinopel morgen Sonnabend in Berlin eintreffen solle,
um die Zustimmung der Kaiserlichen Regierung zu dem „arrangement"
einzuholen.
Wenn diese Nachrichten Herrn Sasonow in Livadia bekannt würden
und unwidersprochen blieben, befürchte er eine starke Verstimmung.
Herr Neratow bat mich, Euerer Exzellenz von vorstehendem sofort
Meldung zu erstatten.
Lucius
Nr. 15 446
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Geschäftsträger in Petersburg
Freiherrn von Lucius
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 217 Berlin, den 8. November 1913
Auf Telegramm Nr. 285*.
Die Türkei hat uns um Militärmission gebeten. An der Spitze soll
e i n General stehen.
* Siehe Nr. 15 445.
206
Daß wir andauernd die türkische Armee zu reformieren versucht
haben, Erfolg aber recht problematisch gewesen, ist bekannt. Man
hat Deutschland sogar für türkische Mißerfolge in letzten Kriegen
verantwortlich gemacht! Wenn wir trotz dieser Erfahrungen zum
Eingehen auf neues türkisches Ansuchen geneigt sind, so geschieht
dies aus verständlicher Erwägung, daß die Türkei durch Ablehnung
nur verstimmt werden und sofort anderswo Erfüllung ihres Wunsches
suchen und zweifellos auch finden würde.
Wo Mission arbeiten soll, werden wir lediglich türkischem Er-
messen überlassen. Die russischen Bedenken hinsichtlich Konstan-
tinopel sind uns gänzlich unverständlich. Wir haben eine zu hohe
Meinung von der russischen Armee, als daß wir annehmen könnten,
daß selbst „eine Art Musterdivision in Konstantinopel" für Rußland
auch nur im entferntesten bedrohlich werden könnte. Herr Neratow
kennt die türkischen Verhältnisse und wird daher unseren Skeptizis-
mus gegenüber dem Erfolg der neuen Reformarbeit begreifen. Daß
andererseits die Türkei jemals auf den Gedanken eines aggressiven
Vorgehens gegen Rußland verfallen könnte, glaubt wohl auch Herr
Neratow schwerlich. Die Pforte wird glücklich sein, wenn ihre Balkan-
nachbarn ihr das Leben lassen, und offenbar lediglich zu tunlichster
Sicherung ihrer eigenen Existenz sucht sie ihre Armee aufzubessern.
An Erhaltung der Türkei in ihrem ohnehin recht bescheidenen euro-
päischen Umfang und in ihrem asiatischen Besitz haben aber alle
Mächte ein Interesse. Insbesondere nehmen wir bestimmt an, daß Ruß-
land diesen unseren Standpunkt teilt. Wir glauben daher, daß auch
Rußland die uns gegenüber etwa hervortretenden türkischen Wünsche
nach Stationierung der Militärmission gerade in Konstantinopel nur
begrüßen könnte.
Bitte diese Gesichtspunkte Herrn Neratow gegenüber nachdrück-
lich verwerten und ihm die unverständliche Nervosität ausreden.
Zimmermann
Nr. 15 447
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 289 St. Petersburg, den 11. November 1913
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 217*.
Glaube Herrn Neratow etwas beruhigt zu haben.
Immerhin hob Ministergehilfe wieder hervor, daß Stationierung
* Siehe Nr. 15 446.
207
der Militärmission in Konstantinopel, Erhöhung Kriegsbereitschaft der
Türkei in den Dardanellen zur Folge haben würde. Wenn er auch
keine Bedenken gegen Tätigkeit der Mission nach der Balkanfront
hin habe, so könne es Rußland nicht gleichgültig sein, wenn beispiels-
weise die Dardanellen stark befestigt würden und Geschütze, die
20 Kilometer das Schwarze Meer bestreichen könnten, am Eingang
hierzu aufgestellt würden. Derartige Befestigungen auf Ratschlag
deutscher Offiziere aufgeführt, könnten doch bloß gegen Rußland ge-
richtet sein.
Ich machte Ministergehilfen unter anderem darauf aufmerksam, daß
Zeitungsnachrichten zufolge auch England Erweiterung seiner Marine-
mission beabsichtige. Herr Neratow wollte Herrn Sasonow unsere
Gesichtspunkte vortragen, sobald er zurück sei, und bat mich, dieselben
dem Minister gegenüber seinerzeit zu wiederholen; vielleicht sei Herr
Sasonow weniger beunruhigt wie er über die Angelegenheit. Nach
Livadia wollte er dem Minister nicht darüber telegraphieren.
Lucius
Nr. 15 448
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 292 St. Petersburg, den 17. November 1913
Sasonow empfing mich heute gleich nach seiner Rückkehr und
bat mich, Euerer Exzellenz zu melden, daß ihn die Angelegenheit
unserer türkischen Militärmisson trotz unserer Erklärungen peinlich
berührt. Auch ein heutiges Telegramm des Herrn von Sverwejew,
nach einem Gespräch mit dem Herrn Unterstaatssekretär, bezeichnete
der Minister als „peu satisfaisant". Es handle sich doch jetzt nicht um
ein Nachgeben unsererseits auf Grund einer russischen Pression, son-
dern „il s'agit simplement d'une deference ä nos voeux". Die An-
gelegenheit sei keine militärische, sondern politische Frage von hoher
Bedeutung für Rußland. Unsere Beziehungen seien nie besser und
vertrauensvoller gewesen als jetzt, daher könnten wir seiner Ansicht
nach den Türken nach Erfüllung ihres Wunsches sehr wohl sagen, daß
wir, „um unsere Freunde — die Russen — nicht zu verletzen",
bäten, davon abzusehen, dem deutschen General Truppenteile in Kon-
stantinopel zu unterstellen. Nach seinen Nachrichten solle das
erste türkische Armeekorps diesem Generale unterstellt werden. Der
russische Botschafter in Konstantinopel würde also sozusagen von
einem deutschen Armeekorps beschützt. Die Türkei sei seit Jahr-
hunderten der Gegner Rußlands, das viele Kriege gegen die Osmanen
208
geführt habe. Es wäre für Rußland nie angenehm gewesen, daß
deutsche Offiziere die türkische Armee reorganisierten. Der Zar habe
Seiner Majestät dem Kaiser und Könige über diese Verhältnisse offen
gesprochen. Der Minister hatte dem Kaiser Nikolaus berichtet, welch
ausgezeichneten Eindruck er von seinen vertrauensvollen Unterredungen
mit Euerer Exzellenz und dem Herrn Unterstaatssekretär* gehabt
habe. Seine Majestät wäre äußerst befriedigt darüber gewesen. Um
so überraschender sei die Nachricht aus Konstantinopel gekommen.
Der Kaiser habe ihm vorwurfsvoll gesagt: „et vos impressions de
Berlin!" Sasonow bedauerte, daß man ihm in Berlin nicht über Militär-
mission in Konstantinopel gesprochen hätte. Er wäre Euerer Exzel-
lenz besonders dankbar für eine genauere Information darüber, ob tat-
sächlich die Absicht bestände, das erste türkische Armeekorps oder
einen Teil desselben dem General zu unterstellen? Uns würde es auch
sicherlich nicht gleichgültig sein, wenn zum Beispiel ein belgisches
oder ein holländisches Armeekorps unter einen französischen Ge-
neral gestellt würde. Als ich Minister sagte, es sei doch völlig
ausgeschlossen, daß die Türkei aggressive Absichten gegen Rußland
habe, erwiderte Herr Sasonow: Von den Jungtürken, in die er keinerlei
Vertrauen hätte, könne man jeden coup de tete erwarten; es handle
sich darum, den türkischen „Größenwahn" nicht noch zu stärken.
Unsere Offiziere könnten doch, wie früher, in der Provinz arbeiten.
Die Stationierung der Mission in Konstantinopel sei aber, ebenso wie
die ständige Anwesenheit des Generals ein völliges Novum. Er bat
mich, das heutige Gespräch Euerer Exzellenz ausführlich zu melden.
Es läge ihm alles daran, mit uns freundschaftlich zu stehen, diese An-
legenheit mache ihm aber seine Aufgabe sehr schwer.
Lucius
Nr. 15 449
Aufzeichnung des Militärattaches In Konstantlnopel
Majors von Strempel, z. Z. In Berlin
Eigenhändig
Berlin, den 18. November 1913
Klagen des Herrn Sasonow**:
1. Stärkung des türkischen Größenwahns.
2. Die deutschen Offiziere sollten wie früher in der Provinz arbei-
• Ober die Anwesenheit Sasonows in Berlin am 22. Oktober und die bei dieser
Gelegenheit mit den deutschen Staatsmännern gepflogenen Besprechungen über
die Balkanfrage vgl. Bd. XXXVI, Kap. CCLXXX Nr. 14 193.
*• Nr. 15 448.
14 Die Große Politik. 38. Bd. 209
ten, ihre Stationierung in Konstantinopel sowie die dauernde An-
wesenheit des Generals dort sei ein völliges Novum.
3. Der russische Botschafter in Konstantinopel würde sozusagen
von einem deutschen Armeekorps beschützt.
4. Verdächtigung der Jungtürken bezüglich aggressiver Absichten,
ad 1. Der türkische Größenwahn hat durch die letzten Kriege einen
schweren Stoß erlitten. Bei den leitenden militärischen Kreisen hatte
er auch vor dem Kriege nur in bescheidenen Grenzen bestanden; daß
er jetzt nicht mehr existiert, ist dadurch erwiesen, daß die Türken
um eine Militärmission bitten. Den jungen Elementen haftet der
Größenwahn weiter an. Sie sollen aber viel Wasser in ihren Wein
schütten, daher die Militärmission!
Hätten wir Deutschen dagegen jetzt unsere Offiziere zurück-
gezogen, so hätten die jungen Offiziere das so aufgefaßt, wie wenn
sie jetzt Fremde nicht mehr nötig hätten; ihr Größenwahn wäre
üppig ins Kraut geschossen.
ad 2. Die deutschen Offiziere hätten früher in der Provinz ge-
arbeitet, das Umgekehrte sei ein Novum, ein völliges Novum.
In dieser Beziehung hat sich eigentlich garnichts geändert, soweit
die 26 Offiziere in Betracht kommen, die seit vier Jahren in Kon-
stantinopel sind.
Bis dahin war es so, daß alle Offiziere gerade in der Haupt-
stadt waren, und keiner in der Provinz. Der Chef der Militärmission
Exzellenz von der Goltz lebte zwölf Jahre hintereinander in Konstan-
tinopel. Zeitweise hatten wir zwei Marschälle und fünf Generäle
gleichzeitig dort. Auch jetzt haben wir dort einen General und hatten
meist zirka 14 Offiziere in der Hauptstadt.
In den letzten drei Jahren waren von 26 Herren drei in Saloniki,
drei in Adrianopel und drei in Ersingjan. Früher hielten die Russen
sich darüber, daß sie in Ersingjan waren, viel mehr auf! (Viel-
leicht kommen dorthin auch wieder drei).
ad 3. Der russische Botschafter würde sozusagen von einem deut-
schen Armeekorps bewacht!
Das ist eigentlich ein starkes Stück!
Der englische Admiral, der die Flotte (was wir Hochseeflotte
nennen) ganz und gar befehligt, hat keine Bedenken hervorgerufen?
Und die ganze Gendarmerie des Reichs stand unter einem Italiener,
jetzt Franzosen! Die Gendarmerie dient viel eher politischer Über-
wachung als ein „Musterarmeekorps", von dem vielleicht nur vier bis
sechs Regimenter in der Hauptstadt stehen werden. Wäre der deutsche
General, wie zum Beispiel General Eydoux in Athen Generalinspekteur,
so hätte er viel mehr zu sagen als nur als Missionschef und Kom-
mandierender General eines Korps.
210
Im Kriege standen drei mobile Divisionen unter deutschem Be-
fehl! Jetzt sind die Lehrtruppenteile, die auch bisher zum Teil in der
Hauptstadt standen, in ein Armeekorps zusammenzufassen, da mit
einzelnen Lehrtruppenteilen wegen der sehr schwachen Friedensstärke
Übungen fast unmöglich waren. Das ganze Korps soll nur Lehrzwecken
dienen. Daß dem General das Armeekorps in der Hauptstadt unter-
stellt werden soll, hat keine politische Vorgeschichte. Es kommen auch
andere Orte in Betracht. Doch ist Konstantinopel einzig richtig, weil
dort die Militärschulen sind, und diese davon mitprofitieren sollen.
Sonst hätten wir noch einen General mehr schicken müssen.
Der Titel „Militärmission" ist von türkischer Seite tatsächlich
gewählt, um den Größenwahn der jungen Elemente zu mildern; von
deutscher lediglich, weil wir gesehen haben, daß loses Nebeneinander-
arbeiten verschiedener deutscher Offiziere keinen Wert oder wenig
hat. Das hat der Balkankrieg wahrhaftig bewiesen. Er hat aber auch
zu Punkt 4 bewiesen, daß die Türken an aggressive Kriege nicht zu
denken wagen dürfen. Das weiß auch Herr Sasonow, denn er kennt
die inneren Schwierigkeiten der Türkei, und die militärischen Bäume
in ihr werden sicher nie in den Himmel wachsen. Es bedarf schon einer
großen Zahl sehr befähigter deutscher Offiziere, wenn wir diese Bäume
am Leben halten und stärken wollen. —
Die russischen Klagen sind wohl nicht ganz aufrichtig, sonst hätte
man stichhaltigere Argumente gefunden. Sollten hier nicht mit franzö-
sische Kastanien aus dem Feuer geholt werden?
Erstlich hatten sich die Franzosen große Hoffnungen gemacht, uns
jetzt am Goldenen Hörn abzulösen, und zweitens wittert Schneider-
Creuzot Verrat. —
Behandelt und verhandelt ist die ganze Militärmissionsfrage in
Konstantinopel im vollsten Einverständnisse mit dem Herrn Botschafter.
Politische Befürchtungen sind nicht aufgestiegen, denn einmal sagte
der Herr von Giers zum Überdrusse oft, daß die Russen die Türkei
innerlich stärken möchten, und mehr kann doch nicht durch die Mission
erreicht werden! Und andererseits kann sich bei den auch von Herrn
Sasonow „als nie besser und vertrauensvoller als jetzt" bezeichneten
deutsch-russischen Beziehungen am Goldenen Hörn ein deutscher
General mit Kommandogewalt neben dem englischen Hochseeflotten-
kommodore und dem französischen General Bauman mit seinem
ganzen Gendarmerienetze, die alle an der Erstarkung der Türkei ar-
beiten, nicht ganz schlecht ausnehmen.
von Stre mpel
14* 211
Nr. 15 450
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg*
Eigenhändig
Berlin, den 18. November 1913
Herr Kokowzow** brachte heute im Auftrage des Herrn Sasonow
unsere Militärmission in Konstantinopel bei mir zur Sprache. Herr
Sasonow sei beunruhigt, daß ein deutscher General in Konstantinopel
ein türkisches Armeekorps befehligen solle. Eine nähere Begründung
für diese Beunruhigung wurde nicht gegeben.
Ich habe Herrn Kokowzow folgendes erklärt:
Im Anfang dieses Sommers habe sich die Türkei mit der Bitte um
eine Militärmission an uns gewandt. Ich hätte damals die Sache vom
politischen Standpunkte aus geprüft und, da keine Bedenken vorgelegen
hätten, die Erfüllung der Bitte zugesagt. Danach sei die Angelegenheit
lediglich von den militärischen Stellen bearbeitet worden***. So sei es
• Die Aufzeichnung wurde mit Erlaß Nr. 1327 vom 19. November dem Ge-
schäftsträger in Petersburg Freiherrn von Lucius zur Information und ent-
sprechenden Verwertung übersandt.
•* Der russische Ministerpräsident Kokowzow weilte, von Paris kommend, wo
er mit der französischen Regierung über die Unterbringung russischer Eisen-
bahnobligationen auf dem Pariser Markt gegen die Verpflichtung zum beschleu-
nigten Bau strategischer Eisenbahnen in Rußland verhandelt hatte, vom 17. bis
20. November in Berlin. Hier hatte er am 18. und 19. eingehende Aussprachen
mit dem Reichskanzler, am 19. auch eine Audienz beim Kaiser. In seinem
großen Immediatbericht vom 2. Dezember 1913 über seine Auslandsreise hat
Kokowzow eine eingehende Darstellung von seinen Gesprächen mit dem
Reichskanzler und dem Kaiser gegeben, die die obige Darstellung Bethmann
Hollwegs in erwünschter Weise ergänzt (Der Diplomatische Schriftwechsel
Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 415 ff.). Gegenüber den Behauptungen
des französischen Botschafters Delcasse, Kokowzow habe aus Berlin nach Peters-
burg telegraphiert, daß er durch seine Vorstellungen ein wesentliches Nach-
geben Deutschlands erzielt habe („Des renseignements gdneraux qu'il a fait
telegraphier de Berlin, il resulte que ses repr£sentations auraient amene l'Alle-
magne ä ne pas r£clamer pour son general le corps d'arm£e de Constantinople
et ä consentir ä une diminution des pouvoirs qui devaient primitivement lui
£tre attribues." Telegramm Delcasses an Pichon vom 21. November 1913;
Französisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 83), ist von Wichtigkeit
die Feststellung des Kokowzowschen Immediatberichts: „Ich will Eurer Majestät
nicht verheimlichen, daß meine Auseinandersetzungen in Berlin bei mir einen
unbefriedigenden Eindruck hinterlassen haben und mir Grund geben zu der
Vermutung, daß die deutsche Regierung die von ihr gewählte Haltung nicht
leicht aufgeben wird, wenn sie sie überhaupt aufgibt." Vgl. zu den Berliner
Besprechungen Kokowzows auch noch den vertraulichen Brief des russischen
Botschafters in Berlin Sverwejew an Sasonow vom 21. November (Diplomatische
Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre, ed. B. v.
Siebert, S. 639 f.), und den Bericht Botschafter Jules Cambons vom 20. Novem-
ber (Französisches Gelbbuch, a. a. O., III, 82s.).
*** Auch Kokowzow hebt in seinem Immediatbericht an den Zaren vom 2. Dezember
(Stieve, a. a. O., III, 415 f.) hervor, daß der Reichskanzler wohl kaum über
212
gekommen, daß mir die Sache während des Hierseins des Herrn Saso-
now gar nicht mehr vorgeschwebt, und daß ich sie nicht zum Gegen-
stande der Unterhaltung mit ihm gemacht hätte. Die Erfüllung der
den beabsichtigten Schritt unterrichtet gewesen sei. „Er wußte nur, daß die tür-
kische Regierung Deutschland vorgeschlagen hatte, die Instrukteure für die tür-
kische Armee zu stellen; daß der deutsche Kaiser diese Frage Eurer Kaiserlichen
Majestät gegenüber während Ihres Aufenthaltes in Berlin im Mai d. Js. in einer
persönlichen Unterredung berührt hatte; daß Eure Majestät keine sachlichen Ein-
wendungen erhoben hatten, da die Lehrtätigkeit der deutschen Offiziere in der
türkischen Armee mehr als 20 Jahre stattgefunden hatte; daß aber später die
ganze weitere Entwicklung dieser Frage im Sinne der Bildung eines Muster-
korps unter deutschem Kommando und der Stationierung dieses Korps in der
türkischen Hauptstadt H. von Bethmann Hollweg überhaupt unbekannt war, und
daß sich nur die militärischen Stellen des Deutschen Reiches hiermit befaßt
hatten." Die auf Bethmann Hollweg zurückgehenden Angaben Kokowzows wer-
den durch den Befund der deutschen Akten vollinhaltlich bestätigt. Über die in
Konstantinopel zwischen dem Marineminister Mahmud Pascha als Stellvertreter
des Kriegsministers und dem Militärattache" von Strempel geführten Verhandlun-
gen, die am 28. Oktober bzw. 27. November zum Abschluß von Verträgen zwi-
schen Mahmud und General von Liman führten (vgl. Nr. 15 465), ist dem Aus-
wärtigen Amt nichts weiter bekannt geworden, als was das Telegramm Freiherrn
von Wangenheims vom 20. September (siehe Nr. 15 444), in dem von der Bildung
eines Musterkorps in Konstantinopel unter deutschem Kommando noch gar keine
Rede war, meldete. Wenn General Liman von Sanders in seinem Erinnerungs-
buche „Fünf Jahre Türkei" (S. 10 f.) anführt, der Kontrakt sei den höchsten
deutschen Behörden zur Prüfung vorgelegt, so gilt das nur für die militärischen
Behörden. Das Auswärtige Amt hat von dem Inhalt des abgeschlossenen Ver-
trages erst am 8. Januar 1914 durch das Preußische Kriegsministerium Kennt-
nis erhalten (Schreiben des Kriegsministeriums vom 29. Dezember 1913, einge-
gangen am 8. Januar 1914). Nach Angabe Kaiser Wilhelms II. zu Kokowzow
wäre der Gedanke, dem Führer der deutschen Militärmission das Kommando
eines Armeekorps in Konstantinopel zu übertragen, an dem man in Petersburg
so heftigen Anstoß nahm, nicht einmal von Deutschland ausgegangen, sondern
wäre von der Türkei selbst geäußert worden, was von Dschemal Pascha (Erin-
nerungen eines türkischen Staatsmannes, S. 69) bestätigt wird. Der russische
Botschafter in Berlin Sverwejew wollte freilich, wie Delcasse am 29. November
nach Paris zu melden wußte (Französisches Gelbbuch, a. a. O., III, 91), das
Gegenteil behaupten: die Türkei habe sich auf die Bestimmung nur widerstre-
bend eingelassen. Auch der französische Botschafter in London Paul Cambon
wußte zu erzählen, das „deutsche Projekt" sei in Berliner militärischen Kreisen
entstanden, die eine Wiederholung der unzureichenden Stellung, die von der
Goltz Pascha innegehabt habe, für unmöglich hielten (Telegramm Graf Bencken-
dorffs an Sasonow vom 9. Dezember, v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke,
a. a. O., S. 646 f.). Daran mag so viel richtig sein, daß auch die deutschem' Mili-
tärs und namentlich General von Liman, die damit aber doch nur auf die tür-
kischen Intentionen eingingen, für die Übertragung des I. Armeekorps an den
Führer der Militärmission eingetreten sind. Vgl. Liman v. Sanders, Fünf
Jahre Türkei, S. 14. Aus der späteren Angabe Freiherrn von Wangenheims
(siehe Nr. 15 493), daß er von vornherein gegen die Übertragung des Korps-
kommandos auf den Führer der Militärmission gewesen sei, daß aber die
jungtürkischen Führer aus innerpolitischen Gründen darauf bestanden hätten,
ergibt sich unbedingt, daß Kaiser Wilhelm mit seiner Behauptung im Rechte war
und nicht die Sverwejew, Delcasse" und P. Cambon mit der ihrigen.
213
Bitte der Türkei hätte sich für uns von selbst ergeben und sei eine
zwingende gewesen. Seit Jahrzehnten seien deutsche Militärs die
Instruktoren der türkischen Armee gewesen, darunter Generale von
der Bedeutung eines Höbe Pascha und eines von der Goltz. Es würde
eine völlige Umkehr unserer langjährigen gegenüber der Türkei be-
folgten Politik bedeutet haben, wenn wir den Wunsch der Türkei nach
Erneuerung und Ausgestaltung der alten Einrichtung abgewiesen
hätten. In Vertretung unserer großen wirtschaftlichen Interessen in der
Türkei, und insonderheit in der kleinasiatischen Türkei, mußten wir
den größten Wert darauf legen, daß die Türkei in dem Bestände, der ihr
nach dem Kriege verblieben sei, intakt erhalten werde. Wenn jemals die
kleinasiatische Frage aufgerollt werden müßte, so wünschten wir diesen
Zeitpunkt in möglichste Ferne gerückt zu sehen. Eine Konsolidierung
der Türkei sei aber nur möglich, wenn ihre Armee gut organisiert
werde. Deshalb sei die Entsendung einer Militärmission nach Kon-
stantinopel ein unmittelbares deutsches Interesse, und lediglich in Wahr-
nehmung dieses Interesses hätten wir gehandelt. Hätten wir abgelehnt,
so hätten wir uns selbst nicht nur unmittelbar geschadet, sondern hätten
auch mittelbar einen großen Echec vor der Welt erlitten. Denn die
Türkei hätte sich im Falle unserer Ablehnung unzweifelhaft an eine
andere Großmacht gewendet und von dieser erhalten, was wir ihr
versagt hätten. Mir sei es durchaus nicht unwahrscheinlich, daß zum Bei-
spiel Frankreich sehr gern an unsere Stelle getreten sein würde. Es sei
bekannt, daß der französische Chauvinismus die türkischen Niederlagen
als deutsche Niederlagen gefeiert hätte, und wenn jetzt Deutschland die
Rolle, die es lange Jahre in der Türkei gespielt habe, aufgegeben hätte,
und wenn irgendeine andere Macht an unsere Stelle getreten wäre> dann
hätte das in den Augen aller uns mißgünstigen Nationen eine neue und
schwere Niederlage bedeutet.
Der Gedanke, daß Rußland an unserer Militärmission Anstoß
nehmen könne, sei mir nie gekommen und sei mir auch jetzt völlig un-
verständlich. Rußland teile, wie ich das aus dem Gange der gesamten
russischen Politik schließen könne, und wie es mir Herr Sasonow
ausdrücklich und wiederholt erklärt habe, durchaus unsere Ansicht,
daß die Türkei intakt erhalten bleiben müsse. Deshalb könne ich auch nur
annehmen, daß Rußland eine straffe Organisation der türkischen Armee
erwünscht sein müsse. Daß die türkische Armee zu aggressiven
Aktionen irgendwelcher Art nicht imstande sei, habe der Krieg zur
Genüge bewiesen. Eine türkische Aktion gegen Rußland vollends sei
ein absoluter Widersinn. Wenn Herr Sasonow es bemängele, daß die
Militärmission gerade in Konstantinopel stationiert werden solle, so
sei dies absolut kein Novum. Der Feldmärschall von der Goltz habe
zwölf Jahre lang von Konstantinopel aus die Reorganisation der ge-
samten türkischen Armee geleitet. Jetzt solle gewissermaßen zu Lehr-
zwecken ein türkisches Armeekorps zusammengestellt werden, und wenn
214
unsere dabei tätige Militärmission in Konstantinopel stationiert wer-
den solle, so sei dies das Nächstliegende und Natürliche, da die türkische
Armeeverwaltung mit den militärischen Bildungsanstalten usw. eben
in Konstantinopel ihr Zentrum habe. Läge überhaupt die Möglichkeit
vor, in unserer Militärmission einen unfreundlichen Akt gegen Ruß-
land zu erblicken, was ich mit aller Entschiedenheit bestreiten müsse,
dann würde man sehr viel eher davon haben sprechen können, wenn
die Militärmission in irgend einem kleinasiatischen Armeekorps tätig
weiden sollte. Dann könnte, aber auch nur theoretisch, von
einer Spitze gegen Rußland gesprochen werden, von der in Kon-
stantinopel absolut keine Rede sein könne. Es müsse in Rußland be-
kannt sein, daß meine Politik darauf gerichtet sei, ein möglichst
freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis zu Rußland her-
zustellen und aufrecht zu erhalten. Ich sei dankbar dafür, daß dieses
mein Bestreben in Rußland Entgegenkommen finde. Man dürfe mir
nicht zutrauen, daß ich gewissermaßen hinten herum durch die Militär-
mission meiner eigenen Politik entgegenwirken wolle.
Unsere Militärmission sei nicht nur lediglich die Fortsetzung einer
alten Einrichtung, an der Rußland niemals Anstoß genommen habe,
sondern doch auch sonst keine ganz abnorme Sache. Die gesamte
türkische Flotte stehe unter der Leitung eines englischen Admirals
in Konstantinopel, die Gendarmerie unter der Leitung eines französi-
schen Generals. Mir sei nicht bekannt, daß Rußland hiergegen Ein-
spruch erhebe. In Griechenland beherrsche England die Marine und
Frankreich die Armee.
In der armenischen Reformfrage * arbeiteten wir Hand in Hand
mit Rußland. Wir hätten uns schon dadurch eine lebhafte Verstimmung
der Türkei zugezogen. Wir würden uns in unser eigen Fleisch und
Blut schneiden, wenn wir in der Frage der Militärmission eine Haltung
einnehmen wollten, die unseren eigenen Interessen diametral entgegen-
gesetzt sei, und die die türkische Verstimmung zu unserem Schaden
und lediglich zum Nutzen irgend einer anderen Großmacht nur steigern
würde.
Herr Kokowzow hörte mir aufmerksam zu und erklärte, daß ihm
meine Ausführungen in jeder Weise verständlich seien. Er bedauere nur,
daß die Angelegenheit nicht mit Herrn Sasonow besprochen worden
sei, dann wäre sie sofort abgetan gewesen. Er werde meine Ausfüh-
rungen genau schriftlich niederlegen und sie nicht nur Herrn Sasonow
sondern auch dem Zaren vortragen. Daß Herr Sasonow etwa eine franzö-
sische Militärmission wünsche, glaube er unter allen Umständen verneinen
zu können. England käme natürlich als reine Seemacht für die Armee
nicht in Frage, und eine deutsche Militärmission sei ihm jedenfalls
sehr viel lieber als etwa eine österreichische. Insonderheit betonte
Vgl. dazu Kap. CCLXXXIX.
215
auch er, und zwar sua sponte, daß der Sitz der Mission außerhalb
Konstantinopels, etwa in Kleinasien viel eher unfreundlich gedeutet
werden könnte.
Einen „Größenwahn" der Türken — ich hatte ihm von dieser
Phrase Sasonows gesprochen, — besorge er persönlich nicht. Auch
nicht einen aggressiven Akt der Türkei gegen Rußland. Dazu sei die
Türkei allein nicht fähig. Anders würde die Sache vielleicht liegen,
wenn sich die Türkei anderen Mächten anschlösse.
Ohne daß Herr Kokowzow es ausdrücklich ausgesprochen hätte,
ging aus seinen Äußerungen klar hervor, daß er volles Verständnis
dafür hat, daß wir so handeln mußten, wie wir gehandelt haben. Mit
keiner Silbe hat er den Wunsch ausgesprochen oder auch nur an-
gedeutet, daß wir unsere Entscheidung irgendwie modifizieren möchten.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 451
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg
Eigenhändig
Berlin, den 19. November 1913
Herr Kokowzow teilte mir heute über seine Unterredung mit
Seiner Majestät folgendes mit:
Seine Majestät habe ihm davon erzählt, daß in seinen Unter-
redungen in diesem Sommer mit dem Zaren und dem König von
England* Einigkeit darüber bestanden habe, daß die Türkei in dem ihr
nach dem Kriege verbliebenen Bestände und insonderheit die asiatische
Türkei intakt erhalten und zu diesem Behufe in allen Beziehungen
gestärkt werden müsse. Konstantinopel müsse unter allen Umständen
türkisch bleiben. Der König von England habe den Vorschlag abgelehnt,
bei der Reorganisation der Verwaltung durch englische Beamte be-
hilflich zu sein, wohl aber habe er die Reorganisation der Flotte durch
englische Seeoffiziere in Aussicht genommen. Die Organisation der
Armee sei in Anknüpfung an die bestehenden Zustände für Deutschland
ins Auge gefaßt worden. Auch die Reorganisation der Gendarmerie
sei besprochen worden. So sei die deutsche Militärmission, und zwar
in russischem und englischem Einverständnis entstanden.
Er, Kokowzow, habe daraufhin die Bedenken Herrn Sasonows
* Die Unterredungen hatten stattgefunden gelegentlich der Vermählung der
Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit dem Herzog Ernst August zu Braun-
schweig und Lüneburg (24. Mai 1913), zu der auch Kaiser Nikolaus II. und
König Georg V. als Gäste erschienen waren. Vgl. Der Diplomatische Schrift-
wechsel Iswolskis 1911 — 1914, ed. Fr. Stieve, III, 418.
216
wegen der Kommandogewalt des deutschen Generals und wegen
seines Sitzes in Konstantinopel vorgetragen. Seine Majestät
habe erwidert, der Sitz in Konstantinopel beruhe auf einem Vorschlage
der Türkei, die Kommandogewalt aber sei erforderlich, weil die Er-
fahrung bewiesen habe, daß eine Inspektionsgewalt nicht imstande sei,
eine straffe Organisation und Disziplin herzustellen und die Politik
von der Armee fernzuhalten. Daraufhin habe er, Kokowzow, an-
geregt, ob, wenn an der Kommandogewalt nichts geändert werden
könne, es nicht möglich wäre, den Sitz von Konstantinopel nach
Adrianopel zu verlegen. Seine Majestät habe erwidert, er wolle sich
das überlegen. Herr Kokowzow schlug mir die Alternative vor:
1. Modifizierung der Kommandogewalt mit Sitz in Konstantinopel,
oder aber, was ihm lieber wäre,
2. nicht modifizierte Kommandogewalt, aber in Adrianopel.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 452
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an Kaiser Wilhelm IL
Ausfertigung
Berlin, den 23. November 1913
Euerer Majestät Geschäftsträger in St. Petersburg meldet*: „Ich
habe Herrn Sasonow Euerer Exzellenz Standpunkt hinsichtlich der
Militärmission dargelegt. Der Minister hatte von Herrn von Sverwejew
* Telegramm Freiherrn von Lucius* Nr. 295 vom 22. November 1913. Über die
Unterredung Freiherrn von Lucius' mit Sasonow vom 22. November vgl. auch
den charakteristischen Bericht Delcasses an Pichon vom 23. November. Fran-
zösisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 85s. Nach Delcasse hätte
Freiherr von Lucius dem russischen Minister bei dieser Gelegenheit ein Berliner
Telegramm vom 18. November vorgelesen, in dem die deutsche Regierung
erkläre „qu'il ne pouvait d£cliner ce que la Porte lui a offert; qu'en tout cas
revenir en arriere aujourd'hui ce serait perdre la face ä Constantinople, ce
serait ruiner le prestige de l'Allemagne et son influence economique dans
L'Empire ottoman. II ne saurait ä son grand regret porter ä l'interet allemand
un coup aussi desatreux". Bei diesem „Telegramm" — in einer weiteren Mel-
dung vom 27. November spricht Delcasse von einer „note verbale lue par
M. de Lucius ä M. Sazonoff", a. a. O., III, 90 — kann es sich nur um die Auf-
zeichnung des Reichskanzlers vom 18. November über seine Unterredung mit
Kokowzow gehandelt haben, die Freiherrn von Lucius mit Erlaß Nr. 1327
vom 19. November, also nicht auf telegraphischem Wege zugegangen war.
Nach Delcasse hätten die Mitteilungen, die Freiherr von Lucius am 22. auf
Grund der Bethmann Hollwegschen Aufzeichnung dem russischen Außenmini-
ster machte, auf diesen einen sehr ungünstigen Eindruck gemacht, weil er aus
einem neuerlichen Telegramm Botschafter Sverwejews über eine letzte Unter-
redung zwischen Bethmann Hollweg und Kokowzow vom 20. November die
217
eine spätere Mitteilung über ein Gespräch Euerer Exzellenz mit dem
Botschafter. Herr Sasonow hofft, daß wir wenigstens russischen
Wünschen so weit Rechnung tragen würden, daß General nicht gerade
in Konstantinopel residiere l. Er zweifle nicht daran, daß auch Eng-
land2 und Frankreich dies unangenehm empfinden würden. Minister
wollte das bereits hierüber Gesagte nicht wiederholen; er müsse aber
bei seiner Ansicht stehenbleiben und erblickt in unserem Vorgehen,
wenn wir garnicht auf seinen Wunsch eingingen, „un acte peu
amical 3". Der General könne doch ebensogut in Adrianopel oder
Smyrna residieren4. Er könne für jedes unserer Argumente eine Ant-
wort finden. Die Reformarbeit sei überall nötig5. Kleinasien sei
groß; natürlich denke er nicht daran, daß wir gerade ein an der
russischen oder persischen Grenze 6 stehendes türkisches Armeekorps
unserem General unterstellen würden. Er ersuche mich nochmals, Euere
Exzellenz, von deren freundlicher Gesinnung für Rußland er fest über-
zeugt sei, dringend zu bitten, den General nicht in Konstantinopel
residieren zu lassen 7. Herr Kokowzow habe Seiner Majestät gegen-
über auch über die Angelegenheit gesprochen."
ausdrückliche Zusage des Reichskanzlers entnommen haben wollte „de chercher
ä nous donner satisfaction". Tatsächlich hatte Bethmann Hollweg (vgl. Nr.
15 454) dem russischen Ministerpräsidenten nur gesagt, er wolle überlegen,
ob seine Wünsche erfüllbar seien, wobei er jedoch ausdrücklich betonte, daß
die Bereitwilligkeit zur Überlegung noch nicht bedeute, daß er an Erfüllbarkeit
glaube. Ein „Versprechen" des Reichskanzlers bedeutete das keineswegs; es
lag lediglich ein Trugschluß Sasonows, gestützt vielleicht auf nicht ganz klare
telegraphische Meldungen Kokowzows (vgl. Delcasses Telegramm an Pichon
vom 21. November; Französisches Gelbbuch a. a. O., III, 83s.), vor. Gerade
deshalb mochte seine Enttäuschung und sein Ärger um so größer sein.
Nach Delcasse hätte Sasonow sich jedenfalls in der bittersten und mißtrauisch-
sten Weise über das deutsche Verhalten, in dem er einen Beweis für
ein hegemonistisches Streben Deutschlands sehen wollte, ausgelassen: ,,M.
Sazonoff a convenu qu'il y a ä Berlin deux politiques: celle du Chancelier
et celle de la Cour et du monde militaire. C'est cette derniere qui prevaut. II
se dessine d'ailleurs un mouvement combine de main-mise sur la Turquie par
les Puissances de la Triplice, ä quoi la Triple-Entente ne saurait sans peril
fermer les yeux. — L'Allemagne s'est dejä cree en Asie Mineure un faisceau
d'interets qu'elle appelle economiques et eile s'y construit un reseau de
chemins de fer qui mesurera plus de 5000 kilometres. — Depuis plusieur9
mois eile entretient dans la Mediterranee Orientale un noyau d'escadre qui
reclamera forcement une base navale, un port de stationnement, de ravitaille-
ment et de reparation. Nous pouvons ä tout moment recevoir ä ce sujet une
nouvelle desagreable; aujourd'hui eile vise l'armee et recoit le commandement
du corps d'armee de la capitale," a. a. O., III, 86. Vgl. dagegen den Imme-
diatbericht Kokowzows vom 2. Dezember (Der Diplomatische Schriftwechsel
Iswolskis 1911 — 1914, ed. Fr. Stieve, III, 419), der ausdrücklich hervorhebt: „Ich
halte es für meine Pflicht, gerecnterweise noch einmal vor Eurer Kaiserlichen
Majestät zu bezeugen, daß ich während aller meiner Unterredungen keine An-
zeichen bemerkt habe, die uns veranlassen könnten, dem deutschen Reichs-
kanzler Mangel an Wohlwollen oder Aufrichtigkeit uns gegenüber vorzuwerfen."
218
Euere Kaiserliche und Königliche Majestät wage ich alleruntertänigst
um die Ermächtigung zu bitten, Herrn Sasonow hierauf etwa folgende
Antwort zukommen zu lassen: Die Verhandlungen mit der Türkei
seien bereits so weit abgeschlossen, daß eine Änderung der Bedingungen
zurzeit nicht mehr möglich sei8. Doch werde der als Chef der Mission
ausersehene General ermächtigt werden, an Ort und Stelle die Frage
nochmals eingehend zu prüfen, ob eine Verlegung seiner Residenz
nach Adrianopel oder Smyrna sich ermöglichen lasse. Nach bisheriger
Prüfung scheine es allerdings aus technischen Gründen nicht tunlich,
die Reformtätigkeit anderswo als in der Hauptstadt aufzunehmen, da
in letzterer sämtliche Militärbildungsanstalten sich befänden9. Einen
„acte peu amical" gegen Rußland in unserem Vorgehen zu er-
blicken, liege keinerlei Grund vor, um so weniger, als Euere Majestät
bereits bei dem Besuch Seiner Majestät des Kaisers Nikolaus diesem
von dem Vorhaben Kenntnis gegeben hätten10 und die Anwesenheit
eines englischen Admirals in Konstantinopel auch niemals und von
keiner Macht beanstandet worden wäre9.
J agow
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Einverstanden! 23/XI/13 W.-
Randbemerkungen des Kaisers:
1 Aber ein Englischer] Admiral darf es! Ein französischer] oder Eng-
lischer General dürfte es auch!
2 Blech! Der König ist seinerzeit auch von mir informirt worden!
3 Unverschämtheit
4 jawohl! gegen Bulgarien! oder Frankreich ärgern
5 am Zentrum am ersten!
6 da auch nicht. Ich wollte gerade Erzerum vorschlagen
7 Blödsinn! Golz hat dort Jahre lang residirt ohne daß je dagegen remon-
strirt wurde!
8 gut
9 richtig
io ja
Bemerkung des Kaisers am Schlüsse des Schriftstücks:
Gut!
Russland fürchtet Stärkung der Türkei durch uns und Erhöhung ihrer
Milit[ arischen] Widerstandskraft bez. Verwendbarkeit für uns gegen es,
wenn Russland uns seinerzeit angreifen wird! Es will die Türkei sterbend
erhalten und Stambul als jederzeit leichte Beute behalten! Das will England
bestimmt nicht! Rußland in seiner Landgier steckt Mandschurei, Mongolei
Nordpersien ein ohne, daß wir mit der Wimper zucken. Wenn wir aber
Offiziere nach der Türkei senden dann ist die Russische] „öffentliche
Meinung" erregt!! Gingen wir auf Russische] Wünsche ein, wäre es mit
unserem Prestige in der Mohammed [anischen] Welt einfach aus!
Wilhelm
I. R.
* Nach Eingang der kaiserlichen Genehmigung ging die oben skizzierte Ant-
wort für Sasonow am 26. November als Telegramm Nr. 223 nach Petersburg.
219
Nr. 15 453
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 299 St. Petersburg, den 24. November 1913
Herr Kokowzow ersucht mich mit Bezug auf seine Berliner Unter-
redungen Euere Exzellenz nochmals dringend zu bitten, daß General
nicht in Konstantinopel, sondern anderwärts, am besten in Adrianopel
residiere. Ministerpräsdient fügte hinzu, er führe Ende der Woche
nach Livadia und würde glücklich sein, dem Zaren von unserem
Entgegenkommen in dieser wichtigen Frage Meldung erstatten zu
können. Sein Bestreben, die guten Beziehungen mit uns zu pflegen,
würde ihm hierdurch wesentlich erleichtert werden.
Herr Kokowzow sprach sich im übrigen sehr befriedigt über seinen
Berliner Aufenthalt aus.
Lucius
Nr. 15 454
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Telegramm. Konzept von der Hand des Staatssekretärs von Jagow
Nr. 224 Berlin, den 26. November 1913
Auf Telegramm Nr. 299 *.
Bei hiesigen Unterredungen hatte ich Herrn Kokowzow gesagt,
daß ich überlegen wolle, ob seine Wünsche erfüllbar seien, dabei jedoch
ausdrücklich betont, daß ich bitten müsse, aus Bereitwilligkeit zur
Überlegung nicht bereits Schluß zu ziehen, daß ich Wünsche für er-
füllbar hielte.
Bitte Herrn Kokowzow mitteilen, daß ich bestrebt gewesen bin,
russischem Desideratum Rechnung zu tragen. Reifliche Prüfung hat
dies zu meinem Bedauern jedoch als untunlich erwiesen. Verhand-
lungen seien bereits soweit abgeschlossen, daß Änderung der sorgsam
abgewogenen Bedingungen nicht mehr möglich. Kommandogewalt ist
nötig, um Reform wirksam zu machen, Sitz Konstantinopel deshalb
kaum zu umgehen, weil sich dort alle Militärbildungsanstalten be-
finden. Bitte auf meine Ausführungen hinweisen, die ich Herrn Ko-
kowzow über Gesamtheit der Gründe gemacht habe, welche zur Ein-
richtung der Militärmission geführt hätten.
* Siehe Nr. 15 453.
220
General wird angewiesen, an Ort und Stelle nochmals zu prüfen,
ob Verlegung seiner Residenz nach anderer Stadt tunlich, doch habe
ich aus angeführten Gründen Zweifel über Möglichkeit einer Änderung.
Werde Herrn Kokowzow noch persönlich schreiben*. Brief folgt
mit Depeschenkasten morgen.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 455
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den russischen
Ministerpräsidenten Kokowzow
Privatbrief. Konzept
Berlin, den 27. November 1913
Nach Ihrer Abreise habe ich es mir angelegen sein lassen, der
Ihnen erteilten Zusage zu entsprechen und die Wünsche, die Sie bei
unserer längeren Unterhaltung über die in türkische Dienste tretenden
deutschen Offiziere äußerten, — Fallenlassen der Kommandogewalt
oder Verlegung des Amtssitzes des Generals von Konstantinopel —
nochmals einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen.
Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen jedoch mitteilen, daß das
Ergebnis derselben ein negatives gewesen ist.
Wenn einerseits die Verhandlungen mit der Pforte schon soweit
abgeschlossen sind, daß sich jetzt schwer eine Änderung der Be-
dingungen vornehmen ließe**, so stellen sich der Realisierung Ihrer
* Siehe das folgende Schriftstück.
•* Gerade am 27. November fand die Unterzeichnung und der Austausch des
Vertrages zwischen General Liman von Sanders und der türkischen Regierung
statt. In dem Vertrage, der erst am 8. Januar 1914 zur Kenntnis des Aus-
wärtigen Amtes gelangte (vgl. Nr. 15 450, Fußnote***), lautete die maßgebende
Bestimmung: „Der Königlich Preußische Generalleutnant Liman von Sanders,
Exzellenz, wird für die Kaiserlich Ottomanische Armee auf die Dauer von fünf
Jahren mit dem Dienstgrade als General der Kavallerie und mit dem Titel wie mit
den Rechten und Pflichten als Chef der Militärmission angestellt und für die ge-
nannte Zeit außerdem Idas Kommando über das erste Armeekorps ausüben. Genann-
ter ist Mitglied des Obersten Kriegsrates. Dementsprechend wird vornehmlich bei
Beratung über nachstehende Fragen seine Stimme beachtet werden, wenngleich Ent-
scheidungen der Stimmenmehrheit bedürfen: Allgemeines über Disziplin; Be-
förderungswesen; Belohnungen und Straf wesen; Organisation, Reorganisation,
Übungen und Ausbildung; Bewaffnung, Ausrüstung, Bekleidung; Intendantur-
und Verpflegungswesen; Medizinal-, Veterinär- und Remontewesen; Aus-
hebungs- und Auslosungswesen; Mobilmachungsvorarbeiten und Befestigungs-
wesen; Statistiken; Eisenbahnlinienwesen, Fernsprecher und Telegraphie; Ver-
kehrs- (Train-), Flugzeug- und Ballonwesen. — Außerdem ist genannter General
direkter Vorgesetzter aller Militärschulen, Militärschüler-Truppenteile, Lehr-
regimenter und Übungslager, sowie aller im Kaiserlich Ottomanischen Heeres-
dienste befindlichen ausländischen Offiziere." — In dem Vertrag befindet sich
221
Wünsche auch die schwerwiegendsten Gründe, insbesondere techni-
scher Natur, hindernd in den Weg. Ich hatte mir erlaubt, Ihnen die
Genesis und Entwickelung des von türkischer Seite ausgegangenen
Planes, deutsche Offiziere zur Reorganisation der türkischen Armee
nach Konstantinopel zu berufen, ausführlicher darzulegen, und mich
auch über die Erwägungen zu ergehen, die für unser Eingehen auf
den Antrag der Pforte maßgebend waren *. Zu meiner lebhaften
Genugtuung habe ich mich bei meiner freundschaftlichen und rück-
haltlosen Aussprache mit Euerer Exzellenz auch in dem Wunsche
begegnet, den durch die Ereignisse des letzten Jahres schwer ver-
letzten türkischen Staatskörper vor weiteren, seine Existenz gefähr-
denden Erschütterungen möglichst zu schützen und, soweit es für die
außerhalb der türkischen Grenze stehenden Freunde angängig ist,
an einer Wiederkräftigung des ganzen Organismus mitzuwirken. Die
von mir gleichzeitig verfolgte Absicht, uns in der Türkei neben den
befreundeten Großmächten, unter die ich auch das benachbarte Ruß-
land rechnen darf, wirtschaftlich zu betätigen und unserer ökonomischen
Arbeit in jenen Landen eine festere Grundlage, als bisher, zu ver-
schaffen, läßt sich nur dann in die Tat umsetzen, wenn der ganze
Organismus allmählich konsolidiert wird. Diesem Zweck allein, nicht
etwa politischen Hintergedanken und Velleitäten sollen die Offiziere
dienen. Die ihnen innerhalb eines begrenzten Arbeitsgebietes zu-
gefallene Aufgabe würde sich nach diesseitigem Erachten an einem
anderen Orte als Konstantinopel kaum lösen lassen. Ich habe nach
Erteilung der prinzipiellen Zustimmung zur Übernahme deutscher Offi-
ziere in die türkische Armee die Ausarbeitung und Erledigung der
Einzelheiten den beteiligten Militärs überlassen, da es sich um rein
technische Fragen handelte, auf die ich, als nicht politisch, mit voller
Absichtlichkeit keinerlei Ingerenz ausüben wollte. Ich möchte es daher
auch jetzt vermeiden, sie mit dem Schein einer hochpolitischen An-
gelegenheit zu umgeben. Ich verharre hierbei auf dem Standpunkt,
den ich eingenommen habe, als einem englischen Admiral in Kon-
stantinopel die Reorganisation bezw. Neubildung der türkischen Flotte
kein Passus, der auf die Dardanellen, die Befestigungen in der Hauptstadt und
die Sicherung der Ordnung in dieser Bezug hatte; es sei denn, daß man die
allgemeine Bestimmung (Artikel 7), wonach General Liman das Recht zustand,
unter Benachrichtigung des türkischen Kriegsministers „in der Türkei Truppen-
teile, Befestigungen, Eisenbahnen und andere Transportmittel, Garnisonen und
anderes zu besichtigen", dahin auffassen will. Hiernach bestätigt sich die An-
gabe, die Großwesir Said Halim Pascha am 15. Dezember zu den Vertretern der
Tripelentente machte: „Die Meerengen, die Befestigungen und die Sicherung
der Ordnung in der Hauptstadt gehören nicht zur Kompetenz des Generals."
Telegramm des russischen Botschafters in Konstantinopel v. Giers an Sasonow
vom 15. Dezember 1913; v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O., S. 654.
Vgl. auch Nr. 15 481, 15 484.
• Vgl. Nr. 15 450, 15 451.
222
mit weit größeren Machtbefugnissen übertragen wurde, als sie jetzt
dem mit der Reorganisation eines Bruchteils der türkischen Armee
beauftragten General eingeräumt werden. — Die letzterem anver-
traute Lehrtätigkeit zwingt ihn zu einer ständigen persönlichen Füh-
lungnahme mit den Zentralbehörden, die von entlegeneren Orten aus
nur schwer erreichbar wären, und zur Benutzung der militärischen
Lehranstalten, die sich sämtlich in Konstantinopel befinden. Adrianopel
würde sich schon deswegen wenig eignen, weil es gewissermaßen
das Bollwerk gegen eventuelle weitere Angriffe der Balkanvölker dar-
stellt und seine Wahl zur Garnison für ein von deutschen Offizieren
befehligtes Reformkorps einen fast tendenziösen Charakter haben
würde* Herr Sasonow hat neuerdings auch Smyrna genannt; der
Wahl des Wohnsitzes auf der kleinasiatischen Seite aber würden Be-
denken, die Euere Exzellenz ebenfalls teilen, entgegenstehen. So er-
scheint mir gerade Konstantinopel als das anodinste.
Den zu entsendenden General mit Kommandogewalt zu versehen,
erschien deswegen unabweislich, weil ohne eine diesbezügliche Kom-
petenz die Reformarbeit von vornherein gelähmt sein und die früheren
Mißstände und ungenügenden Resultate sich nur wiederholen würden.
Bei einer objektiven Würdigung aller einschlägigen Fragen er-
schien die Lösung der dem General Liman von Sanders auferlegten
Aufgaben — und selbst dann auch nur unter erschwerenden Um-
ständen — zurzeit nur in Konstantinopel und auch nur in Verbindung
mit einer Kommandogewalt möglich.
Um jedoch Ihren Wünschen im weitesten Maße Rechnung zu
tragen, soll General Liman beauftragt werden, an Ort und Stelle
nochmals eingehend zu prüfen, ob eine Verlegung des Amtssitzes
von Konstantinopel tunlich erscheint, ohne daß dadurch die Aus-
sichten auf ein Gelingen der Reformtätigkeit vereitelt würden. Wegen
des oben ausgeführten Grundes kann ich mich allerdings dem Zweifel
nicht verschließen, ob dies möglich sein wird.
Vorstehende Darlegungen werden Ihnen, mein sehr verehrter
Freund, erneut beweisen, wie sehr es mir am Herzen gelegen hat, mich
mit Ihnen loyal und offen über die Frage auszusprechen. Ich darf
hoffen, daß die genaue Kenntnis unseres Standpunktes und die Würdi-
gung unserer Gründe dazu führen wird, die Bedenken zu zerstreuen,
die Sie zu Beginn unserer Gespräche hier zu haben schienen.
* Darauf hatte auch Botschafter von Sverwejew den russischen Ministerpräsi-
denten bei dessen Anwesenheit in Berlin hingewiesen. Vgl. Sverwejew an
Sasonow, 2t. November 1913: „Als Staatssekretär Kokowzow erwähnte, daß die
deutsche Militärmission sich vielleicht in Adrianopel niederlassen könne, erlaubte
ich mir, ihn darauf hinzuweisen, daß dieses wahrscheinlich große Erregung in
Bulgarien hervorrufen und uns dieses Land noch mehr entfremden würde;
deshalb wäre Smyrna oder irgendeine andere Stadt in Kleinasien in einer
gewissen Entfernung von der armenischen Grenze ein passender Aufenthaltsort
für die deutschen Offiziere." v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O., S. 640.
223
Ich gebe wiederholt meiner besonderen Freude darüber Ausdruck,
daß es mir bei Ihrem Hiersein vergönnt war, die persönlichen Be-
ziehungen, die uns seit Baltischport verbinden, vertrauensvoll weiter
zu pflegen.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 456
Der Botschafter In Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 663 Konstantinopel, den 28. November 1913
Oroßwesir* sagte mir, der Widerstand gegen die deutsche Militär-
mission gehe von Rußland, speziell von von Giers, aus. Rußland habe
zunächst Frankreich vorgeschickt. Rifaat Pascha sei von Pichon nahe-
gelegt worden, dafür einzutreten, daß die Mission sich in Adrianopel
anstatt in Konstantinopel etabliere**. Ein gleiches Verlangen sei kurz
darauf von Sasonow an Turkhan Pascha gestellt worden. Er, der
Großwesir, habe die Botschafter umgehend angewiesen, zu erklären,
daß die Pforte sich eine Einmischung in die inneren türkischen Ange-
legenheiten energisch verbitte. Die Mitglieder der Mission trügen
türkische Uniform und seien türkische Offiziere.
Wangenheim
• Prinz Said Halim Pascha.
** Das wird bestätigt durch Iswolskys Geheimtelegramm Nr. 555 an Sasonow
vom 26. November (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914,
ed. Fr. Stieve, III, 354 f.; v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O.,
S. 641 f.). Es heißt darin: „H. Pichon bestätigte mir, er teile ganz
Ihre Meinung, daß es unzulässig sei, deutschen Offizieren den Befehl über
die Truppen in Konstantinopel zu übertragen; er habe sich bereits mit
Nachdruck in diesem Sinne sowohl dem hiesigen türkischen Botschafter gegen-
über als auch durch Vermittlung Bompards ausgesprochen. Rifaat Pascha
habe er gesagt, wenn die Pforte auf die Verwirklichung dieses Planes
nicht verzichte, werde Frankreich für sich außerordentliche Entschädigungen
moralischer und politischer Art verlangen. In seiner Unterredung mit mir
äußerte Pichon abermals nachdrücklich, Frankreich könne es nicht zulassen,
daß Deutsche in Smyrna oder Beirut befehligten; er habe der Pforte gegen-
über auf Adrianopel hingewiesen." Vgl. auch Pichons Telegramm an Bot-
schafter Paul Cambon vom 22. November, worin der französische Außen-
minister über seine Unterredung mit Rifaat Pascha sagt: „Je lui ai montre
les graves inconvenients d'une teile mesure, Timpossibilite oü seraient les
Puissances de la Triple Entente de la considerer comme acceptable et la
necessite oü nous serions nous-memes de r£clamer une importante com-
pensation d'ordre moral et politique dans le cas oü le caractere de la
mission allemande en Turquie serait modifie au profit du Gouvernement de
Berlin." Französisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 84.
224
Nr. 15 457
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 300 St. Petersburg, den 28. November 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 223 * und 224 **.
Herr Sasonovv bittet Euere Exzellenz dringend darum, Entschei-
dung über die eminent politische Frage der Residenz des Ge-
nerals nicht diesem selbst zu überlassen, sondern dieselbe mit Seiner
Majestät zu treffen. Er könne nur wiederholen, daß es viele Wege
gebe, um auf die berechtigten russischen Wünsche einigermaßen ein-
zugehen „et de ne pas nous blesser serieusement". Rußland würde
eventuell gezwungen werden, seine Beziehungen mit der Türkei gründ-
lich zu revidieren. Die Tatsache, daß der General in Konstantinopel
ein Armeekorps kommandiere, mache ihn bei jeder Gelegenheit zum
Herrn der Situation „qui devient ainsi intolerable". Die Franzosen
seien ganz seiner Ansicht***, von London habe er noch keine Ant-
wort f. Graf Benckendorff, der augenblicklich hier ist, wäre jeden-
* Vgl. Nr. 15 452, S. 219, Fußnote.
** Siehe Nr. 15 454.
*** Vgl. Nr. 15 456, Fußnote**.
f Immerhin lag Sasonow bereits ein Telegramm des russischen Geschäfts-
trägers in London von Etter vom 26. November (v. Siebert, Diplomatische
Aktenstücke, a. a. O., S. 641) vor, nach dem Unterstaatssekretär Sir A. Nicol-
son sich ebenfalls auf den Standpunkt stellte, daß die Unterstellung der Kon-
stantinopeler Garnison unter einen deutschen General nicht wünschenswert sei.
Am 27. telegraphierte dann Sir E. Grey an den englischen Geschäftsträger in
Petersburg O'Beirne, er teile Sasonows Ansicht, daß Rußland die Unterstel-
lung der Konstantinopeler Garnison unter einen deutschen General nicht zu-
lassen könne, rate aber, die freundschaftlichen Verhandlungen mit Deutschland
fortzusetzen, um es zu einer Änderung des ursprünglichen Plans zu bewegen,
z. B. einem deutschen Offizier die Leitung der Kriegsschule zu übertragen. In
einem Kommando außerhalb Konstantinopels, z. B. in Adrianopel, wollte Sir
E. Grey keinen Ausweg sehen; auch von Kompensationen, auf die nach
dem Vorgehen Pichons (vgl. Nr. 15 456, Fußnote**) auch Sasonow sein Augen-
merk richtete (vgl. sein Telegramm an Baron von Etter vom 25. November,
v. Siebert, a. a. O., S. 641), riet er ab, da eis schwer sein dürfte,
derartige Kompensationen, die überdies den ersten Schritt zu einer Auf-
teilung der Türkei bilden dürften, zu finden. Geheimtelegramm von Etters an
Sasonow Nr. 795 vom 28. November 1913, Der Diplomatische Schriftwechsel
Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 359 f. Nach Etter hätte auch der
französische Botschafter in London Paul Cambon die Unzweckmäßigkeit von
Kompensationsforderungen anerkannt. Das hinderte Cambon keineswegs, in
der Angelegenheit im Einverständnis mit Sir A. Nicolson, der sich bereits am
27. November auf den Standpunkt stellte, „que la main-mise d'un commandant
allemand sur le premier corps equivaut ä une sorte de dictature de l'Allemagne",
15 Die Große Politik. 38. Bd. 225
falls vollkommen überrascht gewesen. Der Minister gab noch nicht
alle Hoffnung auf, daß Euere Exzellenz auf seine dringenden Bitten
eingehen würde. Wenn dem General die Entscheidung überlassen
würde, sei es gar nicht zweifelhaft, daß sich derselbe aus Bequemlich-
keits- und anderen Rücksichten für Konstantinopel aussprechen würde.
Ob uns denn so wenig an der Freundschaft Rußlands läge, das
auch als Absatzgebiet für uns viel wichtiger sei als die ganze Türkei.
Es handele sich doch für uns hierbei nicht um eine Prestigefrage. Er
erinnere daran, daß England der Türkei seinerzeit für Armenien die
Entsendung von Gendarmen versprochen habe. Rußland habe ge-
beten, dies zu unterlassen, da ihm die Anwesenheit derselben in Arme-
nien nicht angenehm ist. England habe dem russischen Wunsche
dann entsprochen, ohne daß sein Prestige im geringsten gelitten
habe. Von uns erbitte er viel weniger. Adrianopel sei nur einige
Stunden von Konstantinopel entfernt usw. In der Presse* und Duma
würde die Sache immer lebhafter besprochen. Er wisse nicht mehr,
was er auf Anfragen antworten solle.
als Scharfmacher aufzutreten. Am selben Tage lieferte er Pichon die Stichworte
für eine möglichst schroffe diplomatische Behandlung des Gegenstandes: „A
premiere vue, il me semble possible d'insister sur le fait que l'adhesion de
la Sublime Porte aux exigenoes de l'Allemagne, c'est la fin de la Turquie,
c'est pour le Sultan et ses Ministres une menace perpetuelle, une mise en
etat de vasselage." Telegramm P. Cambons an Pichon vom 27. November 1913,
Französisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 90.
* In Angriffen auf Deutschland tat sich vor allem die „Nowoje Wremja" her-
vor. In einem Artikel vom 26. November hieß es z. B., es handele sich bei der
neuen deutschen Militärmission nicht um die Überlassung militärischer Lehr-
meister, sondern um die formelle Unterordnung der türkischen Armee unter
deutsches Kommando, derart, daß die türkische Armee ihre nationale Existenz
völlig einbüße und ein „koloniales Hilfskorps der deutschen Armee" werde.
Deutschland sei schon Herr der Bagdadbahn und der wichtigsten türkischen
Häfen an der Küste des Mittelmeers und habe die ganze wirtschaftliche Zukunft
des ottomanischen Reiches in seine Hand genommen; jetzt mache es sich zum
tatsächlichen Herrn von Konstantinopel und bemächtige sich der politischen
Gewalt über das ganze türkische Reich. „Sollte der Präsident des russischen
Ministerrats wirklich seine Zustimmung dazu gegeben haben?" In einem Bericht
vom 26. November (Nr. 341) bemerkte Freiherr von Lucius zu diesen Aus-
lassungen: „Ich habe Grund, anzunehmen, daß die jetzt einsetzende Kampagne
gegen unsere Militärmission auf Inspirationen von der Sängerbrücke zurück-
zuführen ist. Denn Herr Sasonow sagte mir schon vor einiger Zeit, daß sich
die Presse bisher bloß aus dem Grunde mit der Angelegenheit nicht beschäftigt
habe, weil sie durch den Beilis-Prozeß (vgl. darüber Schultheß' Europäischer
Geschichtskalender Jg. 1913, S. 621 f.) und den Dumaboykott hypnotisiert
gewesen sei." Ähnlicher Auffassung scheint man in London gewesen zu sein;
wenigstens berichtete Botschaftsrat von Euer am 28. November warnend: „Hier
befürchtet man, daß der feindselige Ton der russischen Presse, z. B. der
,Nowoje Wremja', zum entgegengesetzten Ergebnis führen müsse, da Kaiser
Wilhelm sich verletzt fühlen könne." Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis
1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 360.
226
Werde Kokowzow das Schreiben* Euerer Exzellenz morgen
übergeben und auch mit ihm auftragsgemäß sprechen.
Lucius
Randvermerk Zimmermanns:
Die Türken haben bereits die direkte russische Vorstellung als Einmischung in
eine innere Angelegenheit abgelehnt **. Wir können uns, wenn wir nicht unsere
Position in Konstantinopel gänzlich zugunsten Rußlands aufgeben wollen, auf
nichts mehr einlassen als auf freundliche ausweichende Antworten.
Nr. 15 458
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Geschäftsträger in Petersburg Freiherrn von Lucius
Telegramm. Konzept von der Hand des Staatssekretärs von Jagow
Nr. 225 Berlin, den 29. November 1913
Auf das Telegramm Nr. 300*** zur Verwertung.
So hoch erfreulich es mir war, mich mit Herrn Kokowzow freund-
schaftlich und offen über Angelegenheit auszusprechen, so schwierig
ist Situation für uns durch Indiskretion des „Temps" f über unsere
Unterredung geworden. Wenn Parlament und öffentlicher Meinung
gegenüber nach vertraulicher Konversation mit russischem Minister
für uns eine Änderung an sich möglich gewesen wäre, so ist durch Ein-
greifen französischer Preßstimmen Situation vollständig verscho-
ben. Auch unsere Presse hat die Frage des „russischen Protestes" auf-
gegriffen, und die Parteiführer fragen wiederholt nach Stand der An-
gelegenheit. Für uns waren bisher lediglich technische Gründe für
Wahl der Residenz und Kommandogewalt maßgebend; dadurch daß sie
an Öffentlichkeit gezogen wurde, ist Angelegenheit eine politische ge-
worden. Augenblicklich würde jede Konzession als ein Zurückweichen
vor französischer und russischer Drohung einen Sturm der Entrüstung
heraufbeschwören. In gleicher Weise scheint sich öffentliche Meinung
in Türkei zu erregen. Ich halte trotzdem an Zusage fest, daß noch-
malige Prüfung an Ort und Stelle, ob Änderung tunlich erscheint, er-
folgen soll. Die alsdann erfolgende Entscheidung bleibt selbstverständ-
lich Seiner Majestät dem Kaiser auf meinen Vortrag vorbehalten ff.
v. Bethmann Hollweg
* Siehe Nr. 15 455.
•• Vgl. Nr. 15 456.
*** Siehe Nr. 15 457.
f Der „Temps" hatte behauptet, Ministerpräsident Kokowzow habe gelegent-
lich seines Berliner Besuchs gegen die Unterbringung der deutschen Militär-
mission in Konstantinopel Protest eingelegt und beim Kaiser persönlich Vor-
stellungen erhoben.
ff Der letzte Satz ist ein Zusatz von der Hand des Reichskanzlers. Eine Notiz
Bethmann Hollwegs dazu besagt: „Sind Sie mit dem Zusatz, den ich für nötig
iß* 227
Nr. 15 459
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 302 St. Petersburg, den 30. November 1913
Herr Kokowzow, dem ich gestern abend Schreiben Euerer Exzel-
lenz* überreichte, war dankbar für Erklärungen und betrachtete An-
gelegenheit ruhiger als Sasonow. Ministerpräsident versicherte mir
wiederholt, daß er unbedingtes Vertrauen in Euere Exzellenz hätte; er
habe in seiner für Zaren bestimmten Aufzeichnung diesem Vertrauen
deutlich Ausdruck gegeben. Als ich Herrn Kokowzow im Laufe der
Unterhaltung anheimstellte, auch Schreiben Euerer Exzellenz Seiner
Majestät vorzulegen, ging Ministerpräsident lebhaft darauf ein. Es
schien Herrn Kokowzow sogar angenehm zu sein, Darlegung Euerer
Exzellenz in Livadia verwerten zu können. Ministerpräsident ließ
seine für Zaren bestimmte Aufzeichnung kommen und las mir län-
gereu Passus daraus vor, in welchem von Berliner Äußerungen
Euerer Exzellenz über die hundertjährige traditionelle Freundschaft
Deutschlands und Rußlands sowie die von Anfang der Amtsführung
Euerer Exzellenz an Rußland gegenüber beobachtete freundliche
Politik die Rede ist. Ministerpräsident reist heute abend Livadia.
Lucius;
Nr. 15 460
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 232 Wien, den 2. Dezember 1913
Hilmi Pascha** teilt mir mit, er habe soeben französischem Bot-
schafter Dumaine — der behauptet habe, Deutschland habe Anregung
zur Militärmission gegeben, und der Kompensationen für Rußland als
notwendig bezeichnet habe — gesagt, Initiative sei ausschließlich von
türkischer Seite erfolgt. Die Türkei habe die Mission nicht nur vor-
geschlagen, sondern inständig darum gebeten. Von Kompensationen
für andere Mächte könne keine Rede sein. Wenn Deutschland die
halte, einverstanden? Wenn auch nicht jetzt unmittelbar, sollten wir doch
demnächst meo voto nach irgendeinem Weg suchen, wie wir den Russen, wenn
auch in gemäßigter Weise, entgegenkommen können."
* Siehe Nr. 15 455.
** Türkischer Botschafter in Wien.
228
Mission senden werde, so würde sie in der Türkei mit offenen Armen
empfangen werden; man habe sie in erster Linie deshalb erbeten, um
endlich die Politik aus der türkischen Armee verschwinden zu lassen.
Rußland und alle Mächte, die so oft beteuert hätten, sie wünschten
eine Reorganisation und Konsolidierung der Türkei, könnten diesen
ersten Schritt in dieser Richtung nur mit Oenugtung begrüßen.
Ts chirs chky
Nr. 15 461
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenhelm
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 666 Konstantinopel, den 3. Dezember 1913
Großwesir sagte mir, daß bisher kein Botschafter die Frage der
deutschen Militärmission amtlich bei ihm zur Sprache gebracht habe*.
* Tatsächlich hatte der französische Außenminister Pichon am 29. November
durch P. Cambon bei der englischen Regierung eine gemeinsame Demarche
Englands und Frankreichs in Konstantinopel anregen lassen, um der Pforte die
j, unerträglichen Folgen" der Unterstellung des Konstantinopeler Armeekorps
unter einen deutschen General klarzumachen. In dem diesbezüglichen Telegramm
bediente sich Pichon der Stichworte, die ihm P. Cambon am 27. November (vgl.
Nr. 15 457, Fußnote f) souffliert hatte: „Ce serait mettre, en somme, le corps
diplomatique, qui reside dans la capitale de la Turquie, sous la garde de
l'Allemagne; ce serait ä peu pres livrer ä cette Puissance la cle des Detroits;
ce serait rendre possible, pour le general allemand des interventions militaires
susceptibles de porter une atteinte directe ä la souverainete du sultan; ce
serait rompre l'equilibre des Puissanoes, qui est la garantie d'existence de
l'Empire ottoman; ce serait mettre eventuellement ces Puissances en antagonisme
sinon metne en conflit avec la mission militaire allemande, au cas oü elles
auraient ä exercer quelque action ou demonstration ä Constantinople" (Franzö-
sisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 92). Nach einem Telegramm
Pichons an Botschafter Bompard in Konstantinopel vom 3. Dezember (Französisches
Gelbbuch, a. a. O., III, 96) hätte die englische Regierung in der Tat Instruktionen in
diesem schroffen Sinne nach Konstantinopel gesandt. Das wird aber sehr zweifelhaft
gemacht durch das Telegramm des russischen Geschäftsträgers von Etter an
Sasonow vom 2. Dezember: „Die Verhandlungen zwischen den Kabinetten von
London und Paris haben dahin geführt, daß beide Regierungen beschlossen
haben, ihre Vertreter in Konstantinopel zu beauftragen, bei der Pforte offiziell
anzufragen, ob tatsächlich die Absicht besteht, das Kommando über die tür-
kischen Truppen in Konstantinopel deutschen Offizieren zu übertragen. Alles
weitere wird von der Antwort der Pforte abhängen." v. Siebert, Diplomatische
Aktenstücke, a. a. O., S. 643. Allerdings hat auch Sasonow am 12. Dezember be-
hauptet, daß ein Telegramm Sir E. Greys an Sir G. Buchanan ein sehr scharfes
Vorgehen in Konstantinopel annonciert habe (v. Siebert, a. a. O., S. 650 f.).
Die uneinheitliche Haltung der Ententemächte verhinderte jedenfalls zunächst
die Durchführung der geplanten Kollektivdemarche. Vgl. Nr. 15 474. Auch
der am 2. Dezember in Paris eingetretene Sturz des Kabinetts Barthou und
229
Nur Herr Bompard * habe unter ausdrücklicher Betonung, daß er ohne
Auftrag spreche, ihn auf die Erregung aufmerksam gemacht, welche
in Rußland anläßlich der Berufung General Limans herrsche. Die
Angelegenheit berühre nach Bompards Ansicht die Meerengenfrage2.
Den an letzterer interessierten Mächten könne es nicht gleichgültig
sein, wenn ein deutscher General am Bosporus ein Armeekorps kom-
mandiert2. Großwesir hat dem französischen Botschafter kurz ge-
antwortet, daß Herr von Liman nicht als deutscher, sondern als
türkischer Offizier sein Kommando führen werde.
Aus Äußerungen von Mitgliedern der französischen und russischen
Botschaft hervorgeht, daß zwischen den beiden Botschaftern geprüft
wird, auf welche Weise ein Zusammenhang zwischen deutscher Mis-
sion und Meerengenfrage konstruiert werden könne*. Englischer Bot-
schafter beteiligte sich nicht an diesen Besprechungen, wohl weil
englischer Admiral die türkische Hochseeflotte innerhalb und außer-
halb der Meerengen kommandiert, und weil heute erst Armstrong-
vertrag durch Sultan sanktioniert ist, wonach bei Ismid unter englischer
Leitung eine base navale für die türkische Flotte errichtet werden soll.
der Ersatz Pichons durch den neuen Kabinettschef Doumergue dürfte ver-
zögernd gewirkt haben.
* Ein solcher Zusammenhang ergab sich am ersten aus der Aufrollung der
Kompensationsfrage, die dann auch trotz der Warnungen Sir E. Greys und
P. Cambons (vgl. Nr. 15 457, Fußnote f) auf der Tagesordnung blieb. Nach einem
Telegramm des russischen Geschäftsträgers von Etter an Sasonow vom 2. Dezember
(v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O., S. 643) gaben England und Frank-
reich für den Fall, daß gemeinschaftliche Vorstellungen der Ententemächte in Kon-
stantinopel gegen die deutsche Militärmission keinen Erfolg haben sollten, „die Not-
wendigkeit von Garantien für alle Mächte, ganz besonders für Rußland, hin-
sichtlich der Dardanellen, der Einfahrt und der Ausfahrt in den Bosporus" zu.
Am 7. Dezember gab Sasonow darauf die Parole aus: „Was die Kompensationen
anbelangt, so wollen wir sie erst anläßlich weiterer Schritte erwähnen, nach-
dem wir uns über deren Natur geeinigt haben werden" (v. Siebert, a. a. O., S. 644).
Tags darauf überreichte Sasonow dem Zaren einen umfänglichen Bericht über die
„historische Frage der Meerengen und der Bedeutung ihres Wertes für uns in poli-
tischer Beziehung" (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911 — 1914, ed. Fr.
Stieve, III, 374 ff.). Der Sasonowsche Immediatbericht bringt zwar die Meerengen-
frage nicht ausdrücklich in Zusammenhang mit der Frage der deutschen Militär-
mission, scheint seine Spitze sogar in erster Linie gegen Bulgarien zu richten,
aber er nimmt doch bereits in Aussicht, daß die Meerengenfrage schwerlich
anders als auf dem Wege über europäische Verwicklungen einen Schritt vorwärts
kommen werde. „Diese Verwicklungen würden uns, nach den gegenwärtigen
Verhältnissen zu urteilen, im Bunde mit Frankreich und möglicherweise, aber
nicht ganz sicher, auch mit England finden oder mindestens gegenüber einer
wohlwollenden Neutralität des letzteren. Im Falle von europäischen Verwick-
lungen würden wir auf dem Balkan auf Serbien und vielleicht auch auf
Rumänien zählen können." Es ist immerhin auffällig, daß Sasonow diese weit-
ausschauenden und zur Erreichung der historischen Ziele Rußlands sogar vor
der Perspektive eines Weltkrieges nicht zurückschreckenden Betrachtungen in
einem Momente dem Zaren vorgetragen hat, wo die Liman Sanders-Affäre die
Situation beherrschte.
230
Auch französischer Militärattache* äußerte sich zu Dschemal** ver-
ständig über die Mission, gegen die vom französischen Standpunkt
nichts einzuwenden sei, vorausgesetzt, daß Frankreich von den mili-
tärischen Lieferungen nicht ganz ausgeschlossen werde.
Großwesir legte mir nahe, zu veranlassen, daß der für Ende des
Monats angekündigte Besuch S. M. S. „Goeben" verschoben werde,
bis die russische Aufregung sich gelegt habe. Auch bat er mich, Kon-
stantinopel nicht zu verlassen, bis General Liman sich ohne meine Be-
gleitung dem Sultan, auf der Pforte und den Botschaftern vorgestellt
habe.
* Oberstleutnant Maucorps.
** Militärgouverneur von Konstantinopel. Vgl. die ausführlichen Mitteilungen
Ahmed Dschemal Paschas (Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes,
S. 71 ff.), der hier freilich den französischen Militärattache als einen der-
jenigen Franzosen und Engländer nennt, „die in dieser Frage sozusagen
noch mehr Lärm machten als die Russen": „Ich kann die Qualen nicht be-
schreiben, die ich bei den Unterredungen mit dem französischen Militär-
attache Maucorps, dem französischen Botschafter Bompard, dem Botschafts-
rat Boppe, dem Gendarmerieinspektor General Baumann und dem Major Sarrou
zu ertragen hatte. Schließlich sagte ich ihnen eines Tages: ,Meine Herren!
Sehen Sie, wie wenig wohlwollend Sie sind! Über die Lage sind Sie doch voll-
ständig im Bilde. Sie selbst sind ebenso überzeugt wie wir, daß wir das Recht
haben, eine deutsche Reorganisationsmission kommen zu lassen. Was die Frage
anbelangt, ob die deutschen Offiziere fähig sind, eine Armee zu organisieren
oder nicht, so könnte sie zwar diskutiert werden, aber sie kann hier nicht in
Betracht kommen, da wir nun einmal von der Fähigkeit jener überzeugt sind
und unsere Wahl auf sie gefallen ist. Ein Land hat übrigens drei Arten der be-
waffneten Macht: erstens die Armee, zweitens die Marine, drittens die Gen-
darmerie. Von diesen haben wir die Organisation der ersten den Deutschen,
die der zweiten den Engländern und die der dritten den Franzosen anver-
traut. Wozu also der Streit? Wollen Sie, daß wir den Russen die Reorgani-
sation unserer Armee übertragen? Und dann erwägen Sie doch, was die Russen
sagen: Wenn die deutschen Offiziere das Kommando des ersten Armeekorps
übernehmen, so würde die Defensivmacht der Meerengen gestärkt werden.
Dies bedeutet, daß, wenn wir dieselbe Mission unter denselben Bedingungen
den Franzosen oder Engländern anvertrauen würden, die Russen denselben Ein-
wand machen müßten, denn ich kann nicht annehmen, daß die französischen
oder englischen Offiziere mit der Übernahme des Kommandos des ersten Armee-
korps den Zweck verbinden würden, nötigenfalls die Meerengen den Russen
zu öffnen. Sie erwecken mithin durch Ihre Proteste in uns notwendigerweise
den Glauben, daß Sie uns gegenüber keine günstigen Absichten hegen/ Da sie
sich der Logik dieser Worte nicht verschließen konnten und nicht wußten,
was sie antworten sollten, sagten mir diese Herren immer wieder, indem sie
damit eingestanden, daß sie sich im Unrecht befanden: ,Was wollen Sie? Erstens
sind die Russen unsere Verbündeten, und wir sind daher gezwungen, alle ihre
Forderungen zu unterstützen, und zweitens sind die Deutschen unsere Feinde,
und wir sind gezwungen, an die Gefahren für uns zu denken, die allen ihren
Unternehmungen innewohnen. Und selbst wenn gar keine Gefahr vorhanden
• wäre, so erachten wir es für unsere patriotische Pflicht, uns zu sagen: Da es
sich um etwas handelt, was die Deutschen für sich in Anspruch nehmen, müssen
wir dem widersprechen'."
231
Herr von Giers erhob mir besonders zwei Bedenken gegen die
Mission: Er könne nicht als Botschafter auf der Pforte erscheinen, so-
lange diese unter dem Schutz einer von einem deutschen Offizier be-
fehligten Truppe stehe3. Außerdem sei es nicht angängig, daß die
Forts am Bosporus zum Machtbereich der Mission gehörten. In-
zwischen habe ich festgestellt, daß die Truppen auf diesen Forts nicht
zum ersten Armeekorps gehören. Die Bewachung der Pforte könnte
durch Truppen geschehen, die vom ersten Korps an eine neu einzu-
richtende selbständige Kommandantur abgegeben werden.
Über sonstige dem russischen Standpunkt zu machende Kon-
zessionen werde ich mich mit General Liman beraten; doch wird es
kaum möglich sein, die Russen zu befriedigen, welche die Mission nur
deshalb beanstanden, weil diese eine Stabilisierung der Lage in Kon-
stantinopel zur Folge haben und deshalb die auf innere Unruhen und
den Sturz der Jungtürken gerichteten russischen Bestrebungen fast
aussichtslos machen wird.
Wangenheim
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer verkürzten Abschrift des
Schriftstücks:
1 Der Russe hat ihn vorgeschoben
2 !
3 II
Bemerkungen des Kaisers am Schluß des Schriftstücks:
Die Russen und Franzosen werden einfach frech und unverschämt W.
Ich habe S. M. dem Zaren anläßlich seiner Anwesenheit in Berlin im Juni
Mittheilung von der Bitte der Türkei, um eine deutsche Offiziersmission, in
Gegenwart S. M. des Königs von England gemacht. Derselbe sowie König
Georg waren völlig einverstanden. Der König sagte: It is quite natural that
they should turn to you for officers to reorganize their Army. We are
asked to send people to reorganize their Police & Gendarmerie, which we
shall do. Der Zar sagte noch, daß es nöthig sei, die Tschataldscha-Linie
sehr stark zu befestigen, damit die Bulgaren nicht hineinkönnten. W.
Nr. 15 462
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Geschäftsträger in London von Kühlmann
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 2066 Berlin, den 4. Dezember 1913
Bezugnehmend auf die Ew. pp. anderweitig zugegangenen Wei-
sungen lasse ich Ihnen anbei Abschrift eines auf den Bau des Docks
in Ismid bezüglichen Berichts des Kaiserlichen Botschafters in Kon-
stantinopel vom 3. d. Mts. * ergebenst zugehen, der meine veränderte
Stellungnahme in der Angelegenheit veranlaßt hat.
* Es hieß in dem Telegramm Freiherrn von Wangenheims vom 3. Dezember
(Nr. 668) über die von der Türkei durch den Armstrong- Vertrag (vgl. Nr. 15 461)
232
Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß die Klagen der russischen
Regierung über unser Verhalten in der Frage der Militärmission
nicht ohne Eindruck auf Sir E. Grey geblieben sind. Wenn man den
Meldungen der russischen und französischen Presse Glauben schenken
darf, wird jetzt im Schöße der Tripelentente der Gedanke erwogen, an
die Pforte mit dem Verlangen nach Kompensationen für die uns angeb-
lich zugestandene Sonderstellung heranzutreten*. Ich habe Ew. pp.
bereits mit dem nötigen Material versehen, um das Unbegründete des
russischen Standpunktes nachzuweisen. Die Ausführungen des Kaiser-
lichen Botschafters in Konstantinopel, denen ich mich nur anschließen
kann, werden Ihnen eine weitere Handhabe bieten, Sir E. Grey durch
Hinweis auf die Analogie des deutschen und englischen Vorgehens
und die Identität der deutsch-englischen Interessen in der Frage von
einer Stellungnahme abzuhalten, die, wie ich Sie bitte, dem Minister
gegebenenfalls nicht zu verschweigen, hier peinlich empfunden werden
würde.
Dem Takt Ew. pp. muß ich es überlassen, wie Sie die Unterredung
einleiten und ob Sie etwa die vorstehend erwähnten Preßnachrichten
zum Ausgangspunkt Ihrer Darlegungen machen wollen. Wir müssen
es natürlich vermeiden, Mißtrauen gegen die englische Politik an den
Tag zu legen. Es darf uns das aber nicht von dem Versuch abhalten,
Rückfällen Englands in eine einseitige Ententepolitik, die in ihren Folge-
wirkungen die Entwicklung des deutsch-englischen Annäherungspro-
zesses stören könnte, rechtzeitig vorzubeugen.
Einem Bericht über das Veranlaßte werde ich mit Interesse ent-
gegensehen.
JagoW
Nr. 15 463
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Konzept von der Hand des Unterstaatssekretärs Zimmermann
Nr. 396 Berlin, den 4. Dezember 1913
Rußland beharrt in freundschaftlichen Vorstellungen wegen Militär-
mission. Hauptargument für Residenz deutschen Generals in Kon-
eingegangene Verpflichtung, die in Konstantinopel zu bauenden Schiffe in dem
Dock zu Ismid auf Stapel zu legen und die dazugehörigen Panzerplatten,
Artillerie usw. in England zu bestellen: „Es handelt sich um eine Parallel-
aktion zu der Armeereform durch uns. Deutschland und England finden sich
zusammen in ihren Bestrebungen, die Türkei zu kräftigen und damit zu erhalten.
Der Dockvertrag bedeutet demnach einen harten Schlag für Rußland und
erleichtert uns die Vertretung der Mission Liman gegenüber der Tripelentente."
• Vgl. Nr. 14 456, Fußnote**, Nr. 14 457, Fußnote f.
233
stantinopel erscheint Analogie mit englischem Admiral. Bitte genaue
Angabe über dessen Residenz und Kompetenz. Hat er Kommando-
gewalt wie unser General oder sind Engländer nur Instrukteure?
Drahtantwort.
Jagow
Nr. 15 464
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 670 Konstantinopel, den 4. Dezember 1913
Irade für Ernennung General Limans ist erteilt. Der das I. Armee-
korps betreffende Passus hat Zusatz erhalten, „dessen Generalkom-
mando in Konstantinopel liegt und dessen Truppenteile in Konstanti-
nopel und Umgebung garnisonieren". Wortlaut Irades folgt tele-
graphisch.
5000 Pfund Türkisch stehen bei türkischer Botschaft Berlin zur
Verfügung General Limans. Ich habe festgestellt, daß Überweisung
durch Deutsche Bank erfolgt ist. Anheimstelle sofortige telegraphische
Benachrichtigung General Limans.
Großwesir erneuerte mir Bitte, Mission möge möglichst bald ein-
treffen, damit jeder weiteren Diskussion Spitze abgebrochen werde*.
Wangenheim
Nr. 15 465
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 671 Konstantinopel, den 5. Dezember 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 670**.
Wortlaut des Irade nach Diktat Kriegsministers*** an Herrn von
Strempel:
* Die Ankunft General Limans in Konstantinopel erfolgte am 14. Dezember.
"* Siehe Nr. 15 464.
*** Izzet Pascha.
234
„Der Königlich Preußische Generalleutnant Liman von Sanders
wird mit dem Dienstgrad als Divisionsgeneral erster Klasse für eine
Zeit von fünf Jahren unter Aufnahme in die türkische Armee zum Vor-
sitzenden der Reformkommission, zum Kommandeur des ersten Armee-
korps, dessen Generalkommando sich in Konstantinopel befindet und
dessen Truppen in Konstantinopel und Umgebung garnisonieren, und
ferner zum Mitglied des Kriegsrats ernannt.
Der zwischen dem Marineminister Mahmud Pascha als stell-
vertretendem Kriegsminister und dem genannten General am 15./28.
Oktober und am 14./27. November d. Js. unterzeichnete und aus-
getauschte Vertrag wird gemäß Beschlußfassung des Ministerrats durch
dieses Irade in allen Punkten bestätigt.
Mit der Ausführung dieses kaiserlichen Irades wird der Kriegs-
minister beauftragt."
Wangenheim
Nr. 15 466
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandten von Treutier,
z. Z. in Stuttgart
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 128 Berlin, den 5. Dezember 1Q13
Zum Vortrag.
Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg telegraphiert:
„Ich fand heute Herrn Sasonow, der mich schon wenige Stunden
nach meiner Rückkehr zu sich bitten ließ, in der Frage der deutschen
Militärmission in Konstantinopel äußerst nervös. Trotz eingehender
Verwertung der mir an die Hand gegebenen Argumente gelang es mir
nicht, ihn davon zu überzeugen, daß die Anwesenheit deutschen Gene-
rals in der türkischen Hauptstadt der politischen Bedeutung, die er ihr
beilege, vollkommen entbehre. Minister blieb dabei, daß Besetzung
der höheren Kommandostellen des in Konstantinopel stehenden Armee-
korps die dortige Garnison tatsächlich zu einer deutschen mache, auf
welche gestützt deutscher Botschafter ein für die anderen Mächte, be-
sonders für Rußland unerträgliches politisches Übergewicht erlange.
Herr Sasonow erklärte, die ihm gewordene Mitteilung, daß
das letzte Wort in der Angelegenheit nicht allein von mili-
tärischer Seite gesprochen werden würde, sondern daß nach noch-
maliger Prüfung durch den General Seine Majestät der Kaiser
nach Vortrag Euerer Exzellenz die definitive Entscheidung treffen
werde*, habe ihn sehr beruhigt, da er nicht annehmen könne,
* Vgl. Nr. 15 458.
235
daß diese Entscheidung in einem für Rußland unfreundlichen Sinne
ausfallen werde. Würde aber schließlich der deutsche General wirk-
lich das Kommando über das Korps in Konstantinopel erhalten, so
wäre dies ein Schlag für die Freundschaft Rußlands und Deutsch-
lands, und unser in neuerer Zeit in so erfreulicher Weise an*
gebahntes Freundschaftsverhältnis werde sich von diesem Schlag nicht
leicht erholen. Denn Deutschland würde dadurch zeigen, daß ihm die
türkische Freundschaft höher stünde als die russische. Minister wollte
nicht zugeben, daß in diesen Worten starke Übertreibung der Bedeutung
der ganzen Frage liege. Er bemerkte weiter, daß er bis jetzt in Kon-
stantinopel noch keinerlei Schritte getan habe und sie auch nicht tun
werde, solange nicht das letzte Wort gesprochen sei. Falls aber seine
Vorstellungen in Berlin kein Gehör fänden, werde Rußland und wahr-
scheinlich auch Frankreich und England nicht umhin können, von der
Türkei Kompensationen zu verlangen. Wenn dann die Kabinette der
Tripelentente beanspruchen würden, daß ebenso wie eines der türki-
schen Armeekorps deutsch andere russisch, französisch und englisch
würden, so würde damit tatsächlich Aufteilung der Türkei beginnen.
Ich wies Herrn Sasonow unter anderem darauf hin, daß Eingehen auf rus-
sische Wünsche der Kaiserlichen Regierung jetzt angesichts der jüngsten
Indiskretionen französischer und englischer Presse nahezu unmöglich
gemacht sei. Minister bat Euerer Exzellenz zu versichern, daß er diese
Indiskretionen auf des lebhafteste bedauere und selbst keine Schuld
daran trage. Er knüpfte daran die dringende Bitte, Euere Exzellenz
möchten sich durch diese Preßtreibereien nicht davon abhalten lassen,
auf die , durchaus berechtigten' russischen Wünsche Rücksicht zu
nehmen. Gegen die Übertragung des Kommandos in Adrianopel,
welche Rußland ebenfalls nicht angenehm sein könne, wolle er ,aus
Freundschaft für Deutschland' nichts einwenden, es sei aber für
Rußland von , eminent politischer Bedeutung', daß deutscher General
nicht in Konstantinopel kommandiere."
Russischer Botschafter las mir gestern Instruktionen etwa folgenden
Inhalts vor: Rußland wünsche Angelegenheit der Militärmission mit
uns wie bisher vollständig freundschaftlich zu behandeln. Da wir als
Grund für nicht mehr mögliche Abänderung auch angegeben hätten,
daß Verhandlungen mit Türkei bereits zu weit vorgeschritten seien,
werde Rußland in Konstantinopel darauf hinwirken, daß Pforte Kom-
mando nach Adrianopel verlege.
Halte nicht für ausgeschlossen, daß Rußland durch die ihm zur
Verfügung stehenden starken Druckmittel, zum Beispiel Versagung
der Zustimmung zur Zollerhöhung, bei Pforte mit seinem Wunsch
schließlich durchdringt. Möchte daher anheimstellen, daß, falls Pforte
nachgibt, auch wir uns mit Adrianopel abfinden, da dies schließ-
lich innere türkische Angelegenheit ist.
J ago w
236
Nr. 15 467
Der Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandter von Treutier,
z. Z. in Stuttgart, an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 139 Stuttgart, den 6. Dezember 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 128*.
Seine Majestät befehlen, daß wir zunächst auf unserem Standpunkt
stehenbleiben und uns nur dann mit Adrianopel begnügen, wenn uns
die Türken sagen, daß sie nicht anders könnten.
Euere Exzellenz möchten aber angesichts dieser von Seiner Majestät
sehr scharf beurteilten „russischen Unverschämtheit" dem russischen
Botschafter gegenüber recht kühle Sprache führen. Für Gefälligkeiten
Rußland gegenüber seien Seine Majestät vorläufig nun nicht mehr
zu haben.
Treutier
Nr. 15 468
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 672 Konstantinopel, den 5. Dezember 1913
[pr. 6. Dezember]
Antwort auf Telegramm Nr. 396**.
Admiral Limpus befehligt laut türkischen Staatsgesetzes vom
6. Juni 1912, veröffentlicht in dem hiesigen offiziell herausgegebenen
und daher auch den Russen bekannten Gesetzblatt „Takwimiwekai",
die ganze türkische Kriegsflotte. Daß der Admiral effektive Kom-
mandogewalt ausübt, geht außerdem einwandfrei aus dem mir ver-
traulich vorliegenden Vertrag zwischen ihm und dem türkischen
Marineminister hervor.
In das veröffentlichte Staatsgesetz ist aus verständlicher Rücksicht-
nahme auf die öffentliche Meinung, die wegen der großen Gerecht-
samen des Engländers von einem „Nebensultan für die Marine"
sprach, der verschleiernde Zusatz „als Instrukteur" aufgenommen.
De facto wird diese Einschränkung aber schon in demselben Satz
durch die Worte „das effektive Kommando" ausgeglichen. Der ver-
öffentlichte Text konstatiert auch das Recht des Admirals — unter
Wahrung des Budgets und des Reglements — den Chefs aller Marine-
• Siehe Nr. 15 466.
•• Siehe Nr. 15 463.
237
etablissements und den Kommandanten aller Kriegsschiffe in jeder
Hinsicht direkte Befehle erteilen zu können. Trotz dieser im Verhältnis
zu General Liman viel größeren Vorrechte des englischen Admirals
ist von russischen Bedenken und russischem Presselärm hier diesmal
nichts bekannt geworden.
Residenz des Admirals war bisher Kandili am mittleren Bosporus,
während er jetzt das Haus in Pera gemietet hat, welches für General
Liman in Aussicht genommen war.
Von hier aus läßt sich nicht recht beurteilen, ob der russische Ein-
fluß auf das Foreign Office eventuell stark genug wäre, eine Verlegung
der Residenz des Admirals nach den Dardanellen zu erreichen. — Damit
wäre allerdings die englische Mission ebenso kaltgestellt, wie die
unserige in Adrianopel wäre, da eine Reformarbeit losgelöst von den
Zentralstellen und den hauptsächlichsten Lehrinstituten undenkbar ist.
Wangenheim
Nr. 15 469
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 228 Berlin, den 6. Dezember 1913
Nach Bericht des Kaiserlichen Botschafters in Cospoli* befehligt
englischer Admiral laut veröffentlichtem türkischen Staatsgesetz vom
6. Juni 1912 ganze türkische Kriegsflotte. In Gesetz ist mit Rücksicht
auf öffentliche Meinung in Türkei, die wegen großer Rechte des
Engländers von „Nebensultan für Marine" sprach, der verschleiernde
Zusatz „als Instrukteur" aufgenommen. In demselben Satz wird Ein-
schränkung auch bereits durch Worte „effektives Kommando" auf-
gehoben. Nach dem uns bekannten Vertrag hat Admiral Kommando-
gewalt. Auch nach veröffentlichtem Gesetz hat Engländer Recht, den
Chefs der Marineetablissements und Kommandanten aller Kriegs-
schiffe Befehle zu geben.
Für die von Rußland angeführten Interessen in Bosporus und
Meerengen ist Stellung des Engländers viel einschneidender als die
des deutschen Generals, dessen Kompetenzen sich zudem nur über
ein Armeekorps, nicht ganze Armeen, erstrecken. Mit Seeherrschaft
über Bosporus beherrscht Admiral eventuell auch Konstantinopel.
Herr Sasonow nennt unser Vorgehen „peu amical und coup de
pioche ä notre amitie". Uns erscheint sein Mißtrauen gegen unsere
* Siehe Nr. 15 468.
238
Mission und differentielle Beurteilung mit englischem Admiral und
französischem Gendarmeriekommandanten nicht von dem freundschaft-
lichen Geiste getragen, auf welchen er sich beruft.
Jagow
Nr. 15 470
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 308 St. Petersburg, den 6. Dezember 1913
Die heute hier bekannt gewordene Veröffentlichung des Irade
betreffend Ernennung Generals Liman von Sanders zum Kommandie-
renden des Armeekorps in Konstantinopel* hat Herrn Sasonow in große
Erregung versetzt. Minister fragte mich, wie es möglich sei, daß,
nachdem ich ihm erst vorgestern gesagt hätte, die Frage solle noch
an Ort und Stelle geprüft werden, schon heute eine vollendete Tat-
sache geschaffen werden konnte. Ich erwiderte, daß ich ohne neue
Informationen sei. Daran knüpfte sich wieder nahezu zweistündige
Unterredung, bei welcher von beiden Seiten die bekannten Argumente
geltend gemacht wurden, ohne daß es gelang, Annäherung zwischen
beiderseitigen Standpunkten herbeizuführen. Minister ist nicht davon
abzubringen, daß Ausübung der Kommandogewalt durch deutschen
General in der türkischen Hauptstadt einen für Rußland unerträg-
lichen Zustand schaffe, und daß er, falls es bei der Ernennung bleibe,
genötigt sein werde, eventuell mit Frankreich und England, in Kon-
stantinopel sehr ernsten Ton anzuschlagen. Herr Sasonow behauptet,
die „deutsche Garnison" werde den Hochmut und Größenwahn der
Jungtürken derart steigern, daß sie ganz „intraitables" werden wür-
den. Schon jetzt sei eine deutliche Änderung in ihrer Haltung wahr-
zunehmen. Offenbar infolge des bei uns erhofften Rückhalts fange
ihre Sprache an, geradezu herausfordernd gegen Rußland zu werden.
Minister widerholte immer wieder sein Bedauern, daß wir die eminent
politische Bedeutung der Frage, die unmöglich ohne Einfluß auf
russisch-deutsche Beziehungen bleiben könne, anscheinend nicht ein-
sehen wollten.
Pourtales
• Siehe Nr. 15 465.
239
Nr. 15 471
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagowan den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtalds
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 229 Berlin, den 7. Dezember 1913
Auf Telegramm Nr. 308*.
Russischer Botschafter sprach mir gestern in ähnlichem Sinne.
Habe geantwortet, daß unser Standpunkt von Anfang an der gleiche
geblieben. Wir haben bereits Herrn Kokowzow erklärt, daß Ver-
handlungen zu weit vorgeschritten, um jetzt Änderung vorzunehmen.
Aber General solle, wenn er in Konstantinopel sei, nochmals prüfen,
ob Änderung beziehungsweise Verlegung nach Adrianopel mit mili-
tärischer Zweckmäßigkeit, welche allein bestimmend gewesen, ver-
einbar sei. Wir haben aber Bedenken, ob es möglich sein würde, nie
verhehlt. Diesen Standpunkt innehalten wir auch jetzt noch.
Natürlich wäre gegebenenfalls auch Zustimmung der Türkei er-
forderlich.
Russischer Botschafter hat mir bereits vor drei Tagen mitgeteilt,
daß Rußland auch Schritte in Konstantinopel tun würde.
J ago w
Nr. 15 472
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagowan den
Geschäftsträger in London von Kühlmann
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 482 Berlin, den 7. Dezember 1913
Indem ich hervorhebe, daß russischer Widerstand sich gegen
Kommando deutschen Generals in Konstantinopel richtet, be-
merke ich, daß Sir E. Grey nach hier vorliegenden ganz vertraulichen
Nachrichten Standpunkt vertritt, daß deutsches Kommando Kon-
stantinopel souveräne Rechte Sultans bedrohe, Gleichgewicht störe
und Freiheit der Meerengen bedrohen könne.
Ew. pp. wollen nunmehr, ohne erkennen zu lassen, daß Ihnen
englische Auffassung bereits bekannt, Erlaß Nr. 2066 vom 4.
* Siehe Nr. 15 470.
240
d. Mts. * unter Verwertung von Erlaß Nr. 2081 ** vom 6. d. Mts.
unverzüglich ausführen. Sie wollen aber unter allen Umständen ver-
meiden, den Eindruck zu erwecken, als ob wir uns entschuldigen
wollten, vielmehr betonen, daß uns die russische Stellungnahme völlig
unverständlich und befremdlich erscheine.
J agow
Nr. 15 473
Der Geschäftsträger in Paris von Radowitz an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 434 Paris, den 7. Dezember 1913
Bei gesprächsweiser Berührung unserer Militärmission durch Pa-
leologue verwertete ich die in Aufzeichnung des Reichskanzlers*** nieder-
gelegten Gesichtspunkte. Paleologue gab Hoffnung Ausdruck, daß
Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland befriedigende Lö-
sung herbeiführen würden, verhehlte aber nicht seine Besorgnis, daß
bei resultatlosem Verlauf Rußland von Türkei Kompensationen, zum
Beispiel Armeekommando in Erserum, verlangen könnte, wogegen wir
dann schwerlich protestieren könnten1. Auf diese Weise könne leicht
asiatische Frage vorzeitig aufgerollt werden, da in diesem Falle auch
andere Nationen2 mit Kompensationsforderungen hervortreten könnten.
In London sei man über Möglichkeit durch Militärmission hervor-
gerufener russischer Forderungen auch sehr besorgt3.
Paleologue betonte, daß französische Regierung in dieser An-
gelegenheit sich neutral verhalten und dafür gesorgt habe, daß Presse
sie objektiv behandele.
Radowitz
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer gekürzten Abschrift des Tele-
gramms:
1 Die Russen sind verrückt Als Goltz hinging und dort wirkte fanden sie
nichts dabei!
2 Frankreich! Syrien!
3 Ich bleibe bei meinem Standpunkt
• Siehe Nr. 15 462.
** Durch Erlaß Nr. 2081 vom 6. Dezember war das Konstantinopeler Telegramm
Nr. 672 (siehe Nr. 15 468) nach London mitgeteilt worden.
•** Vgl. Nr. 15 450.
16 Die Große Politik. 38. Bd. 241
Nr. 15 474
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 674 Pera, den 7. Dezember 1913
Geheim
Vertrauensmann * meldet:
„Graf Nani** zeigte mir soeben eine Drahtinstruktion aus Rom,
in Angelegenheit der deutschen Mission sich des Desinteressements
zu befleißigen, falls jedoch der deutsche Botschafter es für erwünscht
hält, den deutschen Standpunkt bei der Hohen Pforte zu unterstützen.
Bezüglich der jüngsten Vorgänge kann ich Euerer Exzellenz
durchaus verläßlich folgendes melden: Am letzten Dienstag
empfing Herr Mallet*** Instruktion des Foreign Office, den schrift-
lichen russischen Protest gegen die deutsche Mission, soweit sie das
Kommando des I. Armeekorps durch General Liman betrifft, eben-
falls schriftlich zu unterstützen f.
Gleichlautende Instruktion erhielt Herr Bompard, jedoch mit der
Nuance Verbalunterstützung.
• Es handelt sich um den Korrespondenten der „Frankfurter Zeitung" Weitz.
** Italienischer Geschäftsträger in Konstantinopel. Nach einem weiteren Tele-
gramm Freiherrn von Wangenheims vom 8. Dezember (Nr. 675) beruhten die
Angaben Graf Nanis auf Mitteilungen des russischen Botschaftsrats Gulkewitsch.
*** Englischer Botschafter in Konstantinopel.
f Nach einem Telegramm Freiherrn von Wangenheims vom 8. Dezember
(Nr. 676) wollte Weitz inzwischen Kenntnis von einem Telegramm erhalten
haben, das Graf Nani am 3. Dezember nach Rom gerichtet hätte. Das Tele-
gramm hätte folgendes besagt: „Gelegentlich einer Frühstückseinladung beim
russischen Botschafter teilte dieser mit, daß heute früh englischer Botschafter
Sir Mallet ihn besucht und ihm Kopie des schriftlichen Protestes Englands in
Sachen der deutschen Militärmission übergab." Dieser englische „Protest" kann
sich aber doch nur (vgl. Nr. 15 461, Fußnote) in die Form einer einfachen Anfrage
bei der Pforte gekleidet haben, während der Protest, zu dem der französische
Botschafter beauftragt war, sehr viel schärfer gehalten war, allerdings in der
Voraussetzung, daß der englische Protest auf den gleichen Ton gestimmt sei.
Da dies nicht der Fall war, so hat offenbar der französische Botschafter sich
veranlaßt gesehen, vor der Abgabe des Protestes eine Rückfrage bei seiner
Regierung zu stellen, um so mehr, als inzwischen in Paris ein Kabinettswechsel
eingetreten war. Ob nach der Installierung des neuen Kabinetts Doumergue
dieses wirklich in London für eine veränderte Instruierung der beiderseitigen
Botschafter in Konstantinopel eingetreten ist, wie nach den Mitteilungen Graf
Nanis an Weitz (siehe oben) anzunehmen wäre, läßt sich nicht nachprüfen, da
das französische Gelbbuch eine klaffende Lücke vom 3. bis 14. Dezember
(vgl. Französisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 96) aufweist.
242
Da Herr von Giers aber auf gleiche Form nichtsdestoweniger
großen Wert legte, veranlaßte er Herrn Bompard, nochmalige In-
struktion in Paris einzuholen.
Dies tat Herr Bompard, unterrichtete aber zur selben Zeit die
Pariser Regierung von der hier herrschenden sehr gereizten Stimmung
der Pforte gegen Rußland und auch von den sonstigen Gefahren,
welche ein solcher Protest laufe.
Die Folge war, daß der Quai d'Orsay auch die Verbalunterstützung
zurückzog und in London seinen Einfluß zur Geltung brachte^ so daß
auch Herr Mallet im selben Sinne instruiert wurde.
Dies erfolgte gestern früh.
Herr von Giers ist in hohem Maße gegen Herrn Bompard aufge-
bracht, weil er Konzept der Tripelentente verdarb. Nach dem Trara,
den man vorher in allen Lagern mit dem beabsichtigten Protest der
Entente schlug, glaubt selbst Herr von Giers nicht mehr, daß eine
isolierte Aktion Rußlands irgendeinen Erfolg haben würde."
Herrn von Giers, der anderen gegenüber in den letzten Tagen sich
in schärfster Weise über das deutsche Vorgehen geäußert und eine
Kollektivnote der Tripelentente und russische Kompensationsforde-
rungen in Aussicht gestellt hatte, sprach mir heute in weit versöhn-
licherem Ton über die Angelegenheit. Letztere sei nur durch ein per-
sönliches Moment verschärft worden. Man habe Herrn Sasonow,
der sehr empfindlich sei, in Berlin nichts von der Mission gesagt und
ihn dadurch mißtrauisch gemacht. Ich erwiderte Herrn von Giers, daß
ich den Zwischenfall um so mehr bedauerte, als ich wüßte, daß die
Kaiserliche Regierung auf das durch unsere persönlichen Beziehungen
angebahnte Zusammengehen in der türkischen Frage den größten
Wert legte. Nicht im entferntesten sei mir je der Gedanke gekommen,
daß er an der Mission Anstoß nehmen könne, die doch mit geringeren
Machtbefugnissen ausgestattet sein werde als die englische Marine-
mission. Sobald der Vertrag perfekt gewesen, hätte ich ihm als Erstem
die Details mitgeteilt und sei bestürzt gewesen über seine Auffassung,
die mir ganz unbegreiflich erschienen wäre. Bestimmt sei sodann in
Berlin nur deswegen nicht über die Sache gesprochen worden, weil
man bei uns die Entsendung des Generals als etwas Selbstverständ-
liches und Rußland gar nicht Interessierendes angesehen habe.
Herr von Giers bat zum Schluß um weitere Unterstützung in der
armenischen Angelegenheit*, damit er Ende des Monats auf Urlaub
gehen könne.
Wangenheim
* Vgl. dazu Kap. CCLXXX1X.
16* 243
Nr. 15 475
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 309 St. Petersburg, den 7. Dezember 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 228*. Im Anschluß an Telegramm
Nr. 308**.
An der Hand neuerdings durch Presse bekanntgewordener Einzel-
heiten über Stellung englischen Admirals in Konstantinopel wies ich
schon bei gestriger Unterredung Herrn Sasonow gerade auf dieses
Moment besonders hin und hob hervor, daß Seeherrschaft über Bos-
porus für türkische Hauptstadt und Meerenge viel bedrohlicher sei,
als das Kommando über das Korps in Konstantinopel. Minister hatte
darauf nur die Antwort, daß das Kommando über türkische Flotte
bedeutungslos sei, da es eine solche überhaupt nicht gebe und auf
Jahrzehnte hinaus nicht geben werde***. Ebensowenig wollte Herr
Sasonow zugeben, daß ein Franzose, der das Kommando über die
türkische Gendarmerie habe, (wovon übrigens der Minister nichts zu
wissen behauptete) in der Lage sei, mindestens denselben politischen
Einfluß auszuüben als ein deutscher Korpskommandeur, der sich über-
dies verpflichtet habe, sich und seine Offiziere von Politik fern zu halten.
Das gänzlich ablehnende Verhalten des Herrn Sasonow gegen-
über diesen Argumenten nötigte mich ihm zu sagen, daß, wenn er
Tatsachen einfach leugne, mir ein weiteres Diskutieren überflüssig er-
scheine, daß ich aber unter solchen Umständen zu meinem Schmerz
selbst anfangen müsse, an der Möglichkeit dauernder freundschaft-
licher Beziehungen Deutschlands zu Rußland zu zweifeln. Denn ein
Freundschaftsverhältnis, bei dem wir allein der gebende Teil sein sollten,
und uns verwehrt werden solle, was den Mitgliedern der Tripelentente
gestattet werde, sei für uns schlechterdings unannehmbar l. Wenn auch
unsere gestrige Unterredung wiederholt zu recht scharfen Auseinander-
setzungen führte, schlug Herr Sasonow doch am Schluß versöhnlichen
Ton an. Er betonte den großen Wert, den er auf deutsche Freund-
schaft lege, und beschwor mich, Euere Exzellenz zu bitten, Ausweg
•Siehe Nr. 15 469.
** Siehe Nr. 15 470.
*** Vgl. dazu Sasonows Immediatbericht vom 8. Dezember, in dem die völlig
entgegengesetzte Auffassung zum Ausdruck gelangt: „Nach den zu ver-
schiedenen Zeiten beim Außenministerium eingelaufenen Nachrichten müssen
wir zu dem Schluß kommen, daß in den Jahren 1914—1916 die türkische Kriegs-
flotte im Schwarzen Meer der unsrigen an Güte der Schiffe und Stärke ihrer
Artillerie überlegen sein wird." Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis
1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 379.
244
zu finden, damit die für Rußland hochwichtige Frage eine Lösung finde,
die zu keiner Trübung unserer Beziehungen führe2.
Pourtales
Randbemerkungen Zimmermanns:
1 Endlich
2 Die Russen müssen endlich einlenken.
Nr. 15 476
Der Geschäftsträger in London von Kühlmann an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg*
Ausfertigung
Nr. 692 London, den 9. Dezember 1913
Ein Gespräch über die Zustände in der Türkei nach dem Kriege
bot natürliche Gelegenheit, die Frage unserer Militärmission in Kon-
stantinopel den erhaltenen Weisungen gemäß zur Sprache zu bringen.
Sir Edward Grey sagte, er sei von russischer Seite auf die Sache an-
gesprochen worden. Die Russen schienen durch die Frage sehr be-
unruhigt und hätten sie ja wohl auch in Berlin angeregt. Graf Bencken-
dorff sei eben vom Urlaub zurückgekommen und werde die Ange-
legenheit wohl aufs neue berühren. Auf dem Papier sehe es ja sehr
formidabel aus, wenn man sagen könne, Deutschland beherrsche das
Armeekorps in Konstantinopel, und dieses Armeekorps sei hinwiederum
der Träger der Staatsgewalt in der Türkei. Von gewisser Seite sei der
Vergleich mit dem Einfluß gebraucht worden, den Rußland durch die
* Zu dem Bericht Kühlmanns über seine Unterredung mit Sir E. Grey vgl.
auch dessen Angaben zu Graf Benckendorff. Telegramm Benckendorffs an
Sasonow vom 9. Dezember 1913. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O.,
S. 645 f. Am 10. Dezember teilte der englische Geschäftsträger O'Beirne Saso-
now einen englischen Gegenentwurf für die in Konstantinopel abzugebende Kol-
lektiverklärung mit, der aber in Petersburg als „nichtssagend" keineswegs befrie-
digte, da Sir E. Grey darauf bestand, zunächst in Konstantinopel nur eine Anfrage
vorzubringen, „dazu bestimmt, den Kontakt zwischen der türkischen Regierung
und dem deutschen General kennenzulernen, damit die drei Mächte sich auf
diese Weise Rechenschaft geben können, welches der Unterschied der Stellung
dieses Generals in der türkischen Armee und der früheren Stellung von der
Goltz Paschas sein werde" (Telegramm Graf Benckendorffs an Sasonow vom
11. Dezember; v. Siebert, a. a. O., S. 648). So blieb Sasonow nichts übrig, als sich
grollend der englischen Auffassung zu fügen und am 12. Dezember dem Bot-
schafter von Giers in Konstantinopel entsprechenden Auftrag zu geben. Tele-
gramme Sasonows an Graf Benckendorff vom 10. und 12. Dezember; Tele-
gramm an Botschafter von Giers vom 12. Dezember, a. a. O., S. 648 ff . Über
die Ausführung der Demarche der Ententebotschafter bei der Pforte vgl. Nr.
15 481.
245
Kosakenbrigade auf die persische Regierung in Teheran auszuüben ver-
möge *.
Ich erwiderte dem Minister, dieser Vergleich sei total falsch, denn
einmal dürfe man die Türkei doch keinesfalls mit dem morschen Persien
vergleichen, dann sei auch die Kosakenbrigade vollkommen in Händen
des russischen Kommandeurs, der Rekruten anwerbe, Sold auszahle und
dergleichen. Von all dem könne in Konstantinopel keine Rede sein.
Die Jungtürken hätten sich als überaus eifersüchtig gegen jede Ein-
mischung des Auslands erwiesen. Die Idee, daß sie einem ausländi-
schen General maßgebenden politischen Einfluß einräumen würden,
sei nicht ernstlich diskutierbar.
Der Minister gab dies zu und sagte, er wolle sich jedenfalls über
die ganze Angelegenheit informieren, um sich selbst ein Urteil zu
bilden. Er beabsichtige, bei den Türken anzufragen, wie sie den
Vertrag mit dem Führer der deutschen Militärmission auslegten*.
Auf meine längeren Darlegungen über die Stellung des englischen
Admirals in der türkischen Flotte erwiderte Sir E. Grey, die Einzel-
heiten dieses Kontraktes seien ihm unbekannt2; er werde aber gleich
Befehl geben, daß ihm das nötige Material vorgelegt werde.
Der einzige Gesichtspunkt, den er seinerzeit geltend gemacht
habe, sei der, daß englische Instrukteure unter keinen Umständen an
kriegerischen Aktionen beteiligt sein dürften. Er nehme an, daß dies
auch für unsere Instrukteure gelte3.
Zum Schluß der langen Unterredung äußerte der Minister, er
sei erfreut, daß ich die Frage, welche immerhin zu Mißverständnissen
hätte führen können, direkt mit ihm besprochen hätte.
Er war während des ganzen Gesprächs sehr aufgeknöpft und heiter,
und ich hatte den Eindruck, daß er kaum etwas tun wird, um uns in
dieser Angelegenheit wirklich Schwierigkeiten zu machen.
* Inzwischen hatte Sasonow, nachdem die für den 3. Dezember geplant
gewesene Protestaktion der Tripelentente in Konstantinopel nicht zustande
gekommen war, am 7. Dezember erneut die Übergabe einer identischen Protest-
note angeregt. Der Entwurf einer solchen, den er in London und Paris über-
reichen ließ (vgl. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a.a.O., S. 644 f.), fand
aber bei Sir E. Orey wegen seiner drohenden Sprache keine Billigung, während
die französische Regierung bereit war, ihn pure anzunehmen (vgl. Telegramm
Nr. 804 Graf Benckendorffs an Sasonow vom 9. Dezember 1913; a. a. O.,
S. 646 f.). Der englische Staatssekretär sprach sich dafür aus, auf das
erste Projekt einer bloßen Anfrage nach dem Inhalt des Irades zurückzukommen
und bei dessen Realisierung durch die Konstantinopeler Botschafter „ernstliche
Erwägungen hinsichtlich der Erhaltung der Souveränität des Sultans, des
Regimes der Meerengen und der ganzen Lage in Konstantinopel hinzufügen" zu
lassen; doch so, daß „die Möglichkeit weiterer Verhandlungen offen bleibe".
Geheimtelegramm Graf Benckendorffs Nr. 802 vom 9. Dezember 1913. Der
Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 383f.
246
Falls der Wortlaut des Dienstvertrages des englischen Admirals
hierher mitgeteilt werden könnte, würde dies die Argumentation, falls
Sir E. Grey nochmals auf die Frage zurückkommt, erleichtern.
R. v. Kühlmann
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 ?
2 ;;
3 nein!
Nr. 15 477
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Entzifferung
Nr. 350 St. Petersburg, den 10. Dezember 1913
Mit Bezug auf den mir mit Erlaß Nr. 1391 mitgeteilten Bericht des
Kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel vom 7. d. Mts.*:
Die dem hiesigen italienischen Geschäftsträger zugegangenen
Informationen bestätigen, daß Frankreich, welches anfangs in
der Frage der Militärmissionen, wohl in der Hoffnung, bei dieser
Gelegenheit womöglich einen Keil in unser freundschaftliches Ver-
hältnis zu Rußland zu treiben, hier stark gehetzt hat, neuerdings aus Be-
sorgnis vor Zuspitzung russisch-türkischen Gegensatzes eher abwiegelt
und zu versönlicherem Tone bei Behandlung der Angelegenheit rät.
Ob mein französischer Kollege, der beinahe täglich mit Herrn Sasonow
lange Unterredungen hat, sich tatsächlich in diesem Sinne hier äußert,
ist schwer zu kontrollieren. Die bisherige Haltung des Herrn Sasonow
läßt jedenfalls nicht auf eine mildere Auffassung des Ministers infolge
französischer Einwirkung schließen.
Meinem türkischen Kollegen gegenüber ist bis jetzt im hiesigen
Ministerium die Frage mit keinem Wort berührt worden.
Pourtales'
Nr. 15 478
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 312 St. Petersburg, den 12. Dezember 1913
Herr Kokowzow, der erst seit wenigen Tagen aus Livadia zurück-
gekehrt ist, empfing mich heute. Ich fand ihn in deprimierter Stim-
• Siehe Nr. 15 474.
247
mung, er erklärte mir, daß ihn die Wendung in unseren Beziehungen,
auf die er, wie er es wiederholt gezeigt habe, den größten Wert lege,
mit „tiefer Trauer" erfülle. Auch Seine Majestät der Kaiser Nikolaus
sei „sehr schmerzlich davon berührt", daß Kaiserliche Regierung es
nicht für möglich gehalten habe, berechtigten russischen Wünschen1
entgegenzukommen, und daß dadurch „eine bedauerliche Trübung in
dem Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland entstanden sei2".
Es ist Herrn Sasonow offenbar gelungen, den Ministerpräsidenten
ganz zu seinem Standpunkte zu bekehren und ihn zu veranlassen,
diesen Standpunkt auch in Livadia geltend zu machen. Herr Kokow-
zow versicherte allerdings, auch unsere Auffassung seinem alier-
gnädigsten Herrn vorgetragen und Seiner Majestät von dem In-
halt Euerer Exzellenz Privatbriefs sowie der ihm durch Herrn von
Lucius auftragsgemäß gemachten Eröffnungen Kenntnis gegeben zu
haben.
Der von Herrn Kokowzow entwickelte Gedankengang ist folgender:
Rußland hat sich dafür eingesetzt, daß Konstantinopel türkisch
bliebe. Es vertritt den Standpunkt und hat die gleiche Auffassung bei
den anderen Mächten vorausgesetzt, daß keine Macht in der türkischen
Hauptstadt einen überwiegenden Einfluß ausüben solle. Deutschland
habe sich nunmehr unter Nichtachtung dieses Standpunkts de facto
zum Herrn der Situation in Konstantinopel gemacht3, habe Rußland in
dieser Beziehung vor eine vollendete Tatsache gestellt und dann in
freundschaftlicher Weise erhobene Einwendungen unberücksichtigt ge-
lassen.
Ich habe in eingehender Darlegung diese Auffassung zu wider-
legen versucht. Herr Kokowzow antwortete darauf mit den Argumenten
des Herrn Sasonow. Nur der Hinweis auf das aktive Kommando der
türkischen Flotte durch englischen Admiral schien nicht ohne Eindruck auf
ihn zu bleiben. Als ich ihm sagte, daß wir uns jedenfalls keine diffe-
rentielle Behandlung gefallen lassen könnten4, und ihn fragte, ob er
denn glaube, daß ein englischer Admiral, der die türkische Flotte und
sämtliche Marineeinrichtungen in seiner Hand habe, sich nicht ebenso
zum Herrn über Konstantinopel machen könne als deutscher Korps-
kommandeur, stutzte er5 und erklärte, daß er von den von mir er-
wähnten Tatsachen nichts gewußt habe und zunächst Erkundigungen
darüber einziehen wolle. Dabei entfuhr ihm der Ausruf: „Dann ge-
staltet sich also die Lage noch ungünstiger für uns 6, denn dann steht
Konstantinopel ganz unter englischem und deutschem Einfluß."
Pourtales»
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer verkürzten Abschrift des Tele-
gramms:
1 Donnerwetter! Starker Tobak!
2 gut, daß es mal endlich gesagt wird
3 !
248
* gut
6 natürlich zumal über die Einfahrt zum Bosporus, wo die Russen doch hinein-
wollen!
6 Das stimmt
Bemerkung des Kaisers am Schluß des Telegramms:
Rußland sollte uns doch dankbar sein daß wir am Land aufpassen, daß Eng-
land nicht zu Rußlands Ungunsten zu sehr in Stambul der Herr wird!
Nr. 15 479
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 682 Konstantinopel, den 13. Dezember 1913
Großwesir erzählte mir streng vertraulich, Admiral Limpus habe
sich als türkischer Offizier verpfichtet gefühlt, ihn über eine Unter-
haltung mit Herrn Mallet zu unterrichten. — Der Admiral sei vom
Botschafter gefragt worden, wie er seine Stellung zur türkischen
Marine auffasse. Der Admiral habe erwidert, er sei der Oberstkom-
mandierende der türkischen Flotte und als solcher mit Gerechtsamen
ausgestattet, die weitergingen, als diejenigen des deutschen Generals. —
Er verstehe deshalb nicht, wie gerade England an der deutschen
Mission Anstoß nehmen könne. Der Botschafter habe zu dieser Er-
klärung geschwiegen.
Großwesir sagte mir ferner, daß, wenn die Ententemächte ihn
offiziell um eine Auskunft über die Aufgaben der deutschen Mis-
sion ersuchen sollten, er diese Auskunft unter Hinweis auf die Sou-
veränität der Türkei kategorisch verweigern werde. Zu einer persön-
lichen und vertraulichen Aussprache werde er bereit sein.
Wangenheim
Nr. 15 480
Der Geschäftsträger in London von Kühlmann an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 706 London, den 12, Dezember 1913
[pr. 14. Dezember]
Vielfach hatte hier der Eindruck bestanden, daß für die Stellung-
nahme Sir Edward Greys zur Frage der Stellung der deutschen Militär-
mission in Konstantinopel die Berichterstattung des neuen Botschafters
in Konstantinopel Sir Louis Mallet maßgebend gewesen sei, der hier
stets als Verfechter der Idee der Tripelentente aufgetreten war. Wie
ich aber ganz vertraulich und unter der Hand feststellen konnte, war die
249
Stellungnahme Sir Louis Mallets, soweit sie in seiner Berichterstattung
zutage trat, eine durchaus gemäßigte und nicht geeignet, Sir Edward
Grey für eine Beteiligung an etwaigen Schritten in Konstantinopel
zu entscheiden*.
Hingegen ist von russischer Seite anscheinend ein außerordent-
lich starker Druck ausgeübt worden1**. Die russische Regierung soll
so weit gegangen sein, Sir Edward Grey zu sagen, daß sie sein Ver-
halten in dieser Frage zum Prüfstein für die Gesinnungen der englischen
Politik gegen Rußland überhaupt machen müsse2. Da Sir Edward
seiner Politik gemäß einen Bruch mit Rußland vermeiden will3, habe
er sich entschlossen, formell sich an einer Erkundigung in der Sache zu
beteiligen, ohne aber der Frage selbst starkes Interesse entgegenzu-
bringen 4.
R* v. Kühlmann
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Hallunken!
2 aha
3 Esel! verräth die eigenen Interessen seines Landes
4 dann kann ja der Großwesir ruhig grob werden
Nr. 15 481
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in München
Telegramm. Entzifferung
Nr. 272 Berlin, den 15. Dezember 1913
Euerer Majestät Botschafter in Konstantinopel meldet***:
„Die Demarche der Ententemächte bei der Pforte in Sachen der
deutschen Militärmission hat gestern den 13. in später Nachmittags-
* Vgl. auch Nr. 15 492.
** Das wird bestätigt durch den bei v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O.,
S. 647 ff. mitgeteilten Schriftwechsel zwischen Petersburg und London. In dem
Telegramm Sasonows an Graf Benckendorff vom 12. Dezember wird geradezu
von schwerer Erschütterung des russischen Vertrauens auf die englische Unter-
stützung gesprochen: „Dieser Mangel an Zusammengehörigkeit und Solidarität
zwischen den drei Mächten der Entente erregt unsere ernstliche Besorgnis, denn
er bildet einen organischen Fehler der Tripelentente, welcher uns dem festen
Blocke des Dreibundes gegenüber stets in Nachteil versetzen wird. Eine
derartige Sachlage kann gegebenenfalls schwerwiegende Folgen nach sich
ziehen und vitale Interessen einer jeden Macht der Tripelentente aufs ernst-
lichste gefährden" (S. 651). Vgl. auch Sir G. Buchanan, My Mission to Russia,
I, 149 f.
*** Telegramm Nr. 683 vom 14. Dezember 1912. Zum Vergleich ist das Telegramm
des russischen Botschafters in Konstantinopel von Giers vom 15. Dezember über
die ihm von dem Großwesir gegebene Antwort (v. Siebert, Diplomatische Akten-
stücke, a. a. O., S. 653 f.) heranzuziehen.
250
stunde stattgefunden. Die Botschafter Rußlands, Frankreichs und Groß-
britanniens fanden sich gleichzeitig auf der Pforte ein. Herr von Oiers
verlas eine Reihe von Fragen (un questionnaire), die von den beiden
anderen Botschaftern, die nach ihm empfangen wurden, ohne schrift-
liche Unterlagen wiederholt wurden. Die beiden wesentlichsten Fragen
waren, ,si Pindependance de P Empire etait sauvegardee dans le contrat
concernant l'engagement des officiers allemands', sowie ob dieses
Engagement ,portait atteinte ä Petat actuel des Dardanelles ll. Der
Großwesir erwiderte, daß es Sache der Türkei sei, ihre Unabhängigkeit
zu wahren, und fragte, mit welchem Recht sich fremde Mächte da ein-
mischten2? Er lehne es ausdrücklich ab, die ihm gestellten Fragen
offiziell zu beantworten3 und würde auch, falls bei dem morgigen
Empfang der Botschafter die Sache wieder angeregt werden sollte,
lediglich offiziös bezw. ä titre prive Erklärungen abgeben.
Der Großwesir ersuchte den russischen Botschafter, ihm Abschrift
des vorgelesenen Schriftstücks zu hinterlassen*, was dieser ab-
lehnte5. Ferner verlangten die Botschafter Einsicht in den mit der
deutschen Militärmission abgeschlossenen Vertrag6. Der Großwesir
lehnte dieses Ansinnen bestimmt ab. Dem englischen Botschafter
gegenüber machte der Großwesir noch darauf aufmerksam, daß die
von der Pforte angestellten englischen Marineoffiziere Gamble und
Limpus weitergehende Befugnisse erhalten hätten, als die jetzt
engagierte deutsche Militärmission 7. Als der Großwesir heute vor-
mittag dem diesseitigen Dragoman die vorstehenden Mitteilungen
machte, zeigte er noch unter dem frischen Eindruck seiner Unter-
redung mit den drei Botschaftern eine gewisse Erregung, ließ aber
seine Entschlossenheit erkennen, die Würde der Pforte gegenüber
dem in dieser Form ausgeübten Druck fest zu wahren.
Die Meldung des heutigen ,Osmamischen Lloyd', daß die An-
gelegenheit heute dem Ministerrat zur Beschlußfassung über die
den Ententemächten zu erteilende Antwort vorgelegt werden sollte,
bezeichnete der Großwesir als unrichtig. Wangenheim".
Zimmermann
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Unerhörte Unverschämtheit
2 bravo!
3 Das haben die Herren wohl kaum erwartet, aber verdient!
4 gut
5 aha!
6 Schul- und Revisions Commission über die Türkei!!
7 au!
251
Nr. 15 482
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in London Fürsten
von Lichnowsky
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 486 Berlin, den 15. Dezember 1913
Der Kaiserliche Botschafter in Konstantinopel telegraphiert*:
„Die Demarche der Ententemächte wegen Militärmission hat
am 13. stattgefunden. Die Botschafter Rußlands, Frankreichs und
Großbritannies fanden sich gleichzeitig auf der Pforte ein. Herr von
Giers verlas eine Reihe von Fragen. Wesentlichste Fragen waren,
„si l'independance de l'Empire etait sauvegardee dans le contrat con-
cernant l'engagement des officiers allemands", sowie ob dieses Engage-
ment „portait atteinte ä l'etat actuel des Dardanelles". Der Großwesir
erwiderte, daß es Sache der Türkei sei, ihre Unabhängigkeit zu wahren,
und lehnte ausdrücklich ab, die Fragen offiziell zu beantworten. Er
wird lediglich offiziös bzw. ä titre prive Erklärungen abgeben.
Den englischen Botschafter machte der Großwesir darauf aufmerksam,
daß die englischen Marineoffiziere Gamble und Limpus weitergehende
Befugnisse erhalten hätten als die deutsche Militärmission."
Nach hier vorliegenden Nachrichten hat Umstand, daß Herr von
Kühlmann Ankündigung bevorstehender Demarche durch Sir E. Grey**
anscheinend widerspruchslos entgegengenommen, bei Entente Eindruck
hervorgerufen, daß wir mit Demarche einverstanden seien.
Bitte bei Sir E. Grey dieser Anschauung entgegenzutreten und
peinlichen Eindruck hervorheben, den von vornherein ohne Fühlung-
nahme mit uns erfolgtes englisches Vorgehen hier hervorgerufen.
Es wird darauf ankommen, durch geeignete Einwirkung auf Sir
E. Grey zu erreichen, daß es bei der jetzigen einstweilen lediglich in-
formatorischen Demarche der Entente verbleibt, und er nicht weiter
Einwirkungen Rußlands unterliegt, das Angelegenheit als Vorwand
zur Aufrollung politischer Fragen, wie Dardanellenfrage, benützen
möchte.
Zimmermann
* Vgl. das vorhergehende Schriftstück.
** Vgl. Nr. 15 476, 15 480.
252
Nr. 15 483
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 359 St. Petersburg, den 13. Dezember 1913
[pr. 15. Dezember]
Wenn die französische Presse behauptet, daß in Rußland große
Erregung über die Ernennung eines deutschen Generals zum Kom-
mandierenden eines türkischen Armeekorps herrsche, so ist das eine
direkte Unwahrheit. Die Erregung beschränkt sich auf einen sehr
kleinen Kreis und die öffentliche Meinung steht der Angelegenheit im
allgemeinen kühl und gleichgültig gegenüber1. Daß die „Nowoje
Wremja", die in diesem Falle zweifellos von der Sängerbrücke aus
inspiriert wird, und einige geistesverwandte Blätter diese willkommene
Gelegenheit zur Hetze gegen Deutschland benutzen, ist natürlich;
die meisten liberalen Blätter aber enthalten sich überhaupt der Be-
sprechung der Frage oder erörtern sie in maßvollem, sachlichem Tone,
Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht der von mir ander-
weitig eingereichte Artikel des viel gelesenen „Russkoje Slowo", der
so weit geht, das Verhalten der russischen Regierung als unberechtigt
hinzustellen.
Ich darf aber auch bei dieser Gelegenheit daran erinnern, daß die
Bedeutung der hiesigen sogenannten öffentlichen Meinung nicht über-
schätzt werden darf. Wichtiger erscheint mir, daß der Zwischenfall
unserer Militärmission in der Türkei, oder richtiger gesagt der Be-
dingungen, unter denen dieselbe zu wirken berufen ist, in den maß-
gebenden hiesigen Kreisen eine wenn auch noch so unberechtigte, so
doch immerhin starke Verstimmung gegen uns hervorgerufen hat. Nach
meinen, seit meiner Rückkehr hierher gewonnenen Eindrücken ist diese
von verschiedenen Seiten aus durchsichtigen Gründen geschürte Ver-
stimmung eine größere, als ich erwartet hatte, und eine zu tiefgehende,
als daß auf ein baldiges Schwinden derselben zu zählen wäre. Be-
sonders fiel mir gestern der gänzlich veränderte elegische Ton des
Ministerpräsidenten auf, der zwar wiederholte, daß er gegen die Militär-
mission an sich gar nichts habe, aber hinzufügte, daß ihn die Ausübung
des aktiven Kommandos durch General von Liman mit ernsten Sorgen
erfülle2. Herr Kokowzow, welchem vom Herrn Sasonow bei unserer
neulichen Unterredung das richtige politische Verständnis für die Frage
abgesprochen wurde, und der inzwischen offenbar vom Minister des
Äußeren stark bearbeitet worden ist, betonte, daß er unser ablehnendes
Verhalten gegen die russischen Wünsche besonders darum tief beklage,
weil er stets für freundschaftliche Annäherung3 zwischen Rußland und
Deutschland gewirkt habe, es ihn daher mit um so größerem; Schmerze
253
erfülle, durch einen Zwischenfall wie den vorliegenden seine Arbeit
von Jahren zerstört zu sehen 4.
Ich darf davon absehen, die eingehenden Darlegungen zu wieder-
holen, welche ich dem Standpunkte der Herren Kokowzow und Sasonow
entgegengehalten habe, muß aber zu meinem Bedauern bekennen, daß
ich mit diesen Darlegungen keinen großen Eindruck hervorgerufen zu
haben das Gefühl habe5. Der Refrain der Ausführungen der rus-
sischen Staatsmänner, von denen sie nicht abzubringen sind, bleibt
immer derselbe: „Jeder, welcher die Geschichte Rußlands in den
vergangenen zwei Jahrhunderten nur oberflächlich kennt, muß wissen,
welche Rolle in derselben die Beziehungen Rußlands zu der Türkei und
insbesondere Konstantinopel sowie die Meerengen gespielt haben und
noch spielen. Nachdem Rußland während der letzten Balkankrisis
in erster Linie dazu beigetragen hat, der Türkei ihren europäischen
Besitz und insbesondere Konstantinopel zu erhalten, hat es gezeigt,
daß es selbst keine egoistischen Absichten hat2, sondern nur dem
europäischen Gleichgewicht und dem Frieden hat dienen wollen.
Welchen Eindruck muß es unter diesen Umständen hier machen, wenn
jetzt eine Macht, welche versichert, für Rußland freundschaftliche
Gefühle zu hegen, hinter dem Rücken Rußlands 6 durch einen Vertrag
über Besetzung der wichtigsten militärischen Stellen in der türkischen
Hauptstadt sich dort einen Einfluß verschafft, der das gerade dort so
überaus wichtige Gleichgewicht der Mächte mit einem Schlage über
den Haufen wirft*!"
Alle Hinweise auf die unrichtigen Voraussetzungen, von denen
diese Deduktionen ausgehen, bleiben wirkungslos. Nur die Feststellung,
daß die dem englischen General eingeräumten Rechte Rußland die
gleichen Besorgnisse einflößen müßten, schien gestern, wie ich schon
zu melden die Ehre hatte*, auf Herrn Kokowzow einigen Eindruck zu
machen. Der Ministerpräsident stellte mir die merkwürdige Frage, ob,
falls der Vertrag mit den Engländern annulliert würde*", wir bezüglich
* Vgl. Nr. 15 478.
•* Tatsächlich hat Sasonow am 11. Dezember auf Grund einer Anregung Bot-
schafter von Giers* einen Fühler in dieser Richtung nach London ausgestreckt,
„England könnte eine Lösung dieser Frage erleichtern, indem es in Berlin
erklärt, daß es bereit sei, seinen Admiral aus Konstantinopel nach Ismid über-
zuführen, wenn Deutschland seinerseits einwilligt, General Sanders nach Adria-
nopel zu berufen. Damit würde der Eigenliebe Deutschlands Genüge geleistet.
Ich bitte Sie, diese Frage mit Grey zu besprechen." Telegramm an Graf
Benckendorff Nr. 3346 vom 11. Dezember 1913, v. Siebert, Diplomatische Akten-
stücke, a. a. O., S. 650. Am 17. Dezember kam Sasonow auf die bisher nicht
beantwortete Frage zurück. Am gleichen Tage meldete Graf Benckendorff:
„Man denkt hier natürlich daran, die Stellung des englischen Admirals zu modi-
fizieren, um diesen Umstand bei den Verhandlungen in Berlin benutzen zu
können," a. a. O., S. 656. Die Frage scheint indessen nicht weiter verfolgt
zu sein, da Deutschland abwiegelte (vgl. Nr. 15 496) und sich auch bald die
Möglichkeit einer anderweitigen Lösung der Schwierigkeiten ergab.
254
der Stellung des Generals Liman von Sanders uns den russischen
Wünschen entgegenkommender zeigen würden 7. Ich entgegnete, dieser
Fall schiene mir höchst unwahrscheinlich, und ich könne natürlich nicht
sagen, welche Stellung meine Regierung bei dieser Eventualität ein-
nehmen würde. Ich könnte nur meine persönliche Ansicht dahin aus-
sprechen, daß sich in diesem Falle die Situation allerdings einiger-
maßen ändern würde7.
Ich habe wie neulich Herrn Sasonow so auch gestern dem
Ministerpräsidenten nicht verschwiegen, daß der freundliche Gedanken-
austausch über die vorliegende Frage in sehr unliebsamer Weise durch
die Indiskretionen der französischen und englischen Presse gestört
worden sei. Herr Kokowzow versicherte darauf in feierlicher Form,
daß weder er noch Herr Sasonow an diesen Indiskretionen die Schuld
trügen8. Der Ministerpräsident knüpfte daran eine recht bittere und
scharfe Bemerkung über die in Paris fortwährend vorkommenden
Indiskretionen, während Herr Sasonow sich darauf beschränkt hatte,
Herrn Iswolsky, dessen Name von mir gar nicht genannt worden war,
gegen den Verdacht, daß er die Indiskretionen verschuldet haben
könnte, in Schutz zu nehmen9.
Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß bei dieser Gelegenheit
auch von dritter Seite stark gehetzt worden ist. Bei mehreren meiner
hiesigen Kollegen begegne ich der festen Überzeugung, daß vor allem
Herr Delcasse in den Anfangsstadien der Frage viel Öl ins Feuer ge-
gossen hat10. Bei dem großen Einfluß, den mein französischer Kollege
auf Hern Sasonow zu gewinnen verstanden hat, erscheint mir dies
nicht unwahrscheinlich. Es würde dies auch die Indiskretionen des
„Temps" erklären. Was die Veröffentlichungen des Petersburger
Korrespondenten der „Times" betrifft, so habe ich nicht den ge-
ringsten Zweifel, daß dieselben auf den hiesigen englischen Ge-
schäftsträger zurückzuführen sind. Mr. O'Beirne, ein Irländer und
unversöhnlicher Feind Deutschlands, ist ein getreuer Schüler seines
ehemaligen Chefs Sir Arthur Nicolson. Es fiel mir auf, daß er mich,
obgleich ich wie gewöhnlich eine politische Konservation mit ihm
vermied, auf die Frage des Generals von Liman selbst anredete und
dabei genau dieselben Argumente vorbrachte wie Herr Sasonow.
F. Pourtales
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 Um so fester muß die Türkei bleiben
2 j
3 die war nur Schein!
4 Blech!
5 schadet nichts
8 gelogen! Sie wissen es seit 6 Monaten
7 nein!
8 wer so dumm ist und das glaubt!
255
9 aha!
10 Schurke!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Es handelt sich um unser Ansehen in der Welt gegen das von allen Seiten
gehetzt wird! also Nacken steif und Hand ans Schwerdt!
Nr. 15 484
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 690 Konstantinopel, den 16. Dezember 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 683*.
Bei dem heutigen diplomatischen Empfang hat Großwesir den
Ententebotschaftern erklärt, er lehne es nochmals ab, auf die Frage,
ob durch die deutsche Militärmission türkische Souveränitätsrechte
berührt würden, offiziell zu antworten 1. Persönlich könne er nur be-
merken, „que la question qu'on a posee au Gouvernement turc porte
tout autrement atteinte ä la souverainete ottomane que la mission
allemande".
Herrn von Giers hat Großwesir gesagt, aus der Tatsache, daß
Rußland die Entsendung englischer Generalinspekteure nach Armenien
verhindert habe und jetzt auch der deutschen Militärmission Schwierig-
keiten bereite, müsse das türkische Volk den Schluß ziehen, daß
Rußland überhaupt keine Reformen in der Türkei wolle2. Aus den
Unterhaltungen mit Herrn Bompard und Mallet hatte Großwesir den
Eindruck, daß beide Botschafter, namentlich der englische, die Demarche
nur ungern mitmachten. Auch mir sprach Sir Mallet ziemlich ver-
legen über die englische Haltung und schien zum Ausdruck bringen
zu wollen, daß er nur seiner Ententepflicht genügen wolle. Ich konnte
mir nicht versagen, meinen Kollegen darauf aufmerksam zu machen,
daß die Frage, ob die deutsche Mission die Dardanellen gefährde, im
Munde eines englischen Botschafters etwas eigentümlich klinge 3. Denn
die Dardanellen gehörten ja gar nicht zum Machtbereich des Generals
Liman. Wohl aber seien dort die von Admiral Limpus4 kommandierten
Schiffe stationiert. Sir Louis gab dies lächelnd zu.
Wangenheim
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Gut
2 das stimmt
3 stimmt
* vielleicht wird der auch noch durch die Russen hinausgeärgert!
* Vgl. Nr. 15 482, Fußnote
256
Nr. 15 485
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 375 London, den 15. Dezember 1913
[pr. 16. Dezember]
Sir E. Grey empfing mich heute, indem er seine Genugtuung über
die auswärtige Rede Euerer Exzellenz* zum Ausdruck brachte. Er
habe sich über die Ausführungen, die England beträfen, besonders
gefreut, und entsprächen diese Gesinnungen auch vollkommen den
seinigen.
Im Laufe einer längeren Unterhaltung, während welcher ich mich
davon überzeugen konnte, daß der Minister sich in der denkbar besten
Stimmung befindet, kam Sir E. Grey auch auf die Angelegenheit der
deutschen Offiziere in Konstantinopel zu sprechen. Die Frage schien
ihn sehr zu beschäftigen, und er sagte, er freue sich, mit mir hierüber
sich aussprechen zu können. Noch nie habe er die russische Regierung
über eine Frage derart erregt gefunden. Infolge wiederholter und
dringender Vorstellungen, die von Petersburg aus hier erhoben wurden,
habe er sich bereit erklärt, in Konstantinopel mündlich und vertraulich
Erkundigungen über die den deutschen Offizieren einzuräumenden Be-
fugnisse einzuziehen. Es schien ihm vor allem darauf anzukommen, ob
die General Liman eingeräumte Stellung mit der früher von General
Freiherrn von der Goltz innegehabten übereinstimme oder ob in dieser
Hinsicht ein Novum eingetreten sei. Ihm persönlich würde auch dies
gleichgültig sein. Er müsse aber befürchten, daß, falls die den jetzigen
Offizieren erteilten Befugnisse eine wesentliche Erweiterung in der
Exekutive darstellten, von russischer Seite in Konstantinopel Ent-
schädigungen verlangt werden könnten 1, die etwa in Übertragung
eines Kommandos in Armenien gipfelten. Eine solche Lösung scheine
ihm, dem Minister, höchst bedenklich, da dies der Anfang vom Ende,
der Beginn der Aufteilung der asiatischen Türkei bedeute. Er werde
alles tun, um eine solche Wendung zu verhindern, doch könne er
angesichts der erregten Stimmung, die in Petersburg herrsche, den
Erfolg seiner Schritte nicht verbürgen.
Vorläufig versprach der Minister, nichts tun zu wollen, als die
gedachten mündlichen und vertraulichen Erkundigungen, die gesondert
und nicht in corpore 2 erfolgen würden, einzuziehen. Über das Ergebnis
* In seiner Reichstagsrede vom 9. Dezember 1913, in der er die außenpolitische
Lage eingehend darlegte, gedachte der Reichskanzler mit besonderer Betonung
der „Gleichartigkeit in dem Grundgedanken der deutschen und englischen Po-
litik rücksichtlich der weiteren Entwicklung der Türkei" und der „in so erfreu-
licher Weise fortschreitenden Besserung unseres Verhältnisses zu England".
17 Die Große Politik. 38. Bd. 257
wolle er mit mir Rücksprache nehmen, ehe er irgend etwas weiter unter-
nehme.
Auf meine Entgegnung, daß die Stellung des britischen Admirals,
der die gesamte türkische Flotte zu befehligen berufen sei, noch weit
über die des Generals Liman hinausginge, entgegnete der Minister, daß
Admiral Limpus genau dieselbe Stellung einnehme 3, die früher seine
Vorgänger4 gehabt hätten, eine Veränderung der Lage durch seine
Berufung also nicht eingetreten sei, während anscheinend General
Freiherr von der Goltz keinen eigentlichen Oberbefehl gehabt hätte. Auch
sei man in Rußland hinsichtlich der Flotte viel weniger empfindlich 5
als gerade wegen Konstantinopel. Hätte der deutsche General das
Korps in Adrianopel erhalten, so würde man sich viel eher beruhigt
haben. Aber gerade Konstantinopel sei für Rußland die empfindlichste
Stelle und die englisch-russische Verständigung sei auf der Grundlage
erfolgt, daß Konstantinopel den Türken bleiben solle und keine andere
Macht dort einen überwiegenden Einfluß erhalte. Es sei nun schwer
für ihn, an dieser für das beiderseitige Einvernehmen so wichtigen
Verständigung zu rütteln und einer anderen Macht indirekt behilflich
zu sein, dort einen entscheidenden Einfluß zu gewinnen.
Ich suchte dem Minister klar zu machen, wie wenig Wert die ganze
Offiziersendung für uns besitze und wie unwahrscheinlich es sei, daß
einige Offiziere auf den Gang der auswärtigen Politik in Konstantinopel
Einfluß gewännen. Wir hätten uns lediglich aus Gefälligkeit und mit
Rücksicht auf die Überlieferung dazu verstanden, der türkischen Re-
gierung einige Offiziere namhaft zu machen. Alles übrige sei zwischen
ihr und den betreffenden Herren ohne unser Dazutun abgemacht
worden. Die in Petersburg anscheinend bestehende Erregung könne
ich mir daher nur aus einer gewissen Ängstlichkeit der russischen
Machthaber gegenüber den nationalistischen russischen Blättern er-
klären.
Die Unterredung fand, wie gesagt, in einer durchaus verbind-
lichen und freundschaftlichen Form statt, und hatte ich den Eindruck,
daß die ganze Angelegenheit dem Minister sehr unangenehm war, und
daß er nicht recht weiß, wie er sich den, wie er wiederholt betonte,
drängenden und erregten Vorstellungen des Petersburger Kabinetts
entziehen soll 6, ohne seine dortige Stellung auf das Spiel zu setzen 7.
Lichnowsky
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Warum nicht wegen der Englischen Offiziere?
2 doch!
3 falsch
4 waren gar keine
5 na na??
6 einfach ignoriren!
7 kommt nicht in Frage aber wendet er sich gegen uns, dann ist es aus! Das
dulde ich nicht!
258
Nr. 15 486
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in London Fürsten
von Lichnowsky
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 2147 Berlin, den 16. Dezember 1913
Der Verlauf der Unterredung Ew. pp. mit Sir E. Grey in dei
Frage der deutschen Militärmission in Konstantinopel hat hier sehr
befriedigt. Auch die abschriftlich ergebenst beigefügten Meldungen
des Kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel * lassen erkennen, daß
England und Frankreich der russischen Regierung in der Frage nur zö-
gernd und widerstrebend Gefolgschaft leisten. Um so mehr dürfen wir
hoffen, daß es uns gelingt, auf dem Wege über London die russische
Regierung zu einer ruhigeren und besonneren Auffassung der Ange-
legenheit zurückzuführen. Es wird das allerdings wesentlich davon
abhängen, ob der Minister in Zukunft auf ein Vorgehen ohne vorherige
Fühlungnahme mit uns verzichten wird. Ich werde Sir E. Goschen mein
lebhaftes Bedauern über das bisherige einseitige Vorgehen der eng-
lischen Regierung in der Frage aussprechen, das unsere öffentliche
Meinung ab ein Dementi der jüngsten Erklärungen des Herrn
Reichskanzlers im Reichstage über das zwischen uns und England
bestehende Vertrauensverhältnis auffassen muß.
Was die Stellung des englischen Admirals in Konstantinopel be-
trifft, so habe ich Freiherrn von Wangenheim ersucht, wenn möglich,
den Wortlaut des betreffenden Anstellungsvertrages zu beschaffen.
Nicht darum handelt es sich, ob Admiral Limpus dieselbe Stellung ein-
nimmt wie früher, und ob die Befugnisse des Generals von Liman
weitergehen als diejenigen, die Freiherr von der Goltz gehabt hat,
sondern darum, ob die Befugnisse des deutschen Generals und des
englischen Admirals zurzeit identische sind oder nicht.
Zimmermann
Nr. 15 487
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 691 Pera, den 16. Dezember 1913
General Liman hat nach Rücksprache mit mir heute dem Kriegs-
minister erklärt, daß, wenn die türkische Regierung wegen der der
* Vgl. Nr. 15 484.
n* 259
deutschen Mission eingeräumten Position etwa in Schwierigkeiten
dritten Mächten gegenüber geraten sollte, er — der General — keines-
wegs auf den Wortlaut seines Kontrakts bestehen würde. Ihm käme
es nur darauf an, daß die zur praktischen Ausbildung der Kriegsschüler
und Generalstabsoffiziere nötigen Truppenteile des hiesigen Korps
ihm jederzeit und unbedingt zur Verfügung ständen. Unter letzterer
Voraussetzung ließe sich das Modellkorps vielleicht in Adrianopel
einrichten. Die Lösung würde dann sein, daß er anstatt zum Kom-
mandierenden General des I. Korps zum Inspekteur der in der euro-
päischen Türkei dislozierten Truppen ernannt würde. Izzet Pascha
hat, wie mir General Liman sagt, die Anregung anscheinend dankbar
aufgenommen und baldige Entscheidung in Aussicht genommen.
Wangenheim
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Nachdem die Sache schon solchen Umfang gewonnen, ist es fraglich, ob das
jetzt noch geht, ohne als Zurückweichen vor Russland und der Tripelentente
auszusehen *
Nr. 15 488
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 692 Konstantinopel, den 16. Dezember 1913
Großwesir bat, Seiner Majestät dem Kaiser und Euerer Exzellenz
den wärmsten Dank des Großwesirs und der Pforte dafür zu über-
mitteln, daß Deutschland trotz entstandener Schwierigkeiten mit der
Entsendung der Militärmission nicht gezögert habe. Die Türkei werde
diesen Freundschaftsdienst nimmer vergessen. Deutschlands Haltung
hebe sich vorteilhaft von der Englands ab, das die Reformer für
Armenien wieder zurückzieht und damit das armenische Problem so
* Das Auswärtige Amt teilte die Bedenken des Kaisers nicht. Noch am 16.
telegraphierte Staatssekretär von Jagow, der anscheinend schon vorher privatim
an Freiherrn von Wangenheim im Sinne eines deutschen Einlenkens gegenüber
den russischen Wünschen geschrieben (vgl. Nr. 15 493, Fußnote) und dadurch
vielleicht die sonst nicht recht verständliche entgegenkommende Haltung des
Botschafters und des durch ihn beeinflußten Generals von Liman veranlaßt hat,
nach Konstantinopel (Nr. 407) : „Mit Erklärung General Limans einverstanden.
Die Türkei muß vor , Kompensationsforderung' namentlich Rußlands bewahrt
bleiben. Zweckmäßig wäre schleunige Ernennung Limans zum Inspekteur,
damit dort zu erwartende englische Erkundigungen nach seinen Befugnissen
bereits entsprechend beantwortet werden können. Sir E. Grey hat gestern Fürst
Lichnowsky mitgeteilt (vgl. Nr. 15 485), daß er auf dringende russische Vor-
stellung sich zu entsprechenden mündlichen und vertraulichen Erkundigungen in
Konstantinopel entschlossen habe."
260
schwierig gestaltet habe*. Er — der Großwesir — gebe mir die
feierliche Versicherung, daß wir uns, wenn etwa noch weitere Ver-
wickelungen aus der Missionsfrage entstehen sollten, fest auf die
Türkei verlassen könnten, für die Türkei eine Pflicht nicht nur des
Anstands, sondern auch der Dankbarkeit. Falls England auf russi-
sches Drängen seine Mission abberufen sollte, so werde er sofort um
einen deutschen Admiral bitten.
Wangenheim
Nr. 15 489
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 694 Konstantinopel, den 18. Dezember 1913
Da Izzet Pascha auf die Anregung des Generals Liman nicht ge-
antwortet hatte, ist letzterer von mir veranlaßt worden, durch Major
von Strempel nochmals beim Kriegsminister wegen Verlegung des
Modellkorps nach Adrianopel etc. vorstellig zu werden und dabei
vertraulich auf die Gefahren aufmerksam zu machen, welche der Türkei
aus einem starren Festhalten an dem mit General Liman geschlossenen
Vertrage erwachsen könnten. Izzet Pascha hat daraufhin mit dem
Großwesir verhandelt und soeben dessen Antwort mitgeteilt. Danach
lehnte die Pforte es entschieden ab, irgendwelche Änderungen ein-
treten zu lassen1. Prinz Said Halim ist durch seine Gespräche mit
den Ententebotschaftern und durch die Meldungen der türkischen
Vertreter in Paris, London und Petersburg zu der Überzeugung ge-
langt, daß weitere und ernstere Schritte Rußlands2 und seiner Ver-
bündeten in der Angelegenheit nicht bevorstehen3**. Hier seien alle
Vorbereitungen für die Übergabe des Kommandos an General Liman
bereits getroffen und durch die Presse bekanntgegeben. Dschemal habe
durch eine öffentliche Proklamation feierlich von dem I. Armeekorps
sich verabschiedet und dasselbe dem deutschen General ans Herz
* Vgl. dazu Kap. CCLXXXIX.
** Daß Rußland am 17. Dezember an die Pforte folgende neue Forderungen
gestellt habe: 1. das Kommando der Gendarmerie in den armenischen Provinzen
solle russischen Offizieren übergeben werden; 2. die Festungswerke der Meer-
engen sollten nicht weiter befestigt, sondern im gegenwärtigen Zustande belassen
werden; 3. die in Armenien zu bauenden Bahnlinien sollten in der Breite der
russisch-kaukasischen Bahnlinien ausgeführt werden, wie in Schultheß' Euro-
päischer Geschichtskalender, Jg. 1913, S. 642 angeführt und daraus in andere
Darstellungen übernommen ist, trifft nicht zu. Weder in den Akten noch bei
Siebert, dem Schriftwechsel Iswolskys usw. ist von einem solchen Schritt der
russischen Regierung die Rede.
261
gelegt. Unter diesen Umständen würde das geringste Zurückweichen
unheilvolle Konsequenzen für die Stellung der türkischen Regierung
nach außen und innen und noch mehr für das Prestige Deutschlands
und der Militärmission haben. Er bestehe darauf, daß General Liman
das Kommando noch in dieser Woche antrete4.
Diese Sachlage schließt vorläufig eine Intervention meinerseits
beim Großwesir aus. Ich beabsichtige aber, Herrn von Giers zu sagen,
daß Liman und ich die spätere Verlegung des Modellkorps nach Adria-
nopel nicht für ausgeschlossen hielten und versuchen würden, die
Türken allmählich mit diesem Gedanken zu befreunden 5 6*. Über-
haupt könne er überzeugt sein, daß unsererseits alles geschehen würde,
um das Verhältnis der Mission zur türkischen Armee, soweit es die
militärischen Verhältnisse nur irgend erlaubten, den russischen Wün-
schen entsprechend zu regeln 7. Bei der gegenwärtigen Lage und der
Stimmung der Türken sei ein Verzicht General Limans auf das hiesige
Generalkommando undenkbar. Herr von Giers möge seinen Militär-
attache anweisen, mit dem ihm befreundeten Herrn von Strempel enge
Fühlung zu nehmen, damit beide Herren gemeinsam 8 die spätere
Lösung vorbereiten könnten 9.
Wangenheim
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einem Auszug des Telegramms:
i Gut
2 es kann nicht!
s richtig
* bravo! Der Großvezir muß eine Dekoration kriegen
5 beileibe nicht; das geht jetzt unter gar keinen Umständen! Und wäre eine
Desavouierung des Großvezirs!
6** man solle sich Russischer] Seits gedulden, wir würden schon allmählich
dafür sorgen, daß Russische] Besorgniße zerstreut, und erfüllbare, mit dem
Prestige der Türkei vereinbare Wünsche Rußlands, seitens der Türkei berück-
sichtigt würden. Daß augenblicklich nicht mehr geschehen könne, liege an
der unglaublichen Form, in der die Wünsche in Stambul unter Nichtachtung
des Selbstgefühls der Türken vorgetragen worden seien. Das habe man sich
selbst zuzuschreiben.
* In der Tat hat sich Freiherr von Wangenheim am 19., noch ehe ihm die
Berliner Antwort auf sein obiges Telegramm (siehe Nr. 15 491) zuge-
gangen war, gegenüber seinem russischen Kollegen im Sinne einer Ver-
legung des von einem Deutschen zu befehligenden Modellkorps von Konstanti-
nopel nach Adrianopel geäußert; doch betonte er, daß ein solcher Wechsel erst
in einiger Zeit vorgenommen werden könne, damit die öffentliche Meinung in
Deutschland und der Türkei darauf vorbereitet werden könne. Telegramm
von Giers' an Sasonow vom 20. Dezember 1913, v. Siebert, Diplomatische Akten-
stücke, a. a. O., S. 657 f. Mit Unrecht wollte Giers die Mitteilung Wangen-
heims bezweifeln, daß er den Türken zweimal vergeblich einen dahingehenden
Kompromiß vorgeschlagen habe.
** Randbemerkung 6 stellt eine Einschaltung vor, die der Kaiser an Stelle der
von ihm im Text eingeklammerten Worte „und versuchen würden, die Türken
allmählich mit diesem Gedanken zu befreunden" vornahm.
262
7 unmöglich!!!
8 nein! bestimmt nicht! Das ist unsere Sache allein; ausgeschlossen!
9 geht jetzt nicht! wäre ja eine direkte Ingerenz Rußlands in die Türkische
Armee, und bei der augenblicklichen Haltung des Großvezirs ausgeschlossen
Nr. 15 490
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in Petersburg Grafen
von Pourtales
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nn 234 Berlin, den 18. Dezember 1913
Ich habe vorgestern Herrn Sverwejew lebhaftes Bedauern über
auf Betreiben Rußlands erfolgte Demarche der Entente in Konstan-
tinopel ausgesprochen. Ich könne es meinerseits nur als peu amical be-
zeichnen, wenn die russische Regierung diesen Schritt getan habe, ohne
das Ergebnis der ihr von dem Herrn Reichskanzler in Aussicht ge-
stellten Prüfung der Frage durch General Liman an Ort und Stelle
abzuwarten.
Nach Meldung des Freiherrn von Wangenheim lehnt die Pforte
entschieden ab, Änderungen eintreten zu lassen. Prinz Said Halim
ist zu der Überzeugung gelangt, daß weitere und ernstere Schritte
Rußlands und seiner Verbündeten in der Angelegenheit nicht bevor-
stehen. Es seien alle Vorbereitungen für die Übergabe des Kommandos
an General Liman bereits getroffen und durch die Presse bekannt-
gegeben. Unter diesen Umständen würde das geringste Zurückweichen
unheilvolle Konsequenzen für die Stellung der türkischen Regierung
nach außen und innen haben. Er bestehe darauf, daß General Liman
das Kommando noch in dieser Woche antrete.
Ew. pp. wollen Herrn Sasonow sagen, daß bei dieser Sachlage
und infolge des russischen Vorgehens es zurzeit für uns unmöglich
sei, weitere Schritte in der Sache zu tun. Er möge aber überzeugt sein,
daß die ernsten Beschwerden, zu denen uns die Stellung der russischen
Regierung im vorliegenden Falle Anlaß gäben, uns nicht abhalten
würden, alles zu tun, um das Verhältnis der Mission zur türkischen
Armee, soweit es die militärischen Verhältnisse nur irgend erlaubten,
den russischen Wünschen entsprechend zu regeln. Ich bäte ihn zu
diesem Zweck Herrn von Giers anzuweisen, den russischen Militär-
attache in Konstantinopel zu enger Fühlungnahme mit dem ihm be-
freundeten Herrn von Strempel anzuhalten, damit beide Herren ge-
meinsam eine spätere Lösung vorbereiten könnten.
Zimmermann
263
Nr. 15 491
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in Konstantinopel
Freiherrn von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 410 Berlin, den 19. Dezember 1913
Auf Telegramm Nr. 694*.
Seine Majestät sind mit Mitteilung an Herrn von Giers einver-
standen, daß Liman und Sie die spätere Verlegung des Modellkorps
nach Adrianopel nicht für ausgeschlossen hielten. Mit Rücksicht auf
feste Haltung des Großwesirs hält Seine Majestät übrigens folgende
Sprache für angezeigt**.
„Man solle sich russischerseits nur gedulden, wir würden schon
allmählich dafür sorgen, daß russische Besorgnisse zerstreut und er-
füllbare, mit dem Prestige der Türkei vereinbare Wünsche Rußlands
seitens der Türkei berücksichtigt würden. Daß augenblicklich nicht
mehr geschehen könne, liege an der unglaublichen Form, in der die
Wünsche in Stambul unter Nichtachtung des Selbstgefühls der Türken
vorgetragen worden seien. Das habe man sich selbst zuzuschreiben."
Zimmermann
Nr. 15 492
Der Botschaf ter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 696 Konstantinopel, den 19 Dezember 113
Aus sicherer Quelle höre ich, daß Herr Mallet seiner Regierung
dringend von einer Teilnahme an der Demarche der Ententemächte
wegen der Militärmission abgeraten hatte, unter Hinweis auf die Stel-
lung des Admirals Limpus * und auf die Gefahr, daß eine Situation
ähnlich derjenigen entstehen könnte, die 1870 aus der französischen
Forderung eines Verzichts auf die Hohenzollernkandidatur in Spanien
sich ergeben hatte. Sir E. Grey habe auf der englischen Beteiligung
hauptsächlich deswegen bestanden, weil er Rußland wegen der base
* Siehe Nr. 15 489.
** Vgl. Randbemerkung 6 des Kaisers zu Nr. 15 489.
264
naval in Ismid2, worüber man in Petersburg sehr erregt gewesen sei,
habe beruhigen wollen 3. Dem italienischen Botschafter sagte Mallet
vertraulich, England habe die Demarche mitgemacht, damit Rußland
nicht allein bleibe4 und irgend eine Unvorsichtigkeit5 begehe.
Mir sagte mein englischer Kollege, dessen Deutschfreundlichkeit
immer mehr hervortritt, gestern, daß, so sehr er auch wünsche, daß
Deutschland den russischen Wünschen etwas entgegenkomme, er doch
vollkommen begreife, daß Deutschland, solange ein russischer Druck
ausgeübt werde, seines Prestiges wegen nicht nachgeben und jeden-
falls jetzt nicht auf das hiesige Generalkommando verzichten könne 6.
Die Ansicht hiesiger russischer Kreise ist: „Alexander III. hätte mobil
gemacht. Der jetzige Zar wird auch diesmal klein beigeben."
Wangenheim
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer modifizierten Abschrift des
Telegramms:
1 Sehr richtig.
2 Ich weiß nichts davon, was ist damit?
3 das scheint ja an der Tagesordnung dort zu sein! —
Auf unsere Kosten!! Dafür sind wir Qrey immer gut genug um auf unsere
Kosten Rußland neue kleine Freudefn] zu machen! Ich bedanke mich aber so
mißbraucht zu werden.
* faule Ausrede
5 denkt nicht daran
6 richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Grey hat sich louche benommen! Wie lange will er noch auf beiden Seiten
hinken? Ist's Russland, so gehe er offen mit ihm; sind wir es so gehe er
offen mit uns!
Nr. 15 493
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Privatbrief. Ausfertigung
Pera, den 17. Dezember 1913
[pr. 21. Dezember]
Mit Ihnen habe ich volles Verständnis für die russische Aufregung
über die deutsche Militärmission*. Letztere kränkt das russische Na-
tionalempfinden, welches Stambul als den zukünftigen Besitz Ruß-
lands ansieht. Die Etablierung eines deutschen Generals mit Kom-
Dem Privatbriefe Freiherrn von Wangenheims ist offenbar ein solcher des
Staatssekretärs von Jagow an den Botschafter voraufgegangen, der diesem
nahelegte, wenn möglich einen Vorschlag zu einer Beilegung der Affäre mittels
eines das deutsche Prestige wahrenden Auskunftsmittels zu machen. Bei den
Akten liegt ein solcher Brief nicht.
265
mandogewalt in der türkischen Hauptstadt konterkariert die Pläne
der russischen Politik. Trotz aller Versicherungen des Zaren, Sasonows
und Kokowzows glaube ich nicht an die ehrliche Absicht Rußlands,
die Türkei sich erholen lassen zu wollen. Für denjenigen, der hier
hinter die Kulissen der russischen Politik zu schauen vermag, kann
auch nicht der geringste Zweifel bestehen, daß Rußland seine finsteren
Pläne gegen das türkische Reich zwar aufgeschoben, nicht aber
aufgegeben hat. Der Bock soll nur geschont werden, um später
abgeschossen zu werden. Rußland fürchtet, daß unsere Mission zu
einer militärischen Erstarkung der Türkei führen könnte. Es befürchtet
ferner, daß, wenn aus der türkischen Armee die Politik verschwindet,
und wenn speziell in der Hauptstadt den Offizieren jede Beschäftigung
mit der Politik unmöglich gemacht wird, die Jungtürkenherrschaft mit
ihren dreibundfreundlichen Tendenzen sich dauernd festsetzt. Selbst
Giers ist der Meinung, daß, wenn überhaupt eine leichte Hoffnung auf
Gesundung der Türkei besteht, diese nur durch die Jungtürken realisiert
werden kann. Die russische Opposition richtet sich daher gegen die
deutsche Mission im allgemeinen. Wäre Liman nicht zum Komman-
dierenden General des hiesigen Korps ernannt worden, so hätten die
Russen einen anderen Punkt unseres Programms herausgegriffen, um
daran ihren Protest anzusetzen. Es ist nun ein glücklicher Umstand, daß
das effektive Kommando in Konstantinopel gerade derjenige Punkt ist,
auf welchen wir am leichtesten verzichten können. Ich war von vornherein
gegen das Kommando, weil es mir schien, daß der General mit seinem
Eintritt in die Reihe der türkischen Korpskommandanten sich etwas an
seiner Stellung vergeben, und daß ein Teil seiner Arbeitskraft durch
eine nebensächliche Aufgabe verbraucht werden würde. Meine Mei-
nung wird noch heute von sämtlichen bisherigen Reformern geteilt. Die
Türken wollten aber dem General keine höhere Kommandogewalt als
die über ein Korps einräumen, und dann mußte selbstverständlich
das hiesige Korps gewählt werden. Ohne effektive Kommandogewalt
kann der General überhaupt nicht arbeiten. Es könnte ihm sonst
passieren, daß Truppen, welche er zur Ausbildung seiner Schüler
braucht, überhaupt nicht auf dem Manöverfelde erscheinen. Mein
Plan geht nun dahin, zu erreichen, daß Liman an die Spitze einer
Armeeinspektion gestellt wird, zu welcher sowohl das hiesige als das
Adrianopler Korps gehört. Letzteres erhält Bronsart. Hier wird
ein Türke Kommandierender General. Derselbe muß aber der Mis-
sion insoweit unterstellt werden, als er verpflichtet wird, für Manöver
jeglicher Art sich jederzeit zur Verfügung des deutschen Generals
zu halten. Die Neuordnung würde eine Hebung der Limanschen Stel-
lung bedeuten, jedenfalls aber keinen Rückzug vor Rußland, das
seinerseits den Verzicht Limans auf das hiesige Oberkommando sich
als Erfolg anrechnen könnte. Damit kämen wir aus dem akuten
Stadium der Krisis heraus, freilich ohne damit die prinzipielle
266
Gegnerschaft Rußlands definitiv beseitigt zu haben. Jedenfalls würden
wir unseren guten Willen bekunden und den Alliierten Rußlands einen
Vorwand geliefert haben, sich aus der Sache zurückzuziehen.
Ob es gelingen wird, die geschilderte Modifizierung der Liman-
schen Stellung zu erreichen, kann ich heute noch nicht sagen. Ich
habe mit zwei Widerständen zu kämpfen. Erstens ist General Liman
ein sehr leidenschaftlicher Herr, der an seine Aufgabe mit großem
Ernst, aber gleichzeitig mit Enthusiasmus und einem auf Nichtkenntnis
der Türkei beruhenden Idealismus herantritt und jedenfalls nicht ge-
neigt ist, sehr weitgehende Konzessionen zu machen. Als ihm gestern
von Ihren Wünschen vertraulich Kenntnis gegeben wurde, geriet er
in große Aufregung, sprach vom Umfallen des Auswärtigen Amts etc.
Nur schwer ließ er sich überzeugen, daß da keine Beschneidung, son-
dern nur eine Erhöhung seiner Stellung beabsichtigt sei. Ich habe den
Eindruck, daß Liman wohl schließlich das Inspektorat an Stelle des
Korpskommandos akzeptieren würde, daß er aber keinesfalls deswegen
bei Izzet Pascha in einer Weise insistieren wird, die den Charakter
eines deutschen Zurückweichens tragen würde. Ob die Türkei den
Izzet Pascha gemachten Vorschlag annehmen wird, ist bis zur Stunde
ungewiß. Izzet hat sich noch nicht geäußert. Liman hat auf Zu-
reden meinerseits sich schließlich bereit erklärt, seine Anfrage noch ein-
mal zu stellen. Lehnt die Türkei ab, so kann ich nachträglich nicht
nochmals beim Großwesir auf die Sache zurückkommen, ohne den
Eindruck „que nous canons" zu erwecken. Aller Augen sind hier auf
meine Haltung gerichtet. Ich muß also vorsichtig sein. Auch wenn die
Türken schließlich den General zum Inspekteur ernennen, würde ich
dafür sein, daß Liman zunächst und mindestens noch für ein bis zwei
Monate das hiesige Korps übernimmt und erst dann in die höhere Stel-
lung aufrückt. Giers deutete mir neulich selbst an, er sähe ein, daß
ein sofortiger Verzicht auf das Kommando sich mit unserem Prestige
kaum vereinbaren lassen würde, er hoffe nur, daß nach einiger Zeit
das Regime geändert werde.
Das Fragezeichen in der ganzen Sache bleibt vorläufig die Pforte.
Die Jungtürken haben die Mission hauptsächlich deshalb gerade hier
und mit direkter Unterstellung des Generalkommandos etablieren wol-
len, weil sie in der Mission und in ihrem Einflüsse auf die Armee die
Hauptstütze ihrer Herrschaft gegenüber den Intrigen der Ententisten
und der fremden Mächte erblicken. Ferner ist zu beachten, daß die
Türken ganz gewiß nicht zurückweichen werden, wenn sie den Ver-
dacht bekommen, daß es sich um einen Rückzug gegenüber Rußland
handelt. Die Losung der Jungtürken lautet: „durchhalten gegenüber
den Mächten! Lieber anständig untergehen, als noch weiter Ein-
mischung in die inneren Verhältnisse des Landes zulassen." Ich be-
kämpfe diese gefährliche Tendenz nach Kräften. Leider aber sehe ich,
daß die intransigente Strömung täglich an Boden gewinnt. Der Ein-
267
tritt des radikalen Dschemal Bey in das Ministerium* ist in dieser Hin-
sicht bezeichnend. Wir müssen also darauf gefaßt sein, daß die Pforte
uns erklärt, sie bestände auf ihrem Vertrage mit Liman. An einem
solchen Entschluß würde eine englische Anfrage oder gar eine russische
Drohung nicht das geringste ändern. In London und St. Petersburg
muß man sehr schlecht unterrichtet sein über die gegenwärtige Stim-
mung der Pforte. Die Zeit der Drohungen und Ratschläge ist für die
Tripelentente vorbei.
Für alle Fälle müssen wir also darauf vorbereitet sein, daß die
Türkei an Liman als kommandierendem General festhält und das
Modellkorps in Adrianopel verwirft. Die Besorgnisse, daß dann Ruß-
land feindlich gegen uns und die Türkei wird, sind natürlich berechtigt.
Ich finde mich aber mit folgender Erwägung ab: Rußland hat wegen
Adrianopels, wegen der Armenier und wegen anderer Fragen in den
letzten Monaten so oft erklärt, daß es die Entwickelung der Dinge
nicht ruhig hinnehmen, sondern seine eigenen Wege gehen werde,
daß derartige Drohungen an Bedeutung eingebüßt haben. Für die
hiesige Beobachtung geht aus der russischen Haltung zweierlei her-
vor, einmal daß Rußland sich nicht stark genug fühlt, die Hauptfrage,
das heißt die Aufteilung der Türkei anzuschneiden, und daß es kein Ver-
trauen auf die Unterstützung durch seine Verbündeten hat. Wenn
Rußland entschlossen wäre, ganze Arbeit zu machen, so hätte es dazu
bereits die Armenierfrage oder irgend eine Gelegenheit während des
Balkankrieges ausgenutzt. Daraus schließe ich, daß Rußland auch
dieses Mal sich zu guter Letzt beruhigen, und daß die Kooperation
seiner Verbündeten das diplomatische Terrain nicht verlassen wird. Wir
müssen das Äußerste versuchen, um Rußland eine fiche de consolation
zu verschaffen. Gelingt es nicht, so können wir das Weitere ohne allzu
große Beklemmungen abwarten. Das meiste wird dann auf das takt-
volle Auftreten Limans und seiner Herren ankommen.
Wangenheim
* Er war zum Bautenminister ernannt worden. Über seine Stellungnahme zu
der Frage eines Verzichts General Limans auf das Korpskommando belehrt ein
Telegramm Freiherrn von Wangenheims vom 24. Dezember (Nr. 703): „Der
Bautenminister Dschemal Bey sagte mir, er habe gehört, daß über den Verzicht
des Generals Liman auf das Kommando des ersten Korps verhandelt werde.
Er und seine näheren Freunde würden sich einem derartigen recul vor Rußland
auf das äußerste widersetzen und keinen in dieser Frage nachgiebigen Kriegs-
minister dulden. Eine Reform sei unmöglich, wenn das hiesige Korps dem
direkten Einfluß des Reformators entzogen werde. Hier vollziehe sich die
Reform vor den Augen der leitenden türkischen Kreise und Europas. Gelinge
sie, so werde sie das Prestige der Mission derart erhöhen, daß die Armee in
den Provinzen von selbst sich den Anordnungen Limans unterwerfen würde.
Von Adrianopel aus sei ein derartig befruchtender Einfluß ausgeschlossen."
268
Nr. 15 494
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 365 St. Petersburg, den 20. Dezember 1913
Bei einer Unterredung, die ich eben mit Herrn Sasonow hatte,
habe ich mich entsprechend den letzten mir von Euerer Exzellenz in
betreff der Stellung unserer Militärmission in der Türkei erteilten
Weisungen * dem Minister gegenüber geäußert. Obgleich ich nicht
unterließ zu betonen, daß wir den auf Betreiben Rußlands in Kon-
stantinopel erfolgten Schritt der Tripelentente als einen wenig freund-
schaftlichen Akt betrachteten, der uns ernsten Anlaß zur Beschwerde
gebe, nahm der Minister meine Mitteilungen im allgemeinen freund-
lich auf und bemerkte, er sehe dieselben als freundschaftliche an. Herr
Sasonow ersuchte mich ausdrücklich Euerer Exzellenz für diese Mit-
teilung zu danken und erklärte, er werde sofort nach Konstantinopel
telegraphieren und den dortigen russischen Militärattache durch Herrn
von Oiers anweisen lassen, sich in der von Euerer Exzellenz vorge-
schlagenen Weise mit Herrn von Strempel in Verbindung zu setzen.
Der Minister sprach dann die Hoffnung aus, daß die eventuell
den russischen Wünschen entsprechende Regelung der militärischen
Verhältnisse unserer Mission zur türkischen Armee nicht zu lange auf
sich warten ließen. Ich erwiderte darauf, es würde jedenfalls, bevor
etwaige Änderungen eingeführt würden, noch einige Zeit gewartet
werden müssen, um den Gemütern in Konstantinopel Zeit zu geben,
sich zu beruhigen.
Herr Sasonow bemerkte ferner, es würde ihm außerordentlich an-
genehm sein, etwa in der „Rossija" irgend etwas zur Beruhigung
der hiesigen öffentlichen Meinung veröffentlichen zu können. Die
Wahl der „Formel" würde er uns ganz überlassen. Nur mit Mühe habe
er eine Interpellation in der Duma in der Frage verhindert, er würde
es daher für nützlich halten, wenn in irgendeiner Art gesagt werden
könnte, daß der freundschaftliche Gedankenaustausch zwischen der
russischen und der deutschen Regierung in der Frage der Militär-
mission fortdauere und die Hoffnung, eine beide Teile befriedigende
Lösung zu finden, noch nicht aufgegeben sei. Ich erwiderte dem Mi-
nister, daß ich seinen Wunsch Euerer Exzellenz übermitteln würde,
ich müsse aber schon jetzt darauf aufmerksam machen, daß auch wir
auf unsere öffentliche Meinung Rücksicht nehmen müßten, bei welcher
alles, was als Anzeichen des Einlenkens von unserer Seite aus-
Vgl. Nr. 15 490.
269
gelegt werden könnte, auf lebhaften Widerspruch stoßen würde. Ich
fügte hinzu, daß wenn in beiden Ländern die Frage die Gemüter erregt
hätte, die unerfreulichen Diskretionen, die nicht von uns ausgegangen
wären, hieran Schuld trügen.
F. Pourtales
Nr. 15 495
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in Petersburg Grafen
von Pourtales
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 236 Berlin, den 22. Dezember 1913
Auf Bericht Nr. 365*.
Mit Euerer Exzellenz Sprache einverstanden. Der Herr Reichs-
kanzler hat Sverwejew ebenfalls nachdrücklich darauf hingewiesen,
daß uns die Erfüllung unseres Wunsches, Rußland entgegenzukommen,
schon durch die Indiskretionen der französischen Presse sehr erschwert
wurde. Die gemeinsame Demarche der Ententemächte in Konstan-
tinopel habe unsere Lage noch verschlechtert, da der Schritt von unserer
öffentlichen Meinung als direkt feindliche Stellungnahme der Tripel-
entente gegen Deutschland aufgefaßt werde.
Die von Sasonow gewünschte beruhigende Erklärung in der Presse
würde daher zurzeit die gegenteilige Wirkung, das heißt einen Sturm der
Entrüstung bei uns hervorrufen, was schon mit Rücksicht auf die durch
die bekannten inneren Schwierigkeiten** sehr prekäre Lage der Reichs-
regierung vermieden werden muß. Auf unseren guten Willen kann
Rußland sich verlassen, uns wird indes selbst beim besten Willen ein
Entgegenkommen unmöglich gemacht, wenn Rußland die bisherige
Praxis fortsetzt.
Zimmermann
Nr. 15 496
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Zimmermann an den Botschafter in London Fürsten
von Lichnowsky
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 493 Berlin, den 22. Dezember 1913
Russischerseits besteht anscheinend Absicht England zu veranlassen,
daß es uns eine den russischen Wünschen entsprechende Abänderung
* Siehe Nr. 15 494.
** Die innerpolitische Lage war durch den „Zabern-Fall", der zu langen Aus-
einandersetzungen im Reichstage Veranlassung gab, kompliziert.
270
der Verträge des englischen Admirals und deutschen Generals in Kon-
stantinopel vorschlägt*. Wie wir wissen, hat insbesondere englischer
Ismidkontrakt in Petersburg sehr verstimmt. Unserem politischen Inter-
esse würde daher vorgeschlagene Lösung nicht entsprechen, abgesehen
davon, daß Vorgehen der Entente Diskussion irgendwelcher Vorschläge
für uns zurzeit überhaupt ausschließt.
Nach unseren Nachrichten aus Konstantinopel hat sich das türkische
Selbstgefühl so gehoben, daß ein Rückzug in der Frage der Militär-
instrukteure für das Ansehen Deutschlands wie Englands in der ganzen
mohammedanischen Welt gleich verhängnisvoll sein würde. England
würde im Hinblick auf Indien dadurch noch mehr betroffen werden als
wir. Es wird Ew. pp. nicht schwer fallen können, Sir E. Grey, den ich
bitte unter Bezugnahme auf entsprechende Zeitungsnachrichten unver-
züglich auf die Frage anzureden, davon zu überzeugen, daß ein Ein-
gehen auf die russischen Wünsche, das als weitere Konsequenz auch
Verzicht auf den Ismider Dockvertrag zur Folge haben müßte, dem
englischen Interesse direkt zuwiderlaufen würde. Auch bitte ich, ge-
gebenenfalls, als Ihre persönliche Überzeugung auszusprechen, daß
unsere Haltung durch etwaige englische Nachgiebigkeit nicht be-
einflußt werden würde.
Zimmermann
Nr. 15 497
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 380 London, den 23. Dezember 1913
Antwort auf Telegramm Nr. 493**.
Sir E. Grey verreist, zurückkehrt keinesfalls vor Feiertagen. Halte
es auch für besser abzuwarten, daß er mit Vorschlägen an mich heran-
tritt, und nicht durch vorzeitige Ablehnung aller noch ungeborenen
Projekte den Anschein der Schroffheit und schlechten Willens zu er-
wecken. Er käme auch dadurch in die Lage, unbequeme Anregungen
von russischer Seite unter ausschließlicher Verwertung unserer Haltung
zu beantworten.
Da ihm die ganze Sache höchst peinlich ist, schon weil sie geeignet
erscheint, das Einvernehmen zwischen den Mächten zu stören, so
wird er versuchen, eine Lösung zu finden oder aber den Streit allmählich
versumpfen zu lassen. Übrigens ist auch Graf Benckendorff auf vier-
zehn Tage nach Neapel gefahren. Vor seiner Abreise sagte er mir,
• Vgl. Nr. 15 483, S. 254, Fußnote«.
** Siehe Nr. 15 496.
271
er hoffe, es werde uns hier gelingen, irgendeinen Ausweg zu finden,
da die Unterhaltung zwischen Berlin und Petersburg abgebrochen sei.
Welchen wisse er selbst nicht. Kaiser Nikolaus fühle sich persönlich
verletzt und sei sehr verstimmt.
Lieh no ws ky
Nr. 15 498
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 702 Konstantinopel, den 23. Dezember 1913
Neuerdings hat Herr Bompard in der Frage der Militärmission
eine schärfere Sprache geführt als zu Anfang*.
Ich habe Herrn von Giers auf diese Erscheinung aufmerksam ge-
macht und dabei durchblicken lassen, daß meine hiesigen Dreibunds-
kollegen mich auch zur Festigkeit ermahnten. — Zu dieser Beobachtung
habe ich bemerkt, daß unsere beiderseitigen Verbündeten ein Interesse
daran haben könnten, den deutsch-russischen Gegensatz in dieser
Frage zu verschärfen, um ihr eigenes politisches Gewicht innerhalb
und außerhalb der Allianzen zu steigern, während es sowohl das Inter-
esse Deutschlands wie Rußlands erheische, bei aller Bundestreue eine
gewisse Bewegungsfreiheit zu behalten.
Wangenheim
Nr. 15 499
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 701 Konstantinopel, den 23. Dezember 1913
Im Anschluß an Telegramm Nr. 694**.
Großwesir sagte mir gestern, er könne nicht umhin, die wenig
freundliche Haltung der Tripelentente in den Fragen der Inseln und
* Die Stellungnahme Botschafter Bompards wird dadurch charakterisiert, daß
er, Ende Dezember 1913 in Paris weilend, der französischen Regierung den
Vorschlag machte, Rußland möge, wenn es nicht auf friedlichem Wege in der
Frage der Militärmission zu seinem Ziele gelange, sich vom Sultan einen Ferman
zur Durchfahrt eines der Panzerschiffe der Schwarzmeerflotte durch die Meer-
engen erbitten, dieses Panzerschiff in den Bosporus einlaufen lassen und dann
erklären, es würde nur nach einer Änderung des Vertrages des Generals Liman
und seiner Offiziere abdampfen. Iswolsky an Sasonow, 1. Januar 1914. Der
Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911 — 1914, ed. Fr. Stieve, IV, 10.
** Siehe Nr. 15 489.
272
der Anleihe auf die deutsche Militärmission zurückzuführen. Ich er-
widerte, mir scheine eine rasche Beruhigung Rußlands bezüglich der
Militärmission im türkischen Interesse zu liegen. Ich persönlich sei, wie
er wisse, niemals für die direkte Unterstellung des Konstantinopeler
Armeekorps unter General Liman eingenommen gewesen, weil die Ein-
reihung des Generals unter die Korpskommandeure dessen Stellung
als Reformator der gesamten türkischen Armee beeinträchtige, und weil
bei etwaigen politischen Unruhen in der Hauptstadt der General in
eine schiefe Lage kommen könnte. Die Stellung Limans werde stärker
und unangreifbarer werden, wenn derselbe nach einiger Zeit das
Kommando des Korps niederlege und sich ausschließlich der Reorgani-
sationsaufgabe widme. Ob die Mission reüssiere, hänge nicht von
bestimmten dem General erteilten Gewalten und geschriebenem Kon-
trakt sondern ausschließlich von der Harmonie ab, welche zwischen
dem Kriegsminister und General Liman bestehe. Seien diese beiden
Stellen sich einig, so könne Liman seine Pläne durchsetzen, ohne daß
irgendeine Macht sich einmischen könne. Beständen dagegen Meinungs-
verschiedenheiten zwischen Kriegsminister und General, so könne die
Pforte trotz aller Kontrakte die Lage binnen weniger Tage so ge-
stalten, daß der General die Türkei verlassen müsse. Der Großwesir
erkannte schließlich meine Ausführungen als zutreffend an. Abends
sagte er mir, der Kriegsminister sei auch meiner Meinung und damit
einverstanden, daß Liman das Korps nach einigen Monaten wieder
abgebe, und daß dann ein Modellkorps in einer anderen türkischen Stadt,
etwa Adrianopel oder Smyrna, eingerichtet werde.
Auf Grund der Erklärung des Großwesirs habe ich vorsichtig und
unverbindlich Verhandlungen mit Herrn von Giers weitergeführt*. Der
Botschafter sagte mir, Rußland käme es ausschließlich darauf an, daß
der General das Kommando über die Garnison der Hauptstadt nicht
dauernd beibehalte. Der Kommandowechsel müsse sobald als möglich
erfolgen, das heißt in etwa zehn Tagen, weil die russische Regierung sonst
von der durch Frankreich aufgehetzten öffentlichen Meinung debordiert
werden würde. Ich sagte Herrn von Giers Entgegenkommen in der
prinzipiellen Frage zu, erklärte aber auf das allerbestimmteste, daß an
ein Niederlegen des Kommandos vor einigen Monaten gar nicht zu
denken sei. Der Rücktritt des Generals vom Korps müsse aus der
natürlichen Entwickelung der Dinge und als freier Entschluß desselben
und der türkischen Regierung erscheinen. Tatsächlich wolle der General
ja durch die direkten Beziehungen zu den Truppen nur wertvolle Er-
fahrungen über den türkischen Dienstbetrieb sammeln, um dieselben
später bei seinen größeren Aufgaben verwerten zu können. Die öffent-
* Vgl. das Telegramm von Giers' an Sasonow Nr. 1072 vom 20. Dezember
und die Antwort Sasonows vom 21. Dezember, v. Siebert, Diplomatische Akten-
stücke, a. a. O., S. 658 ff.
18 Die Große Politik. 38. Bd. 273
liehe Meinung könne vielleicht dadurch beruhigt werden, daß von
irgendeiner amtlichen Stelle öffentlich auf den provisorischen Cha-
rakter des Kommandos hingewiesen werde. Das könne in der offiziösen
russischen und deutschen Presse nach vorhergegangener Verständigung
zwischen den beiden Kabinetten, vielleicht besser aber noch durch eine
Erklärung des Großwesirs an den russischen Botschafter geschehen.
Herr von Giers und ich kamen überein, diesen Gedanken zunächst
vertraulich unseren Regierungen zu unterbreiten. Inzwischen finden
vertrauliche Besprechungen zwischen den beiden Militärattaches statt.
Wangenheim
Nr. 15 500
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn
von Wangenheim
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 416 Berlin, den 24. Dezember 1913
Streng vertraulich
Auf Telegramm Nr. 701 *. Selbstverständlich muß jede Änderung
als freier Entschluß der Türkei erscheinen, der aus natürlicher Ent-
wicklung hervorgeht. Anschein eines „Zurückweichens" von uns vor
Rußland ist absolut zu vermeiden. Halte deshalb offiziöse Verlaut-
barung über künftige eventuelle Änderung im jetzigen Moment für
verfrüht und unangebracht.
Halte für angezeigt, daß Änderung mit voller Zustimmung des
Generals Liman erfolgt und er selbst von Zweckmäßigkeit über-
zeugt wird.
Jagow
Nr. 15 501
Der Botschafter in Paris Freiherr von Schoen an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 428 Paris, den 23. Dezember 1913
[pr. 24. Dezember]
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Frankreich den weiteren Schrit-
ten, welche Rußland wegen der den deutschen Offizieren eingeräumten
Stellung in Konstantinopel unternehmen dürfte, sich anschließen wird **.
* Siehe Nr. 15 499.
** Vgl. dazu das Geheimtelegramm Iswolskys Nr. 591 vom 18. Dezember:
„Der Außenminister versichert mich seiner vollkommenen Solidarität und erklärt
274
Die Regierung geht zwar nicht so weit wie ein größer Teil der
hiesigen Presse, der von Verwandlung der Türkei in eine deutsche
Provinz, von einem deutschen Ägypten und Ähnlichem spricht, aber
sie teilt doch die russische Auffassung, daß mit der Übertragung des
Kommandos des Konstantinopeler Armeekorps an einen preußischen
General dem deutschen Einfluß ein für das russische Prestige abträg-
liches Übergewicht gesichert werde.
Der politische Direktor am Quay d'Orsay, Herr Paleologue, meinte
in einem vertraulichen Gespräch, das er gelegentlich mit mir anknüpfte,
er wolle nicht gerade sagen, daß deutsche Offiziere den Schlüssel der
Meerengen in die Hand bekämen, aber es sei doch nicht zu verkennen,
daß sie mit dem ersten Armeekorps in ungewöhnlichen Zeiten eine
ausschlaggebende Haltung einzunehmen und damit den Verlauf der
Dinge mehr oder weniger nach deutschen Gesichtspunkten zu be-
einflussen vermöchten.
Meinem Einwurf, daß es sich jetzt nicht mehr um deutsche sondern
um türkische Offiziere handle, die ihrer deutschen Erziehung getreu
sich nicht um Politik sondern lediglich um militärische Ausbildung
kümmern würden, sowie meinem Hinweis, daß die englische Ober-
leitung der türkischen Flotte weit eher als eine Beherrschung Kon-
sich bereit, uns mit allem Nachdruck zu unterstützen." Ferner den Brief Is-
wolskys an Sasonow vom gleichen Tage: „In der brennendsten und für uns
wichtigsten Frage, derjenigen der deutschen Militärinstrukteure, folgt uns
H. Doumergue bisher ohne Schwanken, und bei jedem Zusammentreffen mit mir
erklärt er seine völlige Übereinstimmung mit uns sowie seine Bereitwilligkeit,
uns die tatkräftigste Unterstützung angedeihen zu lassen." Der Diplomatische
Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 425, 430. Am 30. Dezem-
ber engagierte sich Doumergue gegenüber Iswolsky auch schriftlich dahin, daß
„die Regierung der Republik fest entschlossen ist, allen Schritten der Kaiser-
lichen Regierung in der Angelegenheit der Mission des Generals von Sanders in Kon-
stantinopel sich anzuschließen" (a. a. O., III, 437). Die feste Haltung Doumergues,
dessen radikales Kabinett nach Iswolsky „sehr wenig geneigt und geeignet" war,
eine tatkräftige auswärtige Politik zu führen, erklärt sich aus der fortgesetzten
Ingerenz des Präsidenten der Republik Poincare. Wie Iswolsky am 5. Januar
nach Petersburg meldete, unterstrich Poincare ihm gegenüber „auf das alier-
bestimmteste" die Erklärung Doumergues vom 30. Dezember, daß Frankreich
fest entschlossen sei, mit Rußland in der Liman Sanders-Affäre bis zum Ende
zusammenzugehen: „Aus den Worten Poincares habe ich schließen können, daß
die Ausdrücke der genannten Antwort von ihm selbst und seinen Ministern auf
das sorgfältigste erwogen worden sind, und daß trotz der aufrichtigen Friedens-
liebe Frankreichs in diesen Worten mit vollem Vorbedacht die ruhige Ent-
schlossenheit ausgedrückt wird, sich unter den obwaltenden Verhältnissen nicht
den Verpflichtungen zu entziehen, die ihm das Bündnis mit uns auferlegt," a.
a. O., IV, 17 f. Auch Paleologue erklärte Iswolsky, jedes Wort der — von ihm
verfaßten — Erklärung vom 30. Dezember sei sorgsam abgewogen, und die
französische Regierung gebe sich durchaus Rechenschaft darüber, daß bei einer
weiteren Entwicklung des vorliegenden Zwischenfalls die Frage des casus
foederis entstehen könne. Vertraulicher Brief Iswolskys an Sasonow vom
15. Januar 1914, a. a. O., IV, 26.
18* 275
stantinopels und der Wasserstraßen betrachtet werden könne, wußte
Herr Paleologue nichts Stichhaltiges zu entgegnen. Er äußerte schließ-
lich, wenn Frankreich den russischen Versuch, eine Änderung der
Stellung der deutschen Offiziere herbeizuführen, unterstütze, so geschehe
es wesentlich deshalb, um den Verbündeten von der Forderung von
Kompensationen, etwa der Zulassung russischer Offiziere in Armenien,
abzuhalten *. Denn das würde die Aufrollung der armenischen Frage
und damit die Zerstückelung der Türkei bedeuten, eine Wendung, die
hintanzuhalten alle Mächte, die an der Erhaltung der Türkei wesent-
liches Interesse haben, eifrig bemüht sein müßten.
Der Frage, welche weiteren Druckmittel gegen die Türkei in Frage
kommen dürften, wich Herr Paleologue mit der Bemerkung aus, es
sei zu hoffen, daß die Türken rechtzeitig zu besserer Einsicht gelangen
würden.
In der Presse wird vielfach der Gedanke eines finanziellen Boy-
kotts gegen die Türkei erörtert. Dabei fehlt es nicht an Stimmen, die
darauf hinweisen, daß dies gerade für Frankreich, das im Besitz tür-
kischer Werte an erster Stelle steht, ein recht zweischneidiges Mittel
sein und die Türkei noch mehr in die Arme des Dreibundes treiben
würde. Nachdem das hiesige Bankhaus Perier kürzlich den Türken
durch Auflegung von 100 Millionen Schatzscheinen zu Hilfe gekommen,
hat die Regierung, um die russische Verstimmung zu mildern, nicht
umhin gekonnt, durch ein Rundschreiben an die Geldinstitute daran zu
erinnern, daß auswärtige Anleihen, in welcher Gestalt auch immer, nicht
ohne Einvernehmen mit der Regierung gemacht werden sollten.
Schoen
Nr. 15 502
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jago w an den
Botschafter in Paris Freiherrn von Schoen
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Rosenberg
Nr. 2102 Berlin, den 26. Dezember 1913
[abgegangen am 30. Dezember]
Nach dem Euerer Exzellenz mit Erlaß Nr. 2084 mitgeteilten Berichte
des Grafen Pourtales vom 13. d. Mts. ** ist man in St. Petersburg davon
* Dabei war der Gedanke an Kompensationen gerade von Frankreich in die
Wagschale geworfen worden. Vgl. Nr. 15 456, Fußnote**. Allerdings war dies
noch von Pichon geschehen. Bei seinem Nachfolger Doumergue machten sich
doch Bedenken geltend, ob nicht die Geltendmachung russischer Entschädigungs-
forderungen zur Aufteilung der asiatischen Türkei und folglich auch zu einem
europäischen Kriege führen könnten. Brief Iswolskys an Sasonow vom 18. De-
zember 1913, Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr.
Stieve, III, 430.
** Siehe Nr. 15 483.
276
überzeugt, daß in der Angelegenheit der deutschen Militärmission für
die Türkei besonders stark von Herrn Delcasse gehetzt worden ist.
Wie Baron Wangenheim unterm 23. d. Mts. meldet*, wird neuerdings
in dieser Frage auch von Herrn Bompard eine schärfere Sprache ge-
führt. Die französische Presse hat das ihrige dazu beigetragen, um
durch Hetzartikel und entstellende Nachrichten über die in Rußland
angeblich herrschende große Erregung weiter Öl ins Feuer zu gießen.
Diese Tatsachen stehen im Widerspruch zu der Sprache des Herrn
Paleologue, der dem Kaiserlichen Geschäftsträger Anfang Dezember
versichert hat, die französische Regierung verhalte sich in Sachen der
Militärmission neutral und habe für objektive Behandlung der Ange-
legenheit in der Presse gesorgt**, und der auch kürzlich Euerer Exzellenz
gegenüber bemüht gewesen ist, die Unterstützung der russischen
Schritte durch Frankreich lediglich mit der Bündnispflicht und der
Sorge um die Zukunft der Türkei zu erklären***.
Euerer Exzellenz darf ich anheimstellen, gelegentlich in geeignet er-
scheinender Weise auf diesen Widerspruch hinzuweisen.
Jagow
Nr. 15 503
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 705 Konstantinopel, den 25. Dezember 1913
[pr. 26. Dezember]
Antwort auf Telegramm Nr. 416 f.
Ich habe heute Herrn von Giers gesagt „que les dispositions; con-
ciliantes et amicales continuent ä Berlin." Andererseits sei die An-
gelegenheit so delikater Natur, daß eine Präjudizierung derselben
durch eine verfrühte offiziöse Verlautbarung bedenklich sei. Alles
Weitere werde sich aus der natürlichen Entwickelung der Frage ergeben.
Herr von Giers war über meine Mitteilung eher niedergeschlagen
als erregt tt-
• Vgl. Nr. 15 498 nebst Fußnote.
** Vgl. Nr. 15 473.
•*• Vgl. Nr. 15 501.
t Siehe Nr. 15 500.
tt Leider fehlen bei v. Siebert seit dem 20. Dezember die Berichte bzw. Tele-
gramme des Botschafters von Giers, insbesondere das Telegramm Nr. 1092, das
Sasonow Veranlassung gab, am 27. Dezember in Paris und London eine neue
„freundschaftliche" Demarche der Tripelentente in Berlin vorzuschlagen. Es
heißt darüber in dem Geheimtelegramm Sasonows Nr. 3467 vom 27. Dezember:
277
Großwesir erklärte mir, daß er einer Änderung der Stellung Limans
nur dann nähertreten werde, wenn der General gemeinschaftlich mit
dem Kriegsminister eine Modifizierung vorschlagen sollte.
Wangenheim
„Uns erscheint es richtig, daß Rußland, Frankreich und England bei der gegen-
wärtigen Gestaltung der Angelegenheit beim Berliner Kabinett freundschaftlich
anzufragen haben, welche weitere Entwicklung dieser Angelegenheit seiner Mei-
nung nach zu geben sei, wobei darauf hinzuweisen wäre, daß Deutschland selbst
die Initiative zu Verhandlungen mit Rußland durch Vermittlung der Vertreter
in Konstantinopel ergriffen habe. Eine unklare oder ausweichende Antwort
könnte uns in eine schwierige Lage versetzen und einen neuen, ernsteren Schritt
der drei Großmächte in Konstantinopel erforderlich erscheinen lassen." (Der
Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911 — 1914, ed. Fr. Stieve, 111, 434.) Eine
„freundschaftliche" Demarche wäre es nun freilich keineswegs gewesen, mitten
in die durch das Entgegenkommen Deutschlands herbeigeführten Pourparlers
zwischen Berlin und Petersburg mit einer Demarche der Tripelentente in Berlin
bzw. Konstantinopel hineinzuplatzen. Das fühlte man sowohl in Paris trotz der
gleichzeitig bekundeten Entschlossenheit, sich allen russischen Schritten an-
zuschließen (vgl. Nr. 15 501, Fußnote**), wie in London. Vgl. das Telegramm des
russischen Geschäftsträgers in London von Etter vom 29. Dezember (v. Siebert, Di-
plomatische Aktenstücke, a. a. O., S. 660 f.) und das Telegramm Iswolskys vom
30. Dezember (Stieve, a. a. O., III, 437). Danach wiesen die englische und die
französische Regierung auf die Notwendigkeit hin, einmal vor einer Kollektiv-
demarche das Resultat der Anwesenheit Freiherrn von Wangenheims in Berlin
abzuwarten, sodann aber sich erst klar darüber zu werden, welche Forderungen
man in Berlin bzw. Konstantinopel stellen und zu welchen Mitteln man gegebenen-
falls greifen wolle, um in Berlin oder Konstantinopel durchzudringen. Dou-
mergue ersuchte in aller Form und schriftlich Iswolsky, ihm mitzuteilen, „wie
die Kaiserliche Regierung über die Intervention, um die es sich handelt, denkt,
auf welche genau bestimmten Punkte sich die Beschwerde der drei Mächte
beziehen soll, und endlich, welche Entscheidung Rußland Frankreich und Eng-
land vorschlagen zu müssen glaubt, falls ihre gemeinsame Aktion in Berlin und
Konstantinopel nicht den gewünschten versöhnlichen Erfolg haben sollte".
Darauf wurde im russischen Außenministerium eine große Denkschrift entworfen,
die, vom 5. Januar 1914 datiert, an Iswolsky mitgeteilt und der berühmten
„Sonderkonferenz" vom 13. Januar (vgl. M. Pokrowski, Drei Konferenzen,
S. 32 ff.) zugrunde gelegt wurde. Aus Iswolskys Brief an Sasonow vom
15. Januar (Stieve, a. a. O., IV, 26 f.) ersieht man, daß in der Denkschrift gegen
die Türkei als Zwangsmittel in Aussicht genommen wurden 1. der folgerichtig
durchzuführende Finanzboykott, 2. die Abberufung der Botschafter der Tripel-
entente, 3. die Besetzung von Trapezunt und Bajasid durch die Russen, sowie
Smyrnas und Beiruts durch die Franzosen bzw. Engländer. Vor solchen radikalen
Mitteln schreckte sogar Iswolsky zurück, der vorhersah, daß jedes derselben in
Paris und London auf Bedenken stoßen werde, und der statt dessen auf die von
dem französischen Botschafter Bompard angelegte Fahrt eines russischen
Kriegsschiffes durch die Meerengen in den Bosporus (vgl. Nr. 15 498, Fußnote)
zurückgriff. Inzwischen ha te Sasonow in London den Entschluß angekündigt,
das Projekt eines formellen Schrittes der drei Ententemächte in Berlin um eine
Woche — d. h. wohl bis nach der geplanten Sonderkonferenz — aufzuschieben.
Zu deren Beratungen vgl. auch Nr. 15 522, Fußnote**.
278
Nr. 15 504
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Wangenheim
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 706 Konstantinopel, den 27. Dezember 1913
Im Anschluß an Telegramme Nr. 694* und 705**.
Besprechungen von Strempels mit dem russischen Militärattache
bisher ohne Ergebnis. Daß die Konstantinopeler Division, welche
Garnison- und Sicherheitsdienst wahrnimmt, einem Türken unterstellt,
die Musterdivision unter General Bronsart von Schellendorff in Skutari
unter Verlegung der Bureaux von hier dorthin untergebracht ist, ge-
nügt den Russen nicht. Er hält Abgabe des Korpskommandos binnen
vierzehn Tagen für nötig und bemerkte dabei, „die englischen Marine-
offiziere säßen bereits auf ihren gepackten Koffern".
Bei Verabschiedung von Herrn von Giers bat letzterer dringend,
in Berlin hervorzuheben, wie sehr Rußland wünsche, mit uns be-
züglich der Türkei zu einer dauernden Verständigung zu kommen.
Rußland wolle die Türkei ebenso wie wir erhalten. Gegen die Reform
der Armee durch uns beständen keinerlei Bedenken. Er wisse auch,
daß die Abgabe des Korpskommandos die Aktionskraft der Mission
nur verstärken könne. Der General habe sowieso das Recht der In-
spektion und könne über alle türkischen Truppen verfügen, solange
seine Beziehungen zum Kriegsministerium normal seien. Was Ruß-
land wünsche, sei nur die Wahrung des Scheins. Die Lage des Zaren
und der russischen Regierung gegenüber der Erregung öffentlicher
Meinung sei zu schwierig. Russischer Marineattache*** sagte unserem
Vertrauensmann, Herr von Giers kämpfe nur noch um die Wahrung
seiner eigenen Fassade.
Wangenheim
Nr. 15 505
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 708 Pera, den 28. Dezember 1913
Herr von Giers redete mich heute von neuem auf unsere Militär-
mission an. Er versuchte nachzuweisen, daß es nicht nur im deutschen
* Siehe Nr. 15 489.
** Siehe Nr. 15 503.
*** Fregattenkapitän Schtscheglow.
279
und russischen, sondern auch im türkischen Interesse läge, wenn eine
Einigung erzielt würde. Deutschland und Rußland würden durch ihre
Verbündeten in einen Konflikt getrieben, den beide Länder allen Anlaß
hätten zu vermeiden. Auch der Reformeifer der Türkei könne die Er-
fahrung nur fördern, daß die beiden Großmächte sich nicht gegen ein-
ander ausspielen ließen. Herr von Giers befürchtet, daß durch die
herrschende Ungewißheit die Lage noch schwieriger werden würde.
Er empfiehlt daher, daß Deutschland sich schon jetzt grundsätzlich
mit Rußland darüber einigen möge, daß General Liman unter Bei-
behaltung seines Wohnsitzes in Konstantinopel und unter Einräumung
weitgehender Machtbefugnisse als Inspekteur das Kommando über das
I. Armeekorps in Konstantinopel an einem festzusetzenden späteren
Zeitpunkt abgeben werde. Damit würde sich die öffentliche Meinung
in Rußland zufriedengeben können. Die deutsche Militärmission hin-
gegen werde in ihrer Wirksamkeit dadurch nicht im geringsten be-
einträchtigt. Einer deutsch-russischen Einigung über diesen Punkt
würden die Türken keinen Widerstand entgegensetzen.
Ich habe mich wesentlich zuhörend verhalten, ohne indessen meine
persönlichen Zweifel und Bedenken zu unterdrücken.
Mutius
Nr. 15 506
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in London Fürsten von Lichnowsky
Telegramm
Konzept von der Hand des Dirigenten der Politischen Abteilung Wilhelm von Stumm
Nr. 501 Berlin, den 29. Dezember 1913
Auf Telegramm 380*.
Das bisherige Ergebnis der Besprechungen zwischen dem rus-
sischen Militärattache in Konstantinopel und Major von Strempel über
eine den russischen Wünschen entgegenkommende künftige Lösung der
Militärmissionsfrage hat Herrn Sasonow nicht befriedigt. Er drängt er-
neut in London und Paris auf Einwirkung in Berlin **. Sollte Sir E. Grey
Ew. pp. auf Frage anreden, so bitte ich, eventuell unter Verwertung
der Gesichtspunkte in Telegramm 493***, dem Minister nahezulegen,
in Petersburg zu beruhigen und dort vor allem vor Demarchen der
* Siehe Nr. 15 497.
** Vgl. dazu das Telegramm Baron von Etters an Sasonow Nr. 833 vom
29. Dezember (v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O., S. 660), sowie
das Telegramm Iswolskys Nr. 607 vom 30. Dezember (Der Diplomatische
Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III, 437).
*** Siehe Nr. 15 496.
280
Entente zu warnen, die weiteres deutsches Entgegenkommen unmöglich
machen würde.
Jagow
Nr. 15 507
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 372 St. Petersburg, den 28. Dezember 1913
[pr. 30. Dezember]
Ich fand Herrn Sasonow, der mich eben zu sich bitten ließ, sehr
unter dem Eindruck eines Telegramms des russischen Botschafters in
Konstantinopel, welches mir der Minister zu lesen gab. Herr von Giers
meldet darin, seine Unterredungen mit seinem deutschen Kollegen, der
im Begriff gewesen sei, auf Urlaub nach Berlin zu reisen, hätten bis
jetzt in Sachen der Militärmission zu keinem Ergebnis geführt, weil
Baron Wangenheim „ohne Instruktion seiner Regierung gewesen sei".
Baron Wangenheim habe sich selbst sehr entgegenkommend gezeigt
und geäußert, er persönlich wünsche „möglichst baldige Liquidierung
der Angelegenheit". Herr von Giers bemerkt in seinem Telegramm,
er habe den Eindruck, als wolle die Kaiserliche Regierung die Änderung
in der Stellung des Generals von Liman hinausschieben. Besonders
unangenehm war Herr Sasonow von dem Schluß des Telegramms be-
rührt, wonach auch die Besprechungen zwischen dem russischen Militär-
attache* und Major von Strempel ergebnislos verlaufen seien, und
letzterer erklärt habe, nur zu einer „Prüfung der Bedingungen des
Kommandos des Generals von Liman" ermächtigt zu sein.
Ich erwiderte dem Minister, daß ich keine neuen Weisungen iri der
Angelegenheit erhalten hätte, daß ich aber in den Meldungen des Herrn
von Giers einen Widerspruch mit den letzten, von mir hier auftrags-
gemäß gemachten Mitteilungen nicht erblicken könne. Das entgegen-
kommende Verhalten des Barons Wangenheim beweise, daß die Kaiser-
liche Regierung die Angelegenheit in versöhnlichem Geiste zu
behandeln wünsche. Ich hätte nie erwartet, daß die Besprechungen
der beiden Botschafter beziehungsweise des russischen Militärattaches
mit Major von Strempel sofort eine Lösung der Schwierigkeiten herbei-
führen werden. Es habe sich vielmehr vorläufig nur um Besprechungen
gehandelt zum Zwecke der Vorbereitung einer eventuellen späteren
Lösung. Von unserem guten Willen könne der Minister überzeugt sein,
ich müsse ihn aber bitten, sich zu gedulden, denn es scheine mir,
daß nach all dem Lärm, der um die Angelegenheit gemacht worden
* Generalmajor Leontjew.
281
sei, zuerst eine Beruhigung der Gemüter hier, in der Türkei und in
Deutschland abgewartet werden müsse, bevor an eine etwaige Änderung
in der Stellung des Generals von Liman gedacht werden könne.
Herr Sasonow bemerkte darauf, er habe aus Konstantinopel gehört,
es werde dort der Gedanke erwogen, daß ein anderer deutscher General
das Kommando über das Korps in Adrianopel erhalten, General von
Liman dagegen an die Spitze der militärischen Bildungsanstalten ge-
stellt werden solle. Der Minister fügte hinzu, daß er diese Lösung für
annehmbar halten würde. Ich erwiderte, daß mir über eine solche
Lösung nichts bekannt sei.
Herr Sasonow bat mich schließlich, Euerer Exzellenz über den
Inhalt des Telegramms des Herrn von Giers Bericht zu erstatten. Er
sprach dabei die Hoffnung aus, daß Euere Exzellenz ihm mit Bezug
auf diese ihn etwas enttäuschenden Nachrichten des Botschafters eine
beruhigende Mitteilung würden zukommen lassen.
F. Pourtales
Nr. 15 508
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 411 Wien, den 29. Dezember 1913
Im Laufe eines längeren Gesprächs mit Sir M. de Bunsen äußerte
dieser, nach seinen letzten Nachrichten von Sir E. Grey sei das Ver-
hältnis Englands zu Rußland infolge der Frage der deutschen Militär-
mission in Konstantinopel sehr schwierig geworden. Sir E. Grey
habe gemeint, er habe eine so tiefgehende Aufregung wie infolge
dieser Sache in Petersburg noch nie erlebt. Trotzdem habe man in
London den russischen weitgehenden Forderungen bezüglich eines
energischen Druckes auf die Türkei nicht nachgegeben, sondern schließ-
lich seine Zustimmung nur zu einer ganz harmlosen Anfrage in Kon-
stantinopel gegeben. Herr Kokowzow habe dem englischen Ge-
schäftsträger gegenüber eine sehr scharfe Sprache geführt und habe
mit Gewaltmaßregeln in Armenien gedroht. Mein englischer Kollege
fragte mich, was ich von diesen Drohungen Rußlands hielte. Ich
entgegnete, daß man es sich in Rußland wohl noch sehr überlegen
würde, diese Drohungen wahr zu machen. Die inneren Verhältnisse
des russischen Reiches und die oft bewiesene Friedensliebe des Kaisers
Nikolaus ließen mir einen kriegerischen Entschluß der russischen Staats-
leitung für im höchsten Grade unwahrscheinlich erscheinen. Dazu
komme, daß, wie man in Petersburg wisse, ein Einmarsch Rußlands
in Armenien die Aufrollung der großen kleinasiatischen Frage be-
282
deuten würde, die nicht allein zwischen Rußland und der Türkei zu
lösen sein würde. Sir Maurice de Bunsen erschien sichtlich erleichtert
infolge meiner Beurteilung der russischen Drohungen. Er führte dann
weiter aus, daß um so weniger Grund für England vorliege, in dieser
Sache scharfe Stellung zu nehmen, als ja bekanntlich die türkische
Flotte an ihrer Spitze einen englischen Admiral habe. Hierbei machte
der Botschafter die charakteristische Bemerkung, daß Sir E. Grey an-
fangs gleichfalls durch die deutsche Mission sehr erregt gewesen sei,
weil er nicht gewußt habe, daß der englische Admiral auch das tat-
sächliche Kommando über die türkische Flotte habe. Sir E. Grey
habe neulich dem Fürsten Lichnowsky ausdrücklich versprochen, er
werde in dieser Frage nichts tun, ohne vorher mit Berlin Fühlung zu
nehmen, pp. *
von Tschirschky
Nr. 15 509
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an Kaiser
Wilhelm IL
Ausfertigung
Berlin, den 31. Dezember 1913
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät melde ich aller-
untertänigst, daß Staatssekretär von Jagow mit dem auf der Durch-
reise hier eingetroffenen Botschafter Euerer Majestät in Konstantinopel
über die dortige Militärmission gesprochen hat. Baron Wangenheim
ist der Ansicht, daß General von Liman in absehbarer Zeit einen
höheren Rang erhalten muß, da in der Türkei die Stellung eines
Kommandierenden Generals nicht der eines solchen in Preußen und
nicht einmal der eines Generalleutnants entspricht. Das Konstan-
tinopeler Korps war zum Beispiel bisher durch einen Obersten kom-
mandiert. Das Kommando des Korps würde hierdurch von selbst
frei werden und müßte sowieso anderweitig besetzt werden, so daß
General von Liman sich alsdann ausschließlich seiner höheren Auf-
gabe, der Reorganisation der gesamten türkischen Armee, widmen
könnte, was sein Prestige in der Türkei unzweifelhaft nur erhöhen
würde. Vor der Hand erscheint allerdings eine Beibehaltung des Korps-
kommandos noch so lange erforderlich, bis General von Liman sich
durch direkte Berührung mit der Truppe über alle Details des türki-
schen Militärbetriebs und seine Schäden gründlich informiert haben
wird. Ein Termin hierfür läßt sich jetzt noch nicht festsetzen. Doch
würde durch die zu erwartende Rangerhöhung des Generals die Frage
des Kommandos in Konstantinopel ihre natürliche Lösung finden.
* Der Schluß des Berichts betrifft die Inselfrage.
283
Euerer Majestät Botschafter glaubt, daß die Pforte momentan zwar
jedem Druck fremder Mächte standzuhalten gewillt ist. Wie lange sie
dies aber bei ihrer schlechten Finanz- und Gesamtlage zu tun imstande
sein wird, ist eine andere Frage. Wir würden dann in die Zwangslage
geraten, die Türkei gegen jeden Druck stützen zu müssen und
damit Probleme aufzurollen, welche wir in unserem Interesse noch
aufzuschieben wünschen.
Durch die oben bezeichnete Lösung würde einerseits das Prestige
der Militärmission nur gehoben, andererseits die Türkei aber vor
kritischen Situationen bewahrt bleiben. Auch würde damit selbst der
Anschein eines Zurückweichens der Türkei oder von uns vermieden
werden.
Euerer Majestät Allerhöchster Entscheidung darf ich die obige
Lösung unterbreiten.
Baron Wangenheim hat gestern auch mit dem hiesigen russischen
Botschafter über die Militärmission, allerdings nur in akademischer
Form, gesprochen* und diesen sehr ruhig und konziliant gefunden.
v. Bethmann Hollweg
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Ja 31/XI1 13 W.
Nr. 15 510
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
Telegramm. Konzept
Nr. 2 Berlin, den 3. Januar 1914
Erregung in Rußland wegen Militärmission dauert an und könnte
schließlich sogar Sasonow gefährden. Auch drängt Petersburg in London
und Paris zu einer Demarche. Wir haben gute Beziehungen zu Peters-
burg und speziell zu Sasonow bisher zum Nutzen der Türkei ver-
wertet (Armenische Reformen). Wirkungen eines Systemwechsels in
Petersburg dürften von Pforte nicht nur in Reform- und Missionsfrage
nachteilig empfunden werden. Gemeinsames deutsch-türkisches Interesse
erfordert daher, es Herrn Sasonow zu erleichtern, Missionsfrage
gegenüber öffentlicher Meinung zu vertreten.
* Vgl. dazu das Telegramm Botschafter Sverwejews an Sasonow Nr. 308
vom 30. Dezember 1913: „Der deutsche Botschafter, welchen ich friedliebend
und nachgiebig fand, sagte mir, daß das Berliner Kabinett aufrichtig wünsche,
mit uns zu einem annehmbaren Kompromiß zu kommen und ein hierzu geeignetes
Mittel suche. Er selbst, Wangenheim, sei immer bereit, in diesem Sinne in
Konstantinopel zu arbeiten. Rußland müsse aber Deutschland seine Aufgabe er-
leichtern, indem es ihm kein Ultimatum stelle und nicht die Festsetzung irgend-
welcher Fristen verlange." v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke, a. a. O., S. 662 f
284
Rußland hat sich mit Mission als solcher und mit Kommandogewalt
jetzt abgefunden, beanstandet nur Kommando über I. Armeekorps,
das russischen Traditionen widerspricht. Gegen dauernde Beibehaltung
dieses Kommandos hegen auch wir Bedenken, da Stellung Korps-
kommandeurs, die in Türkei nicht gleiche Bedeutung besitzt wie bei
uns und in Konstantinopel zum Beispiel bisher von Oberst wahr-
genommen wurde, für preußischen Generalleutnant und Reformator
der ganzen Armee auf die Dauer nicht hoch genug ist. Auch könnte
deutscher General bei Unruhen in Konstantinopel in mißliche Lage
geraten. Obgleich uns hiernach Änderung in Stellung Limans sachlich
nicht nur unbedenklich, sondern sogar erwünscht erscheint, ist sie aus
Prestigegründen wegen Behandlung der Angelegenheit in Presse und
Demarche Dreiverbands in Konstantinopel für Pforte vorläufig aus-
geschlossen.
Andere Frage ist, ob nicht Pforte russischer Regierung schon
jetzt für späteren Zeitpunkt Änderung in Aussicht stellen und hier-
durch Herrn Sasonow beruhigende Erklärung gegenüber russischer
Öffentlichkeit ermöglichen soll. Dies könnte etwa in folgender Form
geschehen:
Liman habe Korpskommando übernommen, um sich durch direkte
Berührung mit Truppe über alle Details türkischen Militärbetriebs
gründlich zu informieren. Sobald dies geschehen, werde er sich aus-
schließlich seiner höheren Aufgabe, der Reorganisation der gesamten
türkischen Armee widmen. Er werde dann erhöhten Rang erhalten,
wodurch Kommando in Konstantinopel sowieso frei würde und ander-
weit besetzt werden müßte. Der Zeitpunkt für diesen Wechsel werde
ausschließlich von militärischer Zweckmäßigkeit abhängen, könne daher
jetzt noch nicht festgesetzt werden.
Vorstehende Lösung würde Türkei vor kritischen Situationen be-
wahren und Prestige der Militärmission nur heben; auch würde
selbst Anschein Zurückweichens der Pforte oder Deutschlands vor
Rußland vermieden werden.
Euer pp. wollen Angelegenheit in obigem Sinne streng ver-
traulich im Anschluß an Unterredung des Kaiserlichen Botschafters
mit Großwesir besprechen. Bitte dabei betonen, daß wir freien
Entschließungen der Pforte auch weiterhin nicht vorgreifen wollen,
sondern nur wünschen, unsererseits zur Verhütung von Kompli-
kationen beizutragen, die Missionsfrage für Türkei haben könnte.
Ebenso wollen Euer pp. Herrn von Liman für Lösung zu gewinnen
suchen. Wir wollten seine Stellung keineswegs beeinträchtigen, son-
dern sogar heben und Gefahr vorbeugen, daß Entwicklung der Dinge
ihn schließlich zum vorzeitigen Ausscheiden zwingen könnte. Lösung
hat Zustimmung Seiner Majestät gefunden. Zeitpunkt Abgabe Korps-
kommandos würde selbstverständlich von General im Einvernehmen
mit türkischem Kriegsminister selbständig zu bestimmen sein.
285
Nur für Ew. pp. bestimmt: Angelegenheit darf keine europäische
Prestigefrage werden, bei welcher wir schließlich Türkei weiter stützen
müßten als unsere Interessen erlauben.
Jago w
Nr. 15 511
Der Botschafter in Paris Freiherr von Schoen an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 2 Paris, den 3. Januar 1914
Ich habe Gelegenheit gehabt, dem politischen Direktor, Herrn
Paleologue, zu bemerken*, die Haltung einzelner französischer Bot-
schafter, wie der Herren Delcasse und Bompard, in der Frage der
deutschen Militärmission in Konstantinopel sei nach den Euerer Exzel-
lenz zugegangenen Nachrichten keineswegs so neutral gewesen, wie
es nach den hier gegebenen Versicherungen habe erwartet werden
können. Auch die französische Presse sei recht betriebsam in auf-
hetzendem Sinne gewesen.
Herr Paleologue versicherte erneut, daß man hier bemüht ge-
wesen sei, beruhigend zu wirken; im großen ganzen sei dies auch
gelungen; es habe doch an namhaften Stimmen nicht gefehlt, die sich
in sehr maßvoller Weise vernehmen ließen und dazu rieten, nicht
alle russischen Empfindlichkeiten zu eigenen zu machen.
Herr Paleologue äußerte bei diesem Anlaß ferner vertraulich, die
Verstimmung zwischen St. Petersburg und Berlin scheine leider noch
nicht auf dem Wege der Beseitigung zu sein. Soviel er gehört, sei
Herr Kokowzow seinerzeit von Berlin mit dem Eindruck abgereist,
daß etwas geschehen werde, um den russischen Bedenken einiger-
maßen Rechnung zu tragen. Das Ausbleiben irgendeines entgegen-
kommenden Schrittes von Berlin habe in Petersburg eine merkbare
Verstimmung ausgelöst, nicht nur bei den Herren Kokowzow und
Sasonow sondern auch bei Seiner Majestät dem Kaiser. Es sei dann
der Versuch gemacht worden, zwischen dem Kaiserlichen und dem
russischen Botschafter in Konstantinopel, sowie den beiderseitigen
Militärattaches einen gangbaren Ausweg zu finden, doch schiene leider
nichts Positives erreicht worden zu sein. Er wolle nicht so weit
gehen, der somit verbleibenden Unstimmigkeit zwischen Petersburg
und Berlin das Gewicht einer bedrohlichen Lage beizumessen, aber sie
bilde immerhin ein Moment des Unbehagens.
Ich habe Herrn Paleologue erneut die Argumente entgegengehal-
ten, die uns die russische Erregung als unbegründet und unverständ-
• Vgl. Nr. 15 502.
286
lieh erscheinen lassen müssen. Wolle man sich in Petersburg und
anderswo entschließen, uns nicht Hintergedanken anzudichten, die uns
tatsächlich gänzlich fremd sind, so würde der Beunruhigung der Boden
entzogen werden. Durch Aufbauschen der Sache würde deren Erledi-
gung am wenigsten gefördert.
v. S c h o e n
Nr. 15 512
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagowan den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales *
Eigenhändiges Konzept
Nr. 14 Berlin, den 6. Januar 1914
Zu Euerer Exzellenz vertraulichen Information.
Nach Ansicht des Kaiserlichen Botschafters in Konstantin opel,
welcher vor einigen Tagen auf Urlaub hier war und bei dieser Ge-
legenheit auch mit Herrn Sverwejew Rücksprache genommen hat**,
glauben wir, daß eine Lösung der Frage der Militärmission in Kon-
stantinopel in folgender Form möglich wäre:
Die Stellung eines Korpskommandeurs in der Türkei entspricht
eigentlich nicht dem Rang eines preußischen Generalleutnants; der
Vorgänger General von Limans war zum Beispiel nur Oberst. Es
würde daher auch von unserem Standpunkte durchaus angezeigt er-
scheinen, daß General Liman mit der Zeit eine Rangerhöhung er-
hielte, wonach der General das Kommando über das Korps sowieso
abgeben müßte und sich seiner höheren und eigentlichen Aufgabe,
der Reorganisation der türkischen Gesamtarmee, widmen könnte. Zu-
nächst ist es jedoch erforderlich, daß General von Liman durch die
Führung des Korps eine gewisse Zeit lang in direkte Berührung mit
der Truppe tritt und so alle Details des türkischen Militärbetriebes
sowie dessen Schäden aus eigener Anschauung kennen lernt. Ein
Termin, zu welchem die oben erwähnte Änderung einzutreten hätte,
läßt sich daher zurzeit nicht angeben.
Um jedoch Herrn Sasonow die Vertretung der Angelegenheit vor
der öffentlichen Meinung in Rußland zu erleichtern, würde vielleicht
eine diesbezügliche Verlautbarung in der russischen Presse möglich
sein. Herr Sverwejew hat nach Rücksprache mit Herrn von Wangen-
heim und mir einen Entwurf von ungefähr folgendem Wortlaut aus-
gearbeitet:
• Bereits veröffentlicht im deutschen ,, Weißbuch betreffend die Verantwortlich-
keit der Urheber des Krieges", S. 146 f.
•• Vgl. Nr. 15 509.
287
„Nous apprenons de Constantinople qu'on n'a jamais voulu donner
un caractere politique ä la mission allemande. Ceci resulte dejä du
fait que la division oommandee par un colonel allemand se trouve en
garnison sur la cote asiatique, ä Skutari et Ismid, et que la division
ä Constantinople est commandee par un general turc qui est aussi
ä la tete de toute la police et du Service de sürete. II est evident que
Pinstructeur qui assume une täche aussi grande que celle de la reor-
ganisation de toute l'armee ottomane, doit, pour sa propre information,
rester pendant quelque temps en contact direct avec la troupe. Mais
quand il se sera suffisamment renseigne, le commandement du corps
d'armee passera ä un general turc et le general von Liman se vouera
ä sa täche plus importante, c'est ä dire la reorganisation de l'armee
entiere. Le commandement du corps d'armee ne forme donc qu'une
etape dans l'oeuvre de la reorganisation de l'armee ottomane."
Ich habe diesen Text nur nach dem Gedächtnis wiedergegeben und
kann mich daher nicht für jeden einzelnen Ausdruck und Wendung
verbürgen. Ich habe Herrn Sverwejew gesagt, daß eine derartige
Publikation natürlich erst möglich sei, wenn die Pforte mit der vor-
geschlagenen Änderung des Kommandos sich einverstanden erklärt
hätte. Auch müsse die Pforte ihre Zustimmung zu der Veröffent-
lichung geben, da dieselbe natürlich nicht als mit uns vereinbart,
sondern als auf Mitteilung aus Konstantinopel beruhend in der russi-
schen Presse erscheinen müsse. Denn nachdem der Kontrakt zwischen
der Pforte und den deutschen Offizieren abgeschlossen sei, wäre die
Änderung natürlich auch eine türkische Angelegenheit.
Der Kaiserliche Geschäftsträger ist angewiesen, die Angelegen-
heit mit dem Großwesir und dem General Liman in obigem Sinne
zu besprechen und sie für die Lösung zu gewinnen zu suchen*. Wie
Herr von Mutius telegraphiert, befindet sich General von Liman bis
zum 9. Januar auf einer Inspektionsreise, und der Geschäftsträger hält
es für angezeigt, bis zu seiner Rückkehr mit Anknüpfung der
Verhandlungen zu warten. Denn, wie ich zu Euerer Exzellenz ganz
persönlicher Information hinzufüge, ist Baron Wangenheim, als er vor
seiner Abreise nach Rücksprache mit dem Großwesir auch beim Ge-
neral von Liman eine derartige Lösung angeregt hat, bei letzterem auf
Schwierigkeiten gestoßen. Doch nehme ich an, daß es Herrn von
Mutius gelingen wird, den General von der Zweckmäßigkeit der
Lösung zu überzeugen, und es ist zu hoffen, daß auch die türkische
Regierung sich nicht zu intransigent verhalten und einsehen wird, daß
die vorgeschlagene Lösung im eigensten Interesse der Türkei liegt.
Wir haben bisher bewiesen, daß wir von dem besten Willen be-
seelt sind, den russischen Wünschen entgegenzukommen, doch darf
* Vgl. Nr. 15 510.
288
dieses Entgegenkommen nicht den Anschein eines Zurückweichens
vor einer Forderung Rußlands annehmen. Herr Sasonow muß uns
daher Zeit lassen und namentlich alles vermeiden, was die Angelegen-
heit zu einer europäischen Frage aufzubauschen geeignet ist. Letzteren
Charakter drohte sie bereits durch die Zeitungsindiskretionen, sowie
durch den gemeinsamen Schritt der Tripelententemächte in Konstan-
tinopel anzunehmen. Herr Sasonow hatte mir seinerzeit durch Herrn
Sverwejew sagen lassen, daß er auch in Konstantinopel Vorstellungen
gegen die Kommandogewalt in der Hauptstadt zu erheben gedächte.
Da die Sache in erster Linie eine türkische innere Angelegenheit ist
und auch von der Pforte als solche aufgefaßt wird, hatte ich keinerlei
Anlaß, gegen diese Absicht Herrn Sasonows Einwendungen zu machen.
Etwas anderes aber ist es, ob der russische Botschafter bei der Pforte
Vorstellungen erhebt, oder ob die Tripelentente eine gemeinsame De-
marche gegen unsere Mission macht und dies nachher von der Presse
besprochen wird. Ich habe daher Herrn Sverwejew auch meine Ver-
wunderung über dieses Vorgehen der Tripelententemächte seinerzeit
nicht verhehlt, und ich hoffe Herr Sasonow wird sich der Einsicht
nicht verschließen, daß er durch etwa erneute gemeinsame Schritte
der drei Mächte eine für ihn selbst befriedigende Lösung der Angelegen-
heit nur erschweren würde.
Jagow
Nr. 15 513
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 4 Berlin, den 8. Januar 1914
Im Anschluß an Erlaß Nr. 14*.
Zu Euerer Exzellenz Information. Russischer Botschafter hat mir
mitgeteilt, daß Fassung der eventuellen Veröffentlichung in Peters-
burg nicht als genügend erachtet werde. Habe Botschafter geant-
wortet, daß zunächst Ergebnis der Verhandlungen in Konstantinopel
abzuwarten sei.
Jagow
* Siehe Nr. 15 512.
19 Die Große Politik. 38. Bd. 289
Nr. 15 514
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an den
Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 5 Berlin, den 8. Januar 1914
Ernennung Envers* scheint bei allen Mächten sehr ungünstige
Aufnahme zu finden. Mißtrauen gegen türkische Zustände dürfte zu-
nehmen. Falsche Beurteilung unserer Militärmission erhält dadurch
neue Nahrung. Russischer Widerstand gegen Oberkommando Kon-
stantinopel dauert fort. Es wäre daher sehr wünschenswert, wenn
vorgeschlagene Lösung bald Annahme fände, schon um Verschärfung
russischer Forderungen vorzubeugen.
Jagow
Nr. 15 515
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 15 Konstantinopel, den 8. Januar 1914
General Liman ist vollständig dafür gewonnen, das Kommando
des I. Armeekorps abzugeben. Er fürchtet in dieser Stellung Rei-
bungen mit Enver**. Er verlangt als Kompensation höheren Rang unf>
eventuell Armeeinspektion.
Habe General Liman auch noch ausdrücklich auf die durch Er-
nennung Envers und dessen diktatorische Allüren sehr zugespitzte
innere Lage hingewiesen.
Mutius
* Anfang Januar 1914 war die Ernennung Enver Beys zum türkischen Kriegs-
minister an Stelle Izzet Paschas erfolgt.
•* Schon am 8. Januar schrieb General Liman von Sanders an den Chef des
Militärkabinetts General von Lyncker: „Euer Exzellenz halte ich mich ver-
pflichtet zu melden, daß durch die Ernennung des bisherigen Oberst Enver Bey
zum Kriegsminister die Verhältnisse für mich als Chef der Militärmission derart
schwierig und verwickelt geworden sind, daß ich den weiteren Ausgang zurzeit
nicht voraussagen kann. — Während meiner dienstlichen Abwesenheit in Kirk-
kilisse und Adrianopel hat der neue Kriegsminister den Königlich Bayrischen
Oberstleutnant (türkischen Oberst) von Lossow zu sich rufen lassen und ihm die
Stellung als Sous-Chef des türkischen Generalstabes (Chef ist der Kriegsminister
selbst) angeboten. Auf die Erwiderung des Oberst von Lossow, daß er sich dar-
über nur mit meinem Einverständnis entscheiden könne, hat der Kriegsminister
dies von der Hand gewiesen. Oberst von Lossow hat mir das heute bei meiner
Rückkehr gemeldet. — Oberst von Lossow, der nach Deutschland zurückgeht, hat
290
Nr. 15 516
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 17 Pera, den 9. Januar 1914
Mit Beziehung auf Privatbrief an Unterstaatssekretär Zimmer-
mann vom 3. Januar* und Antwort auf Telegramm Nr. 5**.
Es erscheint mir nicht schwierig, Großwesir persönlich für Ab-
gabe des Kommandos des ersten Armeekorps durch General Liman
zu gewinnen, aber sein Einfluß wird schwerlich gegenüber Männern
wie Talaat Bey, Enver, Dschemal durchdringen.
Beabsichtige daher zunächst durch General Liman und von
Strempel Enver Pascha dafür gewinnen zu lassen. Falls sich dabei
Widerstände ergeben, möchte ich empfehlen, die Verleihung des
Charakters als General der Kavallerie an General Liman zu Kaisers
Geburtstag an allerhöchster Stelle in Vorschlag zu bringen. —
Auf Grund dieser Rangerhöhung würden wir dann Ernennung General
Limans zum türkischen Marschall beanspruchen. Das Ausscheiden
des Generals aus dem Kommando des ersten Armeekorps würde
die Konsequenz sein.
Da Türken manchmal unberechenbar schnell zugreifen, wäre mög-
lichst umgehend festzustellen, ob Seine Majestät der Kaiser eventuell
geneigt wäre, um die Lösung zu erleichtern, die Charaktererhöhung
früher eintreten zu lassen.
*• Mutius
Nr. 15 517
Der Botschafter in London Fürst von Lichnowsky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 6 London, den 7. Januar 1914
[pr. 10. Januar]
Sir Edward Grey, der gestern hier eintraf und heute abend wieder
abreist, um erst am 19. zurückzukehren, ließ mich soeben kommen,
um mit mir nochmals die Frage der Konstantinopeler Militärmission zu
abgelehnt. — Ich habe den Kriegsminister um Aufklärung ersuchen lassen. Zu-
gleich mache ich den Kriegsminister auf genaue Innehaltung des Kontraktes auf-
merksam." Vgl. dazu Liman v. Sanders, Fünf Jahre Türkei, S. 16 ff., und Feld-
marschall Conrad, Aus meiner Dienstzeit, III, 564 f.
* Schon durch einen Privatbrief an Unterstaatssekretär Zimmermann vom 3. Januar
hatte Mutius die Beförderung Limans, der nach der Rangliste ziemlich dicht
vor dem Kommandierenden General stehe, angeregt: „So würde vielleicht ein
Anlaß gegeben sein, ihm auch in der türkischen Armee eine Rangerhöhung zuteil
werden zu lassen und damit ein Grund zur Abgabe des Armeekorps geschaffen
werden."
** Siehe Nr. 15 514.
19* 291
besprechen. Er sagte mir, die russische Regierung habe sich keines-
wegs beruhigt und werde außerdem von der öffentlichen Meinung zu
weiteren Schritten gedrängt. Er, Sir Edward Grey, habe bisher alles
getan, um in Petersburg zu mäßigen, und werde auch fortfahren, in.
diesem Sinne zu wirken, besonders da er den Eindruck habe, daß wir
bestrebt seien, den russischen Wünschen einigermaßen entgegen-
zukommen und eine für alle Beteiligten annehmbare Lösung zu finden.
Sollte dies jedoch nicht gelingen, so könne er sich der Befürchtung
nicht entschlagen, daß Rußland eigenmächtig vorgehe und von der
Türkei eine Gegenleistung verlange. Ein derartiger Schritt werde
natürlich sehr unerwünschte Folgen haben.
Auf meine Frage, welche Maßnahmen russischerseits seiner An-
sicht nach wohl in Frage stünden, entgegnete Sir Edward, er halte es
nicht für unmöglich, daß Rußland das Verlangen stelle, ein russischer
General solle das Kommando in Armenien erhalten unter der Mit-
wirkung einer entsprechenden Anzahl russischer Offiziere, auch sei es
nicht ausgeschlossen, daß Rußland unter Umständen zur Besetzung
türkischen Gebietes schreite, um mehr Nachdruck auf die ottomanische
Regierung ausüben zu können. Konstantinopel sei nun einmal der
heikelste Punkt für das russische Empfinden, und er glaube nicht,
daß man sich in Petersburg beruhigen werde, falls nicht unsererseits
ein Ausweg gefunden werde.
Ich entgegnete unter Verwertung der mir übermittelten Gesichts-
punkte, daß ich nicht daran zweifele, daß die Kaiserliche Regierung
gerne bereit sein würde, den russischen Wünschen etwas entgegen-
zukommen, obwohl ich die Berechtigung des russischen Standpunktes
keineswegs anzuerkennen vermöge, daß aber die unerläßliche Vor-
aussetzung hierfür sei, daß alle ferneren amtlichen Schritte seitens des
Dreiverbandes in Konstantinopel unterblieben. Einem formellen Druck
gegenüber würde es unmöglich sein, nachzugeben beziehungsweise
auch nur das geringste Zugeständnis zu machen.
Sir Edward versprach mir wiederum, vorläufig nichts zu unter-
nehmen. Er hoffe aber, daß bis zu seiner Rückkehr am 19. zwischen
uns und Rußland eine Verständigung erreicht werde. Bis dahin sei
auch Graf Benckendorff zurück, und es würde sonst schwer fallen, die
russische Regierung noch weiter hinzuhalten und zu beruhigen.
Vorläufig also scheint die hiesige Regierung nichts unternehmen
und weiter abwarten zu wollen. Auch die Zurückziehung der briti-
schen Seeoffiziere scheint nicht beabsichtigt zu sein, da Sir Edward
nichts davon erwähnte, und sich auf die Bemerkung beschränkte,
russischerseits werde immer darauf hingewiesen, daß die Gegenüber-
stellung der britischen Marine- und der deutschen Militärmission des-
halb unzutreffend sei, weil es nur ein türkisches Heer, aber keine
türkische Flotte gebe, eine Bemerkung, die ich durch den Hinweis auf
den eben erst angekauften „Rio de Janeiro" zu entkräften suchte.
292
Meine Eindrücke möchte ich abermals dahin zusammenfassen, daß
Sir Edward, der übrigens durchaus nicht aufgeregt war, und in heiter-
ster Stimmung die Angelegenheit mit mir besprochen hat, nur sehr
ungern sich an irgendwelchen erneuten Schritten beteiligen würde,
daß er aber fürchtet, durch die Haltung Rußlands in eine Zwangslage
versetzt zu werden, und es unter Umständen nicht wagen würde, die
Russen in dieser Frage vollkommen im Stiche zu lassen.
Lichnowsky
Nr. 15 518
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 20 Konstantinopel, den 10. Januar 1914
Im Anschluß an Telegramm Nr. 17*.
Enver Pascha hat sich Herrn von Strempel gegenüber damit ein-
verstanden erklärt, daß, wenn gar nichts mehr von irgendeinem
politischen Druck unserer Nachbarn verlautet und General von Liman
den 27. bei uns zum General der Kavallerie befördert wird, er hier
unmittelbar darauf zum Marschall vorgeschlagen werden und das Kom-
mando des 1. Armeekorps dadurch verlieren wird.
Enver sagte zu Herrn von Strempel, wenn er auf Grund politischen
Druckes spräche, so würde er auf nichts eingehen können. Herr
von Strempel erwiderte, er habe von einem politischen Druck nichts
mehr gehört. Ich hatte Herrn von Strempel nahegelegt, Enver auch
die politischen Vorteile eines solchen Schrittes vorzuhalten. Unter
diesen dürfte der Gesichtspunkt der Krediterleichterung ihm am meisten
eingeleuchtet haben. — Glaube unter vorliegenden Verhältnissen An-
gelegenheit Großwesir gegenüber besser gar nicht mehr berühren zu
sollen. Mutius
Nr. 15 519
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg**
Ausfertigung
Nr. 4 St. Petersburg, den 10. Januar 1914
Gegen meine sonstige Gewohnheit habe ich, da ich in der letzten
Zeit keine besonders eiligen Aufträge für Herrn Sasonow hatte, über
• Siehe Nr. 15 516.
•" Bereits veröffentlicht im deutschen „Weißbuch betreffend die Verantwortlich-
keit der Urheber des Krieges", S. 148 ff.
293
eine Woche vergehen lassen, ohne den Minister zu besuchen. Ich wollte
ihm dadurch zeigen, daß ich nicht gewillt sei, der „Nowoje Wremja"
von neuem Stoff zu allerlei Indiskretionen zu liefern. Als ich nun
gestern zur Besprechung einiger anderen Angelegenheiten Herrn Sa-
sonow aufsuchte, vermied ich es, von mir aus die Frage der deutschen
Militärmission zu berühren. Nach Erledigung einiger anderer Gegen-
stände fing jedoch Herr Sasonow sehr bald von selbst an, über das
Thema zu sprechen, und es knüpfte sich daran wieder eine längere
Diskussion.
Der Minister klagte darüber, „daß die Angelegenheit keinen be-
friedigenden Fortgang nehme". Ich konnte nicht umhin, über diese
Bemerkung mein Erstaunen auszusprechen, da nach den mir zuge-
gangenen Informationen in den freundschaftlichen und jedenfalls von
großem Entgegenkommen deutscherseits zeugenden Unterredungen des
Herrn Staatssekretärs mit Herrn Sverwejew in großen Zügen eine
Basis gefunden worden sei, auf der, wie mir schiene, die Angelegen-
heit sich in befriedigender Weise regeln ließe.
Herr Sasonow erklärte darauf, die Form der in Aussicht genom-
menen Veröffentlichung könne ihn unmöglich befriedigen, da sie hier zur
Beruhigung der Gemüter nicht beitragen werde. Vor allem bean-
standete der Minister, daß die Nachricht über die bevorstehende
Änderung in der Stellung des Generals von Liman aus Konstantin opel
kommen solle. Eine von der türkischen Regierung ausgehende Ver-
öffentlichung dieser Art werde hier nicht den geringsten Eindruck
machen. Der Minister bemerkte ferner, daß, wenn in der gedachten
Veröffentlichung nicht ein Termin, und zwar ein einigermaßen naher ge-
nannt würde, die Veröffentlichung für ihn wenig Wert habe. Übrigens
scheine es die Kaiserliche Regierung auch mit den in Aussicht ge-
nommenen Veränderungen in Konstantinopel nicht eilig zu haben, da
der Herr Staatssekretär dem russischen Botschafter in Berlin gegen-
gegenüber geäußert hätte, die Veränderungen würden eventuell „im
Laufe des Jahres", was so viele heiße als vielleicht erst Ende Dezember
d. Js., eintreten.
Ich versuchte dem Minister zu beweisen, daß nach Lage der Dinge
die fragliche Nachricht nur aus Konstantinopel gebracht werden könne,
da nur die türkische Regierung über Veränderungen in den Verhält-
nissen von Offizieren, die in türkische Dienste getreten seien, endgültig
zu entscheiden habe. Im übrigen zweifelte ich nicht daran, daß die
Nachricht alsbald von der deutschen Presse in einer Form übernommen
werden würde, die keinen Zweifel darüber lasse, daß die in Aussicht
genommene Verwendung des Generals von Liman in einer höheren
Stellung im Einverständnis mit der Kaiserlichen Regierung erfolge.
Herr Sasonow wiederholte nun in längeren Auseinandersetzungen
seinen bekannten Standpunkt und sein Erstaunen, daß er bei uns so
wenig Verständnis für die berechtigte Erregung finde, welche die An-
294
gelegenheit hier hervorrufen müsse. Ich erklärte dem Minister, daß
uns dieses Verständnis allerdings fehle, da nach unserer Auffassung es
einfach unlogisch sei, gegen eine deutsche Militärmission in der Türkei
an sich keine Einwendungen zu erheben, sich aber über die Art, wie
diese Mission ihre Aufgabe zu erfüllen für angezeigt halte, zu erregen.
Der Minister warf nun die Frage auf, wie sich die Militärmission
verhalten würde, falls die Türkei mit irgendeiner Macht in kriegerische
Verwickelungen geraten sollte. Ich erwiderte, man möge sich in dieser
Beziehung hier nicht weiter beunruhigen. Es scheine mir wenig wahr-
scheinlich, daß die Türkei in absehbarer Zeit an kriegerische Unter-
nehmungen dächte, und die Eventualität, daß General von Liman an
der Spitze seines türkischen Korps gegen Rußland zu Felde ziehe,
verdiene nach meiner Überzeugung bei unseren Besprechungen nicht
ernstlich ins Auge gefaßt zu werden.
Ich bemerkte dann, wenn der Minister uns Mangel an Verständnis
für den russischen Standpunkt vorwerfe, so könne ich ihm diesen Vor-
wurf nur zurückgeben. Man werde bei uns nie und nimmermehr ver-
stehen, wieso das aktive Kommando des Generals von Liman über das
Armeekorps von Konstantinopel einen unfreundlichen Akt gegen Rußland
darstellen solle, während über die Stellung der türkischen Flotte sowie
sämtlicher türkischer Marineanstalten unter englisches Kommando und
den Ankauf eines der größten Dreadnoughts der Welt für die Türkei,
noch dazu mit französischem Gelde, kein Wort verloren werde*. Der
Minister versuchte wie schon neulich nach echt russischer Art über
dieses ihm unbequeme Argument mit einigen abfälligen Bemerkungen
über die türkische Marine hinwegzugehen. Die Türkei besitze über-
haupt keine Flotte und werde nie eine besitzen **, da ihr das geeignete
Material zur Bemannung von Schiffen fehle. Ich wies demgegenüber
auf die Tätigkeit des türkischen Kreuzers „Hamidije" während des
letztes Krieges hin, welche beweise, daß selbst ein verhältnismäßig
kleines Kriegsschiff mit türkischer Bemannung, wenn es nur gut
geführt werde, durchaus keine quantite negligeable sei.
Übrigens werde hier immer von der Frage des Prestige in Kon-
stantinopel gesprochen. Niemand in Deutschland und kein unpartei-
isch Urteilender werde aber zugeben können, daß die Ausübung des
aktiven Kommandos über ein türkisches Korps durch einen deutschen
* Ende Dezember 1913 wurde bekannt, daß die Pforte ihren Botschafter in
London beauftragt hatte, Verhandlungen zwecks Ankaufs des brasilianischen
Überdreadnougths „Rio de Janeiro" einzuleiten, der in Elswick gebaut wurde.
Sasonow hatte übrigens allerdings, charakteristischerweise nicht in London,
sondern in Paris Vorstellungen deswegen erhoben: „Wir halten es für höchst
erwünscht, in Zukunft die weitere Erwerbung von Panzerschiffen durch die
Türkei zu verhindern." Geheimtelegramme Sasonows Nr. 3513 und 3515 vom
2. Januar 1914 an Iswolsky. Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911
bis 1914, ed. Fr. Stieve, IV, 10f., 14.
** Vgl. dazu Nr. 15 475, Fußnote ***.
295
General dem deutschen Vertreter am Goldenen Hörn ein größeres An-
sehen gebe, als es der englische Botschafter, welcher die türkische Flotte
hinter sich habe, besitze.
Ich wies dann darauf hin, daß trotz des von mir zugegebenen
mangelnden Verständnisses für den russischen Standpunkt, Euere Ex-
zellenz sich dennoch im Interesse der guten Beziehungen zu Rußland
sofort bereit erklärt hätten, in Konstantinopel die Frage prüfen zu
lassen, was etwa zur Beruhigung der hier aufgetauchten Besorgnisse
geschehen könne. Unseren guten Willen müsse Herr Sasonow hieraus
ersehen. Ich bäte ihn aber inständig, in der Frage nicht zu drängen und
nicht auf der Festsetzung eines bestimmten nahen Termines für die
Änderung in dem Verhältnis des Generals von Liman zu bestehen. Durch
ein solches Drängen werde er der Sache nur schaden. Ich hielte es
für ausgeschlossen, daß meine Regierung sich auf die Festlegung eines
solchen Termins einlasse. Wenn der Herr Staatssekretär vom Verlaufe
des Jahres gesprochen habe, so sollte dies hier genügen. Schließlich
mache es keinen Unterschied, ob General von Liman sein Kommando
im April oder im Dezember niederlege. Die Hauptsache sei, daß im
Prinzip dem russischen Bedenken Rechnung getragen werde.
Der Minister möge nicht vergessen, in welch schwierige Lage das
russische Vorgehen die Kaiserliche Regierung gebracht habe. Wären
die Verhandlungen im Rahmen eines vertraulichen und freundschaft-
lichen Gedankenaustausches zwischen dem Berliner und Petersburger
Kabinett geblieben, so würde es viel leichter gewesen sein, dem rus-
sischen Standpunkt einige Konzessionen zu machen. Seitdem aber die
hiesige und französische Presse die Angelegenheit in einer unerhörten
Weise aufgebauscht habe, und besonders nach dem Schritt der Tripel-
entente in Konstantinopel sei die Frage ganz unnötigerweise zu einer
Prestigefrage geworden. Bei dieser Sachlage sei es für die Kaiserliche
Regierung, wie Herr Sasonow selbst einsehen müsse, unmöglich, einen
Schritt zu tun, der den Anschein erwecken könnte, als wiche Deutsch-
land vor einem Druck der Tripelentente und vor der Pressekampagne
zurück. Ein solches Zurückweichen würde kein Leiter der deutschen
Politik vor Seiner Majestät dem Kaiser verantworten oder vor der
deutschen öffentlichen Meinung vertreten können. Die einzig mögliche
Lösung sei daher die vom Herrn Staatssekretär in Aussicht genommene,
bei welcher es nicht darauf ankomme, ob sie einige Monate früher oder
später praktisch werde.
Gegen Ende der Unterhaltung verfiel Herr Sasonow wieder in
etwas versöhnlicheren Ton. Er schilderte mir die Schwierigkeiten seiner
Lage und bat, auf dieselbe Rücksicht zu nehmen. Die von ihm bisher
befolgte Politik werde von „sehr hoher und einflußreicher Seite" be-
kämpft. Man halte ihm vor, daß die deutsche Militärmission der Dank
für den Besuch des Kaisers Nikolaus an unserem Hofe, sowie für seinen
und des Herrn Kokowzow Besuche in Berlin sei, und daß seine deutsch-
296
freundliche Politik Rußland von einer diplomatischen Niederlage zur
anderen führe.
Diese Äußerungen scheinen mir besonders bemerkenswert, weil
sie meine an anderer Stelle geäußerte Vermutung bestätigen, daß
Herr Sasonow in seiner Haltung in der Frage der Militärmission durch
die hiesigen deutschfeindlichen Kreise stark beeinflußt wird. Wen der
Minister mit der sehr hohen und einflußreichen Seite meinte, weiß
ich nicht, denn es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, festzustellen,
ob etwa der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, der bekanntlich in diesem
Winter ziemlich in Ungnade gefallen war, sich beim Zaren wieder Ein-
fluß zu verschaffen gewußt hat. Möglicherweise hatte Herr Sasonow
bei seiner Äußerung einflußreiche Reichsratkreise im Auge. Für die
in diesen Kreisen anscheinend vielfach vertretene Auffassung scheint
mir eine Äußerung, die der Graf Witte neulich getan hat, bezeichnend:
„Den Deutschen könne er ihr Vorgehen nicht verdenken, sie hätten
mit der Militärmission wieder einen genialen Coup ausgeführt. Für
Rußland bedeute aber die Mission des Generals von Liman eine neue
ernste Schlappe, die es seiner unfähigen Diplomatie zu verdanken
habe."
Schließlich kam der Minister wieder darauf zurück, wie wertvoll
es für ihn sein würde, ein offiziöses Communique hier veröffentlichen
zu können und darin etwa zu sagen, die Frage der Militärmission be-
säße keineswegs die Schärfe, die ihr vielfach beigelegt würde. Sie
bilde den Gegenstand freundschaftlicher Verhandlungen zwischen beiden
Kabinetten, von denen man hoffen dürfe, daß sie bald zu einem be-
friedigenden Ergebnis führen würden*.
Ich sagte dem Minister, ich wüßte nicht, ob Euere Exzellenz eine
solche Veröffentlichung in dem gegenwärtigen Stadium der Angelegen-
heit für wünschenswert halten würde, auch könnte ich nicht umhin zu
bezweifeln, daß dieselbe den hiesigen Hetzern genügen und sie be-
ruhigen würde.
F. Pourtales
Bemerkung von Bethmann Hollwegs am Schluß des Schriftstücks:
Ich sehe nicht ein, warum wir gegen ein solches Communique' Widerspruch er-
heben sollten. Es entspricht den Tatsachen, und wird nicht Lügen gestraft
• Vgl. dazu auch den Bericht Delcass€s vom 13. Januar (Französisches
Oelbbuch: Les Affaires Balkaniques, III, 105), der das Sasonowsche Verlangen
nach einem entgegenkommenden deutschen Communique in wesentlich schroffere
Formen kleidet: „II demande donc au Cabinet de Berlin ,de l'aviser du terme
approximatif qu'il trouve necessaire de fixer*. — Si le Gouvernement allemand
adhere ä ce point de vue, une communication pourra £tre faite ä la presse,
portant que les deux gouvernements esperent arriver ä bref d£lai ä une
Solution satisfaisant leurs int£r£ts reciproques et repondant d'autre part aux
liens d'amitie unissant les deux Empires. — M. Sasonoff exprime le desir d'etre
inform£ le plus tot possible de la r£solution du Gouvernement allemand."
297
werden, nachdem die Beförderung des Generals Liman zum General der
Kavallerie gesichert ist. Außerdem erleichtert es uns unsere eigene Stellung,
indem es den Rücktritt des Generals Liman von dem Kommando des 1. Armee-
korps nicht als eine Folge der Demarchen der Tripelentente, sondern als Folge
unserer freundschaftlichen Pourparlers mit Rußland erscheinen läßt.
B. H. 14/1.
Nr. 15 520
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 5 St. Petersburg, den 10. Januar 1914
Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß bei der Hetze
gegen die deutsche Militärmission in der Türkei von Anfang an die-
jenigen hiesigen und auswärtigen Kreise ihre Hand im Spiel gehabt
haben, welche die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Ruß-
land zu stören bestrebt sind, und daß die ganze Hetze auf diese Kreise
in erster Linie zurückzuführen ist. Es läßt sich zwar nicht beweisen,
aber viele Anzeichen sprechen dafür, daß die Erregung über die Militär-
mission von Personen ausgegangen und geschürt worden, die wäh-
rend des Aufenthalts des Kaisers Nikolaus in Livadia auf den Monarchen
Einfluß auszuüben Gelegenheit hatten. Jedenfalls fiel mir gleich bei
den ersten Unterredungen, die ich mit Herrn Sasonow über die An-
gelegenheit hatte, auf, daß der Minister wiederholt bemerkte, er sei
„in Livadia" mit der Nachricht von der Ausübung des aktiven Kom-
mandos durch General von Liman „überrascht" worden. Ebenso war
eine sehr bemerkenswerte Änderung in der Haltung und Sprache des
Ministerpräsidenten Kokowzow zu bemerken, als er nach seiner Rück-
kehr aus dem Auslande zum Immediatvortrag bei seinem kaiserlichen
Herrn in Livadia gewesen war*. Die äußerst nervöse Stimmung, in
der beide Minister vom kaiserlichen Hoflager hierher zurückgekehrt
sind, in Verbindung mit dem Umstand, daß besonders Herr Sasonow
zu Anfang vorwiegend militärische Momente anführte, um die russi-
schen Besorgnisse wegen der Militärmission zu begründen, scheinen
auf militärische Einflüsse hinzudeuten, welche in Livadia die miltärische
Lage Rußlands als durch die deutsche Militärmission in der Türkeil be-
droht hingestellt haben. Es war bezeichnend, daß Herr Sasonow im
weiteren Verlauf der Unterredungen die militärischen Gesichtspunkte
ganz zurücktreten ließ, um dann desto stärker das politische Moment:
die angebliche Störung des Gleichgewichts der Mächte in Konstan-
* Vgl. Nr. 15 478.
298
tinopel hervorzuheben. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß
sich die Hetze anfangs gegen unsere Militärmission überhaupt richtete
und daß man sich auf die Bedenken gegen das „aktive Kommando"
zurückzog, als man sich erinnerte, daß die Frage der Militärmissiom
bereits im Frühjahr zwischen unseren beiden Monarchen besprochen
worden war.
Trifft meine Vermutung zu, daß es ursprünglich militärische Ein-
flüsse gewesen sind, von denen die Hetze gegen die Militärmission
ausgegangen ist*, so liegt es nahe, zunächst an die dem Großfürsten
* Das scheint bestätigt zu werden durch einen Bericht des Militärattaches in
Petersburg Majors von Eggeling vom 3. Januar (Nr. 1), in dem er ein-
gehende Mitteilungen über ein Gespräch mit russischen Generalstabsoffizieren
bezüglich der Stellung Rußlands zur deutschen Militärmission in Konstantinopel
machte. Es heißt in dem Bericht unter anderem:
„Man führte mir mit der größten Offenheit etwa folgendes aus: Eines
Tages werden wir mit der Türkei abrechnen. Dann wünschen wir sie
schwach zu finden. Sie wird militärisch erstarken durch die deutsche Reform-
tätigkeit in der jetzt gewählten Form. Darum hätten wir nichts eingewendet
gegen eine vorwiegend beratende Tätigkeit der deutschen Offiziere, die ebenso-
wenig durchgreifend hätte wirken können wie früher. Jetzt hat man aber
eine Organisation gewählt, die Erfolg verspricht. Darum wollen wir nicht diese
unmittelbare Kommandogewalt der deutschen Generale. . . . Des weiteren sprach
man sich im Generalstab mit gleicher Offenheit dahin aus, die russische Diplo-
matie habe sich in der ganzen Frage der Militärmission an die falsche Adresse
gewandt. Sie hätte Deutschland überhaupt auslassen und sich mit der kate-
gorischen Forderung an die Türkei wenden sollen, die betreffs der Militär-
mission getroffenen Vereinbarungen rückgängig zu machen. Mein Einn
wurf, daß die Türkei doch bis jetzt noch ein souveräner Staat sei, erfuhr
die Erwiderung, ein solches Vorgehen Rußlands sei nur das gleiche, wie
es Österreich gegen Serbien in der Adriafrage mit Erfolg angewendet habe.
Einer eigentümlichen Auffassung begegnete ich auch bezüglich der Reform-
tätigkeit englischer Offiziere in der türkischen Marine. Die in dieser Frage
auffallend ruhige Haltung, die erst letzthin in der russischen Presse gelegent-
lich eine etwas erregtere Besprechung gefunden hat, erklärt man mit der
operativen Bedeutungslosigkeit der türkischen Flotte selbst nach einer durch-
greifenden Reform. Ein Kampf um die Dardanellen werde stets zu Lande aus-
getragen werden! Der Bedeutung einer unbestrittenen Seeherrschaft der
Russen im Schwarzen Meere bei einem Kampf in Armenien — ganz abgesehen von
einem solchen um die Dardanellen — ist man sich augenscheinlich nicht bewußt.
Auch wurde mit besonderem Nachdruck das politische Verhältnis der beteiligten
Staaten betont. Man stehe nun einmal mit England in der Entente, mit Deutsch-
land aber in keinerlei Bundesverhältnis. Darum verdiene eine von Deutschen
ausgebildete türkische Armee eine andere Bewertung als eine von Engländern
reformierte türkische Flotte. Das kommt also auf die höchst eigenartige Auf-
fassung heraus, als ob man es bei einem Kriege gegen die Türkei mit einer
deutschen Armee, aber nicht mit einer englischen Flotte zu tun habe. Sie
begründet sich augenscheinlich auf eine völlige Verblendung in der Be-
urteilung des englisch-russischen Ententeverhältnisses. In ausführlicher Weise
wurde mir dargelegt, wie alle Reibungsflächen zwischen den beiden Mächten
geschwunden seien, seit man sich in Persien geeinigt und alle verständigen
Leute angebliche Aspirationen Rußlands auf Indien als eine Utopie anerkannt
hätten. Damit sei ja alle Rivalität und auch jeder Einwand Englands gegen die
299
Nikolai Nikolajewitsch nahestehenden Kreise zu denken, deren Hetz-
arbeit während der Krisis des vorigen Winters wiederholt zutage
trat, und die auch jetzt wieder in deutschfeindlichem Sinne tätig ge-
wesen sein mögen. Man wird aber auch gewiß in der Annahme nicht
fehlgehen, daß von den höheren Militärs und Marineoffizieren von
Odessa und Sewastopol, welche in Livadia Gelegenheit hatten, sich
dem Zaren zu nähern, und deren Augenmerk naturgemäß in erster
Linie auf die Meerengen und die Türkei gerichtet sind, mancher sich
denjenigen angeschlossen hat, welche wegen unserer Militärmission
Alarm zu schlagen für nötig gefunden haben. Würde Herr Sasonow
nicht von einer Seite gehetzt worden sein, die auch die Anschauungs-
weise des Kaisers Nikolaus zu beeinflussen gewußt hat, so würde der
Minister, wie ich ihn zu kennen glaube, die ganze Angelegenheit nicht
so leidenschaftlich aufgegriffen haben, wie er es gleich bei den ersten
Unterredungen mit Herrn von Lucius getan hat. In den meisten Fällen,
in denen er während der vorigjährigen Krisis sich zu unüberlegten
heftigen Äußerungen und Schritten hinreißen ließ, konnten ähnliche Ein-
flüsse, die auf ihn eingewirkt hatten, festgestellt werden.
Die erregte Stimmung, in welcher der Minister aus Livadia hier-
her zurückkehrte, führte dazu, daß er, wahrscheinlich auch von unseren
Gegnern in seinem eigenen Ministerium gedrängt, um uns einzu-
schüchtern, sofort die Tripelentente mobil zu machen suchte und
auch sonst im ersten Unmut manche Geister rief, die er bald darauf
gewiß gern wieder los geworden wäre.
Ich möchte bezweifeln, daß die hiesige Presse die Angelegenheit
in der Weise aufgebauscht hätte, wie es geschehen ist, wenn nicht
vom Ministerium des Äußern aus in das Feuer geblasen worden wäre.
Es mußte aber auch sofort auffallen, daß die Zeitungen und ganz be-
sonders die „Nowoje Wremja" sich bei ihren Angriffen gegen uns
beinahe wörtlich derselben Argumente bedienten, die Herr Sasonow
mir gegenüber verwertete. Daß in dieser Preßkampagne auch die
Unterstützung der „Nowoje Wremja" mit in Anspruch genommen
worden ist, sollte eigentlich nur mit Einwilligung des Herrn Sasonow
Freigabe der Dardanellen und das Erscheinen russischer Kriegsschiffe im
Mittelmeer geschwunden."
Zu diesen Darlegungen aus russischen Generalstabskreisen gibt Major von Egge-
ling noch folgenden Kommentar: „Diese Auffassungen und Anschauungen
scheinen mir insofern eine gewisse Beachtung zu verdienen, als sie offenbar
diejenigen der leitenden militärischen Kreise widerspiegeln. Ihre im Grunde
genommen selbstverständlich offensive Tendenz wird zeitweilig gemildert durch
die im Interesse des Heeres liegende und klar erkannte Notwendigkeit einer
mehrjährigen Ruhe. Für diese Frist dürfte also eine friedfertige Politik Ruß-
lands voraussichtlich eine Stütze in den Ratschlägen der maßgebenden Militärs
finden, falls nicht unerwartete Komplikationen eintreten."
300
geschehen sein. Bei den Zuständen, die im hiesigen Ministerium herr-
schen, ist es aber keineswegs ausgeschlossen, daß die Gegner einer
deutschfreundlichen Politik auf eigene Hand vorgegangen sind. Die
überraschenden Indiskretionen, die in der vorigen Woche in der „No-
woje Wremja" erschienen, dürften auf diese Kreise zurückzuführen
sein. Daß Herr Sasonow dieselben veranlaßt hat, möchte ich bis auf
weiteres nicht annehmen.
Daß die Hetzereien der „Nowoje Wremja" sich sehr bald gegen
den Minister selbst wenden würden, mußte er nach den Erfahrungen
des vorigen Winters selbst voraussehen. In der Tat wird dem Minister
auch bereits vorgeworfen, daß nur seine schwächliche Politik diesen
neuen deutschen Sieg herbeigeführt habe, und es wird auf das heftigste
gegen das „faule Kompromiß" zu Felde gezogen, welches er jetzt mit
uns zu vereinbaren bemüht ist.
So ist denn nicht zu leugnen, daß Herr Sasonow sich augenblicklich
in einer recht schwierigen Lage befindet, an der er allerdings zum
Teil selbst die Schuld trägt. Man wird ihm nach meiner Überzeugung
vollen Glauben schenken können, wenn er versichert, daß er jetzt von
allen Seiten bedrängt wird, und daß es für ihn von größtem Wert wäre,
etwas zur Beruhigung der Gemüter veröffentlichen zu können. Es
wäre aber zu der Erregung der öffentlichen Meinung, wie sie jetzt
allerdings allmählich entstanden ist, nicht gekommen, wenn diese Er-
regung nicht künstlich erzeugt worden wäre. Man muß sich dabei
immer vor Augen halten, daß, wenn auch die „Nowoje Wremja" in
letzter Zeit an Bedeutung verloren hat, weite hiesige Kreise, insbe-
sondere die nationalistischen Dumaabgeordneten und der größte Teil
der Beamtenwelt, sich in ihren Ansichten über auswärtige Politik
vorwiegend von der „Nowoje Wremja" beeinflussen lassen.
So können denn die Hetzer, welche sich zur Aufgabe gestellt
haben, die guten Wirkungen des Zarenbesuchs bei unserem aller-
höchsten Hofe sowie der Besuche der Herren Kokowzow und Sasonow
in Berlin zu stören, auf einen vollen Erfolg blicken. Ich bin überzeugt,
daß die Herren Kokowzow und Sasonow an dem Wunsche, freund-
liche Beziehungen mit uns zu pflegen, festhalten und diese Wendung
aufrichtig bedauern, man wird aber beide Herren nicht von dem Vor-
wurf freisprechen können, daß sie die unnötige Aufbauschung einer
Frage zugelassen haben, die auf dem Wege eines freundschaftlichen und
vertraulichen Gedankenaustausches zwischen beiden Kabinetten zur
beiderseitigen Zufriedenheit hätte geregelt werden können. Ich habe
mich in diesem Sinne Herrn Sasonow gegenüber sehr offen ausge-
sprochen und ihm gegenüber besonders nach den Indiskretionen der
„Nowoje Wremja" eine etwas kühle Zurückhaltung beobachtet.
F. Pourtales
301
Nr. 15 521
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Telegramm. Konzept von der Hand des Staatssekretärs von Jagow
Nr. 9 Berlin, den 15. Januar 1914
Seine Majestät der Kaiser haben dem General von Liman Cha-
rakter eines Generals der Kavallerie verliehen. Pforte wird nunmehr
seine Ernennung zum Marschall veranlassen, womit Kommando über
Armeekorps von selbst wegfällt. Wir betrachten hiermit Angelegen-
heit als im Sinne der Herrn Kokowzow gegebenen Zusicherungen
erledigt.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 522
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt*
Telegramm. Entzifferung
Nr. 9 St. Petersburg, den 15. Januar 1914
Bei gestrigem Neujahrsempfang erwähnte Seine Majestät der Kaiser
Nikolaus kurz Angelegenheit des Generals von Liman und bemerkte,
es sei guter Jahresanfang, daß dieselbe „applaniert" sei. Herr Sa-
sonow bemerkte, daß er offizielle Bestätigung über Änderung in Stel-
lung des Generals noch nicht erhalten habe. Ich erwiderte, nach Zei-
tungsnachrichten scheine mir hierüber kein Zweifel zu bestehen **.
Wäre dankbar für Mitteilung über Stand der Angelegenheit.
Pourtales
* Bereits veröffentlicht im deutschen „Weißbuch betreffend die Verantwortlich-
keit der Urheber des Krieges", S. 151.
** Schon am 12. Januar hatten, wie Baron von Etter an diesem Tage an Sasonow tele-
graphierte (v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke^, a. O., S. 670), die Agenturtele-
gramme berichtet, daß General Liman das Kommando über das Armeekorps abgebe
und nur Inspekteur der Armee und Direktor der Militärschule bleibe. Am 13. Januar
hatte dann Sasonow selbst bei Botschafter von Giers in Konstantinopel angefragt, ob
die Ernennung Limans zum Inspekteur der Armee bedeute, daß ihm die allgemeine
Inspektion des türkischen Heeres übertragen werde, oder daß er die Inspektion über
den 1. Militärbezirk erhalte und damit faktisch das Kommando über die Konstanti-
nopeler Truppen in Händen behalte. Dieser Punkt spielte auch eine große Rolle
bei der „Sonderkonferenz", die unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten
Kokowzow und unter Teilnahme des Kriegsministers Suchomlinow, des Marine-
ministers Gregorowitsch, des Außenministers Sasonow und des Generalstabschefs
Shilinski am 13. Januar zu einer Erörterung der Frage zusammentrat, welche „Nöti-
gungsmaßregeln" zur Durchsetzung der russischen Forderungen in Aussicht genom-
302
Nr. 15 523
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 15 St. Petersburg, den 18. Januar 1914
Ministerpräsident Kokowzow, den ich gestern sah, und dem ich
von dem Inhalt Euerer Exzellenz Mitteilung betreffend die Rang-
erhöhung des Generals Liman von Sanders Kenntnis gab, sprach mir
in sehr herzlichen und warmen Worten seine Freude über die Er-
ledigung der Angelegenheit aus. Er nehme an, daß General von
Liman nunmehr eine ähnliche Stellung in Konstantinopel bekleiden
werde, wie sie Goltz Pascha innegehabt habe, und halte die Lösung für
eine befriedigende. Der Ministerpräsident bemerkte, Seine Majestät
der Kaiser Nikolaus sei unserem allergnädigsten Herrn sehr dank-
bar für das in der Frage bewiesene Entgegenkommen und das Be-
streben, einen Weg zu finden, um den russischen Wünschen Rechnung
zu tragen. Sein kaiserlicher Herr und er selbst legten den aller-
men werden müßten (M. Pokrowski, Drei Konferenzen, S. 32 ff.). In der Versamm-
lung bestand volles Einvernehmen darüber, daß eine Lösung der Frage, die irgend-
eine Kommandogewalt in den Händen Limans belasse, gleichwohl ob in Konstanti-
nopel oder anderwärts, nicht akzeptiert werden könne. Als „Nötigungsmaßnahme"
wurde von der Sonderkonferenz die Besetzung irgendeines Punkts in Kleinasien,
beispielsweise Trapezunts oder Bajasids, ins Auge gefaßt, die von der Erklärung
begleitet sein sollte, daß Rußland dort bis zur Durchsetzung seiner Forderungen
verbleiben werde. Natürlich waren sich die Teilnehmer der Sonderkonferenz
durchaus dessen bewußt, daß man damit die Gefahr eines europäischen Krieges
heraufbeschwöre; eben deshalb sollte zu dem Mittel nur dann gegriffen werden,
wenn man sich durch Verhandlungen in Paris und London die Gewißheit ver-
schafft haben werde, daß die beiden Ententegenossen für die gemeinsamen
Interessen bis zu Ende eintreten würden. Frankreichs glaubte man ja durchaus
sicher zu sein, da Delcasse Sasonow im Namen des französischen Außen-
ministers versichert hatte, daß Frankreich unter allen Umständen so weit gehen
würde, wie Rußland es wünsche. Weniger sicher fühlte man sich der aktiven
Teilnahme Englands, die aber allseitig für unumgänglich nötig erachtet wurde.
Schließlich einigte sich die Konferenz dahin, daß man zu Druckmitteln, die einen
Krieg mit Deutschland zur Folge haben könnten, nur dann greifen dürfe, wenn
die aktive Beteiligung sowohl Frankreichs als auch Englands an den gemein-
samen Schritten absolut gesichert sei. Bemerkenswert ist, daß, während in der
ganzen Liman Sanders-Krise nach Ausweis der Akten auf deutscher Seite der
Kriegsfall nicht ein einziges Mal in Betracht gezogen wurde, Ministerpräsident
Kokowzow, selbst zwar Gegner eines Krieges mit Deutschland, in der Sonder-
konferenz vom 13. Januar mit aller Präzision die Frage stellte: „Ist der Krieg
mit Deutschland erwünscht und kann Rußland ihn führen?", und daß der
Kriegsminister wie der Chef des Generalstabes daraufhin „kategorisch die volle
Bereitschaft Rußlands zum Zweikampf mit Deutschland, von einem Zweikampf
mit Österreich schon gar nicht zu reden," erklärten (Pokrowski, a. a. O.,
S. 42).
303
größten Wert auf ein freundschaftliches und vertrauensvolles Verhält-
nis zu Deutschland und hätten besonders aus diesem Grunde das nun-
mehr glücklich beigelegte Mißverständnis bedauert. Herr Kokowzow
gab bei dieser Gelegenheit der großen Verehrung, die er für Seine
Majestät unseren Kaiser hege, Ausdruck und betonte dann, wie sehr
ihm daran liege, die mit Euerer Exzellenz angeknüpften persönlichen
vertrauensvollen Beziehungen zu pflegen. Er fügte hinzu, daß auch
Kaiser Nikolaus stets in den gnädigsten Ausdrücken über Euere Ex-
zellenz spreche. Die Worte des Ministerpräsidenten klangen sehr
herzlich und machten einen aufrichtigen Eindruck.
Im weiteren Verlaufe der Unterredung bemerkte Herr Kokowzow,
auch wir würden, wie er annehme, mit der von der russischen Re-
gierung in der Angelegenheit beobachteten Haltung zufrieden sein.
Trotz der für Rußland sehr großen Bedeutung der Frage sei hier von
vornherein auch auf den deutschen Standpunkt Rücksicht genommen
worden.
Auf diese Bemerkung konnte ich nicht umhin zu erwidern, daß es
uns von hier aus nicht gerade leicht gemacht worden sei, Rußland,
wie es von vornherein der Wunsch Euerer Exzellenz gewesen sei, in
der Frage entgegenzukommen. Ich wies dabei auf den Schritt der
Tripelentente in Konstantinopel und auf die Indiskretionen in der
Presse hin. Herr Kokowzow ging auf meine Bemerkung über den
Schritt der Tripelentente nicht näher ein, sprach über die Indiskretionen
in der Presse sein lebhaftes Bedauern aus. Er machte direkt das fran-
zösische Ministerium des Äußeren für diese Indiskretionen verantwort-
lich. Er selbst sei jetzt so vorsichtig geworden, daß er vor einigen
Tagen sogar abgelehnt habe, einen ihm von Herrn Sasonow emp-
fohlenen Korrespondenten des „Temps" zu empfangen, um mit gutem
Gewissen sagen zu können, daß er keinen französischen Journalisten
in der letzten Zeit gesehen habe.
Herr Sasonow, den ich nach Herrn Kokowzow sah, äußerte sich
zwar auch dankbar über das Entgegenkommen Euerer Exzellenz,
er beschränkte sich aber darauf, „die Hoffnung" auszudrücken, daß
der Zwischenfall nunmehr erledigt sei. Er sprach sich im übrigen viel
zurückhaltender und kühler aus als der Ministerpräsident. Ich habe
Hern Sasonow sehr bestimmt erklärt, daß ich nach den mir von
Euerer Exzellenz zugegangenen Informationen, und nachdem mir Seine
Majestät der Kaiser Nikolaus selbst die Angelegenheit als „applanie"
bezeichnet habe, dieselbe als endgültig erledigt ansehe.
F. Pourtales
304
Nr. 15 524
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 19 Pera, den 20. Januar 1914
Die Ernennung General Liman von Sanders' zum türkischen Mar-
schall und die Beschränkung seiner Funktionen auf die ihm aus seinem
Kontrakt zustehenden allgemeinen Inspektionsrechte dürften sowohl
im deutschen wie auch im türkischen Interesse liegen. Rußland gegen-
über mag immer darauf hingewiesen werden, daß General Liman auf
ein wichtiges, ihm kontraktlich zugesichertes Recht, das Kommando
über das I. Armeekorps, verzichtet hat, in Wirklichkeit gewinnt der
Generalinspekteur, was der kommandierende General verliert. Bei
dem Tempo, mit dem gegenwärtig im türkischen Kriegsministerium
gearbeitet wird, wären beide Funktionen für einen Mann auf die Dauer
zu viel gewesen. General Liman ist denn auch von seiner neuen Stel-
lung äußerst befriedigt. Dies ist die militärisch-technische Seite der
Angelegenheit. In politischer Beziehung bietet die eingetretene Ände-
rung zunächst den großen Vorteil, daß General Liman aus allen
etwaigen innerpolitischen Verwickelungen der Türkei ausscheidet, was
für ihn als Kommandeur des I. Armeekorps schwer, unter Umständen
unmöglich gewesen wäre.
Unter dem Gesichtspunkt der auswärtigen Politik war es für die
Türkei ebenso wünschenswert, durch ein Entgegenkommen sich von
dem russischen Druck etwas zu entlasten, als es unserem Interesse
entsprach, Rußland, welches sich in eine Sackgasse verrannt hatte, in
guter Form herauszuhelfen1.
Die akute Phase, in welche die Frage der Militärmission getreten
war, dürfte damit überwunden sein. Man wird sich indessen meines
Erachtens kaum einer Täuschung darüber hingeben dürfen, daß die
Wirksamkeit der deutschen Militärmission auch weiterhin sowohl die
türkisch-russischen, wie die deutsch-russischen Beziehungen beein-
flussen wird2. Je effektiver sich die Reformarbeit gestaltet, um so
fühlbarer wird dies werden. Das gleiche gilt vielleicht in noch höherem
Grade von der Reorganisation der Flotte, die in englischen Händen
liegt. Mit einigen wirklich leistungs- und manövrierfähigen türkischen
Dreadnoughts wäre die ganze Stellung Rußlands im Schwarzen Meere
verschoben 3. Nur sind eben die englisch-russischen Beziehungen so
delikater Art, daß man mit Worten tunlichst an diese Dinge nicht
rühren wird*.
Mutius
20 Die Groß« Politik. 38. Bd. 305
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Na! Von der habe ich verdeibelt wenig gemerkt!!
2 ja
3 wird sie auch
4 richtig
Nr. 15 525
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 28 St. Petersburg, den 31. Januar 1914
Obgleich Herr Sasonovv jetzt nicht umhin kann anzuerkennen, daß
die Angelegenheit der deutschen Militärmission in der Türkei in einer
für Rußland befriedigenden Weise erledigt ist, hat er es doch im
Gegensatz zu Herrn Kokowzow, wie mir scheint absichtlich, vermieden,
seinem Dank für das von der Kaiserlichen Regierung bewiesene weit-
gehende Entgegenkommen einen besonders warmen Ausdruck zu
geben *. Der Minister gibt offenbar nicht gern zu, daß von deutscher
Seite ein freundlicher Akt vorliegt, der uns etwa berechtigen könnte,
bei sich bietender Gelegenheit von Rußland eine Gegenleistung zu
verlangen2. Herr Sasonow möchte es anscheinend gern so hinstellen,
als habe Deutschland nichts weiter getan, als berechtigten Bedenken
Rußlands Rechnung zu tragen oder gar ein gegen Rußland begangenes
Unrecht wieder gutzumachen 3.
Auf diese Auffassung des Ministers dürfte es auch zurückzuführen
sein, daß Seine Majestät der Kaiser Nikolaus, höchstweicher sich beim
Frühstück am 27. Januar während der ganzen Dauer der Tafel sehr
gnädig mit mir unterhielt, die Erledigung der Angelegenheit des Ge-
nerals von Liman mit keinem Worte erwähnte und es gegen seine
sonstige Gewohnheit überhaupt vermied, politische Themata mit mir
zu berühren4. Ich nehme an, daß Herr Sasonow, der unmittelbar vor
dem Frühstück zum Immediatvortrag empfangen worden war, seinen
kaiserlichen Herrn entsprechend beraten hatte. Auf der Rückfahrt von
Zarskoje Selo sagte mir der Minister, Seine Majestät habe ihm vor der
Tafel gesagt, ,,je suppose que je n'ai que des sourires aimables ä
adresser ä l'Allemagne 5".
Vielleicht hat Herr Sasonow sich einiger Unterredungen mit mir
aus der letzten Zeit erinnert und befürchtet, ich könnte auch Seiner
Majestät gegenüber dem Bedauern darüber Ausdruck geben, daß die
Angelegenheit von Anfang an nicht, wie es den von unseren beiden
Monarchen gewünschten vertrauensvollen Beziehungen zwischen
Deutschland und Rußland entsprochen hätte, im Rahmen eines freund-
schaftlichen und vertraulichen Gedankenaustausches zwischen beiden
Regierungen geblieben ist. Ich hatte mir allerdings vorgenommen,
306
wenn sich Gelegenheit dazu böte, Seiner Majestät nicht zu verschweigen,
daß die Indiskretionen der französischen Presse sowie die Art, wie die
Frage bedauerlicherweise zu einer Angelegenheit der Tripelentente auf-
gebauscht worden sei, bei uns einen ungünstigen Eindruck gemacht 6
und das von unserem allergnädigsten Herrn und der Kaiserlichen Re-
gierung bewiesene Entgegenkommen nicht erleichtert habe.
Dem Botschaftsrat von Lucius gegenüber, welchen der Zar nach
Aufhebung der Tafel ins Gespräch zog, hat Seine Majestät die Rang-
erhöhung des Generals von Liman mit einer scherzenden Bemerkung7
berührt. Herr von Lucius hat erwidert, man habe in Deutschland gar
nicht begreifen können, wie das dem General Liman von Sanders
türkischerseits übertragene Kommando hier eine solche Beunruhigung
habe hervorrufen können. Seine Majestät hat darauf bemerkt, er habe
in der Tat auch gehört, daß man durch die hier entstandene Erregung
bei uns überrascht worden sei. Der Kaiser hat dann zugegeben, daß
ihm der Plan, eine deutsche Militärmission nach der Türkei zu senden,
schon von Seiner Majestät dem Kaiser und König gelegentlich der Ver-
mählungsfeierlichkeiten in Berlin im vorigen Frühjahr mitgeteilt worden
sei8. Seine Majestät hat ferner erwähnt, der deutsche Standpunkt sei
ihm aus dem Brief des Herrn Reichskanzlers an Herrn Kokowzow *,
den ihm dieser in Livadia vorgelegt habe, bekannt9. Seine Majestät
hat schließlich zugegeben, daß die Angelegenheit von unserer Seite10
eine rasche Erledigung gefunden hat.
Ich kann nicht umhin, nachdem die Angelegenheit nunmehr zwi-
schen beiden Regierungen abgeschlossen ist, hervorzuheben, daß Herr
Kokowzow in der ganzen Frage freundschaftlichere Gesinnungen gegen
Deutschland gezeigt hat als Herr Sasonow n. Als der Ministerpräsident
mir nach seiner Rückkehr von Livadia in sehr deprimiertem Tone über
die durch den Zwischenfall Liman erfolgte Störung in unseren Be-
ziehungen sprach **, hatte ich den Eindruck, daß sein Bedauern über
diese Störung ein aufrichtiges war, und zwar auch besonders aus dem
Grunde, weil er auf diese Beziehungen Wert legt. Einen ebenso auf-
richtigen Eindruck machte aber auch seine sichtliche und in sehr
warmen Worten zum Ausdruck gebrachte Freude und Dankbarkeit über
die Erledigung des Zwischenfalles.
Von Herrn Sasonow habe ich vom ersten Augenblick an den Ein-
druck gehabt, daß er von einer uns feindlichen Seite, die uns mit
Rußland zu entzweien wünscht, geschoben wurde 12. Man kann nicht
umhin, dabei auch an Herrn Delcasse zu denken, der, wie ich
mir wiederholt erlaubt habe zu berichten, es verstanden hat, in der
kurzen Zeit seines Hierseins auf den Minister einen sehr großen per-
sönlichen Einfluß zu gewinnen 13.
F. Pourtales
* Siehe Nr. 15 455.
»• Vgl. Nr. 15 478.
20* 307
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Wir haben es nicht aus Entgegenkommen für Rußland gemacht!
* Das wird geschehen!
3 unerhört!
4 von Sazonow dahin instruirt!
ö genügt nicht mehr! Damit hat er uns immer nur abgespeist!
6 ja
» !
8 ja, na also!
9 na, was will man noch mehr!
10 türkischer!
n ?
12 er ist eben Stockrusse und Slave, was Kokowzow nicht so ist!
13 richtig
Nr. 15 526
Der Geschäftsträger in Konstantinopel von Mutius an das
Auswärtige Amt*
Telegramm. Entzifferung
Nr. 65 Konstantinopel, den 8. Februar 1914
Streng vertraulich
Als mich vor etwa drei Wochen der mir persönlich befreundete
russische Geschäftsträger, wie er sagte privatim, darauf anredete, ob
es wahr sei, daß die Skutaridivision nicht mehr durch einen deutschen
General befehligt werde, habe ich diese Frage verneint und ihm ziem-
lich bestimmt bedeutet, daß ich jede amtliche Konversation über das
Thema Militärmission ablehnte.
Heute erfährt Vertrauensmann aus bester russischer Quelle, daß
die russische Regierung die hiesige Botschaft anwies, Schritte bei
Pforte zu unternehmen zwecks Aufklärung über das Divisionskom-
mando, welches Oberst Nikolai in Skutari aktiv führt. Sowohl russischer
Geschäftsträger wie General Leontiew rieten in Petersburg von neuem
Schritt unter dem Hinweis ab, daß Kommando vermutlich nur provi-
sorischen Charakter trage. Petersburg habe indessen Auffassung hie-
siger Botschaft ziemlich schroff zurückgewiesen und auf Demarche
bestanden.
Mutius
* Die gütliche Erledigung der Liman Sanders-Affäre dank des deutschen Ent-
gegenkommens hinderte nicht, daß diese im Februar 1914 ein Nachspiel fand.
Die „Skutariaffäre" zeigt, wie wenig stichhaltig die frühere russische Behaup-
tung war, daß man sich bei der ersteren Affäre einzig und allein an dem
Kommando des Generals Liman von Sanders über das Konstantinopeler Armee-
korps stoße.
308
Nr. 15 527
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Telegramm. Konzept
Nr. 23 Berlin, den 10. Februar 1914
Zur Verwertung bei Herrn Sasonow, nach Euerer Exzellenz
Ermessen eventuell auch bei Herrn Kokowzow.
Nach offenbar zuverlässigen vertraulichen Nachrichten beabsichtigt
Rußland wegen Divisionskommando deutschen Reformoffiziers im asia-
tischen (!) Skutari von Pforte Aufklärung zu verlangen. Nachdem wir
russischen Wünschen wegen Korpskommandos General von Liman
Rechnung getragen und uns hierdurch in unserer öffentlichen Meinung
Vorwurf übertriebener Nachgiebigkeit gegen Rußland zugezogen haben,
würden wir neue Vorstöße gegen Militärkommission als bewußte Un-
freundlichkeit gegen Deutschland betrachten müssen. Wenn dortige
Regierung, wie wir bis auf weiteres annehmen möchten, auf Fortbestand
freundschaftlicher Beziehungen zu uns Wert legt, können wir von
angeblich geplanter Demarche nur dringend abraten. Verantwortung
für Folgen derartigen Vorgehens, das von öffentlicher Meinung in
Deutschland als Provokation empfunden werden würde, fiele aus-
schließlich Rußland zur Last.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 528
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 29 St. Petersburg, den 11. Februar 1914
Antwort auf Telegramm Nr. 23*.
Habe eben Angelegenheit mit Herrn Sasonow im vorgeschriebenen
Sinne besprochen. Minister erklärte, es sei ihm von Divisionskom-
mando deutschen Reformoffiziers in Skutari nichts bekannt1. Er habe
daher nicht beabsichtigt, deswegen irgendwelchen Schritt bei der Pforte
zu tun. Da nach Meldung russischer Botschaft in Konstantinopel
früherer Kommandeur fraglicher Division Bronsart von Schellendorff
schon vor einigen Wochen seines Kommandos enthoben und zum Ge-
* Siehe Nr. 15 527.
309
neralstabschef ernannt worden sei, habe er sich dabei beruhigt und
sich von Herzen gefreut, ganze Angelegenheit der Militärmission als
erledigt betrachten zu können. Er hofft dringend, daß nicht neuerdings
von Übertragung fraglichen Kommandos an deutschen Offizier die
Rede, oder diese Maßnahme etwa schon erfolgt sei. Denn er fürchte,
daß eine solche neue Aufrollung der Frage der Militärmission hier
große Erregung hervorrufen und auf seinen kaiserlichen Herrn, der
sich über Beilegung der Angelegenheit ebenfalls aufrichtig gefreut
habe, äußerst peinlichen Eindruck machen werde. Ich erwiderte, daß
von neuer Aufrollung der Frage nur dann die Rede sein könne, wenn
hier und in Paris wieder angefangen würde, Lärm zu schlagen. Herr
Sasonow ersuchte mich, Euerer Exzellenz seine dringende Bitte zu
übermitteln, Euere Exzellenz möchten, wenn irgend tunlich, dahin
wirken, daß fragliche Maßnahme unterbliebe. Minister erklärte, er
könne sich nicht verpflichten, eventuell seine Bedenken in Konstan-
tinopel zu verschweigen. Er halte sich zu Schritt bei der Pforte um
so mehr für berechtigt, als Staatssekretär Herrn von Sverwejew, als
dieser vor einigen Wochen Frage Divisionskommandeurs in Skutari
zur Sprache brachte, zu verstehen gegeben habe, die Einzelheiten der
Verwendung der in den türkischen Dienst getretenen deutschen Offi-
ziere gehe Deutschland nichts an, „que FAllemagne s'en lave les
mains". Herr von Jagow habe damals geäußert, wenn Rußland etwas
wolle, möge es sich an die Türkei wenden.
Ich erwiderte, wir könnten natürlich Rußland nicht verbieten,
Schritt in Konstantinopel zu tun, ich müsse aber in ernster Weise auf
sehr übelen Eindruck hinweisen, den jeder neue Vorstoß gegen unsere
Militärmission bei uns hervorrufen würde. Minister wies demgegen-
über auf Eindruck hin, den Übertragung Divisionskommandos in
Skutari an deutschen . . .* hier machen würde. Im Interesse der ihm
sehr am Herzen liegenden guten Beziehungen sprach er immer wieder
Hoffnung aus, daß leidige Angelegenheit nicht zu neuer Meinungs-
verschiedenheit zwischen uns führen möge.
Sprache Ministers war versöhnlich, sein Wunsch, wenn irgend
möglich neue Differenzen vermieden zu sehen, schien aufrichtig.
Pourtales
Randbemerkung Zimmermanns:
1 Grob gelogen! Zunächst Pera zwecks Feststellung, daß Maßnahme definitiv.
Dann nochmals Petersburg. Scharfer erneuter Protest gegen russische Trei-
bereien.
• Zifferngruppe fehlt.
310
Nr. 15 529
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Botschafter in Petersburg Grafen von Pourtales
Konzept
Nr. 157 Berlin, den 19. Februar 1914
Wie der Kaiserliche Geschäftsträger in Konstantinopel meldet, ist
der frühere Kommandeur der Skutaridivision Oberst Bronsart von
Schellendorff vor etwa vier Wochen zum Souschef im Generalstab
ernannt und schon damals Oberst Nikolai endgültig mit seiner
Nachfolge im Divisionskommando betraut worden. Das Kommando
in Skutari ist hiernach seit dem Beginn der Tätigkeit der Militärmission
ohne Unterbrechung in Händen deutscher Offiziere gewesen. Was
stattgefunden hat, ist lediglich ein Wechsel in der Person des Kom-
mandeurs, der schwerlich als Wiederaufrollung der Militärmissionsfrage
hingestellt und in Rußland als Anlaß zu neuer Erregung aufgefaßt
werden kann. Die Bedenken, die hier im ersten Stadium der Angelegen-
heit von der russischen Regierung vorgebracht wurden, richteten sich
ausschließlich gegen die Führung des Armeekorps in Konstantin opel
durch General von Liman. Von Einwendungen gegen die Befehls-
gewalt deutscher Offiziere an anderen türkischen Plätzen war bis-
her nicht die Rede. Umgekehrt ließ die russische Regierung erkennen,
daß sie an und für sich auch gegen Kommandobefugnisse des Generals
von Liman nichts zu sagen habe, wenn sie nur nicht gerade in Kon-
stantinopel ausgeübt würden. Herr Kokowzow formulierte mir die
russischen Wünsche ausdrücklich dahin, daß General Liman entweder
seine Kommandobefugnisse verlöre, wenn er in Konstantinopel ver-
bleibe, oder aber an einem anderen Orte als Konstantinopel stationiert
werde, wenn er Kommandobefugnisse behalte*.
Trotz der Schwierigkeit unserer Position gegenüber der öffent-
lichen Meinung in Deutschland haben wir den russischen Bedenken
gegen die Stellung des Generals von Liman Rechnung getragen.
Wir sind aber damit an der äußersten Grenze unseres Entgegen-
kommens angelangt und müssen erwarten, daß Rußland die Missions-
frage nunmehr ein für allemal als erledigt betrachtet. Um jede Trübung
unseres Verhältnisses zu Rußland zu vermeiden, haben wir uns bis-
her bemüht, die Militärmission als eine innere Angelegenheit der
Türkei anzusehen und zu behandeln. Die russische Regierung muß
sich darüber klar sein, daß weitere Treibereien gegen die Militärmission
es uns unmöglich machen würden, an diesem Standpunkt festzuhalten.
Ew. pp. bitte ich vorstehendes nachdrücklich bei Herrn Sasonow
zu verwerten.
v. Bethmann Hollweg
* Vgl. Nr. 15 451.
311
Nr. 15 530
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtal&s an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 72 St. Petersburg, den 28. Februar 1914
Euerer Exzellenz hohen Erlaß Nr. 157 vom IQ. d. Mts.*, be-
treffend das Kommando der Division in Skutari, habe ich bei Herrn
Sasonow eingehend verwertet. Der Hinweis darauf, daß das Kom-
mando in Skutari seit dem Beginn der Tätigkeit der Militärmission ohne
Unterbrechung in Händen deutscher Offiziere gewesen sei, machte auf
den Minister den meisten Eindruck. Er erklärte, daß er dies nicht ge-
wußt habe, als er wegen des Korpskommandos in Konstantinopel Be-
denken erhoben habe. Er müsse zugeben, daß es nicht recht angängig
sei, jetzt nachträglich in dieser Frage Schritte zu tun, nachdem er
seinerzeit wegen des Divisionskommandos nichts gesagt habe.
Ich wies den Minister von neuem auf den sehr üblen Eindruck hin,
den solche Schritte, auch wenn sie in Konstantinopel erfolgten, bei uns
machen würden. Ich verließ Herrn Sasonow mit dem Gefühl, daß,
wenn er nicht wieder umgestimmt wird, er die Angelegenheit nunmehr
auf sich beruhen lassen wird**.
F. P o u r t a 1 e s
• Siehe Nr. 15 529.
** Tatsächlich blieb die Angelegenheit der Militärmission nunmehr auf sich
beruhen. Daß indessen bei Sasonow, obwohl er sich scheinbar zufrieden gab
und gegenüber dem deutschen Botschafter wiederholt, so noch in einer Unter-
redung vom 28. April (siehe das Telegramm Nr. 96 des Grafen Pourtales von
diesem Tage in Bd. XXXIX, Kap. CCIC, Nr. 15 859) die versöhnliche Haltung
Deutschlands in der Liman Sanders-Affäre anerkannte, der Groll nachwirkte,
lehren die folgenden Schriftstücke (Nr. 15 531, 15 532). Auch ergibt das Proto-
koll über die Sonderkonferenz vom 21. Februar (M. Pokrowski, Drei Kon-
ferenzen, S. 46 ff.; Fr. Stieve, Iswolski und der Weltkrieg, S. 247 ff.), daß
Rußland trotz der Beilegung der Liman Sanders-Affäre konsequent in der mit
dem Sasonowschen Immediatbericht vom 8. Dezember 1913 und der Sonder-
konferenz vom 13. Januar 1914 (vgl. Nr. 15 522, Fußnote'*) inaugurierten neuen
und letzten Phase seiner Meerengenpolitik vorschritt, die ungeachtet der Erkenntnis,
„daß der Kampf um Konstantinopel kaum ohne einen allgemeinen europäischen
Krieg möglich wäre", die Eroberung der türkischen Hauptstadt als Ziel ins
Auge faßte. Rußland dachte, wie aus dem Geheimtelegramm Paleologues vom
18. April (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve,
IV, 90) hervorgeht, sogar dann schon zu den Waffen zu greifen, wenn die Türkei
im Falle des Ausbruchs neuer Feindseligkeiten mit Griechenland die Meerengen
schließen würde, auf die Gefahr hin, daß Deutschland auf die Seite der Türkei
treten würde, und daß es darüber zum Weltkrieg komme.
312
Nr. 15 531
Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lucius
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 120 St. Petersburg, den 11. April 1914
Ganz vertraulich
Euerer Exzellenz beehre ich mich in der Anlage* Abschrift einer
Aufzeichnung des augenblicklich hier weilenden Herausgebers der
„Grenzboten", Herrn G. Cleinow, über seine Unterredung mit Herrn
Sasonow gehorsamst vorzulegen.
Von besonderem Interesse erscheint mir die vielsagende Bemerkung
des Ministers über Armenien: Rußland könne eventuell gezwungen
werden, in Armenien einzumarschieren, und dann sei es schwierig
„wieder herauszugehen" **.
Ich teile die Ansicht des Herrn Cleinow vollkommen, daß Herr
Sasonow die Mission des Generals Liman nicht verwunden hat, und
daß hier die Hauptquelle seiner latenten Verstimmung zu suchen ist,
die bei jeder Gelegenheit zutage tritt und Unfreundlichkeiten gegen uns
auf den verschiedensten Gebieten mindestens zuläßt.
Der Minister sprach sich mir gegenüber sehr befriedigt über Herrn
Cleinows Besuch aus und betonte wiederholt, daß er sich ihm gegen-
über absichtlich sehr offen ausgesprochen habe. Ich hatte den Ein-
druck, daß Herr Sasonow wieder über sein Lieblingsthema, die Mission
Liman, sprechen wollte, bin aber hierauf nicht eingegangen und lenkte
das Gespräch auf die Presse und anderes. Herr Sasonow hoffte, daß
„die Zeit die unerfreulichen Ereignisse der letzten Monate vergessen
machen würde". Ich brachte daraufhin die Klagen deutscher In-
dustrieller über unfreundliche Behandlung in Rußland zur Sprache,
worüber ich Euerer Exzellenz besonders zu berichten mich beehrte.
Lucius»
Anlage
Aufzeichnung des Herausgebers der „Grenzbotenu
G. Cleinow
Abschrift
Meine Unterredung mit dem russischen Minister der Auswärtigen
Angelegenheiten, Herrn Sasonow, am Mittwoch, den 8. April/26. März
1914 zu St. Petersburg.
* Siehe Anlage.
** Vgl. dazu Kap. CCLXXXIX, Nr. 15 425, S. 181, Fußnote».
313
Durch den deutschen Botschafter Herrn Grafen Pourtales münd-
lich empfohlen, wurde ich von Herrn Sasonow um 51/2 Uhr nachmittags
empfangen und blieb bei ihm in angeregtem Gespräch bis 6Vk.
Gleich in medias res gehend sagte ich, daß ich nach Petersburg
gekommen sei, um mich darüber bei den Russen selbst zu informieren,
ob sie uns wirklich verspeisen wollten und um zu erfahren, wie maß-
gebliche und verantwortliche Politiker über die deutsch-russischen Be-
ziehungen dächten, wobei ich auf die mehr oder weniger ständig vor-
handenen „incidents" und diplomatischen Reibereien gar kein Gewicht
lege. Sasonow erkundigte sich dann nach meinen persönlichen Be-
ziehungen zu Rußland; meine Angabe, daß ich mich vorwiegend für
die innerrussische Politik interessiere, und daß ich bereits von 1900 bis
1902 und von 1904 bis 1908 in Rußland gelebt und studiert habe,
unterstrich er mit einem „Aha, also gerade während der Krisen".
Auf seine Frage, ob ich über die Unterredung in der Zeitung schreiben
würde, antwortete ich: „Besonders nicht, sondern lediglich im Zu-
sammenhang mit den gesamten Eindrücken, dagegen hätte ich die
Absicht, Herrn von Jagow von dem Gespräch zu erzählen," womit
Sasonow einverstanden war.
Dann sprudelte er in seiner lebhaften Art los; er treibe prinzipiell
eine offene Politik, eine Politik der Aufrichtigkeit; einmal sei es eine
Dummheit zu lügen, wo nach 48 Stunden die Wahrheit doch ans Licht
käme, und zweitens sei ihm persönlich die Unaufrichtigkeit zuwider.
Ich flocht hier ein, Herr von Jagow habe eine entsprechende gute
Meinung von ihm und habe mir noch vor einigen Wochen auf meine
Bedenken wegen der amtlichen Politik Rußlands ausdrücklich gesagt:
„Ich habe positive Beweise für Herrn Sasonows Aufrichtigkeit und
diplomatischen Anstand." Worauf Sasonow auf seine freundschaftlichen
Beziehungen zu Herrn von Jagow in Rom hinwies und fortfuhr, wie er
sich gefreut habe, auch in Herrn von Bethmann eine gleichgesinnte
Auffassung von der Behandlung der Politik zu finden. „Nun aber
denken Sie sich meine Lage," fuhr er fort, „ich komme im vorigen
Herbst (Oktober 1913) nach Berlin, werde von Herrn von Bethmann
mit der größten Wärme und Herzlichkeit empfangen, wir verabreden
uns, alle Fragen der internationalen Politik mit vollkommener Offenheit
zu erörtern. Von Bethmann greift den Vorschlag freudig auf (Jagow
war nicht anwesend). Ich erzählte ihm von der Stimmung in Frankreich,
daß dort kein ernsthafter Mensch, an Krieg gegen Deutschland und
Revanche denke, was ihn sehr beruhigte. Dann kamen wir auf die
türkischen Angelegenheiten. Wir sprachen über alle möglichen Details;
machen aus, in der Türkei sollte keine Partei ein Sonderrecht gegenüber
den anderen erhalten, beschließen wegen der Reformen in Armenien,
sind mit einem Wort scheinbar einig und in allem offen gegen einander
gewesen. Nun reise ich nach der Krim, halte dem Kaiser Vortrag in
Livadia; er ist sehr zufrieden. Da kommt aus geheimer Quelle in
314
Konstantinopel die Meldung, Deutschland entsende nicht nur eine
Militärmission nach Konstantinopel, nein, deutsche Offiziere übernähmen
das Kommando über die Armee. Ich telegraphiere an den Botschafter
nach Konstantinopel und erhalte die Bestätigung, daß die ganze Sache
schon seit dem Mai abgemacht sei; denken Sie sich: Konstantinopel
eine preußische Garnison! und mir sagt man nichts davon. Der Kaiser
wollte zunächst nichts davon glauben. Sie wissen, wie man mich dann
angegriffen hat."
Ich: „Sieht man aber von dem persönlichen Gekränktsein ab, so
verstehe ich nicht, wie Exzellenz sich über die Sache selbst aufregen
können. Die zwei Dutzend preußischen Offiziere in Konstantinopel
können doch nicht ernstlich beunruhigen."
„64 [oder 54]!" fiel Sasonow ein; „Sie wissen, welches Interesse
wir am Bosporus haben, wie empfindlich wir an dieser Stelle sind.
Ganz Südrußland hängt davon ab, und nun setzen Sie uns eine preu-
ßische Garnison vor die Nase!"
Ich: „Ja, wenn Sie das britische Flottenkommando fürchteten,
dann würde ich das verstehen, mit einem Kahn Ist die Durchfahrt
gesperrt."
„Die türkische Flotte fürchten wir nicht; die Türken werden
niemals eine ernst zu nehmende Flotte bekommen. Die Türkei ist
fertig."
„Nun also. Dasselbe müßten Sie doch auch von der Armee
denken."
„Nein, das ist etwas anderes. Dort hat Deutschland eine Macht."
Dann sprachen wir über die inneren Verhältnisse der Türkei, wobei
Sasonow den Standpunkt vertrat, daß die Türkei fertig abgewirtschaftet
sei, und daß keine Jungtürken in der Lage sein würden, den Staat wieder
so weit aufzurichten, daß er politisch etwas aus sich darstellen könne.
„Und in diesem schwachen Gebilde ergreift Deutschland die Macht
über die Armee!"
„Da widersprechen Sie sich selbst und ich möchte fast glauben,
daß die persönlich empfundene Kränkung Euere Exzellenz viel mehr
beeinflußt als die Sache."
„Wenn die Türkei stark wäre, wäre die Sache nicht so schlimm."
Herr Sasonow fuhr dann fort: Armenien sei für Rußland höchst
wichtig. Die Türkei müsse dort Reformen einführen. Vorgänge wie
1909 (?) dürften sich angesichts der Tatsache, daß in Transkaukasien
eine Million Armenier als russische Untertanen lebten, nicht wieder-
holen. Rußland könne womöglich gezwungen werden, in Armenien
einzurücken, und einmal darin, könnte es ihm schwer fallen, den Weg
wieder heraus zu finden. Die Liman Sanders-Affäre habe hier diese
Verstimmung in allen Kreisen erzeugt.
Ich: „Das verstehe ich gar nicht."
315
Sasonow: „Dann wissen Sie nicht Bescheid in Rußland. Dann
kennen Sie die Stimmung nicht. Lassen Sie es sich von Ihrem Bot-
schafter bestätigen."
Ich: „So gibt die Presse, besonders , Russkoje Slowo', doch die
wahre Stimmung auch der Regierungskreise wieder und Sie nehmen
das Mißverständnis aus dem Herbst immer noch zum Ausgangspunkt
Ihrer Haltung gegen uns?"
Hier wich mir der Minister aus, meinte, „Russkoje Slowo"
orientiere sich zwar öfter in seinem Ministerium, aber für alles könne
er nicht einstehen. Das Blatt markiere manchmal Opposition, es
seien ihm sogar schon Artikel zurückgewiesen worden. Schließlich
aber gab er zu, daß die Liman Sanders-Sache für ihn noch nicht er-
ledigt sei, sie beschäftige die öffentliche Meinung zu sehr. Natürlich
würde es deswegen nicht zum Kriege kommen.
Dann begann Herr Sasonow vom Handelsvertrag* zu sprechen
und meinte, verschiedene Positionen müßten geändert werden. Diese
beunruhigten die Gemüter im steigenden Maße. Ich meinte, bei uns
sähe man den kommenden Dingen ziemlich gelassen entgegen, da man
die Überzeugung habe, daß die beiderseitigen realen Interessen gleich
groß seien, und daß sich daher auch ein Modus finden \vürde, die An-
gelegenheit friedlich zu regeln.
Schließlich ging das Gespräch auf innerrussische Zustände über,
auf Religion, Gräfin Ignatjew, Sozialismus. Der Minister führte mich
noch ins Vorzimmer, wo ich mich, von ihm eingeladen, noch einmal
vorzusprechen, nach einigen Worten verabschiedete.
Ziehe ich das Fazit aus der Unterhaltung, so möchte ich das
Gehörte dahin zusammenfassen:
Sasonow und mit ihm ein wichtiger Teil der Gesellschaft, vielleicht
auch der Zar, ist durch die Verschweigung der Liman Sanders-Mission
im Herbst 1913 persönlich gekränkt, die russischen Militärs und Slawo-
philen, die sich den Grund des Schweigens unserer Regierung 1913
nicht erklären können, wittern tatsächlich irgendeine militärische Ge-
fahr, die ihnen durch die „preußische Garnison in Konstantin opel"
droht. Sasonow, dessen Stellung nach Bekanntwerden der Liman
Sanders-Mission in Petersburg vorübergehend gefährdet gewesen zu
sein scheint, benutzt nun die Stimmung, um um so „kräftiger" gegen
Deutschland aufzutreten; wenn man ihn auch persönlich nicht
* Der im Jahre 1904 abgeschlossene deutsch-russische Handelsvertrag, der
in weiten russischen Kreisen als eine starke Obervorteilung empfunden wurde
und so viel zu der Feindseligkeit der russischen öffentlichen Meinung beitrug
(vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCIC, Nr. 15 858, S. 580, Fußnote"), lief zwar
noch bis 1916, doch waren schon seit 1911 in Deutschland wie in Rußland Vor-
arbeiten im Hinblick auf die spätere Erneuerung im Gange. Im Frühjahr 1914
wandte sich das Interesse der russischen öffentlichen Meinung dem Gegenstand
mit auffälliger Leidenschaftlichkeit zu.
316
wird für alle gegen Deutschland und den Dreibund gerichteten Artikel
verantwortlich machen dürfen, so tut er auch schwerlich etwas, um die
öffentliche Meinung und besonders die Stimmung in den maßgebenden
Kreisen zu beruhigen. Jedenfalls tut man Herrn Sasonow sicher kein
Unrecht, wenn man seine persönliche Haltung als den Ausgangspunkt
der Preßkampagne bezeichnet, die in Rußland gegen Deutschland ge-
führt wird. Innerpolitische Stimmungen, über die in einigen Tagen
ausführlich berichtet werden soll, dürften in derselben Richtung ge-
wirkt haben. Bei dieser Kampagne sind dann Vorkommnisse wie
Poljakow* und Berliner** sicher nicht unwillkommen.
(gez.) Cleinow
Nr. 15 532
Der Gesandte in Bukarest von Waldthaasen an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 181 Bukarest, den 16. Juni 1914
Bei der Audienz des Militärattaches Major Bronsart von Schellen-
dorff in Konstanza hat Seine Majestät der König auch das Verhältnis
zwischen Deutschland und Rußland berührt. Höchstderselbe erklärte,
Herr Sasonow*** habe ihm jetzt folgendes erzählt: er habe sich sehr
gekränkt gefühlt dadurch, daß ihm während seines Aufenthaltes in
Berlin im Herbst v. Js. die beabsichtigte Entsendung einer deutschen
Militärmission nach der Türkei nicht mitgeteilt worden sei K Seine
Majestät der Kaiser habe damals zu ihm gesagt, er halte offene Aus-
sprache über alle politischen Fragen für das Beste; damit komme man
am weitesten, und es würden Mißverständnisse vermieden. Er, Sa-
sonow, habe geantwortet, er glaube Seiner Majestät versichern zu
können, daß seine Regierung die Ansicht Seiner Majestät voll und
ganz teile 2. In Petersburg angekommen, sei er dann durch die
Nachricht überrascht worden, daß General Liman von Sanders an der
Spitze einer großen Militärmission nach Konstantinopel gehen solle.
Dies habe, besonders nach den erwähnten Worten Seiner Majestät
* Im März 1914 war der russische Kapitän Poljakow in Köln unter dem
Verdacht des Diebstahls verhaftet worden, der sich jedoch nicht bestätigte.
Eine Note der deutschen Regierung von Ende März sprach der russischen
Regierung das Bedauern über den Mißgriff der Polizei aus.
•* Bei der Affäre Berliner handelte es sich um die schon im Februar 1914
erfolgte Verhaftung der deutschen Luftschiffer Berliner, Haase und Nikolai,
die trotz der Bemühungen der Berliner Amtsstellen aufrechterhalten wurde.
•*• Sasonow hatte den Zaren bei seinen Besuche in Konstanza (14. Juni 1914)
begleitet. Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCVI1I.
317
des Kaisers, ihn und die russische Regierung sehr verstimmt und ge-
wissermaßen den Anfang zu der Verschlechterung der Beziehungen
zwischen den beiderseitigen Regierungen gebildet3.
Waldthausen
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Der alte Lügner! Ich hatte es im Frühjahr persönlich dem Zaren
gesagt* wenn der es nicht Sazonow mittheilt ist das nicht meine Sache!
2 aber niemals ausführt
3 Blödsinn!
Schlußbemerkungen des Kaisers:
1 Blagueur!
2 Lauter Flausen, Ausreden und Lügen um seine uns gegenüber verfolgte
unqualifizirbare Politik der Verläumdung und Verlogenheit zu bemänteln!
Wenn der Zar ihm nichts davon erzählt hat, hat er die Sache für nicht der
Erwähnung wichtig gehalten und für ganz natürlich!
Vgl. Nr. 15 450, Fußnote
318
Kapitel CCXCI
Rußland, die Vereinigung Serbiens und
Montenegros und die Großserbische Agitation
Januar bis Juli 1914
Nr. 15 533
Der Geschäftsträger in Belgrad von Scharf enberg an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 10 Belgrad, den 30. Januar 1914
Während in der hiesigen Öffentlichkeit die Reise des Kronprinzen
Alexander nach St. Petersburg genügend motiviert erschien mit der
Vertretung seines Vaters bei den dortigen Tauffeierlichkeiten *,
hat es allgemein überrascht, daß auch Ministerpräsident Paschitsch
sich nach Rußland begeben hat. Man führt seine Reise auf politische
Beweggründe zurück und findet diese in dem Bedürfnis des greisen
Staatsmanns, sich über die in letzter Zeit von neuem auf dem Balkan
eingetretene Ungewißheit der Lage, die auch auf Serbien schwer
lastet, mit den leitenden Kreisen an der Newa, sowie mit den dort
weilenden Vertretern der Balkanstaaten näher auszusprechen und wenn
möglich eine Klärung herbeizuführen. Die serbische Regierungspresse
hat bereits wiederholt als besonders beunruhigende Symptome be-
zeichnet: die Weigerung der Türkei, den Friedensvertrag mit Serbien,
der vor Wochen bereits so gut wie perfekt schien, definitiv zum Ab-
schluß zu bringen **; die Zusammenkünfte und Verabredungen von jung-
türkischen Komiteemitgliedern mit Delegierten der mazedo-bulgarischen
revolutionären Organisation sowie die Einsetzung ständiger Ausschüsse
in Sofia und Konstantinopel behufs gemeinsamer, auf Herstellung
eines autonomen Mazedoniens gerichteter Bandenaktion; die türkischen
Wühlereien in Albanien und endlich die Berufung des türkischen Ge-
sandten in Sofia*** nach Konstantinopel, sowie diejenige des bul-
garischen Gesandten in Konstantinopel f nach Sofia zu spezieller Be-
richterstattung. Daß angesichts dieser Situation den Serben an einem
möglichst engen Anschluß an Griechenland und Rumänien gelegen
* Es handelte sich um die Taufe des im Januar geborenen Sohnes der Prinzessin
Helene Konstantinowitsch von Rußland, Tochter König Peters I. von Serbien.
** Der Abschluß des serbisch-türkischen Friedens erfolgte erst am 14. März 1914.
*** Fethi Bey.
"f A. Toschew.
21 Die Große Politik. 38. Bd. 321
sein muß, liegt auf der Hand. Von Griechenland dürften in dieser Be-
ziehung kaum Schwierigkeiten zu erwarten sein. Das Mißliche ist
nur, daß seine militärische Leistungsfähigkeit in Serbien nicht be-
sonders hoch bewertet wird. Die serbischen Offiziere weisen in in-
timeren Gesprächen immer wieder darauf hin, wie im letzten Kriege
25 000 Bulgaren über 80 000 griechische Soldaten in Schach gehalten
hätten. Es bliebe also als Hauptfrage die Haltung Rumäniens bei
künftigen Verwickelungen. Bisher hat Rumänien trotz aller Geneigt-
heit, für die Aufrechterhaltung des Friedens auf dem Balkan zu wirken,
sich dort sorgfältig vor jeder vertragsmäßigen Bindung nach irgend-
einer Seite hin gehütet. Ob es jetzt den Serben und Griechen unter
russischer Ägide gelingen wird, Rumänien aus seiner Reserve heraus-
zulocken und zu Erklärungen zu bewegen, durch die es sich an eine
der beiden europäischen Mächtegruppen entschieden anschließen würde,
dürfte zweifelhaft sein.
Vielfach hört man hier indessen auch die Ansicht äußern, daß es
sich in Petersburg noch um eine andere Kombination handele, die für
Rußland wie für Serbien von großem Wert wäre, nämlich um die
Wiederaufrichtung des alten Balkanbundes oder mit anderen Worten,
um die Herstellung eines guten Verhältnisses zwischen Serbien und
Bulgarien. Daß eine Annäherung beider Länder für Serbien von außer-
ordentlicher Wichtigkeit wäre, ist ohne weiteres klar, da hiermit die
Hauptursache seiner jetzigen Beunruhigung beseitigt würde. Ist man
doch in Serbien über die Hinzögerung des Friedensschlusses mit der
Türkei hauptsächlich deshalb so verstimmt, weil man argwöhnt, daß
Bulgarien dahinter stecke, ebenso wie man neue Verwickelungen in der
Türkei, Albanien und Mazedonien deshalb fürchtet, weil Bulgarien die-
selben ausnützen könnte zum Nachteile Serbiens. Daß Herrn Pa-
schitsch ein Zusammengehen mit Bulgarien sehr am Herzen liegt,
beweist schon die Mühe, welche er sich sowohl während als nach
den Bukarester Friedensverhandlungen gegeben hat, um den Bulgaren
Entgegenkommen zu zeigen! Für Rußland andererseits ist diese Idee
des alten Balkanbundes außerordentlich sympathisch, weil es in ihm
zu jeder Zeit einen Sturmbock gegen die österreichisch-ungarische Mo-
narchie in Bereitschaft hat oder zu haben glaubt*. Rußland sucht
* Auch amtliche französische Kreise suchten aus austrophoben Motiven die
Idee einer Wiederherstellung des Balkanbundes zu fördern. In einem Berichte
des Botschafters in Wien von Tschirschky vom 9. Dezember 191 3 (Nr. 387)
heißt es über dahingehende Bemühungen des französischen Botschafters Dumaine:
„Dem serbischen Gesandten Herrn Jowanowitsch, mit dem Herr Dumaine in
engster Fühlung steht, und den er auch mir gegenüber neulich als ,völlig loyal'
bezeichnete, hat der französische Botschafter geraten, Serbien solle sich sobald
als möglich mit Bulgarien verständigen. Die Basis einer Verständigung würde
leicht gefunden werden können. Serbien solle Bulgarien die Bezirke von Istip
und Kotschana gegen das Versprechen zusichern, daß Bulgarien Serbien bei der
Erwerbung der serbischen Gebietsteile Österreich-Ungarns unterstütze."
322
daher auch mit allen Kräften jetzt seinen vollen Einfluß in Bulgarien
wiederzugewinnen und die Mitteilung meines englischen Kollegen,
daß der hiesige russische Gesandte im Verein mit den Panslawisten
auf den Sturz des Königs Ferdinand und seine Ersetzung durch einen
Rußland unbedingt ergebenen Fürsten hinarbeite, erscheint mir daher
nicht unglaubhaft. Solange aber die jetzige Stimmung in Bulgarien
andauert, wird es schwer halten, es für einen Bund mit Serbien zu
gewinnen. Mit kleinen Zugeständnissen Serbiens ist es nicht getan,
und großen würden sich, selbst wenn die hiesige Regierung dazu ge-
neigt wäre, die serbischen Militärkreise mit aller Energie widersetzen.
Das gilt in erster Reihe für Gebietsabtretungen, dann aber auch für
Konzessionen gegenüber den bulgarischen Kirchen und Schulen in
Mazedonien. Haben doch die Militärkreise es der Regierung schon vor
Monaten außerordentlich verdacht, daß sie nicht ohne weiteres die
Militärdiktatur in den neuen Provinzen eingeführt hat, um jeden Ver-
such einer bulgarischen Propaganda im Keime zu ersticken. Unter
diesen Umständen hält man hier die Aussichten auf eine baldige Ver-
ständigung zwischen Serbien und Bulgarien für sehr geringe.
Seh a rf enberg
Nr. 15 534
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Entzifferung
Nr. 41 Wien, den 11. Februar 1914
In einer Unterredung, die ein sicherer Gewährsmann mit dem
russischen Geschäftsträger Fürsten Kudaschew dieser Tage hatte, hat
letzterer zugegeben, daß zurzeit in Rußland eine tiefe Erregung durch
alle Schichten der oberen Gesellschaft und des Volkes geht wegen der
Gestaltung der politischen Verhältnisse im nahen Osten.
Der Grund für diese Erscheinung liege hauptsächlich darin, daß
Rußland die Versuche der Türkei, sich „unabhängig" zu machen 1#,
mit äußerstem Mißtrauen betrachten müsse, und daß das russische
Volk2 das Ergebnis des Bukarester Friedens als ein definitives niemals
werde annehmen können 3.
Die heutigen Grenzen Serbiens seien für dieses unbestreitbar nicht
zu ertragen. Es werde sich damit nicht abfinden können und schließ-
lich doch Nordalbanien mit Durazzo als Kriegshafen bekommen
müssen4.
Ebenso müßte in Mazedonien Ordnung5 geschaffen, das heißt,
* Wohl Anspielung auf die Mission Liman Sanders.
21* 323
der von Bulgaren bewohnte Teil dieses Landes an Bulgarien gegeben
werden.
von Ts chirschky
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Dann sind die jetzigen Ministeränderungen in Rußland Vorläufer kriegerischer
Möglichkeiten auf dem Balkan!?
Randbemerkungen des Kaisers:
1 Sehr gut! d[as] h[eißt] gesunder zu werden!
2 das weiß gar nichts davon
8 charmant! Ebenso nicht den Frieden von Frankfurt?
4 aha
5 von Russland??! Braucht sie selbst!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Also Rußland will einen Neuen Balkankrieg!
Nr. 15 535
Der Geschäftsträger in Belgrad von Scharf enberg an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 17 Belgrad, den 14. Februar 1914
Nach der Rückkehr des Herrn Paschitsch bringt das hiesige Re-
gierungsorgan, welches sich bisher über die Verhandlungen in Peters-
burg vollkommen ausgeschwiegen hatte, heute einen offenbar in-
spirierten Artikel unter der Überschrift „Dankesschuld". Es wird
darin zunächst der Dank ausgesprochen für die gastliche Aufnahme,
welche der serbische Kronprinz und Ministerpräsident am Newastrande
gefunden haben, sowie für die ihnen vom Zaren und der kaiserlichen
Familie bewiesene besondere Huld.
Über den Inhalt der dort geführten Verhandlungen — heißt e9 in
dem Artikel weiter — sei zwar die größte Diskretion geboten, doch
lasse sich „mit Rücksicht auf die fortgesetzten Bemühungen Rußlands
um die Erhaltung des Friedens während der ganzen Balkankrise das
eine mit voller Sicherheit sagen: Gegenstand und Ziel dieser Verhand-
lungen sei die Frage nach Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des
Friedens gewesen *. Nach dieser Richtung hin seien sowohl Zar
Nikolaus als seine Regierung vollkommen erhaben über alle Ver-
dächtigungen."
* Das war doch keineswegs der Fall. Nach dem Berichte Paschitschs über seine
Audienz bei dem Zaren vom 2. Februar 1914 (Weißbuch betreffend die Ver-
antwortlichkeit der Urheber des Krieges, S. 11 4 ff.) betonte Paschitsch zwar,
die Politik Serbiens bestehe darin, daß der Frieden auf dem Balkan erhalten
bleibe, und daß neue Verwicklungen vermieden würden, denn Serbien benötige
den Frieden, um sich zu erholen und sich von neuem zur Verteidigung der
serbischen Staatsinteressen zu rüsten. Aber im weiteren Verlauf der Audienz
321
Bei dieser Sachlage — fährt das Blatt fort — würde auch eine
Erneuerung des Balkanbundes in seiner ursprünglichen Form und
unter der Ägide Rußlands, auch wenn sie jetzt schon möglich wäre,
nur ein Ausdruck der friedlichen Tendenzen Rußlands und daher zu
Unrecht Gegenstand des Mißtrauens gewisser Mächte sein. Denn
ein solcher Balkanbund würde, ohne die Absicht, in der großen euro-
päischen Politik eine Rolle spielen zu wollen, für den Balkan selbst
eine zuverlässige Bürgschaft des Friedens und gesunder Rechtsordnung
sein, damit aber auch gleichzeitig ein Pfand für die Interessen der
europäischen Kultur und des Handels bilden. Leider sei diese Kom-
bination infolge der Erregung, die nach allen großen Kriegen einzu-
treten pflege, für jetzt .noch unmöglich. Dennoch aber werde die
zutage getretene Solidarität der Interessen Rumäniens, Serbiens, Grie-
chenlands und Montenegros sowie die unter dem Einfluß dieser Soli-
darität sich immer mehr entwickelnden Freundschaftsbande zwischen
diesen Staaten vorläufig genügen zur Erhaltung des im Bukarester
Frieden festgelegten Gleichgewichtes und zur Bekämpfung eventueller
Versuche, diesen Frieden anzutasten. Dieses Ergebnis der Petersburger
Verhandlungen sei von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Scharfen berg
Nr. 15 536
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 47 Wien, den 15. Februar 1914
Ganz geheim
Die Frage einer Union zwischen Serbien und Montenegro be-
schäftigt das hiesige auswärtige Ministerium schon seit längerer Zeit*.
nahm die Erörterung doch eine durchaus antiösterreichische und selbst kriege-
rische Wendung. Der Zar fragte Paschitsch, wieviel Soldaten Serbien jetzt
aufstellen könne, und auf die Antwort: „Wir glauben, eine halbe Million gut
bekleideter und bewaffneter Soldaten aufstellen zu können," meinte Nikolaus II.:
„Das ist genügend, das ist keine Kleinigkeit, damit kann man viel ausrichten."
Als sich dann das Gespräch dem Projekt einer Vermählung des serbischen
Kronprinzen mit einer Zarentochter zuwandte, äußerte Paschitsch, seine innersten
Gedanken enthüllend: „Wenn es uns beschieden ist, eine Tochter des Kaisers
von Rußland zur Königin zu haben, dann wird sie die Sympathie des ganzen
serbischen Volkes genießen, und sie kann, wenn Gott und die Verhältnisse es
zulassen, die Zarin des südslawischen, serbisch-kroatischen Volkes werden.
Ihr Einfluß und ihr Glanz wird die ganze Balkanhalbinsel umfassen." Noch
drastischere Äußerungen Paschitschs in gleicher Richtung berichtet Boghitsche-
witsch (Kriegsursachen, S. 65 nebst Fußnote). Zu den in der Audienz
Paschitschs beim Zaren von beiden Seiten gefallenen Äußerungen über die
Vereinigung Montenegros mit Serbien vgl. Nr. 15 537, S. 329, Fußnote*.
* Die Frage der Vereinigung zwischen Serbien und Montenegro beschäftigte
nicht bloß die österreichische Regierung seit längerer Zeit, sondern auch die
325
Gestern sprach mir der Minister davon, und für heute ließ mich Graf
Forgäch im Auftrage des Grafen Berchtold zu sich bitten, um mich
eingehend über die hiesigen bezüglichen Erwägungen zu informieren.
Bereits am 10. November ist an Herrn von Merey ein geheimer
Erlaß ergangen, den mir Graf Forgäch heute vorlas, und der im
großen und ganzen nachstehendes enthielt.
Im Eingange wird des näheren ausgeführt, aus welchen Gründen
die Wahrscheinlichkeit bestehe, daß über kurz oder lang mit dem Zu-
sammenschlüsse Serbiens und Montenegros gerechnet werden müsse.
Angesichts dieser Sachlage müsse man sich darüber klar werden,
welchen Standpunkt die Monarchie diesem Ereignisse gegenüber ein-
zunehmen haben werde. Als grundlegenden Gesichtspunkt stellt der
Erlaß die These auf, daß die Frage eines Vorstoßes Serbiens an das
Meer im Wege der Verschmelzung mit Montenegro von der Monarchie
als eine Frage der Verschiebung des Gleichgewichts im Adriatischen
Meere zu betrachten sei, die mithin im Einvernehmen mit
Italien zu behandeln und zu lösen sein werde. Man werde demnach
in Wien einen Gebietszuwachs für die Monarchie als Kompensation
nicht beanspruchen, um jede Schwierigkeit mit Italien zu eliminieren.
Eine mögliche Lösung denke man sich in der Weise, daß die jetzige
Küste Montenegros zu Albanien zu schlagen, alles übrige montene-
grinische Land aber Serbien zu überlassen sein würde. Albanien werde
damit zwar nicht viel, aber dafür fast rein albanische Gegenden — in
der Hauptsache die beiden Küstenplätze Dulcigno und Antivari — er-
halten. Serbien als slawischem Vorposten Rußlands Zutritt zum Meere
zu lassen, müsse nach wie vor verhindert werden.
Der Erlaß stellt es der Erfahrung und dem bewährten Takte des
Herrn von Merey anheim, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form
er es für angezeigt erachten werde, auf der Basis dieses Gedanken-
ganges die Frage dem Marquis di San Giuliano gegenüber anzu-
schneiden. Ganz geheim und nur zu des Botschafters persönlicher Orien-
tierung wird schließlich hinzugefügt, er solle es vermeiden, bei seinen
Besprechungen die Frage des Lovcen zu berühren. Denn in betreff
russische. Schon am 26. Dezember 1912 hatte Sasonow zu dem serbischen
Gesandten Popowitsch gesagt: „Er hege nach den großen Erfolgen [Serbiens]
Vertrauen zu unserer Kraft und glaube, daß wir Österreich-Ungarn erschüttern
werden. Demgemäß sollten wir uns mit dem begnügen, was wir bekommen
werden, und dies als eine Etappe betrachten; denn die Zukunft sei unser. Die
Hauptsache sei, sich mit Montenegro zu vereinigen." Telegramm Popowitschs
vom 27. Dezember 1912 (Weißbuch betreffend die Verantwortlichkeit der
Urheber des Krieges, S. 109). Dabei wußte man natürlich in Rußland ganz
genau, daß Österreich-Ungarn in eine solche Vereinigung unter keinen Um-
ständen willigen werde. In der Audienz,, die Kaiser Nikolaus am 4. Februar
dem Prinzen Gottfried Hohenlohe erteilte (vgl. dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXIX,
Nr. 12 791), gestand er ganz offen zu, „natürlich könne Österreich-Ungarn die
Vereinigung dieser beiden Staaten niemals zulassen".
326
dieses heiklen Punktes würde die Monarchie nicht in der Lage sein,
der italienischen Regierung diejenigen Zusicherungen zu geben, die
voraussichtlich von Rom aus verlangt werden würden. In betreff des
Lovcen bestehe hier der Grundsatz, daß diese strategisch äußerst
wichtige Stellung keinesfalls in serbischen Besitz übergehen dürfe.
Mir gegenüber bemerkte Graf Forgach hierzu noch, Österreich-
Ungarn wolle selbst den Lovcen nicht verlangen. Vielleicht könnte er
noch Albanien zugesprochen werden, wie man denn auch im Laufe
der bezüglichen Verhandlungen noch den Versuch werde machen
können, von Serbien als Kompensation für den beträchtlichen Ge-
bietszuwachs im Sandschak und Montenegro einige rein albanesische
Bezirke, die im Bukarester Frieden Serbien zugesprochen worden
seien — wie Dibra und Diakowa — , wieder an Albanien anzugliedern 1.
Herr von Merey hat nun bis heute diese Angelegenheit beim
Marquis di San Giuliano noch nicht angeregt. Angesichts der sich in
der allerletzten Zeit stärker bemerkbar machenden Anzeichen für die
wachsende Wahrscheinlichkeit einer serbisch-montenegrinischen Union
ist Herrn von Merey dieser Tage telegraphisch anheimgestellt worden,
nunmehr nicht länger damit zu zögern. Bestärkt ist man worden in
diesem Entschlüsse durch die Tatsache, daß auch der Herzog von
Avarna hier mitgeteilt hat, daß man in Rom gleichfalls beunruhigende
Nachrichten über eine serbisch-montenegrinische Union erhalten habe*.
Graf Berchtold ist dem italienischen Botschafter gegenüber nicht auf
die Details dieser Frage eingegangen — die in Rom behandelt werden
soll — , hat aber dem Herzog von Avarna gesagt, daß man sie als
eine adriatische nur im Einvernehmen mit Rom zu lösen gedenke.
Der italienische Botschafter hat dem Minister für diese Mitteilung warm
gedankt, die in Rom äußerst beruhigend wirken werde.
von Tschirschky
* Auch bei Sasonow brachte der neuernannte Österreich-ungarische Bot-
schafter in Petersburg Graf Szäparyi kurz darauf die Frage der Union Serbiens
und Montenegros warnend zur Sprache. In Sasonows geheimem Briefe an den
Gesandten in Belgrad von Hartwig vom 5. März (Diplomatische Aktenstücke
zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre, ed. B. v. Siebert,
S. 626 f.) heißt es darüber: „Mit der Bemerkung, daß er von seiner Re-
gierung zu diesem Meinungsaustausche nicht beauftragt worden sei, erwähnte
Szäparyi, daß die in Montenegro und Serbien bemerkbare Neigung zu einer
beiderseitigen Annäherung oder Vereinigung überall die größte Beunruhigung
hervorrufe. Wenn eine solche Vereinigung stattfindet, so würde Österreich
nicht stiller Zuschauer bleiben können. Die Interessen der Monarchie im Adria-
tischen Meere lassen keine Verschiebung des Gleichgewichtes zu. Das Adria-
tische Meer bedeutet für Österreich-Ungarn dasselbe, was das Schwarze Meer für
Rußland." Die Warnung Graf Szäpäryis veranlaßte Sasonow, der in seinem
Briefe an Hartwig seine Sympathie für den Unionsgedanken deutlich hervor-
treten läßt, in Belgrad zu äußerst vorsichtiger Behandlung der für Serbien so
wichtigen Frage zu raten.
327
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Reichlich spät erkannt l Ich habe das vorigen Sommer schon gerathenü
Schlußbemerkung des Kaisers:
Der arme Wied kommt in einen netten Hex[en]kessel
Nr. 15 537
Der Gesandte in Cetinje von Eckardt an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 21 Cetinje, den 25. Februar 1914
Auf Grund meiner zuverlässigen Beziehungen zum Könige bin ich
in der Lage zu behaupten, daß Seine Majestät jetzt nicht im mindesten
geneigt ist, es zu einer Fusion zwischen Serbien und Montenegro
kommen zu lassen. Wenn der König in seiner Thronrede* von einem
Zusammengehen beider Länder sprach, so tat er dies, wie er mir
schon vorher sagte, um der Opposition, die dergleichen verlangen will,
zuvorzukommen. Die Skupschtina in ihrer überwiegenden Mehrheit
will von einer Fusion nichts wissen. Der serbische Gesandte, Herr
Gawrilowitsch, unterläßt jede Agitation und beschränkt sich darauf, die
Entwickelung der Dinge aufmerksam zu verfolgen. Der König, selbst
wenn er aus St. Petersburg eine Erhöhung seiner Apanage erhalten
sollte**, wird jetzt, nachdem er über die Skutarikrisis *** glücklich
hinweggekommen ist und seine Anleihe f erhält, nicht im entferntesten
* Es war in der am 12. Februar bei der Eröffnung der Skupschtina verlesenen
Thronrede von dem „dauernden Zusammenarbeiten mit unsern serbischen
Brüdern" die Rede.
** Tatsächlich war dem Könige von Montenegro für den Fall seiner engen An-
lehnung an Rußland nicht nur eine Erhöhung seiner Apanage, sondern auch eine
weitgehende militärische Unterstützung mit Geld und Militärinstrukteuren zu-
gesagt worden. In dem Bericht des russischen Geschäftsträgers in Cetinje
Obnorski vom 23. Februar (M. Boghitschewitsch, Kriegsursachen, S. 122 ff.)
heißt es darüber: „In dem in diesen Tagen eingegangenen neuen Erlaß Euerer
Exzellenz vom 23. Januar Nr. 61 wurden mir die von unserem Kriegsministerium
ausgearbeiteten Berechnungen über die Ausgaben für die militärische Unter-
stützung Montenegros mitgeteilt, welche mir etwas übertrieben erscheinen. Nach
dem Anschlag unserer Militärbehörde sollen diese Ausgaben jährlich vier Millio-
nen Rubel für die Unterhaltung und Versorgung des Heeres und 500000 Rubel
für die Instrukteure betragen. Außerdem sind fünfzehn Millionen Rubel für die
Versorgung der montenegrinischen Truppen mit Artillerie und Kriegsmaterial
vorgesehen. Diese Ziffern sind so bedeutend, daß das Kriegsministerium es für
nötig hielt, darauf hinzuweisen, daß es für Rußland äußerst schwierig sei,
Montenegro überhaupt militärische Unterstützung auf neuen Grundlagen zu
gewähren."
*** Vgl. dazu Bd. XXXIV, Kap. CCLXXI.
f Über die Montenegro nach langen, auf die Londoner Konferenz zurückgehen-
den Verhandlungen bewilligte Anleihe in Höhe von 40 Millionen Franken vgl.
328
daran denken, auf seinen Thron zu verzichten. In den letzten Tagen
sprach seine Majestät während mehrerer Stunden mit mir gerade über
hierher gehörende intime Angelegenheiten und bewies deutlich, daß
ihm die Sicherung der Zukunft seiner Dynastie am Herzen liegt. Spe-
ziellen Anlaß zu diesen Unterhaltungen gab das Verlangen des Prinzen
Mirko und seiner Gemahlin, der Prinzeß Natalie, geschieden zu werden.
Die königliche Familie steht auf seiten der Prinzeß, wünscht aber
eine Lösung, die eine Erziehung des jungen Prinzen in Montenegro
ermöglicht.
Inwieweit die russische Regierung auf eine Fusion hinarbeitet,
kann ich nicht beurteilen*.
Meines unmaßgeblichen Dafürhaltens hat es die österreichische Re-
gierung noch in der Hand, etwaigen diesbezüglichen russischen Intrigen
wirksam entgegenzutreten. Man muß in Wien nur den Mut haben, sich
die in der Balkankrisis und hier in der Skutarifrage gemachten Fehler
und Fiaskos einzugestehen1. Die Bewilligung einer vernünftigen Grenze
zwischen Montenegro und Albanien würde, so will es mir scheinen, dem
Prestige der Monarchie keinen Abbruch tun 2. F k d t
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 Viel verlangt!
2 richtig
Nr. 15 538
Der Gesandte in Sofia Michahelles an den Reichskanzler
von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 30 Sofia, den 10. März 1914
Die gestrige Ausgabe des hiesigen Blattes „Dnewnik" brachte den
in Übersetzung beigefügten** Abdruck eines Briefes, der aus Belgrad
Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, III,
422, 433, 436.
* Daß die russische Regierung einschließlich des Zaren selbst die Fusion
wünschte und sie zu fördern bereit war, ergibt sich aus den Äußerungen, die der
Zar am 2. Februar zu dem serbischen Ministerpräsidenten Paschitsch tat. Vgl.
den Bericht Paschitschs vom 2. Februar (Weißbuch betreffend die Verantwort-
lichkeit der Urheber des Krieges, S. 116 f.). Danach sagte der Zar, er wisse, daß
das ganze montenegrinische Volk die Vereinigung mit Serbien wünsche. Vgl.
auch Nr. 15 535, Fußnote*. Auch aus den Äußerungen Sasonows zu Graf
Szäpäry von Anfang März (vgl. Nr. 15 536, S. 327, Fußnote*) geht immerhin her-
vor, daß der russische Außenminister, wenngleich er in Belgrad vor einer Über-
stürzung der Frage warnte, auf ihre Förderung doch nicht verzichten wollte.
Zu einem nahen Bekannten A. Ballins hat sich der frühere russische Minister-
präsident Witte Anfang Juli 1914 in Bad Salzschlirf geäußert: „Die bevor-
stehende Union von Serbien und Montenegro ist ausschließlich das Werk von
Hartwigs in Belgrad." Ballin an Unterstaatssekretär Wahnschaffe, 11. Juli 1914.
** Siehe Anlage.
329
an den russischen Schriftsteller und Journalisten Toporow gerichtet
ist, der aus Sofia dem „Retsch" und anderen russischen Zeitungen Be-
richte liefert. Daß die russische Politik auf dem Balkan mit großen
Geldmitteln arbeitet, um das verlorene Terrain zurückzugewinnen, ist
schon mehrfach berichtet worden, und diesem Brief zufolge hätte der
neue russische Gesandte in Sofia, Herr Sawinsky, direkt den Auftrag
erhalten, entweder den russischen Einfluß in Bulgarien wieder her-
zustellen oder den König zu stürzen. Desgleichen gehen angeblich die
russischen Wühlereien in Montenegro weiter, um eine Vereinigung mit
Serbien vorzubereiten und auf diese Weise den Serben den von Öster-
reich verlegten freien Ausweg an das Adriatische Meer zu verschaffen.
G. Michahelles
Anlage
Übersetzung aus der Zeitung ,/)newnik"
vom 24. Februar/ 9. März 1914
Die Rolle der russischen Diplomatie auf dem Balkan
Wir sind im Besitze eines Briefes, der unter dem 18. Februar von
Belgrad aus an den Korrespondenten russischer Blätter in Sofia, Herrn
Wladimir Wiktorow-Toporow gerichtet ist, und dessen Inhalt wir nach-
stehend in Übersetzung wiedergeben, während wir den Brief selbst
morgen in Faksimile zum Abdruck bringen werden.
Belgrad, 18. Februar 1914
Lieber Wolodja!
Den Brief und die Postkarte aus Philippopel habe ich erhalten.
Den Auftrag habe ich denselben Tag ausgeführt.
Gentschitsch * ist zufrieden geblieben. Er hat mir streng vertrau-
lich mitgeteilt, daß Alexander Alexandrowitsch, der neue russische Ge-
sandte in Sofia, der zwei Tage hier weilte, Herrn Paschitsch übermittelt
habe, daß ihm — Sawinsky — von Sasonow selbst der Auftrag erteilt
worden sei, sich zu bemühen, ohne in den Mitteln hierzu wählerisch zu
sein, entweder Bulgarien das Halsjoch aufzuzwingen oder dem Fer-
dinand die Krone vom Haupt zu nehmen und dadurch den! Einfluß der
verdammten Nemtzi (Österreicher) aus diesem mit uns durch Bande
des Slawentums verbundenen Südlande zu verdrängen. Außerdem teilte
Gentschitsch noch mit, daß am 5. Februar die serbisch-rumänische
Militärkonvention in Bukarest unterzeichnet worden sei.
* Früherer serbischer Minister des Innern (1900), später mehrfach in Ver-
schwörungen verwickelt.
330
Die Angelegenheiten in Montenegro nehmen ihren Lauf. Die
Stellung des Königs wird jeden Tag schlechter. Die Erfolge unserer
Agitation hinsichtlich der Angliederung des kleinen Königreichs an
Serbien sind einfach unglaubliche, ohne Rücksicht auf die Entgegen-
wirkung von Seiten der österreichischen Geheimagenten.
Meiner tiefen Überzeugung nach wird König Nikita bald entthront
und die Annexion eine vollendete Tatsache werden.
A propos. Gestern wurden auf Befehl aus St. Petersburg aus
der Kasse der russischen Gesandtschaft in Belgrad zur Verfügung des
Herrn Sawinsky 145 000 francs überwiesen, die für Agitationszwecke
in Bulgarien erforderlich sind.
Überdies teilt man aus Konstantinopel mit, daß am 7. Februar
der russische Vizekonsul in Sofia Djakelly dort gewesen ist, dem
aus der Botschaftskasse weitere 120 000 francs gleichfalls zu Agi-
tationszwecken übergeben worden seien!
Das verstehe ich nicht mehr. Gipfelt denn die Politik der rus-
sischen Regierung in Bulgarien hauptsächlich in dem Ausgeben be-
trächtlicher Geldsummen? Das ist einfach ein Skandal!
Morgen fahre ich nach Odessa, von der Redaktion telegraphisch
berufen. Schreibe mir dorthin an die Redaktion des Journals für Luft-
schiffahrt, Polizeiskaja Nr. 18.
Festen Händedruck
(gez.) Kosja.
Anmerkung der Redaktion: Herr Wiktorow-Toporow, als
guter und aufrichtiger Freund Bulgariens bekannt, an den der obige
Brief gerichtet ist, kann durch den Inhalt des Briefes nicht in Mit-
leidenschaft gezogen werden; im Gegenteil, er spricht zu seinen Gun-
sten, da auch sein Freund aus Belgrad über das Vorgehen der rus-
sischen Diplomatie in den Balkanländern entrüstet ist. — Durch die
Bekanntgabe des obigen Briefes verfolgen wir weder eine Tendenz, noch
wollen wir dieser oder jener politischen Richtung einen Dienst erweisen.
Das Schriftstück spricht für sich selbst und ist für die russische Balkan-
politik charakteristisch.
Nr. 15 539
Der Gesandte in Belgrad Freiherr von Griesinger an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 29 Belgrad, den 11. März 1914
Seitdem in der montenegrinischen Volksvertretung der Wunsch
nach einer engeren Vereinigung mit Serbien, vorläufig durch Her-
331
Stellung gemeinsamer Heeres- und Zollverwaltung sowie diplomatischer
Vertretung, laut geworden ist, beschäftigt die Frage einer Vereinigung
beider Länder auch die Öffentlichkeit in Serbien in immer steigendem
Maße. Neu ist diese Idee ja nicht. In der Geschichte der südslawischen
Einheitsbestrebungen ist sie wiederholt aufgetaucht, und sogar König
Nikita selbst hat in jugendlichem Überschwang 1866 dem Fürsten
Michael Obrenowitsch von Serbien gegenüber sich zum Verzicht auf
seinen Thron bereit erklärt, wenn es diesem gelänge, die unter tür-
kischer Herrschaft befindlichen Slawen zu befreien und mit Serbien
zu vereinigen. Heute will er von diesen Jugendträumen natürlich nichts
mehr wissen. Inzwischen aber ist allmählich die Vereinigungsidee von
den dynastischen Höhen in die Niederungen des Volkes gedrungen,
und die Ereignisse der letzten zwei Jahre haben ersichtlich dazu bei-
getragen, ihr in diesen Kreisen immer mehr Anhänger zu gewinnen.
Das wichtigste Motiv dürfte hier die Rücksicht auf die materiellen
Verhältnisse sein. Ein guter Teil der montenegrinischen Volksvertreter
ist zu der Einsicht gelangt, daß Montenegro aus eigenen Kräften
nimmermehr die Mittel wird aufbringen können 1, um das noch gänzlich
patriarchalische Staatswesen zu einigermaßen modernen Zuständen
hinüberzuleiten. Als Teil eines Großserbiens hofft man diese Moder-
nisierung viel billiger und wirksamer zu erreichen.
Dazu tritt das Verhältnis des Volkes zur Dynastie Petrowitsch,
die, wie mir mein österreichischer Kollege* nach seinen persönlichen
Beobachtungen in Montenegro mitteilt, keineswegs populär ist. Zwar
der greise Nikita, der die Tradition verkörpere, werde noch respektiert,
und es sei deshalb nicht wahrscheinlich, daß, solange er die Zügel
der Regierung führe, eine Staatskrise ausbrechen und über ihn hinweg
die Vereinigung mit Serbien sich vollziehen werde. Aber seinen Söhnen
werde weder Achtung noch Liebe entgegengebracht. Danilo gelte für
verblödet, Mirko für zügellos und moralisch so verkommen, daß seine
Frau, eine nahe Verwandte der Obrenowitsch, sich zur Scheidung von
ihm genötigt sehe. Der dritte Sohn sei ein unreifer Junge und im
Volk fast unbekannt. Das Volk werde daher nach dem Tode Nikitas
sicher trachten, sich Serbien anzuschließen. — Auf meine Frage, wie
sich wohl die Nachbarmonarchie zu einer solchen Eventualität stellen
würde, meinte Freiherr von Giesl, daß, nachdem Österreich-Ungarn
als Prinzip aufgestellt habe, daß Serbien territorial nicht an die Adria
dürfe2, es konsequenterweise dies auch nicht auf dem Umwege über
Montenegro gestatten könne 3 **. Er sehe daher, wenn unerwarteter-
* E. Otto.
** Dieselbe Auffassung vertrat mit aller Energie auch General von Conrad in
einem Schreiben an Graf Berchtold vom 11. März (Feldmarschall Conrad, Aus
meiner Dienstzeit, III, 580). Es heißt darin: „Sollte die Fusion Montenegros
mit Serbien erfolgen, so erscheinen dadurch wesentliche Interessen der Mon-
archie, und zwar vor allem auch militärische, tangiert, und wäre das stets ver-
332
weise jetzt schon eine Union versucht würde, eine Intervention Österreich-
Ungarns voraus. Was aber geschehen würde, wenn die Krise erst in einer
entfernteren Zukunft ausbrechen sollte, darüber scheint er sich keine ab-
schließende Meinung gebildet zu haben. Immerhin glaube ich aus
der Haltung der österreichisch-ungarischen Presse, welche sich mehr-
fach mit dieser Frage beschäftigt hat, entnehmen zu dürfen, daß man
bereits gegenwärtig in der Monarchie eifrig bemüht ist, diesen An-
schluß, wenn irgend möglich, zu verhindern4.
Mein italienischer Kollege*, der ebenfalls längere Zeit in Cetinje
tätig war, hält es fast für ein Axiom, daß, sobald König Nikita die
Augen schließe, die Vereinigung beider Länder erfolgen werde5. Vor-
her aber hält auch er sie für nicht wahrscheinlich. Die italienische
Regierung würde nach seiner Ansicht einer Union keine besonderen
Schwierigkeiten in den Weg legen6.
Eigentümlich ist die Haltung der offiziösen Kreise in Serbien.
Sie legen sich in dieser Frage bisher die größte Reserve auf. Während
die private Presse das Thema mehrfach besprochen und ihre freudige
Zustimmung zu den in der montenegrinischen Skupschtina laut geworde-
nen Anschlußtendenzen zu erkennen gegeben hat, schweigen sich die
Regierungsorgane völlig darüber aus. Nur indirekt läßt sich ein Schluß
auf ihre Ansicht ziehen, insofern als sie Stimmen gewisser auswärtiger
Blätter wiedergeben, die sich scharf gegen eine Annäherung Mon-
tenegros an Österreich-Ungarn aussprechen. Auch die Zulassung der
gerade in diesen Tagen erfolgten Gründung eines montenegrinischen
Omladina-Vereins in Belgrad, der ausgesprochen serbisch-montene-
grinische Vereinigungstendenzen verfolgt, erscheint mir symptoma-
tisch**. HerrPaschitsch selbst, mit dem ich Gelegenheit hatte, über das
tretene Prinzip durchbrochen, Serbien nicht an die Adria gelangen zu lassen. —
An der Monarchie wäre es dann, den Küstenstreifen von Spizza bis zum Anschluß
an Albanien für sich in Besitz zu nehmen. Dadurch wäre auch die so sehr
erwünschte direkte Verbindung mit letzterem Staate geschaffen." Am 12. März
hatte Conrad darauf eine Unterredung mit Graf Berchtold, in der er wiederholte:
„Wir dürfen Serbien nicht ans Meer gelangen lassen." Graf Berchtold glaubte
indessen nach Conrads Angabe (a. a. O., III, 616) nicht, daß die Fusionierung
Serbiens mit Montenegro sich in einem spontanen politischen Akt vollziehen
werde, sondern allmählich, so daß es nicht möglich sein würde, einzugreifen.
Doch hoffte der österreichische Minister noch, mit Italien zu einem Einverständnis
darüber kommen zu können, daß das montenegrinische Küstenland bei einer
Fusion Serbiens mit Montenegro Albanien zugeteilt werde.
* Squitti.
** Von einer starken großserbischen Propaganda in Montenegro weiß auch der
österreichische Militärattache in Cetinje Hauptmann Hubka am 18. März zu
berichten: „Gleichzeitig wird die großserbische Propaganda mit reichen, eben-
falls aus Rußland stammenden Mitteln fortgesetzt. Sie erstreckt sich in erster
Linie auf die Intelligenz im Lande, auf die Popen, Lehrer, Beamten und der-
gleichen, aber auch auf Kleinbauern und Gewerbetreibende, indem sie ihnen
beweist, daß Montenegro als selbständiger Staat wirtschaftlich nicht bestehen
könne, daß dem Ruin aller Steuerträger einzig und allein durch die Union mit
333
Verhältnis zwischen beiden Ländern zu sprechen, betont seine Friedens-
liebe und leugnet alle Eroberungs- oder Vereinigungstendenzen rund-
weg ab*. Doch gibt er zu, daß die Stellung der Dynastie Petrowitsch-
Serbien vorgebeugt werden könne." Feldmarschall Conrad, Aus meiner Dienst-
zeit, III, 581.
* Die Ableugnung geschah wider besseres Wissen; hatte Paschitsch sich doch
in seiner Audienz bei dem Zaren am 2. Februar (vgl. auch Nr. 15 537, S. 329, Fuß-
note *) in aller Ausführlichkeit über die Vereinigungstendenzen ausgelassen.
In dem Berichte Paschitschs über seine Audienz (Weißbuch betreffend die Ver-
antwortlichkeit der Urheber des Krieges, S. 116 f.) heißt es darüber: „Hierauf
ging das Gespräch über auf Montenegro, Bulgarien und Österreich. — Über
Montenegro sagte er [der Zar] mir, er wisse, daß dort das ganze Volk auf unserer
Seite stehe und die Vereinigung mit uns wünsche. Ich erzählte ihm, was zur
Zeit des Krieges und später getan wurde, und was der montenegrinische Ge-
sandte in Belgrad Miuschkowitsch darüber spricht, und daß Miuschko witsch
darüber mit dem König sprechen wird, und daß er ihm raten wird, daß er selbst,
solange es noch Zeit ist, die Frage der Personalunion mit Serbien anregen möge,
da nach seinem Tode (nämlich des Königs Nikolaus) die Sache schwierig und
für die ganze Dynastie gefährlich werden könnte. — Der Zar kritisierte sehr
heftig die Haltung Montenegros und sagte, daß Montenegro nicht aufrichtig
handle, wie es auch jetzt im Einverständnisse mit Österreich sei, und wie er
zufällig erst gestern von seinem Minister gehört habe, daß Montenegro irgend-
welche Intrigen gegen Serbien und dessen Dynastie im Sinne habe, und daß
man daher achtgeben müsse, daß es nicht etwas Schlimmes anrichte. Auch er
findet, daß die Frage der Vereinigung Serbiens mit Montenegro eine Frage der
Zeit sei, und daß sie mit möglichst geringer Erschütterung und Lärm gelöst
werden müsse. Ich sagte ihm, auch wir seien für die Union, allein wir hätten
Miuschkowitsch erklärt, wir könnten diese Frage nicht aufwerfen, denn wir
seien die Stärkeren, und da könnte man sagen, daß wir Miuschkowitsch ver-
gewaltigt hätten; wir warten daher, bis sie es vorschlagen, dann werden wir
es annehmen und so entscheiden, daß die Existenz der montenegrinischen
Dynastie gesichert wird/' — Tatsächlich entschloß sich König Nikita bald
darauf, wie es scheint, auf russischen Druck, in der Richtung einer Vereinigung
Montenegros mit Serbien, wenn auch unter Erhaltung seiner Dynastie, initiativ
vorzugehen. Vgl. das Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Cetinje
Obnorski vom 26. März (Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der
Ententepolitik der Vorkriegsjahre, ed. B. von Siebert, S. 624) : „König
Nikolaus hat in diesen Tagen nach langem Zögern den Befehl erteilt,
sein schon vor einiger Zeit nach Belgrad gesandtes eigenhändiges Schreiben
König Peter zu übergeben. In diesem Schreiben wird Serbien eingeladen, un-
verzüglich mit Montenegro eine Abmachung über die Vereinigung beider Nationen
auf militärischem, diplomatischem und finanziellem Gebiete zu treffen unter ,dem
Vorbehalte der Unabhängigkeit und Eigenart beider Staaten und ihrer Dynastien'.
Am Schlüsse des Schreibens hebt König Nikolaus hervor, daß eine derartige
Vereinbarung ,für das noch nicht befreite Serbentum sehr nützlich sein werde*
und im Sinne des ewigen Beschützers der Slawen — Rußlands — sei." Vgl. auch
das Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an Sasonow vom 30. März,
das die Angaben Obnorskis bestätigt, v. Siebert, a. a. O., S. 626. Der weitere
Verlauf, den die Angelegenheit nahm, ergibt sich aus dem streng vertraulichen
Bericht von Hartwigs vom 19. Mai, v. Siebert, a. a. O., S. 629 ff . In Öster-
reich-Ungarn war man von dem Fortschreiten des Projekts ziemlich genau unter-
richtet; vgl. den Bericht des österreichischen Militärattaches in Cetinje Haupt-
334
Njegosch eine schwierige sei. Das Volk sei unzufrieden, weil es sich
zur Stagnation verurteilt sehe, während der Bruderstaat, dessen Gren-
zen es jetzt unmittelbar berühre, rüstig fortschreite. Kein Wunder
daher, daß die Bevölkerung Montenegros sehnsüchtig über die Grenze
schaue, und naturgemäß werde dieser Drang auch auf Serbien nicht
ohne Einfluß bleiben können. Mit einem Wort, der serbische Mi-
nisterpräsident, dessen Stellung in dieser Frage eine besonders heikle
ist, weil sein persönliches Verhältnis zu dem Könige Montenegros ein
bekannt schlechtes ist, möchte die Pose eines Mannes annehmen, der
ruhig abwartet, daß ihm die reife Frucht in den Schoß fällt, der aber
beileibe nicht das geringste getan haben will, um ihr Abfallen irgend-
wie zu beschleunigen.
v. Griesinger
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 Ebenso wie in Albanien!
2 Blödsinn
3 unglaublich! ist nicht zu hindern!
4 ist gar nicht möglich
5 ja
6 ich auch nicht
Schlußbemerkung des Kaisers:
Die Vereinigung ist absolut nicht zu verhindern; und wenn Wien das ver-
suchen sollte, so macht es eine große Dummheit und beschwört die Gefahr
eines Krieges herauf mit den Slawen, der uns ganz kalt lassen würde
Nr. 15 540
Der Gesandte in Athen Graf von Quadt, z. Z. in Korfu,
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 2 Korfu, den 2. April 1914
Streng vertraulich
Von hoher Seite * wird mir mitgeteilt, König von Montenegro stehe
mit Serbien in Unterhandlung, um sein Land dorthin zu verkaufen**.
Quadt
mann Hubka vom 20. Mai. Feldmarschall Conrad, Aus meiner Dienstzeit,
III, 664 f.
* Gemeint dürfte Kaiser Wilhelm IL sein, der seit dem 29. März in Korfu
weilte. Vgl. das folgende Schriftstück.
** Das Telegramm Graf Quadts wurde noch am 2. April den Botschaftern in
Wien (Nr. 48) und Rom (Nr. 48) zu „streng vertraulicher Verwertung" mit-
geteilt.
335
Nr. 15 541
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Botschafter in Wien von Tschirschky*
Konzept von der Hand des Unterstaatssekretärs Zimmermann
Nr. 446 Berlin, den 6. April 1914
Zur streng vertraulichen Information.
Seine Majestät der Kaiser und König hat gestern folgendes Tele-
gramm** an mich gerichtet:
„Von eingeweihter authentischer Quelle ist mir hzute streng
vertraulich folgendes mitgeteilt worden zur Weitergabe an
„meine Regierung", da man der Ansicht ist, daß gemeldeter Vor-
gang ihr nicht bekannt ist und sie gewarnt werde, recht-
zeitig Entschlüsse zu fassen, ohne überrascht zu werden. Letz-
teres sei beabsichtigt, und daher werde , hinter den Kulissen' ge-
arbeitet, um Deutschland vor eine unangenehme Tatsache zu stellen.
Es handelt sich um folgendes: Rußland weiß genau, daß Österreich
eine Fusion zwischen Serbien und Montenegro nicht dulden zu kön-
nen erklärt und sie hindern werde, damit nicht durch Serbiens Er-
reichen der Meeresküste Rußland in die Lage kommen könne, einen
Hafen an der Adria zu erhalten. Da nun durch Österreichs Haltung
der politische* Weg zu einer Fusion ungangbar geworden ist, scheint
man auf eine andere Lösung verfallen zu sein. Vermutlich von Herrn
von Hartwig stammend, wird jetzt der Plan ventiliert, daß der König
Nikita sein Land an Serbien heimlich verkaufen soll, Rußland
würde eventuell die Summe vorschießen, und damit auch ein Anrecht
auf eine Kompensation an der Küste erhalten. Das soll alles heim-
lich gemacht werden, damit Österreich-Italien nicht gleich etwas
* Das gleiche Telegramm ging unter Nr. 382 nach Rom.
** Das nicht ganz sicher entzifferte Telegramm Kaiser Wilhelms, datiert unter
Nr. 4 vom 4. April vom Achilleion auf Korfu ist nach dem bei den Akten be-
findlichen eigenhändigen Konzept des Kaisers korrigiert worden. Auf das
Telegramm antwortete der Reichskanzler am 5. April (Nr. 13): „Euerer Majestät
danke ich ehrerbietigst für die telegraphische Mitteilung der angeblichen monte-
negrinischen Verkaufspläne. Mit Euerer Majestät halte ich die Sache einstweilen
für etwas phantastisch, habe aber Euerer Majestät Gesandten in Cetinje streng
vertraulich informiert und zur Meldung aufgefordert." Siehe den vollen
Text des Telegramms in Bd. XXXVI, Kap. CCLXXXI, Nr. 14 333. Die vom
Reichskanzler angezogene Weisung an den Gesandten von Eckardt vom 5. lautete:
„Streng vertraulich verlautet, daß König von Montenegro mit Serbien ver-
handele, um sein Land dorthin zu verkaufen. Rußland solle eventuell die Summe
vorschießen. Bitte Sachverhalt tunlichst aufklären. Drahtbericht/' Darauf ant-
wortete Eckardt noch am 5. (Nr. 10): „Ich muß die Nachricht für eine jener
böswilligen Erfindungen von Intriganten erklären, die den König kompro-
mittieren wollen."
336
davon erfahren. Kommt es später heraus und Österreich wollte dann
dagegen Front machen und die Serben zur Rechenschaft ziehen, so
würde Rußland umgehend Serbien beispringen, und der Weltkrieg sei
da. Dafür rüsteten die Russen jetzt so stark. Sie hätten in den letzten
vier Wochen in Ungarn 30 000 Pferde aufgekauft — M. Fürstenberg*
hat mir am Abreisetage dieselbe Zahl gemeldet — und bereitete[n] ganz
im stillen alles auf diesen Coup vor; dafür die Einladung der Rumänen**;
dafür die Agitation in Rumänien, Serbien und Bulgarien. Ich gebe
Nachricht wieder, wie sie mir übermittelt wurde. — Mir scheint die
Sache etwas »orientalisch* und , merkwürdig', aber ich glaube wohl, daß
der edle Nikita für dergleichen zu haben sein könnte, und daß Herr
von Hartwig so was ä Pinsu von Sasonow einzubrocken versuchen
möchte.
Die Nachricht stammt nicht vom König***."
Soeben geht mit Bezug auf dieses Telegramm folgende Meldung
des Herrn von Treutier einf:
„Seine Majestät wünschen, daß die ihm streng vertraulich mit-
geteilte Nachricht vom heimlichen Verkauf Montenegros an Serbien
unter den gebotenen Vorsichtsmaßregeln in Wien und eventuell auch
in Rom mitgeteilt werde. Dieses Verfahren entspräche dem Wunsch,
dem Seiner Majestät gegenüber in Wien von Herrn Tisza Ausdruck
gegeben worden sei ff. Seine Majestät erinnere bei dieser Gelegenheit
daran, daß zwar Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph und Graf
Berchtold neulich die Vereinigung Montenegros mit Serbien als in-
akzeptabel bezeichnet hätten, daß aber Graf Tisza dieses Ereignis ohne
weitere Erregung als wahrscheinlich bevorstehend in Rechnung stellte.
Es sei unbedingt nötig, daß man sich in Wien mit der Eventualität der
angedeuteten Entwickelung nunmehr ernsthaft befasse und darüber klar
werde, ob man unter allen Umständen bei dem vom Kaiser und Grafen
Berchtold eingenommenen Standpunkt bleibe oder der Ansicht Herrn
Tiszas sich anschließen wolle. Ersteres sei nur dann möglich, wenn
man absolut fest entschlossen sei, auch mit Waffengewalt die geplante
Vereinigung zu hindern. Keinenfalls dürfe Österreich wiederum sein
Prestige aufs Spiel setzen und auch nach außen hin Dinge als inakzep-
* Maximilian Fürst zu Fürstenberg.
** Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCVIII.
*** D. h. vom griechischen König, mit dem Kaiser Wilhelm II. von Korfu aus
in naher Verbindung stand,
f Telegramm Nr. 26 vom 5. April.
ff Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCV, Nr. 15 715 und 15 716. Graf Tisza hatte
sich dem Kaiser gegenüber auf den Standpunkt gestellt, daß man den Zusammen-
schluß Serbiens und Montenegros doch nicht hindern könne und ihn daher gar
nicht erst als inakzeptabel bezeichnen, sondern ihn dadurch unschädlich machen
möge, daß man, und zwar in engem Einvernehmen mit Italien und auf dem
Wege geschlossenen Auftretens des Dreibundes, das montenegrinische Küsten-
land an Albanien gebe, damit Serbien nicht ans Meer gelange.
22 Die Große Politik. 38. Bd. 337
tabel bezeichnen, die man sich schließlich gefallen lassen werde.
Schließe man sich der vernünftigen Ansicht Herrn Tiszas an, so werde
sich ohne weiteres für die österreichische Politik die Möglichkeit er-
geben, den veränderten Verhältnissen in dem Sinne Rechnung zu
tragen, die wir seit Jahren predigten. Ein für Serbien verlockender
modus vivendi mit der Doppelmonarchie müsse gefunden werden.
Er sei gewiß heute teurer als zu der Zeit, wo wir diese Ansicht zuerst
vertraten, er würde aber unerschwinglich werden, wenn Österreich dabei
beharre, diesen einzig richtigen Weg als ungangbar zu bezeichnen*."
Zur streng vertraulichen Verwertung der Nachricht über die angeb-
lichen Verkaufsverhandlungen des Königs Nikita mit Serbien sind
Euere Exzellenz bereits unterm 2. d. Mts. ermächtigt worden **. Der
Kaiserliche Gesandte in Cetinje, der zur telegraphischen Äußerung zur
Sache aufgefordert war, meldet darauf heute:
„Ich muß die Nachricht für eine jener böswilligen Erfindungen
von Intriganten erklären, die den König kompromittieren wollen."
Ich darf anheimstellen, auch diese Meldung dort streng vertraulich
zu verwerten. Es dürfte danach kein Anlaß vorliegen, die Nachricht
von den Verkaufsabsichten des Königs Nikita als ernst anzusehen.
Immerhin wird es sich empfehlen, daß die Möglichkeit einer zukünftigen
Vereinigung Montenegros mit Serbien ins Auge gefaßt wird und der
Dreibund seine Entschließungen für diesen Fall vorbereitet. Die von
Seiner Majestät in dieser Hinsicht angedeuteten Richtlinien für die
Politik Österreich-Ungarns stellen zweifellos das erstrebenswerte Ziel
auch für die beiden anderen Dreibundmächte dar. Ob indes am Ball-
platze dafür Verständnis vorhanden sein wird, muß leider dahingestellt
bleiben. Unsere Aufgabe wird zunächst darin bestehen, in geeigneter
unauffälliger Weise dahin zu wirken, daß das Wiener Kabinett sich
nicht vorzeitig bereits in entgegengesetztem Sinne festlegt.
v. Bethmann Hollweg
• Auf das Treutlersche Telegramm vom 5. telegraphierte Reichskanzler von
Bethmann Hollvveg am 6. April an den Kaiser unter Bezugnahme auf die in-
zwischen eingelaufene negative Meldung des Gesandten von Eckardt (vgl. S. 336,
Fußnote *•) : „Die Nachricht vom heimlichen Verkauf Montenegros an Serbien
erklärt Euerer Majestät Gesandter in Cetinje für eine jener bößwilligen Erfin-
dungen von Intriganten, die den König kompromittieren wollen*. — Mit Euerer
Majestät bin ich indessen davon überzeugt, daß wir gleichwohl die Möglichkeit
einer künftigen Vereinigung Montenegros mit Serbien ins Auge fassen und tun-
lichst rechtzeitig darauf hinwirken müssen, daß Wien die Angelegenheit nicht
zu einer Prestigefrage aufbauscht. Ich habe daher nicht verfehlt, Euerer Maje-
stät huldreiche Ausführungen Herrn von Tschirschky zwecks entsprechender
Regelung seiner Sprache mitzuteilen."
" Vgl. Nr. 15 540, Fußnote»*.
338
Nr. 15 542
Der Botschafter in Rom von Flotow an den Reichskanzler
von Bethmann Hollweg*
Ausfertigung
Nr. 99 Rom, den 9. April 1914
Während der Marquis di San Giuliano sich zum Besuche des Grafen
Berchtold in Abbazia ** rüstet, wird er durch die immer bedrohlicher
klingenden Nachrichten aus Montenegro beunruhigt. Anscheinend steigt
die wirtschaftliche Not des kleinen Landes täglich, und die Gefahr
wächst, daß ein Zusammenschluß mit Serbien gewaltsam herbei-
geführt wird.
Selbst wenn die vertraulich verwertete Nachricht von den Ver-
kaufsabsichten des Königs Nikita*** sich nicht bestätigen sollte, so
hält der Marquis di San Giuliano auch die durch eine anderweitige Ver-
einigung Montenegros mit Serbien entstehende Situation für eine ernste.
Nach seiner Ansicht kann die Vereinigung der beiden Länder dauernd
nicht gewaltsam gehindert werden. Wenn aber Österreich bei seiner
Weigerung, die Serben ans Meer zu lassen, beharren sollte, so würde
nichts anderes übrig bleiben, als den Küstenstrich Montenegros an
Albanien zu geben. Hier würden aber nach der Ansicht des Ministers
die italienischen Interessen erheblich berührt. Denn unter keinen Um-
ständen könnte Italien die dann entstehende geographische Berührung
Albaniens mit Österreich zugeben. Sie würde ein Überwiegen des
österreichischen Einflusses auf Albanien anbahnen, das Italien nicht
ertragen könne.
Noch ernster würden die Dinge nach Ansicht des Ministers
liegen, wenn wirklich Österreich, wie behauptet worden sei, Absichten
auf den Berg Lovcen haben sollte. Nach seiner Lage würde der öster-
reichische Besitz dieses Berges das maritime Gleichgewicht in der
Adria derartig zugunsten Österreichs verschieben, daß Italien unter
keinen Umständen dieser Veränderung ruhig zusehen könne. Der
Marquis di San Giuliano wurde bei Erörterung einer solchen Even-
tualität in einer seiner Natur sonst völlig1 fremden Weise erregt. Ein
solches Vorgehen Österreichs würde die schlimmste Krise für den
Dreibund bedeuten, so meinte der Minister; selbst die stärkste Re-
gierung Italiens könne dann nicht an der österreichischen Seite bleiben,
sie werde vielmehr gezwungen sein, bei Rußland oder anderen Mächten
Hilfe zu suchen.
* Der Flotowsche Bericht wurde durch Erlaß Nr. 498 nach Wien mitgeteilt.
** Der Besuch Marquis di San Giulianos bei Graf Berchtold in Abbazia fand
vom 14. bis 18. April statt. Näheres darüber in Bd. XXXIX, Kap. CCXCV.
Vgl. auch Nr. 15 544, Fußnote ••.
*** Vgl. Nr. 15 541.
22* 339
Nur mit Mühe gelang es mir, den Minister mit dem Hinweise
zur Beruhigung zurückzuführen, daß die gefürchteten Ereignisse ja noch
nicht vor der Tür ständen, und daß, wie ich annehme, auch der öster-
reichischen Staatsleitung nicht entgangen sein werde, welcher schweren
Belastung sie den Dreibund durch eine Eröffnung der Lovcenfrage
aussetzen werde.
Der kluge und durch dienstlichen Aufenthalt in Montenegro mit
den dortigen Verhältnissen wohlvertraute bulgarische Gesandte *, dessen
Frau Montenegrinerin ist, bestätigte mir, daß die Dinge dort zweifel-
los auf die Vereinigung mit Serbien zuliefen. Die Selbständigkeit Mon-
tenegros werde den jetzigen König nicht überdauern. Die einzige
Möglichkeit, dieser Entwickelung zu begegnen, sei, daß Österreich
mit dem König von Montenegro eine Art Konvention in der Art ab-
schließe, wie sie seinerzeit mit König Milan vereinbart worden sei,
wonach Österreich die Dynastie schützen, Montenegro dagegen der
österreichischen Politik überall folgen würde. Bei der ausgesprochen
russenfeindlichen Stimmung, die zurzeit beim König und im Lande
herrsche, und bei der Gefahr, in der die Dynastie sich befinde, würde
der König auf solches Abkommen sofort eingehen.
Floto w
Nr. 15 543
Der Botschafter in Rom von Flotow an den Reichskanzler
von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 106 Rom, den 9. April 1914
Wie ich schon berichtete, erfüllt den Marquis di San Giuliano die
Entwickelung der Dinge in Montenegro, die einer Vereinigung des
Landes mit Serbien zuzulaufen scheint, mit Sorge. Indessen beschäftigt
ihn weniger die allgemein europäische Seite der Frage als die Schwierig-
keiten, die sie für das italienisch-österreichische Verhältnis mit sich
führen könnte. Dementsprechend nahm er den Gedanken, daß bei
dieser Gelegenheit eine allzulange versäumte Verständigung Öster-
reichs mit Serbien angestrebt werden müßte**, nicht mit ganz unge-
teiltem Beifall auf. Gewiß sei eine österreichisch-serbische Verständi-
gung an sich wünschenswert, meinte er, nur müßte man ihren Cha-
rakter kennen und vor allem sicher sein, daß italienische Interessen nicht
* Rizow.
** Vgl. die Direktiven des Kaisers in seinem Telegramm an Reichskanzler von
Bethmann Hollweg vom 4. April (in Nr. 15 541).
340
dadurch geschädigt würden. Das könne beispielsweise eintreten, wenn
als der Preis der österreichischen Zustimmung zur serbisch-montene-
grinischen Vereinigung die Überlassung des Lovcen an Österreich
ausbedungen würde. Hier würde man einen Punkt berühren, wo
keine auch noch so starke italienische Regierung imstande sein würde,
eine schwere Erschütterung des italienisch-österreichischen Bundes-
verhältnisses und damit des Dreibundes zu verhindern. Auch sei er
überzeugt, daß die österreichische Regierung nicht zu einem Abkom-
men mit Serbien zu bringen sein werde. Die Beziehungen hätten sich
zu sehr verschärft. Der italienische Minister knüpfte hieran eine wenig
schmeichelhafte Kritik der politischen Leitung Österreichs, die die Zu-
kunft nie zu erkennen und niemals einen rechtzeitigen Entschluß zu
fassen vermöge. Aber abgesehen davon, müsse man zugeben, daß ge-
wichtige Gründe in Österreich gegen eine Verständigung mit Serbien
sprächen. Serbien sei für Österreich wie ein Piemont für Italien, es
habe eine zu starke Anziehungskraft für die angrenzenden Gebiete der
Donaumonarchie, und es sei verständlich, daß Österreichs Interessen
auf eine Schwächung viel mehr als auf eine Erweiterung Serbiens
hinausgingen.
Alles in allem hatte ich den Eindruck, daß der Minister die Frage
der Vereinigung Montenegros mit Serbien allzusehr unter dem Ge-
sichtspunkte der österreichisch-italienischen Beziehungen und zu wenig
unter dem allgemein europäischen betrachtet. Ich habe ihn daher
darauf hingewiesen, daß, falls Österreich sich der Vereinigung gewalt-
sam widersetzte und andererseits Rußland für Serbien Partei ergreife,
ein Weltkrieg entstehen könne, der doch noch von ganz anderer Trag-
weite sein würde, als eine Frage der österreichisch-italienischen Grenz-
verhältnisse. Aber der Minister ist namentlich im Hinblick auf seinen
bevorstehenden Besuch in Abbazia und auch im Hinblick auf die
Möglichkeit parlamentarischer Kritiken allzusehr mit der Adriapolitik
beschäftigt, um dem entstehenden Problem in seiner ganzen Aus-
dehnung gerecht zu werden.
Immerhin war auch der Minister der Ansicht, daß hier eine Frage
auftauche, die die ganze Aufmerksamkeit der verbündeten Mächte er-
heische und eine vorherige Verständigung unter ihnen wünschenswert
mache. Auch interessierte ihn sehr die Stellung1 des Grafen Tisza zu
der Frage, da er gewöhnt ist, Graf Tisza als den bedeutendsten staats-
männischen Kopf der Doppelmonarchie zu betrachten. Der Marquis
di San Giuliano fand es außerordentlich erfreulich, daß Seine Majestät
der Kaiser mit dem Grafen Fühlung genommen und auf ihn im Sinne
einer verständigen Orientierung der österreichisch-ungarischen Politik
eingewirkt habe.
Ich halte die Erörterung des Gegenstandes damit noch nicht für
abgeschlossen.
F 1 o t o w
341
Nr. 15 544
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg, z. Z. in Korfu,
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Achilleion, den 21. April 1914
Seine Majestät ist über österreichische Politik gegenüber Ru-
mänien* und über Stellung Berchtolds gegenüber Eventualität einer
Verständigung oder Verschmelzung Serbiens und Montenegros** so
erregt, daß er dringend wünscht, ich möchte über Wien rückreisen, um
mit Berchtold, namentlich aber im Hinblick auf Erkrankung des
Kaisers *** mit Thronfolger zu sprechen. Habe bisher vergeblich ver-
sucht, Seiner Majestät diesen Gedanken, den ich für wenig opportun
halte, auszureden, und fürchte, daß ich nachgeben muß, wenn bis
dahin Gesundheit Kaiser Franz Josephs sich so weit bessert, daß Ge-
fahr beseitigt. Ich würde alsdann mit „Breslau" nach Triest fahren,
wodurch Rückweg über Wien plausibel und Unhöflichkeit gegen Rom
vermieden würde. Besondere Teilnahme Seiner Majestät an Erkrankung
Kaisers müßte zur Motivierung des Besuchs mitverwertet werden.
• Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCVIII.
** Die Frage einer Verschmelzung Serbiens und Montenegros war auf der
Zusammenkunft Graf Berchtolds mit Marquis di San Giuliano in Abbazia
(14. bis 18. April) nur obenhin erörtert worden. Vgl. dazu Bd. XXXIX,
Kap. CCXCV, Nr. 15 729 und 15 730. Nach Graf Berchtolds Mitteilungen an Bot-
schafter von Tschirschky vom 20. April hätte er dem italienischen Minister in
großen Zügen das österreichische Programm dahin entwickelt, daß die Monarchie
ein Fußfassen Serbiens am Adriatischen Meere nie zulassen könne, daß Öster-
reich für sich selbst indessen keine Erweiterung seines Gebiets bei einer Fusion
Serbiens und Montenegros anstrebe, sondern daran denke, die Lösung dieser
Frage durch Zuweisung des montenegrinischen Küstengebietes an Albanien her-
beizuführen. Dagegen hätte Marquis di San Giuliano nichts eingewandt und
nur leichthin bemerkt, daß es vielleicht gut sein würde, hierüber einen Akkord
zwischen Wien und Rom abzuschließen, eine Anregung, der er, Graf Berchtold,
jedoch ausgewichen sei, da damit wohl die Absicht verbunden gewesen sei,
der Monarchie besonders im Hinblick auf den Lovcen schon jetzt für alle
Zeiten die Hände zu binden. Der Bericht Tschirschkys vom 20. April, in dem
diese Äußerungen Graf Berchtolds mitgeteilt waren, wurde am 22. telegraphisch
dem Reichskanzler nach Korfu übermittelt, kann also auf die von diesem am 21.
signalisierte Erregung des Kaisers noch nicht eingewirkt haben. In Korfu lag
am 21. lediglich ein Telegramm Botschafters von Flotow vom 20. April
(Nr. 117) vor, nach dem Marquis di San Giuliano nur teilweise befriedigt aus
Abbazia zurückgekehrt und das Ergebnis der Begegnung gerade auch in bezug
auf die Vereinigung Serbiens und Montenegros unbefriedigend geblieben sei.
Allerdings hatte der Kaiser bei seinem Aufenthalt in Wien (23. März) den in
dieser Schärfe nicht ganz richtigen Eindruck davongetragen, daß Graf Berch-
told im Gegensatz zu Graf Tisza von der Fusion beider Länder nichts wissen
wolle.
*** Kaiser Franz Joseph war kurz vor dem 21. April an einer Lungenentzündung
erkrankt, die in Anbetracht seines hohen Alters besorgniserregend schien.
342
Erbitte baldigst Ew. pp. Ansicht.
Genaue Information, insonderheit über österreichisch-italienische
Differenz in Frage Serbien-Montenegro vorher notwendig.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 545
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an
den Reichskanzler von Bethmann Hollweg,
z. Z. in Korfu
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 9 Berlin, den 22. April 1914
Schwerpunkt rumänischer Frage scheint mir augenblicklich weniger
bei Graf Berchtold als in Pest zu liegen. An Graf Tiszas Einsicht ist
wohl nicht zu zweifeln, die Befriedigung der rumänischen Wünsche wird
aber durch ungarische innerpolitische Verhältnisse bedingt. Rumäni-
scher Irredentismus, der bisher latent war, würde auch ohne Öster-
reichs Fehler durch Rumäniens politischen Aufstieg erstarkt sein. Zu-
nehmender Gegensatz zwischen Donaumonarchie und benachbartem
rumänischen Nationalstaat liegt daher leider bis zu gewissem Grade
in der natürlichen Entwickelung der Dinge. König Karol, Bratianu und
Beldiman glauben, daß man jetzige Aufwallung vorübergehen lassen
müsse.
Über italienisch-österreichische Divergenzen bezüglich Serbien-
Montenegro vorliegen noch keine detaillierten Meldungen. Fordere
dieselben telegraphisch ein*.
Zu Verstimmung in Rom würde Euerer Exzellenz Rückreise über
Wien meines Erachtens keinen berechtigten Anlaß bieten. Dagegen er-
scheint mir zu bedenken, ob Rücksprache Euerer Exzellenz mit Thron-
folger im Augenblick der Erkrankung Seiner Majestät des Kaisers
Franz Joseph bei letzterem nicht Verstimmung und Verdruß erregt,
als rechneten wir schon zu sehr mit Thronwechsel und Nachfolger.
Nachrichten über Befinden Seiner Majestät des Kaisers lauten viel
beruhigender.
Anläßlich englischen Königsbesuchs in Paris** haben sich Vor-
stöße namentlich russischerseits bemerkbar gemacht, Entente mit Eng-
* Es war durch Telegramm Nr. 69 vom 22. April geschehen. Darauf antwortete
Flotow am gleichen Tage: „Eigentliche Differenzen liegen noch nicht vor, da
Graf Berchtold der Diskussion ausgewichen ist. Marquis di San Giuliano glaubte
aber an Schwierigkeiten, da er nicht sieht, wie Einigung zu erzielen sei.
Italien könne nicht zugeben, daß Albanien an Österreich stoße."
** Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCC.
343
land zur Allianz zu verdichten; Versuche, die bisher von gesamter
englischer Presse entschieden zurückgewiesen werden. Anschein zu-
nehmender Aktivität, wie allzu häufige Zusammenkunft seitens der
Dreibundleiter könnte uns als Nervosität ausgelegt und als Symptome
für Verhandlungen über Ausdehnung der Ziele des Dreibunds ange-
sehen werden. Auf gegnerischer Seite besteht bereits Verdacht, daß
weitgehendes Mittelmeerabkommen von Dreibund geschlossen ist*.
Solche Befürchtungen könnten nur Bestrebungen auch engeren Zu-
sammenschlusses der Entente fördern.
Abgesehen von diesen Bedenken würde ich an sich Aussprache
Euerer Exzellenz mit Graf Berchtold nützlich finden, wenn auch posi-
tives Ergebnis kaum zu erwarten.
Jago w
Nr. 15 546
Der Botschafter in Wien von Tschirschky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 118 Wien, den 23. April 1914
Geheim
Ich habe weisungsgemäß ** den angeblichen, auf Fusion Serbiens
mit Montenegro gerichteten russischen Plan dem Grafen Berchtold
ganz vertraulich und mit den gebotenen Vorsichtsmaßregeln mitge-
teilt. Der Minister nahm die Mitteilung mit Interesse entgegen. Er
meinte, wenn er auch einen heimlichen Verkauf des Landes für aus-
geschlossen halten müsse, so sei doch nicht so ohne weiteres von der
Hand zu weisen, daß König Nikita für sich und die Seinen gegen das
Versprechen einer guten Versorgung auf seine Krone verzichten könnte.
Ähnliche Gerüchte seien ihm, dem Minister, auch schon früher zu Ohren
gekommen. Es sei aber nicht anzunehmen, daß die Serben ihren gewiß
bestehenden Plan, sich Montenegro anzugliedern, durch einen in die
Augen springenden Akt würden verwirklichen wollen; sie würden es
wohl vorziehen, möglichst geräuschlos und nach und nach Montenegro
de facto unter ihren Einfluß zu bekommen, um es der Monarchie
möglichst zu erschweren, den geeigneten Moment zu einer Gegenaktion
zu finden.
Ich habe im Anschluß hieran nochmals Gelegenheit genommen, den
Grafen Berchtold nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß es für den
Dreibund unerläßlich sei, sich über die der eventuellen Fusion Serbiens
und Montenegros gegenüber zu befolgende Politik vor Eintritt des Er-
* Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCV.
** Vgl. Nr. 15 541.
344
eignisses völlig klar zu sein. Österreich-Ungarn müsse genau sein
Programm im voraus festlegen, dessen Grenzen aber auf die unbe-
dingten Lebensinteressen der Monarchie beschränken, die dann aller-
dings mit allen Mitteln zu verteidigen sein würden.
Graf Berchtold bemerkte daraufhin, der Kaiser, er und ebenso
auch Graf Tisza seien fest von der Notwendigkeit überzeugt, daß
ein Vordringen Serbiens an die Adria und damit die völlige Umklam-
merung der Monarchie auch im Südosten durch einen feindlichen
slawischen Staat im vitalen Interesse Österreich-Ungarns wie in dem-
jenigen des Dreibundes unter allen Umständen verhindert werden
müßte. Er habe deshalb, wie er mir schon früher mitgeteilt, den Ge-
danken, die Vereinigung des größten Teiles von Montenegro mit Serbien
zwar zuzulassen, das Küstengebiet aber Albanien zuzuweisen. Gleich-
zeitig müsse versucht werden, diejenigen Bestimmungen des Bukarester
Friedens, die in sich die größte Gefahr für Erneuerung eines Balkan-
krieges darstellten, also die Überlassung Istips und Kotschanas und
der rein albanesischen Bezirke um Prisren und Diakowa an Serbien
wieder rückgängig zu machen. Ich fragte den Minister, ob er glaube,
daß Serbien — mit Rußland im Hintergrunde — sich ein zweites Mal,
ohne zu den Waffen zu greifen, vom Meere abdrängen lassen würde,
worauf Graf Berchtold erwiderte, Rußland habe so oft erklärt, daß es
für serbische Interessen nicht eintreten könne und wolle, so daß er
annehmen könne, daß Serbien — auf sich allein angewiesen — es
nicht zum äußersten kommen lassen werde. Weiter machte ich den
Minister darauf aufmerksam, daß ich Grund zur Annahme hätte,
daß man in Rom ein Angrenzen der Monarchie an Albanien kaum
dulden würde. Graf Berchtold fand diese Prätention der Italiener doch
allzu weitgehend und bezeichnete sie als geradezu „kindisch". Ich gab
dann dem Minister noch zu bedenken, daß die Aufrollung der Fragen
wegen Istip, Kotschana, Prisren und Diakowa den ganzen Balkan
und sämtliche Großmächte wieder auf dem Plan erscheinen lassen
würde.
Ich glaube, den vorstehenden Erörterungen über die Frage der
Stellungnahme Österreich-Ungarns zur Eventualität einer serbisch-mon-
tenegrinischen Fusion entnehmen zu können, daß man hier mit Aus-
nahme des Grundsatzes, daß Serbien von der Adria fernzuhalten sei,
sich über ein ins einzelne gehendes Programm und dessen etwaige
Konsequenzen noch nicht klar ist*. Nach Abschluß der Delegations-
* Daß Graf Berchtold sich in der Tat noch nicht klar darüber war, wie er
angesichts der drohenden Vereinigung Serbiens und Montenegros vorgehen solle,
ergeben die Mitteilungen Conrads von Hötzendorf (Aus meiner Dienstzeit,
III, 661 f.) über seine Unterredung mit dem Minister vom 22. April, in der auch
die Mitteilungen Kaiser Wilhelms II. über den angeblich geplanten Verkauf
des montenegrinischen Königreichs gestreift werden. Es heißt da unter anderem:
„Auf meine Bemerkung, daß wir im Falle einer serbisch-montenegrinischen
345
Verhandlungen, die augenblicklich schon die Arbeitskraft des Mi-
nisters und seiner Räte voll in Anspruch nimmt, möchte ich mir vor-
behalten, bei Graf Berchtold auf dieses Thema zurückzukommen. Was
die Frage eines für beide Teile annehmbaren modus vivendi zwischen
Österreich-Ungarn und Serbien anlangt, durch den die serbischen
Aspirationen auf die serbischen Provinzen der Monarchie dauernd und
legal beseitigt werden müßten, so glaube ich, daß wir eine solche
Kombination nicht in unsere Politik einsetzen können. Man hält einen
solchen hier, wie ich schon wiederholt zu berichten die Ehre hatte, für
nicht erreichbar.
von Tschirschky
Nr. 15 547
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an
den Botschafter in Rom von Flotow
Eigenhändiges Konzept
Nr. 451 Berlin, den 28. April 1914
Euerer Exzellenz Berichterstattung zufolge hat sich Marquis di San
Giuliano wenig befriedigt über das Resultat der Besprechungen von
Abbazia gezeigt, soweit dasselbe die Eventualität einer Vereinigung
Serbiens mit Montenegro betrifft. Der Minister hat dabei geäußert,
Italien werde nie dulden können, daß Albanien an Österreich-Ungarn
grenze.
In -Wien andrerseits hält man ein Vordringen Serbiens bis zur
Adria für inakzeptabel. Dieser Auffassung hat Österreich auch in der
letzten Balkankrisis bereits Geltung verschafft, die gemeinsam mit
Italien durchgesetzte Konstituierung des Fürstentums Albanien und
Fusion den Landanschluß an Albanien, also den Küstenstrich verlangen müßten,
warf Graf Berchtold ein, daß Italien dem entgegen wäre. Ich meinte, wir
müßten uns klar darüber werden, ob wir die Fusion hinnehmen wollten, dann
sollten wir aber überhaupt nichts dagegen tun und auch nicht darüber reden,
oder ob wir uns gegen die Fusion stellen wollten, dann müßten wir auf den
Krieg gefaßt sein. Dieser dürfte jedoch nicht einer so untergeordneten Sache
wegen geführt werden, sondern müßte die radikale Lösung der serbischen Frage
zum Ziele haben. Graf Berchtold wies auf Rußland hin; ich erwiderte, daß ja
Deutschland und Italien uns zur Seite stehen müßten, worauf Graf Berchtold
äußerte: ,Die werden uns in die Arme fallen'; er fügte bei, er habe Nachricht,
daß Kaiser Wilhelm erfahren hätte, es wären unter der Ägide Rußlands Ver-
einbarungen im Zuge, wonach Serbien dem König von Montenegro sein Land
abkaufen würde. Ich bezeichnete dies als ,Tartarennachrichten*. Graf Berchtold
bemerkte, Deutschland hätte uns geraten, uns gegen die Fusion auszusprechen
und die Erhaltung Montenegros mit seiner Dynastie zu verlangen. Ich er-
widerte, daß damit für uns nichts erreicht wäre; die Bewegung wurzle im
Volke, und dieses würde die Monarchie entfernen, wenn sie ihm nicht passen
sollte."
346
die Gewährung nur eines wirtschaftlichen Zugangs zum Meere für
Serbien verfolgte diesen Zweck. Es muß auch zugegeben werden, daß
wichtige Interessen der Donaumonarchie bedroht wären, wenn sie
im Süden von einem bis zum Meere reichenden großen slawischen
Staat gleichsam umklammert würde. Marquis di San Giuliano hat
selbst die Gefahr der „Maree Slave" anerkannt und kann ebensowenig
wie Österreich-Ungarn wünschen, daß auf dem östlichen Ufer der
Adria ein starkes Serbien Fuß faßt, welches mehr oder weniger stets
eine Vormacht Rußlands darstellen wird. Es wäre allerdings wünschens-
wert, daß auch die öffentliche Meinung Italiens mehr zu dieser Ein-
sicht gelangte, statt sich immer nur von der „germanischen" be-
ziehungsweise österreichischen Gefahr hypnotisieren zu lassen.
Mit dem Verschwinden von Montenegro muß, wie die Dinge
liegen, wenn nicht früher, so doch nach dem Tode König Nikitas ziem-
lich bestimmt gerechnet werden. Ich will zugeben, daß eine weitere
Ausdehnung Österreichs südwärts an der adriatischen Küste, besonders
die Besitznahme des strategisch wichtigen Lovcen, für Italien Gefahren
involvieren würde.
Diesem Gesichtspunkt dürfte jedoch die Wiener Politik genügend
Rücksicht tragen, wenn sie — soweit hier bekannt — nicht selbst einen
Teil Montenegros beansprucht, sondern bei einer Auflösung dieses
Staates das Küstengebiet zu Albanien schlagen, sich dem Aufgehen
des übrigen Teils in Serbien aber nicht widersetzen will. Vorbedingung
hierfür bleibt freilich, daß der albanische Staat sich als lebensfähig
erweist, was wir alle hoffen und unterstützen müssen. Es ist nicht
ersichtlich, warum Italien in der Vergrößerung und Erstarkung des
von ihm selbst mitgeschaffenen Albaniens eine Gefahr erblicken könnte,
es sei denn, daß es auch mit dem Zusammenbruch dieses Staates
rechnet und diesenfalls Ansprüche Österreichs auf die nördlichen Gebiete
desselben befürchtet*. Die Tätigkeit italienischer Agenten und Unter-
agenten in Albanien hat schon jetzt dem Verdacht auf vielen Seiten
Nahrung gegeben, daß Italien sich dort selbst eine territoriale Zukunft
bereiten möchte. Ich kann jedoch nicht glauben, daß dies dem Willen
der Leiter der italienischen Politik entspricht. Somit kann ich keinen
stichhaltigen Grund erkennen, weshalb Italien einer Angrenzung Alba-
niens an die Donaumonarchie grundsätzlich widerstehen müßte. Sie
scheint mir vielmehr unter gewissen Eventualitäten der einzige Modus
zu sein, der den österreichischen Interessen gerecht würde, ohne die
italienischen zu verletzen.
Euere Exzellenz wollen die Frage nicht aus dem Auge lassen und sie
gelegentlich wieder in unverbindlichen Gesprächen mit dem italienischen
Minister berühren, wobei es von Interesse sein wird festzustellen, wie
Vgl. dazu Bd. XXXVI, Kap. CCLXXXII.
347
derselbe sich die Lösung des montenegrinischen Problems denkt. Es
muß möglichst verhütet werden, daß, wenn dasselbe über kurz oder
lang aktuell werden sollte, daraus Anlaß zu Konflikten zwischen unseren
Bundesgenossen entsteht.
J agow
Nr. 15 548
Der Botschafter in Rom von Flotow an den Reichskanzler
von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 133 Rom, den 4. Mai 1914
Vertraulich
Mein österreichischer Kollege sprach sich heute zu mir über die
Ministerbegegnung in Abbazia und speziell über die Frage der Ver-
einigung von Serbien und Montenegro aus. Bei dem Gewicht, das die
Stimme des Herrn von Merey in Wien besitzt, sind seine Äußerungen
von Interesse. Der Botschafter gab offen zu, daß Graf Berchtold
in Abbazia dem Marquis di San Giuliano in dieser Frage ausgewichen sei
und zwar nach Beratung mit ihm, dem Botschafter. Denn er sei der
Ansicht, daß eine Einigung mit Italien darüber garnicht zu erzielen
sei. Unter keinen Umständen dürfe dabei noch einmal ein großes
Interesse der österreichisch-ungarischen Monarchie geopfert werden.
Es sei unvermeidlich, daß man dabei mit Italien in Konflikt gerate.
Das müsse überwunden werden, in Italien werde man eine Zeitlang
schmollen und sich dann wieder beruhigen. Es sei unzeitgemäß ge-
wesen, daß eine österreichische Militärzeitschrift die Forderung des
Lovcen gestellt habe*; tatsächlich aber sei der Erwerb des Lovcen
das Minimum dessen, was Österreich dabei fordern müsse, wahrschein-
lich würden seine Ansprüche weiter gehen, jedenfalls dürfe Serbien
nicht an das Meer gelassen werden.
Bei dem Verhältnis, in dem ich zu meinem österreichischen Kol-
legen stehe, das bei großer persönlicher Freundschaft oft sehr heftige
Diskussionen mit sich bringt, habe ich sofort Gelegenheit genommen,
ihm zu sagen, daß diese Behandlung des Bundesverhältnisses zu Italien
mir eine außerordentlich bedenkliche erscheine. Österreich habe die
Pflicht, einen Weg zur Verständigung mit Italien in dieser Frage zu
suchen. Es gebe deren auch. Einmal sei eine Zuteilung des montene-
grinischen Küstenstriches an Albanien möglich. Dagegen sträube Italien
• Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCVI, Nr. 15 760, S. 401, Fußnote ft-
348
sich heute, es könne sich aber schließlich damit abfinden, wenn nur
der Lovcen nicht österreichisch würde. Ein anderer Weg sei, wenn nur
die österreichische Regierung eine hinreichende Initiative entfalte, Mon-
tenegro durch wirtschaftliche Unterstützung an sich zu ziehen und damit
den Vereinigungsbestrebungen das Wasser abzugraben. Jedenfalls hielte
ich es auch im Dreibundsinteresse für unzulässig, Italien ohne weiteres
in die russisch-französischen Arme zu treiben, die sich sehr leicht
öffnen könnten. Deutschland habe jedenfalls ein wichtiges eigenes
Interesse, Italien in seiner Stellung an der östlichen Flanke Frankreichs
nicht aus der Bundesgenossenschaft gedrängt zu sehen, nachdem die
österreichische Politik Rumänien bereits in eine nicht mehr unbedingt
sichere Stellung getrieben hätte.
Wie nach seinem ganzen Charakter zu erwarten, blieb die Schärfe
meiner Ausführungen auf den Botschafter nicht ohne günstige Wirkung.
Ich möchte glauben, daß es nicht unzweckmäßig wäre, auch in Wien
zur rechten Zeit darauf hinzuweisen, daß die Bundesgenossenschaft
Italiens nicht nur für Österreich, sondern auch für uns einen selb-
ständigen Wert hat, den wir ohne weiteres nicht preiszugeben wünschen.
Nur wäre ich dankbar, wenn es in einer Form geschähe, die meine
Beziehungen zu meinem österreichischen Kollegen nicht kompromittiert.
Floto w
Nr. 15 549
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg
für den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow*
Eigenhändig
Berlin, den 8. Mai 1914
Ich halte eine klare Aussprache in Wien für dringend er-
forderlich. Wien beginnt sich in seiner gesamten Politik etwas stark von
uns zu emanzipieren und muß meo vota rechtzeitig am Zügel gehalten
werden.
Falls Sie zustimmen, bitte ich, mir den Erlaß nach Wien** vor
Abgang zur Kenntnis vorzulegen.
v. Bethmann Hollweg
* Die Aufzeichnung wurde nach einer Aktennotiz durch den voraufgehenden
Bericht des Botschafters von Flotow vom 4. Mai veranlaßt.
** Siehe das folgende Schriftstück.
349
Nr. 15 550
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg an den
Botschafter in Wien von Tschirschky
Konzept
Nr. 579 Berlin, den 8. Mai 1914
Euer pp. lasse ich anbei Abschrift eines Berichts des Kaiserlichen
Botschafters in Rom* über eine Unterredung mit dem dortigen öster-
reichisch-ungarischen Botschafter zur gefälligen Kenntnis zugehen.
Wenn die Ansichten des Herrn von Merey in Wien maßgebend
bleiben sollten — so wie es sein Rat in Abbazia gewesen zu sein
scheint — , so würde das Bundesverhältnis zwischen der Donau-
monarchie und Italien schweren Gefährdungen ausgesetzt sein. Ich
brauche nicht hinzuzufügen, daß durch eine derartige Krise im Drei-
bund auch wir in ernste Mitleidenschaft gezogen würden, und daß wir
also ein durchaus berechtigtes Interesse an der Vermeidung solcher
Eventualitäten haben. Wir müssen um der Erhaltung des Dreibundes
willen darauf dringen, daß zwischen unseren Bundesgenossen eine
Verständigung über die drohende montenegrinische Frage herbeigeführt
wird. Ich kann mir die diesbezüglichen Ausführungen Herrn von
Flotows nur zu eigen machen. Ob es gelingen wird, Montenegro
gegen den politischen und finanziellen Einfluß Rußlands dauernd
zu Österreich hinüberzuziehen, mag allerdings fraglich erscheinen. Der
österreichischen Politik pflegt es leider auch für solche Aufgaben an
der nötigen Geschmeidigkeit zu fehlen. Jedenfalls müßte für den Fall,
daß derartige Versuche scheitern sollten, eine vorherige Verständigung
zwischen den Kabinetten von Wien und Rom über die Frage terri-
torialer Veränderungen an der Adria erzielt werden. Der Ausbruch
eines Konflikts zwischen Österreich und Italien — bei dem auch
Serbien gegen die Donaumonarchie stände — , würde für Rußland
zweifellos Anlaß zum Eingreifen bieten, wir würden vor die Frage
gestellt, zwischen unseren Alliierten optieren zu müssen oder bei
passiver Haltung Österreich-Ungarn einem Angriff von zwei Seiten
preiszugeben. Es würde das einen völligen Zusammenbruch des Drei-
bundes und unseres bisherigen politischen Systems bedeuten.
Euer pp. ersuche ich daher, den Grafen Berchtold gelegentlich
— ohne jedoch der Unterredung zwischen Herrn von Flotow und von
Merey Erwähnung zu tun — auf die Frage anzusprechen und ihn
darauf hinzuweisen, daß eine Verständigung mit Italien auch für unsere
Interessen unerläßlich erscheint. Was die bisher vom Marquis di San
Giuliano vertretene These betrifft, daß er eine Zuteilung des montene-
grinischen Küstengebiets an Albanien nicht zulassen könne, so habe
• Siehe Nr. 15 548.
350
ich den Kaiserlichen Botschafter in Rom bereits mit Instruktion versehen,
dem Minister die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes darzulegen*.
v. Bethmann Hollweg
Nr. 15 551
Der Botschafter in Rom von Flotow an den Reichskanzler
von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 137 Rom, den 12. Mai 1914
Vertraulich
Der hier auf Urlaub weilende Herr Bollati** hat mir ganz ver-
traulich Kenntnis gegeben von einer Unterredung, die er mit dem
Marquis di San Giuliano über die Beziehungen Österreichs zu Italien und
speziell auch über die drohende Vereinigung Montenegros mit Serbien
gehabt hat. Der Minister hat sich in dieser Frage ziemlich pessimistisch
geäußert und die Ansicht zu erkennen gegeben, daß es fast unmöglich
sein werde, in dieser Frage eine Einigung mit Österreich zu finden.
Er hat wiederum die Ansicht vertreten, daß Albanien nicht an Österreich
stoßen dürfe und vor allem, daß etwaige österreichische Ansprüche auf
den Lovcen von keiner Regierung in Italien zugestanden werden
könnten1. Der Botschafter selbst ist der Ansicht, daß diese Seite der
Frage nicht praktisch werden dürfte, da Serbien unter allen Umständen
das an das Meer grenzende montenegrinische Territorium beanspruchen
und dafür sogar unbedingt Krieg führen würde 2.
Da der Botschafter morgen noch eine Unterredung mit dem Mar-
quis di San Giuliano haben wird, so habe ich Gelegenheit genommen,
ihn noch einmal darauf hinzuweisen, wie überaus bedenklich es sei,
wenn die beiden verbündeten Mächte sich nicht beizeiten über diese
ernste Frage aussprächen 3, oder wenn sie sogar von vornherein er-
klärten, sich darüber nicht verständigen zu können.
Die österreichisch-italienischen Beziehungen sind so wie so nicht
ganz unbedenklich. Die Demonstrationen und Hetzereien aus Anlaß
der Vorgänge in den Grenzgebieten *** hören nicht auf, und wenn auch
jeder einzelne Fall ohne große Bedeutung ist, so wird doch allmählich
eine unerfreuliche Atmosphäre geschaffen. Dazu kommt, daß sich
deutlich eine Art Preßbewegung gegen den Marquis di San Giuliano
wegen seiner austrophilen Politik abzeichnet, die nicht ohne Eindruck
Vgl. Nr. 15 547.
* Italienischer Botschafter in Berlin.
* Vgl. dazu Bd. XXXIX, Kap. CCXCVI.
351
auf den Minister bleibt. Besonders einige scharfe Angriffe des so
einflußreichen „Corriere della Sera" haben ihn beunruhigt4.
Floto w
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 t
2 Also die alte Situation vom Winter 12/13, wo es nahe daran war
3 richtig! sie müßten sich einige[n]
4 sie müßten sich verständigen!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Es muß eingesehen werden, daß ä la longue Serbien und Montenegro doch
zusammen kommen werden, wie Tisza es sagte
Nr. 15 552
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
an Kaiser Wilhelm IL
Eigenhändiges Konzept
Berlin, den 25. Mai 1914
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät wage ich anliegend
Abschrift eines Berichts des österreichisch-ungarischen Militärattaches in
Belgrad *, welchen der österreichisch-ungarische Botschafter mir ver-
traulich mitgeteilt hat, alleruntertänigst zu unterbreiten.
J ago w
Anlage
Bericht des Österreich-ungarischen Militärattaches in Belgrad
Majors Gellinek
Abschrift
Nr. 69 Belgrad, den 20. April 1914
Ebenso wie Kirche und die Geistlichkeit in Serbien haupt-
sächlich nationalen und politischen Zwecken dient, so werden hier
auch die größeren kirchlichen Feste zum Anlaß genommen, um dem
nationalen Empfinden und den bezüglichen Wünschen und Hoffnungen
Ausdruck zu geben. In drastischer Weise trat dies in den diesjährigen
Ostergrüßen der serbischen Presse zutage. Allen voran hat die
„Politika", das angesehenste serbische Blatt, in ihrem Leitartikel
„Unsere Auferstehung" die Genugtuung der Großserben über die
Ereignisse seit dem vorigen Osterfeste und ihre Erwartungen betreffs
der Zukunft zusammengefaßt:
„In Gracanica, inmitten des befreiten Volkes, hat der Kronprinz
heute die heilige Kommunion empfangen. Schon vor einem Jahre
* Major Gellinek.
352
feierten unsere siegreichen Truppen dort das Osterfest, aber während
damals noch die Auseinandersetzung mit dem treubrüchigen Ver-
bündeten bevorstand, sind heute die meisten Länder der alten serbischen
Fürsten unter dem serbischen Szepter vereint.
Der serbisch-türkische Krieg hat die Kraft Serbiens anwachsen
lassen; der Krieg gegen Bulgarien jedoch gab uns erst das neue Leben.
Erst nach Bregalniza konnte Serbien freudig in die Zukunft blicken,
erst dann den Glauben an die Auferstehung des gesamten Serben-
volkes gewinnen. Und heute feiert man in Radoviste bis zum Triglav,
vom Ochridasee bis zu den Werschetzer Bergen das Osterfest mit
jener Freude, wie in den hellsten Tagen des alten serbischen Kaiser-
reiches. Heute fühlen sich diese ganzen serbischen Länder wie eine
Seele, die niemand mehr ersticken, deren Einheit niemand mehr zer-
stören kann.
Es liegt gar nichts daran, daß Kroatien heute vielleicht wieder
nur einen Schritt von den schweren Zeiten des Kommissariates ent-
fernt ist, — es liegt nichts daran, daß Dalmatien legionenweise von
Schachern überschwemmt, Bosnien und der Herzegowina die Hände
gebunden und die Kehle zugeschnürt ist; heute bilden die öster-
reichischen und die ungarischen Gendarmen, welche mit ihren Bajo-
netten die serbischen Ortschaften durchstreifen und jeden ins Ge-
fängnis werfen, der mit hellem Auge nach dem serbischen Süden blickt,
für die Bevölkerung keinen Schrecken mehr! Denn jedes große Werk
verlangt seine Opfer, jede Befreiung zählt ihre Märtyrer, und die heutige
serbische Generation auf ihrem großen Territorium hat keinen sehn-
licheren Wunsch, als diese Märtyrer zu geben."
In ähnlicher Weise äußert sich das Organ der Fortschrittler, die
„Prawda":
„. . . An uns Serben im Königreiche, die wir keine Auferstehung
mehr zu feiern brauchen, ist es heute, daran zu denken, welche Wünsche
unsere Brüder jenseits der Donau, Save und Drina haben können.
Die Befreiung! Sie wünschen das, was bis vor zwei Jahren unsere
Brüder beiderseits des Vardar gewünscht haben. Aber sie sind nicht
kräftig genug, um dies alleine auszuführen. Sie sind zwar reif für
die Befreiung, müssen aber von außen befreit werden. Daran soll
jeder Serbe zu Ostern denken; wir haben unsere nationale Auferstehung
schon längst gefeiert, vollenden wir sie auch für unsere noch unbe-
freiten Brüder."
Der „Piemont", das Blatt der Offizierspartei, sagt nach einem
Überblick der beiden Kriege folgendes:
„. . . Mit der Befreiung Mazedoniens wurde Serbien nicht nur ver-
größert, sondern auch die Hoffnungen auf die endgültige Befreiung des
ganzen serbischen Volkes sind gewachsen. Die Auferstehung des
serbischen Volkes im Süden vergrößerte bei den Stammesbrüdern im
Westen und im Norden den Glauben an die endliche Befreiung, ebenso
23 Die Große Politik. 38. Bd. 353
wie das kleine serbische Königreich seinerzeit mit seinem Beispiel ganz
Mazedonien ermutigt hat (?). Die Glocken, welche heute morgens in
Eosnien, der Herzegowina, Dalmatien, Slawonien, Syrmien, in der Backa
und im Banat die Auferstehung des Glaubens und des Frühlings ver-
künden, werden heller erklingen denn je."
Die „Straza" vergleicht die endliche Befreiung der Serben mit der
Leidensgeschichte Christi:
„. . . Auch das Jahr 1908 bedeutet für uns einen Karfreitag,
auf welchen 1912/13 die Auferstehung folgte. Das Serbien Dusans hat
seine Auferstehung gefeiert, und auch das Osterfest des ganzen serbi-
schen Volkes, der Tag der nationalen Vereinigung, welcher alles, was
serbisch spricht, in einen Staat zusammenfassen wird, ist nicht mehr
ferne. Wir vertrauen auch weiter in die Kraft unseres Volkes und in
die Güte Gottes, und diese Zuversicht wird uns bald dazu verhelfen,
daß die Serben aller serbischen Länder sich zum Osterfeste mit den
Worten begrüßen werden: Großserbien ist auferstanden!"
Der „Balkan" sagt, daß die großen militärischen Erfolge Serbiens
die größten Hoffnungen im Volke erweckt haben:
„Der Verwirklichung der großserbischen Ideale, welche noch vor
kurzem in großer Gefahr stand, eröffnen sich nun neue Perspektiven,
und die serbischen Standarten erwarten ungeduldig, zu neuem Ruhme
geführt zu werden, um auch an den Ufern der Mariza, der Donau,
der Theiß und der Una freudige Tage zu erleben. Denn dort, jenseits
der Save-Donau, an den Ufern der rauschenden Narenta und an der
Adria schmachten Sklaven, welche an dem heutigen großen christlichen
Freudenfeste mit Kummer ausblicken, ob nicht das Blitzen der serbi-
schen Bajonette schon sichtbar sei, denn diese bilden ihre einzige
Hoffnung auf eine endliche Auferstehung. Schließen wir uns daher
noch fester zusammen, und eilen wir denjenigen zu Hilfe, welche die
Freude des heutigen Auferstehungsfestes noch nicht mitfühlen."
In ähnlichem Sinne äußern sich auch die meisten übrigen Tages-
blätter. Der in allen diesen Leitartikeln bekundete heiße Wunsch nach
der Vereinigung mit unseren Südslawen bildet auch in dieser unge-
schminkten Form keine Neuheit. Hiezu gesellt sich aber jetzt die
immer deutlicher hervortretende feste Überzeugung, daß unsere Serben,
Kroaten und Slowenen sich politisch überhaupt mit nichts anderem
beschäftigen, als sehnsüchtig über die serbische Grenze zu blicken
und die serbischen „Befreier" herbeizuwünschen. Diese hier allge-
meine, selbst in den gebildeten Kreisen verbreitete Ansicht muß
als ein Faktor betrachtet werden, der Serbien leicht zu einer Abenteuer-
politik gegenüber der Monarchie verleiten könnte.
(gez.) G e 1 1 i n e k
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Unerhört! aber begreiflich
354
Nr. 15 553
Der Botschafter in Wien von Tschirschky, z.Z. in Budapest,
an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow
Eigenhändiger Privatbrief
Budapest, den 17. Mai 1914
[pr. 21. Mai]
pp. * Im Laufe unserer ganz vertraulichen Unterhaltung teilte mir
Avarna noch mit, er sei beauftragt, bei Graf Berchtold den Abschluß
einer Vereinbarung für den Fall einer Fusion Serbiens mit Montenegro
zu betreiben. Vorschläge habe er nicht zu machen. Er wisse nur, daß
man in Rom der Ansicht sei, daß ein Angrenzen der Monarchie an
Albanien im Interesse Serbiens nicht zugelassen werden könne, weil
dadurch der Einfluß der Monarchie auf Nordalbanien zu stark werden
würde. Ich habe meinem italienischen Kollegen angedeutet, daß wir
diesen Standpunkt seiner Regierung nicht teilen könnten, und daß
Herr von Flotow in dieser Richtung Instruktionen erhalten hätte.
Avarna meinte, es komme jetzt zunächst darauf an, d'entamer des
negociations, im Laufe der Verhandlungen werde man schon einen
Ausweg finden. Sobald Avarna mit Berchtold gesprochen haben wird,
werde ich weisungsgemäß den Abschluß einer Vereinbarung nach-
drücklich unterstützen.
Avarna klagte dann noch über die übertriebene Nervosität in Rom
in bezug auf die albanischen Verhältnisse. Diese rühre einerseits von
den pessimistischen Berichten des Gesandten Aliotti her, andererseits
habe sie ihren Grund darin, daß San Giuliano sich um die albanischen
Dinge so gut wie gar nicht kümmere, sondern deren Beantwortung fast
ausschließlich Herrn de Martino überlasse. „C'est un mauvais garne-
ment," meinte der Botschafter, ein schlechtes Element, der anstatt
zu vermitteln und auszugleichen, die Schwierigkeiten künstlich ver-
größere.
Hier in Pest ist fast die ganze „Gesellschaft" in scharfer Opposition
gegen Tisza. Die großen Familien hassen ihn mit der ganzen leiden-
schaftlichen Glut, deren ein Ungar und eine Ungarin in politischen
Dingen fähig ist. Man sieht in diesen Kreisen sehr schwarz und pro-
phezeit dem Grafen Tisza kein gutes Ende. Auch über Berchtold hört
man nur sehr scharfe Urteile. Die Anti-Dreibund-Tiraden des Grafen
Kärolyi werden nirgends ernst genommen.
von Ts chirschky
* Der Anfang des Briefes, der die Verhandlungen über die antiösterreichischen
Demonstrationen in Italien betrifft, ist abgedruckt in Bd. XXXIX, Kap.
CCXCVI, Nr. 15 767.
23* 355
Nr. 15 554
Der Botschafter in Wien von Tschlrschky an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg
Ausfertigung
Nr. 217 Wien, den 4. Juli 1914
Ich hatte dieser Tage aus Anlaß des „Figaro"-Artikels über die
bevorstehende Union zwischen Serbien und Montenegro* Gelegenheit
genommen, den Grafen Berchtold zu fragen, ob er etwa seit der Be-
gegnung mit Marquis di San Giuliano in Abbazia in dieser Angelegen-
heit mit Rom in Verbindung getreten sei. Ich bemerkte, daß, wenn mir
auch die Nachricht des französischen Blattes, die Union sei in aller-
nächster Zeit zu erwarten, in dieser Form kaum glaubwürdig erscheine,
sie doch als Anzeichen dafür gelten könne, daß weiter in dieser Rich-
tung gearbeitet werde, und daß die unerläßliche Verständigung mit
Italien nicht so lange herausgeschoben werden sollte, bis es eines
Tages zu spät sei.
Graf Berchtold erwiderte, er habe noch keine Gelegenheit gehabt,
seit Abbazia mit Rom über diese Frage zu verhandeln. Übrigens be-
richte der österreichisch-ungarische Vertreter in Cetinje, daß die Unions-
idee in Montenegro keineswegs populär sei, sondern nur von einer
kleinen und nicht einflußreichen Partei betrieben werde.
Ich habe dann dem Minister gegenüber noch bemerkt, daß die
Kaiserliche Regierung dieser Frage und ihrer Regelung zwischen Wien
und Rom ihr dauerndes Interesse entgegenbringe, vor allem im Hin-
blick auf eine notwendige vorgängige Verständigung zwischen unseren
beiden Bundesgenossen. Euere Exzellenz hätten auch bereits den Kaiser-
lichen Botschafter in Rom dahin instruiert, daß die Kaiserliche Regie-
rung die von Marquis di San Giuliano bisher vertretene These, Italien
könne eine Zuteilung des montenegrinischen Küstengebiets an Albanien
nicht zulassen, für nicht haltbar erachte. Der Minister war über diese
* Am 1. Juli hatte der „Figaro" folgende Information veröffentlicht: „Wir
sind in der Lage zu melden, daß Serbien und Montenegro den Beschluß gefaßt
haben, ihre Vereinigung zu proklamieren. Dieser Beschluß sollte am Jahrestage
der Schlacht von Kossowo, also vorgestern, bekanntgegeben werden. Durch die
Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gemahlin ist jedoch
das Datum der Bekanntgabe hinausgeschoben worden, es handelt sich aber nur
um eine Verzögerung. Die Verhandlungen sind unter Beobachtung des größten
Stillschweigens zwischen den Kabinetten von Belgrad und Cetinje geführt
worden unter der ermunternden Ägide Rußlands, das von Anfang an über die
Verhandlungen auf dem laufenden gehalten wurde." Gegenüber einem Dementi
der Berliner serbischen Gesandtschaft hielt der „Figaro" am 2. Juli seine
Information aufrecht. Nach anderen Pressestimmen sollte es sich um Her-
stellung eines bundesstaatlichen Verhältnisses handeln.
356
Stellungnahme Euerer Exzellenz sichtlich sehr erfreut und ersuchte
mich, Euerer Exzellenz dafür seinen Dank zu übermitteln.
Der Herzog von Avarna bestätigte mir auf meine Frage, daß seit
Abbazia über die Angelegenheit der Union zwischen Wien und Rom
nicht gesprochen worden sei. Die Unterhandlungen über die albanische
Frage* hätten alles andere in den Hintergrund treten lassen. Er werde
aber bei nächster Gelegenheit die Unionsfrage dem Grafen Berchtold
gegenüber wieder berühren.
von Tschirschky
Nr. 15 555
Der Botschafter in Rom von Flotow, z. Z. in Fiuggi-Fonte,
an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg**
Ausfertigung
Nr. 4 Fiuggi, den 10. Juli 1914
Ganz vertraulich
Da die italienische Presse, angeregt durch eine österreichische
Militärzeitschrift, der Frage der serbisch-montenegrinischen Vereini-
gung und des Lovcen erneut ihre Aufmerksamkeit zugewandt hat,
so habe ich gelegentlich das Gespräch mit dem Marquis di San
Giuliano auf denselben Gegenstand gelenkt und ihn gefragt, ob er
nicht rechtzeitig mit Österreich zu einer Verständigung darüber ge-
langen könne. Der Minister verhehlte sich nicht den ganzen Ernst
dieser Frage. Leider geht er immer noch davon aus, daß eine wirkliche
Verständigung zurzeit nicht möglich sei, es sei daher besser, diese
Unmöglichkeit heute nicht zu konstatieren, da eine derartige Feststellung
die ernstesten Konsequenzen haben könne. Es sei schon besser, die
Ereignisse abzuwarten und zu sehen, was seinerzeit zu tun sei. Er
glaube nicht, daß zu Lebzeiten des Königs Nikolaus eine völlige Ver-
einigung der beiden Länder eintreten werde. Er hoffe, die Vereinigung
werde so allmählich und gradatim vor sich gehen, daß Österreich, wie
so häufig, den rechten Augenblick zum Eingreifen nicht finden werde.
Zu hindern sei die Vereinigung auf die Dauer nicht.
Als die schwierigste Seite der Frage bezeichnete mir der Minister
die österreichischen Aspirationen auf den Lovcen. Auf meine Be-
merkung, daß mir allerdings weite österreichische Kreise den Erwerb
dieses Berges für Österreich bei Gelegenheit einer Vereinigung Serbiens
mit Montenegro als ein vitales österreichisches Interesse anzusehen
schienen, geriet der Minister in eine seiner kühlen und überlegenen Art
sonst fremde Erregung und sagte, daß wir keinen Augenblick darüber
* Vgl. dazu Bd. XXXVI, Kap. CCLXXXII.
•* Hier angeschlossen des Zusammenhangs halber.
357
im Zweifel sein dürften, daß ein solches Vorgehen Österreichs nicht
nur das Ende des Dreibundes, sondern den italienischen Krieg mit
Österreich bedeuten würde. Dieser Krieg würde mit allen Mitteln, mit
der Revolutionierung Österreichs und mit Hilfe der Serben und Russen
geführt werden. Die letztere Bemerkung, die, kaum getan, dem Minister
offenbar leid war, war mir insofern interessant, als der österreichische
Botschafter in letzter Zeit einen ganz besonders intimen und häufigen
Verkehr des Ministers mit dem russischen Botschafter bemerkt haben
will. Auch war mir aufgefallen, daß der russische Botschafter mich mit
dem Anschein guter Orientierung fragte, ob ich denn ernstlich glaube,
daß die italienischen Bundesgenossen im Kriegsfalle wirklich mit uns
marschieren würden.
Als ich weiter bei dem Marquis di San Giuliano insistierte, ob
er denn keine der der italienischen Mentalität sonst so vertrauten
Kombinationen sähe, die selbst beim Übergang des Lovcen auf Öster-
reich die italienischen Interessen wahre, kam der Minister zögernd
mit dem Gedanken heraus, daß die einzige Möglichkeit, diese Even-
tualität der italienischen öffentlichen Meinung annehmbar zu machen,
eine Gebietszession im Trentino an Italien sein würde. Ich habe nicht
unterlassen, den Minister darauf hinzuweisen, wie schwierig es nach
allen Vorgängen der Geschichte für den alten österreichischen Kaiser-
staat sein würde, den Weg einer Gebietszession an Italien zu be-
schreiten. Der Minister erwiderte, dann sähe er keine friedliche Lösung
dieser Frage.
Man wird also nicht die Augen davor verschließen dürfen, daß
man hier vor einer ernsten Frage steht, die zum mindesten den Drei-
bund erschüttern, vielleicht sogar zu einer europäischen Konflagration
führen kann. Ich habe daher noch einmal den Marquis di San Giuliano
mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß er in seinem erfindungs-
reichen Kopfe eine Lösung finden müsse, die gestatte, vor dem Eintritt
der zu befürchtenden Ereignisse wenigstens in eine Aussprache mit
Österreich einzutreten.
Floto w
Nr. 15 556
Der Gesandte in Belgrad Freiherr von Griesinger an den
Reichskanzler von Bethmann Hollweg*
Ausfertigung
Nr# in Belgrad, den 6. Juli 1914
Die schicksalsvollen Ereignisse der vergangenen Woche** haben
die allgemeine Aufmerksamkeit in so hohem Maße auf die Wirksamkeit
• Der Bericht ist bereits veröffentlicht bei K. Kautsky, Die deutschen Doku-
mente zum Kriegsausbruch, I, 37 ff.
•* Gemeint ist die Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand am
28. Juni.
358
der sogenannten „Narodna Odbrana" (wörtlich übersetzt „Volkswehr")
hingelenkt, daß eine zusammenfassende Übersicht ihrer Entstehung,
Organisation, Ziele und Mittel im gegenwärtigen Zeitpunkt von be-
sonderem Interesse sein dürfte.
Das Jahr 1908, wo Serbien sich gegen die Annexion Bosniens
und der Herzegowina durch die Nachbarmonarchie wild aufbäumte,
aber dann, von Rußland im Stich gelassen, sich mit der Einverleibung
dieser „echt serbischen Länder" in Österreich-Ungarn abfinden und
sogar vor aller Welt erklären mußte, hierdurch „nicht beleidigt zu
sein", hatte der serbischen Volksseele eine nicht vernarbende Wunde
geschlagen. Kurz zuvor waren durch den Ausbruch der jungtürkischen
Revolution die Hoffnungen Serbiens auf Erwerb von Mazedonien und
Altserbien stark verringert worden und die Früchte einer vieljährigen,
kostspieligen und opferreichen Propaganda drohten verloren zu gehen.
Die Politiker aller Parteien sahen die Zukunft des Landes auf das
äußerste gefährdet; sie waren überzeugt, daß Serbien sich nur mit
Einsatz aller Kräfte der Umklammerung durch den übermächtigen Nach-
barn erwehren könne. Damals begannen die radikalen Regierungen
in Serbien sich ernstlich für einen Entscheidungskampf vorzubereiten
und eine Rüstungsanleihe nach der anderen aufzunehmen. Im Zu-
sammenhang damit trat die Idee der „Narodna Odbrana" in die Er-
scheinung.
Sie war gedacht als ein patriotisch-nationalistischer Geheimbund,
der nicht bloß das Königreich Serbien, sondern sämtliche Länder mit
serbischen Bevölkerungselementen umfassen sollte, und bestimmt, das
Gefühl der Zusammengehörigkeit und Stammeseinheit zu entwickeln
und zu kräftigen und auf dem so vorbereiteten Boden an der realen
Durchführung dieser Vereinigung mit allen Mitteln zu arbeiten. Das
Schlagwort lautete: „Arbeit an der Befreiung der unterjochten Brüder."
In die Leitung des Geheimbundes, als dessen Ehrenpräsident der
General a. D. Bosidor Jankowitsch, später Kommandant der Ibar-
Division im serbisch-türkischen Kriege, fungierte, traten Männer der
verschiedensten Berufsarten ein: Beamte, Offiziere (insbesondere die-
jenigen aus der Gruppe der viel besprochenen „Schwarzen Hand"),
Abgeordnete, Kaufleute, Handwerker und dergleichen. Vertrauensmänner
des Bundes wurden wie für das Innere Serbiens, so auch für Südungarn,
Bosnien und die Herzegowina, Dalmatien, Altserbien und Mazedonien
bestellt. Aber gewitzigt durch die unangenehmen Erfahrungen, die man
mit dem früheren „Jugoslowenski Klub" (Südslawischer Verein) in Ser-
bien gemacht hatte, vermied es der neue Geheimbund, sich durch
schriftliche Festsetzungen der Gefahr einer Kompromittierung aus-
zusetzen. Insbesondere wurden weder schriftliche Statuten abgefaßt,
noch über die Sitzungen schriftliche Protokolle aufgenommen. Die
Sitzungen wurden je nach Umständen und Verabredung bei dem einen
oder andern der Vorstandsmitglieder abgehalten.
359
Man war sich darüber einig, daß vor allem die Jugend mit ihrer
Begeisterungsfähigkeit für unklare Freiheitsideen gewonnen werden
mußte. So begann die „Narodna Odbrana" mit der systematischen
Verhetzung und Fanatisierung der Jugend, namentlich der Schuljugend.
Im Königreich Serbien eigneten sich trefflich hierzu die Sokol- und
Duschanowzi-Vereine, in denen mit der großserbischen Agitation prak-
tische Unterweisung im Waffengebrauch verbunden wurde. In den
südslawischen Ländern Österreich-Ungarns, wo derartige öffentliche
Verbindungen auf Widerstand der Behörden stießen, bildeten sich
überall unter den Schülern serbischer Nationalität geheime Konven-
tikel, die sich an der Lektüre aus Serbien eingeschmuggelter chau-
vinistischer und auch einheimischer großserbischer Blätter berauschten.
Solcher großserbischer Blätter gibt es in Serajewo, Fiume, Agram die
Fülle. In letzterer Stadt ist es zum Beispiel der„Srbobran", ein Organ des
kroatischen Landtagsabgeordneten und großserbischen Agitators Sweto-
sar Pribitschewitsch, eines Bruders des jetzt mit dem Attentat in Sara-
jevo öffentlich in Verbindung gebrachten serbischen „Majors Milan
Probitschewitsch.
Ihren Zielen entsprechend, wendete die „Narodna Odbrana" ferner
dem Bandenwesen in der Türkei ihre besondere Aufmerksamkeit zu.
Sie hat es zwar nicht geschaffen, denn die Komitadjis bestanden lange
vor ihr, aber sie hat zu ihrer Vermehrung und besseren Ausrüstung
viel beigetragen. Auf ihre Bearbeitung der Jugend ist es mit zurück-
zuführen, wenn fast täglich Schüler aus den Gymnasien und Studenten
von der Universität verschwanden, um als Freischärler in Mazedonien
aufzutauchen, oder wenn junge Offiziere aus der Armee austraten und
mit falschen Pässen versehen nach Altserbien gingen. Fragt man,
was aus diesen Komitadjis jetzt nach beendetem Krieg und er-
obertem Mazedonien geworden ist, so ist die Antwort: ein Teil ist vom
Staat bei den verschiedensten Betrieben (Eisenbahn, Post, Monopol,
Zoll, Polizeiverwaltung) untergebracht, wo sie meistens kleine Sine-
kuren innehaben; ein anderer Teil strolcht arbeitsscheu und wahr-
scheinlich von der „Narodna Odbrana" unterstützt umher, auf eine
Gelegenheit lauernd, wieder seine wilden Instinkte zu betätigen. Es
hat nicht an warnenden Stimmen gefehlt, die auf die Gefahr hinwiesen,
jene Komitadjis möchten sich, nunmehr ihre Arbeit in der Türkei be-
endet war, Bosnien und Südungarn zum Feld neuer Tätigkeit aussuchen.
Was die Mittel betrifft, mit welchen die „Narodna Odbrana" ihre
mannigfachen Ziele bestreitet, so appelliert sie in erster Reihe an frei-
willige Massenbeiträge des Publikums. Sie geht dabei von der gewiß
richtigen Ansicht aus, daß kleine Beiträge, die in Massen geleistet
werden, ein ungleich ergiebigeres Erträgnis liefern, als vereinzelte
größere Spenden. Es werden daher bei gewissen Gelegenheiten und
namentlich an dem auf den 15. Juni alten Stils fallenden St. Veitstage (Wi-
dowdan), der der Erinnerung an den Untergang des mittelalterlichen
360
Großserbiens in der Schlacht auf dem Amselfeld gewidmet ist, öffent-
liche Sammlungen in ganz Serbien veranstaltet, die regelmäßig höchst
respektable Summen einbringen. Sodann ist es Brauch geworden, bei
letztwilligen Verfügungen die „Narodna Odbrana" mit Legaten zu be-
denken, ebenso, zum Gedächtnis an verstorbene Familienangehörige
der „Narodna Odbrana" Beiträge zu überweisen. Doch hat es mit
diesen freiwilligen Beiträgen keineswegs sein Bewenden. Oft genug
entsendet die „Narodna Odbrana" ihre Vertrauensmänner zu reichen
Kaufleuten, Banken usw., auch solchen, die, ohne Serben zu sein,
mit Serben in dauernder Geschäftsverbindung stehen, oder, wie man
hier zu sagen pflegt, an Serbien „verdienen", und fordert Beiträge. So
wurde mir erst kürzlich ein Fall erzählt, wonach ein solcher Ver-
trauensmann bei der hiesigen Filiale der Banque Frauco-Serbe einen
Beitrag verlangte und, als ihm bemerkt wurde, daß die Bank ohne
Genehmigung der Pariser Zentrale nicht über 100 frs. beisteuern
könne, ausfällig und drohend wurde. Der Staat selbst, wenn er gleich,
um Verantwortlichkeiten zu vermeiden, darauf halten muß, daß die
„Narodna Odbrana" ihren privaten Charakter bewahre, beschränkt sich
indes keineswegs auf die Rolle eines passiven Zuschauers. Unter harm-
losen Titeln sind in das Staatsbudget gewisse Positionen aufgenommen,
die der „Narodna Odbrana" zugute kommen. Bezüglich der Anschaf-
fung von Flinten für Schüler, von Revolvern für Freischärler ist es
notorisch, daß der Staat sie geliefert hat. Charakteristisch ist, daß als
Zentralstelle für die Verausgabung von Staatsmitteln für solche Zwecke
und die Abrechnung weder das Ministerium des Äußern, noch das
Kriegsministerium, sondern dasjenige für Kultus und Unterricht mit-
wirkt.
Mag daher die serbische Regierung noch so sehr ihren Ab-
scheu und ihre Entrüstung über die in Serajewo begangene Bluttat
kundgeben, mag sie noch so sehr ihre Unschuld beteuern und darauf
hinweisen, wie sinn- und zwecklos dieses Verbrechen sei, und wie es
der Sache des Serbentums viel eher geschadet als genützt habe, eines
kann sie nicht ableugnen: Sie hat die Atmosphäre geschaffen, in der
solche Explosionen des blinden Fanatismus allein möglich sind. In
ihrem Lande und unter den Augen ihrer Behörden sind die Elemente
großgezogen worden, die Serbien vor der ganzen gesitteten Welt
bloßgestellt und auf eine Stufe wieder herabgedrückt haben wie der
verabscheuungswürdige Königsmord des Jahres 1903.
v. Griesinger
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Sehr gut
361
UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACIÜTY
A 000 579 836 8